Zwei Wächter in schwarzem Brustharnisch und mit scharlachroten Umhängen über den Schultern traten ein. Wortlos deutete der Mann auf den Meslith-Schreiber, und als das Licht eines weiteren Blitzes aus der Kristallantenne auf ihre Gesichter fiel, lächelten sie.


11

DIE PERLE DER ADRIA

In der Schwüle der Nacht glitt die Campana mit Topaz am Steuer über das spiegelglatte Wasser.

Charlie kam an Deck, sah Jake im Schatten der Takelage sitzen und grinste ihn an. »Geht’s dir wieder besser?«

Jake nickte, noch immer ein wenig verlegen. »Wie lange noch bis Venedig?«

»Vom Nullpunkt aus dauert es normalerweise vier Tage, aber wir sind gesprungen. Deshalb hat das Atomium auch so reingehauen.«

»Das kann man wohl sagen«, murmelte Jake. »Was meinst du mit ›gesprungen‹?«

»Wir haben vier Horizontpunkte auf einmal genommen und damit fast drei ganze Tage gespart. Aber ich glaube, mittlerweile dürfte seine Hoheit bereit für die Anprobe sein.«

Jake begleitete Charlie unter Deck und versuchte dabei verzweifelt, auf seine Füße zu schauen, aber er konnte nicht widerstehen, Topaz wenigstens einen kurzen Blick zuzuwerfen, wie sie am Ruder stand, die indigoblauen Augen fest auf den Horizont gerichtet, während die Sterne über ihr am Nachthimmel funkelten.

Zehn Minuten später standen sie immer noch in Nathans enge Kajüte gequetscht und versuchten, passende Kleidung für Jake zu finden. Kniehosen, Strümpfe und ein weites weißes Hemd mit gerafftem Kragen standen bereits fest, als Charlie Jake in ein samtenes Wams half.

»Dieses Stück ist mit größter Vorsicht zu behandeln«, erklärte Nathan. »Es ist absolut unbezahlbar. Der Stoff ist feinste Qualität aus Siena, und das Lilienmuster wurde in Florenz in Handarbeit aufgestickt – mit echtem Goldfaden.«

»Und die Ärmel sollen so aussehen?«, fragte Jake und deutete auf die über die ganze Länge verteilten Löcher.

»Das sind Schlitzärmel; der letzte Schrei Anfang des sechzehnten Jahrhunderts«, stellte Nathan klar.

»Und wie sieht’s mit Schuhen aus?«, warf Charlie ein.

Nathan hielt Jake ein Paar Stiefel hin. »Ein bisschen aus der Mode im Jahr 1506, wie ich zugeben muss, besonders in Italien, aber sie werden’s wohl tun müssen. Meine Auswahl an Schuhwerk ist ein wenig knapp bemessen«, log er.

Nachdem Jake die Stiefel angezogen hatte, traten die anderen beiden einen Schritt zurück, um das Ergebnis in Augenschein zu nehmen.

Irgendwie kam Jake sich seltsam vor in der neuen Montur, aber sie stand ihm, und er hatte das Gefühl, als wären seine Schultern darin ein wenig breiter.

»Was ist mit einem Schwert oder so?«, fragte er hoffnungsvoll. Nathans extravaganter Degen mit dem reich verzierten Korb aus geschwärztem Silber war ihm nicht entgangen; außerdem waren Charlie und Topaz ebenfalls bewaffnet.

»Hierfür scheint mir keine Notwendigkeit zu bestehen«, erwiderte Nathan kurz angebunden. »Schließlich wirst du nicht aktiv an dem Einsatz teilnehmen, nicht wahr?«

»Trotzdem wird er eins brauchen«, widersprach Charlie. »Wenn er ohne geht, würde das viel zu sehr auffallen.«

Nathan schnaubte verärgert. »Wenn das so weitergeht, kann ich euch ja gleich meinen ganzen Besitz vermachen«, murmelte er und öffnete einen weiteren Schrankkoffer. Mindestens ein Dutzend verschiedener Hieb-und Stichwaffen fanden sich in die mit Samt ausgeschlagene Truhe eingebettet. Bei dem Anblick begannen Jakes Augen unwillkürlich zu leuchten, und seine Hand streckte sich wie von selbst nach der imposantesten von allen aus: einem zweischneidigen Duelldegen, dessen Korb in Form eines Drachenkopfes gestaltet war.

»Kommt überhaupt nicht infrage«, protestierte Nathan und wischte Jakes Hand beiseite. »Diese Waffe ist nur für besondere Gelegenheiten.« Als Ersatz bot er ihm das hässlichste Stück aus der ganzen Sammlung an: ein plumpes Kurzschwert. »Schon mal eins in der Hand gehabt?«, fragte er und hielt es Jake vorsichtig hin.

»Selbstverständlich. Im Fecht-Klub in der Schule. Gehört zum Pflichtprogramm«, schwindelte der und versuchte, mit einem besonders schnell geführten Stoß anzugeben. Das Schwert entglitt seinem Griff, flog quer durch die Kajüte und blieb zitternd in der hölzernen Schiffswand stecken.

Ohne eine Miene zu verziehen, zog Charlie das Schwert behutsam wieder heraus und reichte es Nathan, der es – denkbar wenig beeindruckt von Jakes Schwertkünsten – zurück in die Scheide steckte und den Gurt um Jakes Hüfte befestigte. »Da gehört es hin, und da bleibt es auch«, erklärte er. »Als modisches Accessoire, verstanden?«,

»Und was ist das?«, fragte Jake und griff nach einem Lederbeutel mit falschen Bärten darin, der halb offen neben Nathans Schwertkoffer lag.

Diesmal war es Charlie, der Jakes Hand zur Seite wischte.

»Ne touche pas!«, rief Nathan in affektiertem Französisch. »Diese Sammlung von Rattenschwänzen ist sein ganzer Stolz. Ich persönlich ziehe es ja vor, mich au naturel in die Höhle des Löwen zu begeben« – Nathan kniff die Augen zusammen und zog eine Braue nach oben – »und mich allein durch mein Mienenspiel zu verkleiden.«

»Du weißt genauso gut wie ich, Nathan, dass diese ›Rattenschwänze‹ dir mehr als einmal das Leben gerettet haben«, erwiderte Charlie kopfschüttelnd, knotete den Beutel zu und befestigte ihn an seinem Gürtel.

Jake konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Es war unglaublich, wie sehr Charlie mit seinen nur vierzehn Jahren einem kauzigen alten Besserwisser glich.

»Zeit für eine Bestandsaufnahme, würde ich sagen«, meinte Charlie und hielt einen Spiegel hoch.

Jake musste zweimal hinsehen, um den kühnen Abenteurer, der ihm da ins Gesicht schaute, als sein Spiegelbild zu erkennen.

Unter einer gleißenden Morgensonne segelte die Campana weiter durch das stille Mittelmeer, und über die Mittagszeit heizte sich die Luft schier unerträglich auf, bis Helios sich am Nachmittag endlich anschickte, träge wieder gen Horizont zu sinken.

Jake genoss den Duft der Meeresluft und schaute hinaus auf die Wellen. Sein Blick wanderte hinunter zu seinem Kurzschwert, dann drehte er flink den Kopf, um sicherzugehen, dass niemand ihn beobachtete, und zog es verstohlen aus der Scheide.

»Halte ein, Schurke!«, rief er und reckte die Spitze der Waffe einem unsichtbaren Feind entgegen. »Ich bin es, Jake Djones aus Greenwich …«

Jake verstummte. Irgendetwas stimmte noch nicht ganz.

»Ich bin es, Jake Djones«, hob er erneut an, »Spezialagent des Geheimdienstes der Geschichtshüter, Beschützer der Guten, Nemesis alles Bösen. Sprich dein letztes …«

Wieder verstummte er abrupt, denn Charlie und Mr Drake lugten hinter dem Mast hervor und beobachteten interessiert das Spektakel. Jake lief knallrot an und steckte die Waffe eilig zurück in die Scheide.

Um drei Uhr nachmittags kam ihr Zielhafen in Sicht. Schimmernd wie Gold lag die einzigartige Silhouette Venedigs vor ihnen in der flirrenden Hitze.

Der Hafen brummte nur so vor Betriebsamkeit, und je näher sie kamen, desto lauter wurden die Geräusche des geschäftigen Treibens in der Stadt, die der Wind übers Wasser zu ihnen herüberwehte. Schiffe unterschiedlichster Größen und Bauarten gingen vor Anker oder setzten gerade Segel, löschten ihre Ladung oder nahmen Fracht an Bord. Noch nie hatte Jake so viele Schiffe auf einmal gesehen, ein so beeindruckendes Durcheinander von Masten, Takelagen, Bannern und Flaggen, Matrosen und Händlern, die alle durcheinanderschrien.

»Venedig, die Perle der Adria«, sagte Charlie und spielte den Fremdenführer. »Gegründet im sechsten Jahrhundert, wurde die Stadt aufgrund ihrer geografischen Lage schnell zum Dreh-und Angelpunkt des Verkehrs zwischen Europa und Asien. Wenn auch die Entdeckungsfahrten der Spanier in die Neue Welt den Einfluss Venedigs bald schmälern sollten, blieben seine Händler und Bankiers noch für mehrere Jahrhunderte ein wichtiger Faktor im Welthandel. Das pastellfarbene Gebäude dort drüben« – er deutete auf ein kunstvoll mit Marmor verkleidetes Bauwerk – »ist der Dogenpalast. Bei der bleistiftförmigen Erhebung daneben handelt es sich um den Campanile di San Marco, den Glockenturm des Markusdoms, der, wie wir nicht vergessen dürfen, erst in ein paar Jahren zu seiner vollen Pracht erblühen wird.«

Während die Campana zwischen einem kleinen Fischerboot und einer großen persischen Galeone vertäut wurde, sog Jake den exotischen Anblick in sich auf. Schon jetzt wusste er, dass er diesen Moment nie vergessen würde: Das Gewimmel der Leute, die unverkennbar einem anderen Zeitalter angehörten als er, gab ihm das Gefühl, als wäre er wirklich in eins jener alten Meisterwerke eingetaucht, die er so sehr liebte.

Jake sah reiche Kaufleute in Wams und Kniehose, Soldaten in Rüstung, Männer mit Turbanen auf dem Kopf und wallenden Umhängen über den Schultern, daneben Bettler in Lumpen. Überall liefen Hunde herum; der Dobermann einer elegant gekleideten Adligen spielte mit dem verlausten Terrier eines Straßenverkäufers; Katzen hockten auf Mauerkronen und beobachteten das Treiben im Hafen oder streunten auf der Suche nach Fischabfällen zwischen den Beinen der Matrosen herum. Hier und da wurden Käfige verladen mit Ziegen, Pferden oder Papageien darin (welche Mr Drake mit großem Interesse und nicht ohne einen Anflug von Mitleid beäugte), während Jake überwältigt wurde vom Duft der Gewürze und Kräuter, dem Geruch von frischem Fisch und gepökeltem Fleisch. Und während er die ganze Szenerie beobachtete, hüpfte ihm vor freudiger Erwartung das Herz in der Brust.

Da fiel ihm eine hochgewachsene Gestalt in schwarzem Brustharnisch und scharlachroter Kutte auf. Unbeweglich wie ein Fels stand sie mitten im Gedränge der Leute. Zwar konnte Jake das Gesicht des Mannes nicht sehen, doch beschlich ihn das unangenehme Gefühl, dass sein Blick genau auf die Campana gerichtet war.

»Siehst du den Mann dort drüben?«, fragte er Charlie. »Er schaut genau zu uns herüber.«

Als Charlie Jakes Blickrichtung folgte, war die Gestalt wieder verschwunden. Jake hielt noch eine Weile nach der auffälligen Kutte Ausschau, konnte sie aber nirgends mehr entdecken. Stattdessen sah er, wie ein dürrer Bursche, etwa in seinem Alter, sich über den Kai drängte und dabei verstohlen die Namen der Schiffe las. Sein Kopf war rot, die Bewegungen linkisch, und ständig rempelte er die umstehenden Leute an, woraufhin er sich jedes Mal, etwas Unverständliches murmelnd, entschuldigte. Als er die Campana erreichte, blieb er stehen und verglich den Namen mit einem Stück Pergament, das er in Händen hielt. Sein Blick wanderte hinauf zu Charlie. Ein Auge immer noch auf den Notizzettel gerichtet, sagte er steif: »Willkommen in Venedig. Was ist Eure Ladung?«

Es schien sich um eine Art Geheimcode zu handeln, denn Charlie antwortete in ähnlich seltsamem Tonfall: »Tamarinden aus dem Osten.«

Auf diese Worte hin entspannte sich der Junge merklich und winkte grinsend zu ihnen herauf. »Buon Giorno. Paolo Cozzo mein Name. Ich bin euer Kontaktmann.«

Nathan sprang über die Reling und dem Jungen, den er um mehr als einen Kopf überragte, direkt vor die Füße. »Warum versuchst du es das nächste Mal nicht mit einer Sprechtrompete, damit dich auch ja alle im Hafen hören?«

Paolo brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass der Kommentar ironisch gemeint war. Als ihm die Erkenntnis endlich dämmerte, nickte er verlegen und wischte sich mit einem unsicheren Grinsen den Schweiß von der Stirn.

Inzwischen waren auch Charlie und Topaz auf den Pier gekommen. »Bonjour. Agentin Topaz St. Honoré«, stellte sie sich vor. »Agent Charlie Chieverley, und das hier ist Jake Djones«, fügte sie mit einer Geste in Jakes Richtung hinzu, der als Einziger noch an Bord der Campana geblieben war.

»Er begleitet uns in der Funktion eines Beobachters«, erklärte Nathan.

Bei Topaz’ Anblick wurde das Gesicht des Jungen noch röter. »S-Signorina St. Honoré«, stotterte er, »sind wir uns nicht schon einmal begegnet? 1708 in Siena, im F-F-Frühling? Meine Eltern waren auch dabei. Ich habe Limonade für Euch zubereitet«, fragte er nervös.

»O ja, jetzt erinnere ich mich«, erwiderte Topaz strahlend. »Es war die beste Limonade, die ich je gekostet habe. Du wolltest mir das Rezept geben.«

Paolo kicherte und wurde – falls das überhaupt möglich war – noch röter.

»Wo treibt das Hauptquartier nur immer diese Profis auf?«, brummte Nathan augenrollend und fragte: »Venedig ist also deine Operationsbasis?«

»Rom, eigentlich … wohne ich in Rom«, stammelte Paolo. »Aber meine Tante, die lebt hier. Ich bin extra angereist, um die letzten beiden Agenten in Empfang zu nehmen. Die, die verschwunden sind.«

Topaz, entsetzt über Paolos Taktlosigkeit, warf Jake einen mitfühlenden Blick zu.

»Meine Instruktionen lauten, euch ins hiesige Büro zu geleiten und in allen Italien betreffenden Angelegenheiten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen«, erklärte Paolo stolz.

»Zum hiesigen Büro also«, wiederholte Nathan und stürmte sofort los. »Gehen wir!«

Keiner rührte sich.

»Verzeihung, aber zum Büro geht es da lang«, meinte Paolo vorsichtig und deutete in die entgegengesetzte Richtung.

Topaz konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Nathan wie ein Zinnsoldat auf dem Absatz kehrtmachte.

»Bleibe ich allein hier, oder kann ich …?«, fragte Jake zaghaft.

»Ins Büro kannst du uns begleiten, wenn du willst«, antwortete Topaz, »aber wenn die eigentliche Arbeit beginnt, musst du zum Schiff zurück. Verstanden?«

Paolo dirigierte sie durch das nachmittägliche Gedränge im Hafen.

»Ziemlicher Betrieb hier um diese Stunde, findet ihr nicht?«, kommentierte Nathan und lupfte im Vorübergehen den Hut vor einer hübschen Blumenverkäuferin. »Ob wohl noch genug Zeit für eine heiße Schokolade wäre? Wenn mich nicht alles täuscht, serviert man im Caffè Florian an der Piazza San Marco die beste entlang der gesamten Adriaküste.«

»Du kannst es ja versuchen, aber das Florian eröffnet erst in über zweihundert Jahren«, rief Topaz ihm ins Gedächtnis.

»Mit dieser Karavelle dort«, sagte Paolo und deutete auf einen kleinen Zweimaster, »haben Signore und Signora Djones sich hier eingeschifft.«

Jakes Magen machte einen kleinen Satz, und er beäugte neugierig das Schiff. Die Segel waren gerefft, das Deck vollkommen leer, da fiel sein Blick auf einen Schriftzug am Bug: Mystère stand dort in geschwungenen Lettern geschrieben. Wie passend, dachte er. Mysteriöser könnte die Angelegenheit in der Tat kaum sein. Nichts hätte Jake lieber getan, als das gesamte Schiff nach Hinweisen auf den Verbleib seiner Eltern abzusuchen.

»Sollen wir kurz nachsehen gehen?«, fragte er vorsichtig.

Doch Nathan war bereits aufs Deck der Mystère gesprungen und im Bauch des Schiffes verschwunden. Nur wenige Augenblicke später kam er kopfschüttelnd wieder herauf. »Da drinnen sieht es aus wie auf einem Geisterschiff«, sagte er und schwang sich zurück auf den Kai. »Das hier sind die einzigen Hinweise auf Leben, die ich finden konnte.« Nathan hielt ihnen seine geöffnete Handfläche hin, auf der ein paar kleine Kerne lagen.

Jake erkannte die Samen. »Mandarinenkerne«, sagte er. »Meine Mutter ist besessen von dem Gedanken, in unserem Garten Mandarinen zu züchten.« Er wollte sie gerade an sich nehmen, um sie aufzubewahren, da hatte Nathan sie schon mit einer lässigen Geste über die Schulter ins Brackwasser des Hafens geworfen, wo sie sofort versanken.

»Nur zur Erklärung«, meinte Topaz mit einem Seufzer zu Jake, »Nathan ist nicht nur ein eitler Gockel, sondern auch ein gefühlloser Trampel. Aber das hast du wahrscheinlich schon mitbekommen.«

Allmählich gelangten sie tiefer in die Stadt. Auf einem Platz hatte sich eine kleine Menschenmenge um einen Mann versammelt, der auf einem niedrigen Podest stand und mit heiser geschriener Stimme einen leidenschaftlichen Vortrag hielt. Er hatte einen langen, ungepflegten Bart, trug eine schmutzige Robe und hielt mit ausgemergelten Armen eine Wassermelone in die Luft.

»Was sagt er?«, fragte Nathan an Paolo gewandt. »Mein Italienisch ist ein wenig eingerostet. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass er nicht versucht, diese Melone an den Mann zu bringen, oder?«

Noch bevor Paolo antworten konnte, erklärte Topaz: »Er sagt, die Erde wäre nicht flach wie eine Scheibe, sondern rund wie diese Melone. Und er sagt, dass wir uns nicht im Mittelpunkt des Universums befinden, dass sich die Sonne nicht um die Erde dreht, sondern umgekehrt.«

Paolo nickte stumm.

»Da ist der gute Mann seiner Zeit ja ganz schön weit voraus«, merkte Charlie an. »Die alten Griechen hatten zwar schon lange vorher dieselbe Idee, aber Kopernikus wird seine Theorie von den Himmelssphären erst 1543 veröffentlichen, wenn mich nicht alles täuscht.«

Charlie hatte recht: Die meisten der Umstehenden starrten den Mann nur verständnislos an, und ein paar pfiffen oder buhten. Da drängte sich eine Gruppe von Soldaten in Helm und Rüstung durch die Menge und ergriff den Sprecher. Sie zogen ihn von seinem Podest und befahlen den Zuhörern, wieder ihrer Wege zu gehen, während sie den immer noch schreienden Mann mit sich zerrten.

»Solche Szenen sieht man hier in letzter Zeit immer häufiger«, meinte Paolo. »Die Menschen haben die Nase voll von den neuen Philosophien.«

»Die neuen Philosophien?«, fragte Nathan.

»Er meint die Anfänge des Humanismus, der sich über Europa ausbreitet«, antwortete Topaz.

»Tatsächlich? Ich habe zwar nicht dich gefragt, aber … Humanismus. Selbstverständlich.«

»Natürlich hat er nicht die geringste Ahnung, von was er da redet«, flüsterte Topaz Jake zu. »Wahrscheinlich hält er Humanismus für eine Infektionskrankheit, die man sich in brackigem Wasser zuzieht.«

»Der Humanismus ist eine Weltanschauung, welche die Würde aller Menschen betont«, referierte Nathan in ausgesucht britischem Akzent, »unabhängig von der religiösen Überzeugung. Eine weitere Grundannahme des Humanismus ist, dass wir alle – ein jeder, der auf Erden wandelt – gleich sind.«

»Jeder und jede«, warf Topaz ergänzend ein.

Paolo blickte verunsichert zwischen Nathan und Topaz hin und her, und Charlie erklärte ihm hinter vorgehaltener Hand: »Sie tun nur so. In Wirklichkeit lieben sie sich heiß und innig.«

Nachdem sie den Platz überquert hatten, setzten sie ihren Weg an einem Kanal entlang fort. Unterwegs sah Jake einen Schausteller, der gerade versuchte, seinem Kapuzineräffchen einen besonders komplizierten Trick beizubringen, ein anderer beschwor mit einer Flöte Kobras in einem geflochtenen Korb. Da blickte Paolo sich kurz um, eilte die Stufen zu einem heruntergekommen aussehenden Gebäude hinauf und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. An der Tür sah Jake ein hölzernes Schild, in das, ziemlich derb, das Emblem der Geschichtshüter geschnitzt war.

Sie betraten einen hellen Raum mit hoher Decke, in dem gerade Hochbetrieb herrschte. Mindestens acht Männer mit Hauben auf dem Kopf rannten hin und her, von Kopf bis Fuß mit Mehl bestäubt.

»Eine Pizzabäckerei!«, rief Nathan begeistert.

»Eigentlich Fladenbrot, Galette genauer gesagt. Ein neues Rezept aus Frankreich«, korrigierte Paolo.

»Für mich sieht es aus wie Pizza«, erwiderte Nathan achselzuckend. »Unbestreitbar eine vortreffliche Tarnung für ein Geheimdienstbüro.«

»Oh, es ist ganz und gar keine Tarnung – hier wird wirklich gebacken, und zwar das beste Brot der Stadt. Das Büro ist nur ab und zu besetzt und befindet sich im Hinterzimmer.«

»Ich liebe die Arbeitsphilosophie der Italiener, sie ist so … laissez faire«, schwärmte Nathan und schnappte sich im Vorübergehen eine frische Galette vom Backblech.

»Mach nur so weiter«, meinte Topaz, die den bösen Seitenblick des Bäckermeisters gesehen hatte.

»Emmentaler, würde ich sagen«, erklärte Nathan ungerührt. »Charlie, was meinst du?«

Charlie nahm ebenfalls ein Stück und kaute nachdenklich darauf herum. »Ich würde eher auf Gouda tippen, wenn auch von ungewöhnlich nussigem Geschmack«, urteilte er schließlich. »Und Muskat. Interessantes Rezept.«

Wieder drehte sich der Kopf des Bäckermeisters. In Charlie schien er – ganz im Gegensatz zu Nathan – einen Fachmann zu erkennen und nickte ihm anerkennend zu.

»Wenn alle ihren Heißhunger gestillt haben, könnten wir uns dann mit diesem Code Purpur beschäftigen, dessentwegen wir eigentlich hier sind, und dem möglicherweise kurz bevorstehenden Weltuntergang?«, fragte Topaz verärgert, um die beiden wieder zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen.

Zu viert gingen sie weiter in das kleine Hinterzimmer der Bäckerei, das bis oben hin vollgestopft war mit Tomatenkisten und frischem Basilikum. Es sah nicht nur aus wie ein Lagerraum, es war auch einer, und nicht im Geringsten zu vergleichen mit der streng geschäftsmäßigen Atmosphäre in London oder Mont Saint-Michel.

»Das ist das Büro?«, fragte Topaz ungläubig und deutete auf einen klapprigen Tisch, auf dem zwischen verschiedenen Sorten von Hart-und Weichkäse ein ebenso klapprig aussehender Meslith-Schreiber stand.

Paolos betretener Blick war Antwort genug.

Topaz ging zu dem Tisch und inspizierte die Maschine. »Von hier müssen Miriam und Alan Djones ihren SOS-Ruf abgesetzt haben«, sagte sie.

Neugierig trat Jake neben Topaz, um das Gerät ebenfalls in Augenschein zu nehmen. Als er die Hand ausstreckte und den Kristallstab an der Rückseite berührte, bekam er einen heftigen Stromschlag.

»Das passiert, wenn man eine Meslith-Antenne berührt. Lektion gelernt«, kommentierte Charlie und wandte sich an Paolo. »Was genau haben die beiden in Venedig gemacht?«

Paolo zog ein zerknittertes Bündel von Notizzetteln aus der Hosentasche und versuchte, seine eigene Handschrift zu entziffern. Der oberste Zettel schien ihm einiges an Problemen zu bereiten, aber schließlich hatte er es: »Ach, das ist die Einkaufsliste meiner Mutter. Sie sammelt venezianische Glaskunst. Sie liebt diese Farben!«

»Wie faszinierend«, murmelte Nathan.

Paolo nahm den nächsten Zettel zur Hand. »Da ist es: Sie kamen Dienstagabend in Venedig an. Am Mittwoch suchten sie das Haus von Signore Philippo im Norden der Stadt auf. Er ist ein berühmter Architekt, der Anfang dieses Monats auf dem Weg zur Arbeit auf mysteriöse Weise verschwand.«

»Auf mysteriöse Weise?«, wiederholte Nathan. »Könnte er nicht einfach ausgerutscht und in einem Kanal ertrunken sein?«

»Nein, das ist es ja gerade«, widersprach Paolo und wurde plötzlich lebhaft. »In den letzten Monaten sind mindestens zehn Architekten auf diese Weise verschwunden, und das nicht nur in Venedig – Florenz, Parma, Padua, überall dasselbe. Es ist das Gesprächsthema in der Stadt.«

»Warum sollte jemand ausgerechnet Architekten um die Ecke bringen?«, fragte Nathan mit einem gelangweilten Seufzer. »Eine vergleichsweise harmlose Berufsgruppe, wie ich meinen würde.«

»Vielleicht wurden sie gar nicht ermordet«, warf Jake ein, »sondern entführt, weil jemand ihre Dienste braucht.«

Topaz blickte Jake beeindruckt an, doch Nathan zuckte nur gleichgültig die Achseln. »Sind Djones und Djones von diesem Ausflug zurückgekehrt?«, fragte er.

»Kurz«, antwortete Paolo. »Dann, um sieben Uhr abends, gingen sie zum Markusdom. Danach habe ich die ganze Nacht auf sie gewartet. Doch sie kamen nicht.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen, und Topaz drückte kurz Jakes Hand.

»Haben sie dir gesagt, dass sie zum Markusdom wollten?«, unterbrach Charlie schließlich die Stille.

»Sie haben mich nach dem Weg dorthin gefragt«, erwiderte Paolo.

»Waren deine Eltern religiös?«, fragte Nathan in Jakes Richtung.

»An Weihnachten hat meine Mutter immer Lebkuchen gebacken, aber religiös? Nicht dass ich wüsste.«

»Il y a quelque chose ici«, rief Topaz aus, die gerade ein anscheinend leeres Stück Pergament untersuchte. »Jemand hat das hier als Schreibunterlage benutzt. Man sieht, wie sich die Buchstaben durchgedrückt haben.«

Nathan wollte nach dem Pergament greifen, aber Topaz zog den Zettel weg und hielt ihn gegen das Licht. »Kennst du diese Handschrift?«, fragte sie Jake.

Als Jake die großen, comichaften Buchstaben und die auf so herzerweichende Weise kunterbunt durcheinandergewürfelten Groß- und Kleinbuchstaben sah, wurde ihm flau im Magen. Er kannte diese Schrift von Zetteln, auf denen meistens etwas von noch nasser Farbe irgendwo im Haus stand, oder dass er sich im Kramerladen um die Ecke was zu essen holen solle, bis seine Eltern wieder da waren.

»So schreibt mein Vater.«

»Dürfte ich …?«, versuchte Nathan es noch einmal, aber Topaz schenkte ihm noch immer keine Beachtung und las laut vor:

»Beichte. Markusdom. Amerigo Vespucci.«

»Aber natürlich, Amerigo Vespucci!«, rief Nathan. »Ich kenne den Mann, er hat …« Er verstummte kurz. »Was hat er noch mal gemacht?«

»Er war ein berühmter italienischer Entdecker. Amerika ist nach ihm benannt«, beantwortete Topaz seine Frage. »Aber was könnte er mit dem Markusplatz zu tun haben?«

»Dumme Frage. Er liegt dort begraben«, tönte Nathan und versuchte erneut, an das Stück Pergament zu kommen.

»Nein, er wurde in Spanien begraben. In Sevilla, genauer gesagt. Ich habe sein Grab selbst gesehen«, erwiderte Topaz kühl, ließ sich aber endlich dazu herab, Nathan den Zettel zu geben.

»Beichte. Markusdom. Amerigo Vespucci«, wiederholte er nachdenklich. »Nun, ich würde sagen, ein Besuch im Dom dürfte Klarheit in die Angelegenheit bringen. Nach dem Abendessen natürlich … Wer arbeitet schon gern mit leerem Magen?«

Schweigend machten sie sich auf den Weg zurück zum Hafen. Es war die Tageszeit, die Paolo passeggiata nannte: Das Tagwerk war erledigt und jetzt schlenderten alle durch die Straßen, um wiederum den anderen beim Schlendern zuzusehen – weshalb sie sich im Gänsemarsch durch die flanierenden Menschenmassen quetschen mussten. Einmal glaubte Jake zu spüren, dass jemand ihnen folgte, und blickte verstohlen über die Schulter. Er sah kurz ein Stück leuchtend roten Stoffs in der Menge aufblitzen, wurde aber vom unbarmherzigen Strom der Passanten weitergezogen, ohne der Sache auf den Grund gehen zu können.

Im selben Moment verschwand die Gestalt im scharlachroten Umhang hinter einer Säule, wo ihr Kompagnon sie bereits erwartete. Aufmerksam verfolgten die beiden Kuttenmänner aus dem Schatten heraus, wie die fünf sich ihren Weg zum Hafen bahnten.


12

ALLEIN IM SECHZEHNTEN JAHRHUNDERT

Wir sind spätestens in einer Stunde zurück, allerhöchstens in zwei«, erklärte Topaz, als sie mit Charlie wieder an Deck kam. Über ihren Schultern hing ein Cape, denn der Abend wurde bereits merklich kühler.

»Wäre es nicht am besten, wenn wir alle zusammenblieben?«, gab Jake zu bedenken.

»Am besten wäre es, wenn du nicht gleich am ersten Tag draufgehst«, entgegnete Nathan barsch. Er hatte sich eben erst umgezogen und war gerade damit beschäftigt, sich in einem kleinen, mit Gold eingefassten Spiegel zu betrachten, den er »für Notfälle« eigenhändig am Mast angebracht hatte. »Wie, findest du, steht mir diese Farbe?«, fragte er und deutete auf sein Wams.

»Gockelgrün? Ich könnte mir nichts Passenderes vorstellen«, antwortete Topaz.

Nathan war zu sehr von seinem Spiegelbild eingenommen, um die Ironie in ihrer Antwort zu bemerken. »Lenkt es nicht ein wenig zu sehr von der Farbe meiner Augen ab?«, fragte er weiter, diesmal an Jake gewandt.

Jake war kein Modeexperte, aber er erinnerte sich an etwas, das seine Mutter bei solchen Gelegenheiten ein paarmal gesagt hatte. »Passt gut zu deinem Teint.«

»Sehr gute Antwort«, erwiderte Nathan.

»Das ist für dich, Jake«, sagte Topaz und hielt ein Silberkettchen mit einer Phiole daran hoch.

»Was ist das?«

»Atomium. Genau die Dosis, die dich zum Nullpunkt zurückbringt, falls nötig«, erklärte sie. »Darf ich …?« Sie legte ihm die Kette um den Hals und schob die Phiole unter sein Wams, woraufhin Jakes Herz gleich ein paar Takte schneller schlug.

»Pass auf dich auf«, flüsterte sie. »Wir bleiben nicht lange weg.«

»Ich habe Spinatquiche für dich in der Kombüse gelassen«, unterbrach Charlie und zerstörte den Moment. »Ist ganz passabel geworden, wenn auch nicht meine beste. Ich habe wohl ein bisschen zu dick aufgetragen sozusagen.«

Damit verließen Charlie, Topaz, Nathan und Paolo das Schiff und verschwanden in der Menge.

Vier Stunden vergingen. Die Nacht brach an, und der Mond war bereits aufgegangen, doch die vier waren immer noch nicht zurückgekehrt. Jake saß auf der kleinen Treppe, die hinauf zum Vorderdeck führte. Vom Meer her wehte eine kalte Brise, die Deckplanken ächzten, und die gerefften Segel flatterten im Wind. Der Hafen war so gut wie menschenleer. In einem Torweg sah Jake ein junges Liebespaar, das sich verstohlen küsste, ein paar Meter weiter stolperte ein betrunkener Greis fluchend vor sich hin. Ansonsten war alles still.

Jake griff nach dem Silberkettchen und zog die Phiole hervor, die Topaz ihm gegeben hatte. In feinster Handarbeit prangte das gravierte Emblem der Geschichtshüter darauf. Jake öffnete sie vorsichtig und betrachtete eine Weile den glitzernden Inhalt, dann verschloss er das Fläschchen wieder und steckte es zurück.

Da fiel sein Blick auf den Schulblazer, den er erst am Abend zuvor abgelegt hatte und der neben einem aufgerollten Seil immer noch an Deck lag. Jake kamen die Ausweise in der Brusttasche wieder in den Sinn. Er zog sie heraus und schaute sich noch einmal die Fotos an.

Unwillkürlich dachte er an zu Hause, an die Abende in der Küche in ihrem Reihenhaus in London, als alles noch normal gewesen war: wie sein Vater ebenso neugierig wie ahnungslos auf dem Küchentisch irgendwelche Geräte auseinanderschraubte, während seine Mutter stirnrunzelnd eine ihrer berüchtigten Kreationen aus dem Ofen zog. Als sie das letzte Mal versucht hatte, nach eigenem Rezept ein Gâteau au chocolat zu backen, hatte Jake das brennende Backblech mit dem Gartenschlauch löschen müssen. Während der Wind mit den Seiten der Dokumente spielte, blickte Jake gedankenverloren auf die Stadt und fragte sich, ob seine Eltern irgendwo da draußen in der Dunkelheit waren.

Plötzlich hörte er einen Schrei. Erschrocken stopfte er die Pässe in sein Wams und rannte zur Reling.

Jemand kam den Kai entlang in seine Richtung gelaufen – es war Nathan. Er rannte, so schnell er konnte, aber er humpelte und hielt ein Bein mit beiden Händen fest umklammert. Keuchend kam er an Deck gestolpert: »Schnell! Wir haben nicht viel Zeit!«

Jakes Augen weiteten sich vor Schreck. Nathan sah furchtbar aus. Das Haar stand ihm in allen Richtungen vom Kopf, das Wams war zerfetzt, und aus seinem Oberschenkel quoll so viel Blut, dass es auf die Deckplanken tropfte.

»Gib ihn mir! Schnell!«, bellte Nathan und deutete auf Jakes Blazer.

Jake gehorchte und beobachtete erschrocken, wie Nathan das Kleidungsstück in Fetzen riss. Er brauchte den Blazer zwar nicht mehr, aber … Da fiel sein Blick auf die Wunde an Nathans Bein: Sie war mindestens fünf Zentimeter lang und ziemlich tief. »Was ist denn passiert?«, fragte er entsetzt.

»Sie haben uns aufgelauert. Jemand muss ihnen einen Tipp gegeben haben«, keuchte Nathan, sein South-Carolina-Akzent überdeutlich, während er die Stofffetzen fest um seinen Oberschenkel band.

»Was ist mit den anderen …?«, fragte Jake nervös.

»Vielleicht gefangen, vielleicht tot. Vielleicht sind sie auch entkommen. Ich weiß es nicht. Wir wurden getrennt.«

Jake spürte, wie sein Magen sich verkrampfte.

»Hilf mir auf!«

Jake packte Nathan an den Armen und zog ihn auf die Beine.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppte Nathan sich unter Deck. »Beeil dich, uns bleibt höchstens eine Minute, bis sie hier sind.«

»Bis wer hier ist?«, hakte Jake nach.

Doch Nathan ignorierte ihn, stolperte durch die Kombüse und verschwand in seiner Kabine.

Verwirrt beobachtete Jake, wie Nathan seinen Kleiderschrank öffnete und eine Kiste von ganz unten aus einem Stapel zog, woraufhin die anderen polternd zu Boden krachten. »Du willst dich umziehen?«, fragte er ungläubig.

»Halt die Klappe«, fauchte Nathan und riss den Deckel der Kiste auf. Kleidungsstücke flogen durch die Luft und landeten überall auf dem Boden, bis er schließlich fand, wonach er gesucht hatte.

Als Jake die scharlachrote Kutte und den daran befestigten schwarzen Brustpanzer erblickte, traute er seinen Augen kaum.

Schließlich zog Nathan noch eine Schere aus der Kiste. »Schnell! Schnell jetzt!«, keuchte er, und Jake folgte ihm zurück an Deck.

Nathan überprüfte kurz, ob seine Verfolger den Hafen bereits erreicht hatten. »Halt das«, sagte er, drückte Jake Kutte, Brustpanzer und Schere in die Arme und humpelte zu dem Meslith-Schreiber, den Charlie an Deck gelassen hatte. »Halt die Augen offen, und gib mir Bescheid, sobald jemand kommt.«

Er drehte die Kurbel an der Rückseite des Geräts, und als ein leises Summen ertönte, fing er sofort an zu tippen. Der Kristallstab knisterte und begann Funken zu sprühen, die Nathans angespannte Gesichtszüge gespenstisch erleuchteten. Er hatte noch nicht einmal die Hälfte seiner Nachricht abgesetzt, da erstarb das elektrische Summen wieder. »Komm schon!«, fluchte Nathan und drehte erneut an der Kurbel.

Jake befühlte den schwarzen Brustharnisch. Er war erstaunlich leicht und schon etwas verbeult, aber er schien aus äußerst robustem Metall gefertigt zu sein. In der Mitte befand sich ein mit echtem Silber hinterlegtes Wappen: eine sich um einen Schild windende Schlange.

Da hörte Jake Geräusche vom Kai. Er spähte in die Finsternis, und sein Herz setzte einen Schlag lang aus. »Nathan. Sie sind hier«, flüsterte er.

Nathan wandte den Kopf und sah mehrere Gestalten näher kommen. »Nichts wie weg hier«, sagte er, klemmte sich den Meslith-Schreiber unter den Arm und humpelte los. Doch als er damit über die Reling klettern wollte, blieb er mit dem verwundeten Bein hängen, ein Schmerzensschrei entrang sich ihm, und das Gerät entglitt seinem Griff, um auf dem gemauerten Kai in tausend Stücke zu zerspringen. Es blieb jedoch nicht viel Zeit, den Verlust zu betrauern, denn die Verfolger kamen immer näher. Also sprang Nathan kurzerhand hinterher und trat die Trümmer des Meslith-Schreibers hastig ins Wasser. »Hier lang, oder wir sind beide tot!«, zischte er und stolperte auf einen steinernen Torbogen zu.

»Soll ich noch irgendwas mitnehmen?«

»Ja, einen Schlafsack und deine Zahnbürste.«

Jake brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Nathan lediglich einen sarkastischen Scherz gemacht hatte.

»Komm jetzt, du Idiot!«

Jake sprang über die Reling und folgte Nathan in den schmalen Durchgang. Die Schritte der Kuttenmänner kamen schnell näher.

Nathan zog ihn hastig unter einen Baum und bedeutete ihm, leise zu sein. Dann sahen sie, wie ein Dutzend groß gewachsener und athletisch gebauter Männer neben der Campana stehen blieb. Alle trugen ein Schwert am Gürtel und den gleichen purpurfarbenen Umhang mit schwarzem Brustpanzer. Einer von ihnen führte einen kräftigen, gefährlich aussehenden Mastiff an der Leine, und auf seinen Befehl hin ging die Hälfte der Gruppe an Bord. Sie durchkämmten das Schiff und warfen alles, was ihnen wertlos erschien, ins Meer.

»Banausen«, schnaubte Nathan angewidert, als er seine geliebten Kleider im schmutzigen Hafenwasser treiben sah.

Da drehte der Mann mit dem Mastiff den Kopf in die Richtung des Torbogens, hinter dem Jake und Nathan sich versteckt hielten, und als er seine Kapuze vom Kopf nahm, zuckte Jake unwillkürlich zusammen: Der Mann hatte einen Nacken wie ein Stier, der Schädel war kahlrasiert, und über die ganze Länge seines Gesichts verlief eine Narbe. Unter der Kutte trug er einen schwarzen Ledermantel und hohe, schlammverschmierte Stiefel. Nach einem Moment, der Jake vorkam wie eine Ewigkeit, wandte der Mann sich endlich wieder der Campana zu, aber sein Hund – eine von vielen Kämpfen vernarbte Bestie – starrte weiter in ihre Richtung. Er spürte, dass jemand dort war.

Nathan stieß Jake an und flüsterte: »Da lang. Und keinen Mucks.«

Sie waren kaum um die nächste Ecke verschwunden, da begann der Hund zu knurren, und sie beschleunigten ihren Schritt. Mit zusammengebissenen Zähnen schleppte Nathan sich vorwärts, bis er schließlich anhielt und Jake mit schmerzverzerrtem Gesicht ansah. Er war kreidebleich und schien nur unter größter Anstrengung sprechen zu können. »Ich habe zu viel Blut verloren … du musst allein weiter.« Er setzte sich aufs Pflaster und zog den Druckverband um seinen Oberschenkel fester.

»Weiter? Wohin?«, fragte Jake zurück.

»Du musst mir jetzt gut zuhören. Es ist unsere einzige Chance.«

Aus dem Knurren des Mastiff war inzwischen ein Bellen geworden, und es kam näher.

»Diese Männer beim Schiff – das sind Soldaten der Schwarzen Armee. Der Kerl mit dem Hund heißt Friedrich von Bliecke. Er und seine Bande gehören zu Prinz Zeldt.«

»Zeldt?«, wiederholte Jake verblüfft. »Der, den mein Bruder finden wollte?«

»Genau der. Wir dachten, er wäre tot. Seit drei Jahren hat ihn niemand mehr gesehen. Aber irgendwo hier in Europa scheint er noch sehr lebendig zu sein. Und diese Katastrophe, die sich anbahnt … Er steckt dahinter …« Nathan musste kurz innehalten, bis der Schmerz wieder nachgelassen hatte. »Als ich die roten Kutten sah, wusste ich, dass er es ist.« Nathan deutete auf das Bündel unter Jakes Arm. »Diese Sachen haben einmal einem seiner Soldaten gehört. Und das da ist Zeldts Wappen.« Nathan deutete auf den Schild mit der Schlange.

»Als wir hier ankamen, habe ich einen Mann gesehen, der genau so eine Kutte trug«, erwiderte Jake. »Ich wollte Charlie auf den Kerl aufmerksam machen, aber da war er schon wieder verschwunden.«

Nathan blickte Jake fest in die Augen. »Zeldt ist das personifizierte Böse. Verstehst du, was ich sage? Das absolute Böse!«

Jake nickte.

»Nein, du verstehst gar nichts! Stell dir den schlimmsten Schlächter vor, von dem du je gehört hast, und dann jemanden, der noch tausendmal grausamer ist – dann weißt du, wovon ich spreche!«

»Wer ist dieser Mann?«

»Keine Zeit für Erklärungen. Seine Familie … eine Königsfamilie … und er ist noch nicht mal der Schlimmste …« Nathan drohte das Bewusstsein zu verlieren, aber das Kläffen des Hundes – jetzt noch viel näher – rüttelte ihn wieder wach. Er packte Jake am Arm. »Du musst zum Markusdom. Finde heraus, was deine Eltern entdeckt haben. Beichte, Markusdom, Amerigo Vespucci. Finde heraus, was das bedeutet.«

Jakes Gedanken überschlugen sich.

»Zieh die Kutte an. Verkleide dich als einer der Ihren.«

Jake nickte.

»Hast du die Schere?«, fragte Nathan.

Jake hielt die Schere hoch.

»Schneid dir die Haare ab, sobald sich eine Gelegenheit bietet, damit du unter ihnen nicht auffällst.«

Wieder nickte Jake, dem alles so unwirklich vorkam wie ein böser Traum.

Nathan zog einen kleinen Lederbeutel mit funkelnden Goldmünzen aus seinem Wams. »Hier, das dürfte reichen. Und nimm das hier mit. Damit kannst du Feuer machen«, sagte er und reichte Jake ein Gerät, das aussah wie eine Miniaturlaterne mit einem Feuerstein daran. »Pass gut darauf auf. Sonst wird die Geschichte der Menschheit einen finstereren Verlauf nehmen, als du dir auch nur im Entferntesten vorstellen kannst.«

»Aber, ich verstehe nicht … Was ist mit den anderen?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was mit den anderen ist! Hör zu: Ich würde dich nur aufhalten, also musst du allein weiter. Du bist unsere einzige Hoffnung.«

Das Bellen des Hundes war nur noch wenige Meter entfernt. Nathan legte Jake beide Hände auf die Schultern und blickte ihm fest in die Augen: »Sieh mal, Jake. Du scheinst ein Mann zu sein, der etwas taugt. Deine Eltern gehören zu den besten Agenten, die der Geheimdienst jemals hervorgebracht hat. Etwas davon muss auch in dir schlummern, kapiert?«

Jake nickte ein letztes Mal. Neben dem Bellen waren jetzt auch die Stimmen ihrer Verfolger zu hören.

»Ich sorge dafür, dass niemand dich verfolgt. Sie werden mich nicht töten, ich bin zu wertvoll für sie.« Nathan schaffte es gerade noch, seinen Degen zu ziehen. »Sieh dir nur mein schönes Wams an«, stammelte er und deutete auf einen langen, bluttriefenden Riss in dem grünen Seidenstoff. »Feinster Florentiner Brokat. Das Beste, was man für Geld kaufen kann. Was für eine Schande …«

Jake blickte den Kanal entlang in die Richtung, in die er gleich fliehen würde.

»Noch ein Letztes …«, keuchte Nathan mit seinem tiefen Südstaatenakzent und schien einen Moment lang nach den richtigen Worten zu suchen. »Es ist die Geschichte, welche die Dinge zusammenhält – sie ist der Leim, ohne den alles zerfällt. Alles! Ohne sie gibt es keine Zivilisation, und wir retten die Geschichte. Wir, die Geschichtshüter. Das ist die nackte Wahrheit und kein bloßes Gerede. Unsere Mission darf nicht scheitern.«

»Verstanden«, erwiderte Jake mit fester Stimme, und Nathan wusste, dass Jake ihm nichts vormachte.

»Und jetzt, geh. Geh!«

Genau in diesem Moment kam der Mastiff mit gefletschten Lefzen um die Ecke gejagt, die Soldaten in den roten Kutten direkt hinter ihm.

Nathan kam mühsam auf die Beine und hob mit letzter Kraft seinen Degen.

Jake sprang auf die Füße, rannte ein kurzes Stück den Kanal entlang und verschwand dann im Labyrinth der Gassen.

Inzwischen hatte der Mastiff zum Sprung angesetzt. Nathan wurde von den Beinen gerissen, und nur einen Wimpernschlag später war er von den Soldaten umzingelt. Nathan starrte noch einen Moment lang hinauf in von Blieckes vernarbtes Gesicht, dann verlor er das Bewusstsein.

Ohne nachzudenken oder auch nur nach links oder rechts zu blicken, rannte Jake die engen Gassen entlang, über Stufen und Brücken, und blieb erst stehen, als er eine Viertelstunde später den Canal Grande erreichte. Jake stand vor einem kleinen, von Zypressen umstandenen Platz, auf dem überall halb fertig geschnittene Steinblöcke lagen, die wohl für ein neues Gebäude bestimmt waren. Kutte, Brustpanzer und Schere hatte er immer noch unter den Arm geklemmt.

Angestrengt nach Luft schnappend suchte er mit den Augen den Platz ab. Der Canal Grande lag schimmernd im Mondlicht, die mächtigen Paläste zu beiden Seiten in tiefem Schlaf, und zu seiner Linken sah Jake den unverkennbaren Bogen der Rialtobrücke. Anscheinend war ihm niemand gefolgt.

Jake ließ sich am Fuß einer der Zypressen auf den Boden sinken. Allmählich begriff er das Ausmaß der Situation. Ihm fiel wieder ein, wie er als Achtjähriger einmal in einem riesigen Einkaufszentrum seine Eltern verloren hatte, und er dachte an die Angst, die ihn damals ergriffen hatte, während er auf der Suche nach ihnen verzweifelt durch den Irrgarten aus neonbeleuchteten Schaufenstern geirrt war. Damals hatte sein Verstand schließlich die Oberhand gewonnen: Er hatte gewusst, er würde seine Eltern finden, hatte gewusst, in welcher Straße er wohnte und dass alle um ihn herum dieselbe Sprache sprachen wie er.

Doch das hier war etwas anderes. Diesmal war er allein. So allein, wie man nur sein konnte. Jake war in einem fremden Land, in einer ihm unbekannten Stadt, in einem anderen Zeitalter, durch einen tödlichen Feind von seinen Freunden getrennt. Noch einmal zog er die Papiere seiner Eltern heraus und betrachtete die Fotos. Sie verschwammen vor seinen Augen. Jake wusste, er durfte auf keinen Fall die Kontrolle verlieren, und so fasste er einen Entschluss: Er durfte und er würde nicht verzweifeln, sondern seine Angst mit Vernunft niederkämpfen.

Nathan hatte gesagt, er solle zum Markusdom gehen, Jake sei ihre einzige Hoffnung. Und genau das würde er tun. Seine Eltern und die anderen finden. Nathan hatte ebenfalls gesagt, er wäre zu wertvoll, als dass Zeldts Soldaten ihn töten würden. Mit Sicherheit galt das auch für die anderen – sie waren alle zu wertvoll und deshalb noch am Leben, irgendwo.

Jake wusste, was er zu tun hatte, aber ihm war immer noch mulmig zumute. Immerhin waren die anderen Agenten, die weit erfahrener waren als er selbst, alle gefangen genommen worden. Er selbst war ein absoluter Neuling in diesem Metier. Mit seinen Chancen, den roten Häschern zu entkommen, stand es also nicht gerade zum Besten. Und dieser Prinz Zeldt war, wie Nathan ihm eingeschärft hatte, die Verkörperung des Bösen und hatte eine ganze Armee im Rücken. Jake hingegen war allein, ein Schuljunge, der sich ins sechzehnte Jahrhundert verirrt hatte. Wie in aller Welt sollte er das überleben?

»Hör auf! Genug jetzt!«, sagte Jake zu sich selbst. »Dir bleibt gar keine andere Wahl als zu überleben.«

Entschlossen nahm er die Schere zur Hand und rückte damit den braunen Locken zu Leibe, die seine Mutter so sehr liebte. Lautlos fielen sie auf das schmutzige Pflaster, und innerhalb weniger als einer Minute hatte Jake sich vom unbedarften Lockenschopf in einen jungen Soldaten verwandelt.

Er atmete noch einmal tief ein, steckte die Schere ein, hob Kutte und Brustpanzer auf, straffte seine Schultern und ging los. Als er die Stufen der Rialtobrücke erreichte, spähte er wachsam in die Dunkelheit vor ihm und ging vorsichtig hinauf. Auf dem Scheitel der Brücke angekommen, sah er eine Gruppe von Leuten dicht beieinanderstehen, die aus Flaschen tranken und sich mit rauen Stimmen unterhielten. Als er auf ihrer Höhe war, verstummte das Gespräch abrupt, und sie starrten ihn unverhohlen an.

Jake blieb stehen. »Kirche? Duomo? San Marco?«, fragte er in gebrochenem Italienisch.

Einen Moment lang bekam er keine Antwort, dann deutete eine Frau mit verfilztem, rotem Haar und einem übel geschwollenen Auge wortlos auf eine düstere Straße am anderen Ende der Brücke.

Jake nickte und ging weiter, während die Gruppe ihm schweigend nachblickte und sich schließlich wieder ihrer Unterhaltung widmete.

Als Jake die Piazza San Marco erreichte, schlug die Turmuhr gerade fünf Uhr. Der Platz war riesig. Der Campanile ragte hoch in den Morgenhimmel auf. Gleich daneben sah Jake die märchenhaft anmutenden Kuppeln und Türmchen des Doms, und zu beiden Seiten der Piazza erstreckten sich imposante, ockerfarbene Gebäude mit mehrstöckigen Arkaden davor, deren von Sonne und Seeluft gebleichten Baumwollmarkisen sich sanft in der morgendlichen Brise blähten. Die Sonne ging bereits auf, während die ersten, noch verschlafenen Venezianer sich an ihr Tagwerk machten.

Jake blickte sich vorsichtig um, während er die Piazza überquerte. Als er an einem alten, bärtigen Mann in zerrissener Kleidung vorüberkam, der ihn mit zusammengekniffenen Augen beobachtete, beschleunigte er seine Schritte und fand zu seiner Überraschung die Eingangstüren des Doms weit offen.

Im Inneren der Kirche wimmelte es bereits vor Geschäftigkeit. Die Sitzbänke waren entfernt worden, überall lagen Sägespäne auf dem marmornen Boden, Gänse und Schafe liefen frei umher, und irgendwo sah Jake sogar eine Kuh, die gemächlich wiederkäute; dazwischen Menschen, die eifrig um Stoffe, Gewürze und Töpferwaren feilschten, sich lebhaft unterhielten oder in schattigen Winkeln vor sich hin dösten.

Vor einer der Längsseiten ragte ein hölzernes Gerüst auf. Oben auf der zerbrechlich wirkenden Konstruktion stand ein Mann mit einem rechteckigen Hut auf dem Kopf und arbeitete an einem Fresko. Die Umrisse der Figuren waren bereits fertig, und der Maler schickte sich an, die Flächen dazwischen mit einem leuchtend blauen Himmel zu füllen.

Wie hypnotisiert trat Jake näher an das Gerüst und fragte sich, ob es sich bei dem Maler um einen berühmten Meister handelte; Leonardo da Vinci oder Michelangelo vielleicht, überlegte er.

Der Maler, der Jakes neugierige Blicke zu spüren schien, schaute kurz nach unten und zwinkerte ihm zu, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit.

In diesem Moment registrierte Jake am Rand seines Gesichtsfelds eine Gestalt, bei deren Anblick er unwillkürlich die Luft anhielt: Sie war in eine scharlachrote Kutte gewandet und schritt zielstrebig durch die Kirche. Jake senkte den Kopf und drehte sich ein Stück weg, beobachtete den Mann aber weiter aus dem Augenwinkel.

Schon wenige Momente später verschwand er in einer Art hölzernem Verschlag am anderen Ende des Kirchenschiffs.

Möglichst unauffällig ging Jake in dieselbe Richtung, und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Beichte, Markusdom, Amerigo Vespucci. Der hölzerne Verschlag, in dem der Kuttenträger verschwunden war, war nichts anderes als ein Beichtstuhl! Jake stellte sich hinter eine der Steinsäulen und spähte vorsichtig um die Ecke.

Der Beichtstuhl hatte zwei Abteile. Die eine Kabine, in der wahrscheinlich der Priester saß, war verschlossen, die Tür zur anderen stand offen, und hinter dem nur halb zugezogenen Vorhang sah Jake den leuchtend roten Umhang.

Bis er plötzlich verschwand.

»Was?!«, entfuhr es Jake, während er sich ein Stückchen weiter hinter der Säule hervorwagte, um besser sehen zu können. Kein Zweifel: Die Beichtkabine war leer.

»Per piacere.«

Eine helle Stimme direkt neben seinem Ohr ließ Jake zusammenfahren. Als er sich umdrehte, stand vor ihm eine alte Frau, die ihm die von tiefen Falten zerfurchten Hände entgegenstreckte. Eines ihrer Augen war durchgehend milchig weiß.

»Per piacere«, wiederholte sie und stieß ihm die knochigen Finger in die Rippen.

Jake lächelte verhalten und dachte an den Lederbeutel, den Nathan ihm gegeben hatte. Ganz langsam zog er ihn hervor, nahm eine Münze heraus und gab sie der alten Frau.

Zuerst reagierte sie nicht, doch dann verwandelte sich der ungläubige Ausdruck auf ihrem Gesicht in helles Freudenstrahlen. »Dio vi benedica«, flüsterte die Frau lächelnd, während sie Jake mit ledrigen Fingern über die Wange strich. Dann verbeugte sie sich, trat ein paar Schritte zurück und verschwand im Gedränge der Leute.

Jake richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Beichtstuhl. Es muss eine Geheimtür darin sein, dachte er. Ein Eingang. Zu was auch immer.

Die Vorstellung behagte ihm zwar nicht sonderlich, aber Jake wusste, dass er irgendwie dort hineingelangen musste. Mit pochendem Herzen blickte er auf die Kutte und den Brustpanzer unter seinem Arm: Dies war der Moment, beides anzulegen.

Der Harnisch war leicht und stabil, bedeckte Jakes Brust und Bauch und passte wie angegossen. Nur der Umhang schien etwas zu lang und reichte bis zum Boden.

Jake zog die Kapuze tief ins Gesicht und ging los. Mit einem letzten entschlossenen Schritt zog er den Vorhang beiseite und betrat die offene Kabine. Als er darin keinen Hinweis auf eine weitere Tür entdeckte, legte er beide Hände auf die Rückwand und drückte dagegen.

Nichts.

»Chi volete vedere?«, zischte eine Stimme hinter dem Trenngitter, die Jake das Blut in den Adern gefrieren ließ. Vage konnte er die Umrisse eines Gesichts erkennen.

»Chi volete vedere?«, wiederholte der Mann und zog an einer langstieligen Pfeife, deren Rauch in dünnen Schwaden in Jakes Kabine kroch.

Er sprach zwar so gut wie kein Italienisch, aber Jake war sicher, dass chi »wen« bedeuten musste. Und noch etwas fiel ihm ein: der Name, den seine Eltern aufgeschrieben hatten. Der Name des Mannes, nach dem Amerika benannt war.

»Amerigo Vespucci …«, sagte er.

Einen Moment blieb es totenstill, dann hörte Jake ein leises Klicken, und die Rückwand der Kabine glitt zur Seite. Dahinter lag ein Tunnel. Jake schlüpfte hinein, und die Tür schloss sich hinter ihm.


13

IM SCHATTEN DES BÖSEN

Der Gang vor ihm war dunkel und feucht, die Wände aus massivem Stein. Jake sah, wie der Mann mit der roten Kutte den Tunnel bereits am anderen Ende wieder verließ, und machte sich an die Verfolgung.

Er trat in einen großen, nur schummrig beleuchteten Vorraum mit kreisförmigem Grundriss, über den sich eine hohe Gewölbedecke spannte. Das wenige Licht kam von einem weiteren Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite. Die Augen fest darauf gerichtet, durchquerte Jake mit schnellen Schritten den Raum und stolperte unvermittelt über einen kleinen Absatz. Als er hörte, wie Kieselsteine durch eine Öffnung im Boden fielen, blieb er abrupt stehen.

Jake blickte nach unten und schnappte unwillkürlich nach Luft: Vor seinen Füßen gähnte ein gigantisches Bohrloch, das sich unendlich weit in die Tiefe zu erstrecken schien. An der Seite des Schachts entlang führte eine steinerne Wendeltreppe hinab in die Dunkelheit. Die Luft, die ihm daraus entgegenwehte, war kalt und feucht, und von unten drang das Echo tropfenden Wassers an Jakes Ohren. Dem Geräusch nach zu urteilen, reichte der Schacht bis tief unter die Kanäle der Stadt.

Jake trat einen Schritt zurück und lief, immer wieder ehrfürchtig in den Abgrund starrend, am Rand des Bohrlochs entlang, bis er den zweiten Durchgang erreichte, durch den die scharlachrote Gestalt verschwunden war.

Dahinter befand sich ein noch größerer Raum. Es war eine Art Atelier, doppelt so hoch wie alle, die Jake bisher gesehen hatte, und die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster waren vergittert. Der Kuttenmann, dem er auf den Fersen war, eilte durch das Atelier auf einen weiteren Durchgang zu.

Jake zögerte einen Moment. »Ich kann das nicht«, sagte er zu sich selbst. Er wollte schon umkehren, da fiel ihm der Entschluss ein, den er auf dem Weg hierher gefasst hatte. Du hast gar keine andere Wahl. Jake gab sich einen Ruck und betrat das Atelier.

Die Sonne war gerade erst aufgegangen, und er brauchte eine Weile, um sich an das gespenstische Zwielicht zu gewöhnen. Die hohen Fenster erlaubten einen Blick auf einen schmalen Kanal. Vor ihnen stand eine lange Reihe provisorisch anmutender Tische mit einfachen Holzbänken. Von der Decke hingen große Kerzenleuchter, und zu seiner Linken entdeckte Jake einen weiteren Durchgang, der jedoch von einem schweren eisernen Gitter versperrt war.

Er bewegte sich vorsichtig auf einen der Tische zu und blieb erneut mit dem Fuß an etwas hängen. An etwas Metallischem, dachte er, und als er nach unten schaute, sah er die schweren Eisenringe, die entlang der Tischreihe in den Boden eingelassen waren.

Sein Blick wanderte weiter zu den großen Pergamentbogen, die auf den Tischen ausgebreitet lagen. Jake betrachtete die komplizierten Zeichnungen und Diagramme darauf, sah Tintenfässer und Federkiele, die neben den Bogen bereitlagen, und als er noch genauer hinschaute, durchfuhr es ihn wie ein Stromstoß.

»Superia …«, flüsterte Jake. »Findet Gipfel von Superia.« So hatte die Nachricht gelautet, die seine Eltern zum Nullpunkt, nach Mont Saint-Michel, geschickt hatten – und so lautete auch die Überschrift, die in Fraktur über jedem der Pergamentbogen geschrieben stand.

Daneben sah er die Zeichnung einer Schlange, die sich um einen Schild wand; das gleiche Wappen, das auch in Jakes Brustharnisch graviert war. Die restliche Fläche war übersät mit detaillierten Zeichnungen eines Gebäudes von beeindruckenden Proportionen. Mindestens vierzig Stockwerke, genauso hoch wie ein moderner Wolkenkratzer, schätzte Jake. Doch der Baustil war altertümlich mit den gotischen Rundbogenfenstern und Wasserspeiern auf den zahllosen Simsen. Außerdem war, wie in dem Atelier, jedes einzelne der mindestens tausend Fenster vergittert. Das Bauwerk sah aus wie eine düstere Zukunftsvision eines Menschen aus dem sechzehnten Jahrhundert, dachte Jake, und irgendetwas an dieser Tatsache beunruhigte ihn. Er ging weiter zum nächsten Tisch. Die Zeichnungen dort waren Entwürfe für ein gigantisches Tor in einer mächtigen Mauer, genauso finster und ebenfalls mit vergitterten, bullaugenartigen Fenstern.

Jake wanderte weiter an den Tischen entlang und betrachtete die Pläne. Über allen prangten die gleiche Überschrift und das gleiche Wappen, alle zeigten sie düstere, monumentale Bauwerke. Jake erinnerte sich an das, was sie in der Pizzabäckerei entdeckt hatten: Der einzige Anhaltspunkt, den seine Eltern gehabt hatten, waren die verschwundenen Architekten gewesen. Das konnte kein Zufall sein.

Plötzlich hörte er, wie sich durch den Tunnel hinter ihm Schritte näherten. Jakes Kopf fuhr herum auf der hektischen Suche nach einem Versteck, aber es blieb nicht genug Zeit. Also zog er sich vorsichtig in eine dunkle Ecke zurück, während sechs Gestalten in roten Kutten im Gleichschritt in den Raum marschierten. Mit ihren brennenden Fackeln begannen sie, die dicken Wachskerzen auf den Lüstern anzuzünden. Als einer von ihnen plötzlich auf Jake zukam, hielt er den Atem an.

Doch der Mann schien keinen Verdacht zu schöpfen, schließlich war Jakes scharlachrote Uniform die perfekte Verkleidung an diesem Ort, und der Soldat reichte ihm lediglich eine Fackel. Als er ihm dann befahl, gefälligst zu helfen, war Jake dennoch überrascht: Der Soldat sprach Englisch.

Jake nahm die Fackel entgegen und konnte kurz das Gesicht seines Gegenübers sehen. Es war ein groß gewachsener Teenager mit kurz geschorenem Haar, kalten Augen und einem Auftreten, das auf erschreckende Weise erwachsen wirkte. Jake ließ den Blick über die anderen Soldaten schweifen: Er sah sowohl Jungen als auch Mädchen, doch irgendwie waren sie alle gleich – zusammengekniffene Münder in ausdruckslosen, harten Gesichtern, wie Maschinen. Jake wusste instinktiv, dass er sich genauso gebärden musste, wenn er nicht auffallen wollte.

Während er sich daran machte, die Kerzen zu entzünden, nahm einer der Wächter einen großen Schlüsselring von seinem Gürtel und schloss die Gittertür auf, die den Durchgang zu dem Raum links versperrte.

»Svegliati! Wacht auf! An die Arbeit!«, bellte er.

Jake hörte ein paar gemurmelte Worte und das Rasseln von Ketten. Wenige Augenblicke später kam eine traurige Prozession von einem Dutzend Männern, alle an den Händen gefesselt und an den Füßen aneinandergekettet, in das Atelier geschlurft. Sie mussten einst wohlhabend gewesen sein, denn die löchrigen Fetzen, die ihnen vom Leib hingen, waren einmal feinstes Tuch gewesen. Doch jetzt wurden sie wie Vieh zu den Tischen getrieben, wo ihnen die Handfesseln abgenommen und die Füße sogleich an die am Boden befestigten Eisenringe gekettet wurden.

Jake hatte nicht den geringsten Zweifel, dass dies die vermissten Architekten waren.

Einer von ihnen versuchte, dem alten Mann neben sich ein Stück Brot zuzustecken. Der greise Nachbar nahm es dankbar lächelnd entgegen, doch schon im nächsten Augenblick fuhr ein Knüppel auf seine Hand nieder, und das Brot fiel zu Boden, wo der Wächter es mit dem Stiefel beiseitetrat, in Jakes Richtung.

»An die Arbeit mit euch!«, brüllte der Soldat.

Der alte Mann gehorchte, setzte sich an seinen Tisch, nahm mit knochigen, zittrigen Fingern den Federkiel zur Hand und begann zu zeichnen.

»Und damit meine ich euch alle!«, schrie der Wärter weiter und ließ den Knüppel krachend auf einen der Tische niedersausen.

Jake versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, tastete aber unwillkürlich nach dem Schwert unter seiner Kutte. Während die Architekten sich an die Arbeit machten, studierte er ihre Gesichter genauer: Sie waren alle blass, die leeren Augen voller Verzweiflung, doch der bemitleidenswerteste von allen war der alte Mann, dem der Wärter das Stück Brot verweigert hatte. Während er zeichnete, flackerten seine Augenlider, und er murmelte ständig vor sich hin.

Der Anblick des geschundenen Greises erfüllte Jake mit hilflosem Zorn.

Als eine weitere Tür geöffnet wurde und sich alle Blicke in ihre Richtung wandten, bückte Jake sich ohne nachzudenken nach dem Stück Brot. Dann trat er einen Schritt nach vorn und legte es dem alten Mann auf den Schoß. Als dieser ihn verblüfft anstarrte, warf Jake ihm einen kurzen strengen Blick zu und zog sich dann wieder zurück.

Unterdessen betrat ein hünenhafter Mann den Raum, gefolgt von einem gefährlich aussehenden Hund.

Jake konnte ein leichtes Zittern nicht unterdrücken: Es war von Bliecke mit seiner unverkennbaren Narbe im Gesicht, der ihn und Nathan im Hafen verfolgt hatte.

Von Bliecke griff nach einem Wasserkrug, trank einen großen Schluck daraus und goss sich den Rest über den Kopf, um wach zu werden. Der Mastiff gähnte und streckte sich, dann lief er neugierig schnüffelnd durchs Atelier.

Stocksteif stand Jake da, während die Bestie sich ihm näherte. Erst jetzt sah er, wie übel zugerichtet das Vieh war: Ein Ohr hing in Fetzen, der ganze Schädel war vernarbt, ein Auge halb geschlossen, und auf einer Flanke wuchs so gut wie kein Fell mehr.

Das Tier schien Witterung aufgenommen zu haben, denn Jake spürte seine kalte, feuchte Schnauze an der Hand, und als er versuchte, sie wegzuziehen, zog der Mastiff knurrend die Lefzen nach oben.

»Felson!«, rief von Bliecke. Widerstrebend ließ der Hund von Jake ab und trottete hinüber zu seinem Herrn, der einen halb abgenagten Knochen in eine Ecke warf, auf den Felson sich sofort begierig stürzte.

Jake atmete auf.

Von Bliecke zog ein altmodisches Rasiermesser unter seinem Umhang hervor, klappte die blitzende Klinge aus und fuhr sich damit über den stoppeligen Schädel, ohne den kleinen Schnitten, die er sich dabei zufügte, auch nur die geringste Beachtung zu schenken.

In dem Bewusstsein, dass dieser Mann möglicherweise wusste, wo Nathan, Topaz und Charlie – und nicht zuletzt seine Eltern – waren, beobachtete Jake ihn aus dem Augenwinkel, so genau es nur irgend ging. Vielleicht wusste das Ungeheuer sogar etwas über den Verbleib seines Bruders Philip.

Beinahe eine ganze Stunde lang stand Jake so da, wobei er weder die entführten Architekten aus den Augen ließ noch von Bliecke, der damit beschäftigt war, sein persönliches Waffenarsenal zu polieren. Da sah er, wie sich auf dem Kanal jenseits des Fensters eine schwarze Gondel mit ebenso schwarzem Sonnendach näherte. Die Gondel legte an, vier Soldaten in roten Umhängen stiegen aus, und als ihnen die junge Frau folgte, die unter dem schwarzen Sonnendach gesessen hatte, nahmen sie sofort Haltung an und senkten die Köpfe.

Von Bliecke hatte die Neuankömmlinge ebenfalls bemerkt. »Mina Schlitz …«, sagte er leise und zog eine Braue nach oben.

Alle im Raum erstarrten beim Klang des Namens – die Gefangenen genauso wie deren Wärter.

Einen Moment später ertönte ein lautes Klopfen an der Tür.

Felson kam sogleich herbeigelaufen und schnupperte am Türspalt. Plötzlich zog er den Schwanz ein und verkroch sich winselnd unter einem der Zeichentische.

Von Bliecke ging zu der Tür, schob die vier großen Riegel zur Seite und öffnete sie.

Mina Schlitz betrat den Raum, gefolgt von ihrer Garde.

Jake war überrascht: Sie war noch ein Teenager, etwa in Jakes Alter, hatte dunkle Augen, rabenschwarzes, glattes Haar – und eine Ausstrahlung, zu der ihm nur die Worte »arrogant« und »eiskalt« einfielen. Sie trug eine Seidenbluse mit plissierten Ärmeln, darüber ein eng sitzendes Wams. Ein samtenes Barett krönte ihr alabasterweißes Gesicht, und um den Hals trug sie eine Perle, die an einem schmucklosen Stück scharlachroten Fadens hing. Um ihren Unterarm wand sich eine dünne, auf dem Rücken rot gezeichnete Schlange, die Mina mit blassen Fingern zärtlich streichelte.

»Guten Tag, Miss Schlitz … hattet Ihr eine angenehme Reise?«, murmelte von Bliecke und neigte das Haupt.

Das Mädchen ignorierte seine Frage und küsste die Schlange auf den Kopf, um sie dann behutsam in einen kleinen, an ihrem Gürtel befestigten Käfig zu legen. Keiner wagte auch nur einen Mucks zu machen, während ihre kalten Augen durch den Raum schweiften.

»Macht eure Pläne fertig«, wies sie die Architekten mit einer Stimme wie Säure an und wandte sich dann an von Bliecke. Sie hatte einen leichten deutschen Akzent, aber ansonsten war ihr Englisch makellos: »Kommandant, die gefangen genommenen Agenten sind sofort nach Schloss Schwarzheim zu überstellen.«

Jake spitzte die Ohren. Damit konnten nur Topaz und die anderen gemeint sein. Die Nachricht, dass sie noch am Leben waren, beruhigte ihn ein wenig.

»Und Doktor Talisman Kant, ich dach …«, antwortete von Bliecke auf Deutsch, aber Mina fiel ihm ins Wort.

»Englisch!«, unterbrach sie barsch. »Englisch ist die königliche Sprache.«

Seufzend gehorchte von Bliecke. »Und Doktor Kant? Das Treffen in Bassano?«, fragte er.

»Eure Befehle wurden geändert. Ich werde Doktor Kant treffen.« Mina musterte ihre Leibgarde. »Diese Soldaten werden mich begleiten. Nach dem Treffen werde ich mich ebenfalls auf Schloss Schwarzheim einfinden. Das wäre alles.«

Mit einem finsteren Blick wandte von Bliecke sich ab, packte sein Waffenarsenal ein, pfiff nach Felson und ging.

Jakes Puls raste, als er von Bliecke den Raum verlassen sah. Nichts hätte er lieber getan, als ihm zu folgen. Schließlich hatte von Bliecke Befehl, »die gefangen genommenen Agenten sofort nach Schloss Schwarzheim zu überstellen«, und hätte ihn somit direkt zu Topaz und den anderen geführt. Aber Jake musste bleiben wo er war und versuchte stattdessen, sich die wichtigen Details der kurzen Unterhaltung einzuprägen: Bassano, Doktor Talisman Kant, Schloss Schwarzheim …, wiederholte er in Gedanken.

Von Bliecke war gerade bei der Tür angelangt, als Mina erneut das Wort an ihn richtete: »Um Euer selbst willen hoffe ich, dass Euch keine weiteren Fehler mehr unterlaufen werden.«

Wie vom Blitz getroffen, hielt von Bliecke inne.

»Vier Jahre minutiöser Vorbereitung liegen hinter uns«, sagte Mina mit leiser, scharfer Stimme. »Es bleiben nur noch vier weitere Tage bis zur Apokalypse. Ein Versagen kommt nicht infrage.«

Von Bliecke nickte steif und trat hinaus.

Jake wurde blass. Von allen unheilverkündenden Andeutungen, die er seit seiner Ankunft in Venedig gehört hatte, war das ganz sicher die beunruhigendste. Noch vier Tage bis zur Apokalypse, hatte sie gesagt. Welche Apokalypse? Was war es, das sie vier Jahre lang minutiös vorbereitet hatten?

»Schließt eure Arbeit ab!«, befahl Mina. Sie schritt die Tischreihen entlang, sammelte die Pläne der Architekten ein und verstaute sie in einer großen Mappe. Dann läutete sie mit einer Glocke, woraufhin zwölf weitere Soldaten in den Raum marschierten.

»Achtung!«, rief sie, und die ganze Gruppe, einschließlich Jake, stellte sich in einer Reihe auf. »Wir nehmen den Veneto-Tunnel. Wartet bei den Kutschen auf mich.«

Die Soldaten wandten sich um und marschierten in einer Reihe zu dem Gewölbe mit dem gigantischen Krater und der Wendeltreppe, die hinunter in die Tiefe führte. Jake reihte sich ein. Mit wehenden Umhängen stiegen sie im trommelnden Gleichschritt hinab in eine unterirdische Welt. Je tiefer sie gelangten, desto dunkler wurde es. Auch die Luft wurde stetig wärmer und das Moos an der Wand des Bohrlochs immer feuchter, und Jake fragte sich, wie viel tiefer sie noch so hinabsteigen würden. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah zu Mina Schlitz, die ihnen folgte.

Nach einem langen, schwindelerregenden Abstieg erreichten sie endlich den Boden des Lochs. In dem dort abzweigenden Tunnel standen drei Pferdegespanne bereit. Zwei davon waren offene Pritschenwagen mit einfachen Holzbänken darauf, die dritte hingegen glänzte in schwarzem Klavierlack, auf dem Zeldts Schlangenwappen prangte.

Als Jake zu erkennen versuchte, wohin der Tunnel führte, verschlug es ihm beinahe den Atem: Vor sich sah er eine perfekte Gerade, beinahe kreisförmig im Querschnitt wie die U-Bahn-Tunnel in London, an den Wänden brannten Fackeln, deren flackernder Lichtschein sich kilometerweit in die Ferne erstreckte.

Jake war als Letzter an der Reihe, seinen Platz auf einem der beiden Pritschenwagen einzunehmen. Als er gerade hinaufklettern wollte, hörte er ein metallisches Scheppern – die Schere war ihm aus der Tasche gerutscht und klappernd zu Boden gefallen. Einen Moment lang hielt er inne und überlegte, ob er sie aufheben sollte, doch da kam Mina Schlitz bereits in den Tunnel. Jake entschied sich dafür, keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, schwang sich auf den Pritschenwagen und setzte sich auf den letzten freien Platz.

Versehentlich klemmte er dabei den Umhang seines Nachbarn unterm Hinterteil ein.

»’tschuldigung«, murmelte Jake, ohne nachzudenken.

Der Soldat neben ihm reagierte nicht einmal. Er bedachte Jake nur mit einem kurzen, ausdruckslosen Blick und starrte dann wieder geradeaus.

Unterdessen inspizierte Mina Schlitz die Kutschen.

Jake hoffte inständig, dass ihr das silbrige Glitzern der Schere auf dem schlammigen Boden nicht auffallen würde. Schließlich hörte er erleichtert, wie Mina mit einem lauten Knall die Tür ihrer schwarzen Luxuskarosse hinter sich zuschlug.

Sofort ließen auch die Kutscher ihre Peitschen knallen, und die Karawane setzte sich in Bewegung. Mit einem Knirschen zermalmten die metallbeschlagenen Wagenräder Nathans Schere unter sich.

Jake bestaunte die aus Millionen von Ziegelsteinen errichteten Tunnelwände. Er war so überwältigt von dem Anblick dieses geheimen Stollens, dass er für eine Weile alle seine Sorgen vergaß. Zweifellos hatte der Feind diesen Tunnel nur angelegt, weil er seinen dunklen Zielen diente, doch die bauliche Leistung als solche beeindruckte Jake zutiefst.

Nach einer Weile begann der Stollen sanft anzusteigen, und nach weiteren dreißig Minuten erspähte Jake ein stecknadelgroßes Fleckchen Tageslicht am Ende des Tunnels. Zwanzig Minuten später hatten sie den Ausgang erreicht und befanden sich endlich wieder unter freiem Himmel; sie waren in einen Wald gelangt, den sie auf einer Forststraße durchquerten. Schließlich schlängelte sich die Straße einen Hügel hinauf, von dem aus Jake weit unterhalb die Lagune von Venedig sah. Bei dem Anblick konnte er einen leisen Seufzer nicht unterdrücken. Doch neben aller Anspannung spürte Jake noch etwas anderes, etwas Neues: die Vorfreude des in ihm erwachten Abenteurers.

Der Tross setzte seinen Weg fort, Richtung Norden, nach Bassano.


14

SCHLECHTE NACHRICHTEN

Es war ein strahlender, klarer Tag auf Mont Saint-Michel. Seit der Morgendämmerung waren die letzten Vorbereitungen für Océanes Geburtstagsfest im Gange, das am folgenden Abend im Prunksaal stattfinden würde.

Océane Noire war in Versailles am prunkvollen Hof Ludwigs XV. geboren worden, in einer Zeit, die geprägt war von unvergleichlichem Luxus, und Océane hatte jeden Moment dieser verschwenderischen Zeit in vollen Zügen genossen: die festlichen Bankette, die extravagante Kleidung, die täglichen Vollbäder in Jasminwasser und Rosenblüten.

Als dann die Französische Revolution ausbrach – nicht zuletzt als Auflehnung gegen Leute wie Madame Noire –, war Océane wenig erfreut, denn unpassenderweise fiel sie mitten in die Hochsaison der Debütantinnenbälle. Es ging das Gerücht, dass Marie Antoinettes berühmtes Zitat: »Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Brioche essen«, ursprünglich von ihr stammte, doch diejenigen, die Océane besser kannten, hielten dem entgegen, dass jemand wie sie solch feines Gebäck niemals an Leute »verschwendet« hätte, die damit nur ihren Hunger stillen wollten.

Während ein großer Teil des französischen Adels aus seinem Heimatland floh, harrten Océanes Eltern (einstmals hochgeschätzte Agenten, die mittlerweile ihren Ruhestand in Cap d’Antibes genossen) gemeinsam mit ihrer verzogenen Tochter in Frankreich aus; bis sich die Wogen schließlich wieder einigermaßen geglättet hatten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts das vergleichsweise ruhige Zeitalter der Romantik anbrach.

Von da an war es nur noch bergab gegangen. Océane plagte das unerträgliche Gefühl, ein vollkommen durchschnittliches Leben zu führen. Sie sehnte sich nach jenen verschwenderischen Zeiten zurück und war deshalb wild entschlossen, ihr Geburtstagsfest (auch wenn sie nicht sonderlich erpicht darauf war, vierzig zu werden) in einer auf Mont Saint-Michel noch nie da gewesenen Pracht zu feiern.

Den ganzen Morgen über hatte sich ein nicht enden wollender Strom von Händlern vom Festland über die Insel ergossen, um das Festbankett mit ihren Waren zu bereichern: Floristen brachten Pfingstrosen und Rittersporn, Fleischhändler lieferten Fasane und Wachteln, Konditoren hatten feinste Pralinen, Nugat und Kaffee aus Paris im Gepäck.

Normalbürger bekamen das Innere des Schlosses nur selten zu sehen, weshalb die Lieferanten – obwohl sie unablässig recht geschäftig taten – neugierig Augen und Ohren weit offen hielten auf der Suche nach etwas, das sie auf dem Festland weitertratschen konnten. Natürlich wusste keiner von ihnen, was auf der Insel wirklich vor sich ging, dass sie das Hauptquartier des Geheimdienstes der Geschichtshüter war. Sie hielten Mont Saint-Michel für eine Kolonie von Malern und Schriftstellern, was ihrer Neugier aber nicht den geringsten Abbruch tat.

Die Bewohner wiederum taten das Ihre, um keinen Verdacht zu erwecken. Noch am Tag zuvor hatte Norland an alle ein von Jupitus Cole verfasstes Kommuniqué verteilt, in dem es hieß, dass sich wegen der Anwesenheit von Einheimischen jeder »ohne Ausnahme« dem frühen sechzehnten Jahrhundert gemäß zu kleiden habe. Und so hatte Signore Gondolfino seine Kostümschneiderei noch vor dem Morgengrauen geöffnet und war seither ununterbrochen auf den Beinen gewesen.

Im Prunksaal überwachte Océane Noire mit Argusaugen die Arbeit der Floristen, ihr Blick so hart und kalt wie die sündhaft teuren Diamanten an ihren Ohren. Als Rose Djones hereinkam, verschlug es ihr den Atem beim Anblick der prächtigen Festdekoration, und sie ging sofort hinüber zu Océane. »Ziemlich prächtig, die ganze Ausstattung und alles«, meinte sie. »Soll auch getanzt werden?«

Océanes Miene verfinsterte sich. »Du hast also vor, auch zu kommen?«

»Sind denn nicht alle eingeladen?«

»Heute Abend herrscht eine strikte Kleiderordnung, falls du es noch nicht gehört haben solltest«, gab Océane steif zurück.

»Ich müsste noch irgendwo das Gewand haben, das Olympe de Gouges mir geliehen hat. Ich hoffe, ich kann mich irgendwie hineinquetschen. Hmm, mit ein bisschen Nadel und Faden vielleicht …«

»Könnte höchstens passieren, dass du darin aussiehst wie ein Walross und dich entsprechend unwohl fühlst«, gab Océane zu bedenken.

Rose war klug genug, nichts ernst zu nehmen, das aus Océane Noires Mund kam, konnte sich ihrerseits aber eine kleine Stichelei nicht verkneifen. »Dafür, dass du heute deinen Fünfzigsten feierst, hast du dich erstaunlich gut gehalten.«

Océanes Gesicht wurde rot vor Zorn. »Comment?«

»Ich hoffe, ich sehe noch genauso gut aus wie du, wenn ich ein halbes Jahrhundert alt bin.«

»Quarante«, zischte Océane. »J’ai quarante ans! Vierzig.«

»Ach so«, erwiderte Rose und inspizierte die Fältchen im Gesicht ihres Gegenübers. »Dann habe ich mich wohl getäuscht.«

»A vrais dire, je suis très occupée. Ich bin sehr beschäftigt.« Océane drehte sich naserümpfend um und fragte in den Saal hinein: »Wo ist eigentlich Norland? Wir müssen die Speisekarte für heute Abend besprechen, und zwar immédiatement!« Sie versetzte einem Diener, der gerade in der Nähe stand, einen Schlag mit ihrem Fächer und stolzierte hinaus.

Rose verließ ebenfalls den Saal und stieg die Treppe hinauf. Sie musste sich ernsthafteren Dingen zuwenden. Spät in der vorigen Nacht war Charlies Meslith-Nachricht eingetroffen, dass Jake sich an Bord der Campana geschmuggelt hatte und mit den anderen nach Venedig gereist war. Rose hatte sofort gewusst, warum: Jake war ausgezogen, um seine Eltern zu finden. Natürlich hatte sie Angst um ihn, aber gleichzeitig war Rose auch unendlich stolz auf ihren Neffen. Sie selbst hätte in ihrer Jugend, als sie noch kräftiger war, nichts anderes getan.

Als sie Gallianas Suite erreichte, kam gerade Norland aus der Tür.

»Océane Noire sucht Sie. Ich glaube, es ist dringend«, ließ Rose ihn wissen.

»Dringend?«, fragte Norland mit einem ironischen Lächeln zurück. »Na, dann werde ich wohl erst mal ein ausgiebiges Bad nehmen, denke ich …« Dann lachte er laut los und verschwand in einem der Korridore.

»Galliana? Bist du da drin?«, fragte Rose, im Türrahmen stehend.

Olivia, die gerade ihr morgendliches Nickerchen gehalten hatte, spitzte schwanzwedelnd die Ohren, und Galliana trat aus dem Schlafzimmer. »Rose, danke, dass du gekommen bist. Ich habe eben erst eine Kanne Rauchtee aufgesetzt.«

Galliana holte ein Tablett mit Porzellantassen, und sie machten es sich auf den türkischen Sitzkissen im Schreibzimmer bequem. Die Glasvitrinen in dem Raum waren vollgestopft mit Kostbarkeiten, die Galliana während ihrer zahlreichen Reisen durch die Geschichte gesammelt hatte: lebensgroße Marmorbüsten, Miniaturstatuen aus Jade, kunstvolle Schachfiguren, wunderschöne Fächer vom spanischen Hof, bizarr geformte Stalaktiten, Dinosaurierfossile, konservierte Schmetterlinge und Käfer, Duelldegen und antike Dolche. Inmitten all dieser Kostbarkeiten saß Galliana im Schneidersitz, den Rücken aufrecht, den Blick voll gelassener Weisheit.

»Du bist der einzige Mensch, dem ich uneingeschränkt vertrauen kann«, sagte sie zu Rose und reichte ihr einen Teller mit süßem Gebäck.

»Echtes französisches Gebäck! Wie habe ich es nur ohne ausgehalten?« Rose bestaunte die köstlich aussehenden Teigwaren. Sie wollte schon nach einem Baba au Rhum greifen, überlegte dann kurz, ob sie nicht doch lieber das Montebianco nehmen sollte, und entschied sich schließlich für ein prall mit Crème Pâtissier gefülltes Millefeuille. »Eigentlich gehörten die Dinger als Suchtmittel verboten«, meinte sie schmatzend, nachdem sie einen riesigen Bissen davon verschlungen hatte. »Was ist eigentlich passiert?«

»Ich glaube, wir haben einen Spitzel in unseren Reihen«, antwortete Galliana ohne Umschweife.

Um ein Haar hätte Rose einen Hustenanfall bekommen und schaffte es gerade noch, den halb zerkauten zweiten Bissen hinunterzuschlucken. »Sprich weiter«, erwiderte sie ernst.

»Zu später Stunde letzte Nacht erhielt ich diese Nachricht von Agent Wylder.« Galliana reichte Rose ein Meslith-Kommuniqué.

»›Prinz Zeldt am Leben!‹«, las Rose entsetzt vor.

Galliana bedeutete ihr weiterzulesen.

»›Sie wussten, dass wir kommen. Möglicherweise Spion …‹ Das war alles? Ist ihnen etwas passiert?«

»Wir wissen es nicht. Die Nachricht ist wahrscheinlich verstümmelt, und es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als abzuwarten. Aber, Rose, wenn es tatsächlich einen Spitzel gibt, habe ich Grund zu der Annahme, dass er sich hier mitten unter uns auf Mont Saint-Michel aufhält.«

»Glaubst du wirklich? Um Himmels willen.« Vor lauter Schreck schob Rose dem Millefeuille schnell das Baba au Rhum hinterher, mit dem sie zuvor schon geliebäugelt hatte. »Was macht dich da so sicher?«

»Wie du weißt, wird jedes empfangene Meslith-Kommuniqué sofort zu meinen Händen geschickt.« Galliana deutete auf die Poströhre, die direkt zu ihrem Schreibtisch führte. »Ich bin die Einzige, die Zugang zu dem Inhalt der Kommuniqués hat, und sie unterliegen der strengsten Geheimhaltung – es sei denn, ich erachte es für notwendig, den Inhalt öffentlich zu machen. Dies hier ist das Kommuniqué, das ich gestern von Charlie Chieverley erhielt.« Sie reichte Rose eine weitere Pergamentrolle. »Sieh dir mal die Ecke rechts unten an«, sagte Galliana und gab Rose eine Lupe.

Rose spähte durch das Vergrößerungsglas. »Ist das ein Fingerabdruck?«, fragte sie schließlich.

»Auf jeden Fall ein halber. Und es ist mit Sicherheit nicht meiner.«

»Aber wie sollte jemand außer dir die Nachricht in die Finger bekommen haben?«

»Ich muss davon ausgehen, dass jemand unerlaubterweise mein Büro betreten hat. Es gibt nur zwei Leute, die Zugang zu allen Räumen des Schlosses haben: mich selbst und … Jupitus Cole.«

»Du glaubst, dass er der Informant ist?«

»Drücken wir es so aus: Ich würde ihn gern von der Liste der Verdächtigen streichen können.«

»Galliana, du weißt, dass Jupitus und ich uns nicht gerade mögen, aber … Jupitus ein Spion? Hältst du das wirklich für möglich? Hast du noch auf anderen Nachrichten Fingerabdrücke gefunden?«

»Bis jetzt nicht. Aber das besagt gar nichts. Ich gehe davon aus, dass der Spitzel normalerweise umsichtiger vorgeht, Handschuhe benutzt oder dergleichen. Der Fingerabdruck war mit Sicherheit nur ein Unfall. Rose, ich will, dass du Folgendes für mich tust: Heute Nacht, während Océanes Geburtstagsbankett, durchsuchst du bitte Coles Gemächer.«

»Wie bitte? Um Himmels willen … Ist das wirklich dein Ernst?«

Galliana reichte Rose einen Schlüssel. »Damit kannst du die Tür zu seiner Suite aufsperren. Als Allererstes brauche ich Dokumente von seinem Schreibtisch, damit ich die Fingerabdrücke vergleichen kann. Zweitens musst du nach Hinweisen Ausschau halten, ob er mit Zeldt oder der Schwarzen Armee oder irgendeiner anderen feindlichen Organisation in Verbindung steht. Verstanden?«

»Ein Auftrag! Ich habe endlich wieder einen Auftrag!«, rief Rose aufgeregt. »Nach fünfzehn Jahren bin ich endlich wieder im Einsatz.« Freudig nahm sie den Schlüssel entgegen und steckte ihn ein. Da huschte ein besorgter Ausdruck über ihr Gesicht. »Wie geht es in Venedig weiter?«, fragte sie. »Schicken wir noch ein Team?«

»Nicht, solange wir die genaue Lage nicht kennen. Was mich zu meiner nächsten Frage bringt: Dein Neffe … Wird er es schaffen?«

Rose überlegte einen Moment lang und blickte Galliana dann fest in die Augen. »Jake?«, sagte sie. »Ganz bestimmt. Er hat das Zeug zu einem Helden. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«

Der Kutschenkonvoi bewegte sich unter der sengenden Julisonne durch das ländliche Italien.

Die jungen »Soldaten«, die neben Jake auf dem Pritschenwagen saßen, waren alle etwa in seinem Alter. Rein äußerlich waren sie ein bunt zusammengewürfelter Haufen – manche blond, andere dunkel, kleine Schmächtige neben breitschultrigen Hünen –, aber im Hinblick auf ihre Persönlichkeit schienen sie einander erschreckend ähnlich zu sein: Sie hatten keine. Niemand sprach ein Wort, niemand verzog eine Miene, während der ganzen Fahrt nicht. Jake kam das natürlich nur entgegen, denn auf diese Weise lief er auch nicht Gefahr, sich durch ein falsches Wort zu verraten, aber die angespannte Atmosphäre beunruhigte ihn dennoch.

Als der Tag kühler wurde und die Sonne allmählich hinterm Horizont versank, rief Mina ein Kommando, und der Tross kam zum Stehen. Mina kletterte von der pechschwarzen Kutsche herunter und suchte aufmerksam die Gegend ab. Sie befanden sich in einem breiten Tal, in dessen Mitte ein kleiner Fluss vor sich hin plätscherte. Zur einen Seite erstreckte sich ein dunkler Tannenwald die Talflanke hinauf, und vor ihnen konnte Jake die Umrisse einer kleinen Stadt ausmachen – Bassano, wie er annahm –, dahinter, weit weg am Horizont, die schneebedeckten Gipfel der Alpen.

Nachdem Mina sich überzeugt hatte, dass der Platz sicher war, gab sie Befehl, das Lager aufzuschlagen.

Sofort machten sich alle an die Arbeit. Unter den Sitzbänken wurde eine Unzahl von Kisten hervorgezogen, und die jungen Soldaten begannen in großer Eile, in einer schnurgeraden Reihe am Fluss entlang die Zelte für die Nacht aufzustellen.

Während des verregneten Campingurlaubs in Südengland mit seinen Eltern und Philip hatte Jake zumindest gelernt, wie man ein Zelt nicht aufstellt, also konnte er immerhin so tun, als wüsste er, was er zu tun hatte.

Als Erstes war Mina Schlitz’ Zelt errichtet. Es war ein Pavillon, genauso schwarz wie ihre Kutsche und mindestens doppelt so groß wie die anderen Zelte. Die Soldaten hatten ihn kaum aufgestellt, da verschwand sie auch schon darin.

In einem kleinen Steinkreis wurde ein Feuer entzündet, und ein paar der Wachen schickten sich an, gepökeltes Fleisch darauf zu braten. Und während der gesamten Fahrt sprach auch jetzt niemand ein Wort – außer um Befehle zu erteilen.

Hoch oben in der Luft sah Jake einen Falken über dem Fluss kreisen. Unvermittelt stürzte er sich wie ein Pfeil hinab und packte mit seinen Klauen einen Fisch, der sich zu nahe an die Wasseroberfläche gewagt hatte. Der Fisch wehrte sich und zappelte aus Leibeskräften, aber es war umsonst, und der Falke trug ihn zu seinem Horst irgendwo in den Hügeln. Da erregte noch etwas anderes Jakes Aufmerksamkeit: Ein Planwagen, der mit leuchtend gelbem Stoff bespannt war, fuhr die Böschung hinunter auf das Lager zu.

Eine der Wachen, die das Pferdegespann ebenfalls entdeckt hatte, ging unverzüglich zu dem schwarzen Pavillon und meldete: »Miss Schlitz, Doktor Kant trifft soeben ein.«

Einen Moment später trat Mina aus dem Zelt und musterte den Planwagen mit kaltem Blick. Sie nahm die Schlange aus dem Gürtelkäfig, wickelte sie um ihren Unterarm wie einen lebendigen Armreif, und streichelte sanft ihren Kopf.

Als die Kutsche in Hörweite war, fiel Jake eine Unzahl von Gegenständen auf, die klappernd an den Seitenwänden hingen: Instrumente, Werkzeuge, Töpfe und Pfannen, dazwischen die grausig anzuschauenden Kadaver erlegter Tiere – Hasen, Kaninchen und sogar ein Hirsch, der mit jedem Stein, über den die Kutsche holperte, hin und her pendelte wie ein loser Leichensack.

Schließlich kam das Gefährt vor Mina Schlitz zum Stehen. Der Kutscher, ein mürrischer Junge mit misstrauischem Blick, konnte kaum älter als zwölf Jahre sein. Hinter ihm wurde ein Vorhang zur Seite gezogen, und ein groß gewachsener Mann, bei dessen Anblick Jake unwillkürlich eine Gänsehaut bekam, kletterte die Stufen der kleinen Holzleiter an der Seitenwand hinunter. Sein Gesicht war schmal und von der Sonne verbrannt, Schweiß glänzte auf seiner Stirn und tropfte von seinem zerzausten Bart. Trotz der Hitze trug er eine Pelzmütze und eine dicke Robe, die von einem Seil an seinen schmächtigen Hüften zusammengehalten wurde. An diesem Seil hingen noch weitere Gegenstände: Ferngläser, Messbecher, Dolche und Pistolen, und an seinen knorrigen Fingern steckten große, juwelenbesetzte Ringe.

Als er Mina erblickte, verzog er das Gesicht zu einem finsteren Lächeln, hinter dem schwarze Zähne hervorlugten. »Miss Schlitz«, sagte er und neigte den Kopf.

»Doktor Kant«, erwiderte sie. »Wie war Euer Aufenthalt in Genua?«

»Wie in jeder anderen Stadt. Nichts als Dreck, Gestank und Idioten«, antwortete er verächtlich. »Aber heben wir uns die Unterhaltung für später auf. Zuerst zum Geschäft. Hermat, die Ware!«

Doch Hermat, der Kutscher, war abgelenkt. Er beobachtete einen Schmetterling, der gerade vor seiner Nase herumflatterte. Blitzschnell packte er ihn, hielt ihn mit zwei Fingern geschickt am Körper fest – und riss dem Insekt mit der freien Hand die Flügel aus.

»Hermat, du Kretin! Bring mir gefälligst die Kiste«, knurrte Kant und wandte sich dann wieder an Mina. »Mein Sohn, wie Ihr Euch vielleicht erinnern mögt, bewegt sich auf dem Intelligenzniveau einer Schmeißfliege. Wäre er nicht das perfekte Studienobjekt für meine Experimente, hätte ich mich dieses lästigen Anhängsels schon längst entledigt.«

Hermat schien nicht zuzuhören, ging unbeeindruckt zur Rückseite des Planwagens und kehrte mit einem kleinen silbernen Kästchen unterm Arm zurück.

Neugierig rückte Jake ein Stückchen näher.

Hermat hielt seinem Vater das Kästchen hin, der ihm zum Dank mit der hageren, beringten Hand einen harten Klaps auf den Kopf versetzte, bevor er das Kästchen behutsam an Mina Schlitz weiterreichte, als handele es sich dabei um einen unbezahlbaren Kunstgegenstand. »Die Früchte von vierzehn Monaten harter Arbeit«, sagte er und erstarrte mitten in der Bewegung, als er die Schlange an Minas Unterarm erblickte.

»Sie beißt nicht«, beruhigte Mina ihn, »es sei denn, ich befehle es ihr.«

Die Schlange ließ fauchend die Zunge vorschnellen und schmiegte sich dann wieder an Minas Handgelenk.

Mina öffnete das Kistchen, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Jake machte noch einen halben Schritt in ihre Richtung in der Hoffnung, etwas sehen zu können, doch da ließ Mina die kleine Kassette schon wieder mit einem metallischen Klicken zuschnappen.

»Ihr beiden«, sagte sie unvermittelt und deutete auf Jake und den Soldaten neben ihm. »Holt die Truhe für Doktor Kant aus meiner Kutsche.«

Mit pochendem Herzen folgte Jake dem anderen Kuttenträger, der ein Gepäckfach an der Rückseite der Kutsche öffnete. Ächzend vor Anstrengung zerrten sie die schwere Truhe heraus, und Jake musste seine ganze Kraft aufbringen, damit sie seinem Griff nicht entglitt. Sie schleppten sie über die Wiese und stellten die Truhe zu Minas Füßen ins Gras.

Als Mina sie mit der Stiefelspitze aufklappte, erstrahlte Kants Gesicht vor Verzückung: Die Truhe war bis zum Rand gefüllt mit schimmernden Goldmünzen. Bebend vor Freude beugte er sich hinunter und vergrub beide Hände bis zu den Ellbogen in dem Schatz.

»Pures, nacktes Gold«, sagte er lachend. »Welch Balsam für die Seele! Wie immer war es mir das größte Vergnügen, mit Euch Geschäfte zu machen, Miss Schlitz … Ich habe Wildbret mitgebracht« – Kant deutete auf den toten Hirsch, der an dem Planwagen baumelte –, »schön abgehangen. Wir wollen die Gelegenheit mit einem kleinen Festmahl feiern. Hermat! Lade die Truhe ein, und bring mir das Fleisch.«

Hermat tat wie geheißen, klappte den Deckel zu, hob die Truhe mühelos vom Boden und verstaute sie in der Kutsche. Dann löste er die Knoten an den Hufen des Hirsches, der mit einem dumpfen Schlag auf die Erde fiel.

Jake sah, wie Mina, das silberne Kästchen fest mit der Hand umschlossen, mit ihrem Gast in dem schwarzen Pavillon verschwand, und überlegte: Sie hatte eine ganze Tagesreise zurückgelegt, von einem Dutzend Soldaten bewacht, um diesen Mann zu treffen, und ihm ein Vermögen für seine Ware bezahlt … Er musste herausfinden, was sich in der kleinen Kassette befand.


15

DER FÜRST DER FINSTERNIS

Die Nacht brach herein, als sich eine Kutsche durch schmale, steinige Serpentinen einen Berg hinaufmühte. Hoch oben auf der Spitze des Berges thronte ein Schloss, aus dessen Gemäuer sich bizarr geformte Türme gen Himmel reckten. In der Kutsche saß Friedrich von Bliecke, Felson lag schlafend zu seinen Füßen. Der Kommandant dachte über die Zukunft nach, über seine eigene Zukunft, und es waren düstere Gedanken, die er hin und her wälzte. Sein Auftrag hatte gelautet, in Venedig vier feindliche Agenten gefangen zu nehmen. Das war ihm nur zur Hälfte gelungen, und er wusste nur zu gut, dass ein unerfüllter Auftrag als Versagen aufgefasst werden würde.

Von Bliecke war nicht allein. Hinter der Kutsche befanden sich in einem mit Ketten und Schlössern gesicherten Anhänger, in nachtschwarzer Finsternis zusammengepfercht und fast umkommend vor Hunger, Nathan Wylder und Paolo Cozzo.

Nathan war kaum bei Bewusstsein. In jeder Kurve und bei jedem Stein, über den sie fuhren, rollte sein Kopf auf dem Boden des hölzernen Verlieses hin und her, während Paolo, dem seit zwölf Stunden das Entsetzen nicht mehr aus dem Blick gewichen war, durch einen kleinen Spalt nach draußen spähte.

»Wir fahren auf etwas zu!«, keuchte er atemlos. »Ich glaube, es ist ein Schloss. Es sieht schrecklich aus! Das war’s dann wohl. Dort werden sie uns dann umbringen!«

»Wenn sie vorgehabt hätten, uns zu töten«, krächzte Nathan, »hätten sie es bereits getan. Was sie mit uns vorhaben, ist, denke ich, schlimmer als der Tod.«

»Schlimmer als der Tod? Was in aller Welt könnte schlimmer sein als der Tod?« Paolo brauchte weniger als eine Sekunde, um selbst auf die Antwort zu kommen. »Doch nicht etwa Folter? Ihr meint, sie wollen uns foltern?«, fragte er verzweifelt.

»Ich würde auf Streckbank tippen. Das hoffe ich zumindest. Ein paar Dehnübungen würden mir guttun«, erwiderte Nathan und versuchte ein Grinsen.

Paolo schüttelte den Kopf. »Das ist wohl kaum die richtige Zeit für Scherze, Signore Nathan.«

»Wer hat denn gesagt, dass ich scherze?«

Langsam kroch die Kutsche weiter den Berg hinauf.

Im ersten Stock des Schlosses befand sich eine Bibliothek, ein endlos langer, finsterer Schlauch, angefüllt mit uralten Folianten. In jeder der finsteren Ecken dieses gespenstischen Raumes standen Statuen, lebensgroße Nachbildungen von Kriegern und Tyrannen, ihre mitleidlosen Mienen in kaltem Marmor verewigt. Zu beiden Seiten spendeten etwa alle zehn Meter offene Feuerstellen unheilvoll flackerndes Licht, dazwischen erstreckte sich ein langer Tisch aus schwerem Eichenholz.

An einem Ende der riesigen Tafel stand ein Thron, und darauf saß – blass und völlig regungslos – eine Gestalt. Über ihren Schultern hing ein langer Mantel aus seidig schimmerndem, schwarzem Pelz, von welchem dem Betrachter mindestens ein Dutzend toter Augenpaare entgegenstarrte. Unter dem Mantel zeigte sich ein ebenso schwarzes, mit dunkel glänzenden Edelsteinen überzogenes Wams aus Samt und Brokat, am Hals zusammengehalten von einer weißen Krause.

Mit einem Knarren öffnete sich die Tür am vorderen Ende, und von Bliecke trat ein. Gefasst schritt er auf den Thron zu, Felson gehorsam an seiner Seite. Als er vor seinem Herrn angelangt war, nahm er Haltung an und schlug die Absätze zusammen.

»Prinz Zeldt«, sagte er und neigte den Kopf. »Ich komme direkt aus Venedig.«

Auf den ersten Blick wirkte Zeldt beinahe wie ein Junge, zart und blass. Er hatte feine, farblose Gesichtszüge, trübe, wasserblaue Augen und silberblondes Haar. Doch das flackernde Licht der Kaminfeuer förderte ein anderes Bild zutage. Zeldt war schon sehr lange kein Jüngling mehr. Seine durchschimmmernde Gesichtshaut machte es unmöglich, sein wahres Alter zu bestimmen: Er mochte vierzig, fünfzig oder vielleicht noch älter sein.

Zeldt musterte von Bliecke mit ausdruckslosen Augen. »Die Gefangenen?«, fragte er mit klarer, eiskalter Stimme.

»Sie sind draußen.«

Der Prinz gab ein Zeichen, und ein Wächter brachte Nathan und Paolo herein, mit Ketten aneinandergefesselt. Paolo zitterte am ganzen Körper, nur Nathan wirkte – als Einziger im Raum – vollkommen entspannt.

Zeldt starrte sie mit kalter Miene an. »Nur zwei?«, fragte er. »Wo ist Mademoiselle St. Honoré? Hatte ich nicht hinreichend klargestellt, dass ihr unser Hauptinteresse gilt?«

»Mademoiselle St. Honoré konnte entkommen, Sir«, erwiderte von Bliecke mit einem Räuspern. »Zusammen mit Agent Chieverley. Es ließ sich nicht verhindern.«

Zeldt erhob sich. Er schritt auf Nathan und Paolo zu, ging einmal im Kreis um sie herum und begutachtete sie von allen Seiten.

Paolo wimmerte vor Angst, doch Nathan grinste Zeldt nur an. »’n Abend«, sagte er gedehnt. »Etwas warm hier drinnen, findet Ihr nicht?«

Zeldt ignorierte ihn und glitt wie ein dunkler Schatten auf von Bliecke zu. »Und was ist mit dem fünften Agenten?«, flüsterte er.

»Der fünfte?« Der Kommandant musste schlucken. »Nein, es waren vier. Der Auftrag lautete, vier Agenten abzufangen und gefangen zu nehmen.«

Der Prinz brachte ihn mit einem erhobenen Finger zum Schweigen. »Unser Informant auf Mont Saint-Michel übermittelte uns die Nachricht, dass sich dem Kommando ein weiterer Agent angeschlossen hat. Der junge Djones

Nathan und Paolo warfen sich einen verstohlenen Blick zu, während von Bliecke kalter Schweiß auf die Stirn trat.

»Doch offensichtlich ahntet Ihr nichts von dieser neuen Entwicklung«, fuhr Zeldt mit Grabesstimme fort. »Hättet Ihr Euren Auftrag zufriedenstellend erfüllt, hättet Ihr alle feindlichen Agenten abgefangen.«

Von Bliecke nickte ergeben. »Ihr habt selbstverständlich recht, Euer Hoheit. Der Fehler liegt ganz bei mir.«

Zeldts Gesichtsausdruck blieb einen Moment lang ungerührt, dann huschte ein Lächeln über seine Lippen. »Aber wie Ihr bereits sagtet: Es ließ sich nicht verhindern.«

Der Kommandant seufzte erleichtert. Er schien noch einmal ungeschoren davonzukommen.

Gemessenen Schrittes ging Zeldt auf eine schwere Metalltür zu, die aussah, als befinde sich dahinter ein Tresor. In der Mitte war ein Rad; es hatte die Form einer sich windenden Schlange. Zeldt drehte daran wie an einer Kurbel. Mit einem dumpfen Klicken öffnete sich ein Riegel, und die Tür schwang auf. Hinter ihr lag eine kleine Kammer.

»Ihr seid den ganzen Tag gereist und müsst sehr erschöpft sein. Das Abendessen wird hier drinnen serviert«, sagte er und bedeutete von Bliecke einzutreten.

Der Kommandant nickte beflissen und eilte, Felson immer noch an seiner Seite, auf die offenstehende Tür zu. »Danke, vielen Dank. Mir werden keine weiteren Fehler unterlaufen, das schwöre ich.«

»Der Hund kann bleiben.«

Von Bliecke wurde kreidebleich. »Sir?«

»Der Hund. Lasst ihn hier.«

»Ja … selbstverständlich.« Von Bliecke fuhr sich mit der Hand über die Stirn und blickte ängstlich auf Felson hinab. Er bückte sich kurz, streichelte seinem Hund mit der vernarbten Hand über den Kopf und nickte ihm zu. Felson begann zu winseln, doch sein Herr war bereits durch die Tür geschritten.

Die dahinterliegende Kammer schien leer zu sein.

»Auf der anderen Seite befindet sich ein Ausgang«, erklärte Zeldt mit einem rätselhaften Lächeln, dann schloss er die Tür und drehte wieder an der Schlangenkurbel, bis der Riegel einschnappte.

Zitternd stand von Bliecke da, von undurchdringlicher Finsternis umgeben. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell und immer noch schneller, dann hörte er das Knirschen von Stein auf Stein, mit dem sich die Rückwand der Kammer öffnete und den Blick auf einen weiteren, kaum beleuchteten Raum freigab. Vorsichtig trat der Kommandant näher und spähte in die Dunkelheit.

»Gott steh mir bei …«, flüsterte er mit bebender Stimme, als er den Abgrund erblickte, der zu seinen Füßen gähnte. Er hatte von diesem Ort des Schreckens gehört, war aber stets davon ausgegangen, dass es sich um ein Gerücht handelte, mit dem Zeldt seine Soldaten gefügig machte. Von Bliecke stand auf einem schmalen Sims, etwa auf halber Höhe an einer Wand, von der er auf einen sich weit verzweigenden Irrgarten aus morschen Treppen und Geländern blickte, deren Anordnung sich jeglicher Logik entzog: Kreuz und quer führten sie nach links, rechts, oben, unten, um auf halbem Weg in einem unmöglichen Winkel die Richtung zu wechseln. Manche Treppen sahen sogar aus, als stünden sie auf dem Kopf. Auf der gegenüberliegenden Seite, am anderen Ende des Labyrinths, glaubte von Bliecke einen schwachen Lichtschimmer zu erkennen. Das, sagte er sich, musste der Ausgang sein, von dem Zeldt gesprochen hatte. Es war ohnehin seine einzige Chance, auch wenn er klug genug war, um zu wissen, dass diese Chance kaum größer als null sein durfte.

Wie in Zeitlupe setzte er einen Fuß auf die Treppenstufe direkt vor ihm.

Die optische Täuschung war perfekt: Die Stufe war keine Stufe, oder sie war es doch, aber der Winkel, in dem sie sich, für das Auge unsichtbar, dem Abgrund entgegenneigte, bot von Blieckes Stiefel keinen Halt, und alles, was er unter seinem Tritt spürte, war luftleerer Raum. Er fiel, zehn Meter, vielleicht auch zwanzig, und schrie vor Schmerz, als seine Knöchel unter dem harten Aufprall zersplitterten.

Als er sich aufrichten wollte, sah er drei Schlangen, jede davon so dick wie sein eigener Oberschenkel, die sich züngelnd auf ihn zu bewegten. Ihre Köpfe schossen nach oben, und sie rissen ihre geifernden Kiefer auf.

Kurz darauf lauschte Zeldt in der Bibliothek von Blieckes Todesschreien. Felson zitterte wie Espenlaub, und Paolo schien der Ohnmacht nahe.

Als die Schreie schließlich erstarben, nahm der Fürst wieder auf seinem Thron Platz. »Womöglich verstand er mich miss, als ich sagte, das Abendessen werde auf der anderen Seite serviert … Er war das Abendessen.« Sein Blick wanderte zu Nathan und Paolo. »Das Leben, es ist flüchtig wie der Moment«, philosophierte er mit nachdenklicher Stimme. »Man sollte jeden einzelnen davon in vollen Zügen genießen.«

»Da wir gerade dabei sind, einander Ratschläge zu erteilen«, sagte Nathan in die entstandene Stille hinein, »der Agent, der Eurem Büttel durch die Lappen gegangen ist – er ist mit Abstand der beste, den die Welt je gesehen hat. Euer Schicksal ist besiegelt – nehmt Euch Eure eignen Worte zu Herzen und genießt die Zeit, die Euch noch bleibt.«

Zeldt lächelte dünnlippig und erteilte dem Wächter seine weiteren Befehle. »Bringt sie unter den Berg. Werft sie ins Verlies.«

Paolo begann unkontrolliert zu schluchzen, während der Wächter sie davonzerrte, und Nathan rief über die Schulter zurück: »Ihr glaubt mir nicht? Wartet’s nur ab. Jake Djones ist der Phoenix, neben dem alle anderen Agenten der Geschichtshüter verblassen wie harmlose Fünkchen, und er wird kommen, um Euch zu holen. Seid gewarnt: Er ist schnell wie der Wind, gerissen und erbarmungslos wie ein hungriges Raubtier!«


16

EINE BEGEGNUNG IM WALD

Jake stolperte über eine Zeltspannleine und fiel der Länge nach hin. Sein Knie krachte schmerzhaft gegen einen Stein, aber er gab keinen Ton von sich. Stattdessen blickte er sich nur kurz um, ob jemand ihn gesehen hatte, und stand lautlos wieder auf.

Es war kurz vor zehn Uhr nachts, und die meisten der Wachen schliefen. Nur am Rand des Lagers standen drei Wachposten mit ihren Laternen im Mondlicht.

Jake hielt sich in den Schatten der Zelte verborgen und beobachtete Minas Pavillon. Drinnen flackerte Kerzenschein, und Jake sah wie in einem Schattenspiel, wie Talisman Kant und Mina Schlitz zu Abend speisten. Schließlich erhob sich Kant, machte eine Verbeugung und ging. Jake wartete, bis er an seinem Planwagen angelangt war, die kleine Leiter hinaufkletterte und hinter dem Vorhang verschwand. Jetzt war der Moment zu handeln.

Mit zitternder Hand zog Jake den Feuerstein hervor, den Nathan ihm gegeben hatte. Er kniete sich hin, entzündete damit ein Bündel trockenes Gras und steckte mit der knisternden Flamme das Zelt in Brand, hinter dem er sich versteckt hatte. Die Zeltplane fing sofort Feuer, und wenige Momente später erleuchteten die Flammen den gesamten Lagerplatz.

Alles geschah gleichzeitig: Die Soldaten kamen Befehle brüllend aus ihren Zelten gestolpert, die Wachposten rannten zum Lager zurück, und alle machten sich sofort daran, den sich schnell auf die anderen Zelte ausbreitenden Brand mit Wasser aus dem Fluss zu bekämpfen.

Als Jake Mina im Morgenmantel aus dem Pavillon auf die brennenden Zelte zueilen sah, huschte er wie ein Schatten durch die Dunkelheit, um die Rückseite von Minas Pavillon herum und schlüpfte hinein.

Das Zelt war nur spärlich möbliert. Mit rasendem Puls ließ Jake den Blick durch den Innenraum schweifen, auf der Suche nach dem kleinen silbernen Kästchen. Er sah einen einfachen Sekretär, eine kleine Kommode und mehrere Tierpelze, die auf dem Boden ausgebreitet lagen. Auf dem Sekretär stand eine Porzellanschale mit grüner Tinte, darin ein Federkiel und daneben ein frisch beschriebenes Stück Pergament. In der Überschrift entdeckte Jake ein vertrautes Wort:

Gästeliste der Superia-Konferenz, Schloss Schwarzheim

Darunter stand eine lange Liste mit Namen aus vielerlei Gegenden: Italien, Spanien, Russland, Niederlande … und daneben Bemerkungen wie: Gold, Zinn, Getreide, Pelze und so weiter. Jake faltete das Pergament und steckte es ein.

Doch eigentlich war er wegen etwas ganz anderem hier. Das silberne Kästchen! Eilig durchsuchte er die Schubladen der Kommode – nichts. Seine Anspannung wuchs; er wirbelte herum, und da sah er es endlich, mitten auf Minas Feldbett. Er öffnete die kleine Kassette. Zwei Glasbehälter kamen zum Vorschein, der eine zylindrisch, ohne erkennbare Ober-oder Unterseite und versiegelt, mit einer zähen, bienenwachsähnlichen Flüssigkeit darin, der andere ein kleines, mit einem Korken verschlossenes Fläschchen, in dem sich ein weißes Pulver befand. Jake nahm es heraus und betrachtete den Inhalt genauer. Das Pulver sah aus wie Talkum.

Da sah er ein weiteres kleines Kästchen neben Minas Kopfkissen, und als er die rote Schlange bemerkte, die lautlos daraus hervorkroch, ließ er vor Schreck das Fläschchen mit dem Pulver fallen. Glücklicherweise blieb es ganz, und Jake wollte es gerade aufheben, da fauchte die Schlange plötzlich, und er hörte das Geräusch sich nähernder Schritte. Gerade noch rechtzeitig kauerte er sich in eine dunkle Ecke und bedeckte sich, so gut es ging, mit einem der Tierfelle.

Mina kam herein, zog ein Paar Lederhandschuhe aus ihrer Kommode und wollte schon wieder nach draußen gehen, als sie plötzlich innehielt, als hätte sie gemerkt, dass etwas fehlte. Ganz langsam drehte sie sich um, sah das verkorkte Fläschchen auf dem Boden liegen und die geöffnete silberne Kassette auf ihrem Bett. Schließlich fiel ihr Blick auf ihre rote Schlange, die sich auf den Boden fallen ließ und züngelnd auf einen eigenartig aufgehäuften Pelz zukroch.

Durch einen schmalen Spalt beobachtete Jake aus seinem Versteck heraus die Schlange. Dann hörte er das schaurige Geräusch, mit dem Mina ihr Schwert aus der Scheide zog.

Mit einem Schrei sprang Jake unter der Tierhaut hervor, stieß die Kommode um, sodass sie Mina den Weg versperrte, und stürzte sich zwischen den Zeltplanen hindurch ins Freie. Draußen riss Jake drei Spannleinen aus ihrer Verankerung, sah, wie der Pavillon in sich zusammensank, und rannte los – doch er kam nicht weit, denn ein Bein hatte sich in den losen Leinen verfangen. Hastig machte er sich los, sprang wieder auf die Beine und sprintete auf das rettende Dickicht des Waldes zu.

»Haltet ihn!«, brüllte Mina, während sie sich aus ihrem eingestürzten Pavillon befreite.

Fünf der Kuttenmänner machten sich sofort an die Verfolgung, rissen noch im Lauf Bogen und Pfeile von einem Ständer und jagten Jake hinterher.

Als er den Waldrand erreicht hatte, blieb er keuchend stehen und schaute zurück: Aus drei Richtungen näherten sich seine Verfolger über die mondbeschienene Lichtung. Mit leicht zitternder Hand zog er sein Kurzschwert, doch die Parierstange verfing sich in seinem Umhang. Während er mit aller Kraft daran zog, hörte er plötzlich ein Pfeifen. Er blickte auf und sah, wie ein Pfeil sich in den Baum direkt neben ihm bohrte. Jake stand einen Moment lang wie gelähmt da und sah schon die zweite Salve durch die Luft sirren. Eines der Projektile flog genau auf ihn zu, und nur einen Wimpernschlag später spürte Jake einen Schlag gegen die Brust wie von einem Schmiedehammer, dann prallte das Geschoss mit einem hohlen Scheppern von seinem Harnisch ab.

Endlich wirbelte er herum und rannte in den Wald, Hände und Unterarme erhoben, um seine Augen vor den peitschenden Ästen zu schützen. Weitere Pfeile schlugen um Jake herum ein, während seine Füße sich blind einen Weg durchs Dickicht bahnten. Dann ein weiteres Pfeifen, näher diesmal, gefolgt von dem Geräusch von reißendem Stoff. Jake spürte einen brennenden Schmerz – ein Streifschuss hatte seinen Arm gleich oberhalb des Ellbogens aufgeschlitzt. Im Laufen befühlte er die Wunde und spürte warmes Blut daraus hervorsickern, doch das Adrenalin in seinen Adern trieb ihn weiter ohne zu straucheln über den tückischen Waldboden.

Ein Jagdhorn ertönte. Jake blickte über die Schulter und sah eine Gruppe von Reitern zwischen den Bäumen hindurch auf sich zu galoppieren, und da geschah es: Sein Fuß blieb an einer der Wurzeln hängen, Jake flog in hohem Bogen durch die Luft, machte einen unfreiwilligen Salto und rollte krachend durch das dornige Unterholz, bis er schließlich gegen einen Baumstamm prallte.

Jake öffnete die Augen und blinzelte ins grelle Mondlicht, das durch die Tannenzweige über ihm drang. Das Schwert hatte er bei dem Sturz verloren. Er war also nicht nur unbewaffnet, er kam sich auch noch unendlich dumm vor – wie war er nur auf die Idee gekommen, dass er es allein mit Minas gesamter Eskorte hätte aufnehmen können, in einem fremden Land, in einer ihm fremden Epoche?

Schritte näherten sich, und ein Schatten brach aus dem Unterholz. Es war der Soldat, neben dem Jake auf dem Pritschenwagen gesessen hatte. Mit ausdruckslosen Augen zog er sein Schwert und machte sich zum Todesstoß bereit.

Da erwachte Jakes Überlebensinstinkt. Er sprang auf die Beine, griff nach einem auf dem Boden liegenden Ast und schlug ihn seinem Angreifer mit aller Kraft gegen die Schläfe. Jake hörte ein Knacken, die Augen des Jungen rollten nach oben, dann fiel er hintenüber und knallte mit dem Kopf gegen einen Baum. Jake wollte schon nachsehen, wie schwer er verwundet war, da bemerkte er, dass seine Augen halb offen standen und leicht flackerten. Er war also noch am Leben.

»Sorry, aber du hast angefangen«, murmelte Jake, hob sein Schwert auf und rannte weiter. Wieder schaffte er es irgendwie, den Griff der Waffe in seinem Umhang zu verknoten. »Was ist bloß los mit mir?«, fluchte er und riss das verhedderte Stück Stoff kurzerhand ab.

Das Jagdhorn ertönte ein zweites Mal. Die Hufschläge waren jetzt so nahe, dass er das Schnauben der Pferde hören konnte. Jake spürte seinen Puls bis in die Schläfen. Keuchend hastete er weiter, doch eines der Pferde hatte ihn bereits eingeholt – aus dem Augenwinkel sah er den Schweiß auf der Flanke des Tieres im Mondlicht glänzen. Jake drehte den Kopf und erblickte die geisterhafte Silhouette des Reiters, die sich scharlachrot vom Dunkel der Nadelbäume abhob, darüber der scharfe Umriss einer todbringenden Axt, die auf seinen Kopf niederfuhr.

Ein Kaleidoskop von Bildern zog vor Jakes innerem Auge vorbei: seine Eltern, sein Bruder Philip, das Reihenhaus in London, das Trampolin im Garten, Jakes Zimmer, die letzte Geburtstagsparty, die Korridore in der Schule, die er besuchte, dann wieder sein Bruder …

Die Schneide war nur noch Millimeter von seiner Stirn entfernt, da blieb die Zeit plötzlich stehen.

Nein, nicht die Zeit, sondern die Axt. Jake blickte auf: Die Augen des Reiters waren weit aufgerissen, und er sackte zur Seite. Aus seinem Rücken ragte ein Dolch.

»Schnell, hier rüber!«, rief eine Stimme wie aus dem Nichts.

Jake wirbelte herum und sah einen Reiter auf einem weißen Pferd auf sich zurasen. Er streckte ihm eine Hand entgegen. »C’est moi, Topaz!«, rief die Gestalt.

Jakes Herz machte einen Satz. Topaz trug einen Umhang und eine Maske, die ihr Gesicht verhüllte, aber die goldenen Locken, die darunter hervorlugten, waren unverkennbar. Er sprang auf die Füße, packte Topaz’ Hand und schwang sich hinter ihr in den Sattel.

»Halt dich gut fest«, rief Topaz atemlos, dann gab sie ihrem Pferd die Sporen, und sie preschten tiefer in den Wald hinein. Jake war nicht gerade ein erfahrener Reiter, aber einer von Philips Freunden hatte ein eigenes Pferd gehabt, und von ihm hatte Jake zumindest die Grundlagen gelernt, Schritt, Trab und ein bisschen Galopp, aber nicht bei diesem halsbrecherischen Tempo, und schon gar nicht war er jemals zuvor auf einem Pferd über ein Hindernis gesprungen. Also konzentrierte er sich einfach darauf, sich festzuhalten.

Die anderen Reiter waren ihnen dicht auf den Fersen, und Jake konnte ihre Rufe hören.

»In der Satteltasche sind Feuerwerksraketen!«, rief Topaz ihm zu, als sie gerade über einen umgestürzten Baum sprangen.

»Feuerwerk?«, fragte Jake verwundert zurück.

»Eine lange Geschichte. Zünde einfach eine an. Damit erschrecken wir ihre Pferde.«

Jake griff in die Satteltasche und zog ein Bündel Raketen hervor.

»Irgendwo müssen auch Zündhölzer sein«, meinte Topaz.

»Ich habe einen Feuerstein«, erwiderte Jake atemlos.

Topaz bremste etwas ab, damit Jake die Lunte anzünden konnte, dann warf er die Rakete in die Luft. Ein lautes Heulen ertönte, gefolgt von einem grellen Lichtblitz, dessen indigofarbene Funken zwischen den Bäumen hindurch in alle Richtungen schossen.

Zwei der Pferde stiegen wiehernd hoch und warfen ihre Reiter ab. Doch auch Topaz’ Stute war von dem Knall erschreckt worden, sodass sie alle Mühe hatte, das Pferd wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Jake feuerte eine weitere Rakete ab und ließ eine Milliarde glitzernder blauer Funken und grellweißer Sterne auf ihre Verfolger herabregnen. Die Dritte war so laut und hell, dass Minas Eskorte die Jagd schließlich abbrechen musste.

Die zu Tode erschreckte Stute ging durch und preschte wie von Sinnen zwischen den Baumstämmen hindurch, doch schließlich gelang es Topaz, sie zu beruhigen, und sie galoppierten weiter dahin, durch tückisches Unterholz, über mondbeschienene Wiesen, über Hecken und Bachläufe hinweg, und Jake genoss alles in vollen Zügen – den Wind, der ihm ins Gesicht peitschte, Topaz’ Duft in seiner Nase, das Abenteuer.

»Charlie und ich sind euch seit dem Ausgang des Tunnels gefolgt«, erklärte Topaz keuchend. »Wir wollten den richtigen Moment abwarten. Mina Schlitz ist niemand, mit dem man sich leichtfertig anlegen sollte.«

»Du kennst sie?«

»Wir haben eine gemeinsame Geschichte«, antwortete Topaz nur geheimnisvoll und steuerte ihre Stute auf ein Tal zu.

Schließlich erreichten sie eine Ansammlung alter Bauernhäuser neben einem Fluss. Sie stiegen ab, und Topaz überprüfte, ob ihnen jemand gefolgt war.

»Ist es schlimm?«, fragte sie Jake und reichte ihm ihren Schal. »Verbinde die Wunde damit.«

Jake zögerte.

»Nimm schon!«, beharrte sie. »Ich habe heute Abend keine gesellschaftlichen Verpflichtungen mehr.«

Jake gehorchte schließlich und wickelte das Seidentuch fest um den Schnitt in seinem Arm.

»Folge mir«, sagte Topaz und ging auf die Häuser zu. »Du siehst ganz anders aus mit den kurzen Haaren«, meinte sie. »Verwegener.«

»Ich bin so froh, dich am Leben zu sehen«, erwiderte Jake mit pochendem Herzen und hoffte, Topaz würde irgendwie auf seinen Kommentar reagieren, am besten, ihn in die Arme schließen. Sie tat es nicht.

»Was Nathan widerfahren ist, wissen wir nicht«, sagte sie stattdessen und mäanderte zwischen ein paar Heuballen hindurch, bis sie vor einer Scheune standen. Dort angelangt, klopfte Topaz in einer Art Morsecode gegen das Tor.

»Er kam zum Schiff zurück und hat mir das hier gegeben«, sagte Jake und deutete auf seine zerfetzte Kutte und den verbeulten Brustpanzer.

»Wir haben uns schon gefragt, wo du die Sachen herhast.«

Unterdessen ertönte als Antwort eine Abfolge von Klopfzeichen aus dem Schuppen.

»Er war ziemlich übel zugerichtet«, sprach Jake weiter, »und hat sich ihnen schließlich ausgeliefert.«

»Dann haben sie Paolo wahrscheinlich auch gekriegt«, sagte Topaz mit einem Seufzen. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass er sich im Kampf besser gehalten hat als Nathan.« Wieder klopfte sie einen bestimmten Rhythmus an das Scheunentor, wieder kam eine codierte Antwort.

»Jetzt mach schon auf, Charlie!«, knurrte Topaz ungeduldig.

Ein hölzerner Riegel wurde beiseitegeschoben, das Tor schwang auf, und Jake hörte einen schrillen Begrüßungsschrei, mit dem Mr Drake aufgeregt einmal im Kreis durch das Innere des kleinen Heuschobers flog.

»Ich muss zugeben, ganz im Gegensatz zu Topaz hätte ich nicht darauf gewettet, dass du es schaffst«, ließ Charlie ihn wissen und schob seine Brille zurecht.

Mit einem breiten Grinsen drehte Jake sich zu Topaz um, die sich gerade die Maske vom Kopf zog. Sie nahm ihren Umhang ab, und Jake konnte sie in ihrer vollen Pracht bewundern. Nach den zwei Tagen, die er sie nicht gesehen hatte, erschien sie ihm mehr denn je wie eine Göttin. Ihre blauen Augen strahlten noch heller als zuvor, und ihre Wangen leuchteten nur so von den Aufregungen der vergangenen Stunde. Nichts hätte Jake lieber getan, als ihr die Arme um den Hals zu schlingen, aber er entschied sich, seine Wiedersehensfreude lieber an Charlie auszuleben, und schloss ihn in eine kräftige Umarmung.

»Danke, dass ihr mich gerettet habt! Danke euch beiden!«, rief er.

Charlie warf Topaz einen fragenden Blick zu, während Jake ihn beinahe erwürgte.

»Ich habe in der Zwischenzeit einiges herausgefunden«, verkündete Jake und ließ Charlie endlich los. »Ihr werdet beeindruckt sein. Es gibt jede Menge neue Informationen.«

»Sag uns zuerst«, fiel Topaz ihm ins Wort, »ob du Prinz Zeldt gesehen hast. War er in Venedig? Wurde sein Name erwähnt?«

»Nun, gesehen habe ich ihn nicht«, erwiderte Jake, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als sich in Festungen zu schleichen, um dort finstere Feinde auszuspionieren, »aber dieser von Bliecke bringt gerade Nathan und Paolo zu ihm. Er hält sich in einem Schloss namens Schwarzheim auf.«

»Schloss Schwarzheim! Wusste ich’s doch«, meinte Charlie und schlug mit der Faust gegen das Scheunentor. »Hab ich’s nicht gesagt?« Dann wandte er sich an Jake: »Man weiß nie, wo sich der Kerl gerade versteckt hält. In jedem Winkel der Geschichte hat er einen Unterschlupf, und es heißt, Schloss Schwarzheim – den Namen hat natürlich er sich ausgedacht –, sei der schrecklichste von allen.«

»Was hast du sonst noch herausgefunden?«, fragte Topaz mit einem Anflug von Ärger in der Stimme.

Jake atmete einmal tief durch und blickte den beiden ernst ins Gesicht. »Mina Schlitz sagte, es blieben nur noch ›vier Tage bis zur Apokalypse‹.«

Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Mr Drake kniff die Augen zusammen und blickte zwischen den dreien hin und her.

»Welche Apokalypse?«, hakte Topaz schließlich nach.

Jake zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«

»Und das hat sie gestern gesagt?«, fragte Topaz weiter.

Jake nickte.

»Dann bleiben uns also noch drei Tage …«

Topaz wechselte einen Blick mit Charlie und wandte sich dann wieder an Jake. »Am besten erzählst du uns alles, was du weißt.«


17

DIE DUNKLE DYNASTIE

Jake wiederholte jedes Detail, das sich in den letzten beiden Tagen zugetragen hatte – angefangen von den in Kutten gehüllten Männern, die die Campana gestürmt hatten über die Geheimtür in dem Beichtstuhl im Markusdom bis hin zu den Zeichnungen der Architekten und der Ankunft von Mina Schlitz. Er berichtete von dem Tunnel unter Venedig, der Reise nach Bassano, von dem unheimlichen Talisman Kant und den beiden ominösen Glasbehältern und zeigte ihnen zum Abschluss das Stück Pergament mit der Gästeliste für die Konferenz auf Schloss Schwarzheim, das er aus Minas Pavillon gestohlen hatte.

Charlie und Topaz überlegten eine ganze Weile, bevor sie wieder etwas sagten.

»Diese Zeichnungen von den Gebäuden«, fragte Charlie schließlich, »wie haben die ausgesehen?«

»Gruselig, wie eine mittelalterliche Endzeitvision«, antwortete Jake.

»Die armen Architekten«, meinte Topaz kopfschüttelnd. »Wir werden sie da rausholen müssen.«

»Und über jeder der Zeichnungen stand das Wort Superia?«, fragte Charlie weiter.

Jake nickte.

»War auf irgendeiner davon auch ein Berg abgebildet? Der Gipfel von Superia?«

»Ich habe zumindest keinen gesehen.«

»Und Talisman Kant?«, warf Topaz ein. »Du hast gesagt, Mina hätte ihm für die beiden Glasfläschchen eine ganze Truhe voll Gold gegeben.«

»Für ein paar Gramm Bienenwachs und Talkum«, ergänzte Charlie trocken.

»Ich habe nur gesagt, dass das Zeug so ähnlich aussah«, verteidigte sich Jake.

»Ziemlich teuer für Bienenwachs und Talkum, würde ich meinen«, gab Charlie zu bedenken.

»Und du kennst diesen Kant?«, fragte Jake Topaz.

»Ich habe nie persönlich seine Bekanntschaft gemacht«, erwiderte sie, »aber ihm eilt ein gewisser Ruf voraus. Er ist ein unfassbar grausamer Mensch, verdorben bis ins Mark. Nennt sich Wissenschaftler und führt Experimente an seiner eigenen Familie durch – seinen Sohn hast du ja gesehen. Seiner Frau erging es noch schlimmer; sie hat beide Beine in einem Säurebad verloren.«

»Steht er im Dienst von Prinz Zeldt?«

»Ursprünglich war auch er ein Geschichtshüter«, antwortete Charlie, »aber das ist lange her. Als man herausfand, dass er mit Iwan dem Schrecklichen in Korrespondenz stand und Folterinstrumente für ihn entwickelte, war klar, dass ihm andere Dinge am Herzen liegen als das Wohl der Menschheit, und er wurde sofort ausgeschlossen. Seitdem arbeitet er für jeden, in jedem Zeitalter, vorausgesetzt, der Preis stimmt. Zeig mir noch mal diese Liste.«

Jake reichte ihm das Pergament.

»Gästeliste der Superia-Konferenz …«, murmelte Charlie nachdenklich. »Da stehen einige illustre Namen drauf.«

»Wer sind diese Leute?«, fragte Jake.

»Ich kenne ein paar der Namen. Manche von ihnen gehören zu den reichsten Menschen im sechzehnten Jahrhundert, Kaufleute, Händler, Minenbesitzer … Die Anmerkungen geben Aufschluss darüber, womit sie ihr Geld verdienen. Was zum Teufel hat Zeldt bloß vor? Die Sache scheint mir ungefähr so klar wie ein Nebeltag in London.«

»Warte, lass mich mal einen Blick drauf werfen«, sagte Topaz und nahm die Liste. Ihr war ein Gedanke gekommen. »Mon Dieu!«, rief sie plötzlich. »Wie blind wir waren! Die Antwort ist direkt vor unserer Nase: Findet Gipfel von Superia – Gästeliste der Superia-Konferenz. Bei dem Gipfel handelt es sich nicht um einen Berg, sondern um diese Konferenz!«

Charlie entriss ihr die Liste und ging sie noch einmal durch. »Mademoiselle St. Honoré, ich muss sagen, Ihr habt Euch selbst übertroffen.«

»Jetzt haben wir doppelten Grund, nach Schloss Schwarzheim zu fahren, und das schnell«, sagte Topaz entschlossen und packte eilig ihre Sachen zusammen.

»Wo ist dieses Schloss?«, fragte Jake.

»En Allemagne, in Deutschland. Eine Zweitagesreise von hier entfernt, jenseits der Alpen. Wir dürfen keine Sekunde mehr verlieren. Charlie, hast du die Achse schon repariert?«

»Du hast zwar das Superia-Rätsel gelöst«, erwiderte Charlie achselzuckend, »aber was technische Dinge angeht, bin ich immer noch der unangefochtene Meister.«

»Das müsstest du gar nicht sein, wenn du dich nicht von diesem Händler in Padua hättest übers Ohr hauen lassen.« Topaz wandte sich an Jake. »Er hat unser ganzes Geld für einen Haufen Holzschrott ausgegeben.«

»Und für zwei der besten Pferde, die ich je zu Gesicht bekommen habe«, verteidigte sich Charlie.

»Ich habe genug Geld«, warf Jake ein und zeigte ihnen den Lederbeutel, den Nathan ihm gegeben hatte.

Topaz spähte durch ein Astloch nach draußen, um zu überprüfen, ob die Luft rein war, dann gingen sie zu dem reparierten Pritschenwagen. Jake fand, dass er eigentlich recht ordentlich aussah. Daneben standen Topaz’ Stute und zwei wunderschöne kastanienbraune Pferde und tranken Wasser aus einem Trog.

Topaz streichelte zärtlich die Mähne ihrer Stute, dann führte sie sie ein paar Schritte weg und gab ihr einen Klaps auf die Flanke. »Ab mit dir! Nach Hause«, befahl sie und deutete auf ein Haus auf einem Hügel am Horizont. »Hab sie mir von einem schläfrigen Stallburschen ›geliehen‹«, erklärte sie Jake. »Für deine Rettung brauchte ich ein etwas schnelleres Pferd als die beiden braunen.«

Die Stute rührte sich nicht vom Fleck und blinzelte Topaz nur mit großen Augen an.

»Los jetzt!«, rief sie noch einmal. Endlich gehorchte die Stute und galoppierte über ein Feld davon.

Topaz und Charlie spannten die beiden Braunen vor die Kutsche.

Ein endloser Strom von Gedanken und Fragen wirbelte durch Jakes Kopf, allen voran die über das Schicksal seines Bruders Philip.

»Ständig wird von diesem Prinz Zeldt gesprochen«, sagte Jake, »und ich habe immer noch keine Ahnung, wer er ist. Was genau hat er getan?«

Topaz befestigte die Leinen am Zaumzeug, als hätte sie nichts gehört, und es dauerte beinahe eine ganze Minute, bis Charlie schließlich antwortete: »Diese Frage sollten wir besser nicht mit leerem Magen erörtern.«

Sie stiegen auf den Pritschenwagen, Topaz nahm die Zügel. Dann fuhren sie los, den Bergen am Horizont entgegen.

Die Räder des Wagens mahlten laut über die steinige Straße, und sie wurden ordentlich durchgeschüttelt. Dennoch war Jake überrascht, wie schnell sie vorankamen. Schon nach einer halben Stunde hatten sie eine alte Römerstraße erreicht, deren Pflaster durch jahrhundertelange Benutzung beinahe komplett glatt geschliffen war, und sie legten noch etwas an Geschwindigkeit zu. Topaz’ goldene Locken flatterten in der Brise, und Mr Drakes buntes Gefieder kräuselte sich, während er mit dunklen Augen von Charlies Schulter aus die vorbeiziehende Landschaft beobachtete.

»Wie seid ihr in Venedig entwischt?«, schrie Jake gegen den Wind, das Knirschen der Wagenräder und das Klappern der Hufe an.

»Mr Drake hat uns gerettet«, antwortete Charlie stolz und gab dem Papagei eine Erdnuss. »Sie führten uns gerade ab, da hat mein bunter Freund hier ein geniales Ablenkungsmanöver inszeniert. Auf einem der Häuserdächer über uns hielt ein großer Taubenschwarm gerade ein Schläfchen – die Tauben von Venedig sind berühmt für ihre Fettleibigkeit und ihr reizbares Gemüt – und Mr Drake hat sie kreischend aufgescheucht. Ein so lautes Durcheinander von Flügeln und Federn hat die Welt noch nicht gesehen! Wir haben die kurze Verwirrung genutzt und sind in den nächsten Kanal gesprungen, und nach einer äußerst unangenehmen Tauchtour sind wir schließlich im Hafen an Bord eines chinesischen Schiffs geklettert.«

»Daher die Raketen«, rief Topaz von vorn und ließ die Zügel schnalzen.

Jake betrachtete die in morgendliches Sonnenlicht getauchte Hügellandschaft. Er fragte sich, was sie hinter dem Horizont erwartete, welche Gefahren auf sie lauern mochten, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten. Charlie hatte Schloss Schwarzheim als den schlimmsten von Prinz Zeldts Unterschlupfen bezeichnet. Was genau er wohl damit gemeint hatte? Und wer war dieser Prinz Zeldt, der angeblich tausendmal schlimmer war als alle Schreckensgestalten der Geschichte, von denen Jake je gehört oder gelesen hatte? Am meisten jedoch beschäftigte ihn die Frage, ob sie auf Schloss Schwarzheim erfahren würden, wo seine Eltern waren.

Den ganzen Tag fuhren sie weiter über alte Römerstraßen und hielten unterwegs nur kurz an Raststätten an, um die Pferde zu wechseln. Die Sonne beschrieb ihre Bahn übers Firmament, die beiden, die gerade auf der Rückbank saßen, spielten Karten oder unterhielten sich, und Charlie sang – sehr zur Beschämung von Mr Drake – sogar ein paar Lieder. Am späten Nachmittag wurde Jake schließlich mit den Zügeln betraut. Anfangs hatte er noch Probleme, die Pferde richtig zu lenken, und Topaz und Charlie mussten ihm eine Fahrstunde geben, doch schon nach kurzer Zeit hatte er den Bogen raus.

Als der Abend allmählich heraufdämmerte, erklommen sie die ersten Serpentinen des Brennerpasses. Die Pferde keuchten vor Anstrengung. Dann wurde die Straße wieder flacher, und sie machten eine längere Pause in der Dorftaverne, wechselten noch einmal die Pferde und aßen köstliches Sauerkraut mit Würsten.

Als sie weiterfuhren, war Charlie an der Reihe, den Kutscher zu spielen. »Setz dich doch zu mir auf den Kutschbock«, sagte er zu Jake und zündete die Laternen an. Jake nahm die Einladung gern an; Topaz machte es sich unterdessen hinten bequem. Dann ließ Charlie die Leinen schnalzen, und sie trotteten davon in die Dunkelheit.

Im spärlichen Licht der Laternen ging Topaz noch einmal die Gästeliste der Superia-Konferenz durch, den Mund ständig halb geöffnet, so sehr musste sie gähnen.

»Ich weiß, dass du offiziell die Leiterin dieser Mission bist«, sagte Charlie über die Schulter, »aber ich muss jetzt wirklich darauf bestehen, dass du dich endlich einmal ausruhst. Du hast seit zwei Tagen nicht eine Minute geschlafen.«

»Ich will jetzt nicht schlafen. Ich bin hellwach«, widersprach Topaz, auch wenn ihre schweren Augenlider etwas ganz anderes sagten. »D’accord – zehn Minuten«, stimmte sie schließlich zu. Sie legte die Liste beiseite und häufte etwas Stroh als Kopfkissen auf. »Nur ein kleines Nickerchen.« Mit diesen Worten streckte sie sich aus und fiel sofort in tiefen Schlaf.

Mr Drake, der ebenfalls sehr erschöpft zu sein schien, erhob sich von Charlies Schulter in die Luft, landete neben Topaz im Stroh, plusterte sein Gefieder auf, steckte den Schnabel unter den Flügel und schloss die Augen.

Die Nacht war mild. Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinandergesessen hatten, räusperte sich Charlie und flüsterte: »Wenn Topaz dabei ist, sprechen wir normalerweise nicht über Zeldt und seine Familie. Wir alle haben genug Grund, sie zu hassen, aber Topaz noch viel mehr. Wegen ihrer Eltern.«

»Haben sie ihre Familie umgebracht?«, fragte Jake gerade heraus.

»Schhhh …«, machte Charlie und warf einen kurzen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Topaz immer noch schlief.

»Entschuldigung«, erwiderte Jake flüsternd.

Charlie überlegte, wie er die Frage am besten beantworten sollte. »Sie haben sie nicht direkt umgebracht, aber so etwas Ähnliches«, sagte er schließlich.

Jake nickte ernst.

»Die Zeldt-Dynastie reicht zurück bis zu den Anfängen der Geschichtshüter«, sprach Charlie weiter, »noch bevor sie sich überhaupt Hüter nannten. Rasmus Ambrosius Zeldt wurde in der nördlichen Eiswildnis Schwedens geboren; er war ein Zeitgenosse von Sejanus Poppoloe, der das Atomium entdeckt und die ersten Horizontpunkte kartografiert hat. Eine tiefe Freundschaft verband die beiden, sie waren die Visionäre der damaligen Wissenschaft und mutige Entdecker. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte zu erforschen, sie zu verstehen und auf keinen Fall zu verändern. Rasmus jedoch wurde immer labiler.«

»Labil?«

»Geistig labil«, erklärte Charlie düster. »Etwa zu dieser Zeit – während einer Englandreise ins siebzehnte Jahrhundert, als dort gerade der Bürgerkrieg tobte – lernte er seine Frau Matilda kennen. Sie ist übrigens auch der Grund, warum die Zeldts immer noch Englisch sprechen. Machttrunken von seiner Fähigkeit, durch die Zeit zu reisen, verfiel Rasmus dem Wahnsinn und trennte sich von Sejanus und den anderen Beobachtern, die sich der Gesellschaft angeschlossen hatten, und nannte sich fortan König. Nicht König von Schweden oder Europa oder der ganzen Welt, nein, König der Zeit. Damals war das noch eher Geschwätz und Angeberei. Fünf Generationen vergingen, und die selbst ernannte ›Herrscherfamilie‹ geisterte durch die Zeit wie ein drohender Schatten, dann erblickte König Sigvard das Licht der Welt, und seitdem ist nichts mehr, wie es einmal war.«

»Sigvard?«

»Der Vater all unserer Sorgen«, erwiderte Charlie geheimnisvoll.

»Was hat er angestellt?«, fragte Jake.

Charlie zögerte einen Moment, bevor er weitersprach: »Er hat der Geschichte den Krieg erklärt.«

Bei diesen Worten lief Jake ein kalter Schauer über den Rücken.

»Er schwor sich, die Welt zu verändern, sie in den Abgrund zu stürzen, im Dunkel zu versenken. Um das Handwerkszeug für sein teuflisches Vorhaben zu erlernen, reiste er quer durch die Menschheitsgeschichte, zu allen großen Verbrechen, die je begangen wurden. Er hat alles aus erster Reihe mitverfolgt: die spanische Inquisition, die Hexenprozesse von Salem, die Verfolgung von Juden und Christen, die Hugenottenkriege, die mörderischen Umtriebe der Phansigars im vorkolonialen Indien, die Eroberungskriege der Araber, die Kreuzzüge … König Sigvard hat alles aus nächster Nähe beobachtet, Einfluss genommen, wo er konnte, gelernt, was zu lernen war, seine Machtübernahme vorbereitet und einen erbarmungslosen Krieg angefangen. Seit dieser Zeit bekämpft der Geheimdienst der Geschichtshüter die Zeldt-Dynastie.«

»Ist er noch am Leben?«

»Er starb vor ein paar Jahrzehnten, im alten Mesopotamien. Und weißt du, wie? Ein Dachziegel ist ihm auf den Kopf gefallen! Bekam eine Hirnblutung, der er wenig später erlegen ist. Nach all den Jahren seiner Schreckensherrschaft, nach allem, was er verbrochen hatte, starb er bei einem lächerlichen Unfall, bei dem ihm ein harmloser Stein auf den Kopf fiel!«

»Vielleicht hat ja die Geschichte selbst beschlossen, seinem Treiben ein Ende zu setzen?«, überlegte Jake.

»Ein Ende? Ganz und gar nicht«, erwiderte Charlie. »Er hinterließ drei Kinder. Xander war das älteste, der Fürst der Finsternis, wie er genannt wird, derjenige, zu dem wir gerade auf dem Weg sind. Der zweite Sohn, Alric, verschwand, als er vierzehn war, und wurde seither nicht mehr gesehen. Das dritte Kind war seine Tochter Agata, die Schlimmste von allen.«

»Schlimmer als ihr Vater?«

»Nur damit du eine ungefähre Vorstellung hast: Als Fünfjährige hat sie versucht, Xander in einem zugefrorenen See zu ertränken. Das ist auch der Grund, weshalb er bis zum heutigen Tag keine Wärme spüren kann – oder sonst irgendetwas. Ein anderes Mal erwischte Agata ihre Kammerzofe dabei, wie sie eins von ihren Gewändern anprobierte. Danach zwang sie sie, sich auf einen rotglühenden Eisenthron zu setzen, mit einer rotglühenden Krone auf dem Kopf und einem rotglühenden Zepter in der Hand, was sie natürlich nicht überlebt hat. Nein, Agata Zeldt ist ohne Zweifel die grausamste Frau, die je auf Erden gewandelt ist.«

»Worüber unterhaltet ihr euch?«, kam eine leise Stimme von hinten.

Jake drehte sich um und sah Topaz mit glasigen Augen von ihrem Strohlager aufblicken.

»Über gar nichts«, sagte Charlie eilig. »Wie das Wetter morgen wohl werden wird.«

Topaz schenkte Jake ein warmes Lächeln, ließ den Kopf sinken und schlief sofort wieder ein.

Jake betrachtete die mondbeschienene Landschaft und die schneebedeckten Berge um sie herum. Mit einem Mal beschlich ihn große Angst vor dem, was sie auf Schloss Schwarzheim vorfinden würden.


18

DIE GEFLECKTE ROSE

Océane Noire stand am Eingang des Prunksaals, begrüßte die Partygäste und verlor nur ein einziges Mal die Fassung. »Mon Dieu!«, rief sie beim Anblick einer bestimmten Person. »Sie hat doch tatsächlich diese grässliche Tasche dabei.« Damit war Rose Djones gemeint, die in dem Kleid, das Olympe de Gouges ihr gegeben hatte, eigentlich ganz bezaubernd aussah – bis auf die Reisetasche, die immer und überall über ihre Schulter hing. Und die Tatsache vielleicht, dass das Kleid so eng war, dass sie sich darin kaum bewegen konnte.

Um genau sieben Uhr fünfundvierzig ertönte ein Gong, und die Gäste nahmen ihre Dinnerplätze ein. Überall standen Schildchen mit Namen darauf, denn Océane wollte unbedingt bestimmen, wer neben wem saß. So hatte sich die Gastgeberin neben Jupitus Cole platziert und Rose in das ungemütlichste Eck gleich neben dem Kücheneingang verbannt. Sie hatte natürlich keine Ahnung, dass dies Rose nur entgegenkam, da sie ohnehin vorhatte, sich nach einer gewissen Zeit davonzustehlen, um ihren Geheimauftrag zu erfüllen.

Während des Desserts bot sich dann die Gelegenheit: Es wurde ein Mandarinen-Feigen-Gelee serviert, das zu einem Porträt der Jubilarin geformt war, und Roses Tischgenossen, die alle ziemlich weit unten in Océanes Gunst rangierten, vergnügten sich damit, ihre Miniatur-Océanes zu einem wenig schmeichelhaften Brei zu verrühren, bevor sie das Dessert verspeisten. Galliana nutzte die entstandene Ablenkung und nickte ihrer Verbündeten kurz zu, woraufhin Rose sich unbemerkt davonschlich.

So schnell das Kleid es zuließ, eilte sie die Treppen hinauf und über die verlassenen Korridore zu Mr Coles Suite. Dort zog sie ihre Handschuhe an, kramte den Schlüssel hervor, den Galliana ihr gegeben hatte, und schlüpfte durch die Tür.

Jupitus’ Räumlichkeiten waren genauso nüchtern und streng gehalten, wie sie es erwartet hatte: dunkle Möbel und ebenso dunkle Porträts, die von den Wänden starrten, und über allem hing der abgestandene Geruch von längst verstaubten Duftschalen.

»Ach, du meine Güte«, murmelte sie und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Das ist ja die reinste Gruft.«

Rose ging hinüber zum Schreibtisch und durchsuchte vorsichtig einen Stapel perfekt Kante auf Kante ausgerichteter Papiere. Die untersten beiden zog sie heraus, damit Galliana sie auf Fingerabdrücke überprüfen konnte. Sie steckte die zwei Dokumente gerade in ihre Tasche, da entdeckte sie etwas, bei dessen Anblick ihr Herz einen Schlag lang aussetzte: Auf dem Schreibtisch stand eine kleine gläserne Dose mit goldenen Scharnieren und einem wunderschön verzierten Deckel; aber es war nicht die Dose, die ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, sondern deren Inhalt – eine getrocknete Rosenblüte, unverkennbar mit ihren weißen und roten Tupfen. Unten an der Dose befand sich eine winzige Schublade. Rose öffnete sie und zog ein paar handgeschriebene Notizzettel daraus hervor. Keuchend ließ sie sich auf einen Stuhl sinken.

Im Prunksaal war das Fest in vollem Gang. Nach dem Dinner waren alle Tische zur Seite geschoben worden, um Platz zum Tanzen zu schaffen, und das Orchester legte los. Es spielte die beliebtesten Tanzmelodien der 1820er-Jahre, von der Regency-Quadrille über den ausgelassenen Danse Espagnole bis hin zum für die damalige Zeit geradezu rasend schnellen Walzer, und dementsprechend ausgelassen war die Stimmung.

Mitten hinein in dieses fröhliche Tohuwabohu stolperte Rose Djones mit aschfahlem Gesicht. Sie umrundete die Tanzfläche, wich Norland aus, der so exaltiert mit der Bibliothekarin Lydia Wunderbar tanzte, dass man befürchten musste, die beiden könnten sich verletzen, und ging direkt auf Galliana zu.

»Hier. Das ist für die Fingerabdrücke«, sagte sie und reichte ihr die beiden Dokumente, die sie aus Jupitus’ Büro entwendet hatte.

»Hast du sonst noch was gefunden?«, fragte Galliana, ohne ihre Komplizin anzusehen.

»Ich habe jede einzelne Schublade durchsucht: nichts.«

»Rose? Geht’s dir auch gut? Du siehst blass aus.«

»Nein, mir geht’s ganz und gar nicht gut«, erwiderte sie mit gerunzelter Stirn. »Ich habe etwas anderes gefunden, das mich ziemlich beunruhigt. Weißt du noch, wie ich vor Jahren, als ich noch auf Mont Saint-Michel lebte, eine Weile lang versucht habe, eine neue Rosenart zu züchten? Ist nur ein einziges kümmerliches Pflänzchen dabei rausgekommen, das ganze drei Wochen durchgehalten und danach nie wieder geblüht hat. Die Blüten waren rot und weiß getupft«, erklärte sie wie in Trance. »Eine davon habe ich in Jupitus’ Suite gefunden, getrocknet und aufbewahrt in einer Glasdose.«

Galliana warf Rose einen fragenden Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Tanzenden.

»Und nicht nur das«, sprach Rose weiter. »In der Dose waren auch alte Notizzettel von mir: Einkaufslisten, Memos, belanglose Kritzeleien, die er nur aus meinem Mülleimer gestohlen haben kann.« Ihre Stimme hatte sich mittlerweile zu einem nervösen Tremolo aufgeschwungen.

»Meine gute Rose, unser Mister Cole ist eindeutig verliebt in dich.«

»Red keinen Quatsch«, gab Rose barsch zurück. »Wir hassen uns.«

Eine halbe Stunde später ereilte sie der zweite Schock des Abends. Rose war gerade auf dem Weg zur Bar, um ihre überstrapazierten Nerven mit einem Glas Rumpunsch zu beruhigen, als sie eine leise Stimme hinter sich hörte:

»Der Spion. Ich bin es nicht.«

Rose drehte sich um und schaute einem äußerst ernst dreinblickenden Jupitus Cole ins Gesicht. »Verzeihung?«, erwiderte sie unschuldig.

»Ich weiß, dass Sie in meiner Suite waren. Ich war selbst soeben dort und habe Ihr Parfüm gerochen. Glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht – es ist ganz gleich –, aber wenn Sie versuchen, den Doppelagenten in unseren Reihen aufzuspüren, sollten Sie Ihre Zeit besser auf jemand anderen verwenden.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«, stammelte Rose.

»Tun Sie nicht so«, erwiderte Jupitus und fixierte sie mit kaltem Blick. »Wenn Sie wirklich etwas über diese Angelegenheit in Erfahrung bringen wollen, folgen Sie mir.« Mit diesen Worten drehte er sich um und marschierte schnurstracks aus dem Saal hinaus.

Einen Moment lang stand Rose nur verdattert da. Ihr Blick schoss verstohlen von rechts nach links, dann wusste sie, was zu tun war – sie leerte ihr Glas in einem Zug und folgte ihm.

Mister Cole wartete am Fuß der großen Treppe, einen Kerzenleuchter in der Hand. »Hier entlang«, sagte er mit kühler Stimme und ging die Stufen hinauf. Schweigend führte er Rose zwei Stockwerke nach oben und dann über einen Flur zum Eingang der Bibliothek der Gesichter. Der Lärm des rauschenden Festes war immer noch dumpf in der Ferne zu hören.

»Ich konnte letzte Nacht nicht einschlafen«, erklärte Jupitus, »und kam auf dem Weg zur Küche hier entlang. Im Lauf der Jahre hat sich eine Tasse heißer Schokolade als gutes Heilmittel für mein sensibles Nervenkostüm erwiesen. Doch als ich gerade um jene Ecke kam, sah ich eine Gestalt in einem blauen Umhang aus der Bibliothek huschen. Sein Gesicht konnte ich leider nicht erkennen.«

»Sein Gesicht? Es war definitiv ein Mann?«

»Sein Gebaren ließ keinen anderen Schluss in Betracht kommen«, antwortete Jupitus knapp. »Er schloss gerade die Tür hinter sich und eilte in einer Weise über den Flur, die mir sofort verdächtig erschien.«

»Sind Sie ihm gefolgt?«

»Ich entschied mich, stattdessen in der Bibliothek nach dem Rechten zu sehen.« Cole öffnete die Tür und bedeutete Rose, ihm zu folgen.

Der riesige Raum war nur schwach von Kerzenlicht erhellt. Das letzte Mal, dass Rose die Bibliothek betreten hatte, lag fünfzehn Jahre zurück, und sie hatte vollkommen vergessen, wie unheimlich es hier drinnen war mit den hohen Wänden voller Gesichter. Hunderte Antlitze von Freunden und Feinden der Geschichtshüter blickten finster auf sie hinab. Eine Glocke erklang, Hebel und Getriebe setzten sich in Bewegung, und die gestrengen Gesichter wurden durch neue, nicht weniger strenge ersetzt.

»Diese Tür hier stand nur einen hauchdünnen Spalt weit offen«, fuhr Jupitus im Flüsterton fort und deutete auf einen verborgenen Eingang in einer dunklen Ecke. Er drückte die Geheimtür auf und schob Rose hindurch, hinein in die dahinterliegende pechschwarze Dunkelheit.

»Nehmen Sie meine Hand«, wisperte er. »Man stolpert nur allzu leicht über all die Gestänge und Hebel hier.«

Rose rührte sich nicht von der Stelle. Sie überlegte kurz, dann streckte sie zögernd eine Hand aus, die Jupitus umgehend ergriff. Rose war überrascht, wie warm seine Finger waren – sie hatte erwartet, Jupitus würde sich kalt wie ein Fisch anfühlen.

Unter den wachsamen Augen der Porträts führte er sie tiefer hinein in die Dunkelheit. Ein flackernder Schimmer von Jupitus’ Kerze beleuchtete das normalerweise unsichtbare Räder-und Gangwerk, das die Bilder der Bibliothek unermüdlich drehte.

In der dunkelsten Ecke blieb Jupitus schließlich vor einer Röhre stehen, die von oben aus der Decke kam und senkrecht an der Wand entlang ins darunterliegende Stockwerk führte.

»Dieses Rohr«, erklärte er, »führt vom Kommunikationsraum im Stockwerk über uns hinunter in die Privaträume der Kommandantin.«

Allmählich begriff Rose, worauf er hinauswollte. »Das ist die Rohrpost, mit der Galliana die Nachrichten aus den Meslith-Schreibern erhält?«

»Ganz richtig. Und gestern Nacht machte ich folgende alarmierende Entdeckung.«

Jupitus hielt den Kerzenleuchter näher an die Röhre, und Rose schnappte laut nach Luft: Auf halber Höhe befand sich ein waagerechter Schnitt, in den jemand eine dünnes Holzbrettchen geschoben hatte.

»Die Nachrichten werden an dieser Stelle abgefangen«, erklärte Jupitus, »und erst dann weitergeleitet. Wir müssen herausfinden, wer dafür verantwortlich ist.«

»Sie meinen, der Mann in dem blauen Umhang?«

»Exakt, Rosalind«, hauchte Jupitus. »Morgen werden wir uns hier in den Schatten verborgen halten und hoffen, dass der Übeltäter zurückkehrt.«

»W-wir beide?«, stotterte Rose.

»Da ich offensichtlich unter Verdacht stehe, wäre es mir lieber so. Oder haben Sie morgen schon etwas vor?«

»Nein, ich … glaube nur … natürlich wäre es sinnvoll«, erwiderte Rose sichtlich nervös. »Ein Überwachungseinsatz. Ganz wie in alten Zeiten, hm?«

Jupitus fixierte sie unbeirrt, und Rose blickte in seine vom Kerzenschein in warmes Licht getauchten Augen. Einen klitzekleinen Moment lang schien der Mann, der sie da anstarrte, nicht der kalte, stets übel gelaunte und unnahbare Jupitus Cole zu sein, sondern ein sensibler, ja geradezu zerbrechlicher Feingeist, doch da hatte sich sein Gesichtsausdruck schon wieder verhärtet.

»Warum konnten Sie letzte Nacht nicht schlafen? Worüber … was hat Ihnen solche Sorgen bereitet?«, hörte Rose sich fragen.

Es dauerte eine Weile, bis Jupitus reagierte. »Dröge Angelegenheiten meine Arbeit betreffend, nichts weiter«, antwortete er schließlich mit einem Achselzucken und lächelte sie einen Sekundenbruchteil lang an. »Wir sollten zum Bankett zurückkehren, bevor wir vermisst werden.«

Und damit machte sich Jupitus Cole auf den Weg zurück, gefolgt von einer zutiefst verwirrten Rose Djones.


19

DORFLEBEN

Jake drängelte sich durch die Menschenmenge aus Pendlern und Urlaubern, die sich über den Bahnhofsvorplatz der Euston Station in London wälzte. Er bahnte sich einen Weg zum Bahnsteig an Gleis Nummer fünf, wo gerade der Zug aus Birmingham ankam. Im Schritttempo fuhr er bis ans Ende des Gleises und blieb mit quietschenden Bremsen stehen.

Jakes Miene hellte sich sofort auf bei dem Gedanken, dass er jeden Moment seine Eltern wiedersehen würde. Sie waren nur vier Tage weg gewesen, aber es hatte sich viel länger angefühlt. Nie hatte er sie so sehr vermisst wie dieses Mal: ihre gut gelaunten Wortgefechte, ihren verspielten Humor, ihre Gegenwart, die er immer für selbstverständlich gehalten hatte.

Doch auf dem Bahnsteig tat sich nichts. Kein einziger Passagier stieg aus. Dann endlich öffnete sich zischend die Tür des vordersten Waggons, und Jakes Herz machte vor Freude einen Satz, als eine unsichtbare Hand einen roten Koffer auf dem Bahnsteig abstellte. Seine Eltern würden jeden Moment folgen.

Doch es stieg immer noch niemand aus. Mutterseelenallein stand der rote Koffer auf dem verlassenen Bahnsteig.

Allmählich wich Jakes Vorfreude einem unguten Gefühl. Er ging auf den roten Koffer zu und wartete darauf, dass ein Strom von aussteigenden Passagieren über ihn hinwegbranden würde, aber nichts geschah. Jake blieb stehen und begutachtete misstrauisch den Koffer seiner Eltern, dann ließ er den Blick zu der offenen Waggontür wandern und stieg zögerlich ein. Die Glastür dahinter glitt automatisch zur Seite, und Jake betrat das Großraumabteil.

Es war leer. Jake lief den Gang zwischen den Sitzreihen entlang und starrte ungläubig auf die leeren Plätze. Es waren zweifellos Passagiere in dem Waggon gewesen. Überall lagen Gepäckstücke und aufgeschlagene Zeitungen auf den Ablagen, irgendwo stand eine Plastiktasse mit dampfendem Kaffee, nur die Menschen dazu fehlten. Da sah Jake aus dem Augenwinkel etwas Scharlachrotes aufblitzen und erstarrte: Genau am gegenüberliegenden Ende des Waggons saß, mit dem Rücken zu Jake und vollkommen unbeweglich, eine Gestalt in Umhang und Kapuze. Jake spürte, wie eine unsichtbare Kraft ihn gegen seinen Willen zu der reglosen Gestalt zog. Endlich schaffte er es, sich umzudrehen – und sah, dass der ganze Waggon voll roter Kuttenträger war, alle starr und unbeweglich, in jeder Sitzreihe der gleiche gespenstische Anblick.

Jakes Kehle schnürte sich zu; er musste sofort raus aus diesem Zug. Er eilte auf den Ausgang zu, doch diesmal wollte sich die Glastür nicht öffnen. Er zog am Griff, aber sie war verriegelt.

Die Köpfe unter den roten Kapuzen drehten sich wie in Zeitlupe in seine Richtung und fixierten Jake. Durchs Fenster sah er, wie ein Wachbeamter den roten Koffer aufhob und auf einen Müllwagen warf. Der Mann gab ein Signal, und der Müllwagen fuhr davon.

»Warten Sie! Stopp!«, rief Jake. »Der gehört meinen Eltern.«

Er zog mit aller Kraft an dem Hebel, aber die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Hinter sich hörte er Bewegung und sah, wie eine der scharlachroten Gestalten langsam auf ihn zukam.

Ein weiterer Kuttenträger erhob sich, dann noch einer und noch einer. Wie Gespenster schwebten sie auf ihn zu, hüllten ihn ein wie ein dunkler Schatten.

Jake hob schützend die Hände vors Gesicht …

»Jake, wach auf!«, rief eine vertraute Stimme.

Jake öffnete die Augen und fand sich auf der mit Stroh ausgelegten Pritsche wieder, Topaz über ihn gebeugt.

»Du hattest einen Albtraum«, sagte sie sanft.

Sie fuhren gerade über eine ländliche Allee, zu beiden Seiten von hohen Bäumen beschattet. Charlie saß auf dem Kutschbock, Mr Drake auf seiner Schulter.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Jake, immer noch benebelt von seinem Traum.

»Knapp fünf Stunden«, antwortete Topaz. »Wir haben schon ganz Süddeutschland durchquert und sind bald da.«

»Bald da? Wirklich?«, keuchte Jake. Er fuhr auf wie ein Klappmesser und begutachtete neugierig die Landschaft.

Hinter der nächsten Kurve wurden die Baumreihen ein wenig lichter, und vor ihnen breitete sich ein weites, zu beiden Seiten von felsigen Hängen begrenztes Tal aus. In der Mitte schlängelte sich majestätisch ein breiter Strom.

»Der Rhein«, erklärte Charlie mit seiner Fremdenführerstimme, »ehemalige Grenze des Römischen Reiches und einer der längsten Flüsse Europas, nach der Wolga und der Donau selbstverständlich.«

Jake sah die breite Wasserstraße in der Ferne im schwülen Dunst verschwimmen, da bog das Gespann ratternd um eine weitere Kurve, zurück unter das Blätterdach der Allee, und der Blick war wieder versperrt.

Nach einer Weile kamen sie zu einer Ansammlung von niedrigen, strohgedeckten Häusern. Als sie am Dorfplatz vorbeikamen, beobachtete eine Gruppe von Greisen interessiert ihre Durchfahrt. Vor allem der bunte Papagei auf Charlies Schulter erregte große Aufmerksamkeit – so viel, dass einem von ihnen vor Erstaunen der Gehstock aus der Hand fiel. Dann, etwa eine Meile nachdem sie das Dorf verlassen hatten, entdeckte Charlie zwischen den Bäumen vor ihnen ein Gebäude aus grauem Stein.

»Das da vorn könnte ein Torhaus sein«, überlegte er. »Sollten wir uns mal aus der Nähe ansehen.«

Er steuerte das Gespann von der Straße herunter und blieb auf einer kleinen Lichtung stehen. Alle drei sprangen vom Wagen und robbten durch das hohe Gras, bis sie den Schatten unter einer gewaltigen Eiche erreichten, von wo sie einen besseren Blick hatten.

»Wenn mich nicht alles täuscht«, flüsterte Charlie, »ist das der Zugang zu Schloss Schwarzheim.«

Jake runzelte die Stirn. »Und wie sollen wir da reinkommen?«

Das von zwei schiefergrauen Wachtürmen flankierte eiserne Fallgitter vor ihnen sah wenig einladend aus. Links und rechts der beiden Türme erstreckte sich in sanftem Bogen eine hohe Mauer aus Granitstein bis außer Sichtweite, was Jake einen Eindruck von der schieren Größe der Festungsanlage vermittelte. Vor dem Tor stand eine Gruppe bärtiger Soldaten Wache. Sie trugen scharlachrote Kutten, das unverwechselbare Erkennungszeichen von Zeldts Armee.

»Und das ist wahrscheinlich nur die erste Hürde«, sagte Charlie und schob seine Brille zurecht. »Weiter oben auf dem Hügel sind die Tore mit Sicherheit noch besser bewacht.«

»Haben wir schon einen Plan?«, fragte Jake und versuchte, sich seine Anspannung nicht anmerken zu lassen. Einerseits wusste er, dass sie womöglich ganz nahe daran waren, das Rätsel um den Verbleib seiner Eltern zu lüften, andererseits schien die Aufgabe schwieriger denn je.

Während die drei schweigend überlegten, hörten sie das Rattern eines Fuhrwerks, das zwischen den Bäumen hindurch die Straße vom Dorf heraufkam. Es hielt auf das Tor zu und blieb direkt davor stehen. Jake sah, dass es über und über mit Waren beladen war: riesige Gemüsekisten, mindestens ein Dutzend Schweinehälften und unzählige geflochtene Käfige mit kreischenden Hühnern und anderem Geflügel darin. Ein Wachsoldat inspizierte mürrisch die Ladung, ohne den Worten des nervösen Kutschers auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Schließlich gab er ein Zeichen, und das Fallgitter hob sich knirschend. Das Lastenfuhrwerk ratterte hindurch, die eiserne Barriere senkte sich wieder.

»Wir müssen zurück ins Dorf«, sagte Topaz entschlossen, »und herausfinden, ob und wann noch weitere Gespanne das Tor passieren.«

Auf demselben Weg, den sie gekommen waren, schlichen sie zu ihrem Pritschenwagen und fuhren wieder ins Dorf. Schaukelnd und ratternd fuhren sie die Hauptstraße entlang, da entdeckte Charlie ein junges Mädchen, das auf einem Schemel vor dem örtlichen Gasthaus saß und ein Huhn rupfte. Die leuchtend roten Locken auf ihrem Kopf sahen, bis auf die Farbe, genauso aus wie Charlies.

»Sie sieht aus, als wäre sie von der hilfsbereiten Sorte«, meinte Charlie. »Ich werde das mal überprüfen.« Mit diesen Worten sprang er von der Pritsche und sprach das Mädchen in akzentfreiem Deutsch an.

Schüchtern blickte das Mädchen auf. Als sie Mr Drake sah, ließ sie vor Schreck ihr halb gerupftes Huhn fallen und sprang mit einem gellenden Schrei auf die Füße. Der Papagei, nun seinerseits zutiefst erschrocken, schlug wild mit den Flügeln und begann, ebenfalls ein wildes Gekreische anzustimmen. Das Schreiduell dauerte ein paar Sekunden an, dann schien das Mädchen zu begreifen, dass der seltsame Vogel harmlos war, und ihre Angst löste sich in einen lauten Lachanfall auf.

Charlie hob das Huhn vom Boden auf, machte es sauber und legte es auf den Schemel. Dann begann er, sie so charmant und geschickt auszufragen, dass die Informationen nur so aus ihr heraussprudelten. Die Unterhaltung wurde immer wieder von verlegenem Kichern unterbrochen, und als das Mädchen auch noch anfing, mit ihren Locken zu spielen, tauschten Jake und Topaz einen vielsagenden Blick aus.

»Unser Charlie ist heute mal wieder in Hochform«, kommentierte Topaz. »Mr Chieverley ist der unangefochtene Experte, wenn es darum geht, jemandem seine tiefsten Geheimnisse zu entlocken.«

Nachdem er das kleine Verhör beendet hatte, kam Charlie zurück zu den anderen gelaufen. »Ich habe gute und schlechte Neuigkeiten«, verkündete er aufgeregt. »Die junge Dame da drüben – Heidi heißt sie übrigens – war äußerst auskunftswillig.«

»Ist uns aufgefallen«, erwiderte Jake mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Was die Haartracht betrifft«, warf Topaz schelmisch grinsend ein, »dürfte es selbst unter allen Engeln des Himmels kein schöneres Paar geben als euch beide.«

Charlie errötete leicht und sprach rasch weiter: »Nun, wie dem auch sei … die schlechte Nachricht ist: Das Gespann, das wir zuvor gesehen haben, brachte die letzte Lieferung für die nächsten Tage. Anscheinend haben sie astronomische Mengen bestellt – hundert Fasane, dreißig Kisten Trüffeln, fünfzig Fässer Honigwein und so weiter.«

»Scheint sich um eine größere Festlichkeit zu handeln«, überlegte Topaz laut. »Und die gute Nachricht?«

»Den Dorfbewohnern wurde mitgeteilt, dass sie ab morgen kurz nach Sonnenaufgang mit bis zu dreißig Gruppen hochrangiger Besucher rechnen sollen«, antwortete Charlie. »Aus Portugal, Frankreich, Flandern, Griechenland, sogar aus Kleinasien …«

»Die Teilnehmer der Superia-Konferenz!«, rief Topaz.

»Und sie werden Erfrischungen brauchen, bevor sie sich auf den Weg hinauf zum Schloss machen, der anscheinend mörderisch anstrengend ist.«

»Das ist unsere Chance«, überlegte Topaz. »Irgendwie mischen wir uns unter eine dieser Gruppen. Wir haben noch Zeit bis zum Morgengrauen, um uns einen Plan auszudenken.«

»Bis zum Morgengrauen?«, fragte Jake entsetzt. »Das sind nur noch zwölf Stunden!«

»Acht, um genau zu sein«, korrigierte Charlie.

»Aber bis zur Apokalypse bleiben uns nicht mal mehr eineinhalb Tage«, beharrte Jake. »Sollten wir uns nicht besser gleich was einfallen lassen?«

»Wir alle sind besorgt«, widersprach Topaz mit genauso ruhiger wie fester Stimme, »aber wir haben nur diese eine Chance, und die müssen wir nutzen. Wir dürfen nicht versagen.«

Jake nickte stumm.

»Und um zu etwas Erfreulicherem zu kommen: Im Ort gastiert gerade ein Wandertheater. Heute Abend spielen sie auf der Dorfwiese König Ödipus von Sopho …«

»Oh, eine griechische Tragödie! Na, wenn uns das nicht ein wenig aufheitert«, unterbrach Topaz mit einem ironischen Lächeln.

Sie mieteten sich für die Nacht im Gasthaus ein, und der sonnengebräunte Wirt brachte sie nach oben. Vor ihrem Zimmerfenster stand ein kleiner Topf mit wilden Blumen, ansonsten war die Möblierung eher spärlich und wirkte etwas klapprig, aber zum Frischmachen war alles da, was sie brauchten. Nachdem sie etwas zu Abend gegessen hatten und die Sonne untergegangen war, begannen die Dorfbewohner mit Kerzen bewaffnet aus ihren Häusern zu strömen und machten sich auf den Weg zu der Lichtung am Rheinufer, wo die Vorführung stattfinden würde. Die drei jungen Agenten waren ganz erpicht auf etwas Ablenkung von ihren Sorgen und folgten, ein wenig abseits, dem Zuschauerstrom. Auf einer Wiese war eine einfache Bühne errichtet worden, zu beiden Seiten von Fackeln beleuchtet. Die Rückseite der Bühne war mit einfarbigen Stoffbahnen abgehängt, hinter denen sich die Schauspieler umzogen. Rechts davon warteten drei Musikanten mit Geigen und Trommeln auf einer Bank schon auf ihren Einsatz.

Charlie war absolut hingerissen. »So sahen also die Anfänge des Showbusiness aus!«, sagte er und deutete mit überschwänglicher Geste nach oben. »Nichts als eine nackte Bühne, die Worte der Akteure und darüber das Himmelszelt.«

Topaz sah zwei Dorfbewohnerinnen, die durch das Gewimmel in ihre Richtung kamen. Es waren Heidi, die hilfsbereite Rothaarige, und ihre Freundin, ein Mädchen mit Pferdegebiss und einem Dauergrinsen im Gesicht. Heidi flirtete ausgiebig mit Charlie, kitzelte ihn zum Abschied am Kinn und mischte sich dann wieder unters Volk.

»Charlie Chieverley, je suis impressionnée. Die weibliche Dorfbevölkerung liegt dir zu Füßen, wie man sieht«, kommentierte Topaz.

»Sie haben mich nur nach Mr Drake gefragt, das ist alles«, gab Charlie sichtbar beschämt zurück. »Ich habe ihnen erklärt, dass er gerade ein Nickerchen hält.«

Ein Trommelwirbel erklang, und die Schauspieler betraten in griechische Gewänder gehüllt die Bühne. Ehrfürchtige Stille senkte sich übers Publikum, und das Stück begann.

Jake war wie hypnotisiert. Das Drama wurde zwar auf Deutsch aufgeführt und er verstand die Feinheiten der Handlung nicht (Charlie hatte nur erklärt, dass es um einen Mann ging, der, ohne es zu wissen, seine eigene Mutter heiratete und seinen Vater tötete), aber die Schauspieler sprachen ihren Text mit solcher Eindringlichkeit, ihre Bewegungen waren so grazil und gleichzeitig ausdrucksstark, die von den Fackeln erleuchteten Gesichter von solcher Leidenschaft erfüllt, dass er sich dem Zauber der Aufführung nicht entziehen konnte. Eine Stunde verging wie im Flug. Wort für Wort hing das Publikum an den Lippen der Darsteller, manchmal schweigend, manchmal aufgeregt rufend, immer untermalt vom Spiel der Musikanten.

Jake blickte Topaz an, die mit leuchtenden Augen das Stück verfolgte. Ohne den Blick von der Bühne zu wenden, ergriff sie seine Hand und hielt sie fest umschlossen. Jakes Herz schlug höher – die Schauspieler in den griechischen Kostümen, der Mond über dem Rhein, die gefährliche Aufgabe, die vor ihnen lag, alles verwob sich in dieser warmen Sommernacht zu reinster Magie.

Nachdem das Stück zu Ende war und die Schauspieler sich verneigt hatten, betraten die Musikanten die Bühne. Der Geiger stampfte dreimal mit dem Fuß, dann ging es los. Jubelnd sprang mindestens die Hälfte der Dörfler von ihren Sitzplätzen auf, und sie begannen zu klatschen und ausgelassen zu tanzen. Da tauchten auch Charlies Bewunderinnen wieder auf und zogen ihn auf die Tanzfläche.

»Nein, kommt nicht infrage«, protestierte er. »Ich kann nicht tanzen. Zwei linke Füße, tut mir leid«, erklärte er und schaute entschuldigend zwischen den beiden hin und her, nur um sich gleich darauf in den Reigen einzureihen.

Mit einem breiten Grinsen beobachteten Jake und Topaz das festliche Treiben. Mittlerweile hatten sich so gut wie alle Dorfbewohner unter die Tanzenden gemischt. Freudig rufend tanzte Jung mit Alt, und ein Paar erregte Jakes ganz besondere Aufmerksamkeit: Ein junger Dorfbursche, der aussah, als hätte er den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet, tanzte mit einer barfüßigen älteren Dame im piekfeinen Ballkleid. Die Bewegungen der beiden harmonierten perfekt, sie lachten und trugen abwechselnd die kompliziertesten Tanzschritte zur Schau.

Jake blickte Topaz unsicher an und öffnete den Mund. Eigentlich wollte er sie zum Tanz auffordern, doch stattdessen hörte er sich sagen: »Ziemlich eingängige Melodie, findest du nicht?«

Topaz nickte nur knapp, und Jake wäre wegen seines dämlichen Kommentars am liebsten im Boden versunken. Kurz entschlossen unternahm er einen zweiten Anlauf: »Würde es dir etwas ausmachen, wenn du mit mir …«

Doch es war bereits zu spät. Ein groß gewachsener Jüngling hatte sich vor Topaz in Pose geworfen und hielt ihr elegant die Hand hin. Er hatte langes blondes Haar, trug ein legeres Cape über den Schultern, und an einem Ohr prangte ein mit einem Diamanten besetzter Ohrstecker. Zwei seiner genauso jugendlich frisch aussehenden Freunde, die ebenfalls, wenn auch nicht ganz so legere, Capes über den Schultern trugen, beobachteten gespannt, ob er Erfolg haben würde.

Topaz blickte den Galan lächelnd an. Zu Jake sagte sie: »Es macht dir doch nichts aus, oder?«

»Überhaupt nicht«, log er und schüttelte dabei ein wenig zu eifrig den Kopf.

Schon verschwand Topaz mit ihrem Verehrer im Reigen der Tanzenden. Anfangs schienen ihr die Schritte noch Schwierigkeiten zu bereiten, doch sie hatte den Bogen schnell raus und baute nach einer Weile sogar selbst erdachte Kombinationen ein, die Jakes Herz höherschlagen ließen. Die zwei sahen einfach umwerfend aus, sie waren eindeutig das Paar des Abends, und die beiden anderen Jünglinge bedachten ihren Freund verstohlen mit bewundernden und neidischen Blicken.

»Ziemlich eingängige Melodie«, wiederholte Jake für sich und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. »Was Bescheuerteres ist mir wohl nicht eingefallen!«

Er stand auf und ging hinüber zum Fluss, der lautlos und majestätisch dahinströmte. Der Anblick erinnerte ihn an die Dordogne in Frankreich, wo er mit seiner Familie vor drei Jahren im Urlaub gewesen war. Damals war er elf gewesen, sein Bruder Philip vierzehn, so alt wie er selbst jetzt.

Eines Tages während jenes Urlaubs war Philip zu einem Kanutrip aufgebrochen, und Jake hatte gebettelt, mitkommen zu dürfen. Philip hatte zunächst gezögert, besorgt, ob sein kleiner Bruder schon gut genug mit einem Kanu umgehen konnte, aber dann doch eingewilligt. Es war ein stiller, heißer Morgen gewesen, und der Fluss anfangs noch vollkommen ruhig. Doch schon eine Stunde später waren über den Bergen schwarze Wolken aufgezogen. Dann war, begleitet von sintflutartigen Regenfällen, ein Gewitter losgebrochen, das den Fluss innerhalb von Minuten zu einem reißenden Strom hatte anschwellen lassen.

»Ich paddle lieber ans Ufer!«, schrie Jake.

»Nein, auf keinen Fall!«, brüllte Philip zurück. »Bleib in der Mitte, alles andere ist viel zu gefährlich!«

Doch Jake befolgte den Rat seines Bruders nicht und drehte sein Kanu gegen die Strömung. Ein Schwall schäumenden Wassers brachte es sofort zum Kentern, Jake fand sich in den reißenden Fluten wieder und wurde von der Strömung nach unten gezogen.

Philip zögerte keinen Moment. Er sprang ins Wasser, kämpfte sich an Wirbeln und Strudeln vorbei, bis er seinen Bruder erreicht hatte und ihn an Land ziehen konnte. Gemeinsam krochen sie ans Ufer und versuchten, wieder zu Atem zu kommen.

Jake schämte sich zutiefst, dass er seinen Bruder so enttäuscht hatte. »Tut mir leid«, sagte er leise.

Doch Philip legte ihm nur lächelnd einen Arm um die Schulter. »Wenn der Fluss so reißend wird, dann paddle einfach mit dem Strom. Wenn eine Welle auf dich zukommt, fährst du direkt hinein, auch wenn es wie das Blödeste klingt, das man in so einem Moment tun könnte. Verstanden?«

Jake nickte und zeichnete betreten mit dem Finger Muster auf seine an den Schenkeln klebende Hose. »Und jetzt nimmst du mich nie wieder mit, oder …?«

»Machst du Witze? Das nächste Mal fährst du voraus. Du bist mein Bruder, und ich werde immer auf dich aufpassen, schon vergessen?«, erwiderte er und zerzauste Jakes nasse Locken.

Dieser Urlaub an der Dordogne war der letzte gewesen, den sie gemeinsam verbracht hatten. Im Winter desselben Jahres war Philip verschwunden.

Plötzlich hörte Jake einen Ruf vom Fluss.

»Sieh mal«, sagte Topaz, die plötzlich neben ihm auftauchte und auf ein großes Schiff deutete, das den Fluss entlangsegelte. Auf dem Deck blinkten Laternen, und die Mannschaft winkte den Dorfbewohnern am Ufer zu.

»Sieht aus wie ein Handelsschiff«, sprach sie weiter. »Wahrscheinlich ist es unterwegs nach Köln oder Düsseldorf, oder sogar nach Holland. Der Rhein ist einfach riesig …«

Jake nickte und warf Topaz einen kurzen Blick zu. »Was ist mit deinem Don Juan passiert?«, fragte er so beiläufig, wie er konnte.

»Sagen wir mal so«, erwiderte Topaz, »die Jungs, die man auf Tanzveranstaltungen kennenlernt, sind alle vom selben Schlag, egal in welchem Jahrhundert.«

»Ja, das ist das Problem mit Urlaubsromanzen«, stimmte Jake zu. »Eigentlich hatte ich ja noch nie eine, aber ich dachte, wenn ich das sage, komme ich weise und welterfahren rüber.«

Topaz lachte ihn strahlend an.

»Obwohl, das stimmt nicht ganz«, fiel Jake mit einem Mal ein. »Ich habe Mirabelle Delafonte ganz vergessen! Sie hat mich in der Achterbahn gefragt, ob ich mit ihr gehen will.«

»Mirabelle Delafonte? De vrais? War das ihr wirklicher Name?«

»Ich fürchte, er ist noch schlimmer: Mirabelle Portia Svetlana Ida Delafonte. Ihre Eltern waren sehr engagiert in einem Laientheater, vielleicht kam daher dieser Hang zum leicht Übertriebenen …«

»Und, hast du Ja gesagt?«, fragte Topaz kichernd.

»Noch während ich darüber nachdachte, hat sie mein Gesicht abgeschlabbert, und dabei hat sich ihre Zahnspange irgendwie in meiner Wange verhakt. Es fehlte nicht viel, und ich hätte einen Chirurgen gebraucht, um mich wieder von ihr zu befreien.«

Topaz brach in schallendes Gelächter aus und konnte volle fünf Minuten lang nicht mehr aufhören. Sie bekam das Bild von Mirabelles Monsterspange, die sich in Jakes Wange verbissen hatte, einfach nicht mehr aus dem Kopf, und jedes Mal, wenn sie es beinahe geschafft hatte, ging es wieder von vorn los. »Wenn ich einmal angefangen habe zu lachen, kann ich kaum noch aufhören«, gestand sie keuchend, nachdem sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte.

Endlich fühlte Jake sich sicher genug, um Topaz ein paar Fragen zu stellen, die ihm schon lange unter den Nägeln brannten. »Um wieder zurück zu den ernsten Dingen des Lebens zu kommen: Wie lange machst du … das hier eigentlich schon? Für den Geheimdienst der Geschichtshüter arbeiten, meine ich.«

Topaz blickte hinaus auf den Fluss. »Nun, ich wurde während der Schlacht von Poitiers im Hundertjährigen Krieg geboren. Und wenn ich sage während, heißt das, im Munitionslager, als die Schlacht gerade in vollem Gange war. Glücklicherweise kann ich mich nicht daran erinnern. Aber ich erinnere mich an meinen ersten Kreuzzug, damals war ich vier. Meine Mutter nahm mich mit ins Jerusalem des elften Jahrhunderts, um mich ›vorzubereiten‹. Und so ging es dann weiter …«

Jake hörte eine gewisse Bitterkeit in ihrer Stimme. Er war nicht sicher, ob er weiterfragen sollte, aber eins wollte er doch noch wissen: »Du musst es mir nicht sagen, aber was ist mit deinen Eltern passiert?«

Alle Heiterkeit war mit einem Mal aus Topaz’ Gesicht verschwunden, und ein dunkler Schleier der Trauer breitete sich darüber.

»Tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen.«

»Nein, schon gut. Ich versteh das. Schließlich machst du dir im Moment Sorgen um deine Eltern«, erwiderte Topaz. »Sie sind wunderbare Menschen. Ganz bestimmt sind sie irgendwo in Sicherheit, Jake. Ich fühle es. Hier.« Sie deutete auf ihr Herz und schaute Jake dabei tief in die Augen. »Bei meinen Eltern war das eine ganz andere Geschichte.«

Und das war alles, was in dieser Angelegenheit aus ihr herauszulocken war. Sie starrte noch eine Weile auf den Rhein, dann wandte sie sich um und nahm Jakes Hand. »Lass uns lieber Charlie suchen, bevor er noch eine unglückliche Urlaubsromanze anfängt.«

Lachend folgte Jake ihr ins Gewühl.

Der Klang der Geigen trieb durch das Flusstal und wurde immer leiser, während die warme Brise ihn durch die finstere Nacht bis hinauf zu dem Schloss hoch oben auf einem nahegelegenen Hügel trug. Dort saßen in einem Kerker mit drei Meter dicken Mauern zwei verlorene Gestalten …

»Ich frage mich, was seine Henkersmahlzeit war«, überlegte Nathan laut.

Mit dem Rücken an die nasskalte Granitwand gelehnt, hockte er mit Paolo auf dem feuchten Boden ihres Verlieses. Durch eine kleine vergitterte Öffnung hoch über ihnen fiel fahles Mondlicht in die Zelle, ansonsten war es stockdunkel. Die Vorderseite der Zelle war ebenfalls mit massiven Eisenstangen vergittert, dahinter erstreckte sich der Rest des in düsteres Zwielicht getauchten Kerkers.

Nathans Augen funkelten immer noch hart wie Stahl, doch Paolo war ein Anblick des Jammers. »Was auch immer der gute Mann als Henkersmahlzeit bekommen hat, ich werde etwas anderes bestellen«, verkündete Nathan.

»Der gute Mann«, auf den sich Nathans Kommentar bezog, war ein Skelett, das in der gegenüberliegenden Ecke ihrer Zelle in sich zusammengesunken an der Wand lehnte.

Paolo rollte die Augen, und sein Magen gab ein eigenartiges Geräusch von sich. Eine volle Minute später murmelte er missmutig: »Woher wollt Ihr wissen, dass dieser Knochenhaufen zu Lebzeiten ein Mann war?«

»War das etwa eine Frage?«, rief Nathan verblüfft aus. »Wie schön! Wir reden miteinander! Sagtest du vorhin nicht so etwas wie: Unsere letzten Worte wären bereits gesprochen? Aber du hast ganz recht, vielleicht war unser Mitgefangener auch eine Dame. Das ändert die Sache natürlich grundlegend.« Nathan richtete sich ein Stück auf, glättete sein zerzaustes Haar und zwinkerte dem Skelett lasziv zu. »Na, heute Abend schon was vor?«

Paolo stieß einen verzweifelten Seufzer aus.

Aus dem Dorf unterhalb der Festung drang der dumpfe Klang von Musik an ihre Ohren, und Nathan begann leise mitzusummen. Da kam ihm eine Idee, und er rappelte sich mühsam hoch. »Wie dem auch sei …«

»Was?«, fragte Paolo.

»Wie wär’s mit einem kleinen Tänzchen?«

Paolo stieß ein Knurren aus, das diesmal nicht aus seinem Magen kam. »Ihr seid ja so unglaublich komisch«, schnaubte er und sank dann, wenn das überhaupt möglich war, noch tiefer in sich zusammen.

»Tut mir leid, Paolo, aber um ehrlich zu sein: Ich habe gar nicht mit dir gesprochen, sondern mit meiner bezaubernden neuen Freundin hier, Esmeralda.« Er streckte dem Skelett eine Hand entgegen. »Esmeralda, könnte ich Euch dafür begeistern, ein paar Takte Walzer mit mir zu tanzen? Oder Polka? Es darf auch etwas Barockes sein, wenn Ihr wünscht. Ich verspreche auch hoch und heilig, nicht auf Eure zarten Knochen zu treten.«

»Haltet endlich den Mund, Nathan!«, explodierte Paolo. »Ich habe es satt mit Euch! Ich bin müde, ich habe seit drei Tagen nichts gegessen und werde wahrscheinlich hier verhungern oder zu Tode gefoltert werden oder bei lebendigem Leib zerstückelt, und alles, was Euch dazu einfällt, ist, dümmliche Witze zu reißen!«

»Nichts gegessen, mein Lieber? Deine Erinnerung hat dir wohl einen kleinen Streich gespielt: Was ist mit den drei köstlichen Kakerlaken von heute Morgen? Allein die Konsistenz – eine Offenbarung! Und was das Witzereißen angeht – es ist unsere heilige Pflicht. Humor ist das, was uns von den Tieren unterscheidet.«

»Haltet Euer Maul!«, brüllte Paolo. »Oder ich vergesse mich!« Außer sich vor Wut griff er nach einem Bündel Stroh und warf es nach Nathan.

Nathan beugte sich zu dem Skelett hinunter und blickte um Vergebung heischend in die leeren Augenhöhlen. »Ich hoffe, Ihr akzeptiert meine aufrichtige Entschuldigung wegen des Betragens meines Freundes«, flüsterte er in vertraulichem Ton. »Italiener, müsst Ihr wissen. Ein sehr emotionales Volk.«

Da fiel sein Blick auf ein Stück Stoff neben seinem Stiefel. Er hob es auf und betrachtete es neugierig. Ein Markenname war hineingestickt. »Marks and Spencer«, las er halblaut vor und rieb den Stoff zwischen den Fingern. »Polyester. Zweifellos zwanzigstes Jahrhundert.« Da kam ihm ein furchtbarer Gedanke: »Miriam und Alan Djones!«

»Was habt Ihr da?«, fragte Paolo und hob den Kopf.

»Nichts«, erwiderte Nathan möglichst beiläufig, schob den Stofffetzen unter sein Wams und suchte verstohlen nach weiteren Hinweisen auf das Schicksal ihrer Vorgänger.

Da ertönte das metallische Klirren eines Schlüsselbundes. Eine Tür wurde entriegelt, und Paolo setzte sich zitternd auf, unsicher, was sie nun erwartete.

Schwere Schritte näherten sich, der Schein einer Fackel tanzte zuckend über die Gewölbedecke jenseits der Gitterstäbe, dann trat die schlanke Gestalt von Mina Schlitz ins Blickfeld, begleitet von einem Wächter, der die Fackel trug.

Vor der Zelle blieb sie stehen und starrte finster auf die beiden hinab. In der einen Hand hielt sie eine Zinnschale, mit der anderen hob sie den Deckel hoch und präsentierte den Gefangenen die darin befindlichen Köstlichkeiten: kalter Braten, frisches Brot und ein ganzer Berg Obst.

»Essen? Ihr habt uns etwas zu essen gebracht?«, stammelte Paolo ungläubig und kam stolpernd auf die Beine.

Mina schloss den Deckel, stellte die Schale auf den Boden und schob sie demonstrativ mit dem Stiefel beiseite. Dann nahm sie ihre rot gemusterte Schlange aus dem Gürtelkäfig und wickelte sie um ihr Handgelenk. »Prinz Zeldt ist neugierig, ob ihr schon hungrig genug seid, einen Handel einzugehen.«

»Einen Handel? Selbstverständlich!«, rief Paolo aufgeregt und umklammerte die Gitterstäbe. »Wir gehen jeden Handel ein. Was sollen wir tun?«

»Mein Freund hier leidet an Dehydrierung. Seine Urteilskraft ist beeinträchtigt«, warf Nathan hastig ein. »Wir verhandeln nicht mit dem Feind.«

»Tatsächlich?«, säuselte Mina. »Wie ungeschickt. Euch bleiben zwei Möglichkeiten: ein langsamer, grausamer Tod oder eine bedeutende, ruhmreiche Karriere an der Seite der Schöpfer der neuen Weltgeschichte.«

»Bedeutende, ruhmreiche Karriere!«, rief Paolo begeistert. »Unbedingt! Wo sollen wir unterschreiben?«

Nathan zog ihn von den Gitterstäben weg und schob ihn an die gegenüberliegende Wand. »Ich warne dich. Du bist es, der ab jetzt das Maul halten wird.«

Er wandte sich an Mina, das Gesicht mit einem Mal todernst, die funkelnden Augen hart wie Diamant.

»Die Welt hat bereits eine Geschichte, Miss Schlitz«, erklärte er mit durchdringender Stimme. »Und die war schlimm genug. Wir wollen die Dinge nicht unnötig verkomplizieren.« Sein Blick wurde noch härter. »Es gibt nichts zu verhandeln.«

Ein Lächeln umspielte Minas Lippen. »Eigenartig, die letzten Insassen dieser Zelle sagten exakt dasselbe«, erwiderte sie amüsiert und ließ ihre Stimme dann zu einem Flüstern werden. »Es heißt, ihr Ableben wäre ganz wunderbar grauenvoll gewesen.« Sie schob die Zinnschale noch ein Stückchen weiter von den Gitterstäben weg. »Noch habt ihr Bedenkzeit«, sagte sie mit einem Achselzucken, nickte der Wache kurz zu, und gemeinsam wandten sie sich zum Gehen.

»Doch, wenn mir die Bemerkung gestattet ist, Miss Schlitz …«, begann Nathan.

Mina blieb stehen und blickte sich hoffnungsvoll um.

»Rot steht Euch wirklich überhaupt nicht«, beendete er den Satz. »Man möchte meinen, es würde ganz wunderbar mit dieser entzückenden Viper an Eurem Arm harmonieren, doch in Wahrheit passen die Farbtöne nicht recht zueinander: Euer Kleid geht ins Magenta, meine Teuerste, wohingegen die Zeichnung Eures kleinen Haustiers eher als zinnoberrot zu bezeichnen wäre. Solche farblichen Unstimmigkeiten können zwar einen interessanten Kontrast bilden, doch in Eurem Fall würde ich sagen, sieht es eher vulgär aus.«

Minas Gesicht wurde violett vor Zorn. Schnaubend drehte sie sich um und stolzierte mit langen Schritten davon. Es folgte das Knallen einer Tür und das Knirschen eines Riegels, dann herrschte eisige Stille.

»Da fühlt man sich doch gleich viel besser, irgendwie lebendiger, findest du nicht?«, fragte Nathan über die Schulter, doch Paolo stand nur mit offenem Mund da und bebte vor Verzweiflung.


20

DIE RUSSISCHE DELEGATION

Da kommt jemand«, flüsterte Jake und klopfte Topaz auf die Schulter.

Topaz brauchte einen Moment, um aus dem Tiefschlaf zu erwachen. Schließlich riss sie die Augen auf, schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Charlie wurde ebenfalls wach und setzte sich auf. Alle trugen noch die Kleidung vom Vortag.

»Unten«, wisperte Jake und deutete durch einen Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen. Auf der Straße stand eine Kutsche im wabernden morgendlichen Nebel.

Direkt vor dem Schlafengehen hatten die drei einen Plan ausgearbeitet, und jetzt war es Zeit, ihn umzusetzen.

»Du weißt, was du zu tun hast?«, fragte Charlie.

Jake nickte. »War mein Spezialgebiet im Schultheater«, log er.

»Hier sind deine Requisiten. Mit besten Grüßen vom Koch.« Charlie gab Jake eine Schüssel voll blutiger Innereien. »Und ihr beiden wundert euch, warum ich Vegetarier bin …«, fügte er trocken hinzu.

»Alle auf ihre Posten!«, befahl Topaz, dann schlichen sie die Treppe hinunter.

Vor dem Gasthaus stieg ein junges Paar aus der Kutsche und blickte naserümpfend die Häuserreihen entlang. Der Mann war groß gewachsen und hatte ein fliehendes Kinn; seine Begleiterin schien in ihrem Leben noch kein einziges Mal gelächelt zu haben. Obwohl es Juli war, trugen sie so viele Schichten Nerz-, Ozelot-und Marderpelze am Leib, dass sie selbst am Nordpol problemlos überlebt hätten. Die Frau nahm eine an ihrem Gürtel hängende Peitsche zur Hand, ließ sie direkt vor der Nase des greisen Kutschers durch die Luft schnalzen und bellte einen Befehl.

Röchelnd und hustend kletterte der alte Mann vom Kutschbock herunter.

Da kam Charlie aus der Eingangstür des Gasthauses gestürmt und lief mit panischem Blick auf die beiden zu.

»Zum Schloss Schwarzheim?«, fragte er.

Das Paar blickte ihn verdutzt an.

»English, Italiano, Français?«, fragte er weiter.

»Russki«, erwiderte die Frau entrüstet.

Charlie wechselte zu Russisch: »Verzeiht meine Indiskretion, aber könnte es sein, dass die edlen Herrschaften auf dem Weg nach Schloss Schwarzheim sind?«

»Schloss Schwarzheim, durchaus«, antwortete der Mann.

»Wie lauten die Namen der Herrschaften?«, fragte Charlie weiter und hielt die Gästeliste hoch, die Jake aus Mina Schlitz’ Zelt gestohlen hatte.

»Mikhail und Irina Volsky«, sagte die Frau ungeduldig.

»Aus Odessa«, fügte ihr Gemahl hinzu.

Charlie ging die Liste durch und entdeckte schließlich, beinahe ganz am Ende, die Namen. »Ah, hier. Gott sei Dank, dass ich Euch rechtzeitig gefunden habe. Die Lage ist äußerst prekär!«, sagte er und deutete auf die Straße. »Wegelagerer, so viele, dass man sie kaum zählen kann!«

Irina schnappte erschrocken nach Luft und blickte sich ängstlich um. Der greise Kutscher begann am ganzen Leib zu zittern.

»Wo?«, fragte ihr Ehemann.

»Die gesamte Straße entlang, in beiden Himmelsrichtungen, in den Wäldern, überall! Mindestens fünfzig! Barbaren, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat! Erst heute Nacht haben sie vier Menschen getötet und zerstückelt.« Charlie fuhr sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger über die Kehle, und Irina griff erschrocken nach der Perlenkette um ihren Hals.

In diesem Moment kam Heidi aus dem Gasthaus getappt, um die neuen Gäste in Empfang zu nehmen. Noch während sie sich verschlafen die Augen rieb, versperrte Charlie ihr eilig den Weg.

»Das sind Freunde von mir, ich kümmere mich um sie«, flüsterte er auf Deutsch. »Du kannst wieder ins Bett gehen.« Er schob sie zurück ins Gasthaus, schloss die Tür hinter ihr und wandte sich wieder den Volskys zu: »Wenn Ihr mir folgen würdet, geleite ich die Herrschaften zu Ihrem Zimmer.«

»Zimmer?«, fragte Irina irritiert.

»Ihr solltet besser hierbleiben, bis die Gefahr vorüber ist. Hier seid Ihr in Sicherheit.« Charlie versuchte, sie ins Gasthaus zu bugsieren, doch die beiden schienen alles andere als begeistert.

»In einem ordinären Gasthaus? Nie im Leben!«, rief Irina und machte sich los.

Da blickte der Kutscher plötzlich auf und starrte entsetzt auf eine Gestalt, die über die Straße kam und sich ihnen rasch näherte.

Es war Topaz, die, so schnell sie konnte, auf sie zugerannt kam. »Hilfe! Helft mir!«, schrie sie.

Je näher sie kam, desto weiter klappte Irinas Kiefer nach unten: Topaz’ Kleid und Hände waren mit frischem Blut bespritzt.

»Sie kommen! Viele …! Sie haben meinen Mann umgebracht! Sie kommen …!«, kreischte sie und rauschte an dem wie vom Donner gerührt dastehenden russischen Ehepaar vorbei ins Gasthaus.

Doch das war noch nicht der Höhepunkt der Show. Eine weitere Silhouette kam humpelnd näher. Es war Jake, der den sterbenden Ehemann spielte, und er gab alles, um das dramatische Potenzial der Rolle voll auszuschöpfen: Über und über mit Blut beschmiert, reckte er theatralisch eine Hand in die Luft, mit der anderen hielt er einen Klumpen triefender Tiergedärme gegen den Bauch gepresst. Während Topaz sich bei ihrem Auftritt eher auf Stimmlage und Intonation konzentriert hatte, legte Jake alle Energie in ausdrucksstarkes Mienenspiel und Gestik. Schlotternd, als stünde er unter schwerem Schock, taumelte er auf sie zu und streckte Irina eine von Blut tropfende Hand entgegen. Die Russin zuckte angeekelt zurück. Jake versuchte zu sprechen, doch seiner Kehle entrang sich nur ein röchelndes Stöhnen, dann versteifte sich sein gesamter Körper, und er fiel vornüber, um nach ein paar letzten Zuckungen reglos am Boden liegen zu bleiben.

In der Befürchtung, die Russen hätten Jakes Auftritt durchschaut, warf Charlie Topaz einen schnellen Blick zu und schüttelte verstohlen den Kopf.

Doch er hatte sich getäuscht: Die Volskys, nun vollends von der tödlichen Bedrohung überzeugt, stürzten panisch ins rettende Gasthaus. Charlie folgte ihnen und brachte sie nach oben in das Zimmer, das die drei eben erst freigemacht hatten.

Noch nie in ihrem Leben hatte Irina Volsky sich so glücklich geschätzt, in einem vulgären Gästezimmer mit niedriger Decke und rustikaler Holzeinrichtung Unterschlupf zu finden. Eiligen Schrittes lief sie aufs Fenstersims zu, warf den Blumentopf nach unten auf die Straße und verriegelte die Läden.

»Hier drinnen seid Ihr in Sicherheit. Wartet hier, bis Ihr weitere Nachricht erhaltet«, wollte Charlie die beiden noch beruhigen, da schlug ihm Irina schon die Tür vor der Nase zu, drehte den Schlüssel und zog ihn ab.

Als Charlie die Treppe wieder nach unten gelaufen war, fand er den armen Kutscher am ganzen Leib zitternd vor Angst vor.

»Hier lang«, sagte er und führte den alten Mann ins Esszimmer. »Bestellt Euch das beste Essen, das hier angeboten wird, und nehmt die schönste Suite, die die Wirtsleute haben.« Er drückte dem Mann zwei Goldmünzen in die Hand. »Und keine Sorge wegen der Banditen«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu. »Es gibt keine.«

Der Kutscher schaute ihn verblüfft an.

Charlie deutete zum Fenster, hinter dem Jake sich gerade das Blut von den Händen wischte und, den beiden fröhlich zuwinkend, eine Verbeugung vollführte.

Der alte Mann lächelte.

Ohne weitere Zeit zu verlieren, ließen sie das Dorf hinter sich und fuhren mit der Kutsche der Volskys zu der Stelle, von der sie die Zufahrt zum Schloss ausgespäht hatten. Während der Fahrt entdeckte Topaz auf der mit Seide gepolsterten Rückbank das Einladungsschreiben. »Es ist mir eine große Freude, Euch nun endlich persönlich kennenzulernen …«, las sie erleichtert, denn das bedeutete, dass die Volskys dem Gastgeber der Konferenz noch nie begegnet waren. Unterschrieben war das Pergament in blutroter Tinte mit Xander Zeldt.

Eilig gingen sie den Inhalt der acht auf dem Dach der Kutsche festgegurteten Koffer durch. Die ersten sechs gehörten zweifellos Irina, die sich offensichtlich eines außerordentlich eitlen Charakters rühmen konnte: Zwei waren voll mit Kleidern, weitere zwei mit Schuhen, und sowohl Kleider als auch Schuhe waren reich mit Pelzapplikationen verziert, was Charlie zu der Vermutung führte, dass die beiden ihr Vermögen durch den Handel mit »unschuldigen toten Tieren« gemacht haben mussten. Im fünften Koffer befanden sich Schmuck und Fächer, im sechsten vornehme Porzellandöschen mit allerlei Pudern und Pulvern darin sowie zahllose Parfümfläschchen. Die meisten Mädchen wären ob dieser Entdeckung wahrscheinlich im siebten Himmel geschwebt, aber Topaz blieb unbeeindruckt. Sie machte sich nichts aus Mode und Schminksachen.

Im siebten Koffer fanden sie schließlich Mikhails Garderobe: weit weniger reichhaltig, dafür alles von höchster, handverlesener Qualität.

»Was würde Nathan dafür geben, wenn er das hier sehen könnte!«, sagte Topaz und setzte sich ein samtenes Barett mit einer grünen Pfauenfeder daran auf. »Passt die Farbe auch zu meinen Augen?«, fragte sie in einer schamlosen Imitation ihres Stiefbruders. »Ich fürchte, sie hebt ihren Farbton doch ein wenig zu sehr heraus.«

Charlie zog ein mit Smaragden besetztes Wams hervor und hielt es vor die Brust. »Zu groß«, sagte er mit einem gewissen Bedauern in der Stimme. »Jake, das heißt, dass du den Ehemann spielen wirst. Die Rolle passt ohnehin viel besser zu dir, und ich werde den Part des Kutschers übernehmen.«

Charlie hatte recht: Er war zwar genauso alt wie Jake, aber ein paar Zentimeter kleiner, und außerdem hatte Jake eine sehr aufrechte Körperhaltung, was ihn geradezu für die Rolle des Edelmanns prädestinierte. Er half Jake in das Wams – es passte wie angegossen.

Topaz war beeindruckt. »Merveilleux. Du siehst aus wie ein waschechter Prinz!«

Jake neigte geschmeichelt den Kopf.

»Aber versuch ab jetzt bitte, nicht mehr so zu übertreiben«, warf Charlie ein. »Das hier ist die Realität, keine Theaterbühne.«

Jake nickte gehorsam, da kam ihm ein beunruhigender Gedanke: »Werde ich nicht Russisch sprechen müssen? Das könnte ein Problem sein.«

»Glücklicherweise ist ihre Verständigungssprache Englisch«, erwiderte Charlie. »Ein leichter russischer Akzent dürfte also genügen.«

»Und was ist mit Mina Schlitz und ihrer Eskorte?«, hakte Jake nach. »Sie werden mich sofort erkennen.«

»Auch darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen«, meinte Charlie und zog den Lederbeutel hervor, den Jake schon an Bord der Campana gesehen hatte. »Mr Volsky ist zwar glatt rasiert, aber das brauchen wir ja niemandem auf die Nase zu binden.« Er öffnete den Beutel und begutachtete mit sichtlichem Stolz seine Sammlung an falschen Bärten. Schließlich zog er einen heraus und hielt ihn Jake vors Gesicht. »Ausgezeichnet«, sagte er zufrieden.

Topaz machte sich gerade an dem letzten Koffer zu schaffen, bekam den Deckel aber nicht auf. »Dieser hier scheint aus irgendeinem Grund abgeschlossen zu sein«, sagte sie und zog eine Klammer aus ihrem Haar. Topaz bog den dünnen Metalldraht gerade, führte ihn in das Schloss ein, und wenige Augenblicke später ertönte ein Klicken.

Als Topaz den Koffer öffnete, schnappten die drei Agenten laut nach Luft: Er war bis oben hin gefüllt mit funkelnden Kostbarkeiten. Gleich zuoberst befand sich eine Kassette mit Unterteilungen wie in einem Setzkasten, und in jedem der kleinen Abteile lag ein Ring mit einem geschliffenen Edelstein daran. Darunter fand sich eine weitere Kassette mit riesenhaften Diamanten, Smaragden und Rubinen, darunter noch eine und noch eine. Zuallerunterst schließlich entdeckten sie stapelweise Banknoten und mindestens ein Dutzend großer Goldbarren.

»Warum in aller Welt schleppen sie so viel Geld mit sich herum?«, fragte sich Topaz laut.

Charlie zog theatralisch die Augenbrauen nach oben. »Nun, ich habe das Gefühl, die Antwort auf dieses und alle anderen Rätsel dürfte hinter den Mauern von Schloss Schwarzheim liegen.«


21

IN DER HÖHLE DES LÖWEN

Eine halbe Stunde später ratterte die Kutsche der Volskys über die Straße auf das düstere Tor von Schloss Schwarzheim zu. Charlie saß auf dem Kutschbock, Mr Drake auf einer der Truhen neben ihm. Zum schwarzen Mantel trug er die Mütze, die er in einem Täschchen gefunden hatte, in dem der Kutscher seine wenigen Besitztümer aufbewahrte, dazu einen blonden Bart, mit dem er so gut wie nicht mehr wiederzuerkennen war.

Im luxuriösen, mit Seide ausgekleideten Fahrgastraum saßen Jake und Topaz als reiche Russen verkleidet. Mit dem korsettierten Kleid und dem Golddiadem auf dem Kopf sah Topaz umwerfend aus, doch Jakes Verwandlung war noch weitaus bemerkenswerter: Mit Schnauzer und Kinnbart, in feinsten Zwirn gekleidet, war er vom Scheitel bis zur Sohle ganz der junge Pelzmagnat.

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