Ja. Ja. Ja. Jetzt werd ich mit mir selbst von Polyxena sprechen. Von jener Schuld, die nicht zu tilgen ist, und würde Klytaimnestra mich zwanzigmal erschlagen. Polyxena war der letzte Name zwischen Aineias und mir, unser letztes, vielleicht einziges Mißverständnis. Ihretwegen, glaubte er, könne ich nicht mit ihm gehn, und versuchte mich zu überzeugen, daß ich der toten Schwester nicht mehr helfen würde, wenn ich blieb. Aber wenn ich etwas wußte, war es doch das. Wir hatten nicht die Zeit, über meine Weigerung, mit ihm zu gehn, die nicht die Vergangenheit betraf, sondern die Zukunft, uns gründlich auszusprechen. Aineias lebt. Er wird von meinem Tod erfahren, wird, wenn er der ist, den ich liebe, sich weiter fragen, warum ich das wählte, Gefangenschaft und Tod, nicht ihn. Vielleicht wird er auch ohne mich begreifen, was ich, um den Preis des Todes, ablehnen mußte: die Unterwerfung unter eine Rolle, die mir zuwiderlief.

Ausweichen, ablenken, so wie immer, wenn ihr Name ansteht: Polyxena. Sie war die andere. Sie war, wie ich nicht sein konnte. Hatte alles, was mir fehlte. Zwar nannte man mich »schön«, das weiß ich, sogar »die Schönste«, aber man blieb ernst dabei. Wenn sie vorbeiging, lächelten sie alle, der erste Priester und der letzte Sklave wie das dümmste Küchenmädchen. Ich suche ein Wort für ihre Erscheinung, ich kann nicht anders, mein Glaube, daß eine geglückte Wendung, Worte also, jede Erscheinung, jedes Vorkommnis befestigen, ja oftmals sogar hervorbringen können, überdauert mich. Aber bei ihr versag ich. Sie war aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt, aus Liebreiz, Schmelz und Festigkeit, ja Härte, in ihrem Wesen war ein Widerspruch, der aufreizend wirkte, doch auch reizend, den man fassen, behüten oder aus ihr herausreißen wollte, und müßte man sie selbst dafür zerstören. Sie hatte viele Freunde, von denen sie nicht Abstand hielt, aus Schichten, in die ich damals gar nicht kam, sie sang mit ihnen, Lieder, die sie selber machte. Sie war gut und hatte zugleich den bösen Blick, mit dem sie mich durchschaute, nicht sich selbst. Ja. Sie anzunehmen, kostete mich Selbstverleugnung, sie kam mir nicht entgegen. Seit ich Priesterin geworden war, seit jenem Jahr des Schweigens gegen mich, gingen wir miteinander um, wie die Sitte des Palastes es von uns Schwestern forderte. Wir wußten aber beide, daß wir aufeinandertreffen mußten.

Und wir wußten voneinander, daß wirs wußten.

Dann erschrak ich doch. Sie, ausgerechnet Polyxena, kam, mir ihre Träume zu erzählen. Und was für Träume. Unlösbare Verstrickungen. Und ich, ausgerechnet ich, sollte sie ihr deuten. Wonach sie mich nur hassen konnte, und das schien sie auch zu wollen. Mit einem zügellosen, forschenden und fordernden Blick lieferte sie sich mir aus. Sie träumte, aus einer Unratgrube, in der sie hauste, streckte sie ihre Arme aus nach einer Lichtgestalt, nach der sie sich verzehrte. Wer war der Glückliche, versuchte ich zu scherzen. Trug er einen Namen? Trocken sagte Polyxena: Ja. Es ist Andron.

Andron. Der Offizier des Eumelos. Mir verschlugs die Sprache. Verfluchtes Amt.

Ja, sagte ich. Was man halt so träumt. Den man am Tag zuletzt gesehn hat, sieht man auch im Traum. Das ist ohne Bedeutung, Polyxena. Von der Unratgrube schwieg ich.

Sie auch. Sie ging, enttäuscht. Kam wieder. Hatte sich, im Traum, auf die erniedrigendste Art mit Andron, dem Offizier des Eumelos, vereint, den sie im Wachen haßte. Sagte sie. Also was war los mit ihr. He, Schwester, sagte ich so burschikos wie möglich. Ich glaube, du brauchst einen Mann. - Den hab ich, sagte sie.

Er gibt mir nichts. Sie quälte sich. Haßvoll, als könne sie sich endlich an mir rächen, verlangte sie, daß ich aussprach, was sie selber sich nicht sagen konnte: daß etwas in ihr, das sie selbst nicht kannte, sie zwang, sich nach diesem aufgeblasenen Jüngelchen zu verzehren. Nach diesem Nichts von einem Mann, der auf keine andere Weise von sich reden machen konnte als durch den unehrenhaften Dienst bei Eumelos. Den sie verabscheute, sagte sie. Ich kann nicht sagen, daß ich ihr am Anfang hilfreich war.

Anstatt den Knoten, der sie einschnürte, zu lockern, zog ich ihn durch Unverständnis fester. Ich wollte es nicht wissen, wie es kam, daß meine Schwester Polyxena höchste Lust nur dann empfinden konnte, wenn sie sich bis in den Staub dem Unwürdigsten unterwarf. Ich vermochte nichts gegen die Verachtung, die mir Polyxenas Träume eingaben, die sie natürlich spürte, nicht vertrug. Sie hat mit diesem Andron heimlich ein Verhältnis angefangen. Das gab es nicht. Nie hatte eine von uns Schwestern nötig, ihre Neigung zu verbergen. Mit tiefem ungläubigen Unbehagen sah ich zu, wie die Zustände im Palast, so als würde an ihnen einer drehn, uns ihre Kehrseite zuwandten, eine liederliche Fratze. Wie sie, von einem ändern Zentrum aus, ein andres Über-gewicht bekamen. Und eins der Opfer, das sie unter sich begruben: Polyxena.

Nur, was ich damals nicht begriff und nicht begreifen wollte: daß manche nicht nur von außen, auch aus sich selbst heraus zum Opfer vorbereitet waren. Alles in mir stand dagegen auf. Warum?

Jetzt ist es auf einmal wirklich still. Unendlich dankbar bin ich für die Stille vor dem Tod. Für diesen Augenblick, der mich ganz erfüllt, daß ich gar nichts denken muß. Für diesen Vogel, der lautlos und entfernt den Himmel überfliegt und ihn verwandelt, unmerklich fast, aber mein Auge, das die Himmel alle kennt, ist nicht zu täuschen: So beginnt der Abend.

Die Zeit wird knapp. Was muß ich noch wissen.

Polyxena habe ich verachten müssen, weil ich mich selber nicht verachten wollte.

Das kann nicht sein. Aber ich weiß: So ist es. Wozu leb ich noch, wenn nicht, um zu erfahren, was man nur vor dem Tod erfährt. Polyxena, glaube ich, ging so über jedes Maß furchtbar zugrunde, weil nicht sie des Königs Lieblingstochter war, sondern ich.

Weil dies der Satz war, aus dem heraus ich viel zu lange lebte. Der stimmen mußte.

Der nicht angetastet werden durfte. Wem sonst noch hat sie ihr Geheimnis anvertraut, als mir der Schwester, mir der Seherin. Was nützt es ihr, was mir, jetzt jenen Satz zu wiederholen, den ich aus Schwäche damals fand: Ich bin auch nur ein Mensch. Was soll das »nur«. Ich war überfordert, das ist wahr. Sie, Polyxena, hat mir zuviel zugemutet, weil ihr zuviel zugemutet worden war. Um es kurz zu machen, während sie bei Andron schlief, begann sie von König Priamos zu träumen. Selten zuerst, aber stets das gleiche, dann häufiger, am Ende jede Nacht. Es war mehr, als sie ertragen konnte, in ihrer Not kam sie doch wieder zu mir. Der Vater tue ihr im Traum Gewalt an. Sie weinte. Niemand kann für seine Träume, aber man kann verschwiegen sein.

Das gab ich der Schwester zu verstehen. Ich glaube, daß ich vor Empörung zitterte.

Polyxena brach zusammen. Ich pflegte sie und sorgte, daß sie schwieg. Dies war die Zeit, da ich Aineias nicht empfangen konnte und er auch von allein nicht kam. Ich hörte auf, Anchises zu besuchen. In meinen Eingeweiden saß ein Tier, das fraß an mir und trieb mich um, später fand ich seinen Namen: Panik. Und nur im Tempelbezirk fand ich Ruhe.

Inbrünstig, so mußte es scheinen, verlor ich mich an die Zeremonien, vervollkommnete meine Techniken als Priesterin, lehrte die jungen Priesterinnen das Sprechen im Chor, das ja nicht einfach ist, genoß die weihevolle Atmosphäre an den großen Feiertagen, die Abgeschiedenheit der Priester von der Masse der Gläubigen, die führende Teilnahme an dem großen Schauspiel; die fromme Scheu und die Bewunderung in den Blicken der einfachen Leute; die Überlegenheit, die mein Amt mir gab. Ich brauchte es, dabei zu sein und zugleich nicht betroffen. Denn an die Götter zu glauben, hatte ich inzwischen aufgehört.

Außer Panthoos, der mich beobachtete, hat niemand das bemerkt. Seit wann ich mich ungläubig nennen mußte, könnte ich nicht sagen. War es ein Schreck gewesen, etwas wie Bekehrung, ich könnte mich erinnern. Aber der Glaube wich allmählich von mir, so wie manchmal eine Krankheit weicht, und eines Tages sagst du dir, du bist gesund. Die Krankheit findet keinen Boden mehr in dir. So auch der Glauben.

Welches wäre denn sein Boden noch gewesen. Als erstes fällt mir Hoffnung ein. Als zweites Furcht. Die Hoffnung hatte mich verlassen, Furcht kannt ich noch. Doch Furcht alleine hält die Götter nicht, sie sind sehr eitel, man soll sie auch lieben; der Hoffnungslose liebt sie nicht. Damals begann mein Gesicht sich zu verändern. Aineias war nicht da, man hatte ihn, wie üblich, weggeschickt. Ich fand, es hatte keinen Sinn, etwas von dem, was in mir vorging, irgendeinem Menschen mitzuteilen. Wir mußten diesen Krieg gewinnen, und ich, des Königs Tochter, glaubte immer weniger daran.

Ich stak fest. Mit wem sollte ich das besprechen.

Dazu kam, der Verlauf des Krieges schien mir nicht recht zu geben. Troia hielt stand. Dies Wort war schon zu groß, denn eine Zeitlang war es nicht bedroht. Die Griechen plünderten die Inseln und von uns entfernte Küstenstädte. Hinter ihrer starken Holzwehr ließen sie nur ein paar Schiffe, Zelte, wenig Wachmannschaft zurück - zu stark, um von uns vernichtet zu werden, zu schwach, uns anzugreifen.

Gerade die Gewöhnung an den Zustand war es, die mir die Hoffnung nahm. Wie konnte ein Troer lachen, wenn der Feind vor seiner Türe lauerte. Und Sonne. Immer Sonne. Phoibos Apollon, finster strahlend, übermächtig. Immer dieselben Orte, zwischen denen mein Leben sich verlief: Das Heiligtum. Der Tempelhain, dürr in diesem Jahr, der Skamander, der unsern Garten sonst bewässerte, war ausgetrocknet.

Meine Hütte aus Lehm, mein Lager, Stuhl und Tisch - die Unterkunft für Zeiten, wenn ich durch Tempeldienst an den Bezirk gebunden war. Der Weg zur Festung, leicht bergan, immer begleitet von zwei Wachsoldaten, die in zwei Schritt Abstand mir zu folgen hatten und nicht mit mir sprachen, weil ich mir das verbeten hatte. Das Tor in der Mauer. Der Ruf der Wachen, immer ein andres törichtes Losungswort, dem die Wächter oben töricht Antwort gaben. Nieder mit dem Feind! - Ins Nichts mit ihm!, in dieser Art. Dann die Fixierung durch den Offizier der Wache. Das Zeichen, daß das Tor geöffnet wurde. Immer der gleiche langweilige Weg zum Palast, immer die gleichen Gesichter vor den Häusern der Handwerker. Und wenn ich den Palast betreten hatte, die immer gleichen Gänge, die zu den immer gleichen Räumen führten, nur daß die Leute, die ich traf, mir immer fremder schienen. Bis heute weiß ich nicht, wie mir entgehen konnte, daß ich eine Gefangene war. Daß ich arbeitete, wie Gefangene arbeiteten, gezwungen. Daß meine Glieder sich nicht mehr von allein bewegten, daß mir auf Gehen, Atmen, Singen die Lust vergangen war. Für alles brauchte ich einen langwierigen Entschluß. Steh auf! befahl ich mir. Geh jetzt! Und wie mich alles anstrengte. Die ungeliebte Pflicht in mir fraß alle Freude auf. Nicht nur für den Feind, auch für mich war Troia uneinnehmbar geworden.

Durch dieses starre Bild laufen Gestalten. Viele namenlos - das war die Zeit, in der ich Namen schnell vergaß und Schwierigkeiten hatte, neue zu erlernen. Auf einmal gab es viele alte Leute, alte Männer. Ich traf sie in den Gängen des Palasts, die sonst wie ausgestorben lagen, Mumien, halbe Krüppel, die Sklaven mühsam vorwärtsschoben. Die gingen in den Rat. Dann sah ich auch die Brüder, die sonst bei der Truppe waren, Hektor dunkle Wolke, der mich immer ansprach, hören wollte, wie es mir, wie es den Frauen gehe, Andromache, die er sehr liebte, unserm Schutz befahl.

Und Paris, zermalmt, schief lächelnd, nur noch die Hülle seiner selbst, aber schärfer denn je. Man sagte mir, der gehe über Leichen - nicht Griechenleichen; Troerleichen, ein gefährlicher Mensch. Eine Scharte nach der ändern hatte der auszuwetzen, sein Leben lang. Mit dem war nicht zu rechnen. (Ja. Damals begann ich wie unter Zwang die Leute, die ich traf, für einen Notfall, den ich noch nicht kannte, einzuteilen: Mit dem ist zu rechnen, mit dem nicht. Wofür? Das wollte ich nicht wissen. Später stellte sich heraus, ich hatte mich nicht oft geirrt.)

Und König Priamos, der Vater. Das war ein Fall für sich, ein Fall für mich. Er wurde brüchig. Das war das Wort. König Priamos zerbröckelte, je mehr er gezwungen wurde, den König herauszukehren. Starr saß er bei den großen Feiern in der Halle, neuerdings erhöht neben, über Hekabe und hörte auf die Gesänge, die ihn priesen. Ihn und der Troer Heldentaten. Neue Sänger waren nachgewachsen, oder die alten, wenn sie noch geduldet wurden, änderten den Text. Die neuen Texte waren ruhmredig, marktschreierisch und speichelleckerisch, es war doch unmöglich, daß nur ich das merkte. Ich sah mich um; die glanzlosen Gesichter. Sie hatten sich im Zaum. Hatten wir das nötig. Ja, sagte Panthoos, mit dem ich, weil ich sonst keinen hatte, wieder manchmal sprach. Er ließ mich den Inhalt der Anweisung wissen, die gerade an die Oberpriester aller Tempel ergangen war: Der Schwerpunkt aller Feiern sei von den toten Helden auf die Lebenden zu verlegen. Ich war betroffen. Auf der Verehrung der toten Helden beruhte unser Glauben, unser Selbstgefühl. Auf sie beriefen wir uns, wenn wir »ewig« und »unendlich« sagten. Ihre Größe, die wir für unerreichbar hielten, machte uns Lebende bescheiden. - Das war der Punkt. Glaubst du denn, sagte Panthoos, bescheidene Helden, die erst nach ihrem Tode hoffen können zu Ruhm zu kommen, sind die richtigen Gegner für die unbescheidnen Griechen? Hältst du's für klug, die lebenden Helden nicht zu besingen, dafür die toten, und damit preiszugeben, wieviele schon getötet sind? - Aber, sagte ich, seht ihr denn nicht, um wieviel gefährlicher es ist, leichtfertig an den Grund unsrer Zusammengehörigkeit zu rühren!

- Und das sagst ausgerechnet du, Kassandra, sagte Panthoos. Glaubst selbst an nichts.

Genau wie Eumelos und seine Leute, die hinter allem stecken. Oder wo liegt der Unterschied.

Kühl wies ich ihn zurecht. Wollte der Grieche die Troerin tadeln? Wie konnte ich ihm, oder mir, beweisen, daß er unrecht hatte. Nachts schlief ich nicht. Die Kopfschmerzen begannen. Was glaubte denn ich?

Jetzt, wenn du hören kannst, hör zu, Aineias. Damit sind wir nicht zu Ende gekommen. Das muß ich dir noch erklären. Nein, es gab keinen Rest von Kummer in mir über dein Verhalten damals; daß du, selbst wenn du da warst, selbst wenn du bei mir lagst, zurückgezogen warst, das verstand ich wohl; daß du meine törichten Beteuerungen nicht mehr hören konntest, dieses ewige: Ich will doch dasselbe wie sie! Nur: Warum hast du mir nicht widersprochen. Mir nicht erspart, mich soweit zu vergessen, diesen Satz dem Eumelos selbst entgegenzuhalten, bei unserm ersten wirklich offenen scharfen Zusammenstoß.

Es war, nachdem unser armer Bruder Lykaon durch Achill das Vieh gefangengenommen und gegen ein kostbares Bronzegefäß an den gehässigen König von Lemnos verkauft worden war - eine Schmach, unter der Priamos stöhnte. Und in der Zitadelle schien es nur einen einzigen zu geben, der auf den schandbaren Übermut des Feindes die Antwort wußte; der Mann war Eumelos. Er zog die Schrauben an. Er warf sein Sicherheitsnetz, das bisher die Mitglieder des Königshauses und die Beamtenschaft gedrosselt hatte, über ganz Troia, es betraf nun jedermann. Die Zitadelle nach Einbruch der Dunkelheit gesperrt. Strenge Kontrollen alles dessen, was einer bei sich führte, wann immer Eumelos dies für geboten hielt. Sonderbefugnisse für die Kontrollorgane.

Eumelos, sagte ich, das ist unmöglich. (Selbstverständlich wußte ich, daß es möglich war.) - Und warum? fragte er mit eisiger Höflichkeit. - Weil wir uns damit selber schaden, mehr als den Griechen. - Das möcht ich gerne nochmal von dir hören, sagte er. - In diesem Augenblick sprang die Angst mich an. Eumelos, rief ich, flehend, dessen schäm ich mich noch immer: Aber glaub mir doch! Ich will doch das gleiche wie ihr.

Er zog die Lippen hart zusammen. Den konnte ich nicht gewinnen. Er sagte förmlich: Ausgezeichnet. So wirst du unsre Maßnahmen unterstützen. - Er ließ mich stehen wie ein dummes Ding. Er näherte sich dem Gipfel seiner Machtvollkommenheit.

Wie kam es, daß ich derart niedergeschlagen war. Daß ich mich in einen inneren Dialog mit Eumelos - mit Eumelos ! - verstrickte, der über Tage und Nächte ging.

Soweit war es gekommen. Ihn, Eumelos, wollte ich überzeugen. Aber wovon! hast du, Aineias, mich gefragt, da blieb ich stumm. Davon, daß wir nicht werden dürften wie Achilles, würde ich heute sagen, bloß um davonzukommen. Daß es noch nicht erwiesen sei, daß wir, bloß um davonzukommen, wie die Griechen werden müßten.

Und selbst wenn! War es nicht wichtiger, nach unsrer Art, nach unserem Gesetz zu leben, als überhaupt zu leben? Aber wem wollte ich das weismachen. Und stimmte es denn überhaupt. War nicht Überleben wichtiger. Das allerwichtigste von allem. Das einzige, worauf es ankam. So wäre Eumelos der Mann der Stunde?

Wenn aber längst die Frage anders lautete, nämlich so: das Gesicht des Feindes annehmen, aber trotzdem untergehn?

Hör zu, Aineias. Ach begreif mich doch. Das könnte ich nicht noch einmal überstehen. An manchen Tagen lag ich auf meinem Lager, trank etwas Ziegenmilch, ließ die Fenster verhängen, schloß die Augen und blieb regungslos, um das Tier, das mein Gehirn zerfleischte, nur nicht an mein Dasein zu erinnern. Marpessa ging sehr leise hin und her, sie holte Oinone, die mir sanft, wie nur sie es konnte, über Stirn und Nacken strich. Ihre Hände waren jetzt immer kalt. Kam schon der Winter?

Ja, der Winter kam. Der große Herbstmarkt vor den Toren hatte stattgefunden, ein Gespenst von einem Markt. Als Verkäufer verkleidete Eumelos-Leute, dazwischen, starr, die wirklichen Verkäufer. Als Käufer verkleidete Eumelos-Leute, zwischen ihnen, vor Schrecken unbeholfen, wir, die Käufer. Wer spielte wen? In festen Pulks, unsicher, frech, die Griechen. Zufällig stand ich eingekeilt neben Agamemnon, als der bei einem Goldschmied ohne zu feilschen einen sehr teuren, schönen Halsschmuck kaufte. Und noch einmal den gleichen, den hielt er mir hin: Ist er nicht schön? - Um uns bis zu den Horizonten Totenstille. Ich sagte ruhig, beinahe freundlich: Ja. Er ist sehr schön, Agamemnon. - Du kennst mich, sagte Agamemnon. - Wie denn nicht. - Er sah mich lange seltsam an, ich konnte seinen Blick nicht deuten. Dann sprach er leise, nur für mich verständlich: Dieses hier würd ich für mein Leben gerne meiner Tochter schenken. Sie ist nicht mehr. Irgendwie sah sie dir ähnlich. Nimm du's. - Dann gab er mir den Schmuck und machte sich sehr schnell davon.

Von meinen Leuten hat nie jemand diesen Schmuck erwähnt. Ich trug ihn manchmal, trag ihn noch. Sein Gegenstück sah ich vorhin am Hals der Klytaimnestra, sie sah an meinem Hals das Gegenstück des ihren. Mit der gleichen Geste griffen wir danach, blickten uns an, verstanden uns, wie nur Frauen sich verstehn.

Ich fragte Panthoos beiläufig: Welche Tochter? - Iphigenie, sagte er. - Und es ist wahr, was man von ihr erzählt? - Ja. Er hat sie geopfert. Euer Kalchas hat es ihm befohlen.

Sie handeln übereilt und töricht. Glauben das Unglaubliche. Tun, was sie nicht wollen, und betrauern selbstmitleidig ihre Opfer.

Wieder diese Angst.

In der Zitadelle waren neue Truppen aus entlegenen Provinzen eingetroffen, häufig sah man jetzt schwarze und braune Gesichter in den Straßen, Trupps von Kämpfern hockten überall um Lagerfeuer, auf einmal war es nicht mehr ratsam für uns Frauen, alleine unterwegs zu sein. Wenn man es recht betrachtete—nur traute niemand sich, es so zu sehn -, schienen die Männer beider Seiten verbündet gegen unsre Frauen.

Entmutigt zogen die sich in die winterlichen Höhlen der Häuser, an die glimmenden Feuer und zu den Kindern zurück. Im Tempel beteten sie mit einer Inbrunst, die mir nicht gefiel, weil ihnen unser Gott Apoll Ersatz sein sollte für gestohlenes Leben. Ich hielt es nicht mehr aus. Durchs Priesterinnenkleid geschützt, ging ich wieder zu Anchises. Immer war es, wenn ich nach langer Pause zu ihm kam, als hätte ich die Besuche bei ihm niemals unterbrochen. Zwar ein paar junge Frauen, die mir fremd waren, standen auf und gingen, wie selbstverständlich, ohne Verlegenheit, aber es schmerzte doch. Anchises hatte gerade angefangen, diese großen Körbe zu flechten, alle nahmen das als Marotte, aber nun, Aineias, da ihr unterwegs seid: Worin hättet ihr eure Vorräte verstauen solln; worin hättest du deinen Vater tragen können, der so leicht geworden ist, wenn nicht in einem solchen Korb.

So hörte er nicht auf, das Rohr zurechtzulegen, während wir sprachen. Immer fingen wir bei entlegenen Themen an. Immer setzte er mir diesen Wein vom Ida-Berg vor, der mir ins Blut ging, und selbstgebackene Gerstenfladen. Wort für Wort erzählte ich ihm mein Gespräch mit Eumelos.

Da sprang er auf, warf seinen nackten Kopf zurück und brüllte lachend: Ja! Das glaub ich! Ja! Das möchte dieser Gauner!

Immer wenn er lachte, lachte ich mit. Alles war schon leichter, aber das wichtigste kam ja noch, Anchises belehrte mich. Wenn er mich belehrte, nannte er mich »Mädchen«. Also Mädchen, nun paß doch mal auf. Der Eumelos braucht den Achilles wie ein alter Schuh den ändern. Aber dahinter steckt ein primitiver Trick, ein Denkfehler, den er dir in aller hundsgemeinen Unschuld eingeimpft hat. Und der nur funktioniert, solange du ihm nicht auf seine schwache Stelle kommst. Nämlich: Er setzt voraus, was er erst schaffen mußte: Krieg. Ist er soweit gekommen, nimmt er diesen Krieg als das Normale und setzt voraus, aus ihm führt nur ein Weg, der heißt: der Sieg. Dann allerdings diktiert der Feind, was dir zu tun bleibt. Dann steckst du in der Klemme und hast zu wählen zwischen Achill und Eumelos, zwei Übeln. Siehst du nicht, Mädchen, wie Achill dem Eumelos zupaß kommt! Wie er sich keinen bessern Gegner als den Unhold wünschen kann!

Ja, ja, ich sah es. War dem Anchises dankbar, dachte zu Ende, was er mir zu denken überließ. Also hätte man früh dem Übel wehren müssen, als es noch nicht

»Krieg« hieß. Hätte Eumelos nicht aufkommen lassen dürfen. Hätte - wer denn. Der König. Priamos, der Vater. Der Zwiespalt blieb mir. Von Eumelos war er auf König Priamos verschoben. Und in dem Zwiespalt saß die Angst.

Ich hatte Angst, Aineias. Das war es, was du niemals glauben wolltest. Die Art von Angst hast du ja nicht gekannt. Ich hab ein Angst-Gedächtnis. Ein Gefühls-Gedächtnis. Wie oft hast du gelacht, daß ich dir, wenn du wieder mal zurückgekommen warst, nicht den Bericht über die Ereignisse erstatten konnte, den du erwartetest. Wer wen auf welche Weise umgebracht, wer in der Hierarchie am Steigen oder Sinken war, wer sich in wen verliebt, wer wem die Frau gestohlen hatte -

du mußtest es bei anderen erfragen. Ich wußte es natürlich, daran lag es nicht. Wer nicht in die Ereignisse verstrickt ist, erfährt am meisten. Doch ohne meinen Willen nahm mein Gedächtnis diese Tatsachen einfach nicht ernst genug. Als seien sie nicht wirklich. Nicht wirklich genug. Als seien es Schatten-Taten. Oder wie soll ich es dir erklären. Ich gebe dir ein Beispiel: Polyxena.

Ach, Aineias. Als wäre sie wirklich, sehe ich jeden Zug ihres Gesichts vor mir, in dem das Unglück eingeschrieben stand - wieso sah ich das nur. Und hörte jenen Unterton in ihrer Stimme, der die schmelzende Angst in mir erzeugte, daß es mit ihr, der Schwester, schlecht ausgehn mußte. Wie oft trieb es mich, ihre Hände zu ergreifen und laut hinauszuschreien, was ich sah. Wie hielt ich mich zurück. Wie spannte ich all meine Muskeln gegen diese Angstgewißheit. Mir braucht man nicht zu sagen, warum die Geburt der Zwillinge so schwer war. Meine Muskeln sind verhärtet. Ich hatte das Gefühl, mit meinem Körper jene Stelle abzudecken, durch die, für mich nur spürbar, andre Wirklichkeiten in unsre Welt der festen Körper einsickerten. Die die fünf Sinne, auf die wir uns verständigt haben, nicht erfassen, weshalb wir sie verleugnen müssen.

Worte. Alles, was ich von jener Erfahrung mitzuteilen suchte, war und ist Umschreibung. Für das, was aus mir sprach, haben wir keinen Namen. Ich war sein Mund, nicht freiwillig. Es mußte mich erst niederzwingen, eh ich verlauten ließ, was es mir eingab. Daß ich »die Wahrheit« sprach; ihr mich nicht hören wolltet - das hat der Feind verbreitet. Nicht aus Bosheit, sie verstanden es nicht besser. Für die Griechen gibt es nur entweder Wahrheit oder Lüge, richtig oder falsch, Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind, Leben oder Tod. Sie denken anders. Was nicht sichtbar, riechbar, hörbar, tastbar ist, ist nicht vorhanden. Es ist das andere, das sie zwischen ihren scharfen Unterscheidungen zerquetschen, das Dritte, das es nach ihrer Meinung überhaupt nicht gibt, das lächelnde Lebendige, das imstande ist, sich immer wieder aus sich selbst hervorzubringen, das Ungetrennte, Geist im Leben, Leben im Geist. Anchises meinte einmal, wichtiger als die Erfindung des verdammten Eisens hätte die Gabe der Einfühlung für sie sein können. Daß sie die eisernen Begriffe Gut und Böse nicht nur auf sich bezögen. Sondern zum Beispiel auch auf uns.

Nichts davon werden ihre Sänger überliefern.

Und wenn sie - oder wir - es überlieferten? Was folgte daraus? Nichts. Leider oder glücklicherweise nichts. Nicht der Gesang, nur der Befehl bewegt mehr als die Luft.

Das ist nicht mein Satz, das ist Penthesileas Satz. Sie verachtete, was sie mein

»Gehabe« nannte. Deine Träume gegen ihre Wurfspeere! Sie hatte eine fatale unglückselige Art zu lachen. Zu gerne hätte ich es ihr bewiesen. Sie hat recht behalten, könnte man wohl sagen, wenn es auf der Seite der Wurfspeere überhaupt ein Recht gäbe. Zu spät, wieder einmal zu spät habe ich begriffen, daß sie sich, ihr Leben, ihren Körper zur Verfügung stellte, um dieses Unrecht vor aller Augen auf die Spitze zu treiben. Der Abgrund von Hoffnungslosigkeit, in dem sie lebte.

Eines Tages, als ich gerade Dienst hatte, kamen Hekabe und Polyxena in den Tempel. Merkwürdig war es, daß sie dem Apollo opfern wollten und nicht, wie sie es sonst vorzogen, der Athene, unsrer Schutzherrin, deren Tempel viel bequemer in der Stadt lag. Was ihr Opfer - Früchte des Feldes - bewirken sollte, sagten sie mir nicht, ich sah nur, wie sie sich einig waren, und mein Herz zog sich zusammen. Ihre Bitte an die Gottheit - das erfuhr ich viel viel später - war so unnatürlich, daß sie sie nicht einer Göttin, nur einem männlichen Gotte vortragen konnten: Apollon sollte die Schwangerschaft, die sie befürchtete, von Polyxena nehmen. Von Andron, dem sie nach wie vor verfallen war, wollte sie kein Kind. Warum nur trat in jener Stunde der Zwiespalt, in dem sie lebte, als inständiger Ausdruck von Gebrechlichkeit auf ihr Gesicht. Warum mußte Achill das Vieh den Ausdruck sehn. Der Atem stockte mir, als er eintrat. Seitdem er hier den Bruder Troilos getötet hatte, war er Apollon ferngeblieben, obwohl, leider, sag ich, ausgehandelt war, daß dieser Tempel ein neutraler Ort sein sollte, auch den Griechen zur Verehrung ihres Gottes offen. So kam er denn, Achill das Vieh, und sah die Schwester Polyxena, und ich, vom Altar her, von wo man alles sieht, sah, daß er sie sah. Wie sie unserm Bruder Troilos ähnelte.

Wie Achill sie mit seinen entsetzlichen Blicken, die ich kannte, verschlang. Und ich: Polyxena, flüsterte ich wohl, dann sank ich um. Als ich erwachte, hockte Herophile die Alte, Lederwangige bei mir. Sie ist verloren, Polyxena ist verloren, sagte ich. -

Steh auf, Kassandra, sagte Herophile. Nimm dich zusammen. Laß dich nicht so gehn.

Für Gesichte ist jetzt nicht die Zeit. Was geschehn soll, geschieht. Wir sind nicht dazu da, es zu verhindern. Also mach kein Wesens.

Auf einmal wurde unser Tempel ein begehrter Ort. Zweitrangige Unterhändler begegneten sich hier, um das Treffen vorzubereiten, auf das es ankam: Der Troer Hektor traf den Griechenheld Achill. Ich blieb in der Kammer hinter dem Altar, in der man jedes Wort versteht. Ich hörte, was ich wußte: Der Griechenheld Achill wollte die troische Prinzessin Polyxena. Hektor, der von Panthoos erfahren hatte, daß bei den Griechen Väter, ältre Brüder, über Töchter, Schwestern die Gewalt ausüben, ging zum Schein, so war es ausgemacht, auf Achills Begehren ein: Also gut, die Schwester werde er ihm übereignen, wenn er seinerseits den Plan des Griechenlagers an uns weitergebe. Ich glaubte mich verhört zu haben. Niemals vorher hat Troia einen Gegner zum Verrat an seinen Leuten aufgefordert. Nie eine seiner Töchter an den Feind um diesen Preis verkauft. Unbeweglich stand dieser Andron, dem Polyxena anhing, hinter Bruder Hektor. Und Achill das Vieh, der, wie er ja bewiesen hatte, das Heiligtum nicht fürchtete, ging keinem dieser beiden an die Kehle. Konnte er denn ahnen, wie eng der erste Ring Bewaffneter das Heiligtum umstellte? Kaum. Er sagte, daß er sich das Ganze überlegen werde. Doch bitte er, noch einmal Polyxena sehn zu dürfen. Dies wollte nun, merkwürdig genug, Bruder Hektor nicht gestatten. Da griff Freund Andron ein, mit seiner frischen Stimme. Warum denn nicht! hört ich ihn sagen. Ach Schwester, dacht ich, könntest du ihn hören, deinen hübschen Tunichtgut.

Am Abend, wurde abgemacht, würde sich Polyxena zeigen, auf der Mauer, neben dem Skäischen Tor, ihrem künftigen Besitzer.

Inständig bat ich Polyxena, sich nicht zu zeigen. Warum denn nicht, sagte sie, wie jener Andron. Sie hatte keinen Grund dagegen, doch reichte das! Wo war ihr Grund dafür! So liebst du dieses Vieh? Kriegst du auch das noch fertig! entfuhr es mir. Der Satz, den ich mir nicht verzeihe. Der mir die Schwester unerreichbar weit entrückte.

Ich sah es gleich, so wurde ihr Gesichtsausdruck: entrückt. Ich, in Panik, griff nach ihren Händen, entschuldigte mich, redete wie von Sinnen auf sie ein. Vergebens.

Abends vor Sonnenuntergang stand sie auf der Mauer, mit jenem neuen fernen Lächeln, und blickte auf Achill hinab. Der stierte. Beinahe tropfte ihm der Speichel.

Da entblößte meine Schwester Polyxena langsam ihre Brust, dabei blickte sie - immer wie von weit - auf uns: ihren Geliebten, ihren Bruder, ihre Schwester. Ich, flehentlich, erwiderte den Blick. He, Hektor! brüllte von unten mit heisrer Stimme Achill das Vieh. Hörst du mich! Die Übereinkunft gilt.

Sie galt. Für Monate war meine Schwester Polyxena die bewundertste Frau in Troia. Das hatte sie gewollt. Die Ihren strafen, indem sie sich selbst verdarb: Die Taten, die der Krieg heraustrieb, waren Mißgeburten. Polyxena hatte, als sie ihre Brust dem Griechen hinhielt, das Kind des Andron als ein kleines Klümpchen Blut verloren. Triumphierend, schamlos gab sie es bekannt. Frei sei sie, frei. Nichts, niemand halte sie.

So war es.

Ich ging zu Anchises. Die Runde, die ich antraf, blieb. Mein Verdacht war richtig: Hier trafen Sklavinnen aus dem Griechenlager mit unsern Frauen aus der Stadt zusammen. Warum auch nicht. So leicht war ich nicht mehr zu überraschen. Das dachte ich. Dann überraschten sie mich doch. Achill, erfuhren wir, hatte sich strikt geweigert, am Kampf der Griechen weiter teilzunehmen. Also hielt er Wort. Die Pest hatte das Griechenlager heimgesucht, geschickt vom Gott Apoll, behauptete der Seher Kalchas. Man müsse eine kleine Sklavin, die der große Agamemnon als sein Eigentum betrachtete, ihrem Vater wiedergeben, der zufällig auch ein Seher war.

Dafür mußte dem Agamemnon Ersatz geleistet werden: Gewiß nicht ohne Zutun ihres Vaters Kalchas wurde Briseis, unsre Briseis, dem Achill entrissen, dem man sie solange zu beliebigem Gebrauch belassen hatte, und dem großen Flottenführer Agamemnon zugeteilt. Der hielt sie, sagten die Sklavenmädchen, in einem besondern Zelt. Ging nicht zu ihr, weder bei Tag noch bei Nacht. Der einzge Mann, der sie besuche, sei ihr ganz und gar ergrauter Vater Kalchas. Als ich zu fragen wagte, wie es ihr denn gehe, war nur ein langer stummer Blick die Antwort.

Mich fror. Bis in die letzte Faser meines Körpers war mir kalt. Anchises schien zu wissen, wie mir zumute war. Aineias kommt, sagte er leise. Weißt du es schon? Da schlug mir warmes Blut bis ins Gesicht. Aineias kam. Sein Schiff kam durch. Ich lebte. Aineias war bedrückt. Man hatte ihn ganz in den Krieg hineingezogen. Er brachte Hoffnung auf Verstärkung. Die Griechen mußten hingehalten werden.

Zweikämpfe zwischen einigen von ihnen und einigen unsrer Männer fanden statt, Kampfspiele eigentlich, nach Regeln, die die Griechen akzeptierten. Ganz Troia stand auf der Mauer und sah dem Zweikampf zwischen unserm Hektor und Groß Aias zu, ein besonderes Vergnügen, weil wir sahen: Hektors zähes Training hatte sich gelohnt.

Hektor dunkle Wolke war ein Kämpfer, der sich mit jedem messen konnte. Hekabe ging weg, weißen Gesichts. Die beiden Helden tauschten ihre Waffen, und die Törichten von den Mauern klatschten Beifall. Unglückswaffen. Das Gehenk des Aias hat Achill das Vieh benutzt, um Hektor anzukoppeln, als er ihn um die Zitadelle schleifte. Und Hektors Schwert brauchte Groß Aias, als er, vom Wahnsinn umgetrieben, Selbstmord machte.

Die Dinge glitten uns aus der Hand und richteten sich gegen uns. Da maßen wir ihnen übertriebene Bedeutung zu. Mit welchem Aufwand wurden Schild, Schwert, Wurfspeer und Panzer für Hektor angefertigt! Nicht nur die besten, auch die schönsten Waffen stünden ihm zu. Einmal traf ich ihn, etwas wie Frühling lag schon in der Luft, vor der Tür der Waffenschmiede. Ungeachtet unsrer Eumelos-Begleiter schloß er sich mir an. Manchmal genügt ein einziges Gespräch. Es zeigte sich, er hatte mich beobachtet. Du scheinst mir wegzutreiben, Schwester, sagte er, ohne Vorwurf in der Stimme. Aber weißt du auch, wohin? - Lange hatte mich keine Frage so gerührt.

Hektor. Lieber. Er wußte, daß er nur noch kurz zu leben hatte. Ich wußte, daß er wußte. Was hätte ich ihm sagen können. Ich sagte ihm, daß Troia nicht mehr Troia war. Daß ich nicht wußte, wie ich damit fertigwerden sollte. Daß ich mich wie ein wundes Tier in einer Falle fühlte, keinen Ausweg sah. Immer, wenn ich an Hektor denke, fühle ich die Mauerkante meinen Rücken hinunter, an die ich mich preßte, und rieche Pferdedung, vermischt mit Erde. Er legte mir den Arm um meine Schulter, zog mich an sich. Kleine Schwester. Immer so genau. Immer so hoch hinaus. Du mußt vielleicht so sein, wir müssen dich ertragen. Schade, daß du kein Mann bist. Du könntest in den Kampf gehen. Glaub mir, manchmal ist das besser. Als was? - Wir lächelten.

Sonst sprachen unsre Augen. Daß wir uns liebten. Daß wir Abschied nehmen mußten. Nie mehr, Hektor, Lieber, habe ich ein Mann sein wollen. Oft jenen Mächten, die für das Geschlecht der Menschen einstehn, gedankt, daß ich Frau sein darf. Daß ich an dem Tag, an dem du fallen würdest, wie wir beide wußten, nicht dabeisein mußte, das Schlachtfeld meiden konnte, auf dem Achill erneut sein Wesen trieb, nachdem sein Liebesfreund Patroklos von den Unseren getötet war. Zwiespältige Nachricht! War nicht Polyxena nun gerettet? Achills Sklavin kam mit verzerrten Zügen zu Anchises: Briseis, unsre Briseis, wurde, um ihren bockigen Herrn zu versöhnen, von Agamemnon eigenhändig ihm zurückgebracht. In welcher Verfassung! Das Mädchen weinte. Nein, nun gehe sie nicht mehr zurück. Wir sollten mit ihr machen, was wir wollten. Arisbe gab der lieblichen Oinone einen Wink. Mit ihr, dieser jungen Sklavin, die versteckt sein wollte, begann das ungebundne Leben in den Höhlen. Im nächsten Sommer sah ich sie wieder, ein andrer Mensch. Und auch ich bereit, der andre Mensch zu werden, der sich unter Verzweiflung, Schmerz und Trauer schon so lange in mir regte. Die erste Regung, die ich zuließ, war der Stich von Neid, den ich empfand, als Achills Sklavin, eng umschlungen mit Oinone, ging, ich wußte nicht, wohin. Und ich? Rettet mich auch! hätte ich fast gerufen, aber was mir zu erleben vorbehalten war, hatte ich noch nicht erlebt. Den Tag auf meinem Weidenlager, in kaltem Schweiß, als Hektor, wie ich wußte, auf das Schlachtfeld ging und, wie ich wußte, fiel.

Ich weiß nicht, wie es vor sich ging; nie durfte jemand mir davon sprechen, auch Aineias nicht, der dabei war, doch um den ich mich nicht sorgte. In der tiefsten Tiefe; im innersten Innern, da, wo Leib und Seele noch nicht geschieden sind und wohin kein Wort, auch kein Gedanke reicht, erfuhr ich alles über Hektors Kampf, Verwundung, seinen zähen Widerstand und seinen Tod. Ich war Hektor, das ist nicht zuviel gesagt, weil: ich war mit ihm verbunden, viel zu wenig sagte. Achill das Vieh hat ihn, hat mich

erstochen, verstümmelt, am Gehenk des Aias viele Male um die Burg geschleift. Ich war lebend, was der tote Hektor wurde: ein Klumpen rohes Fleisch. Fühllos. Das Geschrei der Mutter, des Vaters Heulen: fern. Ob er den Leichnam von Achill erbitten sollte. Warum denn nicht. Des Vaters nächtlicher Gang, der mich, wäre ich noch ich gewesen, unendlich hätte rühren können. Ein wenig rührte mich, daß er sich an Achill, den er im Schlaf getroffen, nicht vergreifen konnte. Dann stand ich, ungerührt, wieder einmal auf der Mauer, am wohlbekannten Platz neben dem Skäischen Tor. Unten die Waage. Auf der einen Schale eine rohe Masse Fleisch, die einst Hektor, unser Bruder, war und auf der ändern unser ganzes Gold für Rektors Mörder. Dies war der tiefste oder höchste Punkt des Krieges. Meine innre Kälte. Andromache, die leblos auf der Erde lag. Und Polyxenas Gesicht, das hierher paßte, Lust an Selbstzerstörung. Wie sie verächtlich ihre Armringe und Ketten auf den Goldberg warf, dem ein weniges noch zu dem Gewicht von Rektors Leiche fehlte. Wir lernten rasend schnell. Daß man Tote mit Gold aufwiegt, hatten wir nicht gewußt. Doch es war noch andres möglich: Einen toten Mann gegen eine lebendige Frau zu tauschen. Achill schrie es herauf, zu Priamos: He, König! Gib mir deine schöne Tochter Polyxena und behalt dein Gold.

Polyxenas Lachen. Und des Königs Antwort, die er schnell mit Eumelos und Andron abgesprochen: Berede Menelaos, daß er auf Helena verzichtet, und du bekommst die Tochter Polyxena.

Von diesem Tag an träumte ich nicht mehr, ein schlimmes Zeichen. An diesem Tag und in der Nacht, die auf ihn folgte, wurde jenes Teil zerstört, aus dem die Träume kommen, auch die schlimmen. Achill das Vieh hielt außer uns und in uns jeden Zoll besetzt. In jener Nacht, da er die Leiche des Patroklos, seines Liebsten, verbrennen ließ, schlachtete Achill das Vieh als Opfer zwölf Gefangene, die edelsten, zwei Söhne Hekabes und Priamos' darunter. In jener Nacht verließen uns die Götter.

Zwölfmal der Schrei, der eines Tieres. Zwölfmal gruben sich der Mutter Fingernägel tiefer in mein Fleisch. Dann prasselten dreizehn Scheiterhaufen auf, ein ungeheuer großer und zwölf kleinere, die schauerliche rote Glut gegen den schwarzen Himmel.

Dann roch es nach verbranntem Fleisch, der Wind kam von See. Zwölfmal hatte das glühende Eisen in uns jene Stelle ausgebrannt, aus der Schmerz, Liebe, Leben, Träume kommen können. Das namenlose Weiche, das den Mensch zum Menschen macht. Hekabe, als sie von mir abfiel, war eine alte Frau, hohlwangig, weißhaarig.

Andromache ein wimmerndes Bündel in der Ecke. Polyxena scharf und entschlossen wie ein Schwert. Priamos, bar jeden Königtums, ein kranker Greis.

Troia lag dunkel, totenstill. Ein Trupp unsrer Krieger stürmte unter der Führung von Bruder Paris in die Kellerräume der Zitadelle, in denen, schlotternd vor Angst, die griechischen Gefangenen beieinander hockten. Eines der Palastmädchen holte mich. Ich trat in den Keller, der nach Moder, Schweiß und Exkrementen stank. In zitternder Stille standen die Troer und die gefangnen Griechen sich gegenüber, zwischen ihnen der Abgrund eines Schrittes, über dem Abgrund der Troer blanke Messer. Da trat ich, ohne Priesterkleid, in diesen schmalen Zwischenraum, ging ihn, vom heißen Atem der Griechen, von den kalten Messern der Troer gestreift, Schritt für Schritt entlang, von der einen Wand zur ändern. Alles still. Hinter mir sanken die Messer der Troer. Die Griechen weinten. Wie liebte ich meine Landsleute.

Paris vertrat mir den Ausgang. Du also, Priesterin, gestattest meinen Leuten nicht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. - Ich sagte: Nein.

Das war beinah das einzge Wort, das mir noch blieb.

Panthoos machte mich darauf aufmerksam, daß Wörter körperliche Folgen haben.

Das Nein habe eine zusammenziehende, das Ja eine lösende Wirkung. Wie kam es nur, warum ließ ich es zu, wieso blieb auch Aineias derart lange aus - Panthoos näherte sich mir wieder. Obwohl wir uns nicht mehr leiden konnten. Ich wurde grundlos zornig, wenn ich ihn bloß sah - schmal, zusammengezogen, mit den Priesterfrauenkleidern, und darauf dieser große Kopf. Immer das zynische Grinsen.

Ich mochte Leute nicht, denen man die Angst anroch. Er vertrug kein Mitleid, in dem Verachtung steckte. Unbemerkt von mir war wieder Frühling. Wir standen unter den Oliven im Apollon-Hain, am Abend. Mir war aufgefallen, daß ich Panthoos nur noch in Tempelnähe sah. Ja, sagte er, jenseits dieser Hecke beginnt die Wildnis. Die Gefahr. - Ich sah ihn mir ausführlich an. Welchem Tier glich er doch jetzt. Einem Iltis, der bedroht wird. Der aus Angst die Lippen von den Zähnen hochzieht, wie im Ekel, und dabei die Eckzähne entblößt. Der angreift, weil er Angst hat. Mir wurde übel. Eine Vorstellung überkam mich, die ich nicht abwehren konnte. Leute mit Knyppeln trieben einen Iltis aus seinem Bau, durch den Tempelbezirk, jagten ihn aus dem Gehege und erschlugen ihn, der pfeifend, zischend starb. Er sah den Schrecken in meinen Augen und warf sich auf mich, begrub mich unter sich, stammelte meinen Namen an meinem Ohr, flehte um Hilfe. Ich gab ihm nach. Kam ihm entgegen. Er versagte. Aus Wut und Enttäuschung zischte er wie das Tier.

Es kam heraus, ich hatte auch ihn in jener Nacht gerettet; er war im Keller unter den gefangnen Griechen. Daß ich die Messer nicht gefürchtet hatte, konnte er mir nicht vergeben. Ihr kriegt mich nicht, zischte er. Die Griechen kriegen mich auch nicht. Er zeigte mir die Kapsel mit dem Pulver. Er behielt recht. Wir nicht, die Griechen nicht - die Amazonen haben ihn bekommen.

Penthesileas Frauen. Aineias, stellte sich jetzt heraus, hatte sie auf sicheren Wegen hergeführt. Er mit seiner weißen Hand ging neben der dunklen Penthesilea mit dem wilden schwarzen Haar, das ihr nach allen Seiten vom Kopf wegstand. Täuschte ich mich, oder hing des Aineias Blick an ihr? Dann kam Myrine, kleines Pferdchen, atemlos, am Ende eines langen Laufes, der kein Ziel mehr hatte. Auch sie ganz auf Penthesilea ausgerichtet. Was wollte die in Troia. Man sagte mir, Aineias sagte mir: Sie sucht den Kampf. Also waren wir so weit, daß ein jeder, der den Kampf sucht, Mann oder Weib, bei uns willkommen ist? Aineias sagte, ja, wir sind so weit. Sehr zurückhaltend beurteilte er die kleine, fest geschlossene Frauenschar. Zurückhaltend lagen wir nebeneinander und sprachen über Penthesilea, es war Irrsinn. Kein Wort brachte ich heraus über die Nacht, da die Griechen die Gefangnen töteten. Aineias fragte nicht. Weiß, weiß leuchtete sein Körper in der Dunkelheit. Er berührte mich.

Nichts regte sich. Ich weinte. Aineias weinte. Sie hatten uns geschafft. Trostlos gingen wir auseinander. Lieber. Als wir uns später wirklich trennten, gab es keine Tränen, Trost auch nicht. Etwas wie Zorn von deiner Seite, Entschlossenheit von meiner, jeder verstand den anderen. Wir waren noch nicht miteinander fertig. So auseinandergehn, ist schwerer, leichter.

Diese Worte haben für uns keinen Sinn. Schwerer, leichter: Wie soll man solche feinen Unterschiede treffen, wenn alles unerträglich wird.

Was soll das. Was geschieht. Was wollen diese Menschen. Mein Wagenlenker führt, heimlich, scheint es, Greisinnen und Greise zu mir heran, alte Leute aus Mykenae, die sich mir mit Ehrfurcht, scheint es, nähern. Marpessa, siehst du das. - Ich sehe es, Kassandra. - Ahnst du, was die wollen. - So gut wie du. - Ich will nicht. - Sag es ihnen, doch es wird nichts nützen. - Unser Wagenlenker macht sich zum Sprecher.

Sie wolln von mir das Schicksal ihrer Stadt erfahren.

Arme Menschen.

Wie sie meinen Troern ähneln.

Siehst du, Aineias, das hab ich gemeint: die Wiederholung. Die ich nicht mehr will. Der du dich ausgeliefert hast.

Sag ich denen, ich weiß nichts, werden sie mir nicht glauben. Sag ich, was ich vorausseh, wie es jeder könnte, bringen sie mich um. Das war das schlimmste nicht, doch ihre eigne Königin würde sie dafür strafen. Oder habe ich hier, anders als zuletzt in Troia, keine Überwacher. Sollte ich in der Gefangenschaft frei sein, mich zu äußern. Liebe Feinde. Wer bin ich, daß ich in euch nur die Sieger, nicht auch die, die leben werden, seh. Die leben müssen, damit, was wir Leben nennen, weitergeht. Diese armen Sieger müssen für alle, die sie getötet haben, weiterleben.

Ich sage ihnen: Wenn ihr aufhörn könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehn.

Gestatte eine Frage, Seherin - (Der Wagenlenker.) - Frag. - Du glaubst nicht dran. -

Woran. - Daß wir zu siegen aufhörn können. - Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte. - So ist, wenn Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet, der Untergang in unsere Natur gelegt.

Die Frage aller Fragen. Was für ein kluger Mann.

Komm näher, Wagenlenker. Hör zu. Ich glaube, daß wir unsere Natur nicht kennen. Daß ich nicht alles weiß. So mag es, in der Zukunft, Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen.

In der Zukunft, Seherin. Ich frage nach Mykenae. Nach mir und meinen Kindern.

Nach unserm Königshaus.

Ich schweige. Seh den Leichnam seines Königs, der ausblutet wie ein Stück Vieh beim Schlächter. Es schüttelt mich. Der Wagenlenker, bleich geworden, tritt zurück.

Ihm muß man nichts mehr sagen.

Jetzt bin ich gleich soweit.

Wer war Penthesilea. Klar ist, daß ich ihr nicht gerecht geworden bin, und sie nicht mir. Scharfäugig und scharfzüngig, war sie mir eine Spur zu grell. Jeder Auftritt, jeder Satz eine Herausforderung an jedermann. Sie suchte unter uns nicht nach Verbündeten. Sie kämpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle Männer. Ich sah, Priamos hatte Angst vor ihr, und Eumelos umgab sie mit einem dichten Sicherheitskordon. Doch undurchdringlicher als jeder Abschirmdienst umgab sie der Schauder des gemeinen Volkes vor ihrer Unbedingtheit. Wir ahnten, doch die meisten wollten es nicht wissen: Sie hatte hinter sich, was wir noch vor uns hatten. Lieber kämpfend sterben, als versklavt sein, sagten ihre Frauen, die sie alle in der Hand hielt, mit der Bewegung ihres kleinen Fingers aufstachelte oder beruhigte, wie sie es wollte.

Sie herrschte, wie nur je ein König. Diese Weiber hätten ihre eignen Männer umgebracht, flüsterten entsetzt die braven Troer. Sie seien Ungeheuer mit nur einer Brust, die andre, um den Bogen besser zu bedienen, hätten sie sich im zarten Alter ausgebrannt. Darauf erschienen sie entblößten Oberkörpers in dem Tempel der Athene, mit ihren schönen nackten Brüsten, und mit ihren Waffen. Artemis, sagten sie

- so nannten sie Pallas Athene - trage selbst den Speer; sie wünsche nicht, daß wir entwaffnet zu ihr kämen. Die Priester schickten alle Troer aus dem Tempel und überließen ihn den Kriegerinnen für ihre wilden Rituale. Die töten, wen sie lieben, lieben, um zu töten, sagte Panthoos. Ich traf, merkwürdig genug, Penthesilea und Myrine bei Anchises. Sie duldeten sonst Männer nicht in ihrer Nähe. Anchises, der sie listig und vorurteilsfrei ansah, ließen sie gelten. Alle Frauen, die dort waren, kannte ich. Sie wollten, sagten sie, einander kennenlernen.

Es stellte sich heraus, in vielem warn sie einig. Ich sage »sie«, denn ich hielt mich vorerst zurück. Die bewohnte Welt, soweit sie uns bekannt war, hatte sich immer grausamer, immer schneller gegen uns gekehr t. Gegen uns Frauen, sagte Penthesilea.

Gegen uns Menschen, hielt Arisbe ihr entgegen.

Penthesilea: Die Männer kommen schon auf ihre Kosten.

Arisbe: Du nennst ihren Niedergang zu Schlächtern auf ihre Kosten kommen?

Penthesilea: Sie sind Schlächter. So tun sie, was ihnen Spaß macht.

Arisbe: Und wir? Wenn wir auch Schlächterinnen würden?

Penthesilea: So tun wir, was wir müssen. Doch es macht uns keinen Spaß.

Arisbe: Wir sollen tun, was sie tun, um unser Anderssein zu zeigen!

Penthesilea: Ja.

Oinone: Aber so kann man nicht leben.

Penthesilea: Nicht leben? Sterben schon.

Hekabe: Kind. Du willst, daß alles aufhört.

Penthesilea: Das will ich. Da ich kein andres Mittel kenne, daß die Männer aufhörn.

Da kam die junge Sklavin aus dem Griechenlager zu ihr herüber, kniete vor ihr hin und legte Penthesileas Hände an ihr Gesicht. Sie sagte: Penthesilea. Komm zu uns. -

Zu euch? Was heißt das. - Ins Gebirge. In den Wald. In die Höhlen am Skamander.

Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.

Der Satz der jungen Sklavin traf mich. Sie lebten also. Ohne mich. Sie kannten sich. Das Mädchen, das ich »junge Sklavin« nannte, hieß Killa. Oinone, schien es, die ich nie mehr in Paris' Nähe sah, war mit ihr befreundet, sie paßten zueinander.

Marpessa, die mir diente, schien in jener Welt ausdrücklich Achtung zu genießen.

Ach, dabeisein können! Dieselbe helle Sehnsucht in Myrines Augen. Es war der erste offne Blick, den wir einander gönnten.

Penthesilea: Nein. - Der Funke in Myrines Augen erlosch sofort. Heftig warf ich Penthesilea vor: Du willst sterben, und die ändern zwingst du, dich zu begleiten.

Das ist der zweite Satz, den ich bereue.

Wie! schrie Penthesilea. So kommst du mir! Gerade du: nicht Fisch, nicht Fleisch!

Viel hätte nicht gefehlt, dann warn wir aufeinander losgegangen.

Und alles das hatte ich bis jetzt vergessen. Weil ich die Todessucht bei einer Frau nicht gelten lassen wollte. Und weil ihr Sterben alles, was man vorher über sie gewußt hat, unter sich begrub. Wenn wir geglaubt hatten, der Schrecken könne sich nicht mehr steigern, so mußten wir jetzt einsehn, daß es für die Greuel, die Menschen einander antun, keine Grenzen gibt; daß wir imstande sind, die Eingeweide des ändern zu durchwühlen, seine Hirnschale zu knacken, auf der Suche nach dem Gipfelpunkt der Pein. »Wir« sag ich, und von allen Wir, zu denen ich gelangte, bleibt dies dasjenige, das mich am meisten anficht. »Achill das Vieh« sagt sich um so vieles leichter als dies Wir.

Warum ich stöhne? Marpessa war dabei - du, Marpessa, warst dabei, als Myrine, ein blutiges Bündel, an die Tür der Hütte kratzte, in die wir uns gerettet hatten. Es war todfinster, diese Nacht erhellten keine Feuer, die Toten wurden erst am Morgen eingesammelt. An Myrines Körper gab es keinen Flecken, wo wir sie berühren konnten, ohne daß sie winselte. Ich seh noch das Gesicht der Bäuerin, in deren Hütte wir Schutz fanden, als Myrine vor uns lag und wir ihre Wunden mit einem Kräutersaft betupften. Wir, Marpessa, du und ich, wir hatten keine Tränen. Ich hoffte, daß es schnell zu Ende ginge. Als wir hörten, daß die Griechen auf der Suche nach versprengten Amazonen zum erstenmal in diese Hütten kamen, warfen wir ungesponnene Wolle bergweis auf Myrine in der Ecke, der Berg bewegte sich von ihrem kleinen Atem nicht. Wir hockten in schmutzigen zerrissenen Kleidern um das Feuer, ich weiß noch, daß ich ein Messer schärfte zum Gemüseschneiden und daß der Blick des Griechen, der hereinbrach, zugleich mit meinem Blick auf diesem Messer lag. Dann sahen wir uns an. Er hatte mich verstanden. Er rührte mich nicht an. Nahm, um das Gesicht zu wahren, die Ziege mit, die Anchises geschnitzt hatte und die in einer Wandvertiefung stand. Als nach Wochen in Myrine das Bewußtsein von dem, was geschehen war, erwachte, konnte sie sich nicht verzeihen, daß sie gerettet war.

Außer Penthesileas Namen sagte sie kein Wort. Ja, ich stöhne wieder, wie wir damals stöhnten, wenn wir den Namen dachten oder hörten. Myrine wich ihr in der Schlacht nicht von der Seite. Als Achill sich Penthesilea vornahm, haben fünf Männer Myrine festgehalten, ich sah die Blutergüsse unter ihrer Haut. Andre Frauen, nicht Myrine, haben es uns erzählt. Achill war außer sich vor Staunen, als er im Kampf auf Penthesilea traf. Er begann mit ihr zu spielen, sie stieß zu. Achill soll sich geschüttelt haben, er glaubte wohl, nicht bei Verstand zu sein. Ihm mit dem Schwert begegnen -

eine Frau! Daß sie ihn zwang, sie ernst zu nehmen, war ihr letzter Triumph. Sie kämpften lange, alle Amazonen waren von Penthesilea abgedrängt. Er warf sie nieder, wollte sie gefangennehmen, da ritzte sie ihn mit dem Dolch und zwang ihn, sie zu töten. Dafür, wenn für irgend etwas, sei den Göttern Dank.

Was dann kam, seh ich vor mir, als war ich dabeigewesen. Achill der Griechenheld schändet die tote Frau. Der Mann, unfähig, die Lebendige zu lieben, wirft sich, weiter tötend, auf das Opfer. Und ich stöhne. Warum. Sie hat es nicht gefühlt. Wir fühlten es, wir Frauen alle. Was soll werden, wenn das um sich greift. Die Männer, schwach, zu Siegern hochgeputscht, brauchen, um sich überhaupt noch zu empfinden, uns als Opfer. Was soll da werden. Selbst die Griechen spürten, hier war Achill zu weit gegangen. Und gingen weiter, um ihn zu bestrafen: Schleiften die Tote, um die er nun weinte, mit Pferden übers Feld und warfen sie in den Fluß. Die Frau schinden, um den Mann zu treffen.

Ja. Ja. Ja. Ein Untier war los und raste durch die Lager. Weißäugig, mit entstellten Zügen, raste dem Pulk voran, der Penthesileas Leiche trug und sich auf dem Weg vom Fluß her, wo sie sie herausgezogen hatten, immer mehr vergrößerte. Amazonen, Troerinnen, alles Frauen. Ein Zug zu keinem Ort, den es auf Erden gibt: dem Wahnsinn zu. Kein Grieche ließ sich blicken. Als sie zum Tempel kamen, wo ich den Dienst versah, waren sie nicht mehr kenntlich. Menschenunähnlich, wie die Leiche war, wurden ihre Begleiterinnen. Ich rede nicht von dem Geheul. Sie warn am Ende, und sie wußten es, aber der Bereich, in dem man weiß, war durch das Wissen ausgelöscht. Ihr Wissen war in ihrem Fleisch, das unerträglich schmerzte - das Geheul! -, in ihren Haaren, Zähnen, Fingernägeln, in Mark und Bein. Sie litten über jedes Maß, und solches Leiden hat sein Gesetz in sich. Alles, was daraus entsteht, fällt auf die zurück, die es verursacht haben; so sprach ich später, vor dem Rat. Damals, angesichts der Frauen, angesichts der Leiche brach eine Qual in mir auf, die mich, was immer noch geschah, nicht mehr verließ. Ich lernte wieder lachen, ungeglaubtes Wunder, doch die Qual war da. Wir sind am Ende.

Sie legten Penthesilea unter eine Weide. Ich sollte die Totenklage für sie beginnen.

Das tat ich, leise, mit gebrochner Stimme. Die Frauen, die im Kreis standen, fielen schrill mit ein. Begannen sich zu wiegen. Wurden lauter, zuckten. Eine warf den Kopf, die ändern folgten. Krampfhaft zogen die Körper sich zusammen. Eine taumelte in den Kreis, neben der Leiche begann sie zu tanzen, stampfend, die Arme schleudernd und sich schüttelnd. Ohrenbetäubend wurde das Gekreisch. Die Frau im Kreis verlor die Selbstkontrolle. Schaum trat ihr vor den Mund, der sperrweit aufgerissen war. Zwei, drei, vier andre Frauen waren, ihrer Glieder nicht mehr mächtig, an dem Punkt, da höchster Schmerz und höchste Lust sich treffen. Ich spürte, wie der Rhythmus auf mich überging. Wie in mir der Tanz anfing, eine heftige Versuchung, nun, da nichts mehr helfen konnte, alles, auch mich selber aufzugeben und aus der Zeit zu gehn. Meine Füße gingen lieber aus der Zeit, so hieß der Rhythmus, und ich war dabei, mich ihm ganz zu ergeben. Sollte die Wildnis wieder über uns zusammenschlagen. Sollte das Ungeschiedne, Ungestaltete, der Urgrund, uns verschlingen. Tanze, Kassandra, rühr dich! Ja, ich komme. Alles in mir drängte zu ihnen hin.

Doch da erschien der unglückselge Panthoos. Weg! schrie ich, und zugleich schrie eine Troerin: Ein Grieche! Der Rhythmus fiel in sich zusammen. Scharf, todnüchtern rasten in mir Pläne, ihn zu retten. Die Frauen ablenken, den Mann verstecken. Zu spät.

Eumelos! Nicht da. Warum nicht. Die Sehergabe! Jetzt, Apoll, laß deine Priestrin nicht im Stich, damit dein Priester durchkommt. Ich hob die Arme, schloß die Augen, schrie, so laut ich konnte: Apollon! Apollon!

Panthoos hatte sich schon zur Flucht gewendet. Hätte er gestanden! Mag sein, die Frauen wären mir, nicht ihm gefolgt. Sekundenlang war eine Totenstille. Dann dieser Schrei, Mord- und Verzweiflungsschrei. Sie überrannten mich. Für tot lag ich neben der toten Penthesilea. Schwester. Daß du nicht hören kannst, das neid ich dir. Ich hörte. Das Trommeln der Verfolgerschritte. Ihren Stillstand. Das Zischen, das Iltiszischen. Wie Holz auf Fleisch schlägt. Wie ein Schädel knackt. Und dann die Stille. Penthesilea. Laß uns tauschen. He. Liebchen. Nichts ist süßer als der Tod.

Komm, Freund, und steh mir bei. Ich kann nicht mehr.

Ich sei sehr leicht gewesen, sagte Aineias später. Nein, es habe ihm nichts ausgemacht, mich so weit zu tragen. Daß ich ihn »Freund« genannt und jemanden ganz ändern damit meinte, habe ihm weh getan. Er schwor sich, mich nicht mehr allein zu lassen. Er hat den Schwur gehalten, wann er konnte. Zuletzt habe ich ihn davon freigesprochen.

So kam ich zu den Frauen in den Höhlen, auf Aineias' Armen. Dich mußte man hertragen, haben sie mir später scherzhaft vorgeworfen. Sonst kamst du nicht.

Sonst war ich nicht gekommen? Aus Hochmut nicht? Ich weiß nicht. Schien sich nicht noch einmal alles zu wiederholen? Aus jener frühen Zeit des Wahnsinns? Mein Lager. Die dunklen Wände. Statt des Fensters ein heller Schein vom Eingang her.

Arisbe, hin und wieder. Oinone, beinah immer. Hände wie ihre gibt es sonst nicht auf der Welt. Nein, wahnsinnig war ich nicht, Beschwichtigung war, was ich brauchte.

Ruhe, die nicht Grabesruhe war. Lebendge Ruhe. Liebesruhe.

Sie hinderten mich nicht, daß ich vollkommen in mir selbst verschwand. Nicht sprach. Kaum aß. Mich beinahe nicht bewegte. Zuerst nicht schlief. Mich den Bildern überließ, die sich in meinem Kopf fest eingefressen hatten. Zeit muß vergehen, hörte ich Arisbe sagen. Was sollte diese Zeit mir nützen. Die Bilder wurden blasser.

Stundenlang, glaube ich, strich Oinones leichte Hand mir über meine Stirn. Dazu ihr Murmeln, das ich nicht verstand, nicht zu verstehen brauchte. Ich schlief ein. Aineias saß bei mir, ein Feuer brannte, die Suppe, die Marpessa brachte, war eine Götterspeise. Niemand schonte mich. Niemand tat sich meinetwegen Zwang an.

Anchises, der auch hier zu leben schien, sprach laut wie eh und je und ließ die Höhle von seinem Lachen dröhnen. Gebrechlich wurde nur sein Körper, nicht sein Geist. Er brauchte Widersacher, suchte sich Arisbe, fing an, mit ihr zu streiten, meinte aber mich. Arisbe, mit ihrer Trompetenstimme, dem starren Pferdehaar, dem rotgeäderten Gesicht, gab ihm Bescheid. Das Feuer flackerte die Wände hoch, was waren das für Steine. Ich sagte und war selbst verwundert, wie natürlich meine Stimme klang: Was sind denn das für Steine. Da entstand ein Schweigen, in das meine Stimme paßte; nun hatte sie genau den Raum gefunden, der für sie vorgesehen war.

Was das für Steine waren? Ja sah ich die erst heute? Sie warfen trockne Scheite auf das Feuer, daß ich Licht bekam. Figuren? Ja. Vor undenklichen Zeiten aus dem Stein gehauen. Frauen, wenn ich recht sah. Ja. Eine Göttin in der Mitte, andre, die ihr opfern. Ich erkannte sie jetzt. Blumen lagen vor dem Stein, Wein, Gerstenähren. Killa sagte ehrfürchtig: Kybele. Ich sah Arisbe lächeln.

Abends saß sie bei mir, als die ändern schliefen. Wir sprachen rückhaltlos, freundlich und sachlich. Killa, sagte Arisbe, brauche es, den Stein mit einem Namen zu belegen. Die meisten brauchten es. Artemis, Kybele, Athene, wie auch immer.

Nun, sollten sie es halten, wie sie wollten. Allmählich würden sie vielleicht die Namen, ohne es selbst zu merken, als Gleichnis nehmen. - Du meinst, die Steine stehn für etwas anderes. - Natürlich. Flehst du zum Apoll aus Holz? - Lange schon nicht mehr. Aber wofür stehn die Bilder? - Das fragt sich. Für das, was wir in uns nicht zu erkennen wagen, so scheint es mir. Was ich darüber denke, berede ich mit den wenigsten. Wozu die anderen verletzen. Oder stören. Zeit, wenn wir die hätten.

Auf einmal merkte ich, daß mir mein Herz sehr weh tat. Ich würde wieder aufstehn, morgen schon, mit wiederbelebtem Herzen, das der Schmerz erreichte.

Du meinst, Arisbe, der Mensch kann sich selbst nicht sehen. - So ist es. Er erträgt es nicht. Er braucht das fremde Abbild. - Und darin wird sich nie was ändern? Immer nur die Wiederkehr des Gleichen? Selbstfremdheit, Götzenbilder, Haß? - Ich weiß es nicht. Soviel weiß ich: Es gibt Zeitenlöcher. Dies ist so eines, hier und jetzt. Wir dürfen es nicht ungenutzt vergehen lassen.

Da, endlich, hatte ich mein »Wir«.

Nachts träumte ich, nach so vielen traumlos wüsten Nächten. Farben sah ich. Rot und Schwarz, Leben und Tod. Sie durchdrangen einander, kämpften nicht miteinander, wie ich es, sogar im Traum, erwartet hätte. Andauernd ihre Gestalt verändernd, ergaben sie andauernd neue Muster, die unglaublich schön sein konnten. Sie warn wie Wasser, wie ein Meer. In seiner Mitte sah ich eine helle Insel, der ich, im Traum - ich flog ja; ja, ich flog! - schnell näherkam. Was war dort. Was für ein Wesen. Ein Mensch? Ein Tier? Es leuchtete, wie nur Aineias in den Nächten leuchtet. Welche Freude. Dann Absturz, Windzug, Dunkelheit, Erwachen. Hekabe die Mutter. Mutter, sagte ich. Ich träume wieder. - Steh auf. Komm mit. Du wirst gebraucht. Sie hören nicht auf mich.

Also konnte ich nicht bleiben? Hier, wo mir wohl war. War ich denn gesund! Killa hängte sich an mich, bettelte: Bleib doch! Ich sah Arisbe an, Anchises. Ja, ich mußte gehn.

Hekabe führte mich geraden Weges in den Rat. Nein. Falsch. In jenen Saal, in dem früher Rat gehalten wurde. Wo jetzt, von König Priamos geleitet, Verschwörer beieinanderhockten. Sie wiesen uns zurück. Hekabe erklärte, alle Folgen, die daraus entstünden, daß man uns jetzt nicht einließ, hätten sie selbst zu tragen. Allen voran der König. Der Bote kam zurück: Wir sollten kommen. Aber nur kurz. Man habe keine Zeit. Immer, solange ich denken kann, war im Rat für wichtige Fragen keine Zeit.

Zuerst konnte ich nicht hören, weil ich den Vater sah. Ein verfallner Mann. Kannte er mich? Dämmerte er dahin?

Es ging also um Polyxena. Nein, um Troia. Nein, um Achill das Vieh. Es ging darum, daß Polyxena den Achill in unsern Tempel locken sollte. In den Tempel des thymbraischen Apoll. Unter dem Vorwand, sich ihm zu vermählen. In meinem Kopfe jagten sich Vermutungen. Vermählen? Aber - Keine Sorge. Nur zum Schein. In Wirklichkeit -

Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. In Wirklichkeit würde unser Bruder Paris hinter dem Götterbild, wo er verborgen war, hervorbrechen (hervorbrechen! So sprach Paris selbst!), und er würde Achill da treffen, wo er verletzlich war: an der Ferse. Wieso gerade dort. - Er hatte seinen wunden Punkt der Schwester Polyxena anvertraut. — Und Polyxena? - Spielte mit. Natürlich. Die? sagte Paris frech. Die freut sich drauf.

Das bedeutet, ihr verwendet Polyxena als Lockvogel für Achill.

Breites Grinsen: Du hasts erfaßt. So ist es. Ohne Schuhe, das ist die Bedingung, die sie ihm genannt, wird Achilles in den Tempel kommen.

Rundum Gelächter.

Allein?

Was denkst du denn. Allein. Und wird den Tempel lebend nicht verlassen.

Und Polyxena? Wird ihn dort allein erwarten?

Wenn du von Paris absiehst, sagte Eumelos. Und von uns natürlich. Aber wir stehn draußen.

Und Achill wird also Polyxena dort umarmen.

Zum Schein. Wenn er genügend abgelenkt ist – Lachen -, trifft ihn Paris' Pfeil.

Gelächter.

Und Polyxena ist damit einverstanden.

Einverstanden? Sie ist gierig drauf. Eine wahre Troerin.

Aber warum ist sie nicht hier.

Hier geht es um Einzelheiten. Die sie nichts angehn. Um die kühle Planung. Die sie als Frau nur durcheinanderbrächte.

Ich schloß die Augen, und ich sah die Szene. Mit allen Einzelheiten. Hörte Polyxenas Lachen. Sah den Mord im Tempel - Achill als Leiche, ach! wer lechzte nicht nach diesem Anblick! -, der an Polyxena hängenbliebe.

Ihr benutzt sie.

Wen denn?

Polyxena.

Aber bist du nicht imstande zu begreifen! Um sie geht es nicht. Es geht uns um Achill.

Das ist es, was ich sage.

Da sprach der Vater, der bis jetzt geschwiegen hatte: Schweig, Kassandra. -

Zornig, böse. - Ich sagte: Vater -

Komm mir nicht mehr mit »Vater«. Viel zu lange ließ ich dich gewähren. Gut, dachte ich, sie ist empfindlich. Gut, sie sieht die Welt nicht, wie sie ist. Sie schwebt ein bißchen in den Wolken. Nimmt sich wichtig, das tun Frauen gern. Ist verwöhnt, kann sich nicht fügen. Überspannt. Bildet sich was ein. Worauf denn, Tochter. Kannst du mir das sagen? Immer die Nase hoch? Und mit dem Mundwerk vorneweg? Und die verachten, die für Troia kämpfen? Ja kennst du unsre Lage überhaupt. Und wenn du diesem unsern Plan, Achill, den schlimmsten Feind, zu töten, jetzt nicht zustimmst

- weißt du, wie ich das nenne? Feindbegünstigung.

So eine Stille um mich, in mir. Wie jetzt. Wie hier.

Der Vater sagte noch, sofort solle ich den Plänen, die zur Verhandlung stünden, nicht nur zustimmen; ich solle mich verpflichten, über sie zu schweigen und, wenn sie ausgeführt, sie gegen jedermann ausdrücklich zu verteidigen.

Dies also war, doch unverhofft, der Augenblick, den ich gefürchtet hatte.

Unvorbereitet war ich nicht, warum war es so schwer. Hastig, unheimlich schnell erwog ich, daß sie im Recht sein könnten. Was heißt im Recht. Daß das Recht -

Polyxenas Recht, mein Recht - gar nicht zur Sprache stand, weil eine Pflicht, die, unsern schlimmsten Feind zu töten, das Recht verschlang. Und Polyxena? Sie ging zugrund, daran war nicht zu zweifeln. Sie war schon aufgegeben.

Nun, Kassandra. Nicht wahr, du bist vernünftig.

Ich sagte: Nein.

Du stimmst nicht zu?

Nein.

Aber du wirst schweigen.

Nein, sagte ich. Angstvoll umfaßte Hekabe die Mutter meinen Arm. Sie wußte, was jetzt kam, ich auch. Der König sagte: Nehmt sie fest.

Die Hände wieder, die mich packten, nicht zu hart, nur soviel, um mich abzuführen. Männerhände eben. Keine Erlösung durch Ohnmacht oder durch Gesichte. Im Weggehn drehte ich mich um, mein Blick traf Bruder Paris. Er wollte nicht schuld sein, aber was sollte er denn machen. Hatten sie ihn nicht wegen seines Fehlers mit Helena für immer in der Hand? Schwach, Bruder, schwach. Ein Schwächling. Übereinstimmungssüchtig. Sieh dich bloß im Spiegel an. - Mit diesem letzten Blick durchschaute ich ihn ganz, und er sich auch, doch das ertrug er nicht.

Eilfertiger als jeder andre trieb er die Wahnsinnstat, die nicht mehr aufzuhalten war, voran. Als Achillbezwinger soll er sich dann gespreizt vor Volk und Truppe haben vorführn lassen. Paris, unser Held! Das konnte seine Selbstverachtung nicht mindern, die unheilbar war.

Mich haben sie bei tiefster Dunkelheit in aller Stille an einen Ort geführt, der mir schon immer unheimlich und bedrohlich war: das Heldengrab. So hieß es bei uns, und wir Kinder haben es für unsre Mutproben gebraucht. Es lag abseits, in einem vorgeschobenen und verlassenen Teil der Festung, dicht an der Mauer, manchmal hörte ich, als mein Ohr unglaublich geschärft war, wie die Wachen patrouillierten. Die wußten nicht, daß ich da unten saß, es wußte keiner, außer den beiden Eumelos-Vertrauten, die mich hergeschleppt (ja, Andron war dabei, der schöne Andron), und jenen beiden wüsten Weibern, die mir zu essen brachten. Figuren wie die zwei hatt ich in Troia nie gesehn. Aus dem untersten Grund, dorther, wohin die sinken, die sich aufgegeben haben, mußte jemand diese beiden, extra für mich, herausgelangt haben.

Strafverschärfend, meinte ich zuerst, und ertappte mich sogar bei dem unsinnigen Gedanken: Wenn das der Vater wüßte -. Bis die Stimme der Vernunft in mir ironisch fragte: Was dann? Kam ich dann hier raus? Brächten sie andre Weiber? Beßres Essen?

Nein.

Unaufhörlich, von der ersten Stunde an, arbeitete ich an dem Weidengeflecht, mit dem die runde Höhlung, in deren Mitte ich knapp stehen konnte, ausgekleidet war.

Wie jetzt fand ich eine dünne lockere Gerte, zog sie - ach! Stunden, vielleicht Tage hat es mich gekostet - aus dem Flechtwerk, und ging daran - wie ich es jetzt seit mehr als einer Stunde tue (doch der Weidenkorb, in dem ich sitze, ist neuer, sein Geflecht nicht so vermodert und verfilzt) -, gehe daran, sie ganz und gar, soweit sie eben reicht, herauszulösen. Verfiel, verfalle in einen Eifer, als hinge mein Leben davon ab. Zuerst, als ich zu meinem Glück noch wie betäubt und fühllos war (dies konnte man mir doch nicht antun; mir doch nicht; doch nicht der Vater), da hielt ich mich noch für lebendig eingegraben; denn ich wußte ja nicht, wo ich war, und den Einschlupf, durch den man mich hereingelassen, hatte man, wie ich hörte, hinter mir sorgfältig zugemauert.

Dieser Gestank, der mich anfiel. Das gab es nicht. Wo war ich. Wie lange braucht ein Mensch, bis er verhungert. Ich kroch im Staub umher - was, Staub; ekelhafter Moder.

War mein Behältnis rund? Rund und mit Weidengeflecht ausgekleidet und, da es keinen Lichtstrahl durchließ, auch nicht, als Tag und Nacht und wieder Tag doch wohl vorüber waren, wahrscheinlich außen dick mit Lehm beworfen. So dacht ichs mir. Und hatte recht. Schließlich fand ich Knochen und wußte, wo ich war. Jemand winselte: Jetzt nicht den Verstand verlieren, jetzt nicht -. Meine Stimme.

Ich blieb bei Verstand.

Nach einer langen Zeit dann dieses Schaben. Diese Klappe, die sich - ich sah ja nichts! mühsam hab ichs herausgefunden - in Bodennähe öffnete. Der Napf, der her-eingeschoben wurde, den ich umwarf, indem ich nach ihm tastete (das Wasser umwarf!), dann der Gerstenfladen. Dazu zum erstenmal das unflätige Gekreisch des einen dieser Weiber.

Das war die Unterwelt. Doch ich war nicht begraben. Sollte nicht Hungers sterben.

War ich enttäuscht?

Ich brauchte nur die Nahrung zu verweigern.

Es wäre leicht gewesen. Kann sein, sie hatten es erwartet. Nach zwei, drei Tagen, glaub ich, fing ich an zu essen. Und in den langen Zwischenzeiten - ich schlief kaum -

zerrte, zupfte, bog und riß ich an der Weide. Etwas, das stärker war als alles, riß an mir. Ich dachte viele Tage nur das eine: Einmal muß es doch vorüber sein.

Was denn.

Ich weiß noch: Plötzlich hielt ich ein, saß lange ohne mich zu rühren, von der Einsicht wie vom Blitz getroffen: Das ist der Schmerz.

Es war der Schmerz, den ich doch zu kennen glaubte. Jetzt sah ich: Bisher hatte er mich kaum gestreift. Wie man den Felsen nicht erkennt, der einen unter sich begräbt, und nur die Wucht des Anpralls spürt, so drohte mich der Schmerz um den Verlust all dessen, was ich »Vater« nannte, zu erdrücken. Daß ich ihn nennen konnte, daß er auf den Namen hörte, gab mir einen Hauch von Luft. Einmal mußte er doch vorübergehn.

Ewig hält sich nichts. Dies war der zweite Hauch von Erleichterung, obwohl, Erleichterung ist schon zu viel gesagt. Es gibt einen Schmerz, der nicht mehr weh tut, weil er alles ist. Luft. Erde. Wasser. Jeder Bissen. Und jeder Atemzug, jede Bewegung. Nein, es ist unbeschreiblich. Ich sprach nie darüber. Niemand fragte mich danach.

Die Weide. Jetzt hab ich sie losgemacht. Jetzt hab ich sie in der Hand. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern. Ich versteck sie. Niemand wird sie finden. Der Baum, von dem sie abgeschnitten wurde, wuchs am Fluß Skamander. Als der Schmerz mich losließ, fing ich an zu sprechen. Mit den Mäusen, die ich fütterte. Mit einer Schlange, die in einer Höhlung lebte und sich mir um den Hals schlang, wenn ich schlief. Dann mit dem Lichtstrahl, der durch die winzige Öffnung, aus der die Weidengerte ausgebrochen war, hereindrang. Das Pünktchen Licht gab mir den Tag zurück. Dann sprach ich, was sie gar nicht kannten, mit den Weibern. Sie warn der Auswurf Troias, während ich, über jedes Maß bevorzugt, über ihnen im Palast gewandelt war. Ihre rüde Schadenfreude war verständlich. Ich merkte, daß sie mich nicht verletzen konnten. Sie merktens auch. Oh, was für Wörter sie mich lehrten. Sie spuckten nach mir, aus dem Schacht heraus, durch den sie auf dem Bauche krochen, um mir durch diese Luke den Fraß zuzuschieben, auf den ich, je länger man mich festhielt, um so gieriger schon wartete. Ich wußte nicht, ob sie mich überhaupt verstanden. Ich erfragte ihre Namen. Gellendes Gelächter. Ich sagte meinen. Höhnisches Gekreisch.

Die eine, jüngere, wenn ich der Stimme trauen konnte, spuckte mir in den Wassernapf. Ich mußte lernen, daß nicht jeder Mensch, den man zum Tier herabgewürdigt hatte, imstande ist, den Weg zurück zu gehn. Die Weiber wurden mir gefährlicher als vorher. Ich fing an, vor ihnen Angst zu haben.

Eines Tages schabte die Klappe außerhalb der Essenszeit. Vergeblich wartete ich auf Gekreisch. Eine gepflegte Männerstimme — das gab es! - sprach zu mir. Andron.

Der schöne Andron. Hier, Kassandra. Als begegneten wir uns an der Tafel im Palast.

Komm her. Nimm das. Was gab er mir da. Etwas Hartes, Scharfes. Mit fliegenden Fingern tastete ich es ab. Erkannte ich es? Oh, diese schöne Stimme, triumphgeschwellt. Ja: Es war das Schwertgehänge des Achilles. An das man, wie ich mir denken könne, nur herankam, wenn man seinen Träger getötet hatte. Ja: Alles war nach Plan verlaufen. Ja: Der Griechenheld Achill war tot.

Und Polyxena? Bitte! Polyxena!

Knapp, allzu knapp: Sie lebt.

Die Klappe fiel, ich blieb allein, jetzt kam das schwerste.

Achill das Vieh war tot. Der Anschlag war geglückt. Wäre es nach mir gegangen, das Vieh war noch am Leben. Sie hatten recht behalten. Wer Erfolg hat, behält recht.

Aber hatte ich nicht von Anfang an gewußt, daß ich nicht im Recht war? So. Also hatte ich mich einsperren lassen, weil ich zu stolz war, ihnen nachzugeben?

Nun, ich hatte Zeit. Ich konnte Wort für Wort und Schritt für Schritt, Gedanke um Gedanke den Fall noch einmal durchgehn. Zehn-, hundertmal habe ich vor Priamos gestanden, hundertmal versucht, auf sein Gebot, ihm zuzustimmen, mit Ja zu antworten. Hundertmal habe ich wieder nein gesagt. Mein Leben, meine Stimme, mein Körper gaben keine andre Antwort her. Du stimmst nicht zu? Nein. Aber du wirst schweigen. Nein. Nein. Nein. Nein.

Sie hatten recht, und mein Teil war, nein zu sagen.

Endlich, endlich verstummten diese Stimmen. Einmal hab ich in meinem Korb vor Glück geweint. Das jüngere der Weiber schob auf dem Gerstenfladen etwas herein, das meine Finger gleich erkannten, noch eh mein Kopf den Namen formen konnte: Anchises! Holz! Eins seiner Tiere. Ein Schaf? Ein Lämmchen? Draußen sah ich dann: Es war ein kleines Pferd. Myrine schickte es. Sie hat, ich weiß nicht, wie, das junge Wächterweib beredet. Das, übrigens, hat mich seitdem nicht wieder angebellt. Ach ich vergaß zu essen über dem Stückchen Holz. Sie wußten, wo ich war. Sie hatten mich nicht vergessen. Ich würde leben und bei ihnen sein. Wir würden uns nicht mehr verlieren, bis, was nicht mehr aufzuhalten war, geschah, der Untergang von Troia.

So kam es auch. Als ich heraus war, lebte ich lange, weil ich kein Licht vertrug, mit den Händen vor den Augen, und am liebsten in den Höhlen. Myrine, die nicht von mir wich, hat mich gezwungen, nach und nach ins Licht zu sehen. Bis auf das letzte Mal sprachen wir nicht von Penthesilea, nicht von ihren eignen Wunden. Ich sah sie nackt. Sie war von Narben überdeckt. Meine Haut war glatt, bis jetzt, zum Ende. Ich hoffe, sie verstehn ihr Handwerk, dann genügt ein Schnitt. Das war die Zeit, da durfte mich nur eine Frau berühren. Aineias kam, er saß bei mir, er streichelte die Luft über meinem Kopf. Ich liebte ihn mehr als mein Leben. Er lebte nicht bei uns, wie manche jungen Männer, die an Körper oder Seele durch den Krieg beschädigt waren. Sie kamen wie die Schatten, unser pralles Leben gab ihnen Farbe, Blut, auch Lust zurück.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Bilder. Den Ida-Berg in wechselnder Beleuchtung. Die Hänge mit den Höhlen. Den Skamander, seine Ufer. Das war uns die Welt, schöner kann keine Landschaft sein. Die Jahreszeiten. Der Geruch der Bäume. Und unser ungebundnes Dasein, eine neue Freude jeder neue Tag. Bis hierher reichte die Zitadelle nicht. Sie konnten nicht zugleich den Feind und uns bekämpfen.

Sie ließen uns, nahmen von uns die Früchte, die wir ernteten, die Stoffe, die wir webten. Wir lebten selber arm. Wir sangen viel, kann ich mich erinnern. Redeten viel, abends am Feuer in Arisbes Höhle, in der die Wandfigur der Göttin wie lebendig war.

Killa und andre Frauen beteten zu ihr und legten Opfergaben nieder. Niemand hinderte sie daran. Wir drängten denen, die eine feste Hoffnung brauchten, nicht unser Wissen auf, daß wir verloren waren. Doch unsre Heiterkeit, die niemals ihren dunklen Untergrund verlor, war nicht erzwungen. Wir hörten nicht auf, zu lernen. Jede gab der anderen von ihrem ganz besonderen Wissen ab. Ich lernte Töpfe machen, Tongefäße.

Ich erfand ein Muster, mit dem ich sie bemalte, schwarz und rot. Wir erzählten uns unsre Träume, viele staunten, wieviel sie uns verraten. Oft aber, eigentlich am meisten, redeten wir über die, die nach uns kämen. Wie sie wären. Ob sie uns noch kennten. Ob sie, was wir versäumt, nachholen würden, was wir falsch gemacht, verbessern. Wir zerbrachen uns die Köpfe, wie wir ihnen eine Botschaft hinterlassen könnten, doch wir waren der Schrift nicht mächtig. Wir ritzten Tiere, Menschen, uns, in Felsenhöhlen, die wir, eh die Griechen kamen, fest verschlossen. Wir drückten unsre Hände nebeneinander in den weichen Ton. Das nannten wir, und lachten dabei, uns verewigen. Es wurde daraus ein Berührungsfest, bei dem wir, wie von selbst, die andere, die anderen berührten und kennenlernten. Wir waren gebrechlich. Da unsre Zeit begrenzt war, konnten wir sie nicht vergeuden mit Nebensachen. Also gingen wir, spielerisch, als war uns alle Zeit der Welt gegeben, auf die Hauptsache zu, auf uns. Zwei Sommer und zwei Winter.

Im ersten Winter schickte Hekabe, die manchmal kam und still dasaß, uns Polyxena. Sie hatte den Verstand verloren. Sie war irr geworden vor Angst. Wir fanden heraus, daß sie nur Weiches um sich ertrug, leichte Berührung, Dämmerlicht, gedämpfte Töne. Achill, erfuhren wir, hatte sterbend, im Tempel, Odysseus das Versprechen abgenommen, Polyxena, die ihn verraten hatte, nach der Griechen Sieg auf seinem Grab zu opfern. Ihr Antlitz war zerstört, doch wenn sie ganz von ferne eine Flöte hörte, konnte sie lächeln.

Im ersten Frühling schickte Priamos nach mir. Ich ging und merkte, in den Straßen Troias kannte man mich nicht. Das war mir recht. Der Vater, der Gewesenes mit keinem Wort erwähnte, teilte trocken mit, da sei ein neuer möglicher Verbündeter, wie hieß er doch: Euryplos. Mit einer frischen Truppe, nicht zu verachten. Doch der wollte, wenn er mit uns kämpfen sollte, mich zur Frau.

Wir schwiegen etwas, dann wollte der König wissen, was ich dazu sage. Ich sagte: Warum nicht. Der Vater weinte schwächlich. Zornig hatte ich ihn lieber. Euryplos kam, es gab schlimmere. Er fiel am Tage nach der ersten Nacht mit mir, in einem der Verlegenheitsgefechte, die die Griechen führten, weil sie die Stadt nicht nehmen konnten. Ich ging wieder zum Skamandros, niemand verlor ein Wort über mein kurzes Wegsein. Im letzten Kriegsjahr war kaum eine Frau in Troia schwanger, neidisch, mitleidig, traurig besahen viele meinen Bauch. Als die Zwillinge geboren wurden - es war schwer, ich lag in Arisbes Höhle, einmal rief ich zur Göttin: Kybele hilf! -, hatten sie viele Mütter. Und Aineias war ihr Vater.

Alles, was man erleben muß, habe ich erlebt.

Marpessa legt mir ihre beiden Hände an den Rücken. Ja, ich weiß. Bald kommen sie. Einmal will ich dieses Licht noch sehen. Das Licht, das ich gemeinsam mit Aineias sah, sooft wir konnten. Das Licht der Stunde, eh die Sonne untergeht. Wenn jeder Gegenstand aus sich heraus zu leuchten anfängt und die Farbe, die ihm eigen ist, hervorbringt. Aineias sagte: Um sich vor der Nacht noch einmal zu behaupten. Ich sagte: Um den Rest von Licht und Wärme zu verströmen und dann Dunkelheit und Kälte in sich aufzunehmen. Wir mußten lachen, als wir merkten, daß wir im Gleichnis sprachen. So lebten wir, in der Stunde vor der Dunkelheit. Der Krieg, unfähig sich noch zu bewegen, lag schwer und matt, ein wunder Drachen, über unsrer Stadt. Seine nächste Regung mußte uns zerschmettern. Ganz plötzlich, von einem Augenblick zum ändern, konnte unsre Sonne untergehn. Liebevoll und genau haben wir ihren Gang an jedem unsrer Tage, die gezählt waren, verfolgt. Mich erstaunte, daß eine jede von den Frauen am Skamander, so sehr verschieden wir auch voneinander waren, fühlte, daß wir etwas ausprobierten. Und daß es nicht darauf ankam, wieviel Zeit wir hatten. Oder ob wir die Mehrzahl unsrer Troer, die selbstverständlich in der düstern Stadt verblieben, überzeugten. Wir sahn uns nicht als Beispiel. Wir waren dankbar, daß gerade wir das höchste Vorrecht, das es gibt, genießen durften, in die finstere Gegenwart, die alle Zeit besetzt hält, einen schmalen Streifen Zukunft vorzuschieben.

Anchises, der nicht müde wurde, uns vorzuhalten, das sei immer möglich; der zusehends schwächer wurde und nicht mehr an seinen Körben weiterflechten konnte; oft liegen mußte, aber weiter Lehren austeilte, die beweisen sollten, daß der Geist dem Körper über ist; der weiter mit Arisbe stritt, die er Große Mutter nannte (sie war noch massiger geworden, hüftlahm, überbrückte mit ihrer Trompetenstimme die Entfernung, die sie nicht mehr laufen konnte) - Anchises war es, glaube ich, der von ganzem Herzen unser Leben in den Höhlen liebte, ohne Vorbehalt, ohne Trauer und Bedenken. Der sich einen Traum erfüllte und uns Jüngre lehrte, wie man mit beiden Beinen auf der Erde träumt.

Dann war es vorbei. Ich erwachte eines Mittags unter der Zypresse, unter der ich oft die heiße Tageszeit verbrachte, mit dem Gedanken: Trostlos. Wie alles trostlos ist.

Das Wort kam wieder, riß in mir jedesmal den Abgrund auf.

Dann kam ein Bote zu Oinone: Paris sei verwundet. Verlange nach ihr. Sie müsse ihn retten. Wir sahen zu, wie sie den Korb mit Krautern, Binden und Tinkturen richtete. Gebeugt, ihr schöner weißer Hals, der kaum den Kopf noch tragen konnte. Paris hatte sie ja von sich abgetan, als er die vielen Mädchen brauchte. Ein Gram um diesen Mann war in sie eingefressen, nicht ihretwegen, seinetwegen : Sie verwand nicht, wie er sich veränderte. Sie blieb, wie die Natur, im Wechsel immer gleich. Fremd kam sie zurück. Paris war tot. Die Tempelärzte hatten sie zu spät gerufen. Qualvoll, am Wundbrand, war er eingegangen. Wieder eine, dacht ich, die mit diesem starren Blick geschlagen ist. Ich, die Schwester, sollte zu Paris' Totenfeier kommen. Das tat ich, wollte Troia wiedersehn und fand ein Grab. Und Totengräber die Bewohner, alle; die nur noch lebten, um mit düsterm Pomp in jedem Toten sich selber zu bestatten. Die Begräbnisregeln, die die Priester immer mehr erweiterten und die peinlich einzuhalten waren, fraßen den Alltag auf. Gespenster trugen ein Gespenst zu Grabe.

Unwirklicheres hatte ich nie gesehn. Und am schauerlichsten war die Gestalt des Königs, die, den verfallnen Leib in Purpur eingehüllt, von vier kräftigen jungen Kerlen vor dem Zug getragen wurde.

Es war vorbei. Am Abend, auf der Mauer, hatte ich die Unterhaltung mit Aineias, nach der wir uns trennten. Myrine wich nicht mehr von mir. Sicher ist es eine Täuschung, daß das Licht über Troia in den letzten Tagen fahl war. Fahl die Gesichter. Vage, was wir sagten.

Wir warteten.

Der Zusammenbruch kam schnell. Das Ende dieses Krieges war seines Anfangs wert, schmählicher Betrug. Und meine Troer glaubten, was sie sahn, nicht, was sie wußten. Daß die Griechen abziehn würden! Und dieses Monstrum vor der Mauer stehenließen, das alle Priester der Athene, der das Ding geweiht sein sollte, eilfertig

»Pferd« zu nennen wagten. Also war das Ding ein »Pferd«. Warum so groß? Wer weiß. Ebenso groß wie die Ehrfurcht der geschlagnen Feinde vor Pallas Athene, die unsre Stadt beschützte.

Holt das Pferd herein.

Das ging zu weit, ich traute meinen Ohren nicht. Zuerst versuchte ich es sachlich: Seht ihr nicht, das Pferd ist viel zu groß für jedes unsrer Tore.

So erweitern wir die Mauer.

Jetzt rächte sich, daß sie mich kaum noch kannten. Der Schauder, der an meinem Namen hing, war schon verblaßt. Die Griechen haben ihn mir wieder angehängt. Die Troer lachten über mein Geschrei. Die ist verrückt. Los, brecht die Mauer auf! Nun holt doch schon das Pferd! Heftiger als jeder andre Trieb war ihr Bestreben, dies Siegeszeichen bei sich aufzustellen. So wie die Leute, die in irrem Taumel den Götzen in die Stadt beförderten, sahn keine Sieger aus. Ich fürchtete das schlimmste, nicht, weil ich den Plan der Griechen Zug um Zug durchschaute, sondern weil ich den haltlosen Übermut der Troer sah. Ich schrie, bat, beschwor und redete in Zungen. Zum Vater kam ich nicht, der sei unpäßlich.

Eumelos. Vor dem stand ich wieder. Sah das Gesicht, welches man von Mal zu Mal vergißt und das daher von Dauer ist. Ausdruckslos. Ehern. Unbelehrbar. Selbst wenn er mir glaubte - er würde sich den Troern nicht entgegenstellen. Sich vielleicht.erschlagen lassen. Der überlebte nämlich. Und die Griechen würden ihn gebrauchen. Wohin wir immer kämen, dieser war schon da. Und würde über uns hinweggehn.

Jetzt verstand ich, was der Gott verfügte: Du sprichst die Wahrheit, aber niemand wird dir glauben. Hier stand der Niemand, der mir hätte glauben müssen; der das nicht konnte, weil er gar nichts glaubte. Ein Niemand, der nicht glaubensfähig war.

Da habe ich den Gott Apoll verflucht.

Was in der Nacht geschah, die Griechen werden es erzählen, auf ihre Art. Myrine war die erste. Dann Schlag auf Schlag und Hieb auf Hieb und Stich auf Stich. Blut floß durch unsre Straßen, und der Jammerton, den Troia ausstieß, hat sich in meine Ohren eingegraben, ich habe ihn seitdem bei Tag und Nacht gehört. Nun wird man mich von ihm befrein. Als sie mich aus Angst vor Götterbildern später fragten: ob es denn wahr sei, daß Klein Aias mich an der Athene-Statue vergewaltigt hätte, habe ich geschwiegen. Es war nicht bei der Göttin. Es war im Heldengrab, in dem wir Polyxena zu verstecken suchten, die laut schrie und sang. Wir, ich und Hekabe, stopften ihr den Mund mit Werg. Die Griechen suchten sie, im Namen ihres größten Helden, des Viehs Achill. Und sie haben sie gefunden, weil ihr Freund, der schöne Andron, sie verriet. Gegen seinen Willen, brüllte er, aber was hätte er denn machen sollen, da sie ihn doch mit Tod bedrohten. Laut lachend hat Klein Aias ihn erstochen.

Polyxena war auf einmal ganz bei Sinnen. Töte mich, Schwester, bat sie leise. Ach ich Unglückselige. Den Dolch, den Aineias mir am Ende aufgedrängt, hatte ich hochfahrend weggeworfen. Nicht für mich, für die Schwester hätt ich ihn gebraucht.

Als sie sie wegschleiften, war Klein Aias über mir. Und Hekabe, die sie festhielten, stieß Flüche aus, die ich noch nie gehört hatte. Eine Hündin, schrie Klein Aias, als er mit mir fertig war. Die Königin der Troer eine heulende Hündin.

Ja. So war es.

Und jetzt kommt das Licht.

Als ich mit Aineias auf der Mauer stand, zum letztenmal das Licht betrachten, kam es zwischen uns zum Streit. Daran zu denken, habe ich bis jetzt vermieden. Aineias, der mich nie bedrängte, der mich immer gelten ließ, nichts an mir biegen oder ändern wollte, bestand darauf, daß ich mit ihm ging. Er wollte es mir befehlen. Unsinnig sei es, sich in den Untergang hineinzuwerfen, der nicht aufzuhalten sei. Ich sollte unsre Kinder nehmen - er sagte: unsre Kinder! - und die Stadt verlassen. Ein Trupp von Troern habe sich dazu bereitgefunden, und nicht die schlechtesten. Mit Vorräten versehen und bewaffnet. Und entschlossen, sich durchzuschlagen. Ein neues Troia irgendwo zu gründen. Von vorne anzufangen. Meine Anhänglichkeit in Ehren. Doch nun sei es genug.

Du mißverstehst mich, sagte ich zögernd. Nicht Troias wegen muß ich bleiben, Troia braucht mich nicht. Sondern um unsretwillen. Um deinet- und um meinetwillen.

Aineias. Lieber. Du hast mich verstanden, lange eh du's zugabst. Es war ja klar: Allen, die überlebten, würden die neuen Herren ihr Gesetz diktieren. Die Erde war nicht groß genug, ihnen zu entgehn. Du, Aineias, hattest keine Wahl: Ein paar hundert Leute mußtest du dem Tod entreißen. Du warst ihr Anführer. Bald, sehr bald wirst du ein Held sein müssen.

Ja! hast du gerufen. Und ? - An deinen Augen sah ich, du hattest mich begriffen.

Einen Helden kann ich nicht lieben. Deine Verwandlung in ein Standbild will ich nicht erleben.

Lieber. Du hast nicht gesagt, das werde dir nicht passieren. Oder: Ich könnte dich davor bewahren. Gegen eine Zeit, die Helden braucht, richten wir nichts aus, das wußtest du so gut wie ich. Du hast den Schlangenring ins Meer geworfen. Du würdest weit, sehr weit gehen müssen, und was vorn ist, würdest du nicht wissen.

Ich bleibe zurück.

Der Schmerz soll uns an uns erinnern. An ihm werden wir uns später, wenn wir uns wiedertreffen, falls es ein Später gibt, erkennen.

Das Licht erlosch. Erlischt.

Sie kommen.

Hier ist es. Diese steinernen Löwen haben sie angeblickt. Im Wechsel des Lichts scheinen sie sich zu rühren.

Die Autorin

Christa Wolf wurde am 18. März 1929 als Tochter eines Kaufmanns in Landsberg/Warthe geboren. Sie studierte in Jena und Leipzig Germanistik, arbeitete als Verlagslektorin und lebt heute als freie Schriftstellerin in Berlin. Ihr umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk ist mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet worden.


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