Anfang der neunziger Jahre mußte unser Freund Knulp einmal mehrere Wochen im Spital liegen, und als er entlassen wurde, war es Mitte Februar und scheußliches Wetter, so daß er schon nach wenigen Wandertagen wieder Fieber spürte und auf ein Unterkommen bedacht sein mußte. An Freunden hat es ihm nie gefehlt, und er hätte fast in jedem Städtchen der Gegend leicht eine freundliche Aufnahme gefunden. Aber darin war er sonderbar stolz, so sehr, daß es eigentlich für eine Ehre gelten konnte, wenn er von einem Freund etwas annahm.
Diesmal war es der Weißgerber Emil Rothfuß in Lächstetten, dessen er sich erinnerte und an dessen schon verschlossener Haustüre er abends bei Regen und Westwind anklopfte. Der Gerber tat den Fensterladen im Oberstock ein wenig auf und rief in die dunkle Gasse hinunter: »Wer ist draußen? Hat’s nicht auch Zeit, bis es wieder Tag ist?«
Knulp, als er die Stimme des alten Freundes hörte, wurde trotz aller Müdigkeit sofort munter. Er erinnerte sich an ein Verschen, das er vor Jahren gemacht hatte, als er einmal vier Wochen mit Emil Rothfuß zusammen gewandert war, und sang alsbald am Hause hinauf:
»Es sitzt ein müder Wandrer In einer Restauration, Das ist gewiß kein andrer Als der verlorne Sohn.«
Der Gerber stieß den Laden heftig auf und beugte sich weit aus dem Fenster.
»Knulp! Bist du’s oder ist’s ein Geist?«
»Ich bin’s!« rief Knulp. »Du kannst aber auch über die Stiege herunter kommen, oder muß es durchs Fenster sein?«
Mit froher Eile kam der Freund herab, tat die Haustüre auf und leuchtete dem Ankömmling mit der kleinen rauchenden Öllampe ins Gesicht, daß er blinzeln mußte.
»Jetzt aber herein mit dir!« rief er aufgeregt und zog den Freund ins Haus. »Erzählen kannst du später. Es ist noch was vom Nachtessen übrig, und ein Bett kriegst du auch. Lieber Gott, bei dem Sauwetter! Ja, hast du denn auch gute Stiefel, du?«
Knulp ließ ihn fragen und sich wundern, schlug auf der Treppe sorgfältig die umgelitzten Hosenbeine herab und stieg mit Sicherheit durch die Dämmerung empor, obwohl er das Haus seit vier Jahren nimmer betreten hatte.
Im Gang oben, vor der Wohnstubentüre, blieb er einen Augenblick stehen und hielt den Gerber, der ihn eintreten hieß, an der Hand zurück.
»Du,« sagte er flüsternd, »gelt, du bist ja jetzt verheiratet?«
»Ja, freilich.«
»Eben drum. – Weißt du, deine Frau kennt mich nicht; es kann sein, sie hat keine Freude. Stören mag ich euch nicht.«
»Ach was stören!« lachte Rothfuß, tat die Türe weit auf und drängte Knulp in die helle Stube. Da hing über einem großen Eßtisch an drei Ketten die große Petroleumlampe, ein leichter Tabaksrauch schwebte in der Luft und drängte in dünnen Zügen nach dem heißen Zylinder hin, wo er hastig emporwirbelte und verschwand. Auf dem Tisch lag eine Zeitung und eine Schweinsblase voll Rauchtabak, und von dem kleinen schmalen Kanapee an der Querwand sprang mit halber und verlegener Munterkeit, als sei sie in einem Schlummer gestört worden und wolle es nicht merken lassen, die junge Hausfrau auf. Knulp blinzelte einen Augenblick wie verwirrt am scharfen Licht, sah der Frau in die hellgrauen Augen und gab ihr mit einem höflichen Kompliment die Hand.
»So, das ist sie,« sagte der Meister lachend. »Und das ist der Knulp, mein Freund Knulp, weißt du, von dem wir auch schon gesprochen haben. Er ist natürlich unser Gast und kriegt das Gesellenbett. Es steht ja doch leer. Aber zuerst trinken wir einen Most miteinander, und der Knulp muß was zu essen haben. Es war doch noch eine Leberwurst da, nicht?«
Die Meisterin lief hinaus, und Knulp sah ihr nach.
»Ein bißchen erschrocken ist sie doch,« meinte er leise. Aber Rothfuß wollte das nicht zugeben.
»Kinder habet ihr noch keine?« fragte Knulp.
Da kam sie schon wieder herein, brachte auf einem Zinnteller die Wurst und stellte das Brotbrett daneben, das in seiner Mitte einen halben Laib Schwarzbrot trug, sorglich mit dem Anschnitt nach unten gestellt, und um dessen Ründung im Kreise die erhaben geschnitzte Inschrift lief: Gib uns heute unser täglich Brot.
»Weißt du, Lis, was der Knulp mich gerade gefragt hat?«
»Laß doch!« wehrte dieser ab. Und er wandte sich lächelnd an die Hausfrau: »Also, ich bin so frei, Frau Meisterin.«
Aber Rothfuß ließ nicht nach.
»Ob wir denn keine Kinder haben, hat er gefragt.«
»Ach was!« rief sie lachend und lief sogleich wieder davon.
»Ihr habet keine?« fragte Knulp, als sie draußen war.
»Nein, noch keine. Sie läßt sich Zeit, weißt du, und für die ersten Jahre ist es auch besser. Aber greif zu, gelt, und laß dir’s schmecken!«
Nun brachte die Frau den grau und blauen, steingutenen Mostkrug herein und stellte drei Gläser dazu auf, die sie alsbald vollschenkte. Sie machte es geschickt, Knulp sah ihr zu und lächelte.
»Zum Wohl, alter Freund!« rief der Meister und streckte Knulp sein Glas entgegen. Der war aber galant und rief: »Zuerst die Damen. Ihr wertes Wohl, Frau Meisterin! Prosit, Alter!«
Sie stießen an und tranken, und Rothfuß leuchtete vor Freude und blinzelte seiner Frau zu, ob sie auch bemerke, was sein Freund für fabelhafte Manieren habe.
Sie hatte es aber längst bemerkt.
»Siehst du,« sagte sie, »der Herr Knulp ist höflicher als du, der weiß, was der Brauch ist.«
»O bitte,« meinte der Gast, »das hält eben jeder so, wie er’s gelernt hat. Was Manieren betrifft, da könnten Sie mich leicht in Verlegenheit bringen, Frau Meisterin. Und wie schön Sie serviert haben, wie im feinsten Hotel!«
»Ja gelt,« lachte der Meister, »das hat sie aber auch gelernt.«
»So, wo denn? Ist Ihr Herr Vater Wirt?«
»Nein, der ist schon lang unterm Boden, ich hab ihn kaum mehr gekannt. Aber ich habe ein paar Jahre lang im Ochsen serviert, wenn Sie den kennen.«
»Im Ochsen? Der ist früher das feinste Gasthaus von Lächstetten gewesen,« lobte Knulp.
»Das ist er auch noch. Gelt, Emil? Wir haben fast nur Handlungsreisende und Turisten im Logis gehabt.«
»Ich glaub’s, Frau Meisterin. Da haben Sie’s sicher gut gehabt und was Schönes verdient! Aber ein eigener Haushalt ist doch besser, gelt?«
Langsam und genießerisch strich er die weiche Wurst auf sein Brot, legte die reinlich abgezogene Haut auf den Rand des Tellers und nahm zuweilen einen Schluck von dem guten gelben Apfelmost. Der Meister sah mit Behagen und Respekt ihm zu, wie er mit den schlanken feinen Händen das Notwendige so sauber und spielend tat, und auch die Hausfrau nahm es mit Gefallen wahr.
»Extra gut aussehen tust du aber nicht,« begann im weiteren Emil Rothfuß zu tadeln, und jetzt mußte Knulp bekennen, daß es ihm neuestens schlecht gegangen und daß er im Krankenhaus gewesen sei. Doch verschwieg er alles Peinliche. Als ihn darauf sein Freund fragte, was er denn jetzt anzufangen denke, und ihm mit Herzlichkeit Tisch und Lager für jede Dauer anbot, da war dies zwar genau das, was Knulp erwartet und womit er gerechnet hatte, aber er wich wie in einer Anwandlung von Schüchternheit aus, dankte flüchtig und verschob das Besprechen dieser Dinge bis morgen.
»Über das können wir morgen oder übermorgen auch noch reden,« meinte er nachlässig, »die Tage gehen ja gottlob nicht aus, und eine kleine Weile bleib ich auf alle Fälle hier.«
Er machte nicht gern Pläne oder Versprechungen auf lange Zeit. Wenn er nicht die freie Verfügung über den kommenden Tag in der Tasche hatte, fühlte er sich nicht wohl.
»Falls ich wirklich eine Zeitlang hierbleiben sollte,« begann er dann wieder, »so mußt du mich als deinen Gesellen anmelden.«
»Warum nicht gar!« lachte der Meister auf. »Du und mein Gesell! Außerdem bist du ja gar kein Weißgerber.«
»Tut nichts, verstehst du denn nicht? Es liegt mir gar nichts am Gerben, es soll zwar ein schönes Handwerk sein, und zum Arbeiten habe ich kein Talent. Aber meinem Wanderbüchlein wird es gut tun, weißt du. Für das Krankengeld käme ich dann schon auf.«
»Darf ich’s einmal sehen, dein Büchlein?«
Knulp griff in die Brusttasche seines fast neuen Anzuges und zog das Ding heraus, das reinlich in einem Wachstuchfutteral steckte.
Der Gerbermeister sah es an und lachte: »Immer tadellos! Man meint, du seiest erst gestern früh von der Mutter fortgereist.«
Dann studierte er die Einträge und Stempel und schüttelte in tiefer Bewunderung den Kopf: »Nein, ist das eine Ordnung! Bei dir muß halt alles nobel sein.«
Das Wanderbüchlein so in Ordnung zu halten, war allerdings eine von Knulps Liebhabereien. Es stellte in seiner Tadellosigkeit eine anmutige Fiktion oder Dichtung dar, und seine amtlich beglaubigten Einträge bezeichneten lauter ruhmvolle Stationen eines ehrenwerten und arbeitsamen Lebens, in welchem nur die Wanderlust in Form sehr häufiger Ortswechsel auffiel. Das in diesem amtlichen Paß bescheinigte Leben hatte Knulp sich angedichtet und mit hundert Künsten diese Scheinexistenz am oft bedrohten Faden weiter geführt, während er in Wirklichkeit zwar wenig Verbotenes tat, aber als arbeitsloser Landstreicher ein ungesetzliches und mißachtetes Dasein hatte. Freilich wäre es ihm kaum geglückt, seine hübsche Dichtung so ungestört fortzusetzen, wären ihm nicht alle Gendarmen wohlgesinnt gewesen. Sie ließen den heiteren, unterhaltsamen Menschen, dessen geistige Überlegenheit und gelegentlichen Ernst sie achteten, nach Möglichkeit in Ruhe. Er war beinahe ohne Vorstrafen, es war ihm kein Diebstahl und kein Bettel nachgewiesen, angesehene Freunde hatte er auch überall; so ließ man ihn passieren, wie etwa in einem wohlgeordneten Hauswesen eine hübsche Katze mitleben mag, die jeder nachsichtig zu dulden meint, während sie unbekümmert zwischen allen den fleißigen und bedrückten Menschen ein sorgenlos elegantes, prachtvoll herrenmäßiges und arbeitsloses Dasein verlebt.
»Aber jetzt wäret ihr schon lang im Bett, wenn ich nicht gekommen wäre,« rief Knulp, indem er seine Papiere wieder an sich nahm. Er stand auf und machte der Hausfrau ein Kompliment.
»Komm, Rothfuß, und zeig mir, wo mein Bett steht.«
Der Meister begleitete ihn mit Licht die schmale Stiege zum Dachstock hinauf und in die Gesellenkammer. Da stand eine leere eiserne Bettstatt an der Wand und daneben eine hölzerne, die mit Bettzeug versehen war.
»Willst eine Bettflasche?« fragte der Hauswirt väterlich.
»Das fehlt gerade noch,« lachte Knulp. »Der Herr Meister, der braucht freilich keine, wenn er so ein hübsches kleines Frauelein hat.«
»Ja, siehst du,« meinte Rothfuß ganz eifrig, »da steigst du jetzt in dein kaltes Gesellenbett in der Dachkammer, und manchmal noch in ein schlechteres, und manchmal hast du gar keins und mußt im Heu schlafen. Aber unsereiner hat Haus und Geschäft und eine nette Frau. Schau, du könntest doch schon lang Meister sein und weiter als ich, wenn du bloß gewollt hättest.«
Knulp hatte unterdessen in aller Eile die Kleider abgelegt und sich fröstelnd in das kühle Bettzeug verkrochen.
»Weißt du noch viel?« fragte er. »Ich liege gut und kann zuhören.«
»Es ist mir Ernst gewesen, Knulp.«
»Mir auch, Rothfuß. Du mußt aber nicht meinen, das Heiraten sei eine Erfindung von dir. Also gut Nacht auch!«
* * * * *
Den anderen Tag blieb Knulp im Bette liegen. Er fühlte sich noch etwas schwach, und das Wetter war so, daß er doch das Haus kaum verlassen hätte. Den Gerber, der sich vormittags bei ihm einfand, bat er, er möge ihn ruhig liegen lassen und ihm nur am Mittag einen Teller Suppe heraufbringen.
So lag er in der dämmerigen Dachkammer den ganzen Tag still und zufrieden, fühlte Kälte und Wanderbeschwerden entschwinden und gab sich mit Lust dem Wohlgefühl warmer Geborgenheit hin. Er hörte dem fleißigen Klopfen des Regens auf dem Dache zu und dem Wind, der unruhig, weich und föhnig in launischen Stößen ging. Dazwischen schlief er halbe Stunden oder las, solange es licht genug war, in seiner Wanderbibliothek; die bestand aus Blättern, auf welche er sich Gedichte und Sprüche abgeschrieben hatte, und aus einem kleinen Bündel von Zeitungsausschnitten. Auch einige Bilder waren dazwischen, die er in Wochenblättern gefunden und ausgeschnitten hatte. Zwei davon waren seine Lieblinge und sahen vom öfteren Hervorziehen schon brüchig und zerfasert aus. Das eine stellte die Schauspielerin Eleonora Duse vor, das andere zeigte ein Segelschiff bei starkem Winde auf hoher See. Für den Norden und für das Meer hatte Knulp seit den Knabenjahren eine starke Vorliebe, und mehrmals hatte er sich dahin auf den Weg gemacht, war auch einmal bis ins Braunschweigische gekommen. Aber diesen Zugvogel, der immer unterwegs war und an keinem Orte lang verweilen konnte, hatte eine merkwürdige Bangigkeit und Heimatliebe immer wieder in raschen Märschen nach Süddeutschland zurückgetrieben. Es mag auch sein, daß ihm die Sorglosigkeit verlorenging, wenn er in Gegenden mit fremder Mundart und Sitte kam, wo niemand ihn kannte und wo es ihm schwer fiel, sein legendenhaftes Wanderbüchlein in Ordnung zu halten.
Um die Mittagszeit brachte der Gerber Suppe und Brot herauf. Er trat leise auf und sprach in einem erschrockenen Flüsterton, da er Knulp für krank hielt und selber seit der Zeit seiner Kinderkrankheiten niemals am hellen Tage im Bett gelegen war. Knulp, der sich sehr wohl fühlte, gab sich keine Mühe mit Erklärungen und versicherte nur, er werde morgen wieder aufstehen und gesund sein.
Im späteren Nachmittag klopfte es an der Kammertür, und da Knulp im Halbschlummer lag und keine Antwort gab, trat die Meistersfrau vorsichtig herein und stellte statt des leeren Suppentellers eine Schale Milchkaffee auf die Stabelle am Bett.
Knulp, der sie wohl hatte hereinkommen hören, blieb aus Müdigkeit oder Laune mit geschlossenen Augen liegen und ließ nichts davon merken, daß er wach sei. Die Meisterin, mit dem leeren Teller in der Hand, warf einen Blick auf den Schläfer, dessen Kopf auf dem halb vom blaugewürfelten Hemdärmel bedeckten Arme lag. Und da ihr die Feinheit des dunklen Haares und die fast kindliche Schönheit des sorglosen Gesichts auffiel, blieb sie eine Weile stehen und sah sich den hübschen Burschen an, von dem ihr der Meister viel Wunderliches erzählt hatte. Sie sah über den geschlossenen Augen die dichten Brauen auf der zarten, hellen Stirn und die schmalen, doch braunen Wangen, den feinen, hellroten Mund und den schlanken, lichten Hals, und alles gefiel ihr wohl, und sie dachte an die Zeit, da sie als Kellnerin im Ochsen je und je in Frühlingslaunen sich von einem solchen fremden, hübschen Buben hatte liebhaben lassen.
Indem sie sich, träumerisch und leicht erregt, ein wenig vorbeugte, um das ganze Gesicht zu sehen, glitt ihr der zinnerne Löffel vom Teller und fiel auf den Boden, worüber sie in der Stille und befangenen Heimlichkeit des Ortes heftig erschrak.
Nun schlug Knulp die Augen auf, langsam und unwissend, als habe er tief geschlafen. Er drehte den Kopf herüber, hielt einen Augenblick die Hand über die Augen und sagte mit Lächeln: »Eia, da ist ja die Frau Meisterin! Und hat mir einen Kaffee gebracht! Ein guter, warmer Kaffee, das ist gerade das, wovon ich in diesem Augenblick geträumt habe. Also schönen Dank, Frau Rothfuß! Was ist es denn auch für Zeit?«
»Viere,« sagte sie schnell. »Jetzt trinken Sie nur, solang er warm ist, nachher hol ich das Geschirr dann wieder.«
Damit lief sie hinaus, als habe sie keine Minute übrig. Knulp sah ihr nach und hörte zu, wie sie in Eile die Treppe hinab verschwand. Er machte nachdenkliche Augen und schüttelte mehrmals den Kopf, dann stieß er einen leisen, vogelartigen Pfiff aus und wendete sich zu seinem Kaffee.
Eine Stunde nach dem Dunkelwerden aber wurde es ihm langweilig, er fühlte sich wohl und prächtig ausgeruht und hatte Lust, wieder ein wenig unter Leute zu kommen. Behaglich stand er auf und zog sich an, schlich in der tiefen Dämmerung leise wie ein Marder die Treppe hinab und schlüpfte unbemerkt aus dem Hause. Der Wind blies noch immer schwer und feucht aus Südwesten, aber es regnete nicht mehr, und am Himmel standen große Flecken licht und klar.
Schnuppernd flanierte Knulp durch die abendlichen Gassen und über den verödeten Marktplatz, stellte sich dann im offenen Tor einer Hufschmiede auf, sah den Lehrlingen beim Aufräumen zu, fing ein Gespräch mit den Gesellen an und hielt die kühlen Hände über die dunkelrot verglosende Esse. Dabei fragte er obenhin nach manchen Bekannten in der Stadt, erkundigte sich über Todesfälle und Heiraten und ließ sich von dem Hufschmied für einen Kollegen ansehen, denn es waren ihm die Sprachen und Erkennungszeichen aller Handwerke geläufig.
Während dieser Zeit setzte die Frau Rothfuß ihre Abendsuppe an, klimperte mit den Eisenringen am kleinen Herd und schälte Kartoffeln, und als das getan war und die Suppe sicher auf schwachem Feuer stand, ging sie mit der Küchenlampe ins Wohnzimmer hinüber und stellte sich vor dem Spiegel auf. Sie fand darin, was sie suchte: ein volles, frischwangiges Gesicht mit bläulich-grauen Augen, und was ihr am Haar zu bessern schien, brachte sie schnell mit geschickten Fingern in Ordnung. Darauf strich sie die frischgewaschenen Hände noch einmal an der Schürze ab, nahm das Lämpchen zur Hand und stieg rasch ins Dach hinauf.
Sachte klopfte sie an die Türe der Gesellenkammer, und nochmals etwas lauter, und da keine Antwort kam, stellte sie die Leuchte an den Boden und machte mit beiden Händen vorsichtig die Tür auf, daß sie nicht knarre. Auf den Zehen ging sie hinein, tat einen Schritt und ertastete den Stuhl bei der Bettstatt.
»Schlafen Sie?« fragte sie mit halber Stimme. Und noch einmal: »Schlafen Sie? Ich will nur das Geschirr abräumen.«
Da alles ruhig blieb und nicht einmal ein Atemzug zu hören war, streckte sie die Hand gegen das Bett hin aus, zog sie aber in einem Gefühl von Unheimlichkeit wieder zurück und lief nach der Lampe. Als sie nun die Kammer leer und das Bett mit Sorgfalt zugerichtet, auch Kissen und Federdecke tadellos aufgeschüttelt fand, lief sie verwirrt, zwischen Angst und Enttäuschung, in ihre Küche zurück.
Eine halbe Stunde später, als der Gerber zum Nachtessen heraufgekommen und der Tisch gedeckt war, fing die Frau schon an, sich Gedanken zu machen, fand aber nicht den Mut, dem Gerber von ihrem Besuch in der Dachkammer zu erzählen. Da ging unten das Tor, ein leichter Schritt klang durch den gepflasterten Gang und die gebogene Stiege herauf, und Knulp stand da, nahm den hübschen braunen Filz vom Kopf und wünschte guten Abend.
»Ja, wo kommst denn du her?« rief der Meister erstaunt. »Ist krank und läuft dabei in der Nacht herum! Du kannst dir ja den Tod holen.«
»Ganz richtig,« sagte Knulp. »Grüß Gott, Frau Rothfuß, ich komme ja gerade recht. Ihre gute Suppe habe ich schon vom Marktplatz her gerochen, die wird mir den Tod schon vertreiben.«
Man setzte sich zum Essen. Der Hausherr war gesprächig und rühmte sich seiner Häuslichkeit und seines Meisterstandes. Er neckte den Gast und redete ihm dann wieder ernstlich zu, er solle doch das ewige Wandern und Nichtstun einmal aufgeben. Knulp hörte zu und gab wenig Antwort, und die Meisterin sagte kein Wort. Sie ärgerte sich über ihren Mann, der ihr neben dem manierlichen und hübschen Knulp grob erschien, und gab dem Gast ihre gute Meinung durch die Aufmerksamkeit ihrer Bewirtung kund. Als es zehn Uhr schlug, sagte Knulp gute Nacht und bat sich des Gerbers Rasiermesser aus.
»Sauber bist du,« rühmte Rothfuß, indem er das Messer hergab. »Kaum kratzt’s dich am Kinn, so muß der Bart herunter. Also gut Nacht, und gute Besserung!«
Ehe Knulp in seine Kammer trat, lehnte er sich in das kleine Fensterchen oben an der Bodentreppe, um noch einen Augenblick nach Wetter und Nachbarschaft auszuschauen. Es war beinahe windstill, und zwischen den Dächern stand ein schwarzes Stück Himmel, in welchem klare, feucht schimmernde Sterne brannten.
Eben wollte er den Kopf hereinziehen und das Fenster schließen, da wurde ein kleines Fenster ihm gegenüber im Nachbarhause plötzlich hell. Er sah eine kleine niedere Kammer, der seinen ganz ähnlich, durch deren Türe eine junge Dienstmagd hereintrat, eine Kerze im messingnen Leuchter in der Hand und in der Linken einen großen Wasserkrug, den sie am Boden abstellte. Dann leuchtete sie mit der Kerze über ihr schmales Mägdebett hin, das bescheiden und säuberlich mit einer groben roten Wollendecke zum Schlafen einlud. Sie stellte den Leuchter weg, man sah nicht wohin, und setzte sich auf eine niedere grüngemalte Kofferkiste, wie alle Dienstmägde eine haben.
Knulp hatte sofort, als die unerwartete Szene drüben zu spielen begann, sein eigenes Licht ausgeblasen, um nicht gesehen zu werden, und stand nun still und lauernd aus seiner Luke gebeugt.
Die junge Magd drüben war von der Art, die ihm gefiel. Sie war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre, nicht eben groß gewachsen, und hatte ein bräunliches gutes Gesicht mit einem kleinen Mund, mit braunen Augen und dunklem dichten Haar. Dies stille angenehme Gesicht sah gar nicht fröhlich aus, und die ganze Person saß auf ihrer harten grünen Kiste ziemlich bekümmert und traurig da, so daß Knulp, der die Welt und auch die Mädchen kannte, sich wohl denken konnte, das junge Ding sei noch nicht lange mit seiner Kiste in der Fremde und habe Heimweh. Sie ließ die mageren braunen Hände im Schoße ruhen und suchte einen flüchtigen Trost darin, vor dem Schlafengehen noch eine Weile auf ihrem kleinen Eigentum zu sitzen und an die heimatliche Wohnstube zu denken.
Ebenso regungslos wie sie in ihrer Kammer verharrte Knulp in seinem Fensterloch und blickte mit wunderlicher Spannung in das kleine fremde Menschenleben hinüber, das so harmlos seinen hübschen Kummer im Kerzenlicht hütete und an keinen Zuschauer dachte. Er sah die braunen, gutmütigen Augen bald unverborgen herüber dunkeln, bald wieder von langen Wimpern bedeckt und auf den braunen, kindlichen Wangen das rote Licht leise spielen, er sah den mageren jungen Händen zu, wie sie müde waren und die kleine letzte Arbeit des Entkleidens noch ein wenig hinausschoben, während sie auf dem dunkelblauen baumwollenen Kleide ruhten.
Endlich richtete das Jüngferlein mit einem Seufzer den Kopf mit den schweren, in ein Nest aufgesteckten Zöpfen empor, blickte gedankenvoll, doch nicht minder bekümmert ins Leere und bückte sich dann tief, um ihre Schuhnestel aufzulösen.
Knulp wäre ungern schon jetzt weggegangen, doch schien es ihm unrecht und fast grausam, dem armen Kinde beim Auskleiden zuzuschauen. Gern hätte er sie angerufen, ein wenig mit ihr geschwatzt und sie mit einem Scherzwort ein wenig fröhlicher zu Bett gehen lassen. Aber er fürchtete, sie würde erschrecken und alsbald ihr Licht ausblasen, wenn er hinüber riefe.
Statt dessen begann er nun eine seiner vielen kleinen Künste zu üben. Er hob an, unendlich fein und zart zu pfeifen, wie aus der Ferne her, und er pfiff das Lied »In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad«, und es gelang ihm, es so fein und zart zu machen, daß das Mädchen eine ganze Weile zuhörte, ohne recht zu wissen, was es sei, und erst beim dritten Vers sich langsam aufrichtete, aufstand und horchend an ihr Fenster trat.
Sie streckte den Kopf heraus und lauschte, indes Knulp leise weiterpfiff. Sie wiegte den Kopf ein paar Takte lang der Melodie nach, schaute dann plötzlich auf und erkannte, woher die Musik komme.
»Ist jemand da drüben?« fragte sie halblaut.
»Nur ein Gerbergesell,« gab es ebenso leise Antwort. »Ich will die Jungfer nicht im Schlafen stören. Ich habe nur ein bißchen das Heimweh gehabt und mir noch ein Lied gepfiffen. Ich kann aber auch lustige. – Bist du etwa auch fremd hier, Mädele?«
»Ich bin vom Schwarzwald.«
»Ja, vom Schwarzwald! Und ich auch, und da sind wir Landsleute. Wie gefällt’s dir in Lächstetten? Mir gar nicht.«
»O, ich kann nichts sagen, ich bin erst acht Tage hier. Aber es gefällt mir auch nicht recht. Seid Ihr schon länger da?«
»Nein, drei Tage. Aber Landsleute sagen du zu einander, gelt?«
»Nein, ich kann nicht, wir kennen einander ja gar nicht.«
»Was nicht ist, kann werden. Berg und Tal kommen nicht zueinander, aber die Leute. Wo ist denn Euer Ort, Fräulein?«
»Das kennt Ihr doch nicht.«
»Wer weiß? Oder ist’s ein Geheimnis?«
»Achthausen. Es ist bloß ein Weiler.«
»Aber ein schöner, gelt? Vorn am Eck steht eine Kapelle, und es ist auch eine Mühle da, oder eine Sägerei, und dort haben sie einen großen gelben Bernhardinerhund. Stimmt’s oder stimmt’s nicht?«
»Der Bello, herrje!«
Da sie sah, er kenne ihre Heimat und sei wirklich dort gewesen, fiel ein großes Teil Mißtrauen und Bedrücktheit von ihr ab, und sie wurde ganz eifrig.
»Kennet Ihr auch den Andres Flick?« fragte sie rasch.
»Nein, ich kenne niemand dort. Aber gelt, das ist Euer Vater?«
»Ja.«
»So, so, also dann seid Ihr eine Jungfer Flick, und wenn ich jetzt noch den Vornamen dazu weiß, dann kann ich Euch eine Karte schreiben, wenn ich wieder einmal durch Achthausen komme.«
»Wollet Ihr denn schon wieder fort?«
»Nein, ich will nicht, aber ich will Euern Namen wissen, Jungfer Flick.«
»Ach was, ich weiß ja Euren auch nicht.«
»Das tut mir leid, aber es läßt sich ändern. Ich heiße Karl Eberhard, und wenn wir uns einmal am Tag wieder begegnen, dann wisset Ihr, wie Ihr mich anrufen müßt, und wie muß ich dann zu Euch sagen?«
»Barbara.«
»So ist’s recht und danke schön. Er ist aber schwer zum Aussprechen, Euer Name, und ich möchte fast eine Wette machen, daß man Euch daheim Bärbele gerufen hat.«
»Das hat man auch. Wenn Ihr doch alles schon wisset, warum fraget Ihr dann so viel? Aber jetzt müssen wir Feierabend machen. Gut Nacht, Gerber.«
»Gut Nacht, Jungfer Bärbele. Schlafet auch gut, und weil Ihr’s seid, will ich jetzt noch eins pfeifen. Laufet nicht fort, es kostet nichts.«
Und alsbald setzte er ein und pfiff einen kunstvollen jodlerartigen Satz, mit Doppeltönen und Trillern, daß es funkelte wie eine Tanzmusik. Sie hörte mit Erstaunen dieser Kunstfertigkeit zu, und als es stille ward, zog sie leise den Fensterladen herein und machte ihn fest, während Knulp ohne Licht in seine Kammer fand.
* * * * *
Am Morgen stand Knulp diesmal zu guter Stunde auf und nahm des Gerbers Rasiermesser in Gebrauch. Der Gerber trug aber schon seit Jahren einen Vollbart, und das Messer war so verwahrlost, daß Knulp es wohl eine halbe Stunde lang über seinem Hosenträger abziehen mußte, ehe das Barbieren gelang. Als er fertig war, zog er den Rock an, nahm die Stiefel in die Hand und stieg in die Küche hinab, wo es warm war und schon nach Kaffee roch.
Er bat die Meistersfrau um Bürste und Wichse zum Stiefelputzen
»Ach was!« rief sie, »das ist kein Männergeschäft. Lassen Sie mich das machen.«
Allein das gab er nicht zu, und als sie endlich mit ungeschicktem Lachen ihr Wichszeug vor ihn hinstellte, tat er die Arbeit gründlich, reinlich und dabei spielend, als ein Mann, der nur gelegentlich und nach Laune, dann aber mit Sorgfalt und Freude eine Handarbeit verrichtet.
»Das lass’ ich mir gefallen,« rühmte die Frau und sah ihn an. »Alles blank, wie wenn Sie grad zum Schatz gehen wollten.«
»O, das tät’ ich auch am liebsten.«
»Ich glaub’s. Sie haben gewiß einen schönen.« Sie lachte wieder zudringlich. »Vielleicht sogar mehr als einen?«
»Ei, das wäre nicht schön,« tadelte Knulp munter. »Ich kann Ihnen auch ein Bild von ihr zeigen.«
Begierig trat sie heran, während er sein Wachstuchmäpplein aus der Brusttasche zog und das Bildnis der Duse hervorsuchte. Interessiert betrachtete sie das Blatt.
»Die ist sehr fein,« begann sie vorsichtig zu loben, »das ist ja fast eine rechte Dame. Nur freilich, mager sieht sie aus. Ist sie denn auch gesund?«
»Soviel ich weiß, jawohl. So, und jetzt wollen wir nach dem Alten sehen, man hört ihn in der Stube.«
Er ging hinüber und begrüßte den Gerber. Die Wohnstube war gefegt und sah mit dem hellen Getäfel, mit der Uhr, dem Spiegel und den Photographien an der Wand freundlich und heimelig aus. So eine saubere Stube, dachte Knulp, ist im Winter nicht übel, aber darum zu heiraten, verlohnt doch nicht recht. Er hatte an dem Wohlgefallen, das die Meisterin ihm zeigte, keine Freude.
Nachdem der Milchkaffee getrunken war, begleitete er den Meister Rothfuß nach dem Hof und Schuppen und ließ sich die ganze Gerberei zeigen. Er kannte fast alle Handwerke und stellte so sachverständige Fragen, daß sein Freund ganz erstaunt war.
»Woher weißt du denn das alles?« fragte er lebhaft. »Man könnte meinen, du seiest wirklich ein Gerbergesell oder einmal einer gewesen.«
»Man lernt allerlei, wenn man reist,« sagte Knulp gemessen. »Übrigens, was die Weißgerberei angeht, da bist du selber mein Lehrmeister gewesen, weißt du’s nimmer? Vor sechs oder sieben Jahren, wie wir zusammen gewandert sind, hast du mir das alles erzählen müssen.«
»Und das weißt du alles noch?«
»Ein Stück davon, Rothfuß. Aber jetzt will ich dich nimmer stören. Schade, ich hätte dir gern ein bißchen geholfen, aber es ist da unten so feucht und stickig, und ich muß noch so viel husten. Also Servus, Alter, ich geh ein wenig in die Stadt, solang es gerade nicht regnet.«
Als er das Haus verließ und langsam die Gerbergasse stadteinwärts bummelte, den braunen Filzhut etwas nach hinten gerückt, trat Rothfuß in die Tür und sah ihm nach, wie er leicht und genießerisch dahinging, überall sauber gebürstet und den Regenpfützen sorglich ausweichend.
»Gut hat er’s eigentlich,« dachte der Meister mit einem kleinen Neidgefühl. Und während er zu seinen Gruben ging, dachte er dem Freund und Sonderling nach, der nichts vom Leben begehrte als das Zuschauen, und er wußte nicht, sollte er das anspruchsvoll oder bescheiden heißen. Einer, der arbeitete und sich vorwärts schaffte, hatte es ja in vielem besser, aber er konnte nie so zarte hübsche Hände haben und so leicht und schlank einhergehen. Nein, der Knulp hatte recht, wenn er so tat, wie sein Wesen es brauchte und wie es ihm nicht viele nachtun konnten, wenn er wie ein Kind alle Leute ansprach und für sich gewann, allen Mädchen und Frauen hübsche Sachen sagte, und jeden Tag für einen Sonntag nahm. Man mußte ihn laufen lassen, wie er war, und wenn es ihm schlecht ging und er einen Unterschlupf brauchte, so war es ein Vergnügen und eine Ehre, ihn aufzunehmen, und man mußte fast noch dankbar dafür sein, denn er machte es froh und hell im Haus.
Indessen schritt sein Gast neugierig und vergnügt durchs Städtchen, pfiff einen Soldatenmarsch durch die Zähne und begann ohne Eile die Orte und Menschen aufzusuchen, die er von früher her kannte. Zunächst wandte er sich nach der steil ansteigenden Vorstadt, wo er einen armen Flickschneider kannte, um den es schade war, daß er nichts als alte Hosen zu stopfen und kaum jemals einen neuen Anzug zu machen bekam, denn er konnte etwas und hatte einmal Hoffnungen gehabt und in guten Werkstätten gearbeitet. Aber er hatte früh geheiratet und schon ein paar Kinder, und die Frau hatte wenig Genie fürs Hauswesen.
Diesen Schneider Schlotterbeck suchte und fand Knulp im dritten Stockwerk eines Hinterhauses in der Vorstadt. Die kleine Werkstätte hing wie ein Vogelnest in den Lüften überm Bodenlosen, denn das Haus stand an der Talseite, und wenn man durch die Fenster senkrecht hinabschaute, hatte man nicht nur die drei Stockwerke unter sich, sondern unterm Hause floh der Berg mit kümmerlichen steilen Gärten und Grashalden schwindelnd abwärts, endigend in einem grauen Wirrwarr von Hinterhausvorsprüngen, Hühnerhöfen, Ziegen– und Kaninchenställen, und die nächsten Hausdächer, auf die man hinabsah, lagen jenseits dieses verwahrlosten Geländes schon tief und klein im Tale drunten. Dafür war die Schneiderwerkstatt taghell und luftig, und auf seinem breiten Tisch am Fenster hockte der fleißige Schlotterbeck hell und hoch über der Welt wie der Wächter in einem Leuchtturm.
»Servus, Schlotterbeck,« sagte Knulp im Eintreten, und der Meister, vom Licht geblendet, spähte mit eingekniffenen Augen nach der Türe.
»Oha, der Knulp!« rief er aufleuchtend und streckte ihm die Hand entgegen. »Auch wieder im Land? Und wo fehlt’s denn, daß du zu mir herauf steigst?«
Knulp zog einen dreibeinigen Stuhl heran und setzte sich nieder.
»Gib eine Nadel her und ein bißchen Faden, aber braunen und vom feinsten, ich will Musterung halten.«
Damit zog er Rock und Weste aus, suchte sich einen Zwirn heraus, fädelte ein und überging mit wachsamen Augen seinen ganzen Anzug, der noch sehr gut und fast neu aussah und an dem er jede blöde Stelle, jede lockere Litze, jeden halbwegs losen Knopf alsbald mit fleißigen Fingern wieder instand setzte.
»Und wie geht’s sonst?« fragte Schlotterbeck. »Die Jahreszeit ist nicht zu loben. Aber schließlich, wenn man gesund ist und keine Familie hat –«
Knulp räusperte sich polemisch.
»Ja, ja,« sagte er lässig. »Der Herr läßt regnen über Gerechte und Ungerechte, und nur die Schneider sitzen trocken. Hast du immer noch zu klagen, Schlotterbeck?«
»Ach, Knulp, ich will nichts sagen. Du hörst ja die Kinder nebendran schreien. Es sind jetzt fünf. Da sitzt man und schuftet bis in alle Nacht hinein, und nirgends will’s reichen. Und du tust nichts als spazierengehen!«
»Fehlgeschossen, alter Kunde. Vier oder fünf Wochen bin ich im Spital in Neustadt gelegen, und da behalten sie keinen länger, als er’s bitter nötig hat, und es bleibt auch keiner länger drin. Des Herrn Wege sind wunderbar, Freund Schlotterbeck.«
»Ach laß diese Sprüche, du!«
»Bist du denn nimmer fromm, he? Ich will es gerade auch werden, und darum bin ich zu dir gekommen. Wie steht’s damit, alter Stubenhocker?«
»Laß mich in Ruh’ mit der Frömmigkeit! Im Spital, sagst du? Da tust du mir aber leid.«
»Ist nicht nötig, es ist vorbei. Und jetzt erzähl einmal: wie ist’s mit dem Buch Sirach und mit der Offenbarung? Weißt du, im Spital hab ich Zeit gehabt, und eine Bibel war auch da, da hab ich fast alles gelesen und kann jetzt besser mitreden. Es ist ein kurioses Buch, die Bibel.«
»Da hast du recht. Kurios, und die Hälfte muß verlogen sein, weil keins zum andern paßt. Du verstehst’s vielleicht besser, du bist ja einmal in die Lateinschule gegangen.«
»Davon ist mir wenig geblieben.«
»Siehst du, Knulp –.« Der Schneider spuckte zum offenen Fenster in die Tiefe hinunter und sah mit großen Augen und erbittertem Gesicht hinterdrein. »Sieh, Knulp, es ist nichts mit der Frömmigkeit. Es ist nichts damit, und ich pfeife drauf, sag ich dir. Ich pfeife drauf!«
Der Wanderer sah ihn nachdenklich an.
»So, so. Das ist aber viel gesagt, alter Kunde. Mir scheint, in der Bibel stehen ganz gescheite Sachen.«
»Ja, und wenn du ein Stück weiterblätterst, dann steht immer irgendwo das Gegenteil. Nein, ich bin fertig damit, aus und fertig.«
Knulp war aufgestanden und hatte nach einem Bügeleisen gegriffen.
»Du könntest mir ein paar Kohlen drein geben,« bat er den Meister.
»Zu was denn auch?«
»Ich will die Weste ein wenig bügeln, weißt du, und dem Hut wird es auch gut tun, nach all dem Regen.«
»Immer nobel!« rief Schlotterbeck etwas ärgerlich. »Was brauchst du so fein zu sein wie ein Graf, wenn du doch nur ein Hungerleider bist?«
Knulp lächelte ruhig. »Es sieht besser aus, und es macht mir eine Freude, und wenn du’s nicht aus Frömmigkeit tun willst, so tust du’s einfach aus Nettigkeit und einem alten Freund zuliebe, gelt?«
Der Schneider ging durch die Tür hinaus und kam bald mit dem heißen Eisen wieder.
»So ist’s recht,« lobte Knulp, »danke schön!«
Er begann vorsichtig den Rand seines Filzhutes zu glätten, und da er hierin nicht so geschickt war wie im Nähen, nahm ihm der Freund das Eisen aus der Hand und tat die Arbeit selber.
»Das laß ich mir gefallen,« sagte Knulp dankbar. »Jetzt ist es wieder ein Sonntagshut. Aber schau, Schneider, von der Bibel verlangst du zu viel. Das, was wahr ist, und wie das Leben eigentlich eingerichtet ist, das muß ein jeder sich selber ausdenken und kann es aus keinem Buch lernen, das ist meine Meinung. Die Bibel ist alt, und früher hat man mancherlei noch nicht gewußt, was man heute kennt und weiß; aber darum steht doch viel Schönes und Braves drin, und auch ganz viel Wahres. Stellenweise ist sie mir gerade wie ein schönes Bilderbuch vorgekommen, weißt du. Wie das Mädchen da, die Ruth, übers Feld geht und die übrigen Ähren sammelt, das ist fein, und man spürt den schönsten warmen Sommer drin, oder wie der Heiland sich zu den kleinen Kindern setzt und denkt: ihr seid mir doch viel lieber als die Alten mit ihrem Hochmut alle zusammen! Ich finde, da hat er recht, und da könnte man schon von ihm lernen.«
»Ja, das wohl,« gab Schlotterbeck zu und wollte ihn doch nicht Recht haben lassen. »Aber einfacher ist es schon, wenn man das mit andrer Leute Kindern tut, als wenn man selber fünfe hat und weiß nicht, wie sie durchfüttern.«
Er war wieder ganz verdrossen und bitter, und Knulp konnte das nicht ansehen. Er wünschte ihm, ehe er gehe, noch etwas Gutes zu sagen. Er besann sich ein wenig. Dann beugte er sich zu dem Schneider, sah ihm mit seinen hellen Augen nah und ernsthaft ins Gesicht und sagte leise: »Ja, hast du sie denn nicht lieb, deine Kinder?«
Ganz erschrocken riß der Schneider die Augen auf. »Aber freilich, was denkst du auch! Natürlich hab ich sie lieb, den Größten am meisten.«
Knulp nickte mit großem Ernst.
»Ich will jetzt gehen, Schlotterbeck, und ich sage dir schönen Dank. Die Weste ist jetzt gerade das Doppelte wert. – Und dann, mit deinen Kindern mußt du lieb und lustig sein, das ist schon halb gegessen und getrunken. Paß auf, ich sage dir etwas, was niemand weiß und was du nicht weiter zu erzählen brauchst.«
Der Meister sah ihm aufmerksam und überwunden in die klaren Augen, die sehr ernst geworden waren. Knulp sprach jetzt so leise, daß der Schneider Mühe hatte, ihn zu verstehen.
»Sieh mich an! Du beneidest mich und denkst: der hat es leicht, keine Familie und keine Sorgen! Aber es ist nichts damit. Ich habe ein Kind, denk dir, einen kleinen Buben von zwei Jahren, und der ist von fremden Leuten angenommen worden, weil man doch den Vater nicht kennt und weil die Mutter im Kindbett gestorben ist. Du brauchst die Stadt nicht zu wissen, wo er ist; aber ich weiß sie, und wenn ich dorthin komme, dann schleiche ich mich um das Haus herum und steh am Zaun und warte, und wenn ich Glück habe und sehe den kleinen Kerl, dann darf ich ihm keine Hand und keinen Kuß geben und ihm höchstens im Vorbeigehen was vorpfeifen. – Ja, so ist das, und jetzt adieu, und sei froh, daß du Kinder hast!«
* * * * *
Knulp setzte seinen Gang durch die Stadt fort, er stand eine Weile plaudernd am Werkstattfenster eines Drechslers und sah dem geschwinden Spiel der lockigen Holzspäne zu, er begrüßte unterwegs auch den Polizeidiener, der ihm gewogen war und ihn aus seiner Birkendose schnupfen ließ. Überall erfuhr er Großes und Kleines aus dem Leben der Familien und Gewerbe, er hörte vom frühen Tod der Stadtrechnersfrau und vom ungeratenen Sohn des Bürgermeisters, er erzählte dafür neues von anderen Orten und freute sich des schwachen, launigen Bandes, das ihn als Bekannten und Freund und Mitwisser da und dort mit dem Leben der Seßhaften und Ehrbaren verband. Es war Samstag, und er fragte in der Toreinfahrt einer Brauerei die Küfergesellen, wo es heut abend und morgen eine Tanzgelegenheit gebe.
Es gab mehrere, aber die schönste war die im Leuen von Gertelfingen, nur eine halbe Stunde weit. Dahin beschloß er das junge Bärbele aus dem Nachbarhause mitzunehmen.
Es war bald Mittagszeit, und als Knulp die Treppe im Rothfußschen Hause erstieg, schlug ihm von der Küche her ein angenehm kräftiger Geruch entgegen. Er blieb stehen und sog in knabenhafter Lust und Neugierde mit spürenden Nüstern das Labsal ein. Aber so still er gekommen war, man hatte ihn schon gehört. Die Meistersfrau tat die Küchentüre auf und stand freundlich in der lichten Öffnung, vom Dampf der Speisen umwölkt.
»Grüß Gott, Herr Knulp,« sagte sie liebevoll, »das ist recht, daß Sie so zeitig kommen. Nämlich wir kriegen heut Leberspatzen, wissen Sie, und da hab ich mir gedacht, vielleicht könnte ich ein Stück Leber für Sie extra braten, wenn Sie es so lieber haben. Was meinen Sie?«
Knulp strich sich den Bart und machte eine Kavaliersbewegung.
»Ja, warum soll denn ich was Besonderes haben, ich bin froh, wenn’s eine Suppe gibt.«
»Ach was, wenn einer krank gewesen ist, gehört er ordentlich gepflegt, wo soll sonst die Kraft herkommen? Aber vielleicht mögen Sie gar keine Leber? Es gibt solche.«
Er lachte bescheiden.
»O, von denen bin ich nicht, ein Teller voll Leberspatzen, das ist ein Sonntagsessen, und wenn ich’s mein Lebtag jeden Sonntag essen könnte, wär ich schon zufrieden.«
»Bei uns soll Ihnen nichts fehlen. Zu was hat man kochen gelernt! Aber sagen Sie’s jetzt nur, es ist ein Stück Leber übrig, ich hab’s Ihnen aufgespart. Es täte Ihnen gut.«
Sie kam näher und lächelte ihm aufmunternd ins Gesicht. Er verstand gut, wie sie es meinte, und ziemlich hübsch war das Weiblein auch, aber er tat, als sehe er nichts. Er spielte mit seinem hübschen Filzhut, den ihm der arme Schneider aufgebügelt hatte, und sah nebenaus.
»Danke, Frau Meisterin, danke schön für den guten Willen. Aber Spatzen sind mir wirklich lieber. Ich werde schon genug verwöhnt bei Ihnen.«
Sie lächelte und drohte ihm mit dem Zeigefinger.
»Sie brauchen nicht so schüchtern zu tun, ich glaub’s Ihnen doch nicht. Also Spatzen! und ordentlich Zwiebel dran, gelt?«
»Da kann ich nicht nein sagen.«
Sie lief besorgt zu ihrem Herde zurück, und er setzte sich in die Stube, wo schon gedeckt war. Er las im gestrigen Wochenblatt, bis der Meister sich einfand und die Suppe aufgetragen wurde. Man aß, und nach Tische wurde zu dreien eine Viertelstunde mit Karten gespielt, wobei Knulp seine Wirtin durch einige neue, verwegene und zierliche Kartenkunststücke in Erstaunen setzte. Er verstand auch mit spielerischer Nachlässigkeit die Karten zu mischen und blitzschnell zu ordnen, er warf sein Blatt mit Eleganz auf den Tisch und ließ zuweilen den Daumen über die Kartenränder laufen. Der Meister sah mit Bewunderung und Nachsicht zu, wie ein Arbeiter und Bürger brotlose Künste sich gefallen läßt. Die Meisterin aber beobachtete mit kennerhafter Teilnahme diese Anzeichen einer weltmännischen Lebenskunst. Ihr Blick ruhte aufmerksam auf seinen langen, zarten, von keiner schweren Arbeit entstellten Händen.
Durch die kleinen Fensterscheiben floß ein dünner, unsicherer Sonnenschein in die Stube, über den Tisch und die Karten, spielte launisch und kraftlos am Fußboden mit den schwachen Schlagschatten und zitterte kreiselnd an der blau getünchten Stubendecke. Knulp nahm dies alles mit blinzelnden Augen wahr: das Spiel der Februarsonne, den stillen Frieden des Hauses, das ernsthaft arbeitsame Handwerkergesicht seines Freundes und die verschleierten Blicke der hübschen Frau. Es gefiel ihm nicht, das war kein Ziel und Glück für ihn. Wäre ich gesund, dachte er, und wäre es Sommerszeit, ich bliebe keine Stunde länger hier.
»Ich will ein wenig der Sonne nachgehen,« sagte er, als Rothfuß die Karten zusammenstrich und auf die Uhr sah. Er ging mit dem Meister die Treppe hinunter, ließ ihn im Trockenschuppen bei seinen Fellen und verlor sich in den öden schmalen Grasgarten, der, von Lohgruben unterbrochen, bis an das Flüßchen hinabreichte. Dort hatte der Gerber einen kleinen Brettersteg gebaut, an dem er seine Häute schwemmen konnte. Auf den Steg setzte sich Knulp, ließ die Sohlen knapp über dem still und rasch fließenden Wasser hängen, blickte belustigt den schnellen, dunklen Fischen nach, die unter ihm weg ihren Lauf hatten, und fing dann an, die Gegend neugierig zu studieren, denn er suchte eine Gelegenheit, mit der kleinen Dienstmagd von drüben zu sprechen.
Die Gärten stießen aneinander, durch einen schlecht erhaltenen Lattenzaun getrennt, und unten am Wasser, wo die Zaunpfähle längst vermodert und verschwunden waren, konnte man ungehindert vom einen Grundstück auf das andere hinübergehen. Der Nachbarsgarten schien mit mehr Sorgfalt gepflegt zu werden als der wüste Grasplatz des Weißgerbers. Man sah dort vier Reihen von Beeten liegen, vergrast und eingesunken, wie sie nach dem Winter sind, Ackerlattich und überwinterter Spinat wuchs spärlich in zwei Rabatten, Rosenbäumchen standen zur Erde gebogen mit eingegrabenen Kronen. Weiterhin standen, das Haus verbergend, ein paar hübsche Fichtenbäume.
Bis zu ihnen drang Knulp geräuschlos vor, nachdem er den fremden Garten betrachtet hatte, und sah nun zwischen den Bäumen hindurch das Haus liegen, die Küche nach hinten, und er hatte noch nicht lange gewartet, da sah er in der Küche auch das Mädchen mit aufgekrempelten Ärmeln wirtschaften. Die Hausfrau war dabei und hatte viel zu befehlen und zu lehren, wie es bei Weibern ist, die keine gelernte Magd bezahlen mögen und ihre jährlich wechselnden Lehrmädchen nachher, wenn sie aus dem Hause sind, nicht genug zu preisen wissen. Ihre Unterweisung und Klage geschah jedoch in einem Ton, der ohne Bosheit war, und die Kleine schien bereits daran gewöhnt, denn sie tat unbeirrt und mit glatter Miene ihre Arbeit.
Der Eindringling stand an einen Stamm gelehnt mit vorgestrecktem Kopf, neugierig und wachsam wie ein Jäger, und lauschte mit vergnügter Geduld als ein Mann, dessen Zeit wohlfeil ist und der gelernt hat, als Zuschauer und Zuhörer am Leben teilzunehmen. Er freute sich am Anblick des Mädchens, wenn es durchs Fenster sichtbar wurde, und er schloß aus der Mundart der Hausfrau, daß sie keine geborene Lächstetterin, sondern ein paar Stunden weiter oben im Tale daheim sei. Ruhig horchte er und kaute auf einem duftenden Tannenzweig eine halbe Stunde und eine ganze Stunde lang, bis die Frau verschwand und es still in der Küche wurde.
Er wartete noch eine kleine Weile, dann trat er behutsam vor und klopfte mit einem dürren Zweig ans Küchenfenster. Die Magd achtete nicht darauf, er mußte noch zweimal klopfen. Da kam sie ans halboffene Fenster, tat es vollends auf und schaute heraus.
»Ja, was tut denn Ihr da?« rief sie halblaut. »Jetzt wär ich fast erschrocken.«
»Vor mir doch nicht!« meinte Knulp und lächelte. »Ich wollte bloß einmal Grüßgott sagen und sehen, wie’s geht. Und weil nämlich heut Samstag ist, möchte ich fragen, ob Ihr morgen nachmittag etwa frei habet, zu einem kleinen Spaziergang.«
Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf, und da machte er ein so trostlos betrübtes Gesicht, daß es ihr ganz leid tat.
»Nein,« sagte sie freundlich, »morgen hab ich nicht frei, nur vormittags für die Kirche.«
»So, so,« brummte Knulp. »Ja, dann könntet Ihr aber gewiß heut abend mitkommen.«
»Heut abend? Ja, frei hätte ich schon, aber da will ich einen Brief schreiben, an meine Leute daheim.«
»O, den schreibt Ihr dann eben eine Stunde später, er geht heut nacht doch nimmer fort. Sehet Ihr, ich hab mich schon so gefreut, bis ich wieder ein bißchen mit Euch reden kann, und heut abend, wenn’s nicht gerade Katzen hagelt, hätten wir so schön spazieren gehen können. Gelt, seiet lieb, Ihr werdet doch vor mir keine Angst haben!«
»Angst hab ich gar keine, einmal vor Euch nicht. Aber es geht halt nicht. Wenn man sieht, daß ich mit einem Mannsbild spazieren geh –«
»Aber Bärbele, es kennt Euch ja hier kein Mensch. Und es ist doch wahrhaftig keine Sünde und geht niemand was an. Ihr seid doch kein Schulmädchen mehr, gelt? Also vergesset es nicht, ich bin um acht Uhr bei der Turnhalle drunten, da wo die Schranken für den Viehmarkt sind. Oder soll ich früher kommen? Ich kann es schon richten.«
»Nein, nein, nicht früher. Überhaupt – Ihr müsset gar nicht kommen, es geht nicht, und ich darf nicht ––«
Wieder zeigte er das knabenhaft betrübte Gesicht.
»Ja, wenn Ihr halt gar nicht möget!« sagte er traurig. »Ich habe gedacht, Ihr seid hier fremd und allein und habet manchmal das Heimweh, und ich auch, und da hätten wir einander ein bißchen erzählen können, von Achthausen hätt ich gern noch mehr gehört, weil ich doch einmal dort war. Ja nun, zwingen kann ich Euch nicht, und Ihr müsset mir’s auch nicht übelnehmen.«
»Ach was übelnehmen! Aber wenn ich doch nicht kann.«
»Ihr habt ja frei heut abend, Bärbele. Ihr möget bloß nicht. Aber vielleicht überlegt Ihr’s Euch noch. Ich muß jetzt gehen, und heut abend bin ich an der Turnhalle und warte, und wenn niemand kommt, dann geh ich allein spazieren und denk an Euch und daß Ihr jetzt nach Achthausen schreibet. Also adieu, und nichts für ungut!«
Er nickte kurz und war weg, ehe sie noch etwas sagen konnte. Sie sah ihn hinter den Bäumen verschwinden und machte ein ratloses Gesicht. Dann kehrte sie zur Arbeit zurück, und plötzlich begann sie – die Frau war ausgegangen – laut und schön dazu zu singen.
Knulp hörte es wohl. Er saß wieder auf dem Gerbersteg und machte kleine Kugeln aus einem Stückchen Brot, das er bei Tische zu sich gesteckt hatte. Die Brotkugeln ließ er sachte ins Wasser fallen, eine nach der andern, und schaute nachdenklich zu, wie sie untersanken, ein wenig von der Strömung abgetrieben, und wie sie unten auf dem dunklen Grunde von den stillen gespenstischen Fischen aufgeschnappt wurden.
* * * * *
»So,« sagte der Gerbermeister beim Nachtessen, »jetzt ist’s Samstag abend, und du weißt gar nicht, wie schön das ist, wenn man es die ganze Woche streng gehabt hat.«
»O, ich kann’s mir schon denken,« lächelte Knulp, und die Meisterin lächelte mit und sah ihm schalkhaft ins Gesicht.
»Heut abend,« fuhr Rothfuß im festlichen Tone fort, »heut abend trinken wir einen guten Krug Bier miteinander, meine Alte holt ihn gleich, gelt? Und morgen, wenn es gut Wetter gibt, machen wir alle drei einen Ausflug. Was meinst du, alter Freund?«
Knulp schlug ihn kräftig auf die Schulter.
»Man hat es gut bei dir, das muß ich sagen, und auf den Ausflug freu ich mich schon. Hingegen heut abend habe ich eine Besorgung, es ist ein Freund von mir hier, den muß ich treffen, er hat in der oberen Schmiede gearbeitet und reist morgen fort. – Ja, es tut mir leid, aber morgen sind wir ja den ganzen Tag beieinander, sonst hätt ich mich auch gar nicht darauf eingelassen.«
»Du wirst doch nicht jetzt in der Nacht herumlaufen wollen, wo du noch halb krank bist.«
»Ach was, zu arg darf man sich auch nicht verwöhnen. Ich komme nicht spät heim. Wo tust du den Schlüssel hin, daß ich dann herein kann?«
»Du bist ein Eigensinn, Knulp. Also dann geh halt, und den Schlüssel findest du hinterm Kellerladen. Du weißt doch, wo?«
»Jawohl. Dann geh ich jetzt. Leget Euch nur zeitig ins Bett! Gut Nacht. Gut Nacht, Frau Meisterin.«
Er ging, und als er schon unten beim Haustor war, kam ihm hastig die Meistersfrau nachgelaufen. Sie brachte einen Regenschirm, den mußte Knulp mitnehmen, er mochte wollen oder nicht.
»Sie müssen auch Sorge zu sich haben, Knulp,« sagte sie. »Und jetzt will ich Ihnen zeigen, wo Sie nachher den Schlüssel finden.«
Sie nahm ihn in der Dunkelheit bei der Hand und führte ihn um die Hausecke und machte vor einem Fensterchen halt, das mit Holzläden verschlossen war.
»Hinter den Laden legen wir den Schlüssel,« berichtete sie aufgeregt und flüsternd und streichelte Knulps Hand. »Sie müssen dann bloß durch den Ausschnitt langen, er liegt auf dem Simsen.«
»Ja, danke schön,« sagte Knulp verlegen und zog seine Hand zurück.
»Soll ich Ihnen ein Bier aufheben, bis Sie wiederkommen?« fing sie wieder an und drückte sich leise gegen ihn.
»Nein, danke, ich trinke selten eins. Gut Nacht, Frau Rothfuß, und danke schön.«
»Pressiert’s denn so?« flüsterte sie zärtlich und kniff ihn in den Arm. Ihr Gesicht stand dicht vor dem seinen, und in einer verlegenen Stille, da er sie nicht mit Gewalt zurückstoßen mochte, strich er mit der Hand über ihr Haar.
»Aber jetzt muß ich weiter,« rief er plötzlich überlaut und trat zurück.
Sie lächelte ihn mit halb geöffnetem Munde an, er konnte im Dunkeln ihre Zähne schimmern sehen. Und sie rief ganz leise: »Ich warte dann, bis du heimkommst. Du bist ein Lieber.«
Nun ging er rasch davon in die finstere Gasse hinein, den Schirm unterm Arme, und begann bei der nächsten Ecke, um der törichten Beklommenheit Herr zu werden, zu pfeifen. Es war das Lied:
Du meinst’, ich werd’ dich nehmen, Hab’s aber nicht im Sinn, Ich muß mich deiner schämen, Wenn ich in G’sellschaft bin.
Die Luft ging lau, und zuweilen traten Sterne am schwarzen Himmel heraus. In einem Wirtshaus lärmte junges Volk, dem Sonntag entgegen, und im Pfauen sah er hinter den Fenstern der neuen Kegelbahn eine bürgerliche Herrengesellschaft in Hemdärmeln beieinander stehen, Kegelkugeln in den Händen wägend und Zigarren im Munde.
Bei der Turnhalle machte Knulp halt und schaute sich um. In den kahlen Kastanienbäumen sang schwach der feuchte Wind, der Fluß strömte unhörbar in tiefer Schwärze und spiegelte ein paar erleuchtete Fenster wider. Die milde Nacht tat dem Landstreicher in allen Fibern wohl, er atmete spürend und ahnte Frühling, Wärme, trockene Straßen und Wanderschaft. Sein unerschöpfliches Gedächtnis überschaute die Stadt, das Flußtal und die ganze Gegend, er wußte überall Bescheid, er kannte Straßen und Fußwege, Dörfer, Weiler, Höfe, befreundete Nachtherbergen. Scharf dachte er nach und stellte den Plan für seine nächste Wanderung auf, da hier in Lächstetten seines Bleibens doch nimmer sein konnte. Er wollte nur, wenn es ihm die Frau nicht zu schwer machte, dem Freunde zulieb noch über diesen Sonntag bleiben.
Vielleicht, dachte er, hätte er dem Gerber einen Wink geben sollen, seiner Meisterin wegen. Aber er liebte es nicht, seine Hände in anderer Leute Sorgen zu stecken, und er hatte kein Bedürfnis, die Menschen besser oder klüger machen zu helfen. Es tat ihm leid, daß es so gegangen war, und seine Gedanken an die ehemalige Ochsenkellnerin waren keineswegs freundlich; aber er dachte auch mit einem gewissen Spott an des Gerbers würdige Reden über Hausstand und Eheglück. Er kannte das, es war meistens nichts damit, wenn einer mit seinem Glück oder mit seiner Tugend sich rühmte und groß tat, mit des Flickschneiders Frömmigkeit war es einst ebenso gewesen. Man konnte den Leuten in ihrer Dummheit zusehen, man konnte über sie lachen oder Mitleid mit ihnen haben, aber man mußte sie ihre Wege gehen lassen.
Mit einem gedankenvollen Seufzer tat er diese Sorgen beiseite. Er lehnte sich in die Höhlung einer alten Kastanie, der Brücke gegenüber, und dachte weiter seiner Wanderschaft nach. Er wäre gerne quer über den Schwarzwald gegangen, aber da oben war es jetzt kalt, und vermutlich lag noch viel Schnee, man verdarb sich die Stiefel, und die Schlafgelegenheiten waren weit auseinander. Nein, damit war es nichts, er mußte den Tälern nachgehen und sich an die Städtchen halten. Die Hirschenmühle, vier Stunden weiter unten am Fluß, war der erste sichere Rastort, dort würde man ihn bei schlechtem Wetter ein, zwei Tage behalten.
Wie er so in Gedanken stand und kaum mehr daran dachte, daß er auf jemanden warte, erschien in Dunkelheit und Zugwind auf der Brücke eine schmale ängstliche Gestalt und kam zögernd näher. Er erkannte sie sofort, lief ihr freudig und dankbar entgegen und schwang den Hut.
»Das ist lieb, daß Ihr kommet, Bärbele, ich habe schon beinah nimmer dran geglaubt.«
Er ging zu ihrer Linken und führte sie die Allee flußaufwärts. Sie war zaghaft und schämte sich.
»Es war doch nicht recht,« sagte sie wieder und wieder. »Wenn uns nur niemand sieht!«
Knulp aber hatte eine Menge zu fragen, und bald wurden die Schritte des Mädchens ruhiger und gleichmäßiger, und schließlich ging sie leicht und munter neben ihm wie ein Kamerad und erzählte, von seinen Fragen und Einwürfen erwärmt, mit Begier und Eifer von ihrer Heimat, von Vater und Mutter, Bruder und Großmama, von den Enten und Hühnern, von Hagelschlag und Krankheiten, von Hochzeiten und Kirchweihfesten. Ihr kleiner Schatz an Erlebnissen tat sich auf und war größer, als sie selber geglaubt hätte, und schließlich kam die Geschichte ihrer Verdingung und ihres Abschieds von daheim, ihr jetziger Dienst und das Hauswesen ihres Dienstherren an die Reihe.
Sie waren längst weit vor dem Städtchen draußen, ohne daß Bärbele auf den Weg geachtet hatte. Nun hatte sie sich von einer langen, trüben Woche des Fremdseins, Schweigens und Duldens im Plaudern erlöst und war ganz lustig geworden.
»Wo sind wir denn aber?« rief sie plötzlich verwundert. »Wo laufen wir denn hin?«
»Wenn es Euch recht ist, gehen wir nach Gertelfingen hinein, wir sind gleich dort.«
»Gertelfingen? Was sollen wir da? Wir wollen lieber umkehren, es wird spät.«
»Wann müsset Ihr denn daheim sein, Bärbele?«
»Um zehne. Da wird’s Zeit. Es ist ein netter Spaziergang gewesen.«
»Bis zehne ist’s noch lang,« sagte Knulp, »und ich will gewiß dran denken, daß Ihr zur Zeit heimkommet. Aber weil wir doch nimmer so jung zusammen kommen, so könnten wir eigentlich heut noch einen Tanz miteinander riskieren. Oder möget Ihr nicht tanzen?«
Sie sah ihn gespannt und verwundert an.
»O, tanzen mag ich immer. Aber wo denn? Hier mitten in der Nacht draußen?«
»Ihr müsset wissen, wir sind gleich in Gertelfingen, und da ist Musik im Löwen. Wir können hinein gehen, bloß auf einen einzigen Tanz, und dann gehen wir heim und haben einen schönen Abend gehabt.«
Bärbele blieb zweifelnd stehen.
»Es wäre lustig,« meinte sie langsam. »Aber was soll man von uns denken? Ich will nicht für so eine angeschaut werden, und ich will auch nicht, daß man meint, wir zwei gehören zusammen.«
Und plötzlich lachte sie übermütig auf und rief: »Nämlich, wenn ich später einmal einen Schatz haben will, dann muß es kein Gerber sein. Ich will Euch nicht beleidigen, aber Gerber ist doch ein unsauberes Handwerk.«
»Da habet Ihr vielleicht recht,« sagte Knulp gutmütig. »Ihr sollet mich ja auch nicht heiraten. Es weiß kein Mensch, daß ich ein Gerber bin und daß Ihr so stolz seid, und die Hände hab ich mir gewaschen, und wenn Ihr also einmal mit mir herumtanzen wollt, so seid Ihr eingeladen. Sonst kehren wir um.«
Sie sahen in der Nacht das erste Haus des Dorfes mit einem bleichen Giebel aus Gebüschen schauen, und Knulp sagte plötzlich »Bst!« und hob den Finger auf, und da hörten sie vom Dorfe her die Tanzmusik, eine Ziehharmonika und eine Geige, tönen.
»Also denn!« lachte das Mädchen, und sie gingen rascher.
Im Löwen tanzten nur vier oder fünf Paare, lauter junge Leute, die Knulp nicht kannte. Es ging still und anständig zu, und niemand belästigte das fremde Paar, das sich dem nächsten Tanz anschloß. Sie machten einen Ländler und eine Polka mit, dann kam ein Walzer, den Bärbele nicht konnte. Sie sahen zu und tranken einen Pfiff Bier, weiter reichte Knulps Barschaft nicht.
Bärbele war beim Tanzen warm geworden und blickte nun mit glänzenden Augen in den kleinen Saal.
»Jetzt wär es eigentlich Zeit zum Heimgehen,« sagte Knulp, als es halb zehn Uhr war.
Sie fuhr auf und sah ein wenig traurig aus.
»Ach schade!« sagte sie leise.
»Wir können ja noch dableiben.«
»Nein, ich muß heim. Und schön war’s.«
Sie gingen weg, aber unter der Tür fiel es dem Mädchen ein: »Wir haben ja der Musik gar nichts gegeben.«
»Ja,« meinte Knulp etwas verlegen, »sie hätten wohl einen Zwanziger verdient. Aber es steht leider so mit mir, daß ich keinen habe.«
Sie wurde eifrig und zog ihren kleinen gestrickten Geldbeutel aus der Tasche.
»Warum saget Ihr auch nichts? Da ist ein Zwanziger, gebet den!«
Er nahm das Geldstück und brachte es den Musikanten, dann gingen sie hinaus und mußten vor der Haustür einen Augenblick stehen bleiben, bis sie in der tiefen Dunkelheit den Weg sahen. Der Wind ging stärker und führte einzelne Regentropfen.
»Soll ich den Schirm auftun?« fragte Knulp.
»Nein, bei dem Wind, wir kämen ja nicht weiter. Es ist nett gewesen da drinnen. Ihr könnet’s fast wie ein Tanzmeister, Gerber.«
Sie plauderte fröhlich fort. Ihr Freund aber war still geworden, vielleicht daß er müde ward, vielleicht daß er den nahen Abschied fürchtete.
Plötzlich fing sie an zu singen: »Bald gras’ ich am Neckar, bald gras’ ich am Rhein.« Ihre Stimme klang warm und rein, und beim zweiten Vers fiel Knulp mit ein und sang die zweite Stimme so sicher, tief und schön, daß sie mit Behagen darauf horchte.
»So, ist jetzt das Heimweh vergangen?« fragte er am Ende.
»O ja,« lachte sie hell. »Wir müssen wieder einmal so einen Spaziergang machen.«
»Das tut mir leid,« antwortete er leiser. »Es wird wohl der letzte gewesen sein.«
Da blieb sie stehen. Sie hatte nicht genau zugehört, aber der betrübte Klang seiner Worte war ihr aufgefallen.
»Ja, was ist denn?« fragte sie leicht erschrocken. »Habt Ihr was gegen mich?«
»Nein, Bärbele. Aber morgen muß ich fort, ich habe gekündigt.«
»Was Ihr nicht saget! Ist’s wahr? Das tut mir aber leid.«
»Um mich muß es Euch nicht leid sein. Lang wär’ ich doch nicht geblieben, und ich bin ja auch bloß ein Gerber. Ihr müsset bald einen Schatz haben, einen recht schönen, dann kommt das Heimweh nimmer, Ihr werdet sehen.«
»Ach, redet nicht so! Ihr wisset, daß ich Euch ganz gern habe, wenn Ihr auch nicht mein Schatz seid.«
Sie schwiegen beide, der Wind pfiff ihnen ins Gesicht. Knulp ging langsamer. Sie waren schon nah bei der Brücke. Schließlich blieb er stehen.
»Ich will Euch jetzt adieu sagen, es ist besser, Ihr gehet die paar Schritte noch allein.«
Bärbele sah ihm mit aufrichtiger Betrübnis ins Gesicht.
»Es ist also Ernst? Dann sage ich Euch auch noch meinen Dank. Ich will es nicht vergessen. Und alles Gute auch!«
Er nahm ihre Hand und zog sie an sich, und während sie ängstlich und verwundert in seine Augen sah, nahm er ihren Kopf mit den vom Regen feuchten Zöpfen in beide Hände und sagte flüsternd: »Adieu denn, Bärbele. Ich will jetzt zum Abschied noch einen Kuß von Euch haben, daß Ihr mich nicht ganz vergesset.«
Ein wenig zuckte sie und strebte zurück, aber sein Blick war gut und traurig, und sie sah erst jetzt, wie schöne Augen er habe. Ohne die ihren zu schließen, empfing sie ernsthaft seinen Kuß, und da er darauf mit einem schwachen Lächeln zögerte, bekam sie Tränen in die Augen und gab ihm den Kuß herzhaft zurück.
Dann ging sie schnell davon und war schon über der Brücke, da kehrte sie plötzlich um und kam wieder zurück. Er stand noch am selben Ort.
»Was ist, Bärbele?« fragte er. »Ihr müsset heim.«
»Ja, ja, ich geh schon. Ihr dürfet nicht schlecht von mir denken!«
»Das tu ich gewiß nicht.«
»Und wie ist denn das, Gerber? Ihr habet doch gesagt, Ihr hättet gar kein Geld mehr? Ihr krieget doch noch Lohn, eh Ihr fortgeht?«
»Nein, Lohn kriege ich keinen mehr. Aber es macht nichts, ich komme schon durch, da müsset Ihr Euch keine Gedanken machen.«
»Nein, nein! Ihr müsset etwas im Sack haben. Da!«
Sie steckte ihm ein großes Geldstück in die Hand, er spürte, daß es ein Taler war.
»Ihr könnet mir’s einmal wiedergeben oder schicken, später einmal.«
Er hielt sie an der Hand zurück.
»Das geht nicht. So dürfet Ihr nicht mit Eurem Geldlein umgehen! Das ist ja ein ganzer Taler. Nehmt ihn wieder! Nein, Ihr müsset! So. Man muß nicht unvernünftig sein. Wenn Ihr was Kleines bei Euch habt, einen Fünfziger oder so, das nehm ich gerne, weil ich in der Not bin. Aber mehr nicht.«
Sie stritten noch ein wenig, und Bärbele mußte ihren Geldbeutel herzeigen, weil sie sagte, sie habe nichts als den Taler. Es war aber nicht so, sie hatte auch noch eine Mark und einen kleinen silbernen Zwanziger, die damals noch galten. Den wollte er haben, aber das war ihr zu wenig, und dann wollte er gar nichts nehmen und fortgehen, aber schließlich behielt er das Markstück, und sie lief nun im Trabe heimwärts.
Unterwegs dachte sie beständig darüber nach, warum er sie jetzt nicht noch einmal geküßt habe. Bald wollte es ihr leid tun, bald fand sie es gerade besonders lieb und anständig, und dabei blieb sie schließlich.
Eine gute Stunde später kam Knulp nach Hause. Er sah im Wohnzimmer droben noch Licht brennen, also saß die Meisterin noch auf und wartete auf ihn. Er spuckte ärgerlich aus und wäre beinahe davongelaufen, gleich jetzt in die Nacht hinein. Aber er war müde, und es würde regnen, und dem Weißgerber wollte er das auch nicht antun, und außerdem spürte er auf diesen Abend hin noch Lust zu einem bescheidenen Schabernack.
So fischte er denn den Schlüssel aus seinem Versteck heraus, schloß vorsichtig wie ein Dieb die Haustüre auf, zog sie hinter sich zu, schloß mit zusammengepreßten Lippen geräuschlos ab und versorgte den Schlüssel sorgfältig am alten Platz. Dann stieg er auf Socken, die Schuhe in der Hand, die Stiege hinauf, sah Licht durch eine Ritze der angelehnten Stubentür und hörte die beim langen Warten eingeschlafene Meisterin drinnen auf dem Kanapee tief in langen Zügen atmen. Darauf stieg er unhörbar in seine Kammer hinauf, schloß sie von innen fest ab und ging ins Bett. Aber morgen, das war beschlossen, wurde abgereist.