Das Ende


Es war ein heller Tag im Oktober; die leichte, durchsonnte Luft wurde von launigen kurzen Windzügen bewegt, aus Feldern und Gärten zog in dünnen, zögernden Bändern der hellblaue Rauch von Herbstfeuern und erfüllte die lichte Landschaft mit einem scharfsüßen Geruch von verbranntem Kraut und Grünholz. In den Dorfgärten blühten sattfarbige Buschastern, späte bläßliche Rosen und Georginen, und an den Zäunen brannte noch hier und dort eine feurige Kapuzinerblüte aus dem schon matt und weißlich schimmernden Gekräut.

Auf der Landstraße nach Bulach fuhr langsam der Einspänner des Doktors Machold. Der Weg ging sachte bergan, links abgemähte Äcker und Kartoffelfelder, in denen noch geerntet wurde, rechts junger enger Fichtenwald halb erstickt, eine braune Wand von dichtgedrängten Stangen und dürren Zweigen, der Boden gleichfarbig trockenbraun voll dick gelagerter welker Nadeln. Geradeaus führte die Straße einfach in den zartblauen Herbsthimmel hinein, als habe da oben die Welt ein Ende.

Der Doktor hielt die Zügel lose in den Händen und ließ das alte Pferdchen gehen, wie es wollte. Er kam von einer sterbenden Frau, der nicht mehr zu helfen war und die doch zäh ums Leben gekämpft hatte bis zur letzten Stunde. Nun war er müde und genoß die stille Fahrt durch den freundlichen Tag; seine Gedanken waren eingeschlafen und folgten leicht betäubt und willenlos den Zurufen, die aus dem Geruch der Feldfeuerchen aufstiegen, angenehme, verschwommene Erinnerungen an Herbstferientage der Schülerzeit und weiter zurück in klangvolle, gestaltlose Kindheitsdämmerung. Denn er war auf dem Lande aufgewachsen, und seine Sinne folgten erfahren und willig allen ländlichen Zeichen der Jahreszeiten und ihrer Geschäfte.

Er war nahe am Einschlafen, da weckte ihn das Stehenbleiben des Wagens. Eine Wasserrinne lief quer über die Straße, darin fanden die Vorderräder einen Halt, und das Roß blieb dankbar stehen, senkte den Kopf und genoß wartend die Rast.

Machold ermunterte sich über dem plötzlichen Verstummen der Räder, nahm die Zügel zusammen, sah lächelnd nach verdämmerten Minuten Wald und Himmel wie zuvor in sonniger Klarheit stehen und trieb den Gaul mit vertraulichem Zungenschnalzen zum Weitersteigen an. Darauf setzte er sich aufrecht, er liebte es nicht am Tage zu schlummern, und steckte sich eine Zigarre an. Die Fahrt ging im langsamen Schritt weiter, zwei Weiber grüßten vom Felde, in Schattenhüten hinter einer langen Front von gefüllten Kartoffelsäcken hervor.

Die Höhe war jetzt nahe, und das Pferdchen hob den Kopf, ermuntert und voll Erwartung, nächstens den langen Sattel des heimatlichen Hügels hinabzutraben. Da erschien im nahen lichten Horizont von drüben her ein Mensch, ein Wanderer, stand einen Augenblick vom Blau umlodert frei und hoch, stieg nieder und wurde grau und klein. Er kam näher, ein magerer Mann mit kleinem Bart in schlechten Kleidern, sichtlich auf der Landstraße daheim, er ging müde und mühevoll, aber er zog den Hut mit stiller Artigkeit und sagte: Grüß Gott.

»Grüß Gott,« sagte der Doktor Machold und sah dem Fremden nach, der schon vorüber war, und plötzlich hielt er den Gaul an, wandte sich stehend über das knarrende Lederdach zurück und rief: »Heda, Sie! Kommen Sie einmal her!«

Der staubige Wanderer blieb stehen und sah zurück. Er lächelte schwach herüber, wandte sich wieder ab und schien weitergehen zu wollen, dann besann er sich dennoch und kehrte gehorsam um.

Jetzt stand er neben dem niederen Wagen und hatte den Hut in der Hand.

»Wohinaus, wenn man fragen darf?« rief Machold.

»Der Straße nach, gegen Berchtoldsegg.«

»Kennen wir einander nicht? Ich kann bloß nicht auf den Namen kommen. Sie wissen doch, wer ich bin?«

»Sie sind der Doktor Machold, will mir scheinen.«

»Na also? Und Sie? Wie heißen Sie?«

»Der Herr Doktor wird mich schon kennen. Wir sind einmal nebeneinander beim Präzeptor Plocher gesessen, Herr Doktor, und Sie haben damals die lateinischen Präparationen von mir abgeschrieben.«

Machold war schnell ausgestiegen und sah dem Mann in die Augen. Dann klopfte er ihm auflachend auf die Schulter.

»Stimmt!« sagte er. »Dann bist du also der berühmte Knulp, und wir sind Schulkameraden. So laß dir doch die Hand schütteln, alter Kerl! Wir haben uns sicher zehn Jahre nimmer gesehen. Immer noch auf der Wanderschaft?«

»Immer noch. Man bleibt gern beim Gewohnten, wenn man älter wird.«

»Da hast du recht. Und wohin geht die Reise? Wieder einmal der Heimat zu?«

»Richtig geraten. Ich will nach Gerbersau, ich habe eine Kleinigkeit dort zu tun.«

»So, so. Lebt denn noch jemand von deinen Leuten?«

»Niemand mehr.«

»Gerade jugendlich schaust du nimmer aus, Knulp. Wir sind doch erst Vierziger, wir zwei. Und daß du so einfach an mir vorbei hast laufen wollen, ist nicht recht von dir. – Weißt du, mir scheint, du könntest vielleicht einen Doktor brauchen.«

»Ach was. Mir fehlt weiter nichts, und was mir fehlt, das kann doch kein Doktor kurieren.«

»Das wird sich ja zeigen. Jetzt steig einmal ein und komm mit mir, dann können wir besser reden.«

Knulp trat ein wenig zurück und setzte den Hut wieder auf. Mit verlegenem Gesicht wehrte er sich, als der Doktor ihm in den Wagen helfen wollte.

»Ach, wegen dessen, das wäre nicht nötig. Das Rößlein rennt dir nicht fort, solang wir dastehen.

Indessen faßte ihn ein Anfall von Husten, und der Arzt, der schon Bescheid wußte, packte ihn kurzerhand und setzte ihn in das Gefährt.

»So,« sagte er im Weiterfahren, »gleich sind wir droben, und dann geht’s Trab, in einer halben Stunde sind wir daheim. Du brauchst keine Unterhaltung zu machen, mit deinem Husten, wir können dann daheim weiter reden. –– Was? –– Nein, das hilft dir jetzt nichts mehr, kranke Leute gehören ins Bett und nicht auf die Landstraße. Weißt du, damals im Latein hast du mir oft genug geholfen, jetzt bin ich einmal an der Reihe.«

Sie fuhren über den Höhenrücken und mit pfeifender Bremse den langen Sattel hinab; gegenüber sah man schon die Dächer von Bulach über den Obstbäumen. Machold hielt die Zügel kurz und paßte auf den Weg, und Knulp ergab sich müde in halbem Behagen dem Genuß des Fahrens und der gewaltsamen Gastfreundschaft. Morgen, dachte er, oder spätestens übermorgen walze ich weiter nach Gerbersau, wenn die Knochen noch zusammenhalten. Er war kein Springinsfeld mehr, der die Tage und Jahre verschwendete. Er war ein kranker, alter Mann, der keinen Wunsch mehr hatte, als vor dem Ende noch einmal die Heimat zu sehen.

In Bulach nahm ihn sein Freund zuerst in die Wohnstube und gab ihm Milch zu trinken und Brot mit Schinken zu essen. Dabei plauderten sie und fanden langsam die Vertrautheit wieder. Dann erst nahm ihn der Arzt ins Verhör, das der Kranke gutmütig und etwas spöttisch über sich ergehen ließ.

»Weißt du eigentlich, was dir fehlt?« fragte Machold am Ende seiner Untersuchung. Er sagte es leicht und ohne Wichtigkeit, und Knulp war ihm dafür dankbar.

»Ja, ich weiß schon, Machold. Es ist die Auszehrung, und ich weiß auch, daß es nimmer lang gehen kann.«

»Na, wer weiß! Aber dann mußt du also auch einsehen, daß du in ein Bett und in eine Pflege gehörst. Einstweilen kannst du ja hier bei mir bleiben, ich sorge inzwischen für einen Platz im nächsten Spital. Es spukt bei dir, mein Lieber, und du mußt dich zusammennehmen, daß du’s noch einmal durchhaust.«

Knulp zog seinen Rock wieder an. Er wandte sein hageres und graues Gesicht mit einem Ausdruck von Schelmerei dem Doktor zu und sagte gutmütig: »Du machst dir viele Mühe, Machold. Also meinetwegen. Aber von mir darfst du nimmer viel erwarten.«

»Wir werden ja sehen. Jetzt setzest du dich in die Sonne, so lang sie noch in den Garten scheint. Die Lina macht dir das Gastbett zurecht. Wir müssen dir auf die Finger sehen, Knülplein. Daß so ein Mensch, der sein ganzes Leben in der Sonne und Luft zugebracht hat, sich dabei ausgerechnet die Lungen kaputt macht, ist eigentlich nicht in der Ordnung.«

Damit ging er weg.

Die Haushälterin Lina war nicht erfreut und wehrte sich dagegen, so einen Landstreicher ins Gastzimmer zu lassen. Aber der Doktor schnitt ihr das Wort ab.

»Lassen Sie gut sein, Lina. Der Mann hat nimmer lang zu leben, er muß es bei uns noch ein bißchen gut haben. Sauber ist er übrigens immer gewesen, und eh er zu Bett geht, stecken wir ihn ins Bad. Tun Sie ihm eins von meinen Nachthemden heraus und vielleicht meine Winterpantoffeln. Und vergessen Sie nicht: Der Mann ist ein Freund von mir.«

* * * * *

Knulp hatte elf Stunden geschlafen und den nebligen Morgen im Bett verdämmert, wo er sich erst allmählich darauf besinnen konnte, bei wem er sei. Als die Sonne herausgekommen war, hatte Machold ihm das Aufstehen erlaubt, und nun saßen sie beide nach Tisch bei einem Glas Rotwein auf der sonnigen Altane. Knulp war vom guten Essen und von seinem halben Glas Wein munter und gesprächig geworden, und der Doktor hatte sich für eine Stunde frei gemacht, um noch einmal mit dem seltsamen Schulkameraden zu plaudern und vielleicht etwas über dieses nicht gewöhnliche Menschenleben zu erfahren.

»Du bist also zufrieden mit dem Leben, das du gehabt hast?« sagte er lächelnd. »Dann ist ja alles gut. Sonst hätte ich aber doch gesagt, es ist eigentlich schad um so einen Kerl wie dich. Du hättest ja kein Pfarrer oder Lehrer zu werden brauchen, vielleicht aber wäre ein Naturforscher oder auch etwa ein Dichter aus dir geworden. Ich weiß nicht, ob du deine Gaben benutzt und weiter gebildet hast, aber du hast sie für dich allein verbraucht. Oder nicht?«

Knulp stützte das Kinn mit dem dünnen Bärtchen in die hohle Hand und sah auf die roten Lichter, die hinterm Weinglas auf dem besonnten Tischtuch spielten.

»Es stimmt nicht ganz,« sagte er langsam. »Die Gaben, wie du es nennst, damit ist es nicht so weit her. Ich kann ein bißchen kunstpfeifen, auch Handorgel spielen und manchmal Verslein machen, früher bin ich auch ein guter Läufer gewesen und habe nicht schlecht getanzt. Das ist alles. Und daran habe ich ja nicht allein Freude gehabt, es waren meistens Kameraden dabei, oder junge Mädel oder Kinder, die haben ihren Spaß daran gehabt und sind mir manchmal dafür dankbar gewesen. Wir wollen es gut sein lassen und damit zufrieden sein.«

»Ja,« sagte der Doktor, »das wollen wir. Aber eins muß ich dich noch fragen. Du bist damals bis in die fünfte Klasse mit mir in die Lateinschule gegangen, ich weiß es noch genau, und bist ein guter Schüler gewesen, wenn auch kein Musterbub. Und dann auf einmal warst du weg, und es hieß, du gehest jetzt in die Volksschule, und da waren wir auseinander, ich durfte ja als Lateiner nicht mit einem Freund sein, der in die Volksschule ging. Wie ist nun das zugegangen? Später, wenn ich von dir hörte, habe ich immer gedacht: Wenn er damals bei uns in der Schule geblieben wäre, hätte alles anders kommen müssen. Also, wie war’s damit? War es dir verleidet, oder hat dein Alter das Schulgeld nimmer zahlen mögen, oder was sonst?«

Der Kranke nahm sein Glas in die braune, magere Hand, doch trank er nicht, er blickte nur durch den Wein gegen das grüne Gartenlicht und stellte dann den Kelch vorsichtig auf den Tisch zurück. Schweigend schloß er dann die Augen und versank in Gedanken.

»Ist es dir zuwider, davon zu reden?« fragte sein Freund. »Es muß ja nicht sein.«

Da tat Knulp die Augen auf und sah ihm lange und prüfend ins Gesicht.

»Doch,« sagte er, noch zögernd, »ich glaube, es muß sein. Ich habe das nämlich noch nie einem Menschen erzählt. Aber jetzt ist es vielleicht ganz gut, wenn jemand es hört. Es ist ja bloß eine Kindergeschichte, aber für mich ist sie doch wichtig gewesen, es hat mir jahrelang zu schaffen gemacht. Sonderbar, daß du gerade danach fragst!«

»Warum?«

»Ich habe die letzte Zeit wieder viel daran denken müssen, und deswegen bin ich auch wieder auf dem Weg nach Gerbersau.«

»Ja, dann erzähle.«

»Siehst du, Machold, wir sind ja damals gute Freunde gewesen, wenigstens bis in die dritte oder vierte Klasse. Nachher kamen wir weniger zusammen, und du hast manchmal vergebens vor unserem Haus gepfiffen.«

»Herrgott, ja, das stimmt! Daran habe ich seit mehr als zwanzig Jahren nimmer gedacht. Mensch, was hast du für ein Gedächtnis! Und weiter?«

»Ich kann dir jetzt sagen, wie das gegangen ist. Die Mädchen waren daran schuld. Ich bin ziemlich früh auf sie neugierig geworden, und du hast noch an den Storch und an den Kindlesbrunnen geglaubt, da wußte ich schon so ziemlich, wie es mit Buben und Mädeln beschaffen ist. Das war mir damals die Hauptsache, darum bin ich nimmer viel bei eurem Indianerspiel dabei gewesen.«

»Da warst du zwölf Jahr alt, nicht?«

»Fast dreizehn, ich bin ein Jahr älter als du. Wie ich einmal krank war und im Bett lag, da hatten wir eine Base zum Besuch da, die war drei oder vier Jahr älter als ich, und die fing an mit mir zu spielen, und als ich wieder gesund und auf war, bin ich einmal nachts zu ihr in die Stube gegangen. Da wurde mir bekannt, wie ein Frauenzimmer aussieht, und ich war elend erschrocken und bin davongelaufen. Mit der Base wollte ich jetzt kein Wort mehr reden, sie war mir verleidet, und ich hatte Angst vor ihr, aber die Sache war mir halt einmal im Kopf, und von da an bin ich eine Zeitlang bloß den Mädchen nachgegangen. Beim Rotgerber Haasis waren zwei Töchter in meinem Alter, und da kamen auch andere Mädchen aus der Nachbarschaft hin, wir spielten auf den dunkeln Böden Verstecken und hatten immer viel zu kichern und zu kitzeln und geheim zu tun. Ich war meistens der einzige Bub in dieser Gesellschaft, und manchmal durfte ich einer von ihnen die Zöpfe flechten oder eine gab mir einen Kuß, wir waren alle noch unerwachsen und wußten nicht recht Bescheid, aber es war alles voll von Verliebtheit, und beim Baden versteckte ich mich in die Büsche und sah ihnen zu. –– Und eines Tages war eine Neue da, eine aus der Vorstadt, ihr Vater war Arbeiter in der Strickerei. Sie hat Franziska geheißen, und sie hat mir gleich beim erstenmal gut gefallen.«

Der Doktor unterbrach ihn. »Wie hat ihr Vater geheißen? Vielleicht kenn ich sie.«

»Verzeih, ich möcht dir das lieber nicht sagen, Machold. Es gehört nicht zur Geschichte, und ich will auch nicht, daß jemand das von ihr weiß. – Nun also! Sie ist größer und stärker gewesen als ich, wir haben hie und da miteinander gehändelt und gerauft, und wenn sie mich dann an sich drückte, bis es mir weh tat, dann war mir schwindlig und wohl wie in einem Rausch. In die wurde ich verliebt, und weil sie zwei Jahre älter war und schon davon redete, daß sie jetzt bald einen Schatz haben wolle, da wurde es mein einziger Wunsch, der möchte ich sein. –– Einmal saß sie allein im Lohgarten am Fluß und hatte die Füße ins Wasser hängen, sie hatte gebadet und bloß das Leibchen an. Da kam ich und setzte mich zu ihr. Auf einmal bekam ich Mut und sagte ihr, ich wolle und müsse ihr Schatz werden. Aber sie sah mich mit den braunen Augen mitleidig an und sagte: »Du bist ja noch ein Büble und hast kurze Hosen an, was weißt denn du von Schatz und Liebhaben?« Doch, sagte ich, ich wisse alles, und wenn sie nicht mein Schatz werden möge, dann werfe ich sie ins Wasser und mich mit. Da schaute sie mich aufmerksam an, mit einem Blick wie eine Frau, und sagte: ›Wir wollen einmal sehen. Kannst du denn schon küssen?‹ Ich sagte ja und gab ihr schnell einen Kuß auf den Mund und dachte, damit wäre es gut, aber sie hatte meinen Kopf gepackt und hielt ihn fest und küßte mich jetzt richtig wie ein Weib, daß mir Hören und Sehen verging. Dann lachte sie mit ihrer tiefen Stimme und sagte: ›Du würdest mir schon passen, Bub. Aber es geht doch nicht. Ich kann keinen Schatz brauchen, der in die Lateinschule geht, das gibt keine rechten Leute. Ich muß einen richtigen Mann zum Schatz haben, einen Handwerker oder einen Arbeiter, keinen Studierten. Es ist also nichts damit.‹ Sie hatte mich aber auf ihren Schoß gezogen und war in ihrer festen Wärme so schön und gut in den Armen zu halten, daß ich gar nicht daran denken konnte, von ihr zu lassen. Also habe ich der Franziska versprochen, ich wolle nimmer in die Lateinschule gehen und ein Handwerker werden. Sie lachte nur, aber ich ließ nicht nach, und zuletzt küßte sie mich wieder und versprach mir, wenn ich kein Lateinschüler mehr sei, dann wolle sie mein Schatz sein, und ich solle es gut bei ihr haben.«

Knulp hielt inne und hustete eine Weile. Sein Freund sah aufmerksam herüber, beide schwiegen eine kleine Zeit. Dann fuhr er fort: »Also, jetzt weißt du die Geschichte. Es ist natürlich nicht so geschwind gegangen, wie ich gemeint hatte. Mein Vater gab mir ein paar Ohrfeigen, als ich ihm mitteilte, ich wolle und könne jetzt nimmer in die Lateinschule gehen. Ich wußte nicht gleich Rat; oft habe ich mir vorgenommen, ich wolle unsere Schule anzünden. Das waren Kindergedanken, aber mit der Hauptsache ist es mir Ernst gewesen. Schließlich fiel mir der einzige Ausweg ein. Ich tat einfach in der Schule nimmer gut. Weißt du’s nimmer?«

»Wahrhaftig, es dämmert mir wieder. Du hast eine Zeitlang fast jeden Tag Arrest gehabt.«

»Ja. Ich habe Stunden geschwänzt und schlechte Antworten gegeben, ich habe die Aufgaben nimmer gemacht und meine Schulhefte verloren, es war jeden Tag etwas los, und schließlich bekam ich Freude dran und habe jedenfalls den Lehrern damals das Leben nicht leicht gemacht. Das Latein und das Zeug alles war mir sowieso jetzt nimmer extra wichtig. Du weißt, ich hab immer eine gute Nase gehabt, und wenn ich hinter etwas Neuem her war, dann gab’s eine Weile nichts anderes für mich auf der Welt. So war mir’s mit dem Turnen gegangen, und dann mit dem Forellenfangen, und mit der Botanik. Und gerade so hatte ich’s halt damals mit den Mädchen, und eh ich da die Hörner abgelaufen und meine Erfahrung gewonnen hatte, war mir nichts andres wichtig. Es ist ja auch blöd, so als Schulbub in der Bank zu hocken und Konjugationen zu üben, wenn man heimlich mit allen Sinnen doch nur bei dem ist, was man gestern abend beim Baden von den Mädchen ausspioniert hat. – Na, #item#! Die Lehrer merkten das vielleicht, sie hatten mich im ganzen gern und schonten mich solang wie möglich, und es wäre nichts aus meinen Absichten geworden, aber ich fing jetzt eine Freundschaft mit dem Bruder der Franziska an. Er ging in die Volksschule, in die letzte Klasse, und war ein schlechter Kerl; ich habe viel von ihm gelernt, aber nichts Gutes, und habe viel von ihm zu leiden gehabt. In einem halben Jahr war mein Ziel endlich erreicht, mein Vater hat mich halbtot geschlagen, aber ich war aus eurer Schule ausgewiesen und saß jetzt in der gleichen Volksschulstube wie der Bruder der Franziska.«

»Und sie? Das Mädel?« fragte Machold.

»Ja, das war eben der Jammer. Sie ist doch nicht mein Schatz geworden. Seit ich manchmal mit ihrem Bruder heimkam, wurde ich schlechter von ihr behandelt, wie wenn ich jetzt weniger wäre als früher, und erst als ich schon zwei Monate in der Volksschule saß und mir angewöhnte, öfter am Abend mich aus dem Haus zu stehlen, da wurde mir die Wahrheit bekannt. Ich streunte eines Abends spät im Rieder Wald herum, und wie ich’s schon mehrmals getan hatte, behorchte ich ein Liebespaar auf einer Bank, und als ich schließlich mich näher drückte, da war es die Franziska mit einem Mechanikergesellen. Sie haben gar nicht auf mich geachtet, er hatte den Arm um ihren Hals gelegt und in der Hand eine Zigarette, und ihre Bluse stand offen, und kurz, es war scheußlich. Da war also alles vergebens gewesen.«

Machold klopfte seinem Freund auf die Schulter.

»Na, vielleicht war’s für dich doch das Beste.«

Aber Knulp schüttelte energisch den scharfen Kopf.

»Nein, gar nicht. Ich möchte heut noch meine rechte Hand drum geben, wenn das anders gegangen wäre. Sag mir nichts über die Franziska, ich lasse nichts auf sie kommen. Und wenn es richtig gegangen wäre, dann hätte ich die Liebe auf eine schöne und glückliche Art kennen gelernt, und vielleicht hätte mir das geholfen, daß ich auch mit der Volksschule und mit meinem Vater im guten zurecht gekommen wäre. Denn – wie soll ich’s sagen? – schau, seither habe ich manche Freunde und Bekannte und Kameraden und auch Liebschaften gehabt; aber ich habe nie mehr mich auf das Wort eines Menschen verlassen oder mich selber durch ein Wort gebunden. Niemals mehr. Ich habe mein Leben gehabt, wie es mir paßte, und es hat mir nicht an Freiheit und an Schönem gefehlt, aber ich bin doch immer allein geblieben.«

Er griff nach dem Glase, sog mit Sorgfalt den letzten kleinen Schluck Wein und stand auf.

»Wenn du erlaubst, leg ich mich wieder hin, ich mag nimmer davon reden. Du hast gewiß auch noch zu tun.«

Der Doktor nickte.

»Noch etwas, du! Ich will heut um einen Platz im Spital für dich schreiben. Es paßt dir vielleicht nicht, aber da ist nichts zu ändern. Du gehst kaputt, wenn du nicht schnell in eine Pflege kommst.«

»Ach was,« rief Knulp mit ungewohnter Heftigkeit, »so laß mich halt kaputt gehen! Es nützt ja doch nichts mehr, das weißt du selber. Warum soll ich mich jetzt noch einsperren lassen?«

»Nicht so, Knulp, sei doch vernünftig! Ich wäre ein miserabler Doktor, wenn ich dich so herumlaufen ließe. In Oberstetten fänden wir sicher Platz für dich, und du kriegst extra einen Brief von mir mit, und nach acht Tagen komm ich selber einmal und seh nach dir. Ich verspreche dir’s.«

Der Landstreicher sank auf seinen Sitz zurück, es schien fast, als wäre er nahe am Weinen, und rieb seine dünnen Hände ineinander wie ein Frierender. Dann sah er dem Doktor flehentlich und kindlich in die Augen.

»Also denn,« sagte er ganz leise. »Es ist ja nicht recht von mir, du hast so viel für mich getan, und sogar Rotwein – es war alles viel zu gut und fein für mich. Du mußt mir nicht bös sein, ich habe noch eine große Bitte an dich.«

Machold klopfte ihm begütigend auf die Schulter.

»Sei gescheit, Alter! Es will dir niemand an den Kragen. Also, was ist’s?«

»Bist du mir nicht bös?«

»Gar nicht. Warum auch?«

»Dann bitt ich dich, Machold, dann mußt du mir einen großen Gefallen tun. Schick mich nicht nach Oberstetten! Wenn ich doch in so einen Spittel muß, dann möcht ich wenigstens nach Gerbersau, da kennt man mich, und ich bin dort daheim. Vielleicht ist es auch wegen der Armenpflege besser, ich bin ja dort geboren, und überhaupt –«

Seine Augen bettelten mit Inbrunst, er konnte vor Erregung kaum sprechen.

Er hat Fieber, dachte Machold. Und er sagte ruhig: »Wenn das alles ist, was du zu bitten hast – das wird bald in Ordnung sein. Du hast ganz recht, ich will nach Gerbersau schreiben. Geh du jetzt und lege dich hin, du bist müd und hast zuviel gesprochen.«

Er sah ihm nach, wie er schleppend ins Haus ging, und mußte plötzlich an den Sommer denken, da Knulp ihn im Forellenfangen unterrichtet hatte, an seine kluge, beherrschende Art, mit Kameraden umzugehen, an die hübsche zwölfjährige Glut des rassigen Buben.

»Armer Kerl,« dachte er mit einer Rührung, die ihn störte, und erhob sich rasch, um an die Arbeit zu gehen.

* * * * *

Der nächste Morgen brachte Nebel, und Knulp blieb den ganzen Tag im Bett. Der Doktor legte ihm einige Bücher hin, die er aber kaum berührte. Er war verdrossen und bedrückt, denn seit er Sorgfalt, Pflege, gutes Bett und zarte Kost genoß, spürte er deutlicher als zuvor, daß es mit ihm zu Ende gehe.

Wenn ich noch ein Weile so liege, dachte er unmutig, dann komme ich nimmer auf. Es war ihm wenig mehr ums Leben zu tun, die Landstraße hatte in den letzten Jahren viel von ihrem Zauber verloren. Aber sterben wollte er nicht, ehe er Gerbersau wiedergesehen und allerlei heimlichen Abschied dort genommen hätte, von Fluß und Brücke, vom Marktplatz und vom einstigen Garten seines Vaters, und auch von jener Franziska. Seine späteren Liebschaften waren vergessen, wie denn überhaupt die lange Reihe seiner Wanderjahre ihm jetzt klein und unwesentlich erschien, während die geheimnisvollen Zeiten der Knabenschaft einen neuen Glanz und Zauber gewannen.

Aufmerksam betrachtete er das einfache Gastzimmer; er hatte in vielen Jahren nicht so prächtig gewohnt. Er studierte mit sachlichem Blick und tastenden Fingern das Gewebe der Bettleinwand, die weiche, ungefärbte Wolldecke, die feinen Kissenbezüge. Auch der hartholzene Fußboden interessierte ihn, und die Photographie an der Wand, die den Dogenpalast in Venedig vorstellte und in Glasmosaik gerahmt war.

Dann lag er wieder lange mit offenen Augen, ohne etwas zu sehen, müde und nur mit dem beschäftigt, was still in seinem kranken Leibe vorging. Aber plötzlich fuhr er wieder auf, beugte sich schnell aus dem Bett und angelte mit hastigen Fingern seine Stiefel her, um sie sorgfältig und sachkundig zu untersuchen. Gut waren sie nimmer, aber es war Oktober, und bis zum ersten Schnee würden sie noch aushalten. Und nachher war doch alles aus. Es kam ihm der Gedanke, er könnte Machold um ein paar alte Schuhe bitten. Aber nein, der würde nur mißtrauisch werden; ins Spital braucht man kein Schuhwerk. Vorsichtig tastete er die brüchigen Stellen im Oberleder ab. Wenn das gut mit Fett behandelt wurde, mußte es mindestens noch einen Monat halten. Die Sorge war überflüssig; vermutlich würde dies alte Paar Schuhe ihn überdauern und noch im Dienste sein, wenn er selbst schon von der Landstraße verschwunden war.

Er ließ die Stiefel fallen und versuchte tief zu atmen, es tat ihm aber weh und machte ihn husten. Da blieb er still und wartend liegen, atmete in kleinen Zügen und hatte Angst, es möchte schlimm mit ihm werden, ehe er sich seine letzten Wünsche erfüllt hätte.

Er versuchte an den Tod zu denken, wie schon manchmal, aber sein Kopf ermüdete daran und er fiel in Halbschlummer. Nach einer Stunde erwachend, meinte er tagelang geschlafen zu haben und fühlte sich frisch und still. Er dachte an Machold, und es fiel ihm ein, er müsse ihm ein Zeichen seiner Dankbarkeit dalassen, wenn er fortginge. Er wollte ihm eins von seinen Gedichten aufschreiben, weil der Doktor gestern einmal danach gefragt hatte. Aber er konnte sich auf keines ganz besinnen, und keines gefiel ihm. Durchs Fenster sah er im nahen Wald den Nebel stehen und starrte lange hinüber, bis ihm ein Gedanke kam. Mit einem Bleistiftende, das er gestern im Hause gefunden und mitgenommen hatte, schrieb er auf das saubere weiße Papier, mit dem die Schublade seines Nachttisches ausgelegt war, einige Zeilen:

Die Blumen müssen Alle verdorren, Wenn der Nebel kommt, Und die Menschen Müssen sterben, Man legt sie ins Grab.

Auch die Menschen sind Blumen, Sie kommen alle wieder, Wenn ihr Frühling ist. Dann sind sie nimmer krank, Und alles wird verziehen.

Er hielt inne und las, was er geschrieben hatte. Es war kein richtiges Lied, die Reime fehlten, aber es stand doch das darin, was er hatte sagen wollen. Und er netzte den Bleistift an den Lippen und schrieb darunter: »Für Herrn Doktor Machold, Wohlgeboren, von seinem dankbaren Freunde K.«

Dann legte er das Blatt in die kleine Schublade.

* * * * *

Andern Tages war der Nebel noch dicker geworden, aber es war eine strengkühle Luft, und man konnte am Mittag auf Sonne hoffen. Der Doktor ließ Knulp aufstehen, da er flehentlich danach verlangte, und erzählte, daß im Gerbersauer Spital Platz für ihn sei und er dort erwartet werde.

»Da will ich gleich nach dem Mittagessen marschieren,« meinte Knulp, »vier Stunden brauche ich doch, vielleicht fünf.«

»Das fehlt noch!« rief Machold lachend. »Fußwandern ist jetzt nichts für dich. Du fährst mit mir im Wagen, wenn wir sonst keine Gelegenheit finden. Ich schicke einmal zum Schulzen hinüber, der fährt vielleicht mit Obst oder mit Kartoffeln in die Stadt. Auf einen Tag kommt es jetzt auch nimmer an.«

Der Gast fügte sich, und als man erfuhr, daß morgen der Schulzenknecht mit zwei Kälbern nach Gerbersau fahre, wurde beschlossen, Knulp sollte mit ihm fahren.

»Einen wärmeren Rock könntest du aber auch brauchen,« sagte Machold, »kannst du einen von mir tragen? Oder ist der zu weit?«

Er hatte nichts dagegen, der Rock wurde geholt, probiert und gut befunden. Knulp aber, da der Rock von gutem Tuch und wohlbehalten war, machte sich in seiner alten Kindereitelkeit sogleich daran, die Knöpfe zu versetzen. Belustigt ließ ihn der Doktor machen und gab ihm noch einen Hemdkragen dazu.

Am Nachmittag probierte Knulp in aller Heimlichkeit seine neue Kleidung, und da er nun wieder so gut aussah, begann es ihm leid zu tun, daß er sich in der letzten Zeit nicht mehr rasiert hatte. Er wagte nicht, die Haushälterin um des Doktors Rasierzeug zu bitten, aber er kannte den Schmied im Dorf und wollte dort einen Versuch machen.

Bald hatte er die Schmiede gefunden; er trat in die Werkstatt und sagte den alten Handwerksgruß: »Fremder Schmied spricht um Arbeit zu.«

Der Meister sah ihn kalt und prüfend an.

»Du bist kein Schmied,« sagte er gelassen. »Das mußt du einem andern weismachen.«

»Richtig,« lachte der Landstreicher. »Du hast noch gute Augen, Meister, und doch kennst du mich nicht. Weißt du, ich bin früher Musikant gewesen, und du hast in Haiterbach manchen Samstagabend zu meiner Handorgel getanzt.«

Der Schmied zog die Augenbrauen zusammen und tat noch ein paar Stöße mit der Feile, dann führte er Knulp ans Licht und sah ihn mit Aufmerksamkeit an.

»Ja, jetzt weiß ich,« lachte er kurz. »Du bist also der Knulp. Man wird halt älter, wenn man sich so lang nicht sieht. Was willst du in Bulach? Auf einen Zehner und auf ein Glas Most soll’s mir nicht ankommen.«

»Das ist recht von dir, Schmied, und ich nehm’s für genossen an. Aber ich will was anderes. Du könntest mir dein Rasiermesser für eine Viertelstunde leihen, ich will heut abend zum Tanzen gehen.«

Der Meister drohte ihm mit dem Zeigefinger.

»Du bist doch ein Lugenbeutel, ein alter. Ich meine, mit dem Tanzen wirst du’s nimmer wichtig haben, so wie du aussiehst.«

Knulp kicherte vergnügt.

»Du merkst doch alles! Schad, daß du kein Amtmann geworden bist. Ja, ich muß also morgen ins Spital, der Machold schickt mich hin, und da wirst du begreifen, daß ich nicht so wie ein Zottelbär antreten mag. Gib mir das Messer, in einer halben Stunde hast du’s wieder.«

»So? Und wo willst du denn hin damit?«

»Zum Doktor hinüber, ich schlafe bei ihm. Gelt, du gibst mir’s?«

Das schien dem Schmied nicht sehr glaubwürdig.

Er blieb mißtrauisch.

»Ich geb dir’s schon. Aber weißt du, es ist kein so gewöhnliches Messer, es ist eine echte Solinger Hohlklinge. Die möcht ich gern wiedersehen.«

»Verlaß dich drauf.«

»Ja, schon. Du hast da einen guten Rock an, Freundlein. Den brauchst du zum Rasieren nicht. Ich will dir was sagen: Zieh ihn aus und laß ihn da, und wenn du mit dem Messer wiederkommst, kriegst du auch den Rock wieder.«

Der Landstreicher verzog das Gesicht.

»Also gut. Extra nobel bist du nicht, Schmied. Aber es soll meinetwegen gelten.«

Nun holte der Schmied das Messer, Knulp gab den Rock zum Pfande, duldete aber nicht, daß der rußige Schmied ihn anfasse. Und nach einer halben Stunde kam er wieder und gab das Solinger Messer zurück, und sein struppiges Kinnbärtchen war weg, er sah ganz anders aus.

»Jetzt noch ein Nägelein hinters Ohr, dann kannst du weiben gehen,« sagte der Schmied voll Anerkennung.

Aber Knulp war nicht mehr zu Scherzen gelaunt, er zog seinen Rock wieder an, sagte kurzen Dank und ging davon.

Auf dem Heimweg traf er vor dem Hause den Doktor, der ihn verwundert anhielt.

»Wo läufst denn du herum? Ja, und wie siehst du aus! – Aha, rasiert! Mensch, du bist doch ein Kindskopf!«

Aber es gefiel ihm, und Knulp bekam diesen Abend wieder einen Rotwein zu trinken. Die beiden Schulkameraden feierten Abschied, und jeder war so aufgeräumt wie möglich, und keiner wollte sich etwas wie eine Beklemmung anmerken lassen.

Zeitig am Morgen kam der Knecht des Schulzen mit dem Wagen vorgefahren, auf dem in Lattenverschlägen zwei Kälber standen, mit den Knien zitterten und grell in den kalten Morgen starrten. Es lag zum erstenmal Reif auf den Wiesen. Knulp wurde zu dem Knecht auf den Bock gesetzt und bekam eine Decke über die Knie, der Doktor drückte ihm die Hand und schenkte dem Knecht eine halbe Mark; der Wagen rasselte weg und dem Wald entgegen, während der Knecht seine Pfeife anzündete und Knulp mit verschlafenen Augen in die hellblaue Morgenkühle blinzelte.

Aber später kam die Sonne, und der Mittag wurde ganz warm. Die zwei auf dem Bock unterhielten sich ausgezeichnet, und als sie in Gerbersau ankamen, wollte der Knecht durchaus samt seinem Wagen und den Kälbern den Umweg machen und am Krankenhaus vorfahren. Indessen hatte Knulp ihm das bald ausgeredet, und sie trennten sich freundschaftlich vor der Einfahrt in die Stadt. Da blieb Knulp stehen und sah dem Wagen nach, bis er unter den Ahornen beim Viehmarkt verschwand.

Er lächelte und schlug einen Heckenpfad zwischen den Gärten ein, den nur Einheimische kannten. Er war wieder frei! Im Spital mochten sie warten.

* * * * *

Noch einmal kostete der Heimgekehrte das Licht und den Duft, die Geräusche und Gerüche der Heimat und die ganze erregende und sättigende Vertrautheit des Daheimseins: Gewühl der Bauern und Bürger auf dem Viehmarkt, durchsonnte Schatten brauner Kastanienbäume, Trauerflug später dunkler Herbstfalter an der Stadtmauer, Klang des vierstrahligen Marktbrunnens, Weingeruch und hohles hölzernes Gehämmer aus der gewölbten Kellereinfahrt des Küfermeisters, wohlbekannte Gassennamen, jeder dicht behängt von einem unruhigen Schwarm von Erinnerungen. Mit allen Sinnen schlürfte der Heimatlose den vielfältigen Zauber des Zuhauseseins, des Kennens, des Wissens, des Sicherinnerns, der Kameradschaft mit jeder Straßenecke und jedem Prellstein. Schlendernd und unermüdet war er den ganzen Nachmittag in allen Gassen unterwegs, belauschte den Messerschleifer am Fluß, sah dem Drechsler durchs Fenster seiner Werkstatt zu, las auf neugemalten Schildern die alten Namen wohlbekannter Familien. Er tauchte die Hand in den steinernen Trog des Marktbrunnens, seinen Durst aber löschte er erst unten am kleinen Abtsbrünnlein, das noch immer geheimnisvoll wie vor all den verflossenen Jahren im Erdgeschoß eines uralten Hauses entsprang und in der seltsam klaren Dämmerung seiner Quellstube zwischen den Steinplatten rauschte. Am Flusse stand er lange und lehnte an der hölzernen Brüstung überm ziehenden Wasser, worin das dunkle Seegras langhaarig wallte und die schmalen Rücken der Fische schwarz und stille über den zitternden Kieseln standen. Er ging über den alten Steg und ließ sich in der Mitte in die Kniekehlen sinken, um wie als Knabe den feinen, lebendig elastischen Gegenschwung des Brückleins in sich zu spüren.

Ohne Eile spazierte er weiter und vergaß nichts, nicht die Kirchenlinde mit dem kleinen Rasenstück und nicht das Wehr der oberen Mühle, seinen einstigen Lieblingsbadeplatz. Er blieb vor dem Häuschen stehen, in dem vor Zeiten sein Vater gewohnt hatte, und lehnte sich eine kleine Weile zärtlich mit dem Rücken an die alte Haustür, suchte auch den Garten auf und sah über einen lieblos neuen Drahtzaun weg in eine neu angelegte Pflanzung hinein – aber die vom Regenwasser abgerundeten Steinstufen und der runde, feiste Quittenbaum neben der Tür waren noch die alten. Hier hatte Knulp seine besten Tage gehabt, noch ehe er sich aus der Lateinschule hatte wegjagen lassen, hier hatte er einst ein volles Glück, Erfüllungen ohne Rest, Seligkeiten ohne Bitternisse gekostet, diebesselige Kirschensommer, versunkenes flüchtiges Gärtnerglück im Belauschen und Pflegen seiner Blumen: geliebter Goldlack, lustige Winde, zärtlich samtenes Stiefmütterchen, und Kaninchenställe und Werkstatt und Drachenbau, Wasserleitungen aus dem Markrohr des Holunders und Mühlräder aus Fadenrollen mit Schaufeln aus Schindelstücken. Kein Dach, dessen Katzen er nicht gekannt, kein Garten, dessen Früchte er nicht versucht, kein Baum, den er nicht bestiegen, in dessen Krone er nicht ein grünes Traumnest besessen hatte. Dieses Stück Welt hatte ihm gehört, war von ihm in tiefster Vertrautheit gekannt und geliebt worden; hier hatte jeder Strauch und jeder Gartenhag Bedeutung, Sinn, Geschichten für ihn gehabt, jeder Regen– und Schneefall zu ihm gesprochen, hier hatte Luft und Erde in seinen Träumen und Wünschen gelebt, sie erwidert und ihr Leben mitgeatmet. Und heute noch, dachte Knulp, war vielleicht hier ringsum kein Hausbewohner und kein Gartenbesitzer, dem dies alles mehr angehört hätte als ihm, dem es mehr wert war, mehr sagte, mehr Antwort gab, mehr Erinnerungen weckte.

Zwischen nahen Dächern stach hoch und spitzig der graue Giebel eines schmächtigen Hauses empor. Dort hatte vor Zeiten der Rotgerber Haasis gewohnt, und dort hatten Knulps Kinderspiele und Knabenwonnen ihr Ende gefunden in den ersten Heimlichkeiten und zärtlichen Händeln mit Mädchen. Von dort war er manchen Abend über die dämmernde Gasse heimgekehrt mit keimenden Ahnungen der Liebeslust, dort hatte er den Gerberstöchtern die Zöpfe aufgelöst und unter den Küssen der schönen Franziska getaumelt. Er wollte hinübergehen, später am Abend, oder vielleicht morgen. Jetzt aber lockten diese Erinnerungen ihn wenig, er hätte sie alle zusammen gerne hingegeben für das Gedächtnis einer einzigen Stunde der früheren, der Knabenzeit.

Eine Stunde und länger verweilte er am Gartenzaun und schaute hinunter, und was er sah, war nicht der neue, fremde Garten, der dalag und mit dem jungen Beerengesträuch schon ganz leer und herbstlich aussah. Er sah den Garten seines Vaters, und seine Kinderblumen im kleinen Beet, am Ostersonntag gepflanzte Aurikeln und glasige Balsaminen, und kleine Gebirge aus Steinchen, auf welchen er hundertmal gefangene Eidechsen ausgesetzt hatte, unglücklich, daß keine dort bleiben und wohnen und sein Haustier sein wollte, und dennoch immer wieder voll Erwartung und Hoffnung, wenn er eine neue mitbrachte. Alle Häuser und Gärten, alle Blumen und Eidechsen und Vögel der Welt konnte man ihm heute schenken, und es wäre nichts gegen den zaubervollen Glanz einer einzigen Sommerblume, wie sie damals in seinem Gärtchen wuchs und die köstlichen Blumenblätter leise aus der Knospe rollte. Und die Johannisbeerbüsche von damals, deren jeden er noch genau im Gedächtnis hatte! Sie waren fort, sie waren nicht ewig und unzerstörbar gewesen, irgendein Mann hatte sie ausgerissen und ausgegraben und ein Feuer draus gemacht, Holz und Wurzeln und welke Blätter waren miteinander verbrannt, und niemand hatte darum geklagt.

Ja, hier hatte er oft den Machold bei sich gehabt. Der war jetzt ein Doktor und Herr und fuhr im Einspänner bei den kranken Leuten herum, und er war wohl auch ein guter und aufrichtiger Mensch geblieben; aber auch er, auch dieser kluge und stramme Mann, was war er gegen damals, gegen den gläubigen, scheuen, erwartungsvoll zärtlichen Knaben von damals? Hier hatte ihm Knulp gezeigt, wie man Käfige für Fliegen baut und Schindeltürme für Heuschrecken, und er war Macholds Lehrer und sein größerer, klügerer, bewunderter Freund gewesen.

Der nachbarliche Fliederbaum war alt und moosig dürr geworden, und das Lattenhaus im andern Garten war zerfallen, und man mochte an seine Stelle bauen, was man wollte, es wurde nie mehr so schön und beglückend und richtig, wie alles einmal gewesen war.

Es begann zu dämmern und kühl zu werden, als Knulp den vergrasten Gartenweg verließ. Vom neuen Kirchturm, der das Bild der Stadt veränderte, rief eine neue Glocke laut herüber.

Er schlich durchs Tor der Rotgerberei in den Gerbergarten, es war Feierabend und niemand zu sehen. Unhörbar schritt er über den weichen Lohboden an den gähnenden Löchern vorüber, wo die Häute in der Lauge lagen, und bis zum Mäuerchen, wo der Fluß schon dunkel an den moosig grünen Steinen hintrieb. Da war der Ort, an dem er einmal eine Abendstunde mit Franziska gesessen war, die bloßen Füße im Wasser plätschernd.

Und wenn sie mich nicht vergebens hätte warten lassen, dachte Knulp, dann wäre alles anders gekommen. Wenn auch die Lateinschule und das Studieren versäumt war, ich hätte Kraft und Willen genug gehabt, um doch etwas zu werden. Wie einfach und klar war das Leben! Damals hatte er sich weggeworfen und von allem nichts mehr wissen wollen, und das Leben war darauf eingegangen und hatte nichts von ihm verlangt. Er war außerhalb gestanden, ein Bummler und Zaungast, beliebt in den guten jungen Jahren und allein im Kranksein und Altern.

Es ergriff ihn eine große Müdigkeit, er setzte sich auf dem Mäuerchen nieder, und der Fluß rauschte dunkel in seine Gedanken. Da wurde über ihm ein Fenster hell, das mahnte ihn, es sei spät, und man dürfe ihn hier nicht finden. Er schlüpfte lautlos aus dem Lohgarten und aus dem Tor, knöpfte den Rock zu und dachte ans Schlafen. Er hatte Geld, der Doktor hatte ihn beschenkt, und nach kurzem Besinnen verschwand er in einer Herberge. Er hätte in den »Engel« oder »Schwanen« gehen können, wo man ihn kannte und wo er Freunde gefunden hätte. Aber daran war ihm jetzt nicht gelegen.

* * * * *

Vieles hatte sich im Städtchen verändert, was ihn früher bis ins kleinste interessiert hätte, aber diesmal wollte er nichts sehen und wissen, als was zur alten Zeit gehörte. Und als er nach kurzem Fragen erfuhr, daß die Franziska nicht mehr lebe, da verblaßte alles, und ihm schien, er sei einzig ihretwegen hergekommen. Nein, es hatte keinen Sinn, hier in den Gassen und zwischen den Gärten herumzustrolchen und sich von denen, die ihn kannten, halb mitleidige Späße zurufen zu lassen. Und als er zufällig in dem engen Postgäßlein dem Oberamtsarzt begegnete, fiel ihm plötzlich ein, man könnte ihn am Ende droben im Krankenhaus vermissen und nach ihm fahnden. Alsbald kaufte er bei einem Bäcker zwei Wecken, stopfte sie in seine Rocktaschen und stieg noch vor Mittag zur Stadt hinaus eine steile Bergstraße hinan.

Da saß hoch oben am Waldrande, an der letzten großen Straßenbiegung, ein staubiger Mann auf einem Steinhaufen und klopfte mit einem langstieligen Hammer den graublauen Muschelkalk in Stücke.

Knulp sah ihn an, grüßte und blieb stehen.

»Grüß Gott,« sagte der Mann und klopfte weiter, ohne den Kopf zu heben.

»Ich meine, das Wetter bleibt nimmer lang,« probierte Knulp.

»Kann schon sein,« brummte der Steinklopfer und sah einen Augenblick empor, vom Mittagslicht auf der hellen Straße geblendet. »Wo wollet Ihr hinaus?«

»Nach Rom zum Papst,« sagte Knulp. »Ist’s wohl noch weit?«

»Heut kommet Ihr nimmer hin. Wenn Ihr überall stehen bleiben müsset und die Leute in der Arbeit stören, dann erlaufet Ihr’s in keinem Jahr.«

»So, meinet Ihr? Na, eilig hab ich’s nicht, Gott sei Dank. Ihr seid ein fleißiger Mann, Herr Andres Schaible.«

Der Steinklopfer hielt die Hand über die Augen und musterte den Wanderer.

»Ihr kennt mich also,« sagte er bedächtig, »und ich kenn Euch auch, will mir scheinen. Bloß auf den Namen muß ich noch kommen.«

»Da müsset Ihr den alten Krabbenwirt fragen, wo wir Anno neunzig allemal unseren Sitz gehabt haben. Aber er wird nimmer leben.«

»Schon lang nimmer. Aber jetzt tagt mir’s, alter Kunde. Du bist der Knulp. Setz dich ein bißchen her, und grüß Gott auch!«

Knulp setzte sich, er war zu rasch gestiegen und atmete mit Beschwerden; er sah erst jetzt, wie schön in der Tiefe das Städtchen lag, blaublanker Fluß, rotbraunes Dächergewimmel und kleine grüne Bauminseln dazwischen.

»Du hast es nett hier droben,« sagte er aufatmend.

»Es geht so, ich kann nicht klagen. Und du? Früher ist’s leichter den Berg rauf gegangen, gelt? Du schnaufst ja heillos, Knulp. Hast wieder einmal die Heimat besucht?«

»Jawohl, Schaible, es wird das letztemal sein.«

»Und warum denn?«

»Weil halt die Lunge kaputt ist. Weißt du nix dagegen?«

»Daheim geblieben wenn du wärst, mein Lieber, und hättest brav geschafft, und hättest Weib und Kinder und jeden Abend dein Bett, dann wär’s vielleicht anders mit dir. Na, darüber weißt du meine Meinung von früher her. Da kann man jetzt nichts machen. Ist’s denn so schlimm?«

»Ach, ich weiß nicht. – Oder doch, ich weiß schon. Es geht halt den Berg hinunter, und jeden Tag ein bißchen schneller. Da ist’s dann wieder ganz gut, wenn man für sich allein ist und niemand zur Last fällt.«

»Wie man’s nimmt; das ist deine Sache. Es tut mir aber leid.«

»Ist nicht nötig. Gestorben muß einmal sein, es kommt sogar an die Steinklopfer. Ja, alter Kunde, da sitzen jetzt wir zwei und können uns beide nicht viel einbilden. Du hast ja auch einmal andere Gedanken im Kopf gehabt. Hast du nicht damals zur Eisenbahn gewollt?«

»Ach, das sind alte Geschichten.«

»Und deine Kinder sind gesund?«

»Ich weiß nichts andres. Der Jakob verdient jetzt schon.«

»So? Ha, die Zeit vergeht. Ich will, glaub ich, jetzt auch ein wenig weiter.«

»Es pressiert nicht so. Wenn man sich so lang nimmer gesehen hat! Sag, Knulp, kann ich dir mit etwas helfen? Viel hab ich nicht bei mir, es wird eine halbe Mark sein.«

»Die kannst du selber brauchen, Alterle. Nein, danke schön.«

Er wollte noch etwas sagen, aber es wurde ihm elend ums Herz, und er schwieg, und der Steinklopfer gab ihm aus seiner Mostflasche zu trinken. Sie blickten eine Weile auf die Stadt hinunter, ein Sonnenspiegel im Mühlkanal blitzte kräftig herauf, über die Steinbrücke fuhr langsam ein Lastwagen, und unterm Wehr schwamm lässig ein weißes Gänsegeschwader.

»Jetzt hab ich ausgeruht und muß weiter,« fing Knulp wieder an.

Der Steinklopfer saß in Gedanken und schüttelte den Kopf.

»Hör, du, du hättest mehr werden können als so ein armer Teufel von Pennbruder,« sagte er langsam. »Es ist doch sündenschad um dich. Weißt du, Knulp, ich bin gewiß kein Stündeler, aber ich glaube halt doch, was in der Bibel steht. Du mußt auch daran denken. Du wirst dich verantworten müssen, es wird nicht so leicht gehn. Du hast Gaben gehabt, bessere als ein anderer, und es ist doch nichts aus dir geworden. Du darfst mir’s nicht zürnen, wenn ich das sage.«

Jetzt lächelte Knulp, und ein Schimmer von der alten harmlosen Schelmerei stand in seinen Augen. Er klopfte seinem Kameraden freundlich auf den Arm und stand auf.

»Wir werden ja sehen, Schaible. Der liebe Gott fragt mich vielleicht gar nicht: Warum bist du nicht Amtsrichter geworden? Vielleicht sagt er auch bloß: Bist wieder da, du Kindskopf? und gibt mir droben eine leichte Arbeit, Kinderhüten oder so.«

Andres Schaible zuckte die Achseln unter dem blau und weiß gewürfelten Hemde.

»Mit dir kann man nicht im Ernst reden. Du meinst, wenn der Knulp kommt, da wird der Herrgott nichts als Späße machen.«

»Ach nein. Aber es könnte doch sein, nicht?«

»Red nicht so!«

»Ja, dann will ich dem lieben Gott sagen, er solle halt einmal den Schaible fragen, der kenne mich gut. Was sagst du ihm dann?«

»Nee, mich braucht der Herrgott gewiß nicht dazu. Aber ich täte sagen: Der Knulp hat sein Leben lang nichts als Kindereien getrieben, aber ich glaube, er ist halt doch ein guter und anständiger Kerl gewesen.«

Sie gaben sich die Hände, und dabei steckte der Steinklopfer ihm ein kleines Geldstück zu, das er verstohlen aus seiner Hosentasche gegraben hatte. Und Knulp nahm es an und wehrte sich nimmer, um dem anderen nicht seine Freude zu verderben.

Er warf noch einen Blick in das alte heimatliche Tal, nickte noch einmal zu Andres Schaible zurück, dann begann er zu husten und machte schnellere Schritte, und war alsbald um die obere Waldecke verschwunden.

* * * * *

Vierzehn Tage später, nachdem es auf nebelkalte Tage noch sonnige mit späten Glockenblumen und kühlreifen Brombeeren gegeben hatte, brach plötzlich der Winter herein. Es gab strengen Frost und darauf am dritten Tage bei milderer Luft einen schweren, hastigen Schneefall.

Knulp war diese ganze Zeit unterwegs gewesen, auf zielloser Streife immer im Umkreis der Heimat, und noch zweimal hatte er aus nächster Nähe, im Walde verborgen, den Steinklopfer Schaible gesehen und beobachtet, ohne ihn nochmals anzurufen. Er hatte zu viel zu denken gehabt und war auf allen den langen, mühsamen, nutzlosen Wegen immer tiefer in das Gewirre seines verfehlten Lebens geraten wie in zähe Dornranken, ohne den Sinn und Trost dazu zu finden. Dann war die Krankheit von neuem über ihn gekommen, und wenig fehlte, so wäre er eines Tages trotz allem doch noch in Gerbersau erschienen und hätte am Krankenhaus angeklopft. Aber als er nach tagelangem Alleinsein wieder die Stadt unten liegen sah, da klang ihm alles fremd und feindlich entgegen, und es ward ihm klar, daß er nimmer dorthin gehöre. Zuweilen kaufte er in einem Dorf ein Stück Brot, auch gab es noch Haselnüsse genug. Die Nächte brachte er in den Blockhütten der Waldarbeiter oder zwischen Strohbündeln auf dem Felde zu.

Jetzt kam er im dichten Schneetreiben vom Wolfsberg herüber gegen die Talmühle gegangen, verfallen und todesmüde und dennoch immerzu auf den Beinen, als müsse er den kleinen Rest seiner Tage noch mächtig ausnützen und laufen, laufen, allen Waldrändern und Schneisen nach. So krank und müde er war, seine Augen und seine Nüstern hatten die alte Beweglichkeit behalten; äugend und schnuppernd wie ein feinfühliger Jagdhund stellte er auch jetzt noch, da es keine Ziele mehr für ihn gab, jede Bodensenkung, jeden Windhauch, jede Tierspur fest. Sein Wille war nicht dabei, und seine Beine gingen von selber.

In seinen Gedanken aber stand er jetzt wieder, wie seit einigen Tagen fast immerzu, vor dem lieben Gott und sprach unaufhörlich mit ihm. Furcht hatte er keine; er wußte, daß Gott uns nichts tun kann. Aber sie sprachen miteinander, Gott und Knulp, über die Zwecklosigkeit seines Lebens, und wie das hätte anders eingerichtet werden können, und warum dies und jenes so und nicht anders habe gehen müssen.

»Damals ist es gewesen,« beharrte Knulp immer wieder, »damals, wie ich vierzehn Jahre alt war und die Franziska mich im Stich gelassen hat. Da hätte noch alles aus mir werden können. Und dann ist irgend etwas in mir kaputt gegangen oder verpfuscht worden, und von da an habe ich eben nichts mehr getaugt. – Ach was, der Fehler ist einfach der gewesen, daß du mich nicht mit vierzehn Jahren hast sterben lassen! Dann wäre mein Leben so schön und vollkommen gewesen wie ein reifer Apfel.«

Der liebe Gott aber lächelte immerzu, und manchmal verschwand sein Gesicht ganz in dem Schneetreiben.

»Na, Knulp,« sagte er ermahnend, »denk einmal an deine Jungeburschenzeit, und an den Sommer im Odenwald, und an die Lächstettener Zeiten! Hast du da nicht getanzt wie ein Reh, und hast das schöne Leben in allen Gelenken zucken gefühlt? Hast du nicht singen können und Harmonika spielen, daß den Mädchen die Augen übergelaufen sind? Weißt du noch die Sonntage in Bauerswil? Und deinen ersten Schatz, die Henriette? Ja, ist denn das alles nichts gewesen?«

Knulp mußte nachdenken, und wie ferne Bergfeuer strahlten ihm die Freuden seiner Jugend dunkelschön herüber und dufteten schwer und süß wie Honig und Wein, und klangen tieftönig wie Tauwind in der Vorfrühlingsnacht. Herrgott, es war schön gewesen, schön die Lust und schön die Trauer, und es wäre jammerschade um jeden Tag gewesen, der gefehlt hätte!

»Ach ja, es war schön,« gab er zu, und war doch voll Weinerlichkeit und Widerspruch wie ein müdes Kind. »Es war ja wunderschön damals. Freilich, Schuld und Traurigkeit ist auch schon dabei gewesen. Aber es ist wahr, es sind gute Jahre gewesen, und vielleicht haben nicht viele solche Becher ausgetrunken und solche Tänze angeführt und solche Liebesnächte gefeiert, wie ich dazumal. Aber dann, dann hätte es aus sein sollen! Schon dort war ein Stachel im Glück, ich weiß noch wohl, und dann sind niemals mehr so gute Zeiten gekommen. Nein, niemals mehr.«

Der liebe Gott war weit im Schneegewehe verschwunden. Nun, da Knulp ein wenig stehen blieb, um wieder zu Atem zu kommen und ein paar kleine Blutflecke in den Schnee zu spucken, nun war Gott unversehens wieder da und gab Antwort.

»Sag einmal, Knulp, bist du nicht ein wenig undankbar? Ich muß lachen, wie vergeßlich du geworden bist! Wir haben uns an die Zeit erinnert, wo du der Tanzbodenkönig warst, und an deine Henriette, und du hast zugeben müssen: es war gut und schön, es hat wohlgetan und einen Sinn gehabt. Und wenn du so an die Henriette denkst, mein Lieber, mit was für Gefühlen willst du dann gar an Lisabeth denken? He? Ja, hast du denn die ganz vergessen können?«

Und wieder stand wie ein fernes Gebirge ein Stück Vergangenheit vor Knulps Augen, und wenn es nicht ganz so froh und lustig aussah wie das vorige, so glänzte es dafür viel heimlicher und inniger, wie Frauen lächeln zwischen Tränen, und es standen Tage und Stunden aus ihren Gräbern auf, an die er lange nimmer gedacht hatte. Und mitten inne stand Lisabeth, mit schönen, traurigen Augen, den kleinen Buben auf dem Arm.

»Was für ein schlechter Kerl bin ich gewesen!« fing er wieder zu klagen an. »Nein, seit die Lisabeth tot ist, hätte ich auch nimmer leben dürfen.«

Aber Gott ließ ihn nicht weiterreden. Er sah ihn durchdringend aus den hellen Augen an und fuhr fort: »Hör auf, Knulp! Du hast der Lisabeth sehr weh getan, das ist nicht anders, aber du weißt wohl, sie hat doch mehr Zartes und Schönes von dir empfangen als Böses, und sie hat dir nicht einen Augenblick gezürnt. Siehst du denn immer noch nicht, du Kindskopf, was der Sinn von dem allen war? Siehst du nicht, daß du deswegen ein Leichtfuß und ein Vagabund sein mußtest, damit du überall ein Stück Kindertorheit und Kinderlachen hintragen konntest? Damit überall die Menschen dich ein wenig lieben und dich ein wenig hänseln und dir ein wenig dankbar sein mußten?«

»Es ist am Ende wahr,« gab Knulp nach einigem Schweigen halblaut zu. »Aber das ist alles früher gewesen, da war ich noch jung! Warum hab ich aus dem allem nichts gelernt und bin kein rechter Mensch geworden? Es wäre noch Zeit gewesen.«

Es gab eine Pause im Schneefall. Knulp rastete wieder einen Augenblick und wollte den dicken Schnee von Hut und Kleidern schütteln. Aber er kam nicht dazu, er war zerstreut und müde, und Gott stand jetzt nahe vor ihm, seine lichten Augen waren weit offen und strahlten wie die Sonne.

»Nun sei einmal zufrieden,« mahnte Gott, »was soll das Klagen nützen? Kannst du wirklich nicht sehen, daß alles gut und richtig zugegangen ist und daß nichts hätte anders sein dürfen? Ja, möchtest du denn jetzt ein Herr oder ein Handwerksmeister sein und Frau und Kinder haben und am Abend das Wochenblatt lesen? Würdest du nicht sofort wieder davonlaufen und im Wald bei den Füchsen schlafen und Vogelfallen stellen und Eidechsen zähmen?«

Wieder fing Knulp zu gehen an, er schwankte vor Müdigkeit und spürte doch nichts davon. Es war ihm viel wohler zumute geworden, und er nickte dankbar zu allem, was Gott ihm sagte.

»Sieh,« sprach Gott, »ich habe dich nicht anders brauchen können, als wie du bist, und ich habe dir den Stachel der Heimatlosigkeit und Wanderschaft mitgeben müssen, sonst wärest du irgendwo sitzen geblieben und hättest mir mein Spiel verdorben. In meinem Namen bist du gewandert und hast den seßhaften Leuten immer wieder ein wenig Heimweh nach Freiheit mitbringen müssen. In meinem Namen hast du Dummheiten gemacht und dich verspotten lassen; ich selber bin in dir verspottet und bin in dir geliebt worden. Du bist ja mein Kind und mein Bruder und ein Stück von mir, und du hast nichts gekostet und nichts gelitten, was ich nicht mit dir erlebt habe.«

»Ja,« sagte Knulp und nickte schwer mit dem Kopf. »Ja, es ist so, ich habe es eigentlich immer gewußt.«

Er lag ruhend im Schnee, und seine müden Glieder waren ganz leicht geworden, und seine entzündeten Augen lächelten.

Und als er sie schloß, um ein wenig zu schlafen, hörte er noch immer Gottes Stimme reden und sah noch immer in seine hellen Augen.

»Also ist nichts mehr zu klagen?« fragte Gottes Stimme.

»Nichts mehr,« nickte Knulp und lachte schüchtern.

»Und alles ist gut? Alles ist, wie es sein soll?«

»Ja,« nickte er, »es ist alles, wie es sein soll.«

Gottes Stimme wurde leiser und tönte bald wie die seiner Mutter, bald wie Henriettes Stimme, bald wie die gute, sanfte Stimme der Lisabeth.

»Dann bist du daheim,« sagte die Stimme. »Dann bist du daheim und bleibst bei mir.«

Als Knulp die Augen nochmals auftat, schien die Sonne und blendete so sehr, daß er schnell die Lider senken mußte. Er spürte den Schnee schwer auf seinen Händen liegen und wollte ihn abschütteln, aber der Wille zum Schlaf war schon stärker als jeder andere Wille in ihm geworden.

Ende

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