Laut dröhnte die Brandung des Pazifiks hinter ihnen, als sie über den schimmernden Sand liefen. Oben auf der Uferstraße sprangen sie auf ihre Fahrräder, und in schneller Fahrt tauchten sie in die grünen Alleen des Parks. Sie waren zu dritt — drei Jungen in leuchtenden Pullovern —, und sie rasten so gefährlich nahe an der Geschwindigkeitsgrenze den Radfahrweg entlang, wie man es von Jungen in leuchtenden Pullovern nicht anders erwartet. Vielleicht fuhren sie sogar zu schnell. Ein berittener Polizist war jedenfalls der Ansicht. Da er aber doch nicht ganz sicher war, gab er sich mit einer warnenden Handbewegung zufrieden, als die Jungen vorbeiflitzten. Sie nahmen die Warnung prompt zur Kenntnis und vergaßen sie nach der nächsten Biegung genauso prompt, was man ebenfalls von Jungen in leuchtenden Pullovern nicht anders erwartet.
Sie schossen durch das Tor zum Golden-Gate-Park, bogen nach San Franzisko ein und sausten mit solch einer Geschwindigkeit den langen Abhang hinunter, daß die Fußgänger stehenblieben und ihnen mit ängstlichen Gesichtern nachsahen. Durch die Straßen der Stadt flogen die hellen Pullover, schwenkten und wendeten, um die steileren Hügel möglichst zu umgehen. Waren sie aber nicht zu vermeiden, setzte jeder von den dreien alles daran, als erster oben zu sein.
Der Junge, der öfter als die anderen das Tempo bestimmte, die Jagd begann und die Kraftproben vorschlug, wurde von seinen Freunden Joe genannt. Joe war der fröhlichste und kühnste der drei, und er führte. Aber als sie an den großen, eleganten Villen der Western Addition vorbeiradelten, lachte Joe weniger laut und nicht mehr so oft, und unwillkürlich fiel er immer mehr zurück. An der Ecke Laguna-Vallejostraße bogen seine Freunde nach rechts ab. »Bis dann, Fred!« rief Joe, als er nach links abschwenkte. »Bis dann, Charlie!« »Bis heute abend!« riefen sie zurück. »Nein, ich kann nicht kommen«, antwortete er. »Mach keinen Quatsch«, bettelten sie. »Kann wirklich nicht, muß büffeln. Wiedersehen!« Joes Gesicht wurde ernst, als er allein weiterfuhr, und seine Augen blickten kummervoll. Er begann energisch zu pfeifen, aber sein Pfeifen wurde dünner und dünner, bis es schließlich nur noch ein sehr schüchterner Laut war und ganz verstummte, als er die Auffahrt zu einem großen zweistöckigen Haus hinaufradelte.
»Ah, Joe!«
Er hielt seinen Schritt vor der Tür zur Bibliothek an. Bessie war da, das wußte er, und arbeitete fleißig an ihren Hausaufgaben. Sie mußte sogar schon fast fertig sein, denn sie war immer vor dem Abendessen fertig, und es konnte nicht mehr lange bis zum Abendessen dauern. Joe hatte seine Aufgaben überhaupt noch nicht angerührt. Der Gedanke machte ihn wütend. Schlimm genug, daß die eigene Schwester, obwohl sie zwei Jahre jünger war, in derselben Klasse saß. Aber geradezu unerträglich war es, dauernd von ihr in den Zensuren um mehrere Längen geschlagen zu werden. Nicht, daß er dumm war. Er wußte selber am besten, daß er nicht dumm war. Aber aus irgendeinem Grunde - wie es kam, wußte er selber nicht - waren seine Gedanken nie da, wo sie sein sollten, und meistens kam er unvorbereitet in die Schule.
»Joe, komm doch bitte einmal her.« Diesmal war nur ein ganz winziger Anflug von Vorwurf in ihrer Stimme. »Ja?« sagte er und schleuderte den Vorhang mit einer ungestümen Bewegung zur Seite. Es klang barsch, aber im nächsten Augenblick, als er das kleine zarte Mädchen sah, das ihn mit wehmütigen Augen über den großen, mit Büchern überhäuften Arbeitstisch hinweg anblickte, tat es ihm schon halb leid. Bessie hatte sich mit Bleistift und Schreibblock in einen Sessel gekuschelt, dessen üppige Ausmaße sie noch zarter und zerbrechlicher erscheinen ließen, als sie wirklich war.
»Was gibt's denn, Schwesterchen?« fragte er freundlicher und ging zu ihr hinüber.
Sie nahm seine Hand und drückte sie gegen ihre Wange, und als er neben ihr stand, schmiegte sie sich an ihn. »Was ist los mit dir, Joe?« fragte sie leise. »Willst du es mir nicht sagen?«
Er schwieg. Es kam ihm blödsinnig vor, seinen Kummer einer kleinen Schwester zu beichten - mochten ihre Zensuren hundertmal besser sein als die eigenen. Und es kam ihm ebenfalls blödsinnig vor, daß die kleine Schwester ihn nach seinem Kummer fragte. - Wie weich ihre Wange ist, dachte er, als sie ihr Gesicht sanft gegen seine Hand drückte. Wenn er sich nur losreißen könnte! Es war alles so blöd! Aber er könnte sie kränken, und seiner Erfahrung nach waren kleine Mädchen sehr leicht gekränkt. Bessie löste Joes Finger und drückte einen Kuß auf seine Handfläche. Es war, als ob ein Rosenblatt darauf fiele, und außerdem wollte sie auf diese Art ihre Frage wiederholen. »Nichts ist los!« sagte er entschieden. Und dann platzte er doch ganz unvermittelt heraus: »Wegen Vater!« Joes Kummer sprach aus Bessies Augen. »Aber Vater ist so gut und so lieb, Joe«, begann sie. »Warum versuchst du nicht wenigstens, es ihm recht zu machen? Er verlangt doch gar nicht viel von dir, und er will doch nur dein Bestes. Und du bist doch auch gar nicht so dumm wie manche anderen Jungen. Wenn du dir nur ein bißchen Mühe gäbest. . .« »Schon wieder eine Predigt!« explodierte er und entriß ihr grob seine Hand. »Jetzt fängst auch du schon an, mir Vorschriften zu machen. Demnächst fallen wohl auch noch die Köchin und der Stalljunge über mich her!« Er stieß die Hände in die Taschen. Vor ihm stieg das Bild einer düsteren und trostlosen Zukunft auf, die angefüllt war von unzähligen nicht enden wollenden Moralpredigten. »Darum hast du mich gerufen?« fragte er und wandte sich zum Gehen. Wieder griff sie nach seiner Hand. »Nein, nicht darum. Aber du sahst so bedrückt aus, da hab' ich gedacht, ich . . .« Ihre Stimme versagte, und sie begann noch einmal von neuem. »Was ich dir eigentlich sagen wollte: Wir wollen am nächsten Sonnabend über die Bucht nach Oakland fahren und von dort aus eine Wanderung durch die Berge machen.« »Wer ist >wir« »Myrtle Haze . . .« »Was, die Ziege?« unterbrach er.
»Ich halte sie nicht für eine Ziege«, antwortete Bessie mit Nachdruck. »Sie ist eines der nettesten Mädchen, die ich kenne.«
»Was überhaupt nichts bedeutet, wenn ich an die Mädchen denke, die du kennst. Aber nur weiter, wer sonst noch?« »Pearl Sayther und ihre Schwester Alice und Jessie Hilborn und Sadie French und Edna Crothers -das sind die Mädchen.«
Joe schnaufte verächtlich. »Und wer sind die Jungens?« »Maurice und Felix Clement, Dick Schofield, Burt Layton und . . .«
»Das genügt! Lackaffen, die ganze Bande!« »Ich - ich wollte dich und Fred und Charlie bitten«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Darum habe ich dich hereingerufen -um euch zu bitten, mitzukommen.« »Und was habt ihr alles vor?« fragte er. »Wandern, Blumen pflücken - der Klatschmohn blüht jetzt gerade -, irgendwo, wo es hübsch ist, Mittag essen und . . .« »... wieder nach Hause gehen«, beendete er den Satz für sie. Bessie nickte. Joe steckte seine Hände wieder in die Tasche und ging auf und ab.
»Der reinste Kindergarten!« sagte er schroff. »Und was für ein Kindergartenprogramm! Nichts für mich, vielen Dank!« Sie preßte ihre zitternden Lippen aufeinander und mühte sich tapfer weiter um ihn. »Was würdest du denn lieber tun?« fragte sie.
»Was ich lieber tun würde? Mit Fred und Charlie irgendwohin gehen und irgend etwas tun, ganz gleich, was.« Er hielt ein und sah sie an. Geduldig wartete sie darauf, daß er weitersprach. Er wußte selber, daß es ihm unmöglich war, in Worte zu fassen, was er fühlte und was er wollte. All sein Kummer und seine ganze Unzufriedenheit stiegen in ihm auf und nahmen von ihm Besitz.
»Ach, du verstehst mich nicht!« brach es aus ihm heraus. »Du kannst mich gar nicht verstehen. Du bist ein Mädchen. Du möchtest immer nett und ordentlich sein und dich brav aufführen und in der Schule anderen voraus sein. Du machst dir nichts aus Gefahr und Abenteuer, und du machst dir auch nichts aus Jungens, die Mumm und Mut haben und was riskieren. Du ziehst süße kleine Streber mit weißen Kragen vor, die immer saubere Sachen anhaben und immer geschniegelt sind. Die auch in der Pause am liebsten immer in der Klasse bleiben und sich vom Lehrer verhätscheln lassen und immer gerne hören wollen, daß sie besser sind als alle anderen. So nette, kleine, brave Jungens, die niemals in der Klemme sitzen, weil sie soviel mit Herumspazieren zu tun haben und mit Blumenpflücken und Mittagessen in Mädchengesellschaft, daß sie gar nichts ausfressen können. Die Sorte kenne ich. Die haben Angst vor ihrem eigenen Schatten. Und nicht mehr Mumm in den Knochen als ein paar alte Schafe. Schafe sind sie, sonst nichts. Nun, ich bin kein Schaf, basta. Ich will bei eurem Picknick nicht mitmachen. Und damit du es genau weißt: Ich mache überhaupt nicht mit.«
Bessies braune Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Lippen bebten. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Wozu taugten Mädchen eigentlich? Dauernd mußten sie heulen und Theater machen und sich in anderer Leute Sachen einmischen. Blöde Geschöpfe waren sie. »Dir kann man aber überhaupt nichts sagen, ohne daß du gleich anfängst zu heulen«, begann er und versuchte, sie zu besänftigen. »Ich wollte dir doch nicht weh tun, Schwesterchen. Bestimmt nicht. Ich . . .«
Hilflos blickte er zu ihr hinab. Sie schluchzte und versuchte doch gleichzeitig, zitternd vor Anstrengung, ihr Schluchzen zu beherrschen, während große Tränen ihre Wangen hinunterliefen.
»Mensch, Mädchen können sich vielleicht anstellen!« rief er und verließ wütend das Zimmer.
Immer noch wütend ging Joe wenige Minuten später zum Abendessen. Er aß schweigend, obwohl seine Eltern und Bessie sich angeregt unterhielten. Da sitzt sie, die Schwester - beklagte er sich grimmig bei seinem Teller -, eben noch geheult und jetzt schon wieder nichts als Lächeln und Ausgelassenheit! Das war nun seine Art überhaupt nicht. Wenn er einmal einen hinreichend wichtigen Grund zum Heulen hatte, konnte man sich darauf verlassen, daß er mehrere Tage brauchte, um darüber hinwegzukommen.
Mädchen waren Heuchler, mehr gab's da nicht zu sagen. Sie fühlten nicht einmal ein Hundertstel von dem, was sie bei ihrer Heulerei quasselten. Das war sonnenklar. Sie stellten sich bestimmt nur so an, weil es ihnen Spaß machte. Rein zum Vergnügen verdarben sie anderen Leuten, besonders Jungens, die Laune. Darum mischten sie sich in alles ein.
Bei diesen weisen Betrachtungen hielt Joe den Blick auf seinen Teller gerichtet und ließ dem Essen Gerechtigkeit angedeihen. Man kann nicht mit dem Rad von Cliff-House durch den Park nach Western Addition rasen, ohne einen sehr gesunden Appetit mitzubringen.
Ab und zu warf sein Vater ihm einen leicht besorgten Blick zu. Joe sah diese Blicke nicht, aber Bessie sah sie, jeden einzelnen. Mr. Bronson war ein Mann in mittleren Jahren, gut gebaut und von kräftiger Figur, aber durchaus nicht dick. Er hatte ein gefurchtes Gesicht mit kantigem Kinn und strengen Zügen, aber seine Augen blickten freundlich, und um seinen Mund lagen Falten, die eher Fröhlichkeit als Strenge verrieten. Schon bei flüchtigem Hinsehen entdeckte man die Ähnlichkeit zwischen ihm und Joe. Beide hatten die gleiche breite Stirn und die gleichen starken Kinnladen, auch die Augen sahen sich, wenn man den Altersunterschied mit in Betracht zog, so ähnlich wie Erbsen aus derselben Schote.
»Wie sieht's in der Schule aus, Joe?« fragte Mr. Bronson schließlich. Das Abendessen war beendet, und sie wollten eben vom Tisch aufstehen.
»Weiß nicht«, antwortete Joe gleichgültig. Dann fügte er hinzu: »Morgen sind die Prüfungen, dann wird's ja 'rauskommen.« »Wohin willst du?« fragte seine Mutter, als er sich anschickte, den Raum zu verlassen. Sie war eine schlanke, anmutige Frau, von der Bessie ihre braunen Augen und ihr sanftes Wesen hatte.
»Auf mein Zimmer«, erwiderte Joe. Und er setzte hinzu: »Arbeiten!« Sie fuhr ihm liebevoll durch das Haar, beugte sich zu ihm hinab und küßte ihn. Mr. Bronson lächelte ihm anerkennend zu, als er hinausging, und Joe eilte die Treppe hinauf, fest entschlossen, tüchtig zu schuften und die Prüfungen des kommenden Tages zu bestehen. Er ging in sein Zimmer, verriegelte die Tür und nahm an seinem Pult Platz, das zum Schulaufgabenmachen außerordentlich bequem hergerichtet war. Er ließ seinen Blick über seine Schulbücher wandern. Mit Geschichte sollten die Prüfungen am nächsten Morgen beginnen, darum wollte er sich zuerst an die Geschichtslektion machen. Er öffnete das Buch an der Stelle, an der er ein Eselsohr gemacht hatte, und begann zu lesen:
Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus um den Besitz der Insel Salamis, auf die beide Städte Anspruch erhoben. Das war leicht. Aber was waren die drakonischen Reformen? Die mußte er nachschlagen. Er kam sich außerordentlich wissensdurstig vor, als er die vorhergehenden Seiten durchflog - bis er zufällig seine Augen über die obere Kante des Buches erhob und auf einem Stuhl eine Baseballmaske und einen Fanghandschuh erblickte. - Das Spiel am vergangenen Sonnabend hätten sie nicht verlieren dürfen, dachte er. Und sie hätten es auch nicht verloren, wenn Fred nicht mitgespielt hätte. Wenn Fred doch endlich aufhören würde, Bälle zu verpatzen. Er konnte hundert schwierige Bälle hintereinander schnappen, aber wenn es dann einmal kritisch wurde, ließ er den leichtesten fahren. Er würde ihn ins Feld hinausstellen und Jones dafür ins erste Mal zurückbringen müssen. Jones war allerdings ziemlich zappelig. Er konnte jeden Ball halten, ganz gleich, wie kritisch die Lage war, aber man war nie sicher, was er hinterher mit dem Ball anstellen würde. - Mit einem Ruck wachte Joe aus seinen Träumen auf. Das war ja eine nette Art, Geschichte zu ochsen! Er vergrub sich wieder in sein Buch und las:
Kurz nach den drakonischen Reformen . . . Er las den Satz dreimal, und dann fiel ihm ein, daß er die drakonischen Reformen nicht nachgeschlagen hatte. Ein Klopfen an der Tür. Unter lautem Rascheln blätterte Joe die Seiten um, antwortete aber nicht. Das Klopfen wiederholte sich, und Bessies »Joe, hör doch!« drang an sein Ohr.
»Was willst du?« fragte er. Aber bevor sie antworten konnte, setzte er eilig hinzu: »Eintritt verboten! Ich habe zu tun.«
»Ich wollte nur sehen, ob ich dir vielleicht helfen kann«, schmollte sie. »Ich bin fertig, und ich dachte . . .« »Selbstverständlich bist du fertig!« rief er. »Du bist immer fertig!« Er klemmte seinen Kopf zwischen beide Hände, so daß sein Blick auf das Buch gerichtet blieb. Aber die Baseballmaske plagte ihn. Je mehr er versuchte, seine Gedanken auf Geschichte zu konzentrieren, desto lebhafter sah er vor seinem inneren Auge die Maske auf dem Stuhl und all die Spiele, an denen sie teilgenommen hatte. So konnte es einfach nicht weitergehen. Behutsam legte er das Buch mit dem Gesicht nach unten auf das Pult und ging zu dem Stuhl hinüber. Mit raschem Schwung schleuderte er Maske und Handschuh unter das Bett, und zwar mit solcher Kraft, daß die Maske von der Wand zurücksprang.
Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus . . .
Die Maske war an der Wand abgeprallt. Ob sie wohl so weit zurückgerollt war, daß er sie sehen konnte? Nein, er wollte nicht hinsehen. War es nicht ganz gleichgültig, ob sie zurückgerollt war? Das hatte nichts mit Geschichte zu tun. Ob sie wohl. . .?
Er spähte über den Rand des Buches hinweg, und da lag die Maske und blinzelte ihn unter dem Bett hervor an. Das war zuviel! Es hatte einfach keinen Zweck, sich mit den Schulaufgaben abzuquälen, solange die Maske in der Nähe war. Er ging hinüber und fischte sie auf, durchquerte den Raum zum Wandschrank hin, knallte sie hinein und verschloß die Tür. Gott sei Dank, das war erledigt. Jetzt konnte er sich an die Arbeit machen. Wieder setzte er sich an das Pult.
Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus um den Besitz der Insel Salamis, auf die beide Städte Anspruch erhoben. Schön und gut. Wenn er nur gewußt hätte, was die drakonischen Reformen waren! Ein sanftes Glühen legte sich über den Raum, und plötzlich bemerkte es auch Joe. Wo konnte es herrühren? Er sah zum Fenster hinaus. Die untergehende Sonne warf ihre langen Strahlen schräg gegen die tiefhängenden sommerlichen Wolkenknäuel und verfärbte sie zu einem warmen Scharlach und Rosenrot. Und von ihnen wurde das weiche, rötlich glühende Licht auf die Erde zurückgeworfen.
Sein Blick senkte sich von den Wolken auf die darunterliegende Bucht. Nun, gegen Abend, legte sich die Seebrise, und beim Fort Point kroch ein Fischerboot mit dem letzten bißchen Wind in den Hafen. Weiter draußen paffte ein Schlepper, der einen dreimastigen Schoner in die See hinausschleppte, eine quirlende Rauchsäule in die Luft. Joes Blick wanderte zur Küste von Marin County hinüber. Die Linie, an der Land und Wasser sich trafen, war bereits in Dunkelheit getaucht, und lange Schatten krochen die Berge hinauf zum Gipfel des Tamalpais, der scharfumrissen gegen den westlichen Himmel stand. Wenn er, Joe Bronson, doch nur auf diesem Fischerboot wäre und mit einem Hochseefang den Hafen anliefe! Oder noch lieber auf dem Schoner, der jetzt in den Sonnenuntergang hineinsegelte und hinaus in die Welt. Das war Leben, das hieß leben! Etwas fertigbringen in der Welt und etwas darstellen in der Welt. Statt dessen saß er da in ein enges Zimmer gesperrt und zerbrach sich den Kopf über Leute, die schon Tausende von Jahren vor seiner Geburt nicht mehr lebten. Er riß sich mit einem Ruck vom Fenster los, wo ihn eine unsichtbare Gewalt zurückhalten wollte, und trug seinen Stuhl und sein Geschichtsbuch entschlossen in den hintersten Winkel des Zimmers. Dort setzte er sich mit dem Rücken zum Fenster hin.
Einen Augenblick später, so erschien es ihm wenigstens, sah er sich wieder am Fenster stehen und träumend hinausschauen. Wie er dort hingekommen war, wußte er nicht. Seine letzte Erinnerung war das Auffinden einer Überschrift auf einer Seite rechts im Buch, die »Das Gesetz und die Verfassung Drakons« lautete. Und dann war er, offenbar wie ein Schlafwandler, zum Fenster gegangen. Wie lange er wohl da gestanden hatte? Das Fischerboot, das er auf der Höhe von Fort Point entdeckt hatte, näherte sich nun dem Meigg-Kai. Das bedeutete, daß fast eine Stunde vergangen sein mußte. Die Sonne war längst untergegangen, ein feierliches Grau hing schwer über dem Wasser, und die ersten blassen Sterne blinkten über dem Gipfel des Mount Tamalpais.
Mit einem Seufzer drehte er sich um und wollte in seine Ecke zurückgehen, als eine langer, durchdringender Pfiff schrill an sein Ohr klang. Das war Fred. Joe seufzte erneut. Das Pfeifen wiederholte sich. Dann fiel ein zweiter Pfiff ein. Das war Charlie. Sie warteten an der Ecke, die Glückspilze! Nun, heute abend würden sie ihn nicht zu sehen bekommen. Beide Pfiffe vereinigten sich zu einem Duett. Joe wandt sich auf seinem Stuhl und stöhnte. Nein, heute brauchten sie nicht mit ihm zu rechnen, wiederholte er im stillen, stand aber gleichzeitig auf. Es war ihm völlig unmöglich, mit den beiden zu gehen, solange er keine Ahnung hatte von den drakonischen Reformen. Dieselbe Macht, die ihn an das Fenster gefesselt hatte, schien ihn nun quer durch das Zimmer an das Pult zu zerren. Sie zwang ihn, das Geschichtsbuch oben auf die anderen Schulbücher zu legen, und bevor es ihm selber klar wurde, hatte er die Tür aufgeschlossen und die Halle zur Hälfte durchschritten. Er wollte umkehren, aber da kam ihm der Gedanke, daß er ja eine kleine Weile nach draußen gehen und dann zurückkommen und seine Aufgaben machen konnte. Eine sehr kleine Weile, versprach er sich selber, als er die Treppe hinunterging. Schneller und schneller stieg er hinab, bis er am Fuß der Treppe schließlich drei Stufen auf einmal nahm. Er stülpte seine Mütze über den Kopf und verließ das Haus hastig durch den Seiteneingang. Als er an der Ecke ankam, lagen die Reformen des Drakon so weit hinter ihm in der Vergangenheit wie Drakon selber, während die Prüfungen des kommenden Tages nicht weniger weit vor ihm in der Zukunft lagen.
»Was habt ihr vor?« fragte Joe, als er bei Fred und Charlie ankam.
»Drachen«, antwortete Charlie. »Los, los, wir haben lange genug auf dich gewartet.«
Die drei gingen die Straße zum Berghang hinunter. Dort blickten sie auf die Union Street hinab, die tief unten zu ihren Füßen lag. Das da unten nannten sie den »Höllenschlund«, und der Name paßte. Sich selber nannten sie »Bergbewohner«, und sie betrachteten einen Abstieg der Bergbewohner in den Schlund als ein großes Abenteuer. Drachensteigenlassen in technischer Vollendung gehörte zu den feinsten Vergnügungen dieser drei Bergbewohner. Sechs oder acht Drachen, die sich an einem meilenlangen Zwirnsfaden in die Wolken aufschwangen, waren für sie etwas ganz Alltägliches. Aber sie waren gezwungen, ihren Vorrat an Drachen oft zu ergänzen. Denn wenn sie Pech hatten und die Schnur riß, oder ein abtrudelnder Drachen zerrte die anderen mit, oder der Wind flaute plötzlich ab, dann fielen ihre Drachen in den Schlund, und von dort konnten sie nicht zurückgeholt werden. Das lag daran, daß die jungen Leute unten im Schlund einer Piraten- und Räuberbande mit merkwürdigen Ideen von Eigentum und Besitz angehörten.
Wenn einem Drachen der Bergbewohner solch ein Unglück widerfuhr, konnte man am folgenden Tag ebendenselben Drachen in der Luft schaukeln sehen an einer Schnur, die in den Schlund hinunter zu den Höhlen der Schlundleute führte. So geschah es, daß die Schlundleute - eigentlich ein armes Volk, das sich technisch vollendetes Drachensteigen nicht leisten konnte - es zu großer Fertigkeit in dieser Kunst brachten, als ihre Nachbarn, die Bergbewohner, sich damit zu beschäftigen begannen.
Außerdem zog noch ein alter Seemann Nutzen aus diesem erholsamen Zeitvertreib der Bergbewohner. Er verstand sich auf Segel und Luftströmungen, und da er ein gewitzter Kopf und geschickt mit den Händen war, verfertigte er die bestfliegenden Drachen, die man überhaupt bekommen konnte. Er wohnte in einer Rattenfalle von Bude nahe beim Wasser, wo er auch mit seinen trübe gewordenen Augen Ebbe und Flut noch verfolgen und die ein- und ausfahrenden Schiffe beobachten und alte Erinnerungen wieder zum Leben erwecken konnte - Erinnerungen aus jenen Tagen, als auch er noch auf solchen Schiffen die Meere besegelte. Wollte man vom Berg aus zu seinem Schuppen gelangen, so mußte man den Schlund durchqueren, und auf dem Weg dorthin befanden sich die Jungen nun. Schon oft waren sie tagsüber losgezogen, um Drachen zu holen, aber dies war das erste Mal, daß sie es nach Einbruch der Dunkelheit versuchten. Das Unternehmen erschien ihnen als genau das, was es war, nämlich ein waghalsiges Abenteuer. In einfachen Worten ausgedrückt war der Schlund nichts weiter als die überfüllten und engen Wohnviertel armer Leute, in denen viele Nationalitäten in buntem Durcheinander eingepfercht waren und inmitten Schmutz und Elend lebten, so gut sie konnten. Es war noch früh am Abend, als die Freunde dieses Viertel auf ihrem Weg zum Schuppen des Seemanns durchquerten, und es passierte ihnen nichts, wenngleich einige der Jungen aus dem Schlund sie feindselig anstarrten und ihnen dann und wann eine höhnische Bemerkung nachriefen.
Der Seemann bastelte Drachen, die nicht nur ganz vorzüglich kletterten und flogen, sondern auch zusammengeklappt und daher sehr bequem transportiert werden konnten. Jeder der Jungen kaufte ein paar, und mit den zu festen Bündeln zusammengerollten Drachen unter dem Arm machten sie sich auf den Heimweg. »Nehmt euch vor die Jungs in acht«, warnte sie der Drachenbauer. »Die treib'n sich hier immer im Dunkeln 'rum.«
»Wir haben keine Angst«, versicherte ihm Charlie, »und auf uns selber aufpassen können wir auch!« Die Jungen, an die breiten ruhigen Straßen auf dem Berg gewöhnt, fuhren erstaunt und entsetzt vor dem Gewimmel in den mit Menschen vollgepackten Häuserzeilen zurück. Wie dichtes, phantastisches Wuchergewächs erschien es ihnen, durch das sie sich hindurchkämpfen mußten. Sie drängten sich dicht aneinander in dem Gewirr der engen Straßen, als ob sie beieinander Schutz suchten. Fremd war ihnen die Umgebung, und sie waren sich bewußt, daß sie nicht hierher gehörten. Kinder und sogar Babys krabbelten auf dem Bürgersteig und vor ihren Füßen herum, Frauen mit unfrisiertem Haar und ohne Hut tratschten in den Haustüren miteinander oder kamen mit kleinen Einkäufen in der Hand an ihnen vorbei. Überall roch es nach verdorbenem Obst und verrottetem Fisch, ein Geruch von muffiger Fäulnis. Große, ungeschlachte Männer lungerten herum, und kleine, zerlumpte Mädchen schoben sich behutsam mit Eimern voll schäumenden Bieres durch die drängelnde Menge. Um sie herum schnatterte und plärrte es in fremden Sprachen und Dialekten. Sie hörten schrille Schreie, Keifen und Gezänk. Der Schlund erzitterte in einem stetigen lauten Murmeln. Es klang wie das Summen in einem menschlichen Bienenkorb.
»Mensch, bin ich froh, wenn wir hier wieder 'raus sind!« sagte Fred. Seine Stimme war nur ein Flüstern, und Joe und Charlie stimmten ihm mit einem grimmigen Kopfnicken zu. Ihnen war nicht nach großen Reden zumute, und sie liefen so schnell, wie das Gedränge es ihnen erlaubte. Wie Reisende in einem gefährlichen, feindseligen Dschungel fühlten sie sich.
Und Gefahr und Feindseligkeit lagen in der Tat im Schlund auf der Lauer. Die Einwohner schienen die Anwesenheit der Fremden vom Berge übel aufzunehmen. Dreckige kleine Bengel riefen ihnen Schimpfwörter nach. Scheinbar mutig knurrten sie die drei an, waren jedoch ständig auf dem Sprung, um beim leisesten Zeichen eines Angriffes auszukneifen. Andere Gören hängten sich in einem lärmenden Aufzug den Jungen an die Fersen und wurden mit wachsender Zahl immer frecher.
»Einfach nicht um sie kümmern«, flüsterte Joe warnend. »Achtet nicht auf sie. Weitergehen. Wir sind bald 'raus.« »Nee, wir sind mittendrin«, sagte Fred mit unterdrückter Stimme. »Guck dir die da an!«
An der Ecke, der sie sich näherten, standen vier oder fünf Jungen ihres Alters. Das Licht einer Straßenlaterne fiel auf sie, besonders auf einen mit brandrotem Haar. Das konnte kein anderer als »Rotkohl« Simpson sein, der gefürchtete Anführer einer gefürchteten Bande. Schon zweimal hatte er seine Horde auf den Berg geführt und den Jungen der Bergbewohner Furcht und Schrecken eingejagt, so daß sie
in wilder Flucht in die Häuser türmten, während ihre Väter und Mütter eiligst nach der Polizei telefonierten. Beim Anblick der Gruppe an der Ecke schmolz der lärmende Haufen, der den drei Jungen an den Fersen hing, augenblicklich in nicht weniger sichtbarer Angst hinweg. Dadurch wuchs die Furcht der drei noch mehr, obwohl sie tapfer ihren Weg fortsetzten.
Der rothaarige Junge trennte sich von der Gruppe und vertrat den Freunden den Weg. Sie versuchten, um ihn herumzugehen, aber mit ausgestrecktem Arm hielt er sie an.
»Was wollt ihr hier?« knurrte er. »Warum bleibt ihr nicht, wo ihr hingehört?«
»Wir gehen ja schon nach Hause«, antwortete Fred zaghaft. Rotkohl sah Joe an: »Was hast du da unterm Arm?« fragte er. Joe hielt an sich und achtete gar nicht auf ihn. »Kommt!« sagte er zu Fred und Charlie. Gleichzeitig wollte er sich an dem Bandenführer vorbeidrängeln.
Aber mit einem raschen Schlag traf Rotkohl Simpson ihn im Gesicht, und mit einem ebenso schnellen Griff riß er ihm das Bündel mit den Drachen unter dem Arm weg.
Joe stieß einen wütenden Schrei aus, und alle Vorsicht in den Wind schlagend, stürzte er sich auf den Angreifer. Das war ganz offensichtlich eine Überraschung für den Bandenführer. Nichts hatte er weniger erwartet, als in seinem eigenen Reich angegriffen zu werden. Er wich zurück, hielt jedoch die Drachen umklammert. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er lieber kämpfen oder seine Beute behalten sollte.
Der zweite Wunsch siegte. Rotkohl drehte sich um und floh geschwind die enge Seitenstraße hinunter in ein Labyrinth von Gassen und Gäßchen. Joe wußte, daß er sich in die Wildnis eines feindlichen Landes wagte. Aber man hatte ihm sein Eigentum entwendet und seinen Stolz getroffen, und daher nahm er unverzüglich die Verfolgung auf. Fred und Charlie rannten, hinter Joe her, wenn er auch immer größeren Vorsprung gewann, und hinter ihnen folgten die drei anderen Mitglieder der Bande. Sie stießen Pfiffe aus, die offensichtlich den Rest der Bande zusammenrufen sollten. Im Laufe der Jagd wurden diese Pfiffe aus vielen verschiedenen Richtungen beantwortet, und bald hängte sich ein gutes Dutzend dunkler Gestalten an Fred und Charlie, die ihrerseits mit angespannten Muskeln den schnellerfüßigen Joe im Auge zu behalten versuchten. Rotkohl Simpson schoß auf ein unbebautes Grundstück zu. Er suchte nach einem »Schlupf«, wie sorgfältig vorbereitete Fluchtwege genannt wurden, die durch Zäune führten und über Schuppen und Häuser und um dunkle Löcher und finstere Ecken herum, wo der unkundige Verfolger sich sehr vorsehen mußte und mit sehr viel Wahrscheinlichkeit bald die Spur verlor.
Aber Joe holte Rotkohl ein, bevor der seine Absicht verwirklichen konnte, und mit fest verklammerten Armen rollten sie im Dreck. Als Fred und Charlie und die Bande auftauchten, waren sie schon wieder auf den Beinen und standen sich gegenüber.
»Na, was willst du?« fuhr der rothaarige Bandenführer ihn drohend an. »Was willst du? Raus mit der Sprache!« »Ich will meine Drachen wiederhaben!« antwortete Joe. Es blitzte in Rotkohl Simpsons Augen bei dieser Auskunft. Drachen konnte er selber sehr gut gebrauchen. »Dann müssen wir uns schlagen!« verkündete er.
»Warum soll ich mich um meine Drachen schlagen?« fragte Joe entrüstet. »Sie gehören mir!«
Damit verriet er, daß er keine Ahnung hatte, welche Vorstellung sich die Leute im Schlund von Eigentum und Besitzerrechten machten.
Die Bande brach in ein schrilles Hohngeschrei aus. Wie ein Rudel Wölfe drängten sie sich um ihren Anführer. »Warum soll ich mich um sie schlagen?« wiederholte Joe. »Weil ich es dir sage!« antwortete Simpson. »Und was ich dir sage, wird gemacht. Verstanden?« Joe verstand überhaupt nichts. Er weigerte sich zu verstehen, daß Rotkohl Simpsons Wort Gesetz war in San Franzisko oder in irgendeinem Teil von San Franzisko. Man hatte sein Gefühl für Anständigkeit und gerechtes Handeln verletzt. Das weckte seinen Kampfgeist. »Du gibst mir auf der Stelle die Drachen wieder!« drohte er und streckte die Hand nach ihnen aus. Aber Simpson riß das Bündel zurück. »Weißt du, wer ich bin?« fragte er. »Ich bin Rotkohl Simpson, und ich rate dir, nicht in dem Ton mit mir zu reden!« »Laß ihn lieber in Ruhe!« flüsterte Charlie Joe ins Ohr. »Es sind doch nur ein paar Drachen! Komm, wir machen, daß wir hier 'rauskommen!«
»Es sind meine Drachen!« sagte Joe langsam und verbissen. »Es sind meine Drachen, und ich will sie wiederhaben!« »Du kannst nicht gegen die ganze Bande an«, wandte Fred ein. »Wenn du ihn verprügelst, fallen die alle über dich her!« Die Bande beobachtete die geflüsterte Unterredung aufmerksam. Sie glaubte, Joe zögere. Wieder heulte sie los wie die Wölfe. »Angst hat er! Angst hat er!« höhnten und spotteten die Kerle. »Er ist viel zu fein. Sein schönes sauberes Hemd könnte dreckig werden, und dann schimpft Mama!« »Schnauze halten!« fuhr ihr Führer sie herrisch an. Gehorsam ließen sie von dem Lärm ab.
»Gibst du mir jetzt meine Drachen?« fragte Joe und rückte entschlossen gegen Simpson vor.
»Willst du dich um sie schlagen?« fragte Simpson zurück. »Ja!« erwiderte Joe.
»Los - hauen! Los - hauen!« begann die ganze Bande wieder zu brüllen.
»Und ich werde dafür sorgen, daß es fair zugeht«, sagte da eine tiefe männliche Stimme.
Alle Augen richteten sich sofort auf den Mann, der unbemerkt näher gekommen war. Im hellen Schein des elektrischen Lichtes, das von der Straßenecke her auf sie fiel, erkannten sie einen wuchtigen, muskulösen Mann in der Kleidung eines Arbeiters. Seine Füße staken in schweren, derben Schuhen, ein schmaler schwarzer Lederriemen hielt seinen Overall in der Hüfte zusammen, und auf dem Kopf trug er eine speckige schwarze Mütze. Sein Gesicht war von Kohlenstaub geschwärzt, und das offene grobe Hemd gab einen stämmigen Hals und einen gewaltigen Brustkasten frei.
»Und wer sind Sie?« knurrte Simpson. Er ärgerte sich über die Unterbrechung.
»Das geht dich nichts an!« gab der Neuankömmling schroff zurück. »Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Ich bin Heizer auf einem von den Dampfern, die nach China fahren. Und, wie gesagt, ich werde aufpassen, daß alles fair zugeht. Richtet euch danach. Und jetzt los! Sonst seid ihr morgen früh noch nicht fertig!«
Die drei Freunde waren über das Erscheinen des Heizers so erfreut, wie sich Simpson und Genossen darüber ärgerten. Mehrere Minuten lang beriet sich die Bande leise miteinander. Schließlich jedoch drückte Simpson das Bündel mit den Drachen einem seiner Anhänger in die Arme und trat einen Schritt vor.
»Na, dann gut!« sagte er und zog sich die Jacke aus. Joe reichte seine Jacke Fred und ging auf Rotkohl zu. Sie nahmen die Fäuste hoch und sahen sich an. Im selben Augenblick landete Simpson einen harten Schlag und duckte geschickt ab, so daß Joes eigener Schlag ihn nicht erreichte. Joe verspürte plötzlich Respekt vor den Fähigkeiten seines Gegners, aber das hatte lediglich zur Folge, daß seine ganze Hartnäckigkeit auf den Plan gerufen wurde. Er war entschlossen, um jeden Preis zu gewinnen. Durch die Anwesenheit des Heizers in Schach gehalten, begnügten sich Simpsons Anhänger damit, Kohlkopf anzufeuern und Joe zu verhöhnen. Die beiden Jungen umkreisten einander, griffen an, täuschten sich gegenseitig, gingen in Deckung. Jetzt mußte der eine, dann der andere einen gutgezielten Schlag einstecken.
Ihre Haltung beim Kampf unterschied sich auf sehr bezeichnende Weise. Joe stand aufrecht und fest, wie angewurzelt, die Beine weit auseinander, den Kopf erhoben. Simpson dagegen krümmte sich, bis sein Kopf fast zwischen seinen Schultern verschwand, und er war ständig in Bewegung. Er sprang und hüpfte und brachte dutzendweise Tricks an, die Joe völlig neu und unbekannt waren.
Nach einer Viertelstunde waren beide sehr müde, aber Joe war der frischere von beiden. Tabak, schlechte Ernährung und eine ungesunde Lebensweise machten sich bei dem Bandenführer bemerkbar. Er keuchte und schnappte nach Luft. Obwohl er anfangs wegen seiner größeren Geschicklichkeit Joe böse zugesetzt hatte, wurde er nun schwächer, und seinen Schlägen fehlte die rechte Kraft. Vor Verzweiflung bediente er sich einer Angriffsmethode, die man zwar nicht als unfair, aber auch nicht gerade als vornehm bezeichnen konnte: er tänzelte hin und her, sprang vor und schlug rasch zu, duckte dann nach vorne ab und ließ sich vor Joes Füße fallen. Joe konnte nicht schlagen, solange er am Boden war, und trat daher zurück, bis der andere wieder hoch war. Dann fing dasselbe wieder von vorne an. Joe wurde es bald zuviel. Er stellte sich auf seinen Gegner ein. Er berechnete seinen Schlag so, daß er unmittelbar nach Simpsons Angriff lossauste und Simpson also traf, als er sich gerade ducken und fallen lassen wollte. Simpson fiel hin, aber unter dem Anprall von Joes Faust, die ihn am Kopf traf, kippte er zu einer Seite hinüber. Er überschlug sich und kam halbwegs wieder auf die Beine, verharrte aber heulend und nach Luft schnappend in dieser Stellung. Seine Leute drängten ihn mit Zurufen, aufzustehen, und ein- oder zweimal versuchte er es auch. Aber er war zu erschöpft und zu verblüfft. »Ich gebe auf«, sagte er, »ich bin fertig!« Schweigsam und bedrückt hatte die Bande der Niederlage ihres Anführers zugesehen.
Joe ging auf den Jungen zu, der das Bündel mit den Drachen hielt. »Gib sie her!« sagte er.
»Nee, nee, mal lieber langsam«, sagte ein anderer Junge der Bande und schob sich zwischen Joe und sein Eigentum. Auch sein Haar war leuchtend rot. »Du kriegst sie erst, wenn du mich auch fertiggemacht hast.«
»Was soll das denn heißen?« fragte Joe grob. »Ich habe mich geschlagen, und ich habe gewonnen. Damit ist die Geschichte erledigt.«
»Denkste«, sagte der andere. »Ich bin >Fuchs< Simpson. Rotkohl sein Bruder, kapiert?«
Und so lernte Joe gleich noch einen Brauch der Schlundleute kennen, der ihm ebenfalls völlig unbekannt gewesen war.
»Na, gut«, sagte er. Seine Kampflust war stärker angestachelt denn je durch dieses ungerechte Vorgehen. »Los!« Fuchs Simpson, der ein Jahr jünger als sein Bruder war, erwies sich als ein äußerst unfairer Gegner, und der gutmütige Heizer war gezwungen, mehrere Male einzugreifen, bevor auch das zweite Mitglied der Simpson-Sippe am Boden lag und sich geschlagen gab. Wieder griff Joe nach seinen Drachen. Diesmal hatte er nicht den geringsten Zweifel, daß man sie ihm aushändigen würde. Aber noch ein dritter Bursche drängte sich zwischen ihn und seinen Besitz. Das feuerrote Haar, das auch auf seinem Schädel sproß, verriet ihn. Joe erkannte in ihm sofort ein weiteres Mitglied der Simpsonschen Familie. Er war eine verjüngte Ausgabe seiner Brüder und um einiges weniger kräftig gebaut. Im Schein des elektrischen Lichtes sah man deutlich sein mit zahllosen Sommersprossen bedecktes Gesicht.
»Die Drachen kriste nich, bis daß de mich 'runtergekricht hast«, forderte er Joe mit einer dünnen, piepsenden Stimme heraus. »Ich bin >Feuerwanze< Simpson, un die Familie is ers k. o., wenn ich k. o. bin.«
Die Bande feuerte ihn bewundernd an, und Feuerwanze bereitete sich auf die Schlägerei vor, indem er seine zerlumpte Jacke auszog. »Mach dich fertig«, sagte er zu Joe. Joes Knöchel waren zerschunden, seine Nase blutete, seine Lippen waren aufgesprungen und geschwollen. Sein Hemd war von oben bis unten zerfetzt. Außerdem war er müde, und er atmete schwer.
»Wie viele von euch Simpsons gibt's denn noch?« fragte er. »Ich muß nach Hause. Wenn eure Familie noch viel größer ist, brauchen wir die ganze Nacht.«
»Ich bin der letzte und der beste«, erwiderte Feuerwanze. »Kriste mich, kriste auch die Drachen. Punkt.« »Na, wenn's sein muß«, seufzte Joe. »Los, komm 'ran!«
Wohl fehlte dem Jüngsten der Sippe die Kraft und die Erfahrung seiner älteren Brüder, aber dafür kämpfte er tückisch wie eine Wildkatze und machte Joe schwer zu schaffen. Mehrmals glaubte er, sich der kleinen Kratzbürste ergeben zu müssen, aber jedesmal riß er sich zusammen und schlug verbissen weiter. Er fühlte, daß er für ein Prinzip kämpfte, wie seine Vorfahren für ein Prinzip gekämpft hatten. Außerdem schien es ihm, daß die Ehre des Berges auf dem Spiel stand und daß er als dessen Vertreter die Pflicht hatte, sein Allerbestes zu tun. Also hielt er durch und ertrug die schnellen, ununterbrochenen Ausfälle seines Gegners, der, jung und unerfahren, wie er war, sich schließlich durch seine eigenen Anstrengungen völlig verausgabte. Am Boden liegend gestand er, daß zum ersten Mal in der Geschichte »die Familie Simpson« k. o. war.
Aber das Leben im Schlund war auch im besten Falle eine gefährliche Angelegenheit, wie die drei Bergbewohner bald erfahren sollten. Noch bevor Joe seine Drachen an sich nehmen konnte, mußte er zu seinem größten Erstaunen feststellen, daß alle seine Gegner, und sogar der Heizer, sich in wilder Flucht aus dem Staub machten. So wie die kleinen Mädchen und Straßenbengel beim Anblick der Simpsonbande das Weite gesucht hatten, so machte sich die Simpsonbande nun unsichtbar, als eine neue und in eben dem Maße furchteinflößende Truppe von Flegeln auftauchte. »Fischbande!« hörte Joe die Fliehenden rufen. »Die Fischbande!« Am liebsten wäre auch er vor der neuen Gefahr geflohen. Aber er war noch ganz außer Atem von dem letzten Kampf und wußte, daß ein Entkommen unmöglich war, ganz gleich, was ihm drohte. Fred und Charlie hatten größte Lust, vor der Gefahr wegzulaufen, die immerhin groß genug war, um selbst der gefürchteten Simpsonbande und dem wackeren Heizer einen Schrecken einzujagen. Sie konnten jedoch ihren Freund nicht im Stich lassen. Dunkle Gestalten stürmten das unbebaute Grundstück. Einige umzingelten die drei Freunde, andere jagten den Flüchtigen nach. Angstvolle Schreie verrieten, daß die letzten bereits eingeholt worden waren, und als die Verfolger wenig später zurückkehrten, brachten sie den bejammernswerten Rotkohl mit. Er knurrte vor Wut und hielt immer noch das Bündel mit den Drachen umklammert. Joe sah sich die neue Bande neugierig an. Es waren Jugendliche im Alter von siebzehn und achtzehn bis zu dreiundzwanzig oder auch vierundzwanzig Jahren, und sie gehörten unverkennbar zu den Halbstarken. Bösartige Gesichter hatten einige von ihnen - so bösartig, daß es Joe kalt über den Rücken lief, wenn er sie nur anblickte. Zwei von ihnen packten ihn hart bei den Armen, und auch Fred und Charlie wurden auf diese Weise festgehalten.
»Hör zu, du«, sagte einer von ihnen mit der Autorität des Anführers, »die Geschichte müssen wir untersuchen. Was geht hier vor? Was willst du von denen, Rotkohl? Was habt ihr mit ihnen gemacht?« »Nix hab'n wir getan«, winselte Simpson. »So siehst du auch aus!« sagte der Anführer und drehte Rotkohls Gesicht gegen das elektrische Licht. »Wer hat dich denn so schön angemalt?« fragte er. Rotkohl zeigte auf Joe, der unverzüglich nach vorne gezerrt wurde.
»Wieso habt ihr euch gehauen?«
»Wegen der Drachen - wegen meiner Drachen«, erklärte Joe furchtlos. »Dieser Kerl wollte sie mir klauen. Er hat sie jetzt noch unterm Arm.«
»Ach nee, wirklich! Hör mal zu, du, Rotkohl. Hier in dem Gebiet wird nicht geklaut, solange wir hier sind, verstanden? Dir hat sowieso noch nie was gehört. Los, gib die Drachen 'raus. Na, wird's bald?«
Unter dem bedenklich härter werdenden Griff des Anführers gab Simpson vor Wut heulend die Beute heraus. »Und was hast du da unterm Arm?« wandte sich der Anführer unerwartet an Fred. Gleichzeitig entriß er ihm das Bündel. »Noch mehr Drachen, was? Regelrechte Drachenfabrik spazierengegangen und hat sich verlaufen«, stellte er schließlich fest, nachdem er auch Charlies Bündel an sich gebracht hatte. »Und nun zu euch drei Brüdern. Was fangen wir mit euch an?« fragte er im Ton eines Richters. »Wieso mit uns?« fuhr Joe ihn empört an. »Weil man uns unsere Drachen geklaut hat?« »Aber durchaus nicht, ganz und gar nicht«, erwiderte der Anführer höflich. »Aber weil ihr hier in der Gegend mit Drachen herumlauft und dadurch eine ganz ungehörige Störung verursacht. Es ist eine Schande! Genau das ist es, eine Schande!«
In diesem Augenblick, als die Bergbewohner ganz im Mittelpunkt des Interesses standen, schlüpfte Rotkohl plötzlich aus seiner Jacke, entwand sich dem Griff seines Aufpassers und schoß über den Bauplatz auf den Schlupf zu, den er ursprünglich im Auge hatte, bevor Joe ihn einholte. Zwei, drei von der Bande kletterten über den Zaun und jagten ihm lärmend nach. Hunde bellten und heulten in den Hinterhöfen, und man hörte das Klappern von Schuhen auf Schuppen und Verschlagen. Dann stürzte plötzlich Wasser herab, als ob jemand ein ganzes Faß auf die Erde entleert hätte. Wenige Minuten später kehrten die Verfolger zurück, sehr verlegen und sehr naß nach dem Guß, mit dem der gewiefte Rotkohl sie empfangen hatte. Seine Stimme erklang herausfordernd und spöttisch hoch oben von einem rettenden Häuserdach. Dieser Zwischenfall brachte den Anführer der Bande sichtlich aus der Fassung, und als er sich gerade wieder an Joe und Fred und Charlie wenden wollte, klang von der Straße her ein langer, eigentümlicher Pfiff herüber -offenbar das Warnsignal eines Postens, der Schmiere stand. Im nächsten Augenblick kam der Posten selber zur Bande zurückgerannt, die bereits den Rückzug angetreten hatte. »Polente!« keuchte er.
Joe blickte hinüber und sah zwei Polizisten mit Helmen näher kommen. Hell blitzte der Stern auf ihrer Brust. »Los, weg hier!« zischte er Fred und Charlie zu. Die Bande war bereits getürmt, und in dieser Richtung war den Freunden daher der Rückzug versperrt. Aus der anderen sahen sie nun die Polizisten anrücken. Schnell entschlossen stürzten sie auf Rotkohl Simpsons Schlupf zu. Die Polizisten waren hart hinter ihnen. »Stehenbleiben!« schrie'n sie ihnen nach.
Aber junge Füße sind flink, und wenn die Furcht ihnen zusetzt, werden sie noch flinker. Die Jungen sprangen vor den Polizisten über den Zaun und stürzten sich bedenkenlos in ein Labyrinth von Hinterhöfen. Bald durften sie feststellen, daß die Polizisten nur sehr zögernd vorgingen. Offensichtlich hatten sie ihre Erfahrungen im Umgang mit Schlupflöchern. Am ersten Zaun gaben sie die Verfolgung auf.
Keine Straßenlampe verbreitete hier ihr Licht. Die Jungen tappten durch die Dunkelheit. Ihre Herzen klopften bis in den Hals hinauf. Eine gute Viertelstunde lang irrten sie in einem mit ganzen Bergen von Kisten und Obstkörben gefüllten Hof herum. So sehr sie auch herumfühlten und tasteten, nichts konnten sie entdecken als Kisten und immer wieder Kisten. Endlich jedoch gelang es ihnen, sich über ein Schuppendach aus der Wildnis zu retten. Aber schon landeten sie in einem anderen Hof, der mit zahllosen leeren Hühnernestern vollgepackt war. Dann stießen sie auf die Falle, in der Rotkohl Simpsons Verfolger bis auf die Haut durchnäßt worden waren. Es war eine raffinierte Anlage.
An der Stelle, an der der geheime Fluchtweg durch eine Zaunlücke führte, war ein lange Latte so angebracht, daß der unkundige Verfolger dagegenstoßen mußte. Diese Latte löste die Falle aus. Schon eine leichte Berührung genügte, um einen schweren Stein unter einem Faß hinwegzustoßen, das fein ausbalanciert über der Lücke thronte. War der Stein entfernt, so kippte das Faß um und goß seinen Inhalt über den, der die Latte berührt hatte. Die Jungen untersuchten die Anlage mit unverhohlener Anerkennung. Zu ihrem Glück war das Faß bereits umgekippt, sonst hätten auch sie einen Guß abbekommen, denn Joe, der sie anführte, war über die Latte gestolpert. »Ich fress' 'nen Besen, wenn das nicht Simpsons Hinterhof ist«, sagte Joe leise.
»Ganz sicher«, stimmte Fred zu. »Oder jedenfalls der Hof von einem seiner Anhänger.«
Charlie legte beiden warnend eine Hand auf den Arm. »Pssst! Was ist das?« flüsterte er.
Sie duckten sich zu Boden. Ganz in der Nähe bewegte sich etwas. Sie hörten, wie aus einem Hahn Wasser in einen Eimer strudelte. Und danach näherte sich jemand mit festen Schritten. Atemlos vor Spannung duckten sie sich noch tiefer. Eine dunkle Gestalt ging nicht weiter als eine Armlänge entfernt an ihnen vorbei und stieg dicht an dem Zaun auf eine Kiste. Es war tatsächlich Rotkohl, der seine Falle wieder neu einrichtete. Sie hörten, wie er die Latte und den Stein zurechtrückte, das Faß hochkippte und zwei Eimer Wasser hineingoß. Als er von der Kiste hinunterkletterte, um noch mehr Wasser zu holen, sprang Joe ihn an, brachte ihn zum Stolpern und riß ihn zu Boden. »Still! Keinen Ton!« sagte er. »Ich hab' mit dir zu reden!«
»Ah, du bist es!« rief Simpson. Seine Stimme klang so offensichtlich erleichtert, daß auch die drei Freunde aufatmeten. »Was wollt ihr hier?« fragte er.
»Wir wollen hier 'raus!« sagte Joe. »So schnell wie möglich! Wir sind drei und du bist allein . . .«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn der Bandenführer. »Ich zeig' euch ja schon den Weg. Ich hab' überhaupt nichts gegen euch. Kommt mit, aber haltet euch dicht hinter mir. Dann seid ihr in Null Komma nix draußen.« Wenige Minuten später sprangen sie von einem hohen Zaun in eine dunkle Seitengasse.
»Lauft hier weiter bis zur Straße«, erklärte Simpson ihnen, »dann biegt ihr rechts ab und an der zweiten Straße noch einmal rechts. Drei Straßen, und ihr seid auf der Union Street. Horrido!«
Sie verabschiedeten sich, und bevor sie die Gasse hinunterliefen, gab Rotkohl ihnen noch einen weisen Ratschlag mit auf den Weg: »Wenn ihr nächstes Mal mit Drachen hier durchkommt, dann laßt sie lieber gleich zu Hause.«
Auf dem Weg, den ihnen Rotkohl Simpson beschrieben hatte, erreichten sie bald die Union Street, und ohne weitere Zwischenfälle kehrten sie schließlich auf den Berg zurück. Von oben blickten sie in den Schlund hinunter, aus dem unaufhörlich das dumpfe Surren überfüllter Wohnviertel aufstieg. »Nie geh' ich da wieder hinein - nie im Leben!« sagte Fred mit wildem Zorn in der Stimme. »Ich möchte wissen, wo der Heizer geblieben ist!«
»Wir können von Glück sagen, daß wir mit heiler Haut davongekommen sind«, sagte Joe bedächtig, um die beiden anderen aufzumuntern.
»Denen haben wir's aber ganz schön gezeigt!« meint Charlie. »Du am meisten.«
»Ja«, antwortete Joe, »und das dicke Ende kommt nach -zu Hause nämlich. Nacht, zusammen!« Wie vorauszusehen, war der Seiteneingang bereits verschlossen. Joe ging um das Haus herum und stieg wie ein Einbrecher durch eins der Eßzimmerfenster. Als er mit leisen Schritten quer durch die große Diele auf die Treppe zuschlich, kam sein Vater gerade aus der Bibliothek. Die Überraschung war gegenseitig. Beide blieben entsetzt stehen. Joe wollte in ein blödsinniges Lachen ausbrechen, denn er glaubte genau zu wissen, wie er aussah. In Wirklichkeit sah er jedoch noch wesentlich schlimmer aus, als er es sich vorstellte.
Mr. Bronson erblickte vor sich einen Jungen, dessen Mütze und Jacke völlig verdreckt waren. Das ganze Gesicht war von den Spuren des Kampfes gezeichnet — die Nase böse geschwollen, eine Augenbraue geplatzt, die Lippen aufgeschlagen, die Backen zerkratzt. Immer noch bluteten die Knöchel, und das Hemd war von oben bis unten zerrissen. »Was soll das bedeuten, junger Mann?« brachte Mr. Bronson schließlich heraus.
Joe stand sprachlos da. Wie konnte er in einem einzigen Satz all das berichten, was sich an diesem Abend ereignet hatte? Denn alles gehörte mit dazu, wenn er seinen unglückseligen Aufzug erklären wollte.
»Hast du die Sprache verloren?« fragte Herr Bronson ungeduldig.
»Ich habe - ich bin . . .« »Nun?« ermunterte ihn sein Vater.
»Ich bin - nun ja, ich bin unten im Schlund gewesen!« stieß Joe mit Anstrengung hervor.
»So siehst du, ehrlich gesagt, auch aus -sehr sogar!« Mr. Bronsons Stimme klang streng. Niemals hatte es ihn jedoch größere Mühe gekostet, ein Lächeln zu unterdrücken. »Ich vermute«, fuhr er fort, »daß du mit „Schlund“ nicht den Höllenschlund, den Aufenthalt der Sünder, sondern wahrscheinlich eine bestimmte Gegend von San Franzisko meinst. Habe ich recht?«
Joe ruderte mit dem Arm und zeigte in die Richtung, in der die Union Street liegen mußte. »Da unten«, sagte er. »Und wer hat den Namen erfunden?« »Ich«, erwiderte Joe, als müßte er ein ganz besonders schweres Verbrechen gestehen.
»Sehr zutreffend, der Name, gewiß. Und er zeugt von Phantasie. Besser geht es überhaupt nicht. Bestimmt bist du gut im Englischen - in der Schule!« Dies verbesserte Joes Laune nicht gerade. Englisch war das einzige Fach, in dem er sich seiner Leistungen nicht zu schämen brauchte.
Während er so dastand, stumm vor Elend und Schmach, betrachtete Mr. Bronson ihn mit den Augen seiner eigenen Jugend; betrachtete ihn mit einem Verständnis, das Joe für unmöglich gehalten hätte.
»Aber ich will dir jetzt keine langen Vorträge halten. Du brauchst ein Bad, Pflaster und kalte Umschläge«, sagte Mr. Bronson. »Und dann ins Bett mit dir. Du hast eine Menge Schlaf nötig. Morgen früh spürst du garantiert jeden Knochen.«
Die Uhr schlug eins, als Joe sich die Bettdecke über die Ohren zog. Als nächstes nahm er, höchst widerwillig, ein leises hartnäckiges Klopfen wahr, das mehrere Jahrhunderte anzuhalten schien, bis er es schließlich nicht mehr aushielt. Er öffnete die Augen und setzte sich auf. Der Tag strömte zum Fenster herein - ein lichter, sonniger Tag. Joe streckte seine Arme und gähnte. Aber ein reißender Schmerz schoß durch alle seine Muskeln, und er nahm seine Arme schneller wieder herunter, als er sie hochgereckt hatte. Er betrachtete sie mit verwirrtem Staunen, bis die Ereignisse des vergangenen Abends plötzlich wieder über ihn herfielen. Er stöhnte.
Das Klopfen hielt noch immer an. »Ja, ich höre doch!« rief er. »Wie spät ist es?«
»Acht Uhr«, klang Bessies Stimme durch die Tür. »Du mußt dich beeilen, wenn du noch rechtzeitig in die Schule kommen willst!«
»Verdammt!« Mit einem Satz war er aus dem Bett. Er stöhnte vor Schmerzen, die ihm seine steifen Muskeln verursachten, und ließ sich langsam und vorsichtig auf einen Stuhl sinken.
»Warum hast du mich nicht früher gerufen?« murrte er. »Weil Vater gesagt hat, ich soll dich schlafen lassen!« Wieder stöhnte Joe, diesmal in einer anderen Tonart. Dann fiel sein Blick auf sein Geschichtsbuch, und er stöhnte zum dritten Mal - in einer dritten Tonart. »Gut!« rief er dann. »Geh nur. Ich bin gleich unten.« Tatsächlich erschien er schon sehr bald. Aber wenn Bessie ihn die Treppe hätte hinunterschleichen sehen, würde sie sich sehr gewundert haben über die außerordentliche Vorsicht, mit der er sich bewegte, und über das schmerzhafte Zucken, das hin und wieder sein Gesicht verzerrte. Als sie ihn jetzt im Eßzimmer vor sich sah, stieß sie einen entsetzten Schrei aus und lief ihm entgegen. »Was hast du denn, Joe?« fragte sie zitternd. »Was ist passiert?« »Nichts«, grunzte er und streute Zucker auf seine Haferflocken.
»Aber es muß doch etwas . . .« begann sie. »Laß mich bitte in Ruhe!« unterbrach er sie. »Es ist schon spät, und ich möchte frühstücken!«
In diesem Augenblick fing Bessie einen Blick ihrer Mutter auf, und obwohl sie auch jetzt noch nichts begriff, ließ sie sofort von ihren Fragen ab.
Joe war seiner Mutter sehr dankbar, und er war froh, daß sie selber keine Bemerkungen über sein Aussehen machte. Vater hatte ihr bestimmt alles erzählt. Joe konnte sich darauf verlassen, daß sie ihn nicht quälte. Das war noch nie ihre Art gewesen.
Mit solchen Betrachtungen beschäftigt, stopfte er eilig sein einsames Frühstück in sich hinein. Dabei hatte er das unklare und auch etwas unangenehme Gefühl, daß seine Mutter ängstlich um ihn bemüht war. Zärtlich war sie immer, und doch bemerkte er, daß sie ihn heute mit noch größerer Zärtlichkeit küßte, als er sich, seine Bücher an einem Lederriemen hin und her schwingend, auf den Weg machte. Und als er um die Ecke bog, sah er, daß sie ihm noch immer aus dem Fenster nachblickte. Sehr viel mehr jedoch bekümmerten ihn seine steifen und schmerzenden Knochen. Jeder Schritt war Anstrengung und Qual. Sosehr das von dem betonierten Gehweg zurückgeworfene Sonnenlicht seinen geschundenen Augen weh tat, und sosehr ihn seine zahlreichen Wunden schmerzten - noch stärker litt er unter einem fürchterlichen Muskelkater. Nie hatte er geglaubt, daß sein Körper so steif werden könne. Jeder einzelne Muskel protestierte, wenn er sich bewegen sollte. Die Finger waren übel angeschwollen und taten höllisch weh, wenn er sie zur Faust ballte oder wieder zu strecken versuchte. Die Arme waren wund vom Handgelenk bis zum Ellenbogen. Das rührte wohl von den vielen Schlägen her, die er von Gesicht und Körper abgewehrt hatte. -Wahrscheinlich stand Rotkohl Simpson ähnliche Qualen aus, dachte er, und der Gedanke ihres gemeinsamen Elends ließ in ihm ein gewisses Gefühl der Verbundenheit mit dem gefürchteten Schläger aufkommen. Als er den Schulhof betrat, bemerkte er sofort, daß sich aller Augen auf ihn richteten. Die Jungen drängten sich voller Hochachtung um ihn, und selbst seine Klassenkameraden und sogar seine engeren Freunde betrachteten ihn mit einem Respekt, der ihm neu war.
Allem Anschein nach hatten Fred und Charlie bereits von dem Abstieg in den Schlund und dem Kampf mit der Simpson-Sippe und den »Fischen« berichtet. Erleichtert hörte Joe die Neun-Uhr-Klingel und ging ins Schulgebäude. Die bewundernden Blicke aller Jungen folgten ihm. Auch die Mädchen blickten ihm nach, scheu und furchtsam.
Er spürte eine unbehagliche, peinliche Verlegenheit. Heldenverehrung lag ihm nicht. Wenn sie doch endlich einmal in eine andere Richtung glotzen würden! Schon bald sollten sie in eine andere Richtung blicken. Große Bogen Schreibpapier wurden an alle Schüler verteilt. Miß Wilson, die Lehrerin, eine streng aussehende junge Dame, die durch die Welt ging, als ob die Welt ein Eisschrank sei, und selbst an den wärmsten Tagen niemals ohne einen Schal oder ein Schultertuch in der Klasse stand, erhob sich und schrieb, für alle sichtbar, eine große römische »I« an die Wandtafel. Alle Augen, und es waren deren hundert, folgten mit Spannung ihrer Hand. Es entstand eine Pause. Grabesstille herrschte im Raum. Unter die »I« schrieb sie: »a)Was waren die Gesetze Drakons? b) Warum hat ein athenischer Redner gesagt, sie seien nicht mit Tinte, sondern mit Blut geschrieben?« Neunundvierzig Köpfe beugten sich über die Tische, und neunundvierzig Federn kratzten mit Schwung über ebenso viele Bogen Papier. Nur Joes Kopf blieb hoch erhoben, und er starrte mit solch einem leeren Blick auf die schwarze Tafel, daß Miß Wilson, als sie »II« geschrieben hatte und einen Blick über die Schulter zurückwarf, innehielt und ihn ansah. Dann schrieb sie:
»a) Auf welche Weise führte der Krieg zwischen Athen und Megara um die Insel Salamis zu den Reformen des Solon? b) Wie unterschieden sie sich von den Gesetzen Drakons?« Wieder drehte sie sich um und sah Joe an. Er starrte noch leerer vor sich hin als zuvor.
»Was ist denn mit dir, Joe?« fragte sie. »Hast du kein Papier?« »O doch, danke schön«, antwortete er und begann mißmutig, seinen Bleistift zu spitzen.
Er spitzte ihn fein an. Dann spitzte er ihn sehr fein an. Und schließlich ging er mit unendlicher Geduld daran, ihn noch sehr viel feiner anzuspitzen. Mehrere seiner Klassenkameraden hoben den Kopf, um festzustellen, woher das Geräusch kam. Joe bemerkte es nicht. Er war zu sehr in sein Bleistiftspitzen vertieft - und in Gedanken, die ebenso weit vom Bleistiftspitzen wie von griechischer Geschichte entfernt waren. »Selbstverständlich werden alle Antworten mit Tinte niedergeschrieben !«
Miß Wilson wandte sich an die Klasse im allgemeinen, aber sie sah Joe dabei an.
Als die Bleistiftspitze so spitz war, daß sie wirklich nicht mehr spitzer werden konnte, brach sie ab, und Joe begann von neuem.
»Joe, du störst die Klasse!« sagte Miß Wilson schließlich verzweifelt.
Er legte den Bleistift hin, ließ das Messer zuschnappen und starrte wieder mit leeren Augen auf die Tafel. Was wußte er über Drakon? Oder Solon? Oder all die anderen Griechen? Durchgefallen war er, und damit aus. Die anderen Fragen brauchte er sich gar nicht erst anzusehen, und selbst wenn er zwei oder drei Antworten gewußt hätte - es lohnte sich einfach nicht, sie niederzuschreiben.
Er würde trotzdem durchfallen. Außerdem tat sein Arm beim Schreiben unerträglich weh. Seine Augen schmerzten, wenn er sie auf die Tafel richtete, und sie schmerzten sogar, wenn er sie schloß. Und das Nachdenken, das tat erst recht weh. Folgsam kratzten neunundvierzig Federn um die Wette, als Miß Wilson die Tafel mit Frage um Frage bedeckte, während Joe dem Kratzen zuhörte und die Fragen aus Miß Wilsons Kreide hervorwachsen sah und sich dabei hundeelend fühlte. Sein Kopf wirbelte herum. Er peinigte ihn innen, und von außen peinigte er ihn nicht weniger. Joe schien völlig die Gewalt über ihn verloren zu haben. Erinnerungen an den Schlund drängten sich hoch wie Bilder eines ungeheuerlichen Alptraums; und sosehr Joe sich auch bemühte, er konnte sie nicht verjagen. Er lenkte seine Gedanken und seinen Blick auf das Gesicht der Lehrerin, die jetzt hinter ihrem Pult saß. Doch selbst wenn er sie ansah, stieg Rotkohl Simpsons freches Gesicht kampflustig vor ihm auf. Es hatte alles keinen Zweck. Er fühlte sich krank und müde und nutzlos. Nichts anderes blieb ihm übrig als durchzufallen. Und als nach einer Ewigkeit des Wartens die Bogen endlich eingesammelt wurden, standen auf seinem lediglich der Name, das Datum und die Frage. Sonst war der Bogen leer.
Nach einer kurzen Pause wurden neue Bogen ausgegeben. Die Prüfung im Rechnen begann. Joe machte sich nicht einmal die Mühe, die Fragen zu lesen. Für gewöhnlich hätte er solch eine Prüfung wohl geschafft, aber bei seiner gegenwärtigen körperlichen und geistigen Verfassung war es ihm völlig unmöglich. Er begnügte sich damit, den Kopf in den Händen zu vergraben und auf die Mittagsstunde zu warten. Als er einmal nach der Uhr aufblickte, sah er, daß Bessie ihn von der Mädchenseite her ängstlich beobachtete. Das vergrößerte sein Unbehagen nur noch mehr. Warum machte sie sich Gedanken? Was ging es sie an? Sie würde doch die Prüfung auf jeden Fall bestehen. Warum ließ sie ihn dann nicht in Ruhe? Joe warf Bessie einen besonders finsteren Blick zu und verbarg dann sein Gesicht wieder in den Händen. Er sah nicht mehr auf, bis die Mittagsglocke ertönte. Dann gab er einen zweiten leeren Bogen ab und ging mit den anderen Jungen nach draußen. Fred und Charlie und Joe aßen sonst ihre Brote in einer Ecke des Hofes, die sie für sich allein beanspruchten. Aber heute hatte durch einen höchst seltsamen Zufall ein gutes Dutzend anderer Jungen eben diesen Fleck zum Verzehren des Mittagsmahls erkoren. Joe betrachtete sie unwillig. In seiner augenblicklichen Verfassung war ihm nicht danach zumute, sich als Held verehren zu lassen. Sein Kopf schmerzte zu sehr, und er machte sich Gedanken wegen seines Versagens in den beiden Prüfungen. Zu allem Überfluß standen am Nachmittag noch weitere bevor. Er war auf Fred und Charlie wütend. Die kakelten wie aufgeregte Hühner über die Abenteuer der vergangenen Nacht (in denen sie allerdings ihm die Hauptrolle zuschrieben) und gaben sich auf sehr herablassende Art vor ihren ehrfürchtig staunenden Schulkameraden. Alle Versuche, Joe selber zum Reden zu bringen, schlugen jedoch fehl. Der knurrte nur, gab kurze Antworten, sagte nichts als »ja« oder »nein« auf Fragen, die nähere Einzelheiten aus ihm herauslocken sollten.
Er sehnte sich danach, allein zu sein; sich irgendwo in grünes Gras fallen zu lassen und all seinen Schmerz und seine Pein und seinen Kummer zu vergessen. Er stand auf, um nach solch einem Ort Ausschau zu halten, mußte aber feststellen, daß sich ein Gefolge von einem halben Dutzend Jungen an ihn heftete. Er wollte sich herumdrehen und sie anschreien, sie sollten ihn in Ruhe lassen. Aber sein Stolz hielt ihn zurück. Widerwille und Verzweiflung wallten in ihm auf. Dann schoß ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Wenn es ohnehin feststand, daß er die Prüfung nicht bestehen würde, warum sollte er dann die Quälerei am Nachmittag noch einmal ertragen? Der Nachmittag konnte nur noch schlimmer werden als der Morgen. Sein Entschluß stand sofort fest. Er ging geradewegs auf das Tor des Schulhofes zu. Hier blieben seine Bewunderer verblüfft zurück, aber Joe ging weiter und war bald um die Ecke verschwunden. Eine ganze Weile wanderte er ziellos umher, bis er auf Straßenbahnschienen stieß. Ein Wagen in Richtung Stadtmitte hielt gerade an, und als die Fahrgäste ausgestiegen waren, kletterte Joe hinein und machte es sich auf einem Fensterplatz bequem. Er wachte auf aus seinen Träumen, als der Wagen an der Endstation auf der Drehscheibe herumschwang. Joe hastete hinaus und stand vor der großen Anlegebrücke der Fähre. Ohne das Geringste zu sehen oder zu hören, war er mitten durch San Franziskus Geschäftsviertel gefahren. Er blickte zu der Uhr am Turm des Fährgebäudes hinauf. Es war zehn nach eins - noch Zeit genug bis zur 1.15-Uhr-Fähre. Das gab den Anstoß. Ohne auch nur im mindesten zu wissen, wohin er wollte, bezahlte er seine zehn Cents für seine Fahrkarte, ging durch die Sperre und eilte wenig später quer durch die Bucht auf die schöne Stadt Oakland zu.
Nicht weniger ziellos und unbewußt fand er sich eine Stunde später weit draußen auf dem Pier von Oakland sitzen und seinen schmerzenden Kopf gegen einen hilfreichen Balken lehnen. Von dort aus konnte er auf die Decks einer Anzahl kleinerer Segelschiffe hinunterblicken. Eine ganze Horde neugieriger Bummler hatte sich angesammelt und betrachtete die Boote, und auch Joe begann sich immer mehr für sie zu interessieren. Es waren vier Boote. Von seinem Sitzplatz aus konnte er die Namen lesen. Das Boot unmittelbar unter ihm trug in groß aufgemalten grünen Buchstaben den Namen »Ghost« am Heck. Die anderen drei, die daneben lagen, hießen »Austernkönigin«, »La Caprice« und »Fliegender Holländer«.
Alle Boote hatten mittschiffs eine Kajüte, aus deren Dächern kurze Ofenrohre hervorlugten. Aus dem Ofenrohr der »Ghost« stieg Rauch auf. Die Kajütentüren standen offen, und die Luke war zurückgeschoben, so daß Joe hineinblicken und einen Jungen von etwa neunzehn oder zwanzig Jahren beim Kochen beobachten konnte. Er trug hohe, bis an die Hüften reichende Wasserstiefel, einen blauen Overall und einen schwarzen Pullover. Die Ärmel waren bis zu den Ellenbogen aufgerollt und ließen stämmige, sonnengebräunte Arme sehen, und als der Junge einmal den Kopf hob, zeigte auch sein Gesicht dieselbe tiefe Bräune.
Kaffeeduft stieg Joe in die Nase, und aus einem kleinen eisernen Topf kam der unverkennbare Geruch fast gargekochter Bohnen. Der Koch stellte eine Bratpfanne auf das Fenster, rieb sie, nachdem sie heiß geworden war, mit einem Stück Rindertalg ein, und warf dann ein großes Stück Rindfleisch hinein. Gleichzeitig unterhielt er sich mit seinem Kameraden, der damit beschäftigt war, einen Eimer außenbords zu füllen und das Salzwasser über ganze Haufen von Austern zu gießen, die an Deck lagen. Als er damit fertig war, deckte er die Austern mit nassen Säcken ab und ging in die Kajüte, wo auf einem winzigen Tisch für ihn gedeckt war. Der Koch trug das Essen auf und setzte sich, um ebenfalls zuzulangen.
Joes Hang zum Romantischen regte sich bei diesem Anblick.
Das war Leben! Die da unten lebten doch wirklich! Sie verdienten sich ihr Leben in freier Natur unter der Sonne und unter dem Sternenhimmel. Die See warf sie umher, und es wehte der Wind, oder der Regen goß auf sie herab. Da saß er Tag für Tag mit fünfzig seinesgleichen in einem Klassenzimmer eingepfercht, zermarterte sein Gehirn und stopfte trockenes Wissen in sich hinein, während die da unten ein frohes, unbekümmertes, glückliches Leben führten, ruderten und segelten, selber ihr Essen kochten und gewiß Abenteuer bestanden, von denen man in der Enge des Schulzimmers kaum zu träumen wagte. Joe seufzte. Es war ihm klar, daß er für solch ein Leben geschaffen war und nicht für die Studierstube. In der Schule war er ohne Zweifel ein Versager. Er war durch die Prüfung gefallen, während Bessie in diesem Augenblick bestimmt auch ihre letzte Aufgabe gelöst hatte und triumphierend nach Hause ging. Oh, es war nicht zu ertragen! Sein Vater sollte ihn überhaupt nicht in die Schule schicken. Schulen waren ganz schön und gut für Jungen, denen der Kopf nach Studieren stand, aber es hatte sich erwiesen, daß er nicht zu ihnen gehörte. Und schließlich konnte man auch ohne Gymnasium seinen Weg machen. Es gab Männer, die mit dem allerniedrigsten Rang zur See gegangen und doch zu stolzer Höhe aufgestiegen waren - Männer, die mächtige Flotten ihr eigen nannten, große Taten vollbrachten und ihren Namen in das Buch der Geschichte einschrieben. Warum denn nicht auch er, Joe Bronson? Er schloß die Augen und tat sich mit einem Male unendlich leid. Als er die Augen wieder öffnete, mußte er feststellen, daß er geschlafen hatte und daß die Sonne schon fast untergegangen war.
Es war bereits dunkel, als er zu Hause ankam. Er ging sofort auf sein Zimmer und zu Bett, ohne mit irgend jemandem gesprochen zu haben. Mit einem zufriedenen Seufzer kroch er zwischen die kühlen Laken. - Komme, was wolle, dachte er - um die Geschichtsprüfung brauchte er sich jedenfalls keine Sorgen mehr zu machen. Dann jedoch drängte sich ein anderer, weniger willkommener Gedanke vor: Ein neues Schulhalbjahr stand bevor, und in sechs Monaten erwartete ihn wiederum eine Prüfung in griechischer Geschichte.
Am nächsten Morgen wurde Joe gleich nach dem Frühstück von seinem Vater in die Bibliothek gerufen. Froh darüber, daß sein gespanntes Warten ein Ende hatte, betrat er das Zimmer. Mr. Bronson stand am Fenster. Ein lautes Geschilp von Spatzen schien seine Aufmerksamkeit zu erregen. Joe blickte neben ihm heraus. Er sah einen kaum flügge gewordenen Sperling im Gras, der mit komischem Torkeln versuchte, von seinen schwachen, dünnen Beinchen Gebrauch zu machen. Er war aus dem Nest in dem um das Fenster rankenden Rosenbusch gefallen, und die beiden Spatzeneltern umflatterten ihn außer sich vor Angst. »Kleine Vögel sind so«, bemerkte Mr. Bronson und wandte sich Joe mit einem erneuten Lächeln zu. »Und es sieht mir so aus«, fuhr er fort, »als ob du in eine ähnlich mißliche Lage kommen könntest, mein Junge. Ich glaube, die Dinge spitzen sich zu, Joe. Seit einem Jahr habe ich es kommen sehen: du hast nichts gelernt, du warst nachlässig und unaufmerksam, und immer mußtest du 'raus aus dem Haus und irgendeinem Abenteuer nachjagen.« Er hielt inne, als warte er auf eine Antwort. Aber Joe schwieg.
»Ich habe dir viel Freiheit gelassen. Ich glaube an Freiheit. Die Tüchtigsten wachsen auf einem solchen Boden. Ich habe dich nicht mit endlosen Vorschriften und leidigen Verboten eingeengt. Ich habe nur wenig von dir verlangt, und du bist mehr oder weniger gekommen und gegangen, wie es dir paßte. Ich habe dir vertraut, du warst fast ganz dein eigener Herr. Ich habe mich darauf verlassen, daß dein Gefühl für das Rechte und Gute dich von allem Schlechten fernhielt und deinen Lerneifer förderte. Du hast mich enttäuscht. Was soll ich jetzt tun? Dir Vorschriften machen, wie du deine Zeit einzuteilen hast? Dich überwachen? Dich mit Gewalt an die Bücher zwingen? - Dieser Brief hier ist angekommen«, sagte Mr. Bronson nach einer Pause, während er einen Umschlag vom Tisch aufnahm und ein beschriebenes Blatt herauszog.
Joe erkannte Miß Wilsons steife, unnachgiebige Schrift. Sein Herz stockte. Mr. Bronson las vor:
»Während des vergangenen Halbjahres zeigte er bei all seinen Arbeiten Lustlosigkeit und Nachlässigkeit, so daß er für die Prüfung völlig unvorbereitet war. Weder in Geschichte noch in Algebra machte er den Versuch, eine Frage zu beantworten, sondern gab seine Bogen leer wieder ab. Diese Prüfungen fanden am Morgen statt. Am Nachmittag hielt er es nicht einmal für nötig, zu den restlichen Prüfungen zu erscheinen . . .«
Joes Vater blickte von dem Brief auf. »Wo warst du gestern nachmittag?« fragte er.
»Ich bin nach Oakland hinübergefahren«, antwortete Joe. Es lag ihm nichts daran, seine Kopfschmerzen und den gepeinigten Körper beschönigend ins Feld zu führen. »Das nennt man >schwänzen<, oder?« »Ja, Vater«, erwiderte Joe.
»Am Abend vor den Prüfungen hast du es für richtig gehalten, aus dem Haus zu gehen und dich auf eine schändliche Schlägerei mit Halbstarken einzulassen, anstatt dich hinter deine Bücher zu klemmen. Ich habe hinterher nichts gesagt; und, ehrlich gestanden, ich hätte dir fast verziehen, wenn in der Schule alles in Ordnung gewesen wäre.« Joe konnte nichts sagen. Er wußte, daß er die Angelegenheit ganz anders sah, aber es war klar, daß sein Vater ihn nicht verstehen würde. Also hatte es wenig Zweck, es ihm zu erklären.
»Was mir an dir nicht gefällt, Joe, ist diese Nachlässigkeit, diese Zerstreutheit. Du scheinst genau das zu brauchen, wofür ich bisher nicht gesorgt habe, nämlich strenge Disziplin. Schon seit einiger Zeit mache ich mir Gedanken, ob es nicht doch ratsam sei, dich in eine Kadettenanstalt zu stecken, in der deine Pflichten festliegen und dir genau vorgeschrieben wird, was du in den vierundzwanzig Stunden eines Tages zu tun und zu lassen hast.« »Vater, du verstehst mich nicht! Du kannst mich nicht verstehen!« brach es endlich aus Joe heraus. »Ich versuche zu lernen, ganz bestimmt! Aber irgendwie - ich weiß selber nicht, wie - kann ich es einfach nicht. Vielleicht bin ich ein Versager. Vielleicht hab' ich einfach nicht den Kopf zum Büffeln. Ich will in die Welt hinaus. Leben will ich sehen – und selber leben. Kadettenanstalt - bah! Zur See möchte ich gehen. Irgendwohin, wo ich etwas leisten kann, wo ich etwas werden kann!«
Mr. Bronson betrachtete ihn wohlwollend. »Aber nur durch gründliches Lernen wird es dir gelingen, etwas zu leisten in der Welt und etwas zu werden«, sagte er. Joe hob die Hand zu einer verzweifelten Gebärde. »Ich weiß genau, wie die Geschichte für dich aussieht«, fuhr Mr. Bronson fort. »Aber du bist schließlich immer noch ein Junge. Du gleichst dem Spatzen, den wir da draußen beobachtet haben. Wenn du dich nicht einmal zu Hause beherrschen und deine Schularbeiten ordentlich erledigen kannst, wie willst du dann draußen in der Welt, die dich deiner Meinung nach ruft, weit weg von zu Hause genügend Selbstbeherrschung aufbringen, um deinen Mann zu stehen?
Dennoch bin ich bereit, Joe - ja, ich bin durchaus bereit, dich nach Abschluß der höheren Schule und bevor du auf die Universität gehst, für eine Weile in die Welt hinauszuschicken.«
»Laß mich doch jetzt gehen!« drängte Joe. »Nein, jetzt noch nicht. Dir fehlen noch die Flügel. Du bist noch nicht fertig. Dein Ziel und deine Maßstäbe liegen noch längst nicht genau fest.«
»Aber ich kann einfach nicht lernen!« sagte Joe fast drohend. »Ich weiß genau, daß ich nicht für die Schule tauge!« Mr. Bronson blickte auf seine Taschenuhr und stand auf. »Noch habe ich keinen endgültigen Entschluß gefaßt«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich tun werde - ob wir es noch einmal mit der höheren Schule versuchen oder ob ich dich gleich in die Kadettenanstalt schicke.«
Er ging. An der Tür blieb er zögernd stehen und drehte sich um. »Vergiß eins nicht, Joe: Ich bin dir nicht böse«, sagte er. »Aber du machst mir Kummer. Überleg es dir noch einmal und sag mir heute abend, was du für das Beste hältst.«
Damit verließ er den Raum. Joe hörte, wie die Haustür hinter seinem Vater ins Schloß fiel. Er lehnte sich in dem schweren Sessel zurück und schloß die Augen. In die Kadettenanstalt! Davor fürchtete er sich, wie ein Tier sich vor einer Falle fürchtete. Nein, die Kadettenanstalt kam einfach nicht in Frage! Und was die höhere Schule betraf . . . Er seufzte schwer, als er an die Schule dachte. Bis zum Abend hatte er Zeit, sich zu überlegen, was er wollte. Nun, er wußte genau, was er wollte. Er brauchte nicht bis zum Abend zu warten, um es herauszufinden.
Mit entschlossener Miene stand er auf, griff nach seiner Mütze und verließ das Haus. Er würde seinem Vater beweisen, daß er in der Welt seinen Mann stehen konnte, dachte er, als er die Straße hinunterging. Er würde es ihm schon zeigen!
Als er die Schule erreichte, lag sein Plan in allen Einzelheiten fest. Er brauchte ihn nur noch auszuführen. Es war gerade Mittagspause. Joe schlich sich in sein Klassenzimmer und packte unbemerkt seine Bücher zusammen. Als er über den Hof zurückging, traf er auf Fred und Charlie. »Was ist denn mit dir los?« fragte Charlie. »Nichts«, grunzte Joe. »Was hast du vor?« »Meine Bücher bring' ich nach Hause, was denn sonst?« »Na, na«, schaltete Fred sich ein, »mal nicht so geheimnisvoll. Uns kannst du doch erzählen, was los ist!«
»Werdet ihr schon früh genug merken«, sagte Joe bedeutungsvoll - bedeutungsvoller, als es seine Absicht war. Und aus Furcht, er könne sich verplappern, kehrte er seinen verdutzten Freunden den Rücken und eilte davon. Er ging unverzüglich nach Hause und auf sein Zimmer und machte sich an die nötigen Vorbereitungen. Er vertauschte den Anzug, den er trug, mit einem älteren und hängte seine Sachen sorgsam in den Schrank. Aus der Kommode holte er etwas Unterwäsche, ein paar Baumwollhemden und ein halbes Dutzend Paar Socken. Dazu legte er noch ebenso viele Taschentücher, einen Kamm und eine Zahnbürste. Er wickelte das ganze Bündel in kräftiges Packpapier und betrachtete es mit Genugtuung. Dann ging er zu seinem Pult und entnahm einem kleinen Innenfach die Ersparnisse der letzten Monate, immerhin mehrere Dollars. Eigentlich hatte er das Geld für den Unabhängigkeitstag aufbewahren wollen, aber er steckte es ohne großes Bedauern in die Tasche. Dann setzte er sich, zog einen Schreibblock heran und schrieb:
»Sucht nicht nach mir. Ich bin ein Versager. Ich gehe zur See. Macht euch keine Sorgen um mich. Ich werde mich schon durchschlagen. Eines Tages werde ich zurückkommen, und dann werdet ihr alle stolz auf mich sein. Lebt wohl, Papa, Mama und Bessie! JOE«
Den Zettel ließ er so auf dem Pult liegen, daß man ihn leicht finden konnte. Er klemmte sich das Bündel unter den Arm, und nach einem letzten abschiednehmenden Blick auf sein Zimmer stahl er sich hinaus.