Sechs Monate vor den Ereignissen, die im ersten Teil beschrieben wurden, legte ein englisches Passagierschiff, die Botany, in Port Jackson an. Unter den zahlreichen Passagieren, die sich über die Kais ergossen, befand sich auch ein junger Mann mit einem überaus traurigen Gesichtsausdruck. Das war Robert Lavarède, der es innerlich aufgegeben hatte, seinen Namen und seine französische Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen, die ihm durch die angelsächsisch-ägyptischen Querelen abhanden gekommen waren, und der es deshalb vorgezogen hatte, Lotia zu entfliehen und auf dem australischen Eiland unterzutauchen, auf dem er früher schon einmal als Thanis interniert gewesen war.
Warum wohl hatte er dieses Land jedem anderen vorgezogen?
Weil, so vermuten wir, in jedem Menschen, so deprimiert er auch sein mag, die Blume der Hoffnung niemals verwelkt.
Und Robert hoffte. Wenn auch ohne große Zuversicht. Aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, als letzte Möglichkeit Niari für sich zu gewinnen, um von dem patriotischen Ägypter eine Erklärung zu erhalten, die ihm erlaubte, wieder er selbst zu werden. Deshalb war er in Sydney an Land gegangen, hatte sich in einem Hotelzimmer eingeschlossen und dort die besten Karten des Landes studiert.
Früher war er in Westaustralien interniert gewesen, in der Nähe von Mount Magnet. Er hatte dort auf einer Farm gearbeitet, die ein gewisser Parker geleitet hatte. Von dort war er geflohen, und dort mußte er seine Suche nach Niari beginnen, denn es war der Ort, an dem er ihn zum letztenmal gesehen hatte.
Nun sind etwa zwei Drittel von Westaustralien von Wüste oder Busch bedeckt. Straßen gibt es so gut wie keine. Und so war Robert daran gelegen, den Punkt an der Küste zu erreichen, der Mount Magnet am nächsten lag, um von dort seinen Weg zu Land fortsetzen zu können.
Nach einigem Hin und Her entschloß sich Robert – oder Mr. Zero, das heißt Null, wie er sich scherzhaft zu bezeichnen pflegte –, mit dem Schiff bis Perth zu reisen und von dort zu Fuß bis Mount Magnet vorzudringen.
Er verlor keine Zeit, seinen Plan auszuführen. Ein Dampfschiff brachte ihn über Adelaide nach Perth, und am zwanzigsten Tag nach seiner Ankunft in Australien drang Robert, das Gewehr geschultert und einen Sack mit Nahrungsmitteln an der Seite, in den australischen Busch.
Man mußte schon wie Robert zum Äußersten entschlossen sein, allein in die australische Einöde vorzudringen. Es gibt nichts Hoffnungsloseres und nichts Düsteres als diese immensen Weiten, in denen infolge der Wasserknappheit die Vegetation auf wenige Gräser und karge Büsche beschränkt ist, wo es selten Wild gibt und die wenigen Eingeborenenstämme den Kontakt mit den Weißen sorgsam meiden. Und sollten Robert doch einmal einige der von den Weißen so arg verfolgten Eingeborenen begegnen, so wäre das für ersteren kaum von Vorteil gewesen.
War sich Robert all dieser Gefahren bewußt? Vielleicht. Doch da ihm nichts anderes übrigblieb, marschierte er, so gut er konnte, Richtung Westen.
Ist das etwa das Schicksal der Lavarèdes? dachte er seufzend. Sind wir ausersehen, dem berühmten Ewigen Juden Konkurrenz zu machen? Bei Gott, ich glaube es beinahe. Ich habe nichts gegen das Reisen, aber es muß dabei auch etwas herausspringen. Mein Cousin hat eine Reise um die Welt gemacht und dabei eine charmante Frau und ein stattliches Vermögen gewonnen; ich habe den Namen meines Vaters verloren, meine Heimat, meine geliebte Lotia. Alles Glück für ihn, alles Unglück für mich! Und dann gibt es auch noch kluge Leute, sogenannte Philosophen, die das Ausgleich nennen. Absurd! Der eine ist kerngesund – der andere fühlt sich stets elend: Ausgleich! Der eine reich – der andere arm wie eine Kirchenmaus: Ausgleich! Irgendeiner ist glücklich und lacht unentwegt, ein anderer wimmert den ganzen Tag vor sich hin: Ausgleich … Ach, ihr Philosophen! Wenn ich einen vor mir hätte, der mir diese Theorie gutheißt, ich würde ihm eine Kugel in seinen Allerwertesten jagen und sagen: Ausgleich!
Um Roberts schlechte Laune zu rechtfertigen, müssen wir hinzufügen, daß der Weg scheußlich war. Weg ist ein ungeeignetes Wort, denn es gab weder Steg noch Weg. Seit einiger Zeit schon war die trockene Ebene dem australischen Busch gewichen, einem undurchdringlichen Dornendickicht, das zu durchqueren Robert unsägliche Mühe bereitete. Er war nach Norden abgebogen, und ein Kompaß war der einzige Begleiter, der ihm in dieser Einöde den Weg wies. Denn niederdrückender als der »Weg« war die Eintönigkeit. Das Schweigen. Kein Vogelgesang, kein überraschter Flügelschlag, keine trappelnden, flüchtenden Schritte im Unterholz. Er mußte ganze Dornenhecken umgehen, sich durch unwegsames Gelände buchstäblich Meter um Meter hindurchkämpfen. Gegen Mittag war er vielleicht an die zwanzig Kilometer gelaufen, um fünf bis sechs Richtung Norden zu gewinnen.
Er ließ sich auf einem Erdhügel nieder und entnahm seinem Beutel etwas zu essen. Er aß lustlos und hastig.
»Ich habe genau hundertsechsundsiebzig Kilometer vor mir«, murmelte er vor sich hin und kramte dabei in seinem Proviantbeutel. »Wenn ich in diesem Tempo weitermache, brauche ich mehr als einen Monat. Also los, Robert, mein lieber Mr. Zero, Mut und Tempo, um wieder französischer Bürger zu werden. Vorwärts!«
Und er marschierte weiter.
In dem Maße, wie er sich von der Küste entfernte, stieg der Boden unmerklich an. Der Dornenbusch wich allmählich Buschwald. Eukalyptusbäume, deren Familie über dreihundert Arten zählt, reckten ihre schlanken Stämme gen Himmel. Ihre Blätter streckten ihre Schnittflächen dem Licht entgegen – seltsame Bäume eines seltsamen Kontinents.
Gegen Abend machte Robert unter rosafarbenen Akazien halt. Er fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Im Morgengrauen brach er erneut auf. Das ging acht Tage so. Je weiter er vordrang, desto besser wurde seine Laune. Er mußte sich mit anderen Dingen beschäftigen, als seiner Depression nachzugeben. Und je näher sein Ziel rückte, desto gefährlicher wurde es andererseits.
Ganz sicher würde ihn Parker wieder festnehmen, wenn er seiner habhaft würde. Er mußte also behutsam und listig vorgehen und die Farm auskundschaften, ohne gesehen zu werden. Und falls Niari nicht mehr auf der Farm sein sollte, mußte er herauskriegen, wohin man ihn gebracht hatte. All das war schwierig, denn die zahlreichen Angestellten Parkers würden ihrem Meister jeden verdächtigen Schritt melden.
Nun, während sich unser Freund noch den Kopf über eine Gefahr zerbrach, die erst vor ihm lag, bedrohte ihn eine viel unmittelbarere.
Er war nunmehr den zehnten Tag unterwegs. Am frühen Morgen war er aufgebrochen. Im Augenblick durchquerte er einen Akazienwald. Unter den Bäumen wuchs hartes und kurzes Gras, das unter seinen Schritten knackte. Dennoch war der Weg mühelos, und Robert schätzte, daß er, falls das Gelände weiterhin so günstig sein sollte, bis zum Abend gut und gern vierzig Kilometer weiter nach Norden gekommen sein müßte.
Durch diese Überlegung zuversichtlich gestimmt, pfiff er eine Melodie vor sich hin und schritt beherzt aus. Doch plötzlich unterbrach ein ungewöhnliches Geräusch seine musikalische Improvisation. Vor ihm war ein Raunen und Kreischen zu vernehmen, dessen Ursache ihm verborgen blieb. Instinktiv glitt er hinter einen Baumstamm, riß das Gewehr von der Schulter und wartete ab. Der Lärm nahm immer mehr zu. Er unterschied Geheul und pfeifende Schläge.
»Teufel! Teufel!« murmelte Robert. »Eingeborene. Eine unpassende Begegnung.« Und neugierig fügte er hinzu: »Aber was führen sie bloß im Schilde?«
Und tatsächlich schien das rhythmische Stampfen der Füße, das dumpf unter den Bäumen widerhallte, eine Begleitmusik zu dem ebenfalls rhythmischen Geheul zu sein.
Plötzlich sprangen hinter einem Erdhügel, etwa fünfzig Meter vor Robert, Känguruhs hervor. Es war eine gewaltige Herde, die geradewegs mit enormen Sprüngen auf ihn zukam. Das Aufschlagen ihrer hinteren Gliedmaßen auf den Erdboden verursachte das trommelnde Geräusch, das Robert eben vernommen hatte und das er für das Stampfen von Eingeborenen gehalten hatte.
Ein Pfeil, der sich in den Stamm des Baumes bohrte, hinter dem Robert Zuflucht gesucht hatte, wies ihm das Motiv für die Furcht der Tiere. Die Eingeborenen machten Jagd auf sie.
Er sprang auf, um hinter einen dickeren Baum zu flüchten, aber da warf ihn ein gewaltiger Stoß zu Boden; das Gewehr wurde weggeschleudert, und ein Känguruh, das in seiner Kopflosigkeit mit ihm zusammengeprallt war, hopste mit spitzen Schreien weiter. Benommen blieb Robert im harten Gras liegen. Schemenhaft glitten die Tiere und ihre Verfolger an ihm vorbei. Bald waren sie zwischen den Bäumen verschwunden. Der Jagdlärm entfernte sich und verebbte schließlich ganz.
Robert erhob sich. Er betastete sich vorsichtig. Er war so unsanft zu Boden gerissen worden, daß er sich wunderte, keine ernsthafte Verletzung davongetragen zu haben. Einige Hautabschürfungen und leichte Prellungen waren die einzigen Folgen des Zusammenpralls.
»Gott sei Dank«, sagte er. »Das hätte schlimmer kommen können.«
Eine vorschnelle Schlußfolgerung, wie er bald darauf feststellen mußte.
Über den Zustand seiner Gliedmaßen beruhigt, machte sich Robert auf die Suche nach seinem Gewehr und seinem Beutel mit Nahrungsmitteln, die ihm im Augenblick seines Sturzes abhanden gekommen waren. Er fand sie bald in den Büschen wieder – doch in welchem Zustand!
Der Beutel war von den Känguruhhufen zerstampft worden, die Nahrungsmittel ein unbrauchbarer Brei, und was seine Waffe anbetraf, so konnte er die bestenfalls noch als Knüppel benutzen. Das war ein furchtbarer Schock. Ohne Möglichkeit, sich zu verteidigen und seine Vorräte zu erneuern, mutterseelenallein im australischen Busch, schien der Franzose dem Tode geweiht.
Mehr als eine Stunde saß Robert wie gelähmt. Mehrmals griff er instinktiv zu dem Gewehr und betrachtete dessen verbogenen Lauf in der wahnwitzigen Hoffnung, irgendein glücklicher Umstand könne den Schaden wieder beheben.
Er befand sich in einer kritischen Lage. Zwölf Tage Marsch lagen hinter ihm, die gleiche Distanz mußte er wahrscheinlich noch bis zu der Farm am Mount Magnet zurücklegen. Und das ohne Lebensmittel und ohne Waffe!
Eine Hoffnung freilich gab es. Die Parker-Farm war nicht die einzige in der Gegend. Er mußte eine andere bewohnte Niederlassung finden. Gelänge das, so könnte er sich dort zweifellos wieder mit Nahrung und möglicherweise gar mit einem neuen Gewehr versehen. Es gab im übrigen auch keine weitere Lösung, außer er zöge es vor, irgendwo Hungers zu sterben. Und so klaubte er denn aus den im Gras verstreuten Resten seines Proviantsackes zusammen, was sich zusammenklauben ließ, bereitete daraus eine letzte Mahlzeit und brach dann erneut auf.
Nachdem er etwa einen Kilometer weit marschiert war, griff er zu seinem Kompaß, um die Richtung festzustellen, in die er weitergehen mußte. Ein Stöhnen entrang sich ihm. Das schützende Glas war zersprungen und die Nadel verschwunden! Offensichtlich hatten sich alle guten Geister gegen ihn verschworen. Wie sollte er jetzt die Richtung genau bestimmen?
Dennoch verlor er nicht den Mut. Ganz in der Nähe floß der Russel River. Sein Lauf ging von Süd nach Nord. Ihn galt es zu erreichen, und das sollte Robert nicht schwerfallen, denn zahlreiche sumpfige Eilande bewiesen die Nachbarschaft des Flusses. Er mußte sie nur umgehen und dann vor Einbruch der Dunkelheit vielleicht den Fluß erreichen. In dessen Ufergebiet würde er sicher auch leichter auf ein Anwesen treffen.
Doch bald sah er ein, daß diese theoretisch so logische Idee praktisch undurchführbar war. Die Sümpfe waren an manchen Stellen nicht passierbar, und wenn er sie umging, würde er die Richtung verlieren. Doch ihm blieb nichts weiter übrig, als das letztere zu versuchen. Mühsam kämpfte er sich durch das einigermaßen trockene Ufergebiet eines Sumpfes. Doch nach mehrstündigem, erschöpfendem Marsch erkannte er, daß er wieder dort angekommen war, wo er aufgebrochen war.
Diesmal verließ ihn aller Mut. Wozu sollte er kämpfen, wenn jede Anstrengung vergebens war? Und wie sich der Gladiator in den Sand der Arena wirft, um den tödlichen Hieb zu erhalten, warf sich Robert zu Füßen eines Baumes ins feuchte Gras. Der Tag ging zur Neige, die Sonne versank am Horizont und übergoß mit ihrem sanften Schein das Wasser der Sümpfe und Moore. Traurig stopfte sich Robert in den Mund, was ihm noch an Nahrung geblieben war. Diese kärglichen Reste stillten zwar nicht seinen Hunger, sie beruhigten jedoch fürs erste seinen Magen. Er legte sich schlafen. Der Morgen ist vielleicht klüger als der Abend, sagte er sich.
Beim ersten Sonnenstrahl war er wach. Und wie er gehofft hatte, war sein Kopf durch den Schlaf ausgeruht, und er konnte seine Lage klarer überdenken.
Die Sümpfe des Russel River ziehen sich zweifellos nach Norden hin. Mit Hilfe der Sonne kann ich ungefähr die Richtung bestimmen. Ich müßte demnach nur parallel zu den Sümpfen marschieren. An markanten Punkten wie Bäumen oder großen Steinen werde ich Zeichen anbringen, um sicherzugehen, nicht im Kreis marschiert zu sein, so sagte er sich. Doch wie beschaffe ich mir Nahrung? Es muß in dieser Gegend doch irgendeine eßbare Frucht geben.
Ganz in der Nähe stand eine rote Zeder, deren niedrige Äste ihm das Erklettern erleichterten. Von der Baumspitze aus schaute er über das Land und legte die Richtung fest, in die er gehen mußte. Wieder auf dem Erdboden stehend, machte er sich auf den Weg, wobei er aufmerksam jeden Busch und jeden Strauch betrachtete, immer in der Hoffnung, etwas Eßbares zu entdecken.
An diesem Tag meinte es das Schicksal offensichtlich gut mit ihm. Er fand einen Schlag wilder Bohnen im Sumpf, deren Früchte ihm köstlich schmeckten. Er stopfte sich soviel er konnte in den Mund und füllte sich anschließend sämtliche Taschen. Danach setzte er seinen Weg fort. Von Zeit zu Zeit kletterte er auf einen Baum, der ihm erlaubte, die Richtung zu kontrollieren. Aber das kostete natürlich Kraft, und so mußte er sich gegen vier Uhr nachmittags völlig erschöpft auf den Erdboden niederlassen. Er verschlang die restlichen Bohnen, doch so nahrhaft sie auch sein mochten, sie reichten nicht aus, den Hunger eines Mannes zu stillen, der sich körperlich so anstrengte wie er.
Die Müdigkeit übermannte ihn, und er war dabei, einzunicken, als ihn das Geräusch eines knickenden Zweiges hochfahren ließ. Das Geräusch war aus einem Dickicht gekommen, das ein Wasserloch umschloß. Dort mußte jemand sein, Mensch oder Tier.
Einige Sekunden verstrichen, ohne daß das Schweigen um Robert neuerlich unterbrochen worden wäre. Doch dann mußte das Lebewesen, welches dem Franzosen zweifelsohne auf den Fersen war, sich entschlossen haben, Farbe zu bekennen. Die Sträucher bewegten sich, das Blätterdickicht wurde auseinandergerissen, und auf der Bildfläche erschien ein Eingeborener, dessen Haupt ein entsetzlich wirres Haargeflecht zierte. Mit einem Satz war Robert auf den Beinen, aber der Eingeborene schien keine feindlichen Absichten zu hegen. Ruhig warf er sich das Gewehr über die Schulter, kreuzte die Arme vor der Brust, verbeugte sich, lächelte und schritt langsam auf Robert Lavarède zu.
Letzterer wußte nicht, ob er ihn als Freund oder als Feind behandeln sollte. Doch von diesem Zweifel wurde er alsbald befreit, denn der Australier blieb zehn Schritt vor ihm stehen und sagte mit volltönender Stimme in exzellentem Englisch: »Mora-Mora, der Häuptling der Faho-Bougs, grüßt den so unglücklich durch den Busch streifenden Weißen.« Und da der Franzose ob dieser jedem englischen Teezirkel zur Zierde gereichenden Worte sprachlos verharrte, fuhr der Eingeborene fort: »Schon seit dem gräulichen Werden des Tages bin ich dem Weißen auf der Spur. Sollte ich schlechter Absichten fähig sein, wäre es mir ein leichtes gewesen, ihn mit einer todbringenden Kugel niederzustrecken. Mora-Mora hat den gerechten Blick und eine sichere Hand. Als dir dein Gewehr den Dienst versagte, wachte ich mit den Augen eines Freundes über deine unsicher tastenden Schritte.«
»Eines Freundes …«, wiederholte Robert zweifelnd und dachte: Warum nennt er sich meinen Freund, wo er mich noch nicht einmal kennt?
Ein Lächeln erschien auf den Zügen des Eingeborenen.
»Mora-Mora ist ein Freund der Weißen. Er ist ihr Führer und geleitet gerade zwei Männer zur Küste, die genau wie du von der bleichen Farbe des Nachtgestirnes sind.«
»Europäer!« schrie der Franzose und machte einen Schritt auf den Eingeborenen zu. »Europäer sind in der Nähe?«
»So ist es. Ich habe ihnen von deiner Gegenwart Mitteilung gemacht, als ich untrügliche Indizien besaß, daß du ohne Waffe im Busch verloren seist, und sie haben mir aufgetragen, dich zu ihnen zu geleiten.«
Bei diesen Worten vergaß Robert jedes Mißtrauen. Er lief auf den Australier zu, schüttelte diesem die Hand und sagte mit nur allzu verständlicher Freude: »Ich bin zwar mit meinen Kräften am Ende, aber es wird reichen, um dir zu folgen. Ist es weit bis zu den Weißen?«
Mit der Hand wies Mora-Mora auf einen Punkt in der Ebene. Robert blickte in die angegebene Richtung, vermochte jedoch nichts zu erkennen.
»Ich kann die, von denen du sprichst, nicht sehen«, gestand er kleinlaut.
»Sie nicht, das ist nicht möglich, gewiß«, erklärte der Australier lächelnd. »Sie sind schließlich nicht so groß wie Bäume. Sehen kann man sie nicht.«
»Was zeigst du mir denn dann?«
»Ihr Feuer.«
»Ah, verstehe, ihr Lagerfeuer.«
Aber trotz dieser Hilfestellung mochte sich Robert noch so sehr die Augen ausgucken, er entdeckte nichts, was einem Feuer ähnelte. Er wandte sich zu dem Führer um. Dieser schüttelte nur den Kopf.
»Die Augen der Weißen verstehen in Büchern zu lesen, doch die Natur ist ihnen ein Buch mit sieben Siegeln. Ich werde dir helfen. Erkennst du dort die rote Zeder, deren Wipfel alle anderen Bäume überragt?«
»Ich sehe sie.«
»Gut. Jetzt wende deinen Blick langsam nach links. Fällt dir nichts auf?«
Robert schaute aufmerksam in die Richtung und unterschied tatsächlich ein winziges Rauchfähnchen, das sich über den Baumwipfeln kräuselte. Es wirkte wie ein leichter, kaum wahrnehmbarer Nebel, und der junge Mann mußte sich eingestehen, daß er ihn von allein nie entdeckt hätte.
»Feuer eines Australiers«, bekannte Mora-Mora mit einer Nuance von Stolz in der Stimme. »Feuer aus trockenem Holz und nicht aus feuchten Zweigen.«
»Ja, ja, ich verstehe. Du willst damit sagen, daß ein Mann wie ich Holz aufs Geratewohl einsammelt, ohne zu beachten, daß die Feuchtigkeit den Rauch viel dicker macht.«
»Und gefährlicher.«
»Gefährlicher?«
»Ja, es verrät den Weißen und ruft die Wilden herbei, die den Weißen dann ausrauben. Während sie ein Feuer wie meins nicht beachten. Sie sagen sich: Feuer von uns, zwecklos zu plündern.« Mora-Mora lächelte und sagte dann: »Ist der verirrte Reisende bereit, sich nunmehr auf den Weg zu machen? Wir müssen den Lagerplatz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.«
»Geh voraus, ich folge dir.«
Der Australier verbeugte sich und ging federnden Schrittes vorweg. Robert lief hinter ihm und konnte nicht umhin, die kräftigen, geschmeidigen Bewegungen seines Führers zu bewundern. Sicher spielte Mora-Mora unter seinesgleichen eine herausragende Rolle. Nicht nur unter seinesgleichen, dachte Robert. Wäre die dunkle Hautfarbe nicht, würde er auch unter Europäern eine gute Figur machen. Und dazu noch die gepflegte Sprache. Woher hat er die nur, dachte Robert. Bühnenenglisch mitten im australischen Busch!
Inzwischen hatten sie die Sümpfe und den Busch hinter sich gelassen und waren in ein schmales Tal eingedrungen, das sich in der Regenzeit zweifellos mit Wasser füllen und zum See werden würde. Etwa eine halbe Stunde schritten die beiden über feuchten, schlammigen Boden, in dem ihre Schritte tiefe Abdrücke hinterließen. Dann stieg das Gelände allmählich an, und der Boden wurde steinig. Die Büsche verschwanden, nur vereinzelt standen noch Bäume. Sie befanden sich auf einem ebenen Felsplateau, das von den Ruinen einer verlassenen Farm beherrscht wurde.
Mora-Mora zeigte auf die verfallenen Mauern.
»Sie sind dort. Das hier ist eine alte Farm. Ein gutes Refugium, in dem man sich im Fall eines Angriffs verteidigen kann.«
Durch eine Mauerbresche gelangten sie ins Innere eines weiträumigen Hofes. Dort saßen im Hintergrund zwei Männer unter dem vorspringenden Dach eines ehemaligen Schuppens. Vor ihnen brannte ein kleines Feuer, an dem die beiden Männer mehrere auf Spießen steckende Tauben brieten. Roberts Führer pfiff kurz. Die beiden hoben den Kopf, erkannten ihren australischen Gefährten, erhoben sich und kamen auf Mora-Mora und den Franzosen zu.
Die beiden Weißen waren jung. Der eine war blond und trotz eines leichten Buckels von distinguiertem Äußeren, er mochte etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahre zählen. Was den zweiten betraf, so war das ein zierlicher Junge, der gewiß nicht mehr als seinen sechzehnten Frühling erlebt hatte.
Die beiden verbeugten sich vor Robert, und der ältere sagte: »Gentleman, seien Sie willkommen; ich hoffe, daß Sie uns die Ehre erweisen, an unserer Mahlzeit teilzunehmen?«
Diese Worte klangen inmitten der Ödnis gewiß etwas seltsam, und so blieb der Franzose auch für Augenblicke mit offenem Mund stehen. Doch er fing sich rasch wieder und antwortete im gleichen Ton: »Zu liebenswürdig. Ich fühle mich außerordentlich geehrt durch den freundlichen Ton, mit dem Sie einen Unbekannten empfangen.«
»Unbekannt!« erwiderte sein Gegenüber lebhaft! »Unbekannt, ich bitte Sie. Der einsam umherirrende Reisende ist gewiß ein Unglücklicher. Wir selbst sind Leidende, und gemeinsames Leid verbindet.«
Die Stimme des Buckligen war weich, ja fast zärtlich bei diesen letzten Worten geworden.
Robert verbeugte sich, nicht ohne überrascht zu sein, denn die wilden bushmen, die den australischen Busch durchstreifen, sind gemeinhin von rauheren Umgangsformen.
»Nun denn«, so lud ihn der blonde Gentleman erneut ein, »setzen Sie sich zu uns. Essen Sie, ruhen Sie sich aus. Und danken Sie uns nicht: Wir sind Brüder, die ihren Bruder bei sich empfangen.«
»Wie Sie wollen. Ich werde also nicht meine Dankbarkeit, aber wohl doch mein Erstaunen ausdrücken dürfen, auf soviel Zuvorkommenheit, nein, Fürsorge bei Menschen zu treffen, denen ich völlig unbekannt bin.«
»Unbekannt! Glauben Sie! Wie schon gesagt, wir wußten, indem wir Sie beobachteten, daß Sie ohne Waffen und Nahrung waren; daß Sie sich wegen einer überaus wichtigen Angelegenheit nach Norden wandten; wäre diese Angelegenheit nicht so wichtig gewesen, dann hätten sie gewiß nicht die höchsten Baumwipfel erstiegen, um von dort aus Ihren Weg festzulegen. An Ihrem Akzent merke ich, daß ich einen Franzosen vor mir habe; an Ihren Manieren, daß ich mit einem Gentleman spreche …«
Und da Robert ob dieser schnellen Analyse seiner Person mit demselben offenen Mund wie kurz zuvor dastand und auf die Worte seines Gegenübers nur mechanisch nicken konnte, schloß dieser lächelnd: »Eine einzige Sache fehlt bei diesem Signalement, im Busch ist sie freilich kaum von Belang.«
»Und die wäre?«
»Worum ich Sie nicht bitte, ist, daß Sie Ihren Namen nennen.«
Diesmal war es an dem Franzosen, freiheraus zu lachen, und mit unverblümter Offenheit erklärte er: »Auf diese Frage würde ich auch nicht antworten.«
»Ich will nicht weiter in Sie dringen.«
»Aber ich fühle mich verpflichtet, es Ihnen verständlich zu machen. Ich habe keinen Namen.«
»Mein Gott!« murmelten Roberts Gesprächspartner und tauschten einen vielsagenden Blick.
Der junge Franzose mißdeutete den Sinn dieses Blickes und dieses Ausrufs und beeilte sich hinzuzufügen: »Das heißt, daß ich den Namen, auf den ich getauft bin, verloren habe und man mir einen anderen gegeben hat, den ich nicht tragen will. Sie werden das kaum verstehen …«
Der Bucklige schüttelte den Kopf.
»Ich bitte um Verzeihung, aber ich verstehe sehr gut, denn … auch mir hat man meinen Namen genommen.«
»Genau wie mir«, pflichtete der Junge bei, der bis jetzt geschwiegen hatte.
Das war nun wirklich ein mehr als merkwürdiges Zusammentreffen, und Robert rief ganz aufgeregt aus: »Dann ist ja der Eigenname, den ich mir gab, nicht nur mein eigener; sondern auch der Ihre …«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun, irgendeinen Namen muß der Mensch ja haben, deshalb nannte ich mich in schlichter Melancholie ›Mr. Zero‹. Und nun will es der Zufall, daß ich mitten in der allergrößten Einöde auf zwei andere ›Zeros‹ treffe.«
Die beiden lachten.
»Ich nehme an, Sie wollen damit nicht behaupten«, sagte der Ältere von den beiden, »daß Sie eine Null sind.«
Der Franzose senkte den Kopf.
»Nun, ich hoffe nicht …, obwohl ohne mein Gewehr bin ich wirklich nicht mehr viel wert.«
»Ist es nur das?« erwiderte der Unbekannte herzlich. »Wir haben ein Gewehr übrig. Es steht Ihnen zur Verfügung.«
Der Franzose war über diese Großzügigkeit, die er in einem so unzivilisierten Land antraf, mehr erstaunt, als wenn man ihm in einem zivilisierten Land ein Vermögen geschenkt hätte. Stotternd stattete er seinen Dank ab.
»Reden wir nicht mehr davon«, sagte der bucklige Unbekannte. »Einzig das Gewehr gibt der Null Wert, und nicht nur mathematisch gesehen. Doch wenn ich ernsthaft etwas bemerken darf, so sei mir gestattet, darauf hinzuweisen, daß ich unser Zusammentreffen durchaus als nützlich für uns drei ansehe. Allerdings ist dazu nötig«, fügte der Buschläufer nach einer leichten Pause hinzu, »daß wir uneingeschränktes Vertrauen zueinander haben.«
Er lächelte.
»Mir fällt das freilich nicht schwer, denn ich vertrete drei bewaffnete Männer gegen einen unbewaffneten Mann; deshalb werde ich Ihnen eine Anzahlung leisten.«
Mit einer Handbewegung rief er Mora-Mora zu sich und flüsterte diesem einige Worte zu. Der Eingeborene lief daraufhin zum Schuppen und kehrte mit einem Karabiner englischen Fabrikats zurück, den er Robert aushändigte.
»Sieh an«, sagte der Bucklige, »Ihr Wert steigt schon; Ihre Augen blitzen, Ihr Körper strafft sich. Ihr Gesichtsausdruck verrät den ehrenwerten Mann, Ihre Haltung den tapferen, ich bin entzückt. Glauben Sie sich jetzt in Sicherheit?«
Statt einer Antwort warf sich der Franzose die Waffe über die Schulter.
»Das nenne ich eine beredte Geste, die mir zusagt. Aber unsere Mahlzeit scheint gar zu sein, speisen wir, wir können auch beim Essen reden.«
Augenblicke später saß Robert neben seinen beiden neuen Freunden und Mora-Mora am Feuer und machte sich mit ihnen über die köstlichen Tauben her, deren Fleisch angenehme Erinnerungen an Fasane aus den Vogesen weckte. Würziger Tee stillte ihren Durst.
»Bei dem Labsal meiner Seele«, bemerkte Lotias Geliebter gutgelaunt, »das nenne ich das Ei des Kolumbus – respektive die Mutter vom Ei!«
Diese Bemerkung erheiterte seine Gäste, und der Bucklige erwiderte: »Es wäre töricht, sich entgehen zu lassen, was man haben kann. Das ist meine physische Doktrin … und auch meine moralische, wie Sie gleich an meiner Frage merken werden. Aber Sie müssen nicht antworten, wenn Ihnen meine Frage zu indiskret erscheint.«
Er trank einen Schluck Tee, ehe er diese Frage stellte.
»Können Sie mir sagen, was Sie in dieser Einöde eigentlich suchen?«
Der Franzose hatte diese Frage bereits seit einiger Zeit erwartet, deshalb antwortete er, ohne zu zögern: »Sehr gern.«
»Ich höre.«
»Ich suche den Namen, den ich verloren habe.«
Bei diesen Worten hörten die beiden Weißen auf zu kauen. Auf ihren Zügen zeigte sich unbeschreibliche Überraschung, die Robert nicht entging.
»Das wundert Sie?« fragte er.
»Ja«, beeilte sich der Bucklige zu versichern, »ja, gewiß doch, aber unser Erstaunen rührt von der vollkommenen Übereinstimmung Ihrer Situation mit der unseren.«
»Was, auch Sie suchen …«
»Unsere Namen, schlichtweg gesagt.«
Das Merkwürdige an der Begegnung dieser drei Männer schien zuzunehmen, je länger sie miteinander sprachen.
»Ich darf meine Frage etwas erweitern«, fuhr der blonde Buschläufer freundlich fort. »Kennen Sie den Namen, den zu suchen Sie sich aufgemacht haben?«
»Doch. Ich habe ihn lange genug getragen, so daß ich ihn niemals vergesse.«
»Und wie ist er …?«
Bevor er etwas erwiderte, überlegte der Franzose einen Augenblick. War es nicht unvorsichtig, sein Geheimnis diesen Männern anzuvertrauen, die er zwar liebenswürdig fand, von denen er aber nichts weiter wußte? Die ehrlichen Gesichter seiner Zuhörer gaben jedoch den Ausschlag.
»Es ist das Geheimnis meines Lebens und vielleicht mein Glück von morgen, das ich Ihnen anvertraue; wie Sie sehen, habe auch ich Vertrauen zu Ihnen.«
Der Bucklige verneigte sich.
»Der Name ist Robert Lavarède.«
»Lavarède?« fuhren die beiden auf.
»Was! Sie haben ihn doch nicht etwa schon einmal gehört?«
»Doch.«
»Sie? Wo? Wann? Wie?«
Der Franzose war aufgesprungen und stellte dieses Trommelfeuer von Fragen wild gestikulierend.
»Na, na, ein wenig Gelassenheit«, empfahl der Bucklige. »Ich werde Ihnen alles erklären, aber vorher noch einige Worte.«
»Wie Sie wollen.«
»Sie waren in eine ägyptische Konspiration verwickelt und führten den Namen Thanis.«
»Das ist richtig, von wem wissen Sie das?«
»Warten Sie. Die geliebte Frau, von der Sie sprachen, ist Miß Lotia Hador?«
»Ja, sie ist es.«
»Und Sie waren der Gefangene eines Farmers von Mount Magnet, Mr. Parker.«
»So ist es.«
»Nun, dann kenne ich Sie und vermute auch das Ziel Ihrer Reise: Sie sind zum Mount Magnet unterwegs, um dort einen gewissen Niari ausfindig zu machen, der über all Ihre Abenteuer auf dem laufenden ist?«
»Sie sagen es!«
»Nun gut! Ich hatte recht, unser Zusammentreffen hat ein erstes Resultat. Und zwar dieses: Sie von einem unnützen Weg abzuhalten.«
»Einem unnützen Weg?«
»Ja. Niari ist nicht mehr in Mount Magnet.«
»Er ist weg!«
Es war ein Aufschrei der Enttäuschung, der über Roberts Lippen kam.
»Regen Sie sich nicht auf«, sagte der rätselhafte Bucklige. »Niari hat erfahren, daß Sie, als Sie nach Frankreich zurückkehrten, versicherten, den wirklichen Thanis in einem regulären Duell getötet zu haben.«
»In der Tat.«
»Er hat gleichsam gewußt, daß die englische Regierung, die daran interessiert war, einen Thanis in der Hand zu haben, um der ägyptischen Unabhängigkeitsbewegung ihren Kopf zu nehmen, Sie erfolgreich als Lügner bezeichnet und Ihnen den Namen Ihres Gegners eingebrannt hatte.«
»Ja, ja.«
»Die englische Regierung wollte verhindern, daß die Rebellen ein neues Oberhaupt wählten.«
»O Gott.«
»Klagen Sie nicht. Niari, der wegen Ergebenheit der Sache gegenüber geschwiegen hatte, wollte bei der Nachricht von dem Mord an dem Menschen, den er so verehrte, nicht länger schweigen. Er, der fanatische Ägypter, konnte nicht mit ansehen, daß ein dahergelaufener Franzose ›den Namen seines Meisters‹ trug. Er beichtete Mr. Parker die Wahrheit. Wir befanden uns zu diesem Zeitpunkt auf der Farm. Auf meinen Ratschlag brachte der Farmer seinen Gefangenen zur Küste, schiffte ihn nach Sydney ein und schickte ihn zu Sir Toby Allsmine, dem Obersten Chef der Pazifikpolizei, der seine Aussage zu Protokoll nahm.«
Diesmal frohlockte Robert.
»In Sydney also. Aber in diesem Fall brauche ich ja nur dorthin zurückzukehren und bei Sir Toby vorstellig zu werden …«
»Hüten Sie sich! Er würde Sie einsperren lassen, wie er sicher auch diesen armen Teufel von Niari hat einsperren lassen.«
»Aber dann bin ich ja verlorener als jemals zuvor!« rief der Franzose verzweifelt aus. »Und Sie haben meine Situation verschlechtert … Und Sie sagen mir das auch noch so freiweg ins Gesicht.«
Der Bucklige zuckte bloß mit den Schultern.
»Quicker Franzose, der Sie sind«, sagte er, »versuchen Sie doch nur ruhig zu bleiben. Ihre Situation ist nicht schlechter als vorher. In Mount Magnet liegt ein Regiment, und man hätte Sie unweigerlich dort verhaftet und als Gefangenen nach Sydney gebracht, während Sie im Augenblick frei sind und das Vergnügen haben, bei mir zu sein.«
Der Buschläufer hatte sich bei diesen Worten erhoben. Seine ganze Person strahlte Autorität aus, die seinem Gast nicht entging.
»Sie …«, murmelte Robert, »Sie … Wer sind Sie?«
»Ein Engländer, der sein Vaterland leidenschaftlich liebt, der aber glaubt, daß Macht, die einzig auf Verleumdung und Lüge beruht, schwach ist. Ich wünsche nichts sehnlicher, als daß Großbritannien Beherrscherin der Welt sei – jedoch von allen geliebt. Ich verdamme die Ungerechtigkeiten, die gewisse Beamte begehen; ich leide, wenn ich das Wimmern der Opfer höre.«
Für einen Augenblick hielt er inne und schwieg.
»Ich war selbst einmal ein Opfer«, fuhr er nach einiger Zeit fort. »Im Augenblick verfolge ich ein Werk der Wiedergutmachung. Ich werde auch Sie beschützen, denn Sie müssen sehr viel Zuneigung zu Ihrer Geliebten im Herzen haben, wenn Sie allein den australischen Busch durchqueren. Es sind weder Hador noch Thanis, die Ägypten meinem Land entreißen werden; es wird England selbst sein, das sich schon zu dem Zeitpunkt von den Ufern des Nils wieder zurückzog, als es ihn verräterisch besetzt hatte. Der ist ein guter Bürger, der die Fehler seiner Landsleute erkennt und es sich zur Pflicht macht, sie auszulöschen. Jede getilgte Ungerechtigkeit gereicht einer Nation zur Zierde, läßt sie in hellerem Glanz erstrahlen. Deshalb wird Ihnen Ihr Name zurückgegeben werden; deshalb werden Sie die geliebte Frau ehelichen; deshalb werden Sie wieder Franzose werden.«
In dem Maße, wie er sprach, erlangte der Unbekannte in Roberts Augen eine majestätische Größe, so daß er mit Respekt in der Stimme seine eben gestellte Frage wiederholen mußte: »Wer sind Sie bloß?«
Der Bucklige machte eine wegwerfende Geste.
»Brauchen Sie etwa einen Namen, um Vertrauen zu mir zu haben? Ich habe mehrere davon, und keiner ist der richtige. In Sydney, wohin Sie mir folgen werden, bin ich James Pack, persönlicher Sekretär des Polizeichefs.«
»Von Sir Toby Allsmine?« rief Robert und wich einen Schritt zurück.
Mit einer Geste winkte der Bucklige ab.
»Nur keine Angst, meine Worte enthalten keine Drohung. Ich sage Ihnen etwas, was kein Mensch außer diesem Kind«, dabei legte er den Arm um die Schultern seines jugendlichen Begleiters, »weiß. Ist es nötig, daß ich weitere Erklärungen abgebe? Der wirkliche James Pack, der von England geschickt wurde, um Sir Toby zu überwachen, wurde von mir abgefangen; dank einiger Mittel, über die ich verfüge, habe ich ihn davon überzeugt, in meine Dienste zu treten; somit hatte ich Gelegenheit, stets an der Seite von Sir Toby zu weilen und endlich ein Fenster zu seiner Seele und seinem Gehirn zu haben, was für das Gelingen meiner Pläne unerläßlich war.« Und mit einem plötzlichen Wechsel im Tonfall schloß er: »Mehr kriegen Sie nicht zu erfahren. Also, sind Sie bereit, mir zu gehorchen und sich völlig meinem Willen unterzuordnen?«
»Ja«, erwiderte Robert. Diesmal zögerte er nicht.
Das Gesicht seines Gesprächspartners drückte Zufriedenheit aus.
»All right! In diesem Fall werden wir uns morgen auf den Weg zur Küste machen. Sie haben selbst bemerkt, daß dieser Weg alles andere als angenehm ist. Ruhen Sie sich aus. Schlafen Sie, wir werden wachen.«
Dieser Befehl war Robert mehr als angenehm. Er wickelte sich in eine Decke, warf sich auf ein Lager von trockenem Laub, das man ihm im Schuppen zurechtgemacht hatte, und war bald in tiefen Schlaf gefallen. Seine unbekannten Freunde, die ihm ein guter Stern mitten in seiner größten Einsamkeit zugeführt hatte, wachten über ihn.
Natürlich erwachte Robert ob soviel Fürsorge mit guter Laune. Seine Begleiter waren schon auf den Beinen, und der falsche James Pack sagte fröhlich zu ihm: »Nun, haben Sie sich Ihre Sorgen weggeträumt, Mr. Zero?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich geträumt habe«, erklärte der junge Mann, »aber ich fürchte, ich habe unsere Abreise verzögert.«
»Ganz und gar nicht. Mora-Mora bereitet schon den Tee. Er ist darin genauso bewandert wie in der englischen Sprache. Es geht eben nichts über eine gute Bildung. Dank meiner Mühe kennt er von Shakespeare bis Oscar Wilde die gesamte englische Literatur. Und der Genuß von englischem Tee verjagt die morgendlichen Nebel im Kopf und auf dem Lande.«
Der Franzose machte Toilette. Eine halbe Stunde später verließ er frisch und ausgeruht und von wohliger Wärme durchdrungen, die nicht nur vom Tee, sondern auch vom Roastbeef herrührte, mit seinen Gefährten die zerstörte Farm, in der er die Nacht verbracht hatte.
Nicht ohne ein seltsames Gefühl legte er nun in entgegengesetzter Richtung den Weg zurück, den er am Vorabend gekommen war. Wie hatte sich doch seine Lage verändert! Gestern war er noch allein gewesen, ohne Nahrung und ohne Gewehr; heute begleiteten ihn zu allem entschlossene Männer; er hatte wieder Hoffnung geschöpft, und über seinem Rücken hing ein guter Karabiner.
Während der folgenden Tage sagte sich Robert immer wieder, daß die Rückkehr zur Küste unendlich angenehmer verlief als das Unterfangen, sich von ihr zu entfernen.
Abwechslungsreiche Mahlzeiten, ein interessantes Gespräch, Aufenthalte an gut gewählten Plätzen – all das war dazu angetan, ihn zu befriedigen. Wirklich, der Unbekannte, der erklärte, James Pack zu heißen, war ein Reisender der Extraklasse. Seine Route war im vorhinein festgelegt, ebenso wie die Übernachtungen. Zweifellos hatte er seinen Weg sorgfältig studiert, um nichts dem Zufall zu überlassen.
Auch der Bucklige schien seinerseits von seinem Gast sehr entzückt zu sein; und als ihm dieser mehrmals seine Dankbarkeit bekundete, sagte er nur: »Danken Sie mir nicht. Ich bin Ihnen zu Diensten, das ist richtig, aber Sie erweisen mir ebenso einen Dienst, so hoffe ich.«
»Oh, mit dem größten Vergnügen!« rief Robert aus. »Ich wünsche nichts sehnlicher, als daß Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen nützlich sein zu können.«
»Die werden Sie bald bekommen.«
»Das ist ein Wort. Sie sind ein Mann, der alles voraussieht, und wahrscheinlich haben Sie auch schon den Augenblick festgelegt, wo das geschehen wird.«
»Vielleicht?«
»Wollen Sie ihn mir mitteilen?«
»Nein, noch nicht. Alles hängt von einem Umstand ab … Eine Idee, die mir durch den Kopf geschossen ist, aber deren Ausführung noch im ungewissen liegt.«
»Wann denken Sie denn, im Gewissen zu sein?«
»Übermorgen.«
Bei dieser Antwort konnte Robert eine Geste der Überraschung nicht verbergen.
»Sie hoffen demnach, morgen die Küste zu erreichen?«
»Ja, was ist daran so verwunderlich?«
»Ich habe elf Tage gebraucht bis zu der Stelle, an der ich Ihnen begegnet bin. Wir haben diesen Ort erst vor vier Tagen verlassen, und Sie denken, daß morgen …«
»Sich die Wellen zu unseren Füßen brechen. So ist es. Seien Sie versichert, das hat nichts mit Zauberei zu tun. Ich habe nur die Umwege vermieden, die Sie aus Unkenntnis des Landes gemacht haben.«
»Umwege? Mit meinem Kompaß?«
James lachte frei heraus, als er das verblüffte Gesicht des Franzosen sah.
»Umwege, die durch natürliche Hindernisse bedingt waren. Deshalb folgten Sie einer Linie, die oftmals gebrochen war, und mußten eine Wegstrecke zurücklegen, die zweimal so lang wie nötig gewesen ist. Machen Sie sich keine Vorwürfe, Ihr Mut steht außer Frage.«
Am nächsten Tag erreichten die vier Männer tatsächlich am späten Nachmittag den Ozean.
»Wo sind wir genau?« fragte Robert den Buckligen.
»Zehn Kilometer westlich von der Mündung des Russel River.«
»Wir werden Sydney nicht auf dem Landweg erreichen?«
»Nein. Dazu brauchten wir Wochen.«
»Aber …?«
»Sie möchten wissen, wo sich das Schiff befindet, das uns aufnehmen wird?«
»So ist es.«
»Es wird uns nachts holen.«
Und als er das verblüffte Gesicht Roberts sah, sagte er mit einem spitzbübischen Lachen: »Ich werde ihm ein Zeichen geben, daß wir warten.«
Mora-Mora und der Junge, der James begleitete, waren schon seit einiger Zeit verschwunden. Nun tauchten sie wieder auf, mit Oyats beladen, einem trockenen und harten Gras, das die Dünen bedeckte.
Vor Robert angelangt, warfen sie ihre Last zu Boden und formten drei gleich große Haufen, die ein Dreieck bildeten, deren Ecken etwa zwanzig Meter voneinander entfernt waren.
»Wenn es dunkel wird«, sagte James, den die Neugier des Franzosen entschieden amüsierte, »werden wir mit dem Feuer ein Signal geben.«
»Ein Signal für wen?« fragte Robert verwundert. »Ich habe mit den Augen das Meer abgesucht, dort ist nichts, was auch nur im entferntesten einem Schiff ähnlich sieht.«
Plötzlich wurde James von einem heftigen Lachen geschüttelt, in das auch sein Begleiter einfiel.
»Lassen Sie sich von meiner Heiterkeit nicht ärgern«, sagte er zu dem Franzosen. »Ich wollte mir nur eine Überraschung für Sie aufheben, das ist alles. Die Matrosen werden uns sehr gut sehen können.«
»Wenn es so ist, dann muß es sich um ein Geisterschiff handeln«, sagte Robert, nachdem er noch einmal mit den Blicken die weite graue Fläche des Ozeans abgesucht hatte.
»Fast, obwohl es einen soliden Panzer aus Metall besitzt.«
Es hatte keinen Zweck, hinter das Geheimnis kommen zu wollen. Robert half seinen Freunden, die Mahlzeit zuzubereiten, und bald nagten sie alle vier an einem Stück Emu, das der australische Führer im Laufe des Tages erlegt hatte.
Währenddessen verfolgte die Sonne weiter ihre Bahn. Sie senkte sich zum Horizont und schien von ihm aufgesogen zu werden. Schließlich blieb nichts weiter von ihr übrig als der rote Feuerschein, der den Himmel glühen ließ. Doch dann wichen auch diese Farben, wurden rosa, violett, grau. Alle Gegenstände nahmen einen gräulichen, aschefarbenen Ton an, der immer dunkler wurde. Die Nacht breitete ihren Mantel über Land und See.
Da erhob sich James.
»Zündet die Feuer an!« befahl er.
Mora-Mora und das Kind liefen jeder zu einem der Oyats-Haufen, während sich der Bucklige selbst vor dem dritten postierte. Drei Streichholzflämmchen flimmerten als helle Punkte in der Dunkelheit. Es gab ein Knistern, dann schossen drei klare Flammen über den Strand und leckten mit tanzenden Zungen zum Himmel empor. In weniger als fünf Minuten waren die Häufchen verbrannt und ließen nur schwarze Ascheflecke zurück, in denen es rauschte wie in einem Insektenschwarm. Der Junge näherte sich James Pack.
»In zwanzig Minuten werden sie hier sein, nicht wahr?« fragte er.
»Ja, etwa.«
»Es ist Zeit für Mora-Mora.«
»Du hast recht, wie immer.«
Packs Stimme war sanft, fast respektvoll, als er diese Worte aussprach. Robert bemerkte es wohl, aber der Dialog, der sich nun zwischen dem Buckligen und dem Führer entspann, ließ ihn diese Tatsache rasch wieder vergessen.
»Mora-Mora, ich danke dir«, sagte James Pack. »Du bist treu und ergeben. Es fällt mir schwer, mich von dir zu trennen.«
Der Eingeborene verneigte sich.
»Ich liebe die Erde, in der meine Vorfahren ruhen. Mein Leben ist an meine Wälder, an die Wüstenei dieses Eilands gebunden. Wäre dem nicht so, würde ich dir folgen.«
»Wir werden uns wiedersehen, denn ich erwarte noch viel von dir.«
»Sprich. Mora-Mora leiht dir sein Ohr. Er wird gehorchen. Sein Herz sind seine Lippen.«
»Ich weiß. Du wirst also nach Brimstone Mounts gehen, um dem zu sagen, der dort wartet, daß die Stunde bald kommen wird. Lang ist der Weg …«
Mit einem Lächeln unterbrach ihn der Australier: »Jeder Weg ist kurz, wenn man schnell marschiert.«
»Wenn du den Weg hinter dir hast«, fuhr James fort, »dann wirst du am Skaim River an den drei Nadeln auf den warten, der ich sein wird, ohne ich zu sein.«
»Ich werde ihn erwarten.«
»Und du wirst ihn führen?«
»Ich werde ihn führen.«
»Du hast nicht vergessen, wo ich dich später erwarte?«
»Mora-Mora vergißt nie etwas. Gedächtnis ist die erste Tugend der Krieger. Jederzeit muß er wissen, wo seine Freunde wohnen und sich seine Feinde verstecken. Vergeßlichkeit kommt nur Frauen zu.«
Bei diesen Worten hielt der Eingeborene nachdenklich inne; ein Ausdruck von Scham huschte über sein Gesicht. Seine Augen glitten zwischen James und dem Jungen hin und her, dann sagte er zögernd: »Mora-Mora gibt eine Redewendung seines Stammes wieder. Er hat unwahr gesprochen. Es gibt auch Frauen, die niemals vergessen.«
»Reden wir nicht mehr davon«, sagte James schnell. »Nach unserer Abfahrt wartest du auf das Signal.«
»Ja.«
»Und du wirst es wiedererkennen?«
»Es hat sich in meinen Geist eingegraben.«
»Gut. Laß mich dich umarmen, bevor ich an Bord gehe.«
Die beiden Männer umarmten sich, während Robert vor sich hin murmelte: »Wenn ich nur wüßte, wo er an Bord gehen will, zum Teufel!«
Aber kaum hatte er diesen Gedanken in Worte gefaßt, als er zusammenzuckte; an sein Ohr drang weitentfernter Ruderschlag.
»Ich träume«, flüsterte er.
Nein, er träumte nicht. Der Ton war auch von seinen Begleitern wahrgenommen worden, und Pack sagte: »Sie kommen. Auf Wiedersehen, Freund, auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, antwortete ihr Führer.
In seiner Stimme schwang ein Ton unterdrückter Trauer. Die Trennung fiel ihm offensichtlich nicht leicht, aber mit dem Stolz des Naturmenschen beherrschte er seine Gefühle.
Währenddessen klangen die Ruderschläge weniger weit entfernt. Robert, der keinen Augenblick lang die Wasseroberfläche unbeobachtet gelassen hatte, unterschied eine schwarze Masse, die sich langsam der Küste näherte. Die Form nahm präzisere Umrisse an, wurde zur Schaluppe, die Schatten in ihr zu Ruderern.
»Ohé! Ihr in der Schaluppe!« rief der Bucklige.
Eine rauhe Stimme rief zurück: »Wer da?«
»Der die Feuer entfacht hat.«
Schweigen, dann erfolgte ein Kommando: »Legt an, Jungs.«
Ein letzter Ruderschlag, und das Boot stoppte etwa zehn Meter vom Strand entfernt, sein Kiel knirschte auf dem Sand. Sofort sprangen die Männer, die an den Ruderbänken gesessen hatten, ins Wasser, wateten zum Ufer, trugen zu zweit je einen Passagier bis zum Boot zurück. Beim Anblick Roberts zeigten sie keinerlei Erstaunen. Von den starken Armen der Seemänner hochgehoben, befand er sich bald auf der hinteren Bank der Schaluppe, zwischen seinen neuen Freunden sitzend.
Die Mannschaft hatte ihren Platz auf den Bänken wieder eingenommen. Die hochgehobenen Ruder zeigten an, daß man bereit war abzulegen.
»Leb wohl, Mora-Mora!« rief der Bucklige noch einmal; dann befahl er in befehlsgewohntem Ton: »Legt ab!«
Die Ruderblätter tauchten ins Wasser. Das Boot gewann langsam an Fahrt und entfernte sich von der Küste. Eine langgezogene Dünung bewegte die Oberfläche des Meeres; Wellen klatschten gegen die Bordwände des Bootes, das schnell vorankam; In wenigen Augenblicken verloren sich die Küste und die hohe Silhouette des Australiers, der unbeweglich am Strand stand, im Dunkeln.
Wie orientierten sich nur die Matrosen, wenn sie keinerlei Anhaltspunkt hatten? Diese Frage stellte sich der Franzose jetzt. Und da er sich das nicht erklären konnte, wandte er sich an James Pack.
»Wo ist das Schiff?« fragte er.
»Vor uns«, erwiderte der Bucklige. »Sehen Sie, es hat soeben seinen Scheinwerfer eingeschaltet, um uns zu leiten.«
»Was, ein Scheinwerfer?«
»Ein elektrischer dazu!«
Roberts erstaunter Ausruf war nur zu gerechtfertigt. Etwa eine Meile vor ihnen wurde die Wasseroberfläche plötzlich licht; aber anstatt in einer gewissen Höhe zu leuchten, wie es bei Bordlichtern üblich war, schien sich der Lichtschein wie eine Decke auf die Wasseroberfläche zu legen. Ja, dem Franzosen schien das Leuchten sogar aus dem Wasser selbst zu dringen.
Je näher sie kamen, desto sicherer war Robert, sich in letzterem nicht geirrt zu haben. Ein Scheinwerfer mit ungeheurer Leuchtkraft strahlte einige Fuß tief unter der Wasseroberfläche, aber ein anderer Gegenstand hatte inzwischen Roberts Aufmerksamkeit geweckt. Aus dem Meer erhob sich eine Kuppel inmitten der goldschimmernden Helligkeit. Man hätte sie für den Panzer einer Riesenschildkröte halten können. Und auf dieser Kuppel bewegten sich menschliche Wesen.
So phantastisch war diese Vision, daß Robert schon an eine Halluzination glaubte. Er rieb sich heftig die Augen, kniff sich in die Wange. Der Schmerz bewies ihm, daß er nicht träumte. Vor seinen Augen hatte er noch immer dasselbe Bild. Mit gepreßter Stimme murmelte er: »Was ist das bloß?«
»Das ist das Schiff, das ich Ihnen angekündigt hatte«, sagte James Pack.
»Ein Schiff …?«
»Ein Unterseeboot, das gerade aufsteigt, damit wir an Bord gehen können. Aber still jetzt, wir legen an; reißen Sie Augen und Ohren auf, dann kriegen Sie schon genug mit.«
Tatsächlich hatte die Schaluppe die Kuppel erreicht. Das war eine runde, abgeplattete Oberfläche von elliptischer Form, die an ihrer höchsten Stelle vier bis fünf Fuß über die Wasseroberfläche ragte. Das Gebilde mochte etwa zwanzig Meter lang und zehn Meter breit sein. In der Mitte konnte man ein Rechteck erkennen, in dem sich so etwas wie eine Türfüllung abzeichnete.
»Der Eingang zu meinem Schiff«, erklärte der Bucklige. »Kommen Sie.«
Lavarède gehorchte. Er war von dem Abenteuer ganz behext. Er stellte den Fuß auf die Oberfläche des rätselhaften Bootes und merkte, daß er auf Metall stand. Hinter seinem Führer näherte er sich der Öffnung, stieg hinter ihm eine kleine Leiter hinab, die ebenfalls aus Metall war, und befand sich in einem relativ großen Raum, der von elektrischen Lampen in Blumenform erleuchtet wurde. Zur Rechten und Linken gingen Flure ab.
»Außerordentlich!« rief er aus.
Was den Buckligen veranlaßte, nicht ohne Ironie zu bemerken: »O ihr Franzosen! Ihr wundert euch stets, wenn ihr seht, was Fremde aus den Erfindungen eurer Landsleute machen!«
Der junge Mann öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen. Doch dazu ließ ihm James Pack keine Zeit. Er ergriff ihn am Arm, öffnete eine Tür und zog seinen Begleiter mit sich, nachdem er dem Jungen den bizarren Satz zugeflüstert hatte: »Du kannst wieder du selbst werden.«
Das Zimmer, in das er Robert führte, war ein luxuriös eingerichteter Salon. Wertvolle Möbel, erlesene Stoffe, Statuen und Bilder befanden sich hier in schönster pittoresker Unordnung – was schließlich die höchste Form von Ordnung ist – und wechselten mit Schauvitrinen ab, in denen Schätze vom Grund des Ozeans lagen: herrliche Perlen, blutfarbene Korallen, seltene Algen. Aber was Robert am meisten faszinierte, das war die seltsame Dekoration zweier Wände. In diese nämlich waren runde Luken eingelassen, mit dicken Scheiben versehen und solide von bronzenen Beschlägen umrahmt. James hatte den Blick seines Begleiters bemerkt.
»Das sind meine Fenster. Gegenwärtig sind sie von Blechtafeln, die mir als Vorhänge dienen, verschlossen. Sie werden später die Nützlichkeit dieser Öffnungen kennenlernen. Im Augenblick möchte ich Ihnen etwas anderes zeigen.«
Er ging, während er das sagte, auf ein Klavier zu, das an einer Wand stand. Über dem Instrument hingen zwei große Gemälde nebeneinander. Das eine stellte einen blonden, eleganten und würdevollen Mann dar, das andere eine junge Frau im zauberischsten Zauber von Jugend und Schönheit.
Einen Augenblick betrachtete der Bucklige die beiden Bilder schweigend, dann sagte er mit weicher, sanfter Stimme, in der ein tiefes Gefühl mitschwang: »Lord Green, Mylady Joan, bald werde ich meinen Auftrag erfüllt haben. Dann werde ich Ihnen adieu sagen, Ihnen … und allen, ohne anderen Dank als die Erinnerung. Ich stelle Ihnen heute ebenfalls einen unglücklichen Mann vor. Ich habe ihn hergeführt, um ihn an mich zu binden, wie ich mich seiner widmen will.«
Er hatte Roberts Hand ergriffen, ihn zu sich herangezogen und schien ihn den beiden Bildern vorzustellen. Plötzlich schüttelte er den Kopf, als ob er einen unsinnigen Gedanken verscheuchen wollte, und öffnete den Deckel des Klaviers.
Die Tasten kamen zum Vorschein, aber es war eine rätselhafte Klaviatur – abwechselnd weiße und rote Tasten, die jede ein für den Franzosen undeutbares Zeichen trugen. James blickte Robert an.
»Das«, sagte er, »ist ein besonderes ›Klavier‹. Es ist mein Steuerpult. Indem ich eine der Tasten herunterdrücke, übermittle ich dem Mann am Steuerruder meine Befehle. Er hat ein ähnliches ›Klavier‹ vor sich. Jede Bewegung hier wird auf jenes Instrument übertragen. Die Zeichen, die Sie auf den Tasten sehen, sind insgesamt zwölf. Sie bedeuten von links nach rechts: Vorwärts. Stop. Steuerbord. Backbord. Steigen. Sinken. Fahrt mit zehn, mit zwanzig, mit dreißig, mit vierzig, mit fünfzig und mit sechzig Knoten. Das ist alles.«
»Nichts einfacher als das«, erklärte Robert. »Diesen Apparat kann ja ein Kind bedienen. Aber Sie haben mir nur die weißen Tasten erklärt. Sind die roten ohne Bedeutung?«
Der Bucklige schüttelte den Kopf.
»Sie machen mir Spaß! Wissen Sie, es sind elektrische Apparaturen, die meinem Schiff Licht, Wärme, kurz Energie geben. Sie können ausfallen oder müssen repariert werden. Nun, in meinem Dasein ist jede Minute kostbar, ich kann es mir nicht leisten, ohne Handlungsfreiheit zu sein. Ich habe also einen Hilfsmotor an Bord, der mit Nadol angetrieben wird, dem nicht brennbaren Benzin. Wenn nun meine Elektrizität ausfällt, benutze ich Nadol. Dafür sind die roten Tasten da. Jede hat dieselbe Funktion wie die entsprechende weiße Taste.«
»Ich verstehe.«
»Noch ein Wort. Während der Fahrt werde ich Ihnen den Maschinenraum zeigen. Ich muß Ihnen, vereinfacht, das Prinzip meines Unterseebootes erläutern. Bisher haben die Menschen immer danach gestrebt, auf der Oberfläche des Wassers zu schwimmen; sie haben ein ›Schwanen-Schiff‹ erfunden, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ruder, Segel, Schaufel, Schrauben sind Fortbewegungsprinzipien von Wasservögeln. Hier dagegen hat man sich von der Fortbewegung des Fisches leiten lassen.«
»Des Fisches, sagen Sie?«
»Absolut, wie Sie sich selbst überzeugen können. Die Eigentümlichkeit der Fischfortbewegung besteht darin, daß der Fisch völlig ins Wasser eintaucht. Um in eine mehr oder minder große Tiefe zu gelangen, bedient sich der Fisch einer Schwimmblase, die mit Luft gefüllt ist. So stellt er das Gleichgewicht mit seiner Umgebung her; das heißt, daß es ihm gelingt, genauso schwer zu sein wie die Menge Wasser, die er verdrängt, und steigen oder tauchen bedeutet nur, ein Gleichgewicht zu dem gegebenen Niveau herzustellen. In unserem Boot wurde die Schwimmblase durch Wasserreservoirs ersetzt. Sind diese Tanks leer, so schwimmt das Boot wie im Augenblick unserer Ankunft: an der Oberfläche. Werden die Tanks geflutet, so sinken wir. Anzeigegeräte sorgen dafür, daß die Menge des Wassers immer der Gewichtsverdrängung entspricht, je nachdem, wie tief wir tauchen – zehn, hundert, tausend Meter unter der Wasseroberfläche.«
»Tausend Meter!« rief Robert. »Sie kommen in solche Tiefen?«
»Ich gehe mühelos bis zu sechstausend Meter hinab. Das in drei Stücken gegossene Schiff hält den stärksten Drücken stand. Es wirkt wie ein Felsbrocken.«
»Solch eine Entdeckung …! Wer hätte das gedacht.«
Der Bucklige lächelte.
»Das Prinzip, das ich Ihnen eben erklärt habe, wurde von einem Ihrer Landsleute erdacht und auch erprobt.«
»Einem Franzosen …?«
»So ist es. Einem genialen Kopf, der heute noch hartnäckig darum kämpft, daß man seine Erfindung anerkennt, während ich schon dank ihrer durch die Meere eile. Ein verkannter oder unbekannter Mann, dem die Nachwelt sicher ein Denkmal setzen wird.«
»Und wie heißt er?«
»Goubet, und er hat sein Büro in Paris, Boulevard Haussmann fünfundachtzig. Seine Versuche hat er im Hafen von Cherbourg gemacht, in den Docks von Saint-Ouen.«
»Aber dann ist das ja ein ernsthaftes Unterfangen.«
James machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum umfaßte, und sagte: »Sie sehen ja selbst.«
Robert sah es, gewiß. Er sah es noch besser nach einer kurzen Inspektion im Inneren des Schiffes. Im Verlauf einer Viertelstunde hatte er den Mannschaftsposten im Heck aufgesucht, den Maschinenraum mit den vielen Spulen, Elektromagneten, Batterien, die sämtlich mit einem Gewirr von Kabeln verbunden waren. Dann waren da noch die Doppelschraube, die Kabinen, die Vorratskammern, der Scheinwerfer, das Ruderhaus usw. usw.
Die beiden Männer fanden sich wieder im Salon ein, vor dem Klavier mit den weißen und den roten Tasten. Von den neuen Eindrücken noch ganz benommen, versuchte Robert seine Gedanken zu ordnen. Da legte ihm James Pack die Hand auf die Schulter.
»Sie haben gesehen.«
»Gewiß.«
»Würden Sie nach alldem glauben, daß ein Mann, der drei solcher Boote besitzt, sich Herr der Welt nennen dürfte?«
»Er könnte das Universum herausfordern.«
»Nun gut, diesen Mann gibt es, er steht vor Ihnen.«
»Was? Sie …?«
»Ich kommandiere drei Unterseeboote. Mein junger Freund ist mein Leutnant und führt eins der Schiffe; wollen Sie der Kapitän des dritten sein?«
Robert zögerte.
»Sie wären nicht mehr der waffenlose Bürger, ein Spielball finsterer Machenschaften aktueller Politik der Großmächte, sondern ein furchtbarer Feind, mit dem zu rechnen ist.«
Robert schwieg noch immer.
»Und außerdem wären Sie mit einem Namen versehen, demselben Namen, den auch ich auf See trage.«
»Ein Name? Ich verstehe nicht.«
»Mir ist nur so eine Idee gekommen. Sie, mein Leutnant und ich selbst, wir hätten ab nun eine einheitliche Bezeichnung – ein Wille in drei Köpfen, eine Entscheidung, die wir drei bereit sind auszuführen. Die Welt würde zittern vor den Heldentaten des …«
»Des …?«
»Des Korsaren Triplex.«
»Korsar Tripl…, ich bin dabei …, ja, wirklich, drei Schiffe, drei Kapitäne, und immer nur ein Name: Triplex.«
»Das heißt die Gabe der Allgegenwart … Die Wissenschaft erzeugt das Phantastische. Der Unangreifbare wird dreimal zugleich zuschlagen. Aber damit dieser Plan, der aus unserem Zusammentreffen entstanden ist, auch erfolgreich ist, brauche ich Ihrerseits blinden Gehorsam, eine nie anzuzweifelnde Ergebenheit.«
Robert reichte ihm die Hand und sagte: »Ab jetzt bin ich Ihr Diener.«
Bei diesen Worten leuchteten James’ Augen.
»ich zähle auf Sie. Begleiten Sie mich zur Brücke.«
Einen Augenblick später standen die beiden neben der Decksluke, und auf Befehl des Buckligen zündete ein Matrose eine Rakete, die in den nachtdunklen Himmel zischte.
Am Ufer blitzte es auf, einige Sekunden später war ein dumpfer Knall zu vernehmen.
»Fein«, murmelte der Korsar. »Mora-Mora hat das Signal gesehen, er hat mit seinem Gewehr geantwortet. Steigen wir unter Deck, das Schiff wird sich in Marsch setzen.«
Der neugierige Robert wollte James etwas fragen, aber der legte einen Finger an seine Lippen, und Robert stellte eingedenk seines Schweigegelübdes keine weiteren Fragen.
In den Salon zurückgekehrt, postierte sich James vor der Steuerklaviatur. Seine Finger huschten über die Tasten. Sofort ließ eine kaum merkbare Erschütterung den Boden unter ihren Füßen erbeben.
»Wir bewegen uns!« rief der junge Franzose aus.
Er war von der wunderbaren Technik so beeindruckt, daß er bewegungslos dastand und jeden Meter, den das Boot unter Wasser zurücklegte, ganz außerordentlich zu genießen schien. Plötzlich zuckte er zusammen, die Tür des Zimmers hatte sich geöffnet. Auf der Schwelle stand ein entzückendes junges Mädchen, dessen Züge haargenau denen des Jungen glichen, der James Pack durch den Busch begleitet hatte.
Der Bucklige verstand, was seinen neuen Leutnant bewegte, und lächelnd und mit der gleichen Gewandtheit, als ob er sich in einer erlesenen Gesellschaft befinden würde, stellte er die beiden einander vor: »Miß, ich habe die Ehre, Ihnen Sir Robert Lavarède vorzustellen; Sir Robert Lavarède, Miß Maudlin Green, deren Geschichte Sie sofort hören werden.«
In kurzen Worten erzählte er Robert, was der Leser schon aus dem Kapitel mit den grünen Masken weiß. Er erzählte, wie der Polizeichef, nachdem er Lord Green getötet hatte, einen in Schulden verstrickten unglücklichen Mann namens Bob Sammy beauftragt hatte, sich zu der Farm am Lachlan River zu begeben und die kleine Maudlin zu ertränken.
»Ich bin davon unterrichtet worden«, sagte James Pack. »Wie? Nun, das spielt vorerst keine Rolle. Aber ich rettete das Kind. Ich war jung und mittellos und hatte keine Beweise gegen Allsmine. Zudem hatte niemand ein Interesse, gegen Allsmine vorzugehen, der mächtige Beschützer hatte. Ich hätte das Mädchen seiner Mutter zurückgeben können, doch ich befürchtete, daß ich es dadurch erneut demjenigen zuspielen würde, der seinen Tod befohlen hatte. Und wie gesagt, mir fehlten die stichhaltigen Beweise. Die Beteuerungen des Abenteurers Bob Sammy wären gegen das Wort des Polizeidirektors leeres Papier gewesen. Kurz, während ich noch zögerte, heiratete der Spitzbube Lady Joan Green, die Witwe seines ersten Opfers. Daraufhin hatte ich die Idee, so stark zu werden, daß jeder Widerstand an meiner Macht zerbrechen mußte. Ich übernahm die Erziehung der Kleinen. Ich erlegte mir Opfer auf, denn ich war nicht reich, und mein Ingenieursgehalt reichte gerade, um uns beide zu ernähren. Aber es gibt ja eine ausgleichende Gerechtigkeit.«
Miß Maudlin Green hatte die Hand des Sprechers gepackt und blickte ihn aus tränenfeuchten Augen an. Er lächelte sie an.
»Ich weiß, Maudlin, es schmerzt dich, aber Robert soll alles wissen …«
Mit festerer Stimme fuhr er dann fort: »Eines Tages ereignete sich ein Unfall in den Minen. Zahlreiche Bergleute waren unter Schutt begraben. Man barg Tote und Verletzte. Unter den Verletzten war ein ehemaliger Seemann, ein merkwürdiger Mann. Er mied die Gesellschaft der anderen, lebte von wenig, wachte mit geradezu lächerlichem Geiz über seine Ersparnisse. Ich besuchte ihn im Hospital. Er kämpfte verzweifelt gegen sein Ende. Mitten im größten Schmerz schrie er ständig: ›Ich will leben. Das Vermögen! Das Vermögen!‹ Schließlich begriff der arme Teufel, daß er verloren war. Er verlangte mich zu sehen, und dabei fand folgendes Gespräch zwischen uns statt:
›Ingenieur, ich werde sterben.‹
›Nein, mein Junge, glaub nicht daran.‹
›Doch, ich fühle es. Sie sagen das Gegenteil, weil Sie eine ehrliche Haut sind, ich meine im Leben, nicht was Ihre Worte angeht. Ich spring dem Tod nicht mehr von der Schippe. Also keine weiteren unnützen Worte. Sie waren immer gut zu mir, deshalb sollen Sie von einer Entdeckung profitieren, die mir nichts mehr nützt. Wenn Salat wächst, muß er schließlich von irgend jemand gegessen werden.‹
›Also beichten Sie, ich höre.‹
›Bevor ich Bergmann wurde, war ich Seemann auf einem Schoner, der zwischen den Inseln Polynesiens herumsegelte und mit Kopra handelte. Nun, eines Tages entdeckte ich auf einer gottverlassenen Insel Goldstaub. Ohne jemandem etwas von meinem Fund zu verraten, klopfte ich ein paar Löcher in den Felsen und kam zu dem Schluß, daß er immense Goldvorräte bergen müsse. Hätte ich mich intelligenterweise mit einem Bankier zusammengetan, wäre mir wahrscheinlich eine Schürflizenz ausgestellt worden, ich hätte eine Expedition ausgerüstet und säße heute sicher schon im Parlament. Aber nein. Ein Krümel Gold ist eben noch kein großer Haufen! Ich war verrückt. Ich wollte den Schatz, den mir die Natur geschenkt hatte, ganz für mich allein. Seit zwanzig Jahren arbeite ich nun wie ein Ochse und gönne mir nichts. Ich habe jeden Penny beiseite gelegt, um mir ein Schiff zu chartern und dort unten nach Gold zu graben. Mein Traum von Reichtum ist ausgeträumt, aber ich will nicht für nichts und wieder nichts gelitten haben. Ich habe keine Freunde, keine Verwandten. Sie, Ingenieur, sollen mein Erbe sein.‹
Ich dachte«, so sagte James, »der Mann redet im Delirium. Zweifellos mußte das der Sterbende meinem Gesicht angesehen haben, denn er fuhr fort: ›Nein, nein, ich habe all meine Sinne beisammen, Ingenieur. Tun Sie, was ich Ihnen sage, und Sie werden sehen. Gehen Sie in meine Hütte und rücken Sie den Stein vom Herd. Darunter finden Sie eine Eisenkiste, die meine ganzen Ersparnisse enthält sowie den genauen Plan der Goldinsel. Nehmen Sie alles, ich schenke es Ihnen. Gott befohlen.‹
Der Kranke schloß die Augen und schwieg. Ich versuchte, ihn zum Sprechen zu bewegen; er weigerte sich. Sicher hatte sein Geständnis seine letzten Kräfte aufgebraucht. Am selben Abend noch starb er.
Und so tat ich, wie er mir geheißen. Ich entdeckte den Behälter, von dem er geredet hatte. Er enthielt achthundert Pfund und eine Karte des Cookarchipels; eine dieser zahlreichen Inseln war mit einem Kreuz versehen. An der Karte steckte ein Zettel, und darauf stand: Das Kreuz bezeichnet die Goldinsel; es ist ein Felseneiland, auf dem es nur in den Tälern eine reiche Vegetation gibt. Auf der höchsten Erhebung steht ein toter Baum. Daneben ein nicht zu übersehender Felsen, der an ein Schiff mit geborstenen Masten erinnert. Das ist der Ort.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß der Bergarbeiter keine Verwandten besaß, die Anspruch auf sein Erbe hatten, entschloß ich mich, das Abenteuer zu wagen. Ich brachte Miß Green in einem englischen Pensionat unter und reiste nach Australien. Dort mietete ich einen kleinen Segler und stach zu den Cookinseln in See. Mühelos erkannte ich die Goldinsel, und nach acht Tagen hartnäckigen Suchens und mühsamen Aufstiegs auf den Gipfel der Klippe war ich einer der Reichsten unter den Reichen dieser Welt. Das Felsmassiv, das einem gestrandeten Schiff glich, steckte voller Golderz der reinsten Sorte. Mit einemmal hatte ich die nötigen Mittel, um gegen den allmächtigen Sir Toby Allsmine vorzugehen.
Meine Unterseeboote wurden stückweise gefertigt, eins in England; die beiden anderen in Frankreich, Deutschland, Österreich und den Vereinigten Staaten. Die einzelnen Teile wurden zur Goldinsel gebracht und von Männern zusammengesetzt, die mein vollstes Vertrauen hatten. Es sind durchweg Opfer von Sir Tobys Willkür gewesen.«
Der Bucklige schwieg einen Augenblick, dann sagte er zu Robert: »So, nun wissen Sie alles.«
»Pardon, eine Sache interessiert mich noch«, erwiderte Robert, der sich kein Wort des Buckligen hatte entgehen lassen. »Ihr wirklicher Name?«
Ein Schatten schien James’ Gesicht zu verdüstern.
»Ich kann Ihnen meinen richtigen Namen noch nicht sagen. Nicht einmal Maudlin kennt ihn. Machen Sie es wie sie. Sehen Sie in mir den Repräsentanten von Recht und Ordnung. Sagen Sie sich, daß ich ein Mensch bin, der, weil er selbst nicht glücklich sein kann, sein Leben dem Glück anderer geweiht hat.«
Obwohl diese Worte leichthin gesagt worden waren, mußten sie dem Sprecher doch unendliche Mühe bereitet haben, denn sein Gesicht verzerrte sich schmerzlich.
Respektvoll verneigte sich der Franzose.
»Kapitän, befehlen Sie«, sagte er. »Ihre Befehle werden auf der Stelle ausgeführt.«
Die rätselhafte Person klopfte Robert auf die Schulter und sagte mit veränderter Stimme: »In diesem Fall ans Werk! Der Kampf kann beginnen!«
So also wurde Robert zu einem Drittel des Korsaren Triplex. Er führte den Vorsitz beim Tribunal der grünen Masken; er nahm teil an Niaris Entführung und schreckte zu guter Letzt den armen Totengräber auf dem Friedhof.
Von James’ Botschaft benachrichtigt, hatten Armand Lavarède, Aurett, Lotia und Mrs. Joan Allsmine an der Auferstehung Roberts teilgenommen. Danach waren sie mit dem »Toten« zum Hafen geeilt, mit einem Beiboot zum Unterseeboot gefahren und dort an Bord gestiegen. Jetzt saßen sie alle im großen Salon und vernahmen, wie sich Robert und der bucklige James Pack kennengelernt hatten. Letzterer war verschwunden, aber niemand hatte etwas davon bemerkt. Lotia und Robert schauten sich aus feuchten Augen schmachtend an. Und das wiederum erfreute Armand und Aurett. Einzig Joan schien in sich versunken. Der Korsar hatte ihr versprochen, ihr das einzige Kind wiederzugeben.
»Ich werde dich nicht mehr verlassen«, sagte Lotia gerade. »Was ist der Kampf gegen England schon gegen die Trauer, die ich empfinde, wenn du nicht bei mir bist. Unsere Freunde standen mir bei, so gut es ging; aber auch sie können meine Träume nicht verjagen, die von bösen Vorahnungen erfüllt sind. Als ich auf den Spuren des lebenden Robert wandelte, fürchtete ich immer, am Ende auf einen toten zu treffen.«
»Was dir ja auch gelungen ist«, sagte der Franzose heiter. »Nur steigen in diesem exzentrischen Land die Toten eben aus ihren Gräbern.«
»Lach nicht, ich bitte dich.«
»Verlang alles von mir, Lotia, außer dem da. So lange bin ich von dir getrennt gewesen, ich sehe dich, und du untersagst mir, fröhlich zu sein. Singen nicht auch die Vögel, wenn die Sonne scheint? Und ich sehe sogar zwei Sonnen – deine Augen.«
Armand unterbrach ihn.
»Ich beglückwünsche dich, Cousin. Ich befürchtete schon, der lange Aufenthalt unter Wasser habe dich zu einem Seewolf gemacht; ich stelle vergnügt fest, daß es nicht so ist, du bist ganz der Alte. Und trotz deines Todes ansonsten kerngesund.«
Es klopfte.
»Treten Sie ein!« rief Armand.
Die Tür drehte sich in ihren Angeln, und James Pack erschien.
»Ah!« rief der Journalist aus, »Sie sind das, verehrter Gastgeber, Sie sind wirklich zu diskret.«
»Nun, ich bin nicht allein«, erwiderte der Korsar und sagte, zu einer Person im anderen Zimmer gewandt: »Treten Sie ein, Maudlin. Ihre Mutter wartet.«
Das junge Mädchen betrat den Raum und warf sich ihrer Mutter in die Arme. Das war ein Herzen und Küssen. Als sich die erste Emotion gelegt hatte, schaute Joan ihre Tochter genauer an.
»Laß dich anschauen, Kind. Irgend etwas an dir kommt mir so bekannt vor.«
Sie drehte Maudlin hin und her, führte sie unter das elektrische Licht, um besser sehen zu können. Da stießen die Anwesenden plötzlich einen Schrei aus: »Silly!«
Es war kein Irrtum möglich. Maudlins Züge waren dieselben wie die des armen schwachsinnigen Kindes, doch war ihr Blick klar und wissend.
»Silly«, sagte Joan. »Bist du wirklich Silly gewesen? Habe ich wirklich meine Tochter an mich gepreßt, ohne sie zu erkennen?«
»Ja, Mutter«, stammelte Maudlin.
»Und du hast den Mut gehabt zu schweigen.«
Das Mädchen zeigte auf James.
»Wenn ich gesprochen hätte, Mutter, wäre die Existenz des Mannes bedroht, der uns beschützt.«
»Ja, das ist wahr. Er lebt ständig in Gefahr … durch meine Schuld, weil ich elende Kreatur meine Hand unserem schlimmsten Feind gegeben habe …«
»Klagen Sie sich nicht an, Mrs. Allsmine«, sagte der Korsar und ging einen Schritt auf sie zu. »Sie waren das Opfer einer bösen Machenschaft, das Opfer, verstehen Sie … Jetzt überlasse ich Ihnen Maudlin. Sie wird Ihnen alles erzählen. Sie werden überrascht sein, wenn sie Ihnen erzählt, daß sie der Kapitän eines meiner Unterseeboote ist, also genauso Korsar Triplex ist wie Robert und ich selbst.«
»Was, meine Tochter …«
»Sie wollte es so. Ich hatte die Absicht, sie in Europa zu lassen, sie allerdings widersetzte sich. ›Du gehst daran, mir meine Mutter wiederzugeben‹, sagte sie zu mir, ›da will ich dabeisein. Ich kann genausogut Gefahren auf mich nehmen wie du. Meine Mutter wird dir sowieso Vorwürfe machen, daß du alles allein machen mußtest.‹ Aber heute kann ich den hübschesten Kapitän meiner Flotte von seinem Dienst entbinden. Du bleibst bei deiner Mutter, Maudlin, und der Erste Offizier übernimmt das Kommando über das Schiff. Das ist doch wohl auch in Ihrem Sinne, Mrs. Allsmine?«
»Doch, doch. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Und sagen Sie mir, wer sind Sie? Wer liebt die Gerechtigkeit so, daß er sich für andere einsetzt, die Unrecht erlitten haben?«
»Ich bin James Pack, Mrs., oder auch Korsar Triplex.«
»Sie wollen Ihren wirklichen Namen nicht nennen, ich habe nicht das Recht, Sie dazu überreden zu wollen. Aber welche Bezeichnung Sie auch immer tragen, für mich sind Sie der Retter meiner Tochter.«
Der Korsar verbeugte sich, dann sagte er hastig, als ob er es eilig hätte, die Begrüßungsemotionen zu beenden: »Über die Presse habe ich die britische Flotte aufgefordert, sich in zwei Monaten an der Goldinsel einzufinden. Wir haben bis dahin noch viel zu tun, um über Allsmine triumphieren zu können.«
»Sie meinen, Sie werden Erfolg haben?« fragte Armand Lavarède.
»Ja, ich werde Erfolg haben«, murmelte der Korsar mit einer unendlich traurigen Stimme. »Ja, Sie werden glücklich sein.«
Seine Züge entspannten sich, er machte eine Bewegung, als wolle er einen unsinnigen Gedanken verjagen, und in befehlsgewohntem Ton sagte er: »Sir Robert, hier ist ein Umschlag. Er enthält meine Instruktionen. Ich werde in der Gegend von Borneo wieder zu Euch stoßen, in der Gaya-Bai, dem britischen Stützpunkt.«
»Sie verlassen uns?«
»So ist es.«
Errötend näherte sich ihm Maudlin und fragte: »Ist das wirklich nötig?«
James’ Augenlider gerieten in Bewegung; ein unbeschreiblicher Ausdruck lag in seinen Augen, aber entschlossen antwortete er: »Es ist nötig. Korsar Triplex muß sich überall zeigen, um die letzten Zweifel der Admiralität zu zerstreuen.«
»Dennoch …«
Er unterbrach sie beinahe böse.
»Ach! Laß mich meinen Auftrag erfüllen. Meine Anwesenheit hier wäre sinnlos. Du hast deine Mutter wieder, und das wird dich zweifellos den Freund vergessen lassen, der nur Erinnerungen an schlechte Zeiten weckt.«
Das junge Mädchen zitterte, leichte Röte zeigte sich auf ihren Wangen.
»Du bist ungerecht, Kapitän«, sagte sie schließlich. »Ich habe es nicht verdient, daß du mich des Undanks bezichtigst.«
»Ich habe nichts dergleichen behauptet.«
»Pardon. Wäre es das nicht, wenn ich den vergesse, der mich vor dem Tod gerettet hat, der jede Stunde gewacht hat mit der Fürsorglichkeit …«
»… eines ergebenen Dieners«, vollendete James mit einem bitteren Unterton in der Stimme.
Aber die Erwiderung hatte einen unerwarteten Effekt, Maudlin beruhigte sich mit einemmal; ihre Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, und sanft sagte sie: »Fürsorglichkeit und Ergebenheit brauchen keine Attribute. Es gibt sie, oder es gibt sie nicht. Nur was meine Mutter und ich dir zu erklären haben, Kapitän, das ist, daß meine Mutter und ich voller Dankbarkeit für dich sind. Du kannst ungestraft ungerecht oder grausam sein; es gelingt dir nicht, uns aus deinem Herzen zu verjagen.«
James antwortete nicht. Er verbeugte sich nur tief und zog sich dann zurück. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Einen Augenblick hörte man noch seine Schritte, dann war es still.
Robert, der soeben den Umschlag geöffnet hatte, der die Befehle enthielt, las laut vor: »Sich nach Poulo-Tantalam (Malakka) begeben, eine Karte hinterlassen und in die Gaya-Bai einfahren.«
»Das ist chinesisch!« rief Armand aus.
»Für dich ja, aber für mich sind diese Befehle glasklar.«
»Dann erklär sie uns.«
»Das muß ich nicht. Der Kapitän hat mich verpflichtet zu gehorchen, nicht, euch zu instruieren.«
Und um allen Fragen seines allzu neugierigen Cousins zuvorzukommen, ging er zu dem Steuerpult und drückte mehrere Tasten. Nach zehn Sekunden war ein leichtes Rattern zu vernehmen.
»Was ist das?« fragte Aurett.
»Das Schiff setzt sich in Bewegung, liebe Cousine, weiter nichts. Ich bitte euch, mich zu entschuldigen. Ich habe der Mannschaft meine Befehle zu überbringen.«
Als er den Salon verlassen hatte, näherte sich Maudlin der schönen Ägypterin.
»Erlauben Sie, daß ich Sie mit den Annehmlichkeiten Ihrer neuen Unterkunft vertraut mache. Würde es Ihnen nicht gefallen, durchs Fenster zu schauen?«
»Pardon, ich verstehe nicht«, erwiderte Lotia.
Maudlin zeigte auf die runden Fenster, die zwei der Wände zierten.
»Die Fenster.«
Sie drückte auf einen Hebel.
»Ich lasse die Schutzrollos weggleiten. Jetzt ist es möglich, nach draußen zu schauen.«
Hinter den Scheiben erblickten die Passagiere das Meer, das der Scheinwerfer mit phosphoreszierenden Strahlen durchschnitt. Schatten glitten in die erleuchtete Zone. Fische, Rochen, Quallen, die die plötzliche Strahlung aus ihrer unterirdischen Ruhe geschreckt hatte.
»Aber man wird uns von der Küste aus wahrnehmen«, bemerkte der Journalist.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Maudlin. »Schauen Sie auf das Manometer. Wir sind jetzt fünfzig Meter tief, und ein direkt über uns schwimmendes Schiff, das heißt also unter besten Beobachtungsbedingungen, würde nicht das geringste von uns sehen.«
Man schwieg und starrte wie gebannt durch die riesigen Bullaugen auf das seltene Schauspiel. Plötzlich wurde Lotias Aufmerksamkeit auf Schatten gelenkt, die an der Grenze des erleuchteten Sektors in entgegengesetztem Kurs unter dem Boot in rasender Geschwindigkeit vorbeischossen.
»Was ist das?« fragte sie.
»Felsen.«
Armand horchte auf.
»Klippen! Teufel! Teufel!«
Die anmutige Führerin drehte sich zu ihm um.
»Was haben Sie, Sir?«
»Nun …, ich …, mir ist gerade ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf gegangen.«
»Und der wäre?«
»Der Scheinwerfer erfaßt nur einen beschränkten Umkreis, und wenn wir auf einen Felsen auflaufen …«
Maudlin antwortete mit einem perlenden Lachen, dann sagte sie: »Die Nummer zwei – denn dieses Schiff trägt die Nummer zwei, die Eins wird von James kommandiert und die Drei bisher von mir –, die Zwei also gehorcht dem Steuer mit erstaunlicher Leichtigkeit; wenn nötig, wirbelt sie sogar wie ein Kreisel um die eigene Achse.«
»Robert hat uns erzählt, daß dieses Schiff sechzig Meilen in der Stunde zurücklegen kann, das sind ja mehr als hundertundzehn Stundenkilometer.«
»Er hat Ihnen nichts Falsches gesagt.«
»Was ich wissen möchte: Welche Kraft ist nötig, um eine solche Geschwindigkeit zu erreichen?«
»Nun, das Schiff verdrängt exakt tausendachthundert Tonnen. Um eine solche Masse an Land in Bewegung zu setzen, damit sie diese Geschwindigkeit erreicht, braucht man mehr als zweitausend PS.«
»Demnach müßten sich ja riesige Maschinen an Bord befinden.«
»Genau. Nur, im Wasser benötigt unser Unterseeboot nicht mehr als fünfzig PS.«
»Fünfzig?«
»Ja. Sie haben richtig gehört.«
»Fünfzig! Mein Gott!«
»Aber Diskretion! Niemand kennt die Wirtschaftlichkeit unserer Maschinen.«
Ein Ausruf von Lady Joan unterbrach die Unterhaltung. Lord Greens Witwe hatte die ganze Zeit vor einem der großen Bullaugen gestanden und staunend die Wunderwelt des Ozeans betrachtet.
»Maudlin, mein Kind«, sagte sie, »komm einmal her. Ich habe etwas Großes gesehen. Was ist das bloß? Ich glaube, es ist ein riesiger Wal.«
Das junge Mädchen trat zu ihr.
»Aber Mutter, das ist doch das Unterseeboot von James. Sieh mal, es gibt uns Zeichen.«
In der Tat, der Scheinwerfer des Unterseebootes war eingeschaltet, er wechselte nacheinander von weiß zu grün, von grün zu gelb und endete schließlich in einem leuchtenden Rot.
»Was bedeutet das?«
»Denkt an eure Termine! Ich steche in See! Auf Wiedersehen!« antwortete Maudlin.
Kaum hatte sie den letzten Satz beendet, als der Scheinwerfer wieder in gewöhnlichem Weiß prangte, das Boot eine Umdrehung um sich selbst vollführte und kurz darauf in der dunklen Wassermasse verschwand.
Im selben Augenblick öffnete sich die Tür zum Salon, und Robert betrat den Raum.
»Meine Freunde«, sagte er, »jetzt stehe ich wieder zu eurer Verfügung. Übrigens habe ich noch eine Mitteilung …«
»Von Korsar Triplex«, sagte Lotia. »Zu spät, kennen wir bereits – Termine nicht vergessen, in See stechen, adieu.«
Robert staunte.
»Ich vermute, das war Miß Green, die das Geheimnis um unsere Lichtspiele gelüftet hat. In diesem Fall habe ich nichts weiter zu tun, als euch in eure Kabinen zu führen, denn nach den Aufregungen dieser Nacht habt ihr sicher Ruhe nötig.«
Der Vorschlag schien sie zu überraschen. Die außerordentliche Situation, in der sie sich befanden, hatte sie jegliche Müdigkeit vergessen lassen. Dennoch protestierte niemand; Roberts Worte erinnerten sie daran, daß es nach der anstrengenden »Auferstehung« auf dem Friedhof und ihrer Ankunft auf dem wundergleichen Unterwasserfahrzeug angebracht sei, Körper und Nerven Ruhe zu gönnen.
Wenige Minuten später hatten sich die Passagiere in den im hinteren Teil des Schiffes gelegenen Kabinen zur Ruhe begeben, während das U‑Boot Nummer zwei unter Führung seines Steuermannes mit voller Elektrizität in die friedliche Einsamkeit des Ozeans tauchte.
So groß war ihre Müdigkeit gewesen, daß sie trotz eines ganz und gar neuartigen Gefühls unterseeischer Existenz am nächsten Tag erst sehr spät erwachten. Gegen Mittag versammelte man sich im Speisesalon – er lag neben dem eigentlichen Salon – zur ersten Mahlzeit des Tages.
Ein delikates Menü erwartete sie.
Neben den Produkten der Erde – Früchten, Gemüsen und vielerlei Arten von Fleisch – lagen köstliche Fische mit bizarren Formen. Besonders wohlschmeckend erwies sich ein Salat aus rotem Seetang. Und als ob der Speiseplan, den Korsar Triplex für sie entworfen, nicht genügte, um sie bei Laune zu halten, umspielte sie nach der Mahlzeit der jodhaltige Geruch des Indischen Ozeans.
»Ah, woher kommt diese köstliche Brise?« fragte der stets neugierige Journalist.
»Ventilatoren«, erwiderte Robert. »Dank unserer Sauerstofftanks und Behälter, die mit Ätzstein gefüllt sind, können wir uns unsere Luft selber machen. Aber wenn es geht, ziehen wir es vor, an die Wasseroberfläche aufzusteigen. Wir öffnen die Luken, und die starken Ventilatoren sorgen dafür, daß die verbrauchte Luft erneuert wird.«
Er lud Lotia ein, mit ihr auf die Brücke zu kommen. Sie erhob sich, und beide schritten sie durch den Flur bis zum Fuß der Treppe, die nach oben führte. Die Luke war weit geöffnet und ließ sie ein Stück blauen Himmel erkennen. Die beiden stiegen die Leiter hinauf und setzten ihren Fuß auf die im Sonnenlicht glänzende Metallkuppel. Einen Augenblick standen sie unbeweglich, wie blind durch den plötzlichen Übergang vom Halbdunkel ins gleißende Sonnenlicht, dann blickten sie sich um. Der Horizont war ein vollendeter Halbkreis. Keine Insel, keine Klippe unterbrach die grüne Monotonie des Ozeans.
Nummer zwei schien ein verlorenes Pünktchen inmitten der flüssigen Wüste. Aber weder Lotia noch Robert fühlten sich einsam oder gar traurig. Sie, die glaubten, für immer voneinander getrennt leben zu müssen, waren beieinander, und die weite azurblaue Himmelskuppel, die sich auf dem meergrünen Teppich des Ozeans zu räkeln schien, erfreute ihre Augen.
Warum auch hätte sie der Anblick des Ozeans schrecken sollen? Bei Seeleuten und bei gewöhnlichen Reisenden mag die gewaltige Wassereinöde finstere Gedanken an Schiffbrüche und Geisterschiffe, die von Toten gelenkt werden, heraufbeschwören. Aber für die beiden war die grüne Weite eine Freundin. Hatte sich nicht in ihr ein Beschützer verborgen, der sie gegen ihre Feinde in Schutz nahm? Und deshalb betrachteten sie die Wellen, die sich am Metallmantel ihres Schiffes brachen, mit Wohlgefallen.
Plötzlich riß sie das Geräusch von Schritten, die auf der Metallkuppel widerhallten, aus ihren Träumen. Sie drehten den Kopf und schienen erfreut. Vor ihnen stand der Ägypter Niari.
Der ehemalige Vertraute von Thanis verbeugte sich. Er ging auf Lotia zu, kniete vor ihr nieder und hob grüßend die Hände über den Kopf. So glich er haargenau einem der Basreliefs vom unteren Nil, auf dem die Anbeter der Pharaonen dargestellt waren.
»Tochter der Könige, Niari grüßt dich. Du leuchtest in seinen Augen wie der Abendstern.«
»Erheb dich, Niari«, sagte die junge Frau sanft. »Erheb dich. Es ist nicht die Tochter mächtiger Pharaonen, die dir die Hand reicht, nein; es ist ein armes Mädchen, das Opfer schändlicher Machenschaften, die hofft, daß dein Mund endlich die Wahrheit sprechen möge und ihrer Trauer ein Ende setzt.«
»Sie ist traurig, die Gazelle mit den Samtaugen, die ihr Vater Yacub Hador dem Sieger über die Rotröcke zur Frau geben wollte. Also habe ich meine Pflicht versäumt. Ich hätte der erste sein müssen, der sie begrüßt, aber ich wußte nicht, daß sie auf diesem Schiff weilt. Eben erst habe ich erfahren, daß Ihr hier seid.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Niari. Ich weiß, was du in der Vergangenheit geleistet hast. Ich weiß, daß du dem Verräter Thanis so ergeben warst, daß du mit ihm einen Franzosen auswähltest, damit jener seine Rolle spielen und unter den Hieben der rotröckigen Eroberer unseres Landes sein Leben hingeben sollte.«
Der Ägypter senkte den Kopf und murmelte: »Die meinen haben denen, von denen Thanis stammt, immer die Treue gehalten.«
»Das ist wahr. Heute allerdings lebt Thanis nicht mehr.«
»Tot, wie bitter! Ohne unsere Feinde verjagt zu haben, wie es ihm sein Gewissen auferlegte.«
Leise flüsterte Lotia ihrem Geliebten ins Ohr: »Er ist und bleibt ein Patriot. Warum nur hat er sich an einen Verräter gehängt?«
Und mit lauter Stimme sagte sie: »Vergessen wir das, Niari. Hör mir zu. Du hättest die Absicht, hat man mir berichtet, die Wahrheit zu sagen und öffentlich zu erklären, auf welche Art und Weise Robert Lavarède zu Thanis gemacht wurde?«
Das bronzefarbene Gesicht des Ägypters zog sich zusammen. Er betrachtete Robert aus zusammengekniffenen gelben Augen und sagte mit wilder Leidenschaft: »Ein Europäer darf diesen Namen nicht tragen, den so viele Krieger göttergleich haben werden lassen.«
Robert wollte antworten, doch Lotia kam ihm lächelnd zuvor.
»Niari hat recht«, sagte sie. »Der Name von Thanis steht einem Fremden nicht zu. Also, treuer Diener, wirst du nach unserer Rückkehr nach Europa die Erklärung abgeben, daß …«
»… daß alles so ist, wie ich eben gesagt habe, ja, Tochter der Hador.«
»Ha!« rief Robert, der sich nicht länger zurückhalten konnte. »Endlich meinen Namen wiederhaben, meine Nationalität, um sie dir geben zu können, meine teure Geliebte.« Er ergriff ihre Hände. »Dein Mann sein, mit dir im Lichte deines Lächelns leben … Ah, der schöne Traum, wieviel besser der doch ist als diese Thanis-Etikette, dieses Sinnbild von Lüge und Verrat.«
Der junge Mann hätte im Überschwang der Gefühle sicher noch länger so geredet, aber da krallte sich eine Hand in seinen Arm. Er blickte auf. Niari war dicht an ihn herangetreten und schien ihn mit den Augen verschlingen zu wollen.
»Was noch?« fragte der Franzose.
»Habe ich richtig gehört«, sagte der Ägypter. »Zweifellos haben mich meine Ohren getrogen.«
»Worin denn?«
»Haben Sie gemeint, daß ich Sie, wenn Sie Ihren richtigen Namen wieder tragen, zum Ehemann von Lotia Hador mache?«
»Ich denke schon, daß ich das gesagt habe.«
»Deshalb haben Sie mich aus dem Gefängnis geholt und auf dieses Schiff gebracht?«
»Genau dafür.«
Niaris Augen funkelten.
»Befehlen Sie, daß man mich wieder in den Kerker wirft, daß man mir die Zunge herausreißt. Ich ziehe die Folter der schmählichen Rolle vor, die Sie mir zubilligen.«
»Sie müssen verrückt geworden sein.«
»Was! Ich sollte für einen Europäer aussagen, damit er Lotia, die Blume des Nils, heiraten kann. Nein und abermals nein! Hadors Tochter wird die Frau des Mannes, der die Eindringlinge besiegt. Hoffe bloß nicht, daß ich nach deinen Wünschen handle. Ab jetzt bist du für mich Thanis, und ich werde beschwören, daß du Thanis bist. Ha, dieser Name mißfällt dir, er wird verhindern, daß Lotia eine ehrlose Verbindung mit dir eingeht. Ich brenne dir diesen Namen in dein Fleisch, ich ritze ihn auf deine Stirn. Du bist Thanis. Du bist Thanis. Wer das Gegenteil behauptet, der lügt, der lügt …«
Der Ägypter war außer sich. Robert und Lotia standen diesem Ausbruch fassungslos gegenüber.
»Niari«, stammelte die junge Frau, »Niari, kommen Sie zu sich. Ich bin es, die Sie darum bittet. Sie wollen mich doch wohl nicht ins Unglück stoßen.«
»Das Unglück liegt in der Schande«, erwiderte er hohnlächelnd. »Die Schande steckt in der Heirat, von der du träumst. Deine Pflicht, Tochter des Nils, ist dort unten, an den Ufern des großen Flusses. Deine Pflicht ist es, mit deinem Namen und deiner Schönheit denen Mut zu machen, die ihr Blut für die Unabhängigkeit vergießen.«
»Nein, nein, hör mir zu. Ich tauge nicht zur Heldin, zur Galionsfigur. Ich will nicht, daß ich verstümmelte Leichen segne, Sterbenden die letzte Ölung gebe und Verwundete gesund pflege. Ich will nicht, daß sich die Erde mit Blut vollsaugt, daß der Wüstensand zum roten Schlamm wird, daß die Tränen der Mütter, Frauen und Kinder als brennender Tau die Erde tränken … Niari …«
Flehend streckte sie die Hände zu dem Ägypter aus, aber der wischte mit einer zornigen Geste ihre Bedenken hinweg.
»Niemals wird Niari seine Pflicht verletzen. Bei Osiris. Der Mann, der dich begleitet, hat für mich nur einen Namen, und dieser Name wird dich von ihm trennen … Er ist Thanis, Thanis, Thanis!«
Damit machte er kehrt und entfernte sich rasch durch die offene Luke.
Lotia hatte keine Anstalten gemacht, ihn zurückzuhalten, doch wächserne Blässe lag auf ihrem Gesicht, und unter ihren langen Wimpern glänzten dicke Tränen, die ihr wie Diamanten des Schmerzes über die Wangen perlten.
»Lotia!« rief Robert, der mehr durch diese stumme Niedergeschlagenheit als durch Niaris Worte betroffen schien. »Lotia, weine nicht.«
Sie blickte ihn aus tränenfeuchten Augen an.
»Doch, Lieber, doch, ich muß weinen. Wir haben uns zu früh gefreut. Das Hindernis, das uns getrennt hat, ist stärker, als wir dachten.«
»Nein, nein. Ich werde Niari umstimmen …«
»Glaub das nicht. Du könntest ihn töten, aber du wirst nichts bei ihm erreichen.«
Einen Augenblick standen beide schweigend auf der winzigen Plattform inmitten des riesigen Ozeans. Dann sagte Lotia: »Verdient seine Entscheidung, die uns so unglücklich macht, nicht auch unseren Respekt? Er opfert uns seiner ägyptischen Heimat, einer Heimat, die er frei sehen will. Ich verfluche und verehre ihn gleichermaßen. Nur unter Hadors Namen kann man alle Patrioten einen. Wird dieser Name vor dem Heer der Aufständischen nicht mehr verehrt, beginnen die inneren Zwistigkeiten, und das wäre schon der Anfang der Niederlage. Er hat recht. Er bricht mir das Herz, aber rettet meine Ehre.«
Bestürzt hatte der Franzose ihre Hände ergriffen.
»Lotia, meine Liebe, komm zu dir, sag nicht so etwas Entsetzliches.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du siehst ja, daß ich verzweifelt bin, aber ich war wahnsinnig; ich hatte von einem friedlichen Glück geträumt, ohne daß uns Verantwortung auf den Schultern lastet. Jetzt ist mir die Wahrheit offenbar geworden. Was schert mich mein Leben, was meine Liebe, wenn es auf Kosten anderer errungen ist. Der Freiheit ordnet sich alles unter.«
Der Franzose stand wie vom Donner gerührt.
»O Robert, ich bitte dich, versteh mich doch.«
Der Franzose machte eine ärgerliche Handbewegung.
»Ach Lotia, du liebst mich nicht so, wie ich dich liebe.«
»Unsinn.«
»Ach!«
Sie schmiegte sich in seine Arme und legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Sag so etwas bitte nicht noch einmal. Ich opfere mein Leben für die Freiheit. Aber du …, wenn du schon verdammt sein sollst, Thanis zu sein, dann bleib es! Sei der siegreiche Thanis, der Befreier eines Volkes, der Schrecken der feindlichen Eroberer. Sei vor allem der Triumphator, dem meine Hand gehört. Sag, Robert, willst du?«
Vor dem eindringlichen Blick Lotias schlug er die Augen nieder.
»Sag«, wiederholte sie, »willst du?«
Langsam formte er mit zitternder Stimme ein »Nein«.
Sie schrie entsetzt auf.
»Wenn ich frei, wenn ich Robert Lavarède wäre«, so sagte er laut, »so würde ich mit Freuden alle Gefahren für dich auf mich nehmen. Aber ein namenloser Mann, dem man seine Heimat gestohlen hat, den man zwingt, einen falschen Namen zu tragen, würde das nie können. Gehorchen hieße in dem Falle sich verleugnen, und sich verleugnen ist der Verlust dessen, was du eben wolltest: Es ist der Verlust der Freiheit!«
Lotia rang die Hände und murmelte enttäuscht: »Du hast recht, du hast recht … Ich bitte dich um deine Freiheit. Oh, wir sind verloren, verloren …«
Mit gesenktem Kopf verließ er das Deck. Sie folgte ihm. Beide stiegen sie ins Schiffsinnere hinab. Jeder zog sich in seine Kabine zurück. Sie wollten allein sein.
Sie hatten sich nach langen Prüfungen gefunden und waren nun weiter voneinander entfernt als je zuvor.
Als Armand seinen Cousin nach dem Grund seiner Niedergeschlagenheit fragte, empfand er heftigen Zorn, als er erfuhr, wie sich der fanatische Niari entschieden hatte. Das war doch zum …! Da hatte man nun alle Schwierigkeiten mehr oder weniger unbeschadet bewältigt, da schien Lotias und Roberts Glück nur mehr eine Frage von Tagen zu sein – und nun stellte sich diesem Glück ein neues, viel ernsteres Hindernis in den Weg.
Niari wurde gerufen, aber umsonst bat Aurett, umsonst drohte der Journalist, der ehemalige Diener von Thanis blieb bei seinem Entschluß. Auf alles, was man ihm vorhielt, antwortete er stets: »Ich muß die, die ich verehre, enttäuschen, ich weiß. Aber über ihrem Glück steht das Glück des Vaterlandes. Wenn sie leidet, leide ich ebenso. Dieses Opfer ist ein Beispiel, das dazu beitragen wird, Ägypten unabhängig zu machen.«
Schließlich gab man es auf, Niari überzeugen zu wollen.
Man hatte sich im Salon versammelt. Lotia sah bleich aus, ihre Augen waren von Tränen gerötet. Sie litt. Alles an ihr atmete tiefe Trauer. Der Tod ihrer Hoffnung hatte sie schwer getroffen. Auf die Fragen ihrer Freunde antwortete sie einsilbig.
Maudlin machte dieser Anblick traurig, sie versuchte, Hadors Tochter zu zerstreuen; diese hörte ihr auch geduldig zu, man fühlte allerdings, daß sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.
Vergeblich hatte man die Bullaugen nicht abgeschirmt, vergeblich mühten sich Maudlin und ihre Mutter, die Aufmerksamkeit Lotias auf die Unterwasserwelt zu lenken, auf die vielen Schwärme exotischer Fische, die sich im Scheinwerferstrahl des U‑Bootes tummelten, oder auf irgendein seltenes, den Menschen bis dato unbekanntes Seeungeheuer. Nichts schien die schöne Ägypterin zu interessieren …
Die Tage vergingen, ohne daß einmal ein Lächeln auf ihren Lippen erschien. Ihre wächserne Blässe nahm zu. Was gingen sie die Korallenriffe von Torres an, was die rätselhaften Algen in der Bandasee, was die vielfarbige Unterwasserwelt zwischen den Timorinsein, Neuguinea und Celebes, was die Unterwasservulkane in der Javasee. Man hatte die Meerenge von Karimata passiert und schickte sich an, ins Chinesische Meer einzudringen, ohne daß die Bemühungen der Passagiere, das junge Mädchen aus seiner Lethargie zu reißen, Erfolg gehabt hätten.
Eines Abends, als sich Lotia nach dem Essen in ihre Kabine zurückgezogen hatte, sagte Mrs. Allsmine zu ihrer Tochter: »In diesem schwimmenden Gefängnis ist es unmöglich, etwas gegen ihre Traurigkeit zu unternehmen. Ja, wenn wir festen Boden unter den Füßen hätten, dann könnten wir sie überreden auszugehen, etwas zu unternehmen. Die Landschaft und das Auf und Ab von Menschen würden sie anregen und sicher dazu beitragen, ihren Schmerz zu lindern.«
»Du hast recht, Mutter«, erwiderte Maudlin, »wir müssen dafür sorgen, daß sie einmal rauskommt.«
Die anderen Passagiere betrachteten sie erstaunt.
»Ja«, sagte Maudlin. »Ihr denkt, wir sitzen hier fest. Mitnichten. Wir werden einmal in den unterseeischen Wäldern auf die Jagd gehen.«
»Wie wollen wir das denn anstellen?« fragte Armand.
»Ihr wißt, daß wir an Bord Taucheranzüge haben, die mit sich kreuzenden Stahlbändern durchwirkt sind. Dieses Stahlgeflecht hat eine fast unbegrenzte Widerstandskraft und erlaubt uns, in Tiefen hinabzutauchen, in denen der Wasserdruck so gewaltig ist, daß er ohne diese Taucheranzüge jeden Menschen töten würde.«
Sie lächelte und wandte sich an Aurett.
»Erlaubt, daß ich einige Zahlen nenne, nicht aus Pedanterie, glaubt mir …, aber wenn ich darüber nicht Bescheid wüßte, wäre aus mir nie ein Teil von Korsar Triplex geworden. Ich seh deinem Gesicht an, daß der Gedanke, unter Wasser herumzuspazieren, dich ängstigt, Aurett. Aber ich kann dich beruhigen. Denn der atmosphärische Druck in Bodenhöhe, so wie ihn Torricelli bestimmt hat, entspricht dem Druck einer Wassersäule von etwa zehn Metern, exakt zehn Meter und vierzig Zentimeter, das heißt von hundertdrei Kilogramm und sechsunddreißig Gramm auf einen Quadratdezimeter Oberfläche, also zehntausenddreihundertsechsunddreißig Kilogramm auf einen Quadratmeter. So gerechnet, verstärkt sich dieser Druck mal zwei, mal zehn, mal hundert, wenn wir in eine entsprechende Wassertiefe tauchen. Mit einem Wort, wenn wir eine Tiefe von tausend Metern erreichen, sind wir einem Druck von einer Million dreiunddreißigtausendsechshundert Kilogramm ausgesetzt, das genügt, um uns so platt wie ein Blatt Papier zu drücken. Nun, unsere Taucheranzüge sind derart konstruiert, daß wir mühelos Tiefen von dreitausend Metern erreichen können. Wenn ich euch fürs erste einen Ausflug in dreißig oder vierzig Meter Tiefe vorschlage, so bedeutet das für uns keinerlei Risiko.«
»Aber die schrecklichen Fische, die Haie …«, gab Lady Joan zu bedenken, der ob der Ruhe ihrer Tochter etwas unbehaglich war.
Maudlin wandte sich zu ihr um.
»Haie? Oh, Mutter, eine Begegnung wäre eher für sie gefährlich, du wirst sehen.«
Dann wandte sie sich wieder an die anderen.
»Einverstanden? Wer will eine hübsche kleine Landpartie unternehmen? Im übrigen wird uns bei unserem ersten Unterwasserlandgang das U‑Boot wie ein treuer Hund folgen. Also, wer ist dabei?«
Aurett antwortete als erste: »Ich hätte große Lust.«
»Ich auch«, erklärte Armand.
Das war das Signal für Joan und Robert, ebenfalls zuzustimmen. Auch Lotia willigte nach einer gewissen Zeit des Zuredens ein mitzukommen.
»Nur«, bemerkte Aurett, »wir werden unter Wasser so stumm wie die Fische sein müssen.«
»Irrtum«, sagte Maudlin fröhlich, »natürlich können wir miteinander schnattern.«
»Wie das?«
»Eine simple Telefonvorrichtung.«
»Sie scherzen, Miß Green«, sagte Armand.
»Meinen Sie. Kommen Sie mit, ich werde Ihnen die Apparate zeigen.«
Sie wandte sich zur Tür, die anderen folgten ihr. Über eine Treppe gelangten sie in den Kiel von Nummer zwei. Dort erkannten sie im Schein des elektrischen Lichts einen langgestreckten Raum, dessen gewölbter Fußboden verriet, daß sie auf dem unteren Deck des U‑Bootes standen. Dort waren fein säuberlich die Taucheranzüge an der Wand aufgereiht. Sie wirkten wie Schaufensterpuppen, allerdings wie sehr exotische, denn die Kautschukanzüge mit den Metallkreuzen, den gläsernen Sehschlitzen in der für den Kopf gedachten Haube machten sie Wesen einer unbekannten Art viel ähnlicher.
»Der Wachsaal eines unterseeischen Kastells«, bemerkte der Pariser.
»Das trifft es«, sagte Maudlin. »Aber diese Rüstungen, bestes neunzehntes Jahrhundert, sind unendlich bequemer als die mittelalterlichen.«
Während sie das sagte, »köpfte« sie einen Anzug.
»Schauen Sie. Im vorderen Teil der Kugelhaube befindet sich in Höhe der Lippen ein vibrierendes Plättchen, das haargenau dem in gewöhnlichen Telefonen verwendeten entspricht. In Höhe der Ohren befindet sich eine Membran und auf dem Rücken, außerhalb der Metallkugel, eine Antenne. Wenn Sie mit einem Gefährten sprechen wollen, müssen Sie den Kontakt herunterdrücken, der sich in einer Batterie vor Ihrer Brust befindet, und über die Antenne wird die Verbindung hergestellt.«
Ein beifälliges Murmeln folgte der Erklärung dieser einfachen wie beispiellosen Erfindung.
»Warten Sie, ich bin noch nicht am Ende«, sagte Maudlin. »Sir James ist ein wirklich verdienstvoller Erfinder, er hat aus den Taucheranzügen wissenschaftliche Schmuckstücke gemacht.« Und stolz fuhr sie fort: »Atmen, darin besteht die Hauptaufgabe, die der Taucheranzug erfüllen muß. Gewöhnlich ist man mit der Erde durch Gummischläuche verbunden, die durch die Metallkapsel in Kopfhöhe eingelassen sind. Durch einen Schlauch erhält man frische Luft, die verbrauchte wird durch eine an der Erdoberfläche befestigte Pumpe abgesaugt. Der Taucher war in seiner Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt und ständig auf die Versorgung von Land angewiesen.«
»Olala«, unterbrach sie der Journalist. »Gestatten Sie mir, Ihnen meinen Glückwunsch auszusprechen. Sie reden von diesen Dingen wie ein richtiger Gelehrter.«
»Sir James hat mir das alles beigebracht«, sagte die junge Dame, während eine leichte Röte ihre Wangen überzog. »Ihm gebührt Ihr Dank.«
Doch schnell ging sie wieder zu ihrem Vortrag über.
»Ich fahre fort. Später ersetzte man die Pumpe mit Behältern, die komprimierte Luft enthielten und die die Taucher auf dem Rücken trugen. Ein Schlauch verband den Behälter mit ihrem Mund. So gewann der Taucher zwar mehr Bewegungsfreiheit, aber es war immer noch mühsam und ermüdend, Luft zu holen. Sir James hat das geändert. Ein auf dem Rücken befestigter Behälter enthält Luft für zwölf Stunden. Sauerstoff gelangt dabei direkt in die Kugelhaube, er wird durch einen Hahn dosiert, der am Austritt angebracht ist. Man atmet also genauso wie an der frischen Luft, ohne sich weiter darum zu kümmern. Die verbrauchte Luft ist mit Kohlensäure angereichert und sinkt. Nun, im Inneren des Anzuges sind ab Brusthöhe bis zu den Beinen Behälter angebracht, die kaum zu erkennende kleine Löcher haben und mit Ätzstein gefüllt sind. Die Löcher sind zu klein, als daß sie Flüssigkeit eindringen ließen, aber Gas lassen sie ohne weiteres hindurch. Nun, Sie wissen vielleicht aus der Chemie, daß Pottasche bereitwillig Kohlensäure aufnimmt. Unaufhörlich bildet sich so Pottaschenkarbonat, dadurch wird die Atemluft gereinigt, und der Anzug ist eine ideale Atemkammer.«
»Bravo, bravo«, murmelten ihre Zuhörer.
Doch Maudlin gebot ihnen mit einer Handbewegung Schweigen.
»Einen Augenblick noch. Ihr versteht, daß man in der unterirdischen Prärie hundertmal besser umherspazieren kann als auf der Erde. An frischer Luft fehlt es auch nicht. Es gibt aber noch etwas. Man muß in der Lage sein, sich gegen Haie und andere fleischfressende Tiere, von denen meine Mutter vorhin gesprochen hat, zu verteidigen.«
Lavarède konnte sich nicht zurückhalten.
»Hat Sir James etwa auch dieses Problem gelöst?«
»Perfekt.«
»Womit? Ich brenne vor Neugier.«
»Durch ein ganz einfaches Mittel.«
»Das bezweifle ich auch nicht, aber welches?«
»Hier. Unter dem Sauerstoffbehälter befindet sich ein sehr wirksamer Elektroakkumulator, der fähig ist, etwa fünfhundert Funken von einer Länge von ein Meter fünfzig zu erzeugen, das heißt den robustesten Tieren einen elektrischen Schlag zu versetzen. Ein Kabel verbindet ihn mit einer hohlen, fünfundneunzig Zentimeter langen Klinge, die der Taucher wie einen Degen an der Seite trägt. Falls sich ein Hai, ein Rochen, eine Muräne nähert, nimmt man die Waffe in die Hand, drückt auf drei Knöpfe an der Klinge, die den Kontakt herstellen, und richtet die elektrische Entladung auf den Gegner, ohne sich selbst einer Gefahr aussetzen zu müssen. Jetzt«, schloß die liebenswürdige Erklärerin, »kennt ihr euer Reisekostüm genausogut wie ich. Hat noch jemand eine Frage?«
»Ja«, sagte Aurett, die schon einige Zeit prüfend über einen der Taucheranzüge gestrichen hatte. »Das alles muß doch entsetzlich schwer sein.«
»So schwer«, antwortete Maudlin, »daß du, würdest du es hier anlegen, keine Bewegung mehr machen könntest; aber einmal im Wasser, verliert der Anzug an Gewicht. Dieser Verlust ist gleich dem Volumen an verdrängtem Wasser …, entsprechend dem Archimedesschen Prinzip«, fügte sie mit einem Seitenblick zu Armand hinzu, »wirst du in der Lage sein, dich mit der größten Leichtigkeit bewegen zu können.«
»Also, wann geht es los?« fragte Aurett.
»Heute noch«, versprach Robert. »Wir werden euch die Perlenbänke vor den Anambasinseln zeigen. Unser Ausflug hat also ein Ziel.«
»Kann man denn Perlen sammeln?«
»Wenn ihr wollt, meine Damen, gern. Es gibt dort wirklich unerschöpfliche Perlenbänke. Diese Perle hat zwar weniger Wert als ihre weiße Verwandte von Ceylon, aber mit ihrer azurblauen Nuance ist sie für Liebhaber von raffiniertem Reiz.«
»Blaue Perlen …«, sagte Aurett mit einem glockenhellen Lachen. »Wir werden damit unsere Taucheranzüge schmücken.«
»Wie du willst. Aber jetzt erst einmal zu Tisch, damit wir genügend Kräfte für unterwegs haben.«
Wie ein Hühnerschwarm bewegten sich unsere Freunde in Richtung Speisesaal. Freude blitzte in allen Augen, sogar Lotia schien ein wenig angeregt, obwohl ihr sanftes Gesicht nichts von seiner Melancholie verloren hatte. Robert schaute sie traurig an. Dachte er an seinen eigenen Schmerz, so ahnte er, was sie leiden mußte. Der Besuch einer Perlenbank würde nur eine vorübergehende Zerstreuung für sie sein.
Dennoch wurde die Mahlzeit mit einer Hast eingenommen, die genug über die Neugier der Passagiere aussagte. Wie die anderen, so schlugen auch Robert und Lotia den Weg zu dem Raum ein, in dem die Taucheranzüge hingen. Jeder wählte sich einen aus. Mehrere Matrosen eilten herbei und luden sich die Atemgeräte auf die Schultern. Dann begaben sie sich in den Raum, der neben dem Kiel lag.
»Wo sind wir denn jetzt?« fragte Armand, als er den Raum betrat, der nunmehr nur noch von den elektrischen Handlampen der Matrosen erleuchtet wurde.
»In einer der Wasserschleusen«, erklärte Maudlin. »Wenn Sie Ihre Kugelhaube aufgesetzt haben, öffnet man die Verbindungshähne zum Meer, und wenn genug Wasser in der Schleusenkammer ist, haben Sie genug Bewegungsfreiheit, um von selbst ins Meer zu schwimmen. Eine Klappe öffnet sich dann unter Ihnen, während über Ihnen eine andere Klappe zuschnappt, und. Sie sind draußen. Aber verlieren wir keine Zeit.«
Die Passagiere kletterten in ihre Ausrüstungen.
»Das ist ja wunderbar«, sagte der Journalist, dessen Körper, Beine und Arme schon in dem Anzug steckten, »ich bin unfähig, die geringste Bewegung zu machen, und in diesen Schuhen kann ich keinen Schritt tun.«
»Bleischuhe«, erwiderte Maudlin lachend.
»Oh, ich bin mir ein einziger Ballast, verstehe, aber«, fügte er hinzu, wobei er den Matrosen, der ihm den Taucherhelm aufsetzen wollte, zurückhielt, »bevor man mir meinen Helm überstülpt, möchte ich doch noch etwas wissen.«
»Reden Sie.«
»Ich verstehe sehr gut, daß Wasser in die Kammer gelangen kann, der Druck von außen hilft dabei, doch wie entweicht es wieder? Wenn zum Beispiel sich das Schiff in dreihundert Meter Tiefe befindet, müssen Sie gegen einen Druck von dreihundert Atmosphären ankämpfen. Ich weiß nicht, ob es derartig leistungsstarke Pumpen gibt, um einen solchen Widerstand zu brechen.«
»Wir haben auch keine Pumpen«, erwiderte Maudlin.
»Sondern?«
»Wir verwenden eine hydraulische Presse.«
»Und wenn die kaputtgeht …, eine Havarie …, das U‑Boot würde auf den Meeresgrund sinken.«
»Nein, Sie können beruhigt sein. Wir haben ein Sicherheitsgewicht. Das ist ein Kiel aus Gußeisen, der sich bewegen läßt und am festen Kiel des Schiffes verankert ist. Im Fall einer Havarie genügt es, die Greifer, die ihn festhalten, zu lösen. Er würde sinken, und das Resultat davon wäre, daß unser Schiff an die Wasseroberfläche steigt.«
Diesmal hatte der Journalist keine weiteren Fragen, und mit Hilfe des Matrosen ließ er sich die Metallkapsel, die seinen Kopf bedecken würde, auf den Schultern festschrauben.
Die Luftzufuhr funktionierte sofort. Er bemerkte zufrieden, daß er mühelos atmen konnte. Und so blickte er durch die Glasschlitze, die rings um seine Kugelhaube eingelassen waren. Er sah, wie die Matrosen die Schleusenkammer verließen und sich die Tür hinter ihnen schloß. Er kicherte vor sich hin. Denn ihm gegenüber standen Joan, Aurett, Maudlin und Lotia in gleichen Taucheranzügen. Sie hatten das schwerfällige Aussehen grotesker Krieger. Gewiß hätte niemand in ihnen die eleganten Damen wiedererkannt, die sie vor Betreten der Schleuse noch gewesen waren.
Der Eindruck von Kühle, den er an seinen Füßen spürte, riß ihn aus seinen Betrachtungen. Er blickte nach unten. Der Boden war unter Wasser, und dieses Wasser stieg von Minute zu Minute höher. Er begriff, daß man die Zuleitungshähne geöffnet hatte und die Schleuse mit Wasser füllte. Es war für ihn ein seltsames Gefühl, das Gefühl eines Landbewohners, der nun zu einem amphibischen Wesen wurde, das am Grunde des Meeres lebte, ein Gefühl, das er sich nie zu träumen gewagt hatte. Er dachte daran, daß ihn das Wasser bald bedecken würde, wie es auch die anderen bedeckte, die sich nur dank eines außergewöhnlichen Zwischenfalls hier befanden. Und er dachte auch daran, daß sie nun bald dem Schutz ihrer Taucheranzüge auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Das bereitete ihm doch einiges Herzklopfen. Aber dieser Schwächeanfall dauerte nicht einmal eine Sekunde. Schnell siegte wieder die Neugier, und er machte sich erneut daran, genau zu beobachten.
Jetzt reichte ihm das Wasser schon bis zum Gürtel. Und es stieg und stieg … Allein der Kopf war noch über dem Wasserpegel, aber da umspülte das Wasser schon die Lippen, die Nase, die Augen, bis sein Metallhelm völlig unter Wasser stand. Er fühlte sich mit einemmal federleicht. Der Taucheranzug hatte aufgehört, auf ihm zu lasten. Und wie ein Mensch, der lange zur Unbeweglichkeit verurteilt ist, bewegte er Arme und Beine mit wachsender Genugtuung. Es ging alles wunderbar leicht.
Plötzlich vernahm er eine Stimme an seinem Ohr: »Nun, Cousin, geht es jetzt besser?«
Er zuckte instinktiv zusammen. Wer redete da mit ihm? Doch da entsann er sich der im Helm angebrachten Telefonverbindung, die von der Batterie gespeist wurde, die unter dem Elektroakkumulator angebracht war.
Es war Robert, der da mit ihm sprach. Schnell näherte er seine Lippen dem beweglichen Plättchen und sagte: »Viel besser. Es ist nur finster wie in einem Tunnel.«
»Warte, es wird bald heller. Ich unterbreche jetzt, weil wir ins Meer tauchen.«
Einen Augenblick herrschte Stille, dann glitt langsam ein Teil der Wand auseinander und gab eine rechtwinklige Öffnung frei, durch die Licht fiel. Zweifellos war das die Sonne, die jedoch durch das Meerwasser gebrochen wurde.
Schon war Maudlin nach draußen geglitten. Sie hielt das Ende einer Leine in der Hand, an deren anderem Ende Joan, Aurett und Lotia folgten. Armand dachte, daß dies eine weitere Vorsichtsmaßnahme sei, um sich nicht zu verlieren, und er griff danach. Hinter ihm schloß sich die Tür wieder.
Sie empfanden ein merkwürdiges Gefühl, als sie aus dem Umkreis des Unterseebootes herausgekommen waren. In dreißig Meter Tiefe herrschte noch genug Sonnenlicht, daß sie ihre Umgebung, wenn auch etwas dunstig, so doch relativ deutlich erkennen konnten. Im Umkreis von hundert Metern sahen sie beinahe genausogut wie auf der Oberfläche der Erde. Sie schritten über Sandboden, in dem ihre Fußabdrücke eine leichte Spur hinterließen. Muscheln, winzige Lebewesen wuselten zu ihren Füßen, und manchmal, wenn sie auf Algen traten, die mit ihren Wurzeln im Gestein saßen, flüchteten Schwärme von kleinen Fischen pfeilschnell davon.
Als Armand den Kopf wandte, sah er, daß das U‑Boot sich ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte. Es hatte seine Geschwindigkeit der seiner Passagiere angepaßt und schwebte nun wie ein riesiger Wal über ihnen. Und der Pariser, der sich recht schnell in die neue Lage als Meeresforscher versetzt hatte, machte seinem Cousin über Telefon klar, daß er sich wie Jonas fühle, der seinen gezähmten Wal hinter sich herzöge. Wie man sieht, war er ganz der alte Witzbold.
Bald änderte sich das Geläuf. Statt des Sandbodens liefen sie nun auf Steinen, die mit Seegras bewachsen waren, das in allen Farbtönen prangte – von klarem Gelb bis zu rotem Braun und einer unerschöpflichen Zahl von Grün. Sie entdeckten Austern, erst vereinzelt, dann in immer größerer Zahl.
Robert telefonierte mit seinem Cousin.
»Wir sind im Fanggebiet. Die ›Perlensaison‹ hat noch nicht begonnen, also werden wir keine Mühe haben.«
Und wie aus innerer Genugtuung heraus, Armand dieses »neue« Gebiet vorstellen zu können, erzählte er ihm, der es zweifellos genausogut wußte, wie man nach Perlen taucht.
»Ein bestimmtes Gebiet wird von einem Unternehmer gekauft, der die Tauchermannschaft zusammenstellt. Letztere lassen sich an einer Leine, die auf der einen Seite am Schiff befestigt, am anderen Ende mit einem großen Stein beschwert ist, auf den Meeresboden hinab. Dort sammeln sie so viele Muscheln ein, wie sie nur können, stecken sie in einen Beutel, den sie um die Hüften tragen, und steigen wieder nach oben. Sie erholen sich einige Minuten, dann geht es erneut los.«
Entzückt, reden zu können, ohne unterbrochen zu werden, denn Lavarède, Armand, hörte seinem Cousin nur mit halbem Ohr zu, fuhr Robert fort. Er erzählte, daß man die eingesammelten Austern ans Ufer werfe, wo sie verdürben, denn man sei ja nur hinter Perlen her. Er erzählte, daß man vor Ceylon die weißesten, auf den Anambasinseln die blauesten und im Norden der Philippinen die schönsten rosafarbenen finde. Er erging sich dann in den originellsten Betrachtungen über die Perle im allgemeinen, sang ein Lied auf die Miesmuschel, in der man schwarze Perlen finde, und kam schließlich auf die chinesische Süßwassermuschel zu sprechen, die perlmuttfarbene Perlen hervorbringt und mit der die Kinder des Reichs der Mitte in geradezu arbeitsteiliger Weise kooperieren.
»Ja, Cousin«, sagte er. »Diese Muscheltiere werden verpachtet. Die Besitzer von Austernparks schneiden kleine Zinnblättchen in Form von Blumen, realen oder symbolischen Tieren zu und zwängen sie ins Muschelinnere. Die armen Tiere, deren Fleisch so zart ist, werden von diesen Fremdkörpern verletzt, und um ihrem Schmerz ein Ende zu machen, bedecken sie sie mit Perlmutt, runden ihre Ecken ab, schleifen ihre Oberfläche. In sechs Monaten haben sie so Blume oder Tier bearbeitet. Das ist der Ursprung der hübschen chinesischen Perlmuttarbeiten, die wir so sehr bewundern, ohne zu wissen, daß sie das bescheidene Werk von Muscheln der Art Unio dipsas plicatur sind.«
»Apropos«, unterbrach ihn der Journalist, »weißt du, wie die Perlen entsprechend ihrem Wert und ihrer Schönheit auf dem Markt heißen?«
»Mein Gott, nein.«
»Nun, dann verleibe das in dein wissenschaftliches Repertoire ein. Es gibt zehn Arten. Ich beginne mit den wertvollsten: die Anie, die Anathorie, die Masengoe, die Kalippo, die Korawell, die Pescal, die Odwoe, die Mandangoe, die Kural und die Thool. So was, mein Lieber, lernt man eben nur in Paris. Und nun laß mich die Gegend bewundern.«
Sicher war die Bemerkung des Journalisten nur zu gerechtfertigt, denn sie waren in einen Graben eingedrungen, zu dessen Seiten sanfte Abhänge anstiegen. Algen bedeckten den Boden, Tang wuchs auf dem Gestein, und wahre Austernkolonien zogen sich entlang ihres Weges hin. Plötzlich blieb Maudlin, die vorausging, stehen. Die anderen umstanden sie. Zu ihren Füßen gähnte ein rundes Loch.
Telefonisch setzte sie sich mit den anderen in Verbindung.
»Dieses Loch führt in eine Zone, die von den Perlentauchern sicher noch nie erkundet wurde. Wenn ihr einverstanden seid, versuchen wir, in das Gebiet vorzudringen. Es müßte dort Perlengründe geben, die noch nie jemand abgesucht hat. Das heißt, wir finden vielleicht außergewöhnlich große Perlen.«
Und da alle zustimmten, begann der Abstieg. Es dauerte länger als eine Stunde, bis sie den Grund erreicht hatten. Das Licht war allmählich schwächer geworden und einem Zwielicht gewichen. Dennoch gewöhnten sie sich bald an diese Dämmerung und konnten die Gegenstände, die sie umgaben, erkennen.
Maudlin hatte sich nicht geirrt. Riesige Austern klebten an dem felsigen Gestein; viele Muscheln maßen dreißig Zentimeter im Durchmesser, und das Aufsammeln begann. Die Perlmuttmuscheln, die gewöhnt waren, in dieser Tiefe unbehelligt zu leben, waren ohne Mißtrauen. Die meisten von ihnen waren geöffnet und schwangen ihre seidigen Häutchen hin und her, um die kleinen Lebewesen, von denen sie sich ernährten, vom Wasser zu trennen. Nichts war also einfacher, als sich ihre Perlen zu nehmen. Steine, die man zwischen die Schalen schob, hinderten sie daran, zuzuschnappen, und erlaubten den neugierigen Händen zu erkunden, ob die Muschel eine Perle enthielt. Und wenn die Erkundung beendet war und man den Stein entfernte, schloß sich die Muschel mit einer Behendigkeit, die genug darüber aussagte, wie sehr sie die Verletzung ihres Domizils beeindruckt haben mußte.
Die jungen Damen sammelten insgesamt etwa dreihundert Perlen, von denen viele die Größe einer Haselnuß hatten. Das war ein wahrhaftiges Vermögen. Und um es zu erhalten, war nichts weiter vonnöten gewesen, als sich zu bücken, wie der Volksmund sagt.
Frohgelaunt traten die sechs den Rückweg an und kletterten aus dem Graben heraus. Maudlin fragte sie, ob sie ihren Spaziergang fortsetzen wollten. Keiner hatte Lust, zum Schiff zurückzukehren. Und tatsächlich fühlten sie sich alles andere als müde und bewegten sich im Wasser mit unglaublicher Leichtigkeit.
Und so setzten sie ihren Weg fort.
Einige Zeit marschierten sie, ohne daß sie auf ein Hindernis getroffen wären. Aber plötzlich blieben sie überrascht stehen. Der Umriß eines Schiffes, das auf der Wasseroberfläche schwamm, zeichnete sich deutlich wie auf einem Schirm ab, und ein Gegenstand, über dessen Natur sie sich im unklaren waren und der am unteren Ende einer Kette hing, streifte sie beinahe.
Und als sie eine Weile geschaut hatten, entdeckten sie zwei, drei, vier, acht, zehn ähnliche Schatten.
Sofort schalteten Maudlin und Robert die Telefonverbindung zu ihren Gefährten ein.
»Ihr wißt sicher«, sagte Robert, »daß die Flossen und der Schwanz des Haies in China und Indochina ein Leckerbissen für Feinschmecker sind. Die getrockneten Flossen werden zu Suppen gebraucht. Der Verzehr ist beträchtlich. Deshalb sind überall im Chinesischen Meer und im Indischen Ozean Fischer damit beschäftigt, den Hai zu angeln und zu jagen. Was ihr hier seht, ist eine dieser Flotten. Die Schiffe haben an ihrer Ankerkette einen vierzahnigen Angelhaken, an dem ein Köder hängt. Bald werden sich die ersten Haie zeigen. Bleiben wir dicht beisammen, damit wir jeden Zwischenfall ausschalten. Maudlin und ich verstehen uns auf die Handhabung unseres elektrischen Degens, wir werden aufpassen, daß uns kein Raubfisch zu nahe kommt.«
Diese Worte verursachten bei den anderen nicht gerade Vergnügen. Das war verständlich, denn jeder Bewohner unserer gemäßigten Klimazone würde fühlen, wie sich sein Herz zusammenzieht, wenn man ihn in den asiatischen Dschungel verfrachtete und er dort einem Tiger gegenüberstünde. Nun, die Begegnung mit dem Tiger der Meere, dem schrecklichen Hai, ist gewiß noch furchtbarer, wenn man hundert Fuß Wasser über sich hat.
Und so beeilte sich jeder, sich an seinen Nachbarn zu drängen und eine kompakte Gruppe zu bilden, die Joans Tochter und Robert beschützen könnte, die elektrische Klinge in der Hand.
Einige Sekunden verstrichen, dann tauchten aus dem Dunkel phosphoreszierende, funkelnde Lichter auf.
»Die Augen der Räuber«, murmelte Maudlin.
Die Augen der Haie leuchten wie die von Katzen.
Und dann zeigten sich die schwarzen, länglichen Körper. Plötzlich wand sich einer von ihnen in wilden Zuckungen und peitschte das Wasser mit seinem kräftigen Schwanz. Das Tier hatte den Köder und mit ihm den eisernen Widerhaken verschlungen. Der scharfe Haken zerriß ihm die Eingeweide. Um das Ungeheuer färbte sich das Wasser rötlich, und langsam wurde das Tier an der Leine nach oben gezogen. Jedes Gefühl bei den Zuschauern dieses Schauspiels war erloschen. Ihnen saß die Angst in den Gliedern.
Die Raubfische hatten sie gewittert. Zweifellos waren sie von der Anwesenheit jener ungewöhnlichen Erscheinungen beunruhigt. Sie umkreisten die Menschen, näherten sich und zogen sich wieder zurück. Ihre funkelnden Augen faszinierten die Gruppe.
Schließlich kam eins der Ungeheuer, entweder hungriger oder kühner als die anderen, bis auf zwei Meter an Maudlin heran. Es war ein riesiges Tier, etwa vier Meter lang, der Kopf hatte die Form eines Hammers. Unsere Freunde hatten ein Exemplar des furchtbarsten, des schrecklichsten Meeresräubers vor sich, den malaiischen Hammerhai.
Unter ihren Metallhelmen stießen sie einen Angstschrei aus, der in den Köpfen der anderen als dumpfes Murmeln widerhallte. Maudlin hatte den Arm mit der elektrischen Degenklinge ausgestreckt. Aus ihr schoß eine leuchtende Flamme; ein Knistern drang an die Ohren der übrigen Taucher. Der Hai wand sich, der Schwanz zuckte bis zum Maul, dann streckte er sich plötzlich und drehte sich um sich selbst. Mit dem Bauch nach oben stieg er langsam an die Oberfläche. Auf der Haut zeigte ein dunkler Fleck an, wo er tödlich getroffen worden war.
Maudlin drückte die Sprechverbindung ihres Telefons herab und murmelte: »Wie du siehst, Mutter, kann uns ein Hai keinen Schreck einjagen.« Und mit einem Ton, der verriet, daß sie der Vorfall doch erschreckt hatte, sagte sie, an alle gewandt: »Ich denke, daß unser Ausflug lange genug gedauert hat. Kehren wir lieber zum Schiff zurück.«
Einige Dutzend Meter von ihnen entfernt zeichnete sich der dunkle Umriß des Unterseebootes ab. Mit verständlicher Eile kamen die anderen Maudlins Vorschlag nach.
Zehn Minuten später stiegen sie durch die Luke in die Schleusenkammer. Und als das Wasser aus der Kammer herausgepreßt war, halfen ihnen die Matrosen, wieder aus den Taucheranzügen zu steigen. Sie zogen ihre Sachen an, gingen dann in den Salon und setzten sich schweigend.
Niemand hatte Lust zu sprechen. Jeder war in Gedanken noch bei dem eben beendeten Ausflug und fragte sich, ob er nicht geträumt habe. Als jedoch Joans Tochter die reiche Ausbeute an Perlen ausschüttete, waren ihre Mutter und Aurett voller Entzücken dabei, sie zu sortieren.
Allein Lotia saß gleichgültig mit geschlossenen Augen und bleichem Gesicht in einem Sessel. Sie wirkte erschöpft. Für sie war der Ausflug keine Zerstreuung gewesen, und ihr Herz war noch genauso traurig wie zuvor. Was sollte sie mit Perlen? Was gingen sie die Haie an? Was die bizarren Korallenriffe der unterseeischen Gräben? Umsonst versuchten Aurett und Joan unter Maudlins sachkundiger Leitung aus den schönsten Perlen ein Kollier zusammenzustellen, um damit vielleicht ihre weibliche Eitelkeit anzuregen; Lotia schien ihrem Tun keine Aufmerksamkeit schenken zu wollen. Sie interessierte sich nicht einmal mehr für ihre eigene Schönheit, als ob man ihr verwehrt hätte, sich je wieder schmücken zu dürfen.
An den folgenden Tagen fuhr man über Wasser bis zum Golf von Siam. Auf die Fragen seines Cousins antwortete Robert stets: »Ich führe den Befehl von James Pack aus. Spätestens in fünf Tagen werden wir den Strand von Poulo-Tantalam erreicht haben. Von dort stechen wir Richtung Borneo in See, denn unser Freund will uns in der Gaya-Bucht erwarten.«
Schließlich war der Tag gekommen, an dem er den Befehl ausführen konnte, den man ihm aufgetragen hatte. Das Unterseeboot näherte sich der Küste von Malakka.
»Wenn du wissen willst, was mich hergeführt hat, so kannst du mich begleiten«, sagte Robert zu seinem Cousin.
»Wohin denn?«
»Zu den geheiligten Bädern von Poulo-Tantalam.«
Armand lachte lauthals auf.
»Was, wir haben diese Reise nur gemacht, um in den heiligen Wassern zu baden?«
Ernsthaft erwiderte Robert: »Die Sache ist der Mühe wert. Die heiligen Bäder erstrecken sich entlang eines sandigen Strandes, der überdacht ist. Von dort führen Stufen ins Meer. Die Gläubigen legen neue weiße, noch nie getragene Gewänder an. Sie nehmen auf den obersten Stufen Aufstellung und befolgen die Regeln eines komplizierten Gebetsrituals. Dann steigen sie langsam bis zur untersten Stufe hinab. Vollständig bekleidet tauchen sie bis zu den Schultern ins Wasser.«
»Ich kenne das. Ich habe einmal das heilige Bad im Ganges erlebt.«
»Nun, glaubst du nicht, daß das Auftauchen von Korsar Triplex inmitten einer solchen Zeremonie einigen Aufruhr verursachen wird? Und wenn ich noch hinzufüge, daß sich heute U‑Boot Eins mit der englischen Flotte in Verbindung setzen wird, die sich im Golf von Petchili versammelt hat und darüber hinaus Nummer drei mit dem britischen Stützpunkt auf Hawaii, das gerade von den Amerikanern annektiert wurde, indem sie Spanien den Krieg erklärten, wirst du verstehen, daß der Admiralität das Treffen vor der Goldinsel gar köstlich in den Ohren klingen wird. Die ganze Welt wird fordern, daß man mit Korsar Triplex verhandeln soll.«
»Also, ich soll den Badegläubigen doch nicht etwa als Korsarengott erscheinen?« erklärte Armand lachend.
»Die Sache hat nichts Anrüchiges.«
»I bewahre, schließlich war ich schon mal Buddha.«
»Nein, ernsthaft. Triplex ist ein Mann, dem ich alles verdanke. Wenn er noch nicht an seinem Ziel angelangt ist, so ist das nicht seine Schuld. Ohne den Starrsinn von Niari …«
»Verdamme ihn nicht. Dieser Mann ist ein Patriot. Wir werden schon noch erreichen, was wir vorhaben. Sag mir lieber, wer in Wirklichkeit James Pack ist, denn dieses Geheimnis macht mich krank.«
»Ich kann das Geheimnis leider nicht lüften.«
»Geheimniskrämerei.«
»Nein, Unkenntnis.«
»Was! Du, sein Begleiter, sein Komplize …, du weißt nichts?«
»Ich kenne seinen wahren Namen nicht. Ich würde ihn dir sonst sagen. James Pack ist ein rätselhaftes Wesen, er redet über alles, nur nicht über sich selbst. Nicht einmal Maudlin, sein Schützling, ja fast seine Adoptivtochter, kennt sein Geheimnis.«
Eine unwillige Geste des Journalisten unterbrach ihn.
»Das ist zu stark! Diese Person macht mich wahnsinnig. Ich, ein König des Interviews, muß mich einem unzugänglichen Mann gegenübersehen. Das ist entmutigend.«
Dann schien er sich eines anderen zu erinnern.
»Und was machen wir eigentlich in Poulo-Tantalam?« fragte er.
»Wir hinterlegen eine Visitenkarte.«
»Ach ja, eine auf einen Dolch gespießte Karte …«
»Wenn du so willst.«
»Und nehmen gemeinsam mit den Weißkitteln ein Bad?«
»So ähnlich.«
»Und wenn man dich festnimmt?«
»Unmöglich.«
»Warum?«
»Das wirst du sehen, wenn du mitkommst.«
Armand explodierte.
»Das ist zum Aus-der-Haut-Fahren, dieses Leben. Niemals eine präzise Antwort. Das ist ja ein Geheimnis mit zwei, ja mit drei Unbekannten!«
»Nun, bist du dabei?«
»Muß ich ja, denn das ist die einzige Sache, wo man was erfährt.«
In diesem Augenblick stoppte U‑Boot Nummer zwei. Zu Armands Überraschung führte ihn Robert in die Schleusenkammer.
»Müssen wir jetzt in unser Badekostüm steigen?«
»Ja«, erwiderte Robert lakonisch.
»Warum?«
»Du wirst es sehen.«
Es blieb dem agilen Franzosen nichts weiter übrig, als dem zuzustimmen. Ergeben ließ er sich von einem Matrosen in die Taucherausrüstung helfen, und in wenigen Augenblicken hatte er mit seinem Cousin das Boot in fünfzehn Meter Tiefe verlassen und schritt nun neben Robert auf dem Grund des Meeres einher.
Der Boden war glatt und eben. Feiner, gräulich schimmernder Sand, der wahrscheinlich aus vom Wasser ausgespültem Felsgestein herrührte, bildete einen weichen Teppich. Allmählich stieg der Meeresboden an. Robert blieb stehen, schaltete sein Telefon ein und sagte: »Wir sind jetzt in drei Meter Tiefe. Mit deinem Sehrohr kannst du die Bäder von Tantalam erkennen.«
»Meinem Sehrohr?«
»Ja, es ist das gleiche wie im Schiff. Ab vier Meter Tiefe kann ich dieses Sehrohr ausfahren und sehe damit genauso deutlich, als ob ich mich auf der Erdoberfläche befände.«
Während er sprach, nahm er aus seinem Gürtel ein Rohr, das aus mehreren ineinandergesteckten Stäben bestand. Er zog sie auseinander, richtete dieses Rohr unter Wasser auf und befestigte ein Ende an einer der Sichtscheiben seines Helmes. Nach einigen Sekunden sagte er: »Fein. Die Braunen tummeln sich schon. Unser Besuch wird die Sensation.«
Auch Armand schaute nun durch sein Sehrohr.
Der Strand von Tantalam bot einen äußerst bewegten Anblick. Unter den heiligen Schuppen, auf den Stufen, im Wasser selbst tummelten sich die Gläubigen in weißen Gewändern. Auf dem gelben Sand wirkten die Weißgekleideten wie Schneeflocken. Aber Armand durfte sich nicht allzu lange diesem Anblick hingeben. Robert setzte sich in Bewegung, und der Journalist mußte ihm wohl oder übel folgen.
Sie näherten sich allmählich den Badenden, und je weiter der Wasserspiegel sank, desto höher ragten die Kugelhauben aus dem Wasser.
Zunächst nahm man sie nicht wahr. Doch auf einmal bewiesen die hektischen Bewegungen eines Malaien, daß man sie entdeckt haben mußte. Die Neuigkeit schien sich in Windeseile fortzupflanzen. Die Gläubigen blickten zu den Kugeln, die da auf dem Wasser schwammen. Offensichtlich waren sie sehr erstaunt, um nicht zu sagen verwirrt durch diese Gegenstände, die da auf sie zukamen. Bald machte sich bei ihnen eine Bewegung des Zurückweichens breit. Die am weitesten im Meer stehenden Gläubigen hasteten zum Strand zurück. Die Metallkugeln setzten ihren Weg fort und erreichten die Stelle, wo sich kurz vorher noch die Eingeborenen befunden hatten.
Mit wachsendem Schrecken sahen diese, wie dem Ozean fremde Wesen entstiegen. Ein Schrei stieg zum Himmel: »Buddha, Buddha!«
Für all diese Menschen, in deren Köpfen die wunderbaren Legenden des Buddhismus und Brahmaismus spukten, waren die Meergötter erschienen, um die heiligen Bäder zu segnen. Ein Schreien und Kreischen in allen Stimmlagen schwang in der Luft.
Mühelos gelangten die Taucher bis zu den ersten Stufen. Robert befestigte mit Hilfe des Dolches eine Nachricht des Korsaren Triplex an einer von ihnen. Dann griff er zu seiner elektrischen Klinge, mit der er wie bei jeder Unterwasserexkursion bewaffnet war, und richtete sie zum Himmel.
Ein Knistern entlud sich, ein Blitz zuckte zum Himmel empor. Die Menge fiel auf die Knie und preßte die Nasen in den Sand. Als die Kühnsten nach einer Viertelstunde aufblickten, waren die Götter verschwunden. Als einziges Zeichen ihrer Anwesenheit blieb die Karte auf den hölzernen Stufen zurück.
Am selben Abend wurden die Behörden von Singapur durch ein Kabelgramm von dem seltsamen Vorfall unterrichtet. Und während der Gouverneur seinerseits diesen Vorfall nach London meldete, setzte Nummer zwei seine Fahrt nach Borneo fort.
Im Salon erzählte Armand frohgelaunt von seinem Ausflug und fühlte sich sehr geschmeichelt, als ein Bote Brahmas angesehen worden zu sein.
In der englischen Admiralität war man bestürzt. Wie gehabt, waren drei Depeschen eingegangen, die Triplex’ gleichzeitiges Erscheinen in Tantalam, im Golf von Petchili und in Honolulu, der Hauptstadt von Hawaii, meldeten. Es wurde eine Sondersitzung des Kabinetts einberufen, über deren Ergebnis die Times, der Telegraph und die Morning News wie auch andere englische Zeitungen ihre Leser am nächsten Tag unterrichteten.
Diese Zeitungen schlossen ihre Artikel mit der gleichen Verlautbarung:
Der erklärte Wille von Korsar Triplex ist es, Englands Aufmerksamkeit zu erregen und die Öffentlichkeit so zu beeinflussen, daß sie Druck auf die Regierung ausübt, seinem Wunsche zu entsprechen. Ab heute widersetzt sich nichts mehr der Tatsache, daß der rätselhaften Person dieser Wunsch erfüllt wird. Man hat der Pazifikflotte Befehl gegeben, sich zu der Goldinsel zu begeben, wo sich der Korsar mit ihr treffen will. Wir werden in der Lage sein, das Geheimnis, das die öffentliche Meinung so stark beschäftigt, vor Ort zu lösen. Heute noch werden wir einen Sonderkorrespondenten in den Pazifik schicken, um die ersten zu sein, die unsere Leser vollständig und genau über die Vorfälle auf diesem Schauplatz unterrichten werden.
Mitten in der Gaya-Bucht lag der Kreuzer Shell vor Anker, ein Wahrzeichen britischer Macht vor Borneo. An Bord langweilte man sich. Der Kreuzer war sechs Monate durch den Pazifik gedampft, ohne daß sich etwas Nennenswertes ereignet hatte, und diese Monotonie drohte sich fortzusetzen.
Auf der Brücke schwatzten Kapitän Murray und sein Erster Offizier Bathurst miteinander.
»Nun, Mr. Bathurst«, sagte der Kapitän, »ich meine, für unsere Karriere ist das vertane Zeit gewesen. So eine nichtige Kreuzerei bringt uns keine Tressen.«
»Man kann mit abgehackten Beinen eben nicht laufen«, erwiderte Bathurst. »Ich denke, Kapitän Murray, daß Sie unsere Situation scharfsinnig erkannt haben.«
»Keine Abwechslung ist uns gestattet.«
»Keine. Uns ist sogar verboten, an Land zu gehen. Außer es ist dienstlich.«
»Alles wegen dieser verfluchten Eingeborenen, der Dayaks …«
»Die eine ausgeprägte Vorliebe für weißes Fleisch haben.«
»Komische Geschmäcker. Als ob Roastbeef nicht eine bekömmlichere Mahlzeit wäre als das Filet von Ihnen.«
»Oh, ein scheußlicher Posten.«
»Scheußlich und verloren. Warum sind wir hier? Um die malaiische Bevölkerung an der Küste zu hindern, sich der Piraterie hinzugeben. Als ob einem Malaien etwas anderes als ein Dolch heilig wäre oder sie jemals etwas anderes getrieben hätten als Piraterie.«
»Fest steht, Kapitän Murray, das ist ein Volk von Dieben …«
»Die über uns lachen. In ihren verschlammten Flüssen und vor ihren Küsten, die voller Sandbänke sind, können wir sie nicht verfolgen mit unserem stattlichen Tiefgang. Erinnern Sie sich an den Händler, der vor kurzem an Bord gekommen ist? Ich ließ ihn unser Schiff bewundern und wagte auch noch, ihm zu erklären, daß dies eins der stolzesten Schiffe unserer verehrten Majestät sei«, der Kapitän salutierte. »Und wissen Sie, was mir der Kerl erwidert hat? Ich war platt. ›Schönes Schiff‹, hat er gesagt, ›aber gefährlich, damit auf dem Wasser zu schwimmen. Zu großer Bauch, berührt Grund. Du bist vorsichtiger Kapitän, hast Anker geworfen. Du weißt, daß dein großes Schiff macht gluck-gluck, wenn schwimmt.‹ Das denken diese Derwische von der englischen Marine, der ersten der Welt, Mr. Bathurst.«
»Der ersten, Kapitän, Sie sagen es.«
Wie man sieht, war die Laune der Offiziere nicht die beste. Deshalb wohl hatten sie auch keine Muße, sich dem großartigen Schauspiel zu widmen, das sie vor Augen hatten.
Die Bucht beschrieb einen weiten, bogenförmigen Halbkreis und war von bewaldeten Bergzügen umrahmt, die bis zum Meer abfielen. Das Ganze wirkte wie ein natürliches Amphitheater. Teak- und Ebenholzstämme, wilde Muskatnußbäume kreuzten sich mit ihren Ästen und bildeten ein weitverzweigtes, dichtes Blätterdach. Nach Norden zu zog sich die Küste hin, die am Horizont von dem gigantischen Felsmassiv des Kinabalu beherrscht wurde, der seinen stolzen Gipfel mehr als viertausend Meter hoch in den Himmel reckt. Die Wellen, die über eine Korallenbank gischteten, hatten die Transparenz eines Kristalls, und die brennende Sonne, deren Hitze durch eine angenehme Brise gemildert wurde, tauchte alle Gegenstände in ihren goldenen Schein. Es war eine Orgie aus Licht, der der dunkle Hintergrund des Unterholzes eine unerhörte Intensität gab.
Aber weder der Erste Offizier Bathurst noch Kapitän Murray waren in dem Zustand, die Natur zu bewundern. Auf der Brücke stehend, tauschten sie ihre Eindrücke aus, die eher unangenehm waren.
Da fuhren sie mit einemmal zusammen. Die Alarmglocke, die die Brücke mit der Kabine des Kapitäns verband, schrillte. Die beiden Seeleute blickten auf den Hammer, der die Glocke ununterbrochen bearbeitete, dann schauten sie sich an.
»Komisch«, murmelte schließlich der Kapitän. »Ich bin nicht in meiner Kabine, aber man läutet. Wer erlaubt sich denn einen solchen Scherz?«
»Ich werde nachsehen«, schlug Bathurst vor.
»Nein, nein, das mach ich selbst. Ich möchte den Witzbold gern auf frischer Tat ertappen.«
Mit diesen Worten stieg Murray schnell die Leiter der Brücke hinab, rannte über das Deck, wobei er die Mannschaft aus ihrem gelangweilten Nichtstun schreckte, und stieg ins Zwischendeck hinab. Seine Kabine lag im Heck, und die Bullaugen zeigten nach backbord.
Er riß die Tür auf, im Begriff, den Verursacher des Läutens gleich am Schlafittchen zu packen, aber das war vertane Liebesmüh: Die Kabine war leer.
Ein wenig erstaunt näherte sich der Kapitän dem Alarmknopf und stellte fest, daß der Verbindungshebel auf dem Kontakt auflag; da er sich jedoch nicht vorstellen konnte, daß ein Mitglied der Mannschaft riskieren würde, diesen Kontakt zu schließen, nur um das zweifelhafte Vergnügen zu genießen, den Kapitän damit zu ärgern, schloß er, daß der Hebel von selbst heruntergefallen sein mußte.
Als er die Kabine verlassen wollte, fiel sein Blick auf den Tisch unter dem Bullauge. Dort lag ein sorgfältig verschnürtes Päckchen, und daneben ein Umschlag, auf dem in kühngeschwungenen Lettern stand: Für Mr. Murray, Kommandant des Kreuzers Shell.
Man läutete nicht nur, man hinterlegte in seiner Kabine auch noch Päckchen und Briefe!
Was sollte man dazu sagen? Schließlich war das hier ein Kriegsschiff und keine Post!
Eher ungehalten als neugierig riß Murray den Umschlag auf und las mit wachsendem Erstaunen folgende Mitteilung:
Kommandant,
es ist möglich, daß Sie wie alle Kapitäne von Kriegsschiffen der Pazifikflotte Befehl erhalten, sich in einigen Wochen von hier zur Goldinsel (Cookarchipel) zu begeben. Der Unterzeichner – eigentlicher Verursacher dieser Reise – hält es für seine Pflicht, sich durch diesen Brief vorzustellen. Da er sich jedoch nicht selbst an Bord begeben kann, schickt er als seine Visitenkarte (siehe beiliegendes Päckchen) einige Perlen und Korallen, die Blumen des Meeres, die Mrs. Murray sicher als sehr angenehm empfinden wird, wenn Sie sie ihr bei Ihrer Rückkehr nach England gütigst überreichen wollen. Für Sie selbst und um seine Wertschätzung für Ihre ehrenwerte Person zu bezeigen, rechnet es sich der Unterzeichner zur Ehre an, wenn er Ihnen einige Delikatessen für Ihre Tafel überreichen darf. Wenn Sie bereit wären, heute abend ein Boot zu Wasser zu lassen, so wird es dem Unterzeichner ein Vergnügen sein, es mit auserlesenen Fischen zu füllen.
Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung
Korsar Triplex
Es ist unmöglich, die Verblüffung des ehrenwerten Kapitäns nach der Lektüre dieser Nachricht zu beschreiben.
Wie alle Welt hatte er natürlich schon von dem berühmten Korsaren sprechen gehört; aber mit der schönen Ungläubigkeit der Seeleute hatte er die ihm zugeschriebenen übernatürlichen Fähigkeiten für die Erfindungen von Journalisten gehalten.
Und nun trat Triplex mir nichts, dir nichts so ganz einfach in sein Leben – und in seine Kabine; auf gewiß liebenswürdige Art, natürlich, wenn auch völlig überraschend. Unter anderen Umständen hätte Mr. Murray an einen Scherz geglaubt; freilich – da lag ja das Paket auf dem Tisch, und dessen Inhalt bestand, wie er sich überzeugte, aus erlesenen Perlen und außergewöhnlich schönen Korallen. Und das wäre schließlich ein Scherz, der für seinen Urheber doch recht kostspielig geworden wäre.
Aber – und das beunruhigte ihn doch sehr –, Triplex mußte es gelungen sein, sich an Bord zu schleichen. Und dabei mußten ihm ein oder mehrere Matrosen der Mannschaft behilflich gewesen sein, denn sich vorzustellen, daß er sein Unternehmen ohne fremde Hilfe vornehmen würde, dazu fehlte Murray einfach die Phantasie.
So war der Kommandant in einem Zwiespalt: zum einen von dem fürstlichen Geschenk des Korsaren mehr als entzückt (als Ehemann), zum anderen von der Art des Vorgehens seines großzügigen Überbringers stark verunsichert (als Marineoffizier); und genauso zwiespältig bestieg er wieder die Brücke.
Der Erste Offizier, den er über den Vorfall unterrichtete, zeigte sich indigniert. Er hatte schließlich weder Perlen noch Korallen erhalten, und im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten empfand er auch kein Gefühl der Dankbarkeit. Er hielt die Handlung des Korsaren der Disziplin der Mannschaft für abträglich. Die übrigen Offiziere wollten einen Beweis ihres Diensteifers geben, und sie reagierten um so gereizter und eifriger, je weniger Tressen sie hatten. Kurz, man entschied, ein Exempel zu statuieren und den Schuldigen an Bord zu bestrafen. Trommelwirbel erklang, die Mannschaft wurde auf Deck gerufen, und in einer mehr oder weniger flammenden Ansprache forderte der Kapitän sie auf, über den Korsaren herzufallen und ihn dingfest zu machen, falls er sich zeige. Und sollte doch jemand Beziehungen zu dieser Person unterhalten, so käme derjenige vor das Kriegsgericht.
Das Ziel der Ansprache war, die Matrosen einzuschüchtern; deshalb berichtete Murray, daß ein Unbekannter heimlich an Bord gekommen sein müsse und sich in die Kabine des Kommandanten eingeschlichen habe. Nun, wenn ihn niemand gesehen habe, auch nicht das kleinste Boot in der Bucht, so müsse man demnach schließen, daß der Korsar Flügel habe und sicher die Eigenschaft besitze, sich unsichtbar zu machen.
Wie jeder weiß, sind Matrosen abergläubisch. Der Geisteszustand der Besatzung des Kreuzers war derart, daß die Vorgesetzten einsehen mußten, daß ihre Männer von dem geschilderten Vorfall genauso überrascht waren wie der Kapitän.
Also wechselte man den Ton. Der Korsar hatte angeboten, ihnen Fisch zu schenken, wenn nachts ein Boot zu Wasser gelassen würde. Man würde also tun, was Triplex wünschte. Um seine Gabe zu überbringen, mußte er sich zeigen – und die Furcht der Matrosen wäre gegenstandslos, da sie es ja mit einem sichtbaren und greifbaren Gegner zu tun hätten.
Die Ankündigung des Vorhabens führte nicht dazu, die Gemüter zu beruhigen. Die Männer, die ausersehen waren, in die Schaluppe zu steigen, waren dabei, den Dienst zu verweigern, und erst als Mr. Bathurst sich bereit erklärte, das Kommando zu übernehmen, willigten einige Freiwillige ein, ihn zu begleiten.
Endlich wurde es Nacht. Eine Schaluppe wurde zu Wasser gelassen. Acht Matrosen, der Steuermann und der Erste Offizier nahmen darin Platz. Langsam entfernte sie sich vom Kreuzer. Ein Scheinwerfer, der am Bug des Kreuzers angebracht war, erlaubte dem Kapitän, den übrigen Offizieren und der neugierigen Besatzung, jede Bewegung im Boot zu verfolgen.
Einige Kabellängen vom Kreuzer entfernt machte die Schaluppe halt. Wozu weiterrudern? Der Korsar hatte nicht verlangt, daß man an der oder jener Stelle in der Bucht auf ihn warten solle. Die schweigenden und durch die Nacht beeindruckten Matrosen blickten mißtrauisch in die Dunkelheit. Aber nichts bewegte sich, kein Geräusch deutete an, daß sich der Korsar näherte.
Das dauerte eine Stunde.
»Ich denke, daß sich dieser Triplex über uns lustig macht«, sagte Mr. Bathurst. »Wir werden an Bord zurückkehren. So erfolglos unser Ausflug gewesen sein mag, so beweist er doch, daß diese Person kein Geist ist, denn sonst hätte er sich auf diese oder jene Weise mit uns in Verbindung gesetzt; wir haben alles getan, was wir tun konnten.«
Er hielt plötzlich inne. Ein leichtes Knirschen, als ob sich Eisen an Eisen reibe, war vom Heck der Schaluppe zu vernehmen. Alle Augen wandten sich in diese Richtung, aber sie entdeckten nichts weiter als die dunkle Oberfläche des Wassers. Und wie sie noch schauten, rauschte es plötzlich an Steuerbord; ein Gegenstand schien aus dem Wasser emporzusteigen, der dann hart ins Innere des Bootes fiel.
Die Matrosen waren vor Schreck hochgefahren. Das hatte zur Folge, daß das Boot gefährlich schwankte.
»Jeder auf seinen Platz!« befahl Bathurst.
Dieser Stimme waren sie gewohnt zu gehorchen, deshalb setzten sie sich sofort wieder.
»Mund halten!« befahl der Erste Offizier weiter. »Ich will nachsehen, was da ins Boot gefallen ist. Wahrscheinlich irgendein fliegender Fisch, der den Zähnen einer Muräne entgehen wollte.«
Eine plausible Erklärung. Der fliegende Fisch kann dank seiner Flossen aus dem Wasser schnellen und zwanzig, dreißig, ja sogar fünfzig Meter durch die Lüfte fliegen. Alle Seeleute wissen das, und so lachte schließlich auch die Mannschaft ob ihres Schreckens, den sie sich hatte einjagen lassen.
Währenddessen bückte sich Bathurst und suchte den Boden der Schaluppe ab. Plötzlich stieß er einen erstaunten Ruf aus.
»Was ist denn das?« sagte er und hielt einen eiförmigen Gegenstand vor seine Augen, den seine Finger auf dem Boden entdeckt hatten.
»Ein Holzei«, sagte er, nachdem er es untersucht hatte. »Und es läßt sich öffnen.«
Das Projektil entsprach genau dem, das Korsar Triplex benutzt hatte, um Lady Joan den goldenen Harlekin zu schicken.
Als Bathurst die beiden Teile trennte, fiel ein Stück Papier heraus. Im Scheinwerferlicht des Kreuzers konnte er lesen:
An der Schiffsschraube eures Kreuzers hängt ein Netz mit annähernd vier Zentnern Fisch – mehr konnte ich heute nicht fischen. Wenn ihr wollt, könnt ihr morgen neuen kriegen. Wohl bekomm’s.
Triplex
Er hatte halblaut vorgelesen; die Seemänner hatten sich keine Silbe des Gesagten entgehen lassen.
»Zweihundert Kilo Fisch«, sagte einer von ihnen. »Das stellt ja den kühnsten Piraten der Küste in den Schatten.«
Mr. Bathurst hatte den Kopf erhoben. Wenn es die Dunkelheit erlaubt hätte, so würde man auf seinem Gesicht den Ausdruck allergrößten Staunens entdeckt haben. Er befahl den Männern, zum Heck des Kreuzers zu rudern. Dort beugte er sich über die Bordwand.
»Tausend Teufel!« schrie er. »Ich fühle ein Seil … Es hängt an einem Ring der Schraube. Mal sehen, was das ist.«
»Teufelsfische«, maulte einer der Matrosen.
Inzwischen war man auf der Shell am Heck zusammengelaufen, hatte ein Seil heruntergelassen, und innerhalb kurzer Zeit hievten die Matrosen das merkwürdige Geschenk des Korsaren an Deck. Es war ein reicher Fang. Die seltensten und wohlschmeckendsten Fische kullerten da an Deck – und was dem Kapitän die Perlen, das war der Mannschaft eben der Fisch. Auf jeden Fall verschmähte keiner das Geschenk von Triplex.
Währenddessen schwamm Unterseeboot Nummer zwei seelenruhig in geringer Entfernung des britischen Kreuzers. Die ganze kleine Komödie war von Robert inszeniert worden, um Lotia zu zerstreuen, deren Apathie ihre Freunde stark beunruhigte.
Aurett, der Journalist, Joan waren mit Feuereifer dabeigewesen, den Speisezettel der »feindlichen« Matrosen anzureichern. Allein Lotia blieb traurig und abwesend. Und sogar Maudlin schien von dieser Trauer angesteckt worden zu sein, denn eines Tages tat sie einen Ausspruch, der ihre Mutter überraschte: »Besser der Tod, als ewige Trennung.«
Daraufhin war sie rot geworden und mit Tränen in den Augen in ihre Kabine geflüchtet, wo sie sich schluchzend auf ihr Bett warf. Undeutlich glaubte ihre Mutter, die ihr nachgegangen war, unter den Schluchzern immer wieder den Namen James herausgehört zu haben.
Wie auch immer, Robert fühlte sich verpflichtet, die Damen zu zerstreuen, und so hatte er sich des »sozialen« Projektes angenommen, zu den englischen fish and chips den fish zu liefern. Und er schlug auch vor – da man die unterseeischen Jagdgründe erfolgreich abgejagt habe – für zwei Tage an Land zu gehen und im Inneren Borneos zu jagen. Zunächst würde man noch einen Ausflug im Taucheranzug zu den wunderschönen Korallenbänken der Bucht von Gaya machen.
»Ah!« rief Armand begeistert, »wir werden uns also ins Reich der großen Baumeister des Kontinents begeben.«
Und da ihn daraufhin seine Freunde fragend anschauten, fuhr er mit stetig wachsender Begeisterung fort: »Ihr wundert euch über meine Aufwallung? Das kommt daher, weil mir dieser Spaziergang einen Traum erfüllt: ein Geheimnis der Natur an Ort und Stelle zu studieren.« Dann wurde er sachlich: »Die Natur in ihrer phantastischen Vielfalt wollte die Menschheit neben anderem auch durch die Schöpfung der Korallen Demut lehren. Ja, Demut! Dann was sind selbst die gigantischen Bauwerke der alten Ägypter oder der kambodschanischen Khmer gegen dieses Wunderwerk von Lebewesen, die halb Pflanze, halb Tier sind? Habt ihr euch manchmal überlegt, wieviel Jahrhunderte es gedauert haben muß, bis gemeine Muscheln Kreideansammlungen von sieben- bis achthundert Meter Dicke gebildet haben, die dann über die Meeresoberfläche wuchsen? Noch heute gestalten geheimnisvolle Architekten mitten im Pazifischen Ozean einen immensen Kontinent, der dazu bestimmt ist, künftige Humanoiden aufzunehmen.« Und mit Pariser Leidenschaft schloß er: »Die Koralle ist die Wurzel, die in der Unendlichkeit verankert ist und auf deren Blüte der Gedanke an die Zukunft wächst und wo Menschen, die uns genauso überlegen sein werden, wie wir es heute gegenüber den Primitiven sind, leben werden; dabei von dem reinen Idealzustand träumen und ihre hundert‐, ja tausendmal schärferen Blicke als die unseren in ferne Räume schweifen lassen, und die mit der Gewißheit sterben werden, sich den großen Rätseln des Universums immer weiter genähert zu haben, ohne sie jemals ganz zu erreichen. Denn das kann niemand.«
Alle hatten zugehört. Sogar Lotia hatte ihre gleichgültige Haltung aufgegeben und murmelte: »Reden Sie weiter, Armand. Heute bin ich traurig, reden Sie von der Hoffnung für morgen.«
Der Journalist schaute die Ägypterin lächelnd an.
»Wie Sie wollen. Wenn Sie dieses Zurschaustellen ozeanischer Kenntnisse zerstreut, werde ich Ihnen gern erzählen, was ich über die korallenartigen Zoophyten und deren Ableger weiß.«
Er machte eine Pause.
»Ganz am unteren Ende der Hierarchie von Lebewesen befindet sich der Schwamm«, begann er, »der aus einer faserigen, elastischen und widerstandsfähigen Substanz besteht und von einer gallertartigen Masse umgeben ist, die man entfernt, wenn man ihn in den Handel bringt. Diese Masse ist der lebende Teil. Er besteht aus rudimentären Tierchen, die wie kleine Tuben aussehen. Es sind die allereinfachsten, unausgebildeten Lebewesen. Im einfachsten Fall haben sie die Form eines Bechers, dessen Wand aus zwei Schichten, dem Dermal- und dem Gastrallager, besteht und von zahlreichen Poren durchbrochen ist. Die Zellen des Gastrallagers haben Geißeln, die am Grunde von einem Kragen aus Protoplasma umgeben sind, sogenannte Kragengeißelzellen; durch sie wird Nahrung wie Plankton oder Teile von kleinen Meerestieren verdaut oder an die übrigen Zellen weitergegeben. Infolge der in der Regel ungeschlechtlichen Vermehrung werden die Schwämme – lateinisch Spongien – zu Kolonien von bedeutender Größe. Ihre Gestalt ist ungemein verschieden. Manche bilden Krusten und klumpige Massen, andere zierliche Bäumchen, Röhren oder Becher. Die Spongien sind von so niederer Struktur und so unerforschter Vitalität, daß man sich noch Anfang unseres Jahrhunderts weigerte, sie ins Tierreich aufzunehmen.« Armand hustete, überlegte kurz und fuhr dann in seiner Vorlesung fort: »Kommen wir nun zu anderen, hochinteressanten Koralliferen. Der Polyp ist ein kleiner Sack, ausgestattet mit acht Tentakeln, die dazu dienen, Nahrung zu beschaffen. Wenn sich diese Tentakel öffnen, so erweitern sie sich kreisförmig und erwecken den Eindruck einer Blume mit acht rot und weiß gestreiften Blüten. Diese Aufgußtierchen vereinigen sich in ungezählter Menge, sie sondern eine kalkhaltige weiße oder rote Substanz ab, den sogenannten Korallenstock. Man nennt diese Vermehrung auch Knospung. Bei der Entstehung der Korallenstöcke durch Knospung bleiben sämtliche Einzelwesen durch ein System von Ernährungskanälen miteinander in lebender Verbindung. Man findet die vielfältigsten Formen: Bäume, Büsche, Pilze, Blumen, Steine. So entsteht ein richtiger Wald, an den roten Stämmen blühen Tausende von Blumen, die nichts anderes sind als lebende Polypen; oder aber kleine Schößlinge, die wie eine rote Prärie aussehen, von weißen Sternen durchsetzt. Sie dehnen sich über gewaltige Räume hinweg aus. Von der afrikanischen Küste bis Malakka, von der Südsee bis in die Karibik. Sie brauchen reines, durch sandige oder tonige Verunreinigungen ungetrübtes Wasser mit vollem Salzgehalt und einer Mindesttemperatur von zwanzig Grad; reichliche Nahrungsmittel und genügend Licht erhalten sie in einer Wassertiefe von dreißig bis vierzig Metern; am üppigsten entwickeln sich die Riffkorallen in einer Wassertiefe von vier bis zehn Metern. Ihre Riffe wachsen unaufhörlich und erstrecken sich schon über mehrere Hunderte von Kilometern. Sie wachsen nur wenige Millimeter im Jahr, und man hat errechnet, daß manche an die zweihunderttausend Jahre brauchen, um eine Kolonie zu bilden. Manchmal bilden sie ein Wall- oder Barriereriff wie das vor Neukaledonien, das siebenhundert Kilometer lang ist, oder das Große Barriereriff an der Nordostküste des australischen Kontinents von etwa tausendneunhundert Kilometer Länge; manchmal bilden sie Riffe von mehr oder weniger regelmäßiger Ringform wie jenes im Tuamotuatoll. Außer von den gewachsenen Korallenstöcken wird das Korallenriff auch von den durch die Brandung erzeugten Trümmern des Korallenkalkes gebildet, deren Größe zwischen starken Blöcken und feinsten Teilchen schwankt. Der Korallensand füllt mit den gröberen Brocken die Lücken zwischen den Korallenstöcken aus. Die Korallen gründen ihre Riffe meist auf festem Gestein, gelegentlich dienen als Fundament auch einzelne Steine. Den Anfang machen frei schwimmende Polypenlarven, die sich an die Steine heften. Die Riffkorallen wachsen dann aufwärts gegen den Meeresspiegel, seitwärts gegen das offene Meer und auf dem Boden in die Tiefe, hier aber auch nur bis vierzig Meter.«
Lotias Gesicht drückte Bewunderung aus. Vor ihren Augen sah sie deutlich die unaufhörliche Schöpferkraft der Natur.
»Ich denke, euch wird klar«, schloß Armand, »daß das wissenschaftliche Studium der Korallen auf andere Art schön, aber genauso poetisch ist wie das Studium von Mythen und Legenden.«
Die Vorlesung war zu Ende, und niemand ließ sich lange bitten, in die Taucheranzüge zu steigen und nun vor sich zu sehen, was sie eben gehört hatten.
Es war eine Verzauberung.
Bald schritten die Passagiere durch felsige Einschnitte, die mit riesigen Schwämmen bedeckt waren, deren Farbnuancen von gedecktem Weiß bis zum Rotbraun reichten. Diese Pflanzentiere hatten sowohl trichter- als auch becher- oder röhrenförmige Gestalt und boten den Betrachtern einen einmaligen Anblick. Auch die Arten wechselten: hier der Neptunsbecher, dort Kalkschwämme, da der Venusblumenkorb neben großlöcherigen Pferdeschwämmen und Strahlschwämmen, Baumfaserschwämmen, Kieselschwämmen …
Jetzt gelangten sie zu einer Korallenbank. Es war eine Vision, die sie nur als Traumgespinst für möglich gehalten hätten: rote und weiße Korallenstöcke, an denen sternförmige Polypen blühten und zwischen deren Verästelungen Fische in allen nur denkbaren Farben schwammen. Mit den Korallen hatten sich andere Korallentiere vermischt – Polypen in allen Farbschattierungen: blau, rosa, gelb, grün, orange und weiß, durchscheinend wie Glas und die felsigen Wände wie ein Teppich bedeckend. Da war die Edelkoralle, die Tote Mannshand, die geöffnete und geschlossene Purpurrose, die Seefeder, die Schmarotzerseerose, die Wachsrose, die Zylinderrose, die Pilzkoralle und alle möglichen Arten der Steinkoralle … Dann plötzlich hatten sie eine Polypenprärie vor sich, die wie ein Kornfeld auf und ab wogte und deren anmutiges Ineinanderfließen und Auseinandergleiten die Taucher nur stumm bewundern konnten.
Nach der Rückkehr an Bord wurde kaum gesprochen. Die Augen waren ihnen übergegangen, nun war der Kopf voll davon. Die unterseeische Feenlandschaft verursachte bei ihnen so etwas wie eine moralische Verdauungsstörung. Das Wunderbare der Natur war zu berauschend gewesen; sie waren trunken von dem Nievorhergesehenen, dem Unglaublichen, dem Übermenschlichen.
Eine Nacht voller Schlaf vermochte kaum die Verwirrung auszugleichen, von der unsere Freunde geprägt waren.
Und wieder waren unsere Freunde im Salon des Unterseebootes Nummer zwei versammelt. James saß bei ihnen. Er hatte das Kommando von Nummer eins Leutnant Paddy übertragen und wollte sich nun von seinen Freunden nicht mehr trennen.
Man hatte Borneo verlassen – nicht, ohne daß man der Besatzung des Kreuzers Shell noch eine Ladung erlesenster Fische »angehängt« hatte – und befand sich in der gefährlichen Meerenge von Makasar, die die Küste Borneos vom Felsgestade von Celebes trennt und die vor allem wegen ihrer Untiefen, Klippen und – Piraten gefährlich ist.
In dieser Straße von Makasar findet man die schönsten Korallen der Welt, und unsere Freunde saßen den ganzen Tag vor den Bullaugen und bewunderten die vielförmige und nie langweilig werdende Landschaft der Korallenkolonien.
Maudlin wich dem Korsaren nicht von der Seite. Unentwegt hatte sie irgendwelche Fragen an ihn, wobei sie immer einen Vorwand fand, um in seiner Nähe sein zu können. Und da Joan nur von einer Idee besessen war: ihre Tochter, von der sie so lange getrennt war, möglichst immer bei sich zu haben, bildeten sie ein Grüppchen zu dritt.
Armand und Aurett hielten sich stets gemeinsam vor »ihrem« Bullauge auf, allein Robert und Lotia blieben in respektabler Entfernung voneinander und tauschten nur hin und wieder einen sehnsuchtsvollen Blick. Eine moralische Schranke schien sich zwischen den beiden Liebenden errichtet haben, und wenn es ihnen tatsächlich einmal gelang, ihre schwierige Situation zu vergessen, so erinnerte sie die düstere Erscheinung Niaris augenblicklich an die Wirklichkeit. Der fanatische Patriot aus dem Niltal überwachte die beiden. Bei jeder Gelegenheit, im Korridor, auf der Türschwelle, auf dem Deck, wenn das Unterseeboot aufstieg, zeigte er sich und betrachtete mit seinen schwarz glänzenden Augen Hadors Tochter und Robert Lavarède.
Aber falls dieser Blick noch traurig sein mochte, wenn er auf die Ägypterin fiel, so spiegelten seine Augen allmählich unversöhnlichen Haß, wenn er auf Robert traf. Ganz offensichtlich machte Niari letzteren verantwortlich, daß sich die schöne Lotia von ihrer patriotischen Aufgabe hatte ablenken lassen.
Inzwischen war das Unterseeboot in der Javasee angekommen. Seine Geschwindigkeit hatte man gedrosselt, es beschrieb einige Schleifen und tauchte in große Tiefen. Es war, als schien das Boot irgend etwas zu suchen. Armand machte eine diesbezügliche Bemerkung gegenüber James Pack.
Dieser lächelte und unterbrach für einen Augenblick die angenehme Unterhaltung, in die er mit Maudlin vertieft war.
»Ihre Beobachtung stimmt, Mr. Lavarède. Mein Boot sucht tatsächlich etwas.«
»Wäre es indiskret, zu fragen, wonach?«
»Ganz und gar nicht.«
»Nun, dann riskiere ich die Frage … Was …?«
»Mein Telegrafenbüro.«
Bei dieser in aller Ruhe vorgetragenen Antwort blieb dem Journalisten vor Staunen der Mund offenstehen. Er brauchte eine Sekunde, dann erwiderte er: »An Ihrem Scherz merke ich, daß Sie doch nicht willens sind, meine Frage zu beantworten.«
Aber James erwiderte, noch immer lächelnd: »Sie sollten mehr Vertrauen zu mir haben, Mr. Lavarède. Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Denn ein Ort, wo man Depeschen für mich hinterlegt und ich sie nur abholen muß, nicht wahr, verdient doch die Bezeichnung Telegrafenbüro?«
»Zweifellos, nur auf dem Grund des Ozeans …«
»Not macht erfinderisch.«
»Das wissen wir«, sagte Aurett und schaute ihren Mann zärtlich an.
»Nun also, ich brauchte etwas, damit ich, als ich den Kampf gegen das allmächtige England aufnahm, über alles im Bilde war, was man gegen mich plante.«
»Und?« Armand platzte vor Neugier.
»Ich habe mir etwas ausgedacht, um über den Inhalt aller Kabelgramme unterrichtet zu sein, die über das Unterseekabel liefen, mit dem Sydney mit der übrigen Welt verbunden war.«
Der Journalist riß die Augen auf.
»Das ist das Stärkste! Sie haben die Verbindung zwischen der Metropole und Ozeanien unterbrochen.«
Der Korsar hob die Hände.
»Pardon, das habe ich nicht gesagt. Unterbrochen wäre nicht das richtige Wort. Spätestens nach acht Tagen hätte man bemerkt, daß die Depeschen nicht angekommen sind, und vermutet, daß etwas am Unterseekabel zwischen Sydney und Batavia nicht stimmen könne. Man hätte Schiffe geschickt, um die zerrissene Stelle zu suchen. Meine Mühe wäre vergebens gewesen.«
»Sehr richtig. Wenn Sie aber dennoch die Kabel erhielten, müssen die, für die sie bestimmt waren, sie demnach nicht erhalten haben.«
»Irrtum. Habe ich noch nicht bemerkt, daß man keinerlei Verdacht schöpfen durfte? Und in der Tat«, so fügte er hinzu, »man schöpfte auch keinen Verdacht.«
»In diesem Fall verstehe ich gar nichts«, gestand der Pariser ein wenig gereizt. »Allerdings müßte ich mich langsam daran gewöhnt haben, daß ich manches nicht begreife, seit ich mit Ihnen zusammen bin.«
Diese Überlegung hatte einen Heiterkeitsausbruch Maudlins zur Folge, den sie nicht bezähmen konnte. Ihr Lachen war so ansteckend, daß nacheinander Joan, dann Aurett, schließlich Armand selbst darin einstimmte. Während einiger Minuten schien im Salon eine Versammlung von Clowns stattzufinden; endlich gelang es Maudlin, ihre Fassung wiederzugewinnen, und mit einem kindlichen Anflug von Stolz in der Stimme sagte sie: »James Pack ist ein großer Gelehrter, und jeder andere als Sie, Armand, wäre erstaunt, was er alles erfunden hat.«
»Aber ich bitte Sie!« rief der Angesprochene aus. »Ich bin neugieriger als ein Detektiv, und diese Anspielungen lassen mich tausend Tode erleiden. Denken Sie doch, ein Journalist von einigem Geschmack und etwas mehr Temperament als andere, der inmitten von Erfindungen lebt, die noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat, der muß doch verrückt werden. Diesmal fehlt es mir nicht an Worten, etwas zu beschreiben, sondern an der notwendigen Information. Als ob man mit dem Kopf gegen die Wand rennt! Dabei«, fügte er lächelnd hinzu, »paßt nicht einmal dieser Eindruck, denn das hier ist schließlich keine Wand, sondern das Innere eines Schiffes, das zudem noch unter Wasser fährt. Also: Es ist zum Den-Kopf-unter-Wasser-Tauchen!«
»Ich werde es Ihnen erklären«, sagte James lächelnd. »Was Sie erstaunt, ist eine einfache Erweiterung der drahtlosen Telegrafie, die man in Frankreich im allgemeinen dem Italiener Marconi zuschreibt.« Lächelnd unterbrach er sich. »Zunächst muß ich jedoch erst einmal der Gerechtigkeit Genüge tun«, erklärte der Korsar. »Ich habe gesagt Marconi, um mich verständlich zu machen, denn Marconi hat in Wirklichkeit nichts erfunden. Er ist nur ein Ingenieur gewesen, der Apparate gebaut hat, die auf der Entdeckung zweier Gelehrter basierten: des Deutschen Hertz und des Franzosen Branly. Ich möchte auch noch hinzufügen, daß es sogar in Frankreich einen Techniker gibt, Monsieur Ducretet, dessen Apparate genausogut funktionieren wie die von Marconi.«
Armand und Robert nickten zufrieden, und Pack fuhr fort: »Hertz wies die theoretisch vorausgesagten elektromagnetischen Wellen experimentell nach und begründete das, was man nach ihm die Hertzsche Elektrizität oder Hochfrequenztechnik nannte. Was ist diese Elektrizität? Nun, ich will versuchen, Ihnen das so klar wie möglich zu erklären.«
Während er sprach, zeichnete er Striche und Kreise in sein Notizheft.
»Stellen Sie sich zwei elektrisch geladene Kugeln vor, A und A eins, allerdings sind beide nicht so stark geladen, daß sich ihre Elektrizität verbindet, das heißt, daß ein Funke zwischen den Punkten B und B eins überspringt. Wenn man die beiden Punkte allerdings mit einem Kabel miteinander verbindet, wäre der Kontakt hergestellt. Nun, wenn Sie einen Stromkreis C herstellen, der die beiden Kugeln mit einer Batterie D verbindet, wird die elektrische Entladung groß genug, damit zwischen B und B eins der Funke überspringen kann. Und während der Funke entsteht, gibt er diese Eigenelektrizität über den Stromkreis ab und erlaubt den beiden Kugeln, sich zu verbinden. Dergestalt entsteht eine Vielzahl von Verbindungen, deren Dauer nur durch das Aussetzen der Funken begrenzt wird. Hertz hat experimentell nachgewiesen, daß dieses Phänomen in der Luft Schwingungen hervorruft beziehungsweise eine Welle, die über bestimmte Entfernungen hinweg drahtlos zu spüren ist. Kurz, der deutsche Wissenschaftler hatte die Hertzsche Elektrizität gefunden.«
»Und der Franzose Branly?« fragte Aurett mit einem Lächeln, das ihrem Mann zugedacht war.
»Der hat den Empfänger gefunden. Er hatte bemerkt, daß Eisenfeilspäne im Strom ein schlechter Leiter waren. Zu seiner großen Überraschung mußte er jedoch feststellen, daß diese Eisenspäne selbst zum Leiter wurden, wenn eine Hertzsche Welle entstand, und daß sie sogar diese Leitfähigkeit beibehielt, es sei denn, sie erhielt einen Schlag. Jetzt war der Empfänger gefunden. Und wenn Sender und Empfänger in bestimmter Entfernung voneinander plaziert sind, genügt es, letzteren an ein Morsegerät anzuschließen, um die von dem Sender ausgehende Depesche drahtlos aufzuzeichnen.«
Mit blitzenden Augen hatte Maudlin James betrachtet. Sie schien direkt Vergnügen dabei zu empfinden, dieser gemeinhin für Frauen so uninteressanten Vorlesung zu folgen. Armand allerdings war der Mann, der erst dann eine Frage vergißt, wenn ihn die Antwort darauf befriedigt.
»Sei es, wie es sei«, sagte er. »Das ist der drahtlose Telegraf, gewiß. Sie haben ihn sehr klar erklärt. Dennoch verstehe ich nicht den Zusammenhang zwischen dieser Erfindung und der … Konfiszierung der durch das Unterseekabel übermittelten Depeschen.«
»Das gerade ist ja die Entdeckung von James!« rief Maudlin ungestüm.
Alle schauten sie an. Sie errötete und senkte den Kopf derart verlegen, daß sich der Korsar beeilte, weiterzureden, um die Anwesenden nicht auf andere Gedanken kommen zu lassen.
»Ich werde gleich davon sprechen, Mr. Lavarède. Die Frage war einfach. Es handelte sich darum, den elektrischen Strom im Kabel durch einen Hertzschen Strom zu beeinflussen. Hören Sie, wie ich das Problem gelöst habe.« Und indem er einige neue Figuren in sein Heft malte, fuhr er fort: »Sie wissen, wie so ein Kabel aussieht. Das stromführende Kabel muß vom Meerwasser isoliert sein, das ja selbst leitet, und sehr fest, um vor eventuellen Schlägen gegen Unterwassergestein und viele andere Ursachen der Zerstörung geschützt zu sein. Es besteht im wesentlichen aus drei Teilen: dem stromführenden Kabel, das aus sieben geflochtenen Kupferdrähten besteht; einer isolierenden Schicht aus Guttapercha oder gummiartigen Verbindungen, die dieselbe Eigenschaft haben; und schließlich aus einem Mantel von Stahldraht, der mit einem Hanfgeflecht umgeben ist.«
»So ist es.«
»Was habe ich gemacht? Ich habe mir einen hohlen, kegelförmigen Keil gebaut, etwa von der Größe und dem Aussehen einer Granate. Diesen Keil schiebe ich zwischen die Ummantelung, so daß seine Spitze durch das Guttapercha dringt und Kontakt zu dem stromführenden Kabel hat. In diesem Keil steckt eine kleine Indikatorspule. Der durch das Kabel fließende elektrische Strom erzeugt durch reflektorische Wirkung in der Spule einen elektrischen Stromkreis, der einen Kontaktklöppel, einen Unterbrecher, in Bewegung setzt. Dieser Unterbrecher ist wie das metallene Ende meines Keils in einem wasserdichten Behälter aus dickem Glas untergebracht. Fließt nun Strom – eine Depesche – durch das Kabel, so baut der Unterbrecher ein Hertzsches Kraftfeld auf und erzeugt Hertzsche Wellen, die – da sie die Eigenschaft haben, Glas zu durchdringen – sich im Wasser ausbreiten und einen anderen Glasbehälter erreichen, der unmittelbar neben dem ersten steht und mit einem von mir leicht veränderten Ducretet-Empfänger ausgerüstet ist. Ein im Empfänger angebrachter Morseschreiber registriert für mich alle Depeschen, ohne daß der Adressat etwas davon erfährt. Das ist das ganze Geheimnis. Und nun sucht unser Schiff ganz einfach die Stelle, wo meine Apparaturen stehen, um sie einzusammeln.«
»Sie einzusammeln?«
»So ist es. Das Treffen, das ich der englischen Flotte vor der Goldinsel vorgeschlagen habe, wurde angenommen. Meine Telegrafenpost ist also hinfällig geworden.«
Der Korsar hatte kaum seinen Satz zu Ende gesprochen, als das Unterseeboot Nummer zwei die Maschinen stoppte.
»He? Was ist das?« fragten die Passagiere.
James schaute aus einem Bullauge.
»Sie haben die Stelle gefunden«, sagte er. »Wenn ihr durch die Bullaugen schaut, könnt ihr meine Matrosen sehen, wie sie den Apparat abbauen.«
Das ließen sie sich natürlich nicht zweimal sagen. Vor den Fenstern war der Meeresgrund durch die Scheinwerfer aus beiden Booten hell erleuchtet. Auf dem steinigen Grund glänzte das Unterseekabel wie eine riesige Schlange, und dicht daneben stand ein gläserner Behälter. Die gespenstischen Arbeiter des Meeres, die Taucher, arbeiteten in verschiedenen Gruppen. Es war ein faszinierender Anblick.
Das Schauspiel hatte alle in seinen Bann gezogen. Davon profitierte Joan, die ihre Tochter zu sich heranzog.
»Maudlin«, sagte sie, »gestattest du eine Frage?«
»O Mutter, wie kannst du nur so fragen.«
»Nun, ich möchte nicht, daß du denkst, ich will mich in deine Angelegenheiten mischen.«
»Aber das tust du doch nicht, Mutter.«
»Du sagst es, ich sehe es an deinen Augen. Also, Maudlin, mein Liebling, gedenkst du, dich mit unserem Retter, James Pack, zu liieren?«
Flammende Röte schoß dem jungen Mädchen in die Wangen. Mit leiser Stimme antwortete sie: »Nein, Mutter.«
»Dennoch legst du ihm gegenüber eine zärtliche Bewunderung an den Tag, die sich bei jeder Gelegenheit verrät«, beharrte Joan hartnäckig.
»Das stimmt, Mutter. Wie sollte es auch anders sein?«
»Ich mache dir keinen Vorwurf, Kind; aber mir scheint, du machst dir Sorgen. Warum?«
Wie ein Kind schlang Maudlin die Arme um den Hals der Mutter und flüsterte schnell: »Ich habe keine Geheimnisse vor dir, geliebte Mutter; doch er hat eins, das ich nicht kenne. Ich fühle, ich weiß, was ich für ihn bin, er liebt mich mehr als alles auf der Welt, und dennoch spricht er ständig so, als müßten wir uns trennen, wenn seine Aufgabe erfüllt ist.«
Und mit Tränen in den Augen fügte sie hinzu: »Und das will ich nicht, Mutter, das will ich nicht.«
Und dann flüsterten die beiden Frauen lange miteinander; so lange, daß sie ganz überrascht waren, als James sich ihnen näherte und sagte, daß das Einholen der Abhöranlage beendet sei und die Unterseeboote nun endlich Kurs auf den Cookarchipel, zu dem die Goldinsel gehörte, nehmen könnten.
Was hatten die beiden wohl beschlossen? Geheimnis. Aber ganz gewiß hatte Maudlin die Mutter für »ihre« Sache gewonnen, denn Lady Joan machte nun eifrig von einer Eigenschaft Gebrauch, die die Frauen so charmant erscheinen läßt: Sie fragte bei jeder passenden Gelegenheit, die der Umgang auf einem Schiff so mit sich bringt, die Mannschaft nach dem Korsaren aus.
Es waren endlose Fragen. Wo hatten sie den geheimnisvollen Korsaren kennengelernt? Wie hatte er sie angeworben? Und jedesmal erhielt sie eine begeisternde Schilderung. All diese Männer verdankten ihr Leben oder ihre Ehre dem Mann, der sie befehligte. Jeder von ihnen war ein beredter Zeuge des Mutes und der Großzügigkeit von James; jeder war ihm mit Leib und Seele ergeben, aber keiner wußte, wer er war. Die Männer sahen in ihm den Retter, und mit der schlichten Diskretion, die man jenen zubilligt, die bewundert werden, respektierten diese tapferen Mitstreiter das Geheimnis ihres Anführers.
Joan teilte diese Meinung, dennoch setzte sie ihre – zugegebenermaßen erfolglosen – Nachforschungen fort. Doch das war bei ihr nicht etwa blanke Neugier. Als Mutter wollte sie wissen, was sich dem Glück ihrer Tochter in den Weg stellte.
Inzwischen flossen die Tage dahin. Die Unterseeboote durchpflügten mit schwindelerregender Schnelligkeit die Meere und Meerengen Ozeaniens. Sie ließen die Javasee hinter sich. Timor, Neuguinea, fuhren durch die Bandasee, umschifften Port Darwin und die unzähligen Inseln der Arafurasee. Vorbei an Kap York, der nördlichsten Spitze Australiens, gelangten sie in die Meerenge von Torres, die schon manchem Kapitän zum Verhängnis geworden ist, durchquerten das Korallenmeer, schlängelten sich durch die zahlreichen Inseln der Neuen Hebriden und der Loyalty-Inseln, ließen die französische Insel Neukaledonien hinter sich. Sie brauchten einen ganzen Tag, um durch den Graben zu tauchen, der die Inseln des Fidschiarchipels von denen Tongas trennt. Sie erreichten Polynesien, diese »Staubkörner von Inseln«, wie sie der chilenische Historiker Pedro de Balma einmal sehr treffend genannt hat.
Endlich erreichten die schnellen Schiffe Aitutaki, eine der wichtigsten Inseln des Cookarchipels. Von da ab tauchten die Unterseeboote auf und fuhren mit geringer Geschwindigkeit weiter. Nach einigen Stunden versammelte James seine Freunde an Deck und zeigte ihnen in der Ferne einen Berg, der sich etwa fünf- bis sechshundert Meter über die Meeresoberfläche erhob.
»Die Goldinsel, meine Freunde. In einer Stunde werdet ihr zu Hause sein.«
Je mehr sie sich der Insel näherten, desto deutlicher waren Einzelheiten zu erkennen. Die Insel war ein Felseneiland, das von einigen Palmkronen gesäumt wurde. Sie hatte die Form eines Hörnchens, zwischen dessen Spitzen sich eine weite Bucht öffnete, in der es sich alle Schiffe der Welt hätten bequem machen können. Allein die Zufahrt zu diesem Hafen war alles andere als bequem. Am Ende des Hörnchens setzten sich die Felsen fort – allerdings unter Wasser und bildeten, wie man an einzelnen etwas mehr aus dem Wasser ragenden Punkten erkennen konnte, einen fast geschlossenen Kreis; allein durch schmale Passagen mischten sich die Wasser der Bucht mit denen des Ozeans.
James erklärte ihnen diese Besonderheit.
»Der Granitkegel ist vulkanischen Ursprungs, die äußeren Felsen sind Korallenriffe, die den Golf mit einem echten Atoll umgeben. Wie ihr wißt, bezeichnet man mit diesem Namen die kreisrunden Inseln der Sternkorallen.«
Währenddessen durchfuhren die Unterseeboote den Hauptzugang, der etwa zweihundert Meter breit und fünfzehn Meter tief war. Rechts und links brachen sich auf den mit Wasserblumen bewachsenen Felsen die Wellen und ergossen ihre gischtenden, weißen Schaumkronen ineinander.
Die freie Fahrrinne, glatt wie ein Spiegel, zeichnete sich wie eine Straße inmitten von Feldern ab. Im übrigen wies sie keinerlei Klippen auf, die sie für Schiffe hätte gefährlich werden lassen. Von einer Begrenzung bis zur anderen war sie regelmäßig breit und tief. Das war ein oft zu beobachtendes Phänomen: Die Polypen bauen genauso perfekt wie die Baumeister von Brücken und Straßen.
Jetzt befanden sich die Schiffe in der Bucht.
»Meine Freunde«, sagte James Pack, »ich muß euch bitten, wieder unter Deck zu gehen, denn mein Schiff muß noch einmal tauchen.«
»Tauchen?« rief der Journalist aus. »Warum denn das?«
»Ganz einfach. Der Eingang zu meiner Wohnung befindet sich unter Wasser.«
»Der Eingang …?«
»Ja. Die Goldinsel ist wie zum Beispiel Teneriffa ein erloschener Vulkan. Sie besteht aus einer Reihe von Höhlen, in denen früher Lava brodelte. Eines Tages muß ein Riß entstanden sein, Meerwasser drang durchs Gestein; zwischen beiden Elementen fand ein schrecklicher Kampf statt. Das Feuer wurde besiegt, und an dem Ort, wo die schmelzende Materie waberte, breitete sich ein See aus. Und genau dort schuf mir die Natur einen Zufluchtsort, dort schuf sie die Goldadern, die mir ein armer Bergarbeiter vermacht hatte. Genau dort hatte sie einen unermeßlichen Schatz vergraben, der mir erlaubte, um Gerechtigkeit zu kämpfen.«
Er schwieg einen Augenblick.
»Der Eingang zu meinem Reich liegt unter Wasser«, sagte er dann mit veränderter Stimme. »Deshalb bitte ich Sie, in den Salon zurückzugehen.«
Augenblicke später war die Luke wieder geschlossen, und alle drängten sich vor den Bullaugen im Salon. Langsam sank das Schiff, wobei es den steil abfallenden Felsen streifte. Dann gähnte plötzlich ein dunkler Schlund, undeutlich war ein Gang zu erkennen. Ein metallisches Klicken war zu vernehmen.
»Ich signalisiere meine Ankunft«, sagte Pack, »damit man uns Licht macht.«
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als das grünliche Dämmerlicht durch eine gleißende Helligkeit verdrängt wurde. Elektrische Lampen, die in dicken gläsernen Kugeln steckten und die an der Decke des Tunnels angebracht waren, flammten auf, und Nummer zwei tauchte durch den unterirdischen Tunnel.
»Aber Ihre Goldinsel ist ja ein Palast aus Tausendundeiner Nacht!« rief Lavarède aus.
»Ja«, erwiderte der Korsar ernst, »tausend Nächte Leid, Trauer und Arbeit. Tausend Nächte für einen Tag Gerechtigkeit.«
Die anderen schwiegen, da sie sein ernster Tonfall berührte. Doch plötzlich erweiterte sich der Tunnel; die Wände wichen zurück. Das Schiff blieb stehen, stieg einige Meter nach oben, dann lag es unbeweglich auf der Wasseroberfläche, nur die Kuppel ragte aus dem Wasser.
»Die Luke ist offen«, murmelte der Korsar, »ihr könnt auf die Brücke gehen.«
Mit der Hast der Neugier kletterten die Passagiere auf der Leiter nach draußen. Ein Schrei der Bewunderung entrang sich gleichzeitig ihren Lippen.
Das Schiff schaukelte mitten in einer riesigen Höhle, die von unzähligen Lichtern beleuchtet wurde. An den Wänden funkelte und glitzerte es, daß einem die Augen weh taten. Ein goldenes Band durchzog wie ein Mäander den glatten Felsen und reflektierte das elektrische Licht.
»Goldhaltiges Quarz«, sagte Pack.
Neben ihnen ragten die Kuppeln der beiden anderen Unterseeboote aus dem Wasser. Auf den Ufern dieses im Inneren des Felsens befindlichen Sees gingen etwa zwanzig Leute hin und her. Das war die Besatzung von Schiff Nummer drei, das vor den beiden anderen in die Insel eingelaufen war. In die Felswände waren Gänge eingelassen, die ebenfalls erleuchtet waren. All das erweckte den seltsamen Eindruck von etwas Unwirklichem.
Einige Männer, die am Ufer standen, sprangen in leichte Boote und ruderten zu Nummer zwei hinüber.
»Wenn ihr beliebt einzusteigen«, sagte der Korsar, »wird man euch an Land bringen, und«, so fügte er mit einem melancholischen Lächeln hinzu, »der Hausherr wird euch seinen Besitz zeigen, damit ihr diesen Palast der Natur kennenlernt, in dem wir auf die Ankunft der englischen Flotte warten werden.«
Die Passagiere stiegen in die Boote und setzten gleich darauf ihren Fuß auf den unterirdischen Strand der Goldinsel.
Von James Pack geführt, hatten die Passagiere von Nummer zwei das Labyrinth der Gänge betreten, die wie Flüsse von dem unterirdischen See ausgingen. Überall verjagte elektrisches Licht die Dunkelheit, und die sich kapriziös windenden, manchmal aber auch schnurgeraden Gänge, die mitunter nur einem allein erlaubten, sich in ihnen fortzubewegen, dann wieder ausnehmend breit wurden, glänzten, als seien sie mit Gold ausgelegt.
Überall funkelte das kostbare Metall, zog Linien oder unerwartete Arabesken. Hier glänzte der Felsen wie schieres Gold, dort funkelte der Quarz in vielen Farben. Es war ein Gleißen und Glitzern, und für jeden unglücklichen Abenteurer wäre dieser Anblick die Erfüllung eines Wunschtraums gewesen, den er vergeblich auf den Goldfeldern Australiens, Kaliforniens, in Guyana oder Klondike geträumt haben mochte.
Fasziniert und überwältigt ergingen sich die Gäste des Korsaren in tausend bewundernden Rufen.
»Aber Sie sind ja der reichste Mann der Welt!« rief Lavarède zu guter Letzt aus.
James zuckte mit den Schultern und erwiderte gleichgültig: »Ich denke schon.«
»Wie konnten Sie nur die Idee haben, hier mit der englischen Flotte zusammentreffen zu wollen? Wenn dieser Reichtum bekannt wird, werden Sie bald von Goldsuchern überschwemmt werden.«
»Nein.«
»Wieso nein?«
»Weil die Goldinsel mir gehört. Ich habe sie rechtens erworben, und niemand kann sich hier ohne mein Einverständnis niederlassen. Und ihr werdet euch selbst überzeugen, daß ich aus meinen Unterseebooten notfalls auch Torpedos abzuschießen vermag, die anderen schon beibringen werden, welche Rechte ich habe.«
»Zweifellos, zweifellos«, murmelte der Journalist überrascht. »Also sind Sie Eigentümer der Insel?«
»Ja.«
»Und England hat eingewilligt, sie dem Korsaren Triplex zu verkaufen?«
Bei dieser Frage huschte ein flüchtiges Lächeln über das Gesicht von James Pack.
»Nicht dem Korsaren Triplex.«
»Wem dann?«
»Dem, der ich war, bevor ich Korsar wurde; das heißt dem, der ich wieder sein werde, wenn ich nicht mehr Korsar bin.«
»Und wer ist das?«
Statt einer Antwort legte James den Finger auf seine Lippen, eine Geste, die bei seinem Gegenüber eine heftige Bewegung des Unmuts hervorrief.
»Wirklich, Sie sind zu neugierig«, bemerkte der Korsar mit einem Anflug von Ironie in der Stimme. »Es ärgert Sie, meinen Namen nicht zu wissen, wie?«
»Ob mich das ärgert? Ach, wissen Sie, ich mag einfach keine Geheimnisse, aber bitte, Sie legen die Spielregeln fest … Wenn ich übrigens in Sydney schon gewußt hätte, daß Sie selbst der Besitzer der Goldinsel sind …«
»Was hätten Sie dann gemacht?«
»Ich hätte nach London telegrafiert und mühelos den Namen ihres Besitzers rausgekriegt.«
Freundschaftlich schlug James dem Franzosen auf die Schulter. »Ich muß Ihnen etwas gestehen. Gerade daran habe ich nie gezweifelt.«
»Wirklich?«
»Und deswegen habe ich gewartet, um Ihnen mein Vertrauen zu beweisen, bis wir aus der Reichweite jeder Verbindung nach Europa waren.«
Offensichtlich machte er sich über Armand lustig; aber im selben Atemzug sagte er zu ihm: »Im übrigen, bedauern Sie nichts. Meine Aufgabe wird bald erledigt sein, und dann habe ich überhaupt keinen Grund, mein Geheimnis zu wahren.«
Mit diesen Worten schwenkte er in einen schmalen Gang ein, der zu einem großen Raum führte, in dem eine Maschine neben der anderen stand.
Die anderen folgten ihm. Ihnen kam es so vor, als ob sie sich in einer Fabrik befänden. Motoren, Schwungräder, Transmissionsriemen, Zylinder, Kabel, Schraubenschlüssel, nichts fehlte.
»Was ist das?« fragte Joan.
»Das ist die Bastion, die die Goldinsel verteidigt.«
»Die Bastion?«
»Ja, wenn ich diese Apparate betätige, öffne oder schließe ich den Zugang, der das Atoll mit dem Ozean verbindet.« Und da ihn alle erstaunt anblickten, nickte er nur und sagte: »So ist es, aber der Augenblick für Erklärungen ist noch nicht gekommen. Ihr werdet es später erleben. Im Augenblick möchte ich nichts weiter, als euch in eure Zimmer zu begleiten.«
Es hatte keinen Zweck, den merkwürdigen Mann überreden zu wollen, deshalb folgten ihm unsere Freunde durch das Labyrinth der Gänge. Nach einigen Minuten erreichten sie die gegenüberliegende Seite des unterirdischen Sees.
Die Höhle bot einen beeindruckenden Anblick. Die Kuppel wölbte sich in zweihundert Fuß Höhe und wurde von mächtigen Granitpfeilern gestützt, deren Fundamente im Wasser des Sees verankert waren. Inmitten des Sees lagen die drei Unterseeboote, deren Kuppeln stolz aus dem Wasser ragten, und zwischen ihnen und dem Ufer ruderten unentwegt Boote hin und her.
An einem Uferstreifen, der breiter war als das übrige Ufer, standen einige zerlegbare Holzhäuschen. Der Korsar zeigte darauf. »Eure Unterkünfte«, sagte er. »Ich hoffe, ihr seid zufrieden damit.«
Die Besichtigung der leichten Häuschen bot wiederum Anlaß zum Staunen. Sie waren wie Sommerhäuschen eingerichtet, nicht zu üppig und nicht zu karg, mit hellen Möbeln, und so waren sie so lustig und so komfortabel wie möglich. Deshalb war es nicht verwunderlich, daß Armand scherzend bemerkte, daß der Aufenthalt in der Höhle einem Sommer am Meer gleichkäme, ja, daß er letzterem eigentlich vorzuziehen sei, weil die solide Decke aus Felsgestein die Bewohner vor Regen schütze.
Jeder suchte sich sein Häuschen aus, und James Pack sorgte dafür, daß es ihnen an nichts fehlte. Dann kümmerte er sich um seine Matrosen, die sich einer für die Passagiere der Unterseeboote unverständlichen Beschäftigung widmeten.
Ab jetzt waren unsere Freunde ziemlich auf sich allein gestellt. Zu den Mahlzeiten brachten ihnen die Matrosen jeweils in einem Korb erlesene Leckerbissen, der Korsar allerdings zeigte sich selten. Sicher hatte er genug damit zu tun, alle Vorbereitungen für den Empfang der englischen Flotte zu treffen. Die Europäer waren also auf sich allein angewiesen.
Und deshalb spazierten Armand, Aurett und Joan, von der charmanten Maudlin geführt, durch die Domäne von James Pack. Das junge Mädchen hatte ihnen einen Gang gezeigt, der zu dem höchstgelegenen Punkt der Insel führte. Auf diesem Weg waren unsere Freunde auf den Felsen gelangt und konnten nicht nur die frische Meeresluft atmen, sondern hatten auch einen ausgedehnten Blick über die Insel.
Die Insel bestand überwiegend aus Felsen, die nur spärlich durch Taleinschnitte unterbrochen wurden. In diesen Einschnitten entwickelte sich allerdings eine muntere Flora, die vorwiegend aus Kokospalmen, Lianen und verschiedenen tropischen Hölzern bestand.
Neben der Felsspitze befand sich ein Plateau, auf dem das einzige Haus der Insel stand. Das Haus umgab ein Garten mit kurzgeschnittenem Rasen und gepflegten Wegen, und man hatte den Eindruck, sich in einem englischen Garten in Kalkutta oder Madras zu befinden, denn selbst wenn die Bewohner Großbritanniens Ort, Klima und Landschaft wechseln, bewahren sie doch alles, was ihre Eigenart ausmacht. Sie passen sich nicht dem Land an, in dem sie residieren, sondern sie passen das Land ihren Gewohnheiten an. Haus und Garten eines Engländers sind in Indien oder in Australien, in Kanada oder China genauso englisch wie an den Ufern der Themse.
Dort vergaßen die Reisenden sehr schnell, daß sie auf einer Insel festsaßen, einem winzigen Pünktchen in der unermeßlichen Weite des Ozeans.
Vergeblich versuchten sie, Lotia zu bewegen mitzukommen. Die Ägypterin schloß sich in ihrem Appartement ein. Dort saß sie einsam und blickte aufs Wasser des unterirdischen Sees, das von elektrischem Licht beleuchtet wurde. Merkte sie, wo sie war? Das war wenig wahrscheinlich, denn stets zuckte sie zusammen, wenn sich ihr Aurett oder Maudlin näherten und die Hand auf die Schulter legten. Ihre Züge wirkten eingefallen, das Gesicht war bleich, die Wangen hohl, und Robert wiederholte mit immer größer werdender Hoffnungslosigkeit: »Sie stirbt uns weg.«
Ja, sie würde sich zu Tode grübeln, und auch Robert konnte ihr kaum helfen. Sein Anblick hatte schmerzliche Folgen für sie. Wenn er auftauchte, begann sie zu zittern, ihre Augenlider zuckten, und so schnell sie konnte, eilte sie in ihr Häuschen, schloß sich dort ein und ließ sich den Rest des Tages nicht mehr blicken.
Einer allerdings war ständig um sie. Das war Niari, der ebenfalls darunter litt, daß sie allmählich verfiel, der aber mit keiner Regung des Mitleids verriet, daß er von seinen Plänen lassen würde. Seine Blicke, die er Robert zuwarf, waren beredt genug. Ja, seine Abneigung gegen den Franzosen, dem er nun auch noch die Schuld an Lotias Zustand zuschob, wuchs von Tag zu Tag. Manchmal zischte er, wenn er Robert irgendwo sah, vor sich hin: »Elender Giaur! Soll dich Osiris holen!«
Aber schlau und vorsichtig wie alle Orientalen ließ er sich davon nichts anmerken, wenn er meinte, er würde beobachtet, und niemand ahnte, welche Gedanken sein Hirn ausbrütete.
Aurett machte sich immer mehr Sorgen um Lotia. Eines Tages zog sie James Pack ins Vertrauen.
»Könnten Sie denn Ihre Vorbereitungen nicht einmal unterbrechen, damit wir einen Unterwasserausflug machen?« fragte sie. »Beim letztenmal war das das einzige, was sie ablenkte.«
»Wenn Sie meinen, daß ihr das helfen könnte, so bin ich einverstanden.«
»Ich danke Ihnen. Wann könnten wir auslaufen?«
»Morgen.«
»O fein. Ich werde die Neuigkeit gleich unseren Freunden mitteilen.«
»Tun Sie das. Morgen früh werden Sie meine Männer zur Nummer zwei bringen. Ich werde sehr tief tauchen, um Lotia möglichst zu schocken. Vielleicht hat das Erfolg. Denn ich muß Ihnen offen gestehen, auch ich mache mir schon lange Sorgen um ihre Gesundheit.«
Mit diesen Worten entfernte sich James, und Aurett erzählte Armand, was sie beschlossen hatten. Robert, Joan und Maudlin waren erfreut, denn auch ihnen war das monotone Einerlei der vorübergehenden Tage auf der Insel alles andere als angenehm.
Lotia wollte protestieren, aber ihre Freunde erklärten ihr in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, daß es eine persönliche Beleidigung ihres Retters James Pack sei, wenn sie ablehnte. Kurz, nach einer bewegten Nacht fanden sich am Morgen alle am Rande des unterirdischen Sees ein und warteten auf die Boote, die sie zum Unterseeboot bringen sollten.
Sie wunderten sich ein wenig, daß auch Niari mit von der Partie war; aber der Ägypter bat mit soviel Höflichkeit darum, an dieser Unterwasserexpedition teilnehmen zu dürfen, daß man ihm diesen Wunsch schwerlich abschlagen konnte.
War der Ägypter etwa dabei, umzudenken und von seinen ursprünglichen Plänen zu lassen? Ganz mit diesen Gedanken beschäftigt, achtete keiner der Passagiere darauf, mit welch merkwürdigem, ja fast feierlichem Gebaren der ehemalige Bedienstete von Thanis im Boot Platz nahm. Denn Niaris Gesicht schien versteinert. Es ähnelte eher einem Wächter der Tempelheiligtümer als einem Mann, dem es Spaß machen könnte, die Unterwasserwelt zu genießen.
Auf dem Deck des Unterseebootes erwartete der Korsar seine Gäste. Er bat sie in den Salon, die Luke wurde verschlossen, und das Boot tauchte langsam unter. Es glitt durch den Tunnel, stieg in der Bucht wieder an die Wasseroberfläche und schwamm durch die Barriere, die die Insel vom Ozean trennte.
»Hat dieser Golf denn schon einen Namen?« fragte Aurett ihren Gastgeber.
Die Frage schien den Korsaren zu überraschen, denn er antwortete: »Warum diese Frage?«
»Weil ich, falls er noch keinen hat, einen ausgedacht habe. Den Ihren, Sir James.«
»Leider«, murmelte der Angesprochene, »hat die Bucht schon einen Namen, der besser zu ihr paßt.«
»Und wie heißt sie?«
Schweigen. Offensichtlich zögerte Pack zu antworten.
»Was? Noch ein Geheimnis?« rief Lavarède mit gespielter Entrüstung.
»Nein.«
»Also …?«
»Dieser Golf trägt den Namen eines meiner Kampfgefährten. Des tapfersten, der mir immer wieder Mut gemacht hat, wenn ich schwankte. Es ist ein Zeichen der Dankbarkeit für ihn, obwohl ich ihn nicht gefragt habe, ob er einverstanden ist, und jetzt frage ich mich, ob ich nicht falsch gehandelt habe, ob mein Schweigen nicht als Schuld aufgefaßt werden könnte.«
»Sie haben noch nie etwas Tadelnswertes getan, mein Freund«, sagte Maudlin lachend, die James während der ganzen Zeit wie gebannt angeschaut hatte.
»Meinst du?« rief er aus und lachte ebenfalls. »Nun gut, Mr. Journalist, Notizblock raus, Geheimnis Nummer eins. Wir schwimmen in diesem Augenblick durch die Silly-Maudlin-Bucht.«
Alle klatschten, außer Maudlin, die verlegen den Kopf senkte. Aber der flüchtige Blick, mit dem sie unter zusammengekniffenen Augen den Korsaren anblickte, verriet, daß sie alles andere als verärgert war.
»Die westliche Spitze der Insel ist das Lord-Green-Kap!« fuhr James fort, »die gegenüberliegende die Joan-Spitze; und die Felszacken, die den Eingang zur Bucht bewachen, tragen die Namen von Freunden, die ich nie vergessen werde. Das ist der Lavarède-Felsen, der Robert-Stein, das sind die Lotia- und die Aurett-Klippen.«
Die Anwesenden lachten und klatschten, und Aurett sagte mit einem spitzbübischen Lächeln: »Es fehlt nur noch Ihr Name, Sir James, auf diesem kleinen geographischen Kalender.«
»Irrtum.«
»Aha.«
»Der Durchgang zur Bucht, der einzige, auf dem ein Schiff mit einigem Tiefgang die Bucht erreichen kann, hat meinen Namen erhalten.«
»Und wie heißt er?« fragte Armand, der hoffte, dadurch endlich den richtigen Namen seines geheimnisvollen Gastgebers zu erfahren.
Aber dieser lächelte nur und antwortete, als ob das die natürlichste Sache der Welt sei: »Die Korsar-Triplex-Passage.« Und ohne weiter auf den enttäuschten Gesichtsausdruck seiner Zuhörer zu achten, fuhr er fort: »Wir durchfahren sie gerade. Wenn ihr vor den Bullaugen Platz zu nehmen geruht, werde ich euch das Verteidigungssystem zeigen, das die Bucht vor einem Handstreich schützen kann.«
Armand war der erste, der vor den Bullaugen stand und einen Blick nach draußen warf.
»Aha, das ist es!« rief er aus. »Sie haben eine Unterwassereisenbahn gebaut. Denn ich erkenne deutlich Schienen, die anscheinend die Passage in ganzer Breite durchziehen.«
Das war richtig bemerkt, und die anderen, die ebenfalls an den Bullaugen standen, hatten denselben Eindruck wie der Journalist.
Das Unterseeboot schwamm durch die Passage. Auf dem Meeresgrund waren ganz deutlich Stahlschienen zu erkennen, die haargenau den üblichen Eisenbahnschienen glichen.
»Das wollte ich Sie sehen lassen«, bemerkte der Korsar.
»Aber wozu haben Sie diese Schienen dort unten verlegt?« fragte Armand.
»Das Ziel ist ausschließlich defensiver Art. Ich wollte die Passage nach Belieben öffnen und schließen können.«
»Die Passage schließen?« fragten die anderen.
»Genau. Stellen Sie sich vor, ein Schiff nähert sich, dessen Ankunft mir unangenehm ist. Es kann nur in der Bucht ankern, denn überall sonst ist die Küste voller gefährlicher Klippen, die vor allem um so gefährlicher sind, je weniger man sie sieht.«
»Das Schiff wird also eine Durchfahrt zur Bucht suchen«, unterbrach ihn der Pariser in seiner üblichen Ungeduld.
»Ja, doch es wird keine finden.«
»Weil …?«
»Weil auf den Schienen, die Sie eben gesehen haben, stählerne Loren entlanggleiten, die mit Felsen beladen sind. Ich habe Ihnen anläßlich Ihres ersten Rundgangs auf der Insel meine Elektrowerkstatt gezeigt. Es genügt, dort einige Hebel zu betätigen und dadurch Kontakte zu schließen, damit sich meine Loren in Bewegung setzen. Die Felsbrocken, die sie enthalten, haben genau die richtige Höhe, damit man von dem sich eventuell nähernden Schiff den Eindruck gewinnt, auch in der Passage brechen sich die Wellen. Das Schiff wird umkehren, und der Kapitän wird denken, daß es für ein Schiff mit größerem Tiefgang unmöglich ist, in die Bucht zu gelangen.« Und mit einem ironischen Unterton fügte er hinzu: »Wenn mein System bekannt würde, ließe sich damit jeder Hafen besser verteidigen als mit Torpedos.«
Inzwischen hatte das Unterseeboot die Passage durchquert und tauchte, ohne dabei seine Geschwindigkeit zu verringern, unmittelbar hinter der Insel in einen tiefen Graben, den der Ozean hier bildete. Das Manometer zeigte eine Tiefe von zweitausend Metern an, als Robert fragte: »Sind wir nicht schon da?«
»Ist gleich soweit«, erwiderte Pack, »noch zehn Minuten etwa, wir gehen heute auf zweitausendachthundert Meter hinab. Aber ich denke, wir sollten schon damit beginnen, unsere Taucherausrüstung anzulegen.«
Und so begaben sie sich in die Schleusenkammer, wobei die einen, nämlich die Frauen, daran dachten, wie hübsch der Korsar doch seinen Besitz benannt hatte, denn auf diese Weise würden sie alle sich auch später noch gern an dieses Abenteuer erinnern, da es ja auch geographisch fest verankert war; während die Männer – vor allem Armand – die Erfindungsgabe dieses Mannes bewunderten, dem es nur durch Willenskraft und Wissen gelungen war, das allmächtige England herauszufordern.
Unsere Freunde hatten gerade ihre Taucheranzüge angelegt, als die Motoren des Unterseebootes stoppten. Nummer zwei lag auf einem Sandbett auf dem Grund des Grabens, der die Cookinseln von Tonga trennt.
Wie man weiß, bezeichnet ein Graben die unterseeischen Erdverwerfungen, die im Pazifischen Ozean ganz beträchtlich sind. Kein Meer weist mehr Niveauunterschiede auf, und in keinem Meer sind die Einschnitte so tief. So wie zum Beispiel die von Jeffrey und Thompson entdeckten Gräben im Süden und Osten von Australien, der von Challenger und Vettore Pizani zuerst vermessene um die Inselgruppe der Karolinen und Mariannen, oder der Sundagraben, der Philippinengraben und andere, die in der Regel bis zu siebentausend Meter tief sind, wenn nicht noch tiefer, während die von Polypen geschaffenen Korallenstöcke auf den Plateaus nur bis tausend oder zweitausend Meter hinabreichen. Im französischen Teil Polynesiens – Tahiti, Marquesas, Tubuai, Gambier – sind die Korallen, unterstützt durch ständige vulkanische Vorgänge, bereits hundert Meter unter der Wasseroberfläche anzutreffen, und wenn der geologische Prozeß so weitergeht, wird binnen eines Jahrhunderts dort unten die Trikolore über einem Gebiet wehen, das etwa dreimal so groß wie Frankreich sein wird.
In einer dieser Pazifikgräben also hatte James Pack seine Freunde geführt. Die Taucheranzüge waren stark genug, daß sie den Druck aushielten, der in neuntausend Fuß Tiefe herrschte. Bald war man eingekleidet, die Schleuse füllte sich mit Wasser, und die Schleusenkammer öffnete sich.
Das Licht der Sonne reichte nicht bis in solch eine Tiefe. Aber man hatte an alles gedacht. In die Helme der Taucher waren elektrische Leuchten eingelassen, und diese mit Hilfe des Akkumulators gespeisten Lampen ersetzten das Sonnenlicht zwar nicht völlig, aber sie erlaubten den Frauen und Männern doch, unter Wasser genug zu sehen.
Zunächst erlebten unsere Freunde erst einmal eine Überraschung. Sie hatten von gelehrten Personen – die in schön geheizten Büros saßen und von dort die Meerestiefen studierten, ohne sie je zu Gesicht bekommen zu haben – sagen gehört, daß unterhalb achthundert Meter jegliche Vegetation verschwunden sei. Nun, jetzt spazierten sie in einer viermal größeren Tiefe, und die Felsen waren mit üppigen Pflanzen bedeckt. Das waren keine Algen mehr, kein Tang, kein Seegras; das hier war etwas anderes, und es war wunderschön. Es war eine Pflanzenart von gelatineartiger Konsistenz, in feine durchsichtige und vielfarbige Lamellen gefächert, die wie kostbare Steine wirkten. Diese fleischigen Gewächse, die die geringste Bewegung des Wassers in unendliches Wiegen und Wirbeln versetzte, funkelten im Schein der elektrischen Lichtquelle.
In diesem schillernden Dickicht schwammen merkwürdige Tierarten; die einen durchscheinend und ebenso aussehend wie die Pflanzen, von denen sie sich offensichtlich ernährten; die anderen bekannteren Arten ähnlicher, aber viel größer, was angesichts des immensen Druckes, in dem diese Tiere lebten, sicherlich unerläßlich war.
Diese Ungeheuer widmeten unseren Freunden übrigens nicht die geringste Aufmerksamkeit, und Armand sagte über die telefonische Anlage scherzhaft zu James Pack: »Ihre Fische sind ziemlich blasiert; unser Auftauchen scheint sie völlig kaltzulassen.«
»Sie ahnen nicht, weshalb?«
»Nein.«
»Daran sind unsere Lampen schuld. Meine Fische, wie Sie sie zu nennen belieben, halten uns für Sternoptychiden.«
Bei diesem barocken Namen mußte der Journalist passen.
»Pardon, wie sagten Sie?«
»Ich sagte Sternoptychiden.«
»Was ist denn das?«
»Das sind Fische, die fähig sind, den Ozeangrund zu beleuchten.«
»Zu beleuchten, ernsthaft?«
»Gewiß.«
»Was …? Diese Fische wären so eine Art Glühwürmchen der Tiefsee?«
»Noch besser. Die Leuchtstoffsubstanz, die sie über dem Kopf tragen, erzeugt wirklich einen elektrischen Strahl.«
Armand konnte nicht anders, er mußte lachen.
»Sie halten mich zum besten. Haben Sie denn schon mal solche lebenden Jablokows gesehen?«
»Nein. Sie fliehen vor uns, wenn sie unsere Lichter sehen. Oder knipsen einfach ihr Licht aus.«
»Ja, aber wie können Sie sich dann über ihre Existenz und ihre Funktion so sicher sein?«
»Über ihre Existenz, weil ich sie gefangen habe; über ihre Funktion, weil ich nachgedacht habe. Sie werden es gleich verstehen. Tiere, die dazu bestimmt sind, in Dunkelheit zu leben, wie Höhlenfische zum Beispiel, sind blind; oder, um genauer zu sein, ihre Sehorgane sind verkümmert.«
»Das weiß ich.«
»Gut. Nun, die Tiefseelebewesen haben alle Augen, was beweist, daß sie Licht kennen müssen. Die Sonne dringt jedoch nicht bis zu ihnen, daraus folgert, daß Fische, die mit einer elektrischen ›Drüse‹ ausgestattet sind, dieses Licht erzeugen. Und zu diesem Schluß sind übrigens auch Wissenschaftler gekommen, die solche Fische, die man in zwei- bis dreitausend Meter Tiefe mit Hilfe einer Fangsonde erbeutet hat, untersucht haben.«
Diesmal protestierte Lavarède nicht, aber bevor er die Verbindung unterbrach, hörte ihn James murmeln: »O wunderbare und rätselhafte Natur …, du hast elektrisches Licht vor unseren Ingenieuren erfunden, und zwar ohne kostspielige Apparate und ohne komplizierte Installation. Ein kleiner Fisch mit einer Leuchte. Und fertig ist die Lampe!«
Neue Gegenstände erregten die Aufmerksamkeit unserer Freunde. Die Natur des Meeresbodens änderte sich. Der Weg führte jetzt über ein wahres Steinchaos hinweg. Sicher hatte einmal ein Erd- (pardon, See‐) Beben die feste Erdkruste an dieser Stelle aufgerissen. Spitzzackige Felsen ragten wie Türmchen aus dem Gewirr, mächtige Blöcke bildeten eine Mauer; man konnte gern glauben, daß man sich inmitten der Ruinen einer einstmals im Sturm eroberten Stadt befand.
Und dann blieben alle mit einemmal überrascht stehen. Das Wasser um sie herum färbte sich rot, und die Lichtstrahlen wirkten, als ob sie durch eine Feuersbrunst drängen. Eine Handbewegung des Korsaren erklärte ihnen das Phänomen. Er wies auf den Meeresboden, auf dem eine Unzahl von Tieren wimmelte, die entfernte Ähnlichkeit mit unseren Schnecken hatten.
Über Telefon sagte er nur ein Wort: »Murex.«
Das war zuviel. Keiner der Reisenden wußte, daß Murex das Muscheltier ist, das Purpur erzeugt. Die Unterwasserspaziergänger waren mitten in eine Murexkolonie geraten. Bei jedem Schritt quollen rote Wölken bis zu ihren Köpfen empor.
Sie brauchten gut und gern eine halbe Stunde, bis sie das von den Mollusken belegte Gebiet hinter sich hatten. Der Boden fiel sanft ab, und sie folgten einem Einschnitt, der allmählich steiler und von Felsblöcken gesäumt wurde, deren Flanken dunkle Punkte zierten. Das waren Eingänge zu Höhlen, die gefährliche Gäste beherbergen mochten.
Robert glitt plötzlich in einen engen Spalt, den zwei riesige Blöcke gebildet hatten. Er wirkte wie eine Ameise, die in den Zwischenraum von zwei Pflastersteinen gefallen ist. Die Ursache für sein Handeln war ein bläuliches Leuchten, das er am Fuße des Gesteins wahrgenommen hatte. Und er hatte sich nicht geirrt. Dort war die blaue Grabenkoralle, die bisher nur den Gelehrten bekannt war und die sicherlich einmal zu einem begehrten Sammelobjekt der Snobs werden würde. Die Seltenheit der Koralle erklärte die Beflissenheit von Armands Cousin, sie zu »pflücken«. Er wollte sie Lotia schenken und hoffte dabei ein Lächeln von ihr zu ernten.
Er hatte sich schon gebückt. Schon legte sich seine Hand um die Korallenwurzel, um sie vom Fels zu reißen, da verhielt er wie gelähmt. Ein schwerer Gegenstand umgab ihn und drückte ihn kräftig gegen einen der Basaltblöcke, zwischen die er sich leichtsinnig gekauert hatte.
Mit wachsender Angst erkannte er, was ihn an den Felsen drückte. Ein Seil. Was bedeutete das?
Er brauchte sich das nicht lange zu fragen. Ein Taucher erschien neben ihm, und über das Telefon vernahm er die Worte: »Du bist uns hinderlich. Du hast Lotias Geist verdunkelt. Stirb hier von Niaris Hand.«
Er wollte etwas sagen, den Ägypter anflehen, der ihnen nur gefolgt war, um an ihm Rache zu nehmen; aber dieser hatte bereits die Verbindung gelöscht und sich schnell entfernt, um die anderen wieder zu erreichen, deren tanzende Lampen in dem trüben Wasser kaum noch zu erkennen waren.
Eisiger Schweiß stand Robert auf der Stirn. Hatten denn seine Freunde nicht bemerkt, daß er zurückgeblieben war? Sollte er hier allein bleiben, mitten im Graben, und dreitausend Meter Wasser zwischen seinem Kopf und der Oberfläche des Ozeans?
Nein, das war nicht möglich. Ein solches Ende war zu schrecklich. Er versuchte, von seinen Fesseln loszukommen. Der Strick gab zwar etwas nach, aber er hielt. Und vor ihm wurden die Lichter immer kleiner, bis sie nur noch ein Punkt waren und schließlich ganz verschwanden.
Robert war allein, ein Gefangener der Wassermassen.
Er stieß einen stummen Schrei aus, und ihm schien, als würde ihm ein schrecklicher Druck den Kopf zusammenpressen. Er verlor das Bewußtsein. Doch er blieb aufrecht stehen, von den Stricken gehalten, die ihn an den Felsen schnürten.
Wie lange dauerte seine Ohnmacht? Er selbst hätte es nicht zu sagen vermocht. Er öffnete die Augen wieder, entsann sich des Vorfalls und warf einen entsetzten Blick um sich. Der elektrische Lichtschein über seinem Kopf schnitt ein leuchtendes Dreieck in das Dunkel des Wassers, erhellte allerdings nur Felsgestein. In dieser unterseeischen Wüste lebte allein er.
Sein Herz preßte sich zusammen, und er dachte: Ich lebe zwar, aber wie lange wohl? Bei unserem Aufbruch hatte ich Sauerstoff für zwölf Stunden. Spätestens in sechs Stunden habe ich keinen mehr …
Trotz dieser niederdrückenden Gedanken versuchte er noch einmal, seine Fesseln zu sprengen. Hoffte er auf etwas? Auf jeden Fall trieb ihn der Überlebensinstinkt dazu, alles zu versuchen. Er stieß beinahe einen Freudenschrei aus, als er feststellte, daß sich der Strick weiter lockerte. Also waren Niaris Knoten nicht die allerbesten. Zunächst vorsichtig, dann stärker führte er eine Hin-und-her-Bewegung aus, wobei er das Seil über eine Felskante schabte. Bald hatte er einen Strick durchgescheuert, ein anderer folgte, und nach kurzer Zeit gelang es dem jungen Mann, die Fesseln von seinen Gliedern zu streifen.
Etwa eine Minute lang war er von überschäumender Freude erfüllt. Er war frei, doch fast im selben Augenblick wurde ihm die Sinnlosigkeit seines Kampfes bewußt. Frei! Welch Scherz! Frei in der Weite des Pazifiks unter einem Wasserberg, der so hoch war wie der Montblanc. Seine Freiheit bestand darin, daß er sich setzen konnte, um zu sterben.
Und dennoch. Er war allein, richtig; seine Gefährten waren verschwunden, richtig; aber wenn er ihren Spuren folgte, könnte er sie vielleicht doch erreichen. Natürlich. Er mußte unter allen Umständen den eingeschlagenen Pfad wiederfinden. Er verließ sein Gefängnis endgültig, ja er steckte sogar die blaue Koralle ein. Warum sie liegenlassen, wenn er sie doch Lotia überreichen wollte. Nach fünf Minuten freilich war er wieder am Beginn seiner Hoffnungslosigkeit.
Er hatte nicht überlegt, nicht nachgedacht und machte sich deswegen jetzt Vorwürfe. Spuren …! Als ob es davon welche gäbe in dreitausend Meter Tiefe und bei einem Druck von dreihundert Atmosphären, der die stärksten Dampfmaschinen wie Kartenhäuser zusammenpressen würde.
Nein, der Boden war überall eben, ohne auch nur das Anzeichen einer Spur. Und im selben Augenblick dachte er daran, daß es James Pack und Armand ebenso ergehen würde. Vielleicht hatten sie seine Abwesenheit schon bemerkt. Aber wie sollten sie ihn suchen, wie überhaupt ihren zurückgelegten Weg wiederfinden?
Er drehte sich noch einmal um. Gewissenhaft prüfte er den Boden. Nichts. Angestrengt blickte er in das trübe Wasser. Am Rande der erleuchteten Zone glaubte er etwas zu erkennen. War das … Nein, er irrte sich nicht. Das waren keine Menschen. Nur – was war es dann?
Er war unfähig, »es« zu benennen, doch es schien ihm das Schrecklichste zu sein, was er je gesehen hatte. Es war etwas, das im trüben Wasser keine festen Konturen hatte, schattenhaft wirkte. Vielleicht war es gar nur seine Einbildung?
Instinktiv wich der Franzose zu dem Felsspalt zurück, aus dem er sich eben befreit hatte. Er glitt wieder zwischen die beiden Steine. Dort verschnaufte er erst einmal. War er hier in Sicherheit? Seine rechte Hand krampfte sich um die elektrische Klinge. Er war bereit, gegen dieses Wesen zu kämpfen, das er zwar nicht kannte, aber, dessen war er sich sicher, das ihn angreifen würde. Er fühlte, wie ihm ein eiskalter Schauer den Rücken herunterrann, wie seine Zähne kastagnettenartig klapperten; er wußte nicht, was sein Gegner war, nein, wirklich nicht. Dennoch ahnte er, es war ein Ungeheuer, das in ihm seine Beute sah.
Er mußte erst einmal dieses Tier deutlich sehen. Langsam richtete er den Strahl seiner Lampe auf die Finsternis, die ihn umgab. Er wollte es sehen – und er sah es. Es war entsetzlicher als alles was er sich je vorgestellt hatte.
Es war kein Ungeheuer, was da im. Strahl seiner Lampe vor ihm auftauchte, es war eine ganze Armee von wunderlichen, grotesken und schrecklichen Tieren. Die in allem dem Menschen überlegene Natur schien beweisen zu wollen, daß der Erfindungsreichtum eines Bosch oder Callot gegenüber ihrer Schöpfung nur armselige Kopien waren. Was die vor Schreck weit aufgerissenen Augen Roberts betrachteten, das war keine Vision des Horrors und des Wahnsinns. Das war der Horror und der Wahnsinn selbst.
Da waren riesige Krabben mit Scheren, die fähig schienen, ein Pferd zu zerschneiden, die ihre staksigen, mehrere Meter hohen Spinnenbeine langsam durch den Sand zogen … Weiter entfernt konnte er Schalentiere ausmachen, deren Körper wie der eines Hummers war, breit wie ein Faß, und in einem kleinen, schlangenartigen Schwanz endete. Von der anderen Seite näherten sich formlose Wesen, die er nicht einmal annähernd zu benennen wußte – eine schwabblige, ständig mit Lamellen wirbelnde Masse. Diese Wesen hatten eine Länge von zehn bis zwölf Metern. Sie wirkten wie riesige Taschen, die zwei Löcher hatten, in denen meergrüne Augen blitzten und unter denen sich eine größere, mit Saugnäpfen bestückte Öffnung befand … Das mußte der Schlund dieses Tieres sein. Und diese Fettmassen schlierten langsam auf den Franzosen zu.
Zum Glück waren diese Monster zu groß, als daß sie in den Spalt zu dringen vermochten, hinter dem sich der Unglückliche verborgen hatte. Aber die Tiere umgaben das Gestein. Oben, rechts und links von ihm sah der junge Mann nur weit aufgerissene Mäuler und Zangen, die versuchten, ihn zu packen. Mit seiner elektrischen Klinge schlug er die angriffslustigsten der Tiere zurück. Durch seinen Metallhelm nahm er die seltsamen Geräusche wahr, die das Schmatzen der Schlünde und das Kratzen der Zangen auf dem Gestein verursachten.
Unermüdlich teilte er seine elektrischen Schläge aus. Das war wie im Rausch, und er wirkte wie der tötende Sensenmann selbst. Plötzlich merkte er, wie aus der oberen Spalte seines Verstecks langsam eine sich öffnende Schere einer Riesenkrabbe auf ihn zukroch, die ihn im nächsten Augenblick packen würde. Sie schloß sich … glücklicherweise war es Robert gelungen, sich zur Seite zu wälzen, die große Klaue griff ins Leere, doch hatte sie die auf seinem Helm befestigte Lampe dabei zerschnitten.
Nun war er ohne Licht. Völlige Dunkelheit umgab ihn. Er sah nichts mehr, doch hörte er das Scharren und Schmatzen seiner Gegner.
Sollte er zugrunde gehen, ohne sich verteidigen zu können, ohne seinen Vorrat an Elektrizität verbraucht zu haben? Nur, weil er seine Gegner nicht mehr sah? Doch nein, ein Lichtschein tanzte auf dem Wasser, dann noch einer, und wieder einer. Plötzlich tauchten aus der ihn umgebenden Dunkelheit flackernde Lichter auf. Sie kamen auf ihn zu, entfernten sich wieder, flammten auf, verloschen; es war die nimmermüde Farandole der Sternoptychiden. Die leuchtenden Fische erhellten das Schauspiel vom Tod des Franzosen.
Wie rasend betätigte Robert die elektrische Klinge. Er stach auf alles, was sich bewegte. Doch wie er auch zustechen mochte, er hatte das Gefühl, jeder gelähmten Zange wuchs eine neue nach, jedem verbrannten Schlund entsprang ein neuer … Er merkte, wie die Spannung seiner Klinge nachließ. Die Funken wurden kürzer. Einer noch, dann noch einer – ein getroffenes Ungeheuer, dann nichts mehr! Vergebens drückte Robert die Knöpfe des Kontaktgebers. Der Kämpfer hatte seine Munition aufgebraucht … Das Spiel war aus!
Überall krochen jetzt bedrohlich aufgeklappte Zangenarme auf ihn zu. Robert kauerte sich nieder, kroch in sich zusammen, machte sich so klein wie möglich, um die Zangen nicht zuschnappen zu lassen. Einen Schritt vor seinem Gesicht, vor seinem Körper tasteten sich zögernd spinnenartige Gliedmaßen an ihn heran … Es war unerträglich; er fühlte, daß er in den wenigen Augenblicken, die er noch zu leben hatte, vor Angst wahnsinnig werden würde.
Er schloß die Augen, um nichts mehr zu sehen.
Plötzlich schrie er laut auf – er meinte wenigstens, laut aufgeschrien zu haben. Man ergriff ihn an den Armen, er wurde emporgerissen. Verloren! Stumpfsinnig verharrte er und verstand nicht, was er sah. Er fragte sich, ob der Wahnsinn nicht vielleicht schon von ihm Besitz ergriffen habe.
Die Ungeheuer waren verschwunden, Taucher umringten ihn. Es waren seine Freunde, die ihn wiedergefunden hatten. James Pack kannte das Gebiet sehr gut; manches Mal schon hatte er den Graben, der westlich vor der Goldinsel lag, erkundet. Und nun hatte er den verstörten Freund wiedergefunden.
Robert war am Ende seiner Kräfte. Schwer schleppte er sich, von James und Armand gestützt, zum Unterseeboot Nummer zwei. Erst als man ihm den Taucheranzug ausgezogen hatte und ihn in den Salon führte, kam er allmählich wieder zu Kräften. Er wirkte verstört, sein Gesicht war kreidebleich. Aber das hinderte ihn nicht daran, Lotia eine wunderschöne blaue Koralle zu überreichen.
Wir verzichten darauf, die Wut zu beschreiben, die die Passagiere befiel, als sie von Niaris verbrecherischem Anschlag erfahren hatten.
James Pack mußte seine ganze Autorität in die Waagschale werfen, um seine Gäste daran zu hindern, den Ägypter zu lynchen. Wenn er das Leben des Schuldigen schonte – der übrigens gegenüber allen Drohungen unempfindlich schien –, so nur deshalb, weil er sich versprach, daß der Ägypter früher oder später nicht umhin käme, sich länger gegen eine Verbindung Lotia–Robert zu sträuben. Andererseits brauchte er den Ägypter noch als möglichen Zeugen im Prozeß gegen Allsmine. Man beschloß, Niari auf der Goldinsel unter Arrest zu stellen.
Wie man sich denken kann, hatte keiner mehr Lust, einen Unterwasserausflug zu machen. James Packs Gäste fühlten sich außerstande, noch einmal so etwas zu erleben.
Sie gaben sich also damit zufrieden, die Insel zu durchstreifen, vor allem den hoch gelegenen Park. Lotia hatte sich wieder wie vor dem Unterwasserspaziergang in ihrer Behausung eingeschlossen, und nichts vermochte sie zu bewegen, mit ihren Freunden die Zeit totzuschlagen.
Armand war hinter einem neuen Geheimnis her, das heißt, es war eigentlich das alte.
»Wer ist denn der Besitzer des Hauses, das auf dem Hochplateau steht?« fragte er eines Tages den Korsaren.
»Es gehört einem Gentleman.«
»Daran zweifle ich nicht, aber wo ist er? Obwohl tadellos in Schuß, scheint das Haus unbewohnt.«
»Im Augenblick ist es das auch.«
»Werden wir denn den Eigentümer auch einmal zu Gesicht bekommen?«
»Sicher.«
»Und wann?«
»In einigen Tagen. Er wird bei Ankunft der englischen Flotte von seinem Haus Besitz ergreifen.«
Mehr sagte Triplex nicht. Man kann den Ärger des Journalisten sicher begreifen. Sollte Dante Alighieri auf die Erde zurückkehren, so müßte er seinem Höllenkreis einen achten hinzufügen – den Kreis des Mysteriums, in dem Frager, die während ihres Erdendaseins nicht weise gewesen waren, im Jenseits die peinigenden Schmerzen ungestillter Neugier erfahren müßten.
Armand vergaß alles: Lotias Bedrücktsein, Roberts Verzweiflung. Er verbrachte ganze Tage auf dem hoch gelegenen Plateau der Goldinsel und suchte mit dem Fernglas den Horizont ab. Er erwartete die englische Flotte mit fieberhafter Ungeduld, da ihre Ankunft ihm endlich erlauben würde, den Namen des Eigentümers der Villa zu erfahren.
Inzwischen hatte er wohl versucht, irgendeinen Hinweis zu finden; aber die Vorsichtsmaßnahmen waren zu gut. Die Türen des Hauses waren verschlossen, und durch die Fenster hindurch konnte er keinerlei Möbel entdecken. Armand zerbrach sich vergebens den Kopf, wie das Haus eingerichtet sein mochte; um es zu erfahren, hätte er ins Haus einbrechen müssen. Und wir müssen gestehen, daß er immerhin mit dieser Idee spielte, doch da bescherte ihm der Zufall ein Indiz. Es war an einem Morgen, an dem er noch ungeduldiger als sonst schon früh seine Unterkunft verlassen hatte. Im Park lief er nervös auf und ab, als sein Blick auf einen Korb fiel, der am Rande des Rasens stand.
Dickfleischige Pflanzen, die in Europa nur in Gewächshäusern gedeihen, waren dort eingepflanzt und trieben wunderliche Blüten. Der Journalist stieß einen Schrei des Triumphes aus. In der Mitte des Korbes war, von roten Blumen eingerahmt, ein Zeichen angebracht, und dieses Zeichen formte die Initialen J. P.
»J. P.«, rief er aus. »Verflixt. Ich habe es gefunden. J. P. James Pack. Ich werde ihm gleich meine Entdeckung unter die Nase reiben!«
Schon im voraus von der Überraschung entzückt, die er jetzt dem Korsaren machen würde, eilte er die Treppen zu dem unterirdischen See hinab, an dessen Strand er den Korsaren beschäftigt wußte.
»Guten Tag«, sagte er gutgelaunt zu ihm. »Ich muß Ihnen meinen Dank abstatten.«
»Mir?« fragte der Bucklige.
»Ja, Ihnen.«
»Und weswegen?«
»Wegen des Stillschweigens, das Sie über den Eigentümer des Häuschens auf dem Plateau gewahrt haben.«
Der Korsar lächelte.
»Sie wollen mich doch nicht etwa zu einer Indiskretion überreden?«
»Ganz und gar nicht, aber ich bin selbst hinter den Namen gekommen. Und das schmeichelt mir natürlich.«
Zur größten Überraschung Lavarèdes schien diese Mitteilung James Pack alles andere als zu erstaunen.
»Wirklich?« erwiderte er so gleichgültig wie möglich. »Erzählen Sie.«
»Nun«, sagte der Journalist mit einem leichten Anflug von Ärger, »ein Blumenkorb im Park enthielt seine Initialen.«
»Und wie sind die?«
»J. P.«
Unbewegt fragte James: »Und was schließen Sie daraus?«
»Daß der Eigentümer und Mr. James Pack ein- und dieselbe Person sind.«
Während er das sagte, blickte er sein Gegenüber herausfordernd an. Doch war sein Triumph nur von kurzer Dauer. James lachte lauthals los.
»Ich wundere mich nicht mehr, wenn die Reporter als erfinderisch gelten«, sagte er schließlich. »Ihrer Meinung nach kann J. P. nichts anderes bedeuten als James Pack? Erlauben Sie, daß ich widerspreche. Diese Buchstaben entsprechen etwas ganz anderem.«
Verbittert blickte ihn Armand an.
»Haben Sie noch ein wenig Geduld, Armand. Ich verstehe ja Ihre Neugier. Bei Ankunft der englischen Flotte bringe ich Ihre und meine Freunde in sicheren Kellern im Inneren der Insel unter. Sie allein dürfen in die Villa kommen. Dort werden Sie Sir J. P. vorgestellt werden, der mir überhaupt nicht ähnelt, und Sie dürfen an seiner Seite allen weiteren Ereignissen beiwohnen und, wenn Sie wollen, die Exklusivrechte der Berichterstattung über das weitere Vorgehen für Frankreich bekommen. Was halten Sie von diesem Arrangement?«
»Einverstanden. Nur noch ein Wort. Ist dieser Monsieur J. P., Ihr Verbündeter, auch Ihr Freund.«
»Sie werden sehen.«
Und mit diesen Worten entfernte er sich.
Aber er stürzte Armand mit dem Versprechen nur in neue Unruhe. Denn dieser kletterte von nun an jeden Tag bereits in der Frühe auf das Plateau und suchte mit dem Fernrohr die einsame Meeresoberfläche ab.
Aber wie sehr er auch den Ozean absuchen mochte, es zeigte sich kein Schiff. Und da er nachts schlecht auf dem Plateau bleiben konnte, begab er sich nach Einbruch der Dunkelheit wieder in seine Unterkunft. Er schlief freilich schlecht. Wirre Träume suchten ihn heim. So sah er sich einmal mitten in einem weiten Saal. Mehrere Türen führten aus diesem Saal heraus. Doch sie waren mit Eisenriegeln, gewaltigen Vorhängeschlössern und Barren verrammelt. An jeder Tür hing ein Schild, auf dem man lesen konnte: Geheimnis Nr. 1, Geheimnis Nr. 2, Geheimnis Nr. 3 und so weiter. Und wenn sich der Journalist einer der Türen näherte, tauchte statt des Schildes das grinsende Gesicht von James Pack auf.
Das war unerträglich.
Armand stand auf, kleidete sich an und verließ seine Unterkunft. Alles schlief. Kein Laut drang aus den Zimmern seiner Freunde. Ohne genaues Ziel stieg der Franzose die Granittreppe empor, die in den Keller der Villa auf dem Plateau führte. Von dort erreichte er den Park. Noch war es Nacht, aber die Sterne am Himmel wurden schon bleicher, und am Horizont kündete ein allmählich heller werdender Streif den baldigen Anbruch des Tages an.
Ein berauschender Duft erfüllte die Luft. Mit schüchternem Gezwitscher bereiteten sich die Vögel auf den schmetternden Singsang vor, mit dem sie die Sonne begrüßen würden; aus dem Gras ertönte ein Zirpen, als ob die aus dem Schlaf erwachten Pflanzen und Gräser sich in Erwartung des nahen Tages räkelten. Dann erklang ein Brummen. Also auch die Insekten waren soweit, den ersten Sonnenstrahl, der genau in diesem Augenblick am Horizont aufblitzte, zu begrüßen. Bei diesem Zeichen setzte das große Konzert des Lebens ein. Vogelsang, Blätterrauschen, Fliegengesumm intonierten die morgendliche Hymne für den Stern aller Sterne, dessen Flammenauge auf den dunklen Planeten fiel und ihn zu neuem Leben anregte.
Durch die Harmonie dieser strahlenden Morgendämmerung besänftigt, hatte sich Armand in eine Ecke des Parks zurückgezogen, die als felsige Plattform über die Klippen ragte. Er träumte, und seine poetische Seele war an diesem Morgen eins mit der ihn umgebenden Natur.
Plötzlich zuckte er zusammen, beugte sich nach vorn und spähte in die Ferne. Zu dumm, daß er sein Fernrohr nicht dabei hatte. Er rieb sich die Augen erneut und blickte angestrengt nach Norden. Eine lange Minute stand er so und schaute. Dann riß er jubelnd die Arme empor, tanzte auf dem Plateau umher und juchzte vor Freude laut auf.
»Ich irre mich nicht! Das sind Rauchfahnen, die Flotte …, die englische Flotte. Ich werde Pack informieren. Nein, besser noch nicht, ich muß ganz sicher sein.«
Eine halbe Stunde beobachtete er noch. Es war kein Zweifel mehr möglich. Dampfschiffe näherten sich der Goldinsel. Armand zählte fünfzehn. Seiner Sache mehr als sicher, lief er zu der Villa und stieg so, wie er heraufgekommen war, die Treppe wieder hinab. Auf halbem Weg mußte er eine Gruppe von Matrosen vorbeilassen, die, mit Paketen beladen, nach oben gingen. Er drückte sich an die Felswand, um sie vorbeizulassen, und setzte dann seinen Weg fort. Als er den Fuß der Treppe erreichte, stieß er auf zwei weitere Matrosen, die hier als Wachtposten standen.
»Wo ist der Kapitän?« fragte er sie.
»Er ist auf dem Meer«, antwortete einer der Männer. »Er beobachtet die englische Flotte, die gestern abend signalisiert wurde.«
»Gestern abend?« fragte der Journalist erstaunt.
»Ja, und unser Befehl lautet, niemand hier heraufzulassen außer Ihnen.«
»Aha.«
Der Korsar hielt also sein Versprechen. Lavarède beeilte sich, seine Freunde zu benachrichtigen, und nachdem das geschehen war, machte er wieder kehrt, nicht ohne vorher noch den Damen versprochen zu haben, sie zu informieren, falls etwas Außergewöhnliches geschehen sollte.
Robert wollte ihn begleiten, aber die Wachtposten verwiesen auf ihren Befehl und ließen ihn nicht durch. Sein Cousin jedoch kletterte nun zum zweitenmal an diesem Tag die Treppe empor und befand sich auch bald im Keller der Villa. Diesmal war jedoch die Tür geöffnet, die ins Vestibül des Hauses führte. Armand ließ die Tür zum Park links liegen und betrat die weite Vorhalle der Villa. Erstaunt blickte er sich in ihr um, als plötzlich ein korrekt in Schwarz gekleideter Butler auf ihn zutrat.
»Habe ich die Ehre, vor Sir Armand Lavarède zu stehen?« fragte dieser.
»Ja, doch, gewiß, der bin ich«, antwortete der Journalist, der durch dieses plötzliche Auftauchen eines solchen Bediensteten überrascht war.
»Sehr gut. In diesem Fall darf ich Sie bitten, im Salon Platz zu nehmen. Dort wird Sie mein Herr empfangen, er wünscht sehnlichst, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Dem Pariser schlug das Herz bis zum Halse.
»Ihr Herr ist also angekommen?«
»Gewiß, mein Herr.«
In wenigen Sekunden würde er dem Mann gegenüberstehen, der ihn so beschäftigt hatte. Er betrat den Salon. Doch schon an der Schwelle hielt er überwältigt inne. Einen solchen Luxus hatte er noch nie gesehen. Der Saal nahm die ganze Höhe des Hauses ein, er mußte an die fünfzehn Meter lang und zwölf breit sein. Meisterwerke der Malerei, der Bildhauerei und der Keramik schmückten die Wände oder standen auf Sockeln. Riesige japanische, chinesische und aztekische Vasen waren mit Palmen und anderen exotischen Pflanzen bestückt, deren Blätter und Zweige einen smaragdgrünen Baldachin formten; Möbel aus allen Zivilisationen waren zu sehen: assyrische Stühle, ägyptische Schemel, chinesische Tischchen, Renaissancekonsolen mischten sich in erstaunlicher Harmonie.
Es war ein Museum, aber ein lebendiges Museum, ein Museum mit einer Seele. Es war wie eine Vision aus Tausendundeiner Nacht, die ein Mensch verwirklicht hatte. Es war die Umformung des königlichen Metalls der Goldinsel in gediegenen Luxus.
Und wie Lavarède mit klopfendem Herzen noch all diese Herrlichkeiten bestaunte, öffnete sich plötzlich eine Tür, und herein trat der Herr über all diesen unermeßlichen Reichtum.
Armand musterte ihn neugierig. Der Mann war ihm unbekannt. Ein wenig größer als James Pack, sehr nobel, mit dickem braunem Haarschopf. Ein feiner und sorgfältig geschnittener Bart umrahmte Kinn und Wangen und hob die Mattheit des Teints noch hervor. Er hatte ein gewaltiges, löwenähnliches Haupt und war von unnachahmlicher Eleganz. Und da zweifellos die Natur in ihm die Reichhaltigkeit ihrer Gaben unterstreichen wollte, blickten aus seinem Antlitz zwei sanfte, lebendige und zärtliche Augen.
Gewandt verbeugte er sich vor dem Journalisten und sagte mit angenehm klingender Stimme: »Sir Armand Lavarède, vermute ich.«
»Er selbst, Sir.«
»Entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle.«
Lavarède spitzte die Ohren. Endlich würde er wissen, wer sich hinter J. P. verbarg.
»Sir Joe Pritchell heißt Sie willkommen«, fuhr sein Gegenüber fort.
Und ohne dem Journalisten Zeit zu lassen, etwas zu erwidern, sprach er weiter.
»Ich habe heute morgen Instruktionen von einem gemeinsamen Freund erhalten.«
»Von welchem Freund?«
»Korsar Triplex.«
Armand hatte diese Antwort erwartet, dennoch zitterte er unmerklich, als er fragte: »Sie wissen, wer das ist?«
»Aber ja. Er ist mein ergebenster Freund, was ich ihm ebenfalls beweise, indem ich seine Befehle getreu befolge.«
»Aber seine wirkliche Eigenschaft, kennen Sie die auch?«
»Vielleicht. Sie stellen die Fragen derart, daß es mir unmöglich scheint, sie exakt zu beantworten.«
Bei diesen Worten zuckte Lavarède nur mit den Schultern und murmelte: »Schon wieder Geheimnisse.«
»Die sich bald aufklären werden, haben Sie ein wenig Geduld, und hören Sie zu.«
Mit einer Handbewegung gab der Journalist zu verstehen, daß er ganz Ohr sei.
»Kapitän Triplex hat mich informiert«, sagte Joe Pritchell, »daß Sie neugierig seien, er aber volles Vertrauen in Sie hat; er wünscht, daß Sie mir nicht von der Seite weichen. Als erstes werden Sie mich zu der Unterredung begleiten, die ich mit Lord Strawberry., dem Admiral der englischen Pazifikflotte, haben werde.«
»Ein Treffen. Wo? Wann?«
»Das werden Sie sehen. Wozu zweimal dieselben Sachen wiederholen. Die Zeit drängt übrigens. Im Augenblick sind die Schiffe in der Triplex-Passage und erreichen gleich die Silly-Maudlin-Bucht. Wenn Sie wollen, werden wir dort die Flotte erwarten.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte Mr. Pritchell auf einen Knopf. Daraufhin erschienen zwei Bedienstete.
»Alles bereit?« fragte der Herr der Insel.
»Alles, Sir.«
»Dann los.«
»Kommen Sie, Monsieur«, sagte er, während er sich zu dem Franzosen umdrehte. »Das Geheimnis, dem Sie auf der Spur sind, wird sich vor Ihren Augen nach und nach lösen.«
An Pritchells Seite verließ Armand die Villa, durchquerte den Park und stieg an der nördlichen Seite des Plateaus auf einer bis jetzt für ihn verborgen gebliebenen Treppe die Klippe zur Bucht hinab.
Der Eigentümer der Villa hatte recht. In der Bucht lagen exakt ausgerichtet die englischen Kreuzer nebeneinander.
Plötzlich quoll über einem der Schiffe ein Rauchwölkchen empor, ein Kanonenschuß ertönte, der als Echo von den Felswänden zurückgeworfen wurde, und die englische Flagge wurde am Hauptmast des Kreuzers, auf dem der Schuß abgegeben worden war, gehißt.
»Sie teilen Ihre Bereitschaft für das Treffen mit«, murmelte Pritchell, »jetzt ist es an uns, zu antworten.«
Er zog einen Revolver und schoß in die Luft. Einer der sie begleitenden Bediensteten entrollte eine weiße Fahne und steckte sie in den Sand.
»Die Fahne der Parlamentäre!« rief Lavarède aus.
Doch sofort schwieg er wieder, denn über ihm donnerte mit einemmal ein Kanonenschuß los.
»Was ist denn das?« fragte er.
»Das ist unser Gruß für die britische Flagge«, erwiderte Pritchell.
Armand schüttelte den Kopf. Da hatte er nun, wie er glaubte, die Insel nach Strich und Faden abgesucht, aber weder war ihm die Treppe aufgefallen, auf der sie über den Park zur Bucht hinabstiegen, noch irgendeine Öffnung, die darauf schließen ließ, daß dahinter Kanonenrohre herausragten. Wo, zum Teufel, hatte Triplex diese Batterie nur versteckt?
Er drehte sich zu Joe Pritchell um und wollte ihn fragen, dieser dagegen legte lächelnd einen Finger auf die Lippen und zeigte auf ein Ruderboot, in dem vier Matrosen saßen und das hinter einer Felsbiegung bisher ihren Blicken verborgen war.
»Wir werden uns an Bord des Kreuzers begeben, auf dem die Admiralsflagge weht.«
Wortlos folgte Lavarède den dreien. Die Ruderer legten, als sie das Boot betreten hatten, sofort ab und wandten sich an das betreffende Schiff.
Es war eins jener gepanzerten Schiffe, die weniger einem Schiff als einer mittelalterlichen Festung gleichen. Die imposante Silhouette des Schiffes hob sich dunkel vor dem Himmel ab, aus den gepanzerten Türmen ragten bedrohlich die langen Rohre der Geschützbatterien.
Unwillkürlich schauderte es den Journalisten beim Anblick dieser eisernen Masse. Die schwimmende Festung würde allerdings, falls das James Pack in den Sinn käme, im Handumdrehen durch ein Unterseeboot versenkt werden, ohne sich verteidigen zu können. Und wenn er daran dachte, daß die Boote des Korsaren eine Erfindung des Franzosen Gourbet waren, so empfand er ein Gefühl von Stolz, in den sich allerdings auch Trauer mischte.
Warum nur hatte sich Frankreich nicht die Erfindung des Genies zunutze gemacht? Dank dieser Erfindung hätte es ein Mittel in der Hand gehabt, um der Vorherrschaft Englands auf den Meeren zu begegnen. Mit dem Geld, das man für den Bau von vier Panzerkreuzern brauchte, hätte man eine Flotte von zweihundert Unterseebooten schaffen können, die, vor Frankreichs Küsten und seinen Kolonien patrouillierend, die stärkste Flotte in die Knie gezwungen hätte.
Während er noch darüber nachdachte, hatte die Schaluppe am Schiff des Admirals festgemacht. Joe und Armand wurden am Fallreep von einem Offizier empfangen, der sie schweigend zu Lord Strawberry führte. Der große, ehrfurchtgebietende Mann erwartete sie in seiner Befehlshaberkajüte.
Liebenswürdig erwiderte er den Gruß der Besucher und sagte dann, wobei er Joe Pritchell offen ins Gesicht blickte: »Sie also haben der Pazifikflotte dieses Treffen vorgeschlagen, Sir?«
»Nein, Mylord.«
»Wieso nein?«
»Ich bin Sir Joe Pritchell, Eigentümer der Goldinsel, und ich erfülle im Augenblick nur eine Mission, um die mich Korsar Triplex brieflich gebeten hat. Korsar Triplex wurde mir nie vorgestellt.«
Trotz seines militärischen Phlegmas konnte der Admiral seine Verwunderung nicht gänzlich verbergen.
»Sie haben den Korsaren noch nie gesehen?«
»Weder er noch ich kennen uns von Angesicht zu Angesicht.«
»Dennoch haben Sie erlaubt, daß man auf Ihrem Besitztum Kanonen aufgestellt hat. Oder was hat uns bei unserer Ankunft begrüßt?«
»Man hat mich nicht um die Erlaubnis gebeten, diese Dinger hier aufzustellen.«
»Man hat sie also gegen Ihren Willen errichtet?«
»Nein, Mylord, nicht gegen meinen Willen, sondern ohne mich zu fragen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Daß noch heute morgen nichts für das Vorhandensein von Kanonen auf meinem Anwesen sprach. Der Salut für die englische Flotte überraschte mich mehr als sonst jemand.«
Der Admiral verzog mißmutig die Lippen.
»Wollen Sie behaupten, daß Sie davon nichts wußten? Das klingt sehr unwahrscheinlich.«
»Es ist auch für mich unerklärlich«, sagte Pritchell ruhig, »da ich unablässig meinen Besitz inspiziere. Ich kann Ihnen nur noch einmal versichern, daß ich nichts bemerkt habe. Ich lade Sie nach unserer Unterhaltung gern ein, mit mir auf die Insel zu kommen und die Stelle ausfindig zu machen, von der die fraglichen Schüsse abgegeben wurden.«
Er sagte das so ernsthaft, daß Lord Strawberry, der unmöglich den Doppelsinn von Pritchells Worten ahnen konnte, überzeugt war, daß jener die Wahrheit sagte. Hatte nicht der Korsar, seit sein Name in aller Munde war, für soviel Verwirrung gesorgt, daß es schon an Dünkel grenzte, dem Besitzer der Insel vorzuwerfen, es an der sorgfältigen Überwachung seines Besitzes habe fehlen zu lassen?
»Sei es, wie es sei, Sir«, erwiderte der Admiral, »ich nehme Ihre Einladung an. Wollen Sie bitte zum Gegenstand Ihrer Mission kommen.«
»Gegenstand ist das richtige Wort, Mylord, denn es handelt sich um einen Brief.«
»Ein Brief, der Ihnen überreicht wurde?«
»Ja.«
»Können Sie mir sagen, wie?«
»Gerade das kann ich nicht, Mylord. Als ich heute morgen aufwachte, fand ich ihn auf meinem Tisch. Meine Bediensteten, die ich deswegen befragte, erklärten, ihn nicht hingelegt und auch keinen Fremden gesehen zu haben, der dies getan haben könnte.«
»Sie müssen zugeben, das klingt phantastisch!«
»Rätselhaft und ärgerlich, Mylord. Es hat mich so verwirrt, daß ich kaum mein Frühstück anrühren konnte.«
»Dennoch haben Sie befolgt, was in dem Brief stand?«
Joe Pritchell lachte.
»Hätten Sie sich an meiner Stelle mit diesem unsichtbaren Teufelskerl angelegt, den man Triplex nennt, Mylord?«
Bei dieser Frage errötete der Admiral, aber statt einer Antwort fragte er selbst: »Und der Brief?«
Pritchell griff in seine Tasche, zog einen Umschlag heraus, auf dem stand:
Für Sir Joe Pritchell Goldinsel
Er öffnete den Umschlag, zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus, strich es glatt und las:
»Nach Erhalt dieses Schreibens wird sich Sir Joe Pritchell an Bord des Flaggschiffes der in der Silly-Maudlin-Bucht versammelten englischen Pazifikflotte begeben.« Er unterbrach sich. »Was geschehen ist«, sagte er und fuhr in seiner Lektüre fort: »Er wird Lord Strawberry fragen, ob entsprechend unserer Abmachung der Direktor der Pazifikpolizei, Toby Allsmine, an Bord ist.«
Joe blickte auf und schaute sein Gegenüber an.
»Ich stelle Ihnen hiermit diese Frage«, sagte er langsam.
»Und sicher haben Sie verschiedene Instruktionen, je nachdem, wie die Antwort ausfällt?« sagte der Admiral barsch.
Zweifellos mißfiel ihm der Ton, in dem der Brief des Korsaren abgefaßt war.
Aber Pritchell schien die schlechte Laune Strawberrys nicht bemerkt zu haben, denn er fuhr gelassen fort: »Sie haben es erraten, Mylord. Hören Sie, was mein geheimnisvoller Korrespondent weiter schreibt: Falls Allsmine anwesend ist, so wollen Sie Lord Strawberry und seine Offiziere heute abend zum Essen bitten. Ich werde mich den Herren zeigen und den Schuldigen entlarven.«
Wieder blickte Pritchell den Admiral an.
»Darf ich Sie zum Diner bitten, Mylord?«
»Nein, denn Allsmine ist nicht bei uns.«
Joe verbeugte sich und blickte wieder in den Brief.
»In diesem Falle möchte ich Seine Lordschaft bitten, das schnellste seiner Schiffe nach Sydney zu schicken, um den Direktor der Polizei zur Goldinsel zu holen.«
Ein Zucken lief über das Gesicht des Admirals, seine Augen funkelten zornig, und mit zusammengepreßten Lippen belferte er: »Wie, Korsar Triplex gibt der englischen Flotte Befehle? Diesen unbotmäßigen Ton dulde ich nicht. Meine Schiffe werden unverzüglich die Anker einholen. Die Unterredung ist beendet. Wir laufen aus. Und Sie, Sir, kehren auf die Insel zurück und richten Ihrem Brieffreund aus, daß die Offiziere der englischen Marine nur von der Admiralität und der Königin Befehle erhalten. Guten Tag.«
Joe lächelte. Er trat an das Bullauge, beugte sich nach draußen und sah, daß seine Schaluppe backbord neben dem Kreuzer lag. Der Bedienstete, der die weiße Fahne trug, stand im Heck.
»He«, schrie er ihm zu, »die Fahne runter!«
»Was tun Sie da?« fragte ihn der Admiral.
»Ich erfülle die letzte Weisung im Brief des Korsaren.«
»Und wie heißt die?«
»Im Falle der Weigerung bitte ich Sie, die weiße Fahne senken zu lassen. Und wenn Sie dann bitte gemeinsam mit dem Herrn Admiral zu der Passage blicken wollen, die ins offene Meer führt …«
»Die Fahne hat sich gesenkt«, sagte Pritchell, »und jetzt schaue ich zu der Passage.«
Britische Admiräle sind stolz, aber auch neugierig. Und noch bevor Pritchell zu Ende gesprochen hatte, blickte der Admiral mürrisch zu den klaren Wassern der Passage, dem einzigen Zugang zur Insel. Aber sein mürrischer Gesichtsausdruck wich erst Ungläubigkeit, dann blankem Entsetzen. Dort geschah etwas Unglaubliches.
Die Felsen bewegten sich ja! In Bruchteilen von Sekunden war die Passage verschwunden. Statt der ruhigen See brachen sich an dieser Stelle die Wellen des Ozeans und zeigten an, daß auch hier die Klippen wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche begannen.
Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Die Anwesenden begriffen, daß man die Bucht eben abgeriegelt hatte. Die Pazifikflotte war in der Bucht der Goldinsel gefangen!
Armand entsann sich der Schienenstränge, die er auf dem Meeresgrund entdeckt hatte, als sie mit Unterseeboot zwei hinausgefahren waren. Triplex öffnete oder schloß die Passage nach Belieben. Aber es blieb ihm nicht viel Zeit zum Überlegen. Neben der Schaluppe blubberte es im Wasser, ein durchdringendes Pfeifen ertönte, und auf der Brücke des Panzerkreuzers landete ein Gegenstand, den ein Matrose unverzüglich in die Admiralskajüte beförderte.
Dieser Gegenstand war ein Holzei. Pritchell nahm es in die Hand, öffnete es und zog einen Zettel heraus, den er dem Admiral reichte, wobei er mit einem ironischen Unterton in der Stimme bemerkte: »Eine Depesche für Lord Strawberry.«
Dieser war noch nicht ganz Herr seiner Sinne und griff mechanisch nach dem Zettel. In seiner Verwirrung las er laut vor, was darauf stand:
»Ehrenwerter Lord,
zu meinem großen Bedauern sehe ich mich veranlaßt, jede Verbindung zwischen der Bucht und dem offenen Meer abzuschneiden. Da sich Ihre Flotte durchaus als gefangen betrachten darf, man ihrer dagegen ganz gewiß bald anderen Ortes bedarf, gehe ich wohl nicht fehl in der Annahme, daß Sie nunmehr einverstanden sein werden, ein Schiff nach Sydney zu schicken, um den Verbrecher Allsmine herbeizuschaffen. Diesem Schiff wird sich die Durchfahrt öffnen. Ich bedaure den Vorfall ganz außerordentlich, aber der Gerechtigkeit ist jedes Mittel recht, und ich handle im Namen der Gerechtigkeit.
Korsar Triplex
P. S. Der von Ihnen bezeichnete Kreuzer kann die Passage unbehelligt passieren. Ich werde seinen Kurs aufmerksam verfolgen und nur diesem Schiff die Durchfahrt gestatten, keinem anderen.«
Lord Strawberry vergaß sein Phlegma und bekam einen veritablen Wutanfall. Dann ließ er sämtliche Beiboote des Flaggschiffs zu Wasser bringen und zu der Stelle fahren, an der sich eben noch die Durchfahrt befunden hatte; offensichtlich glaubte der Admiral an Zauberei, an einen ganz gewöhnlichen Trick, der auf bloßer Illusion beruhte.
Doch nach Rückkehr der Boote wurde auch diese Hoffnung zunichte. Es gab keine Durchfahrt mehr. Dort, wo früher eine fünfzehn Meter tiefe Wasserrinne gewesen war, ragten jetzt Felsblöcke empor. Das war verrückt, unwahrscheinlich, aber es war eben so.
An Bord hielt man Rat, und man mußte einsehen, daß es kein anderes Mittel gab, sich den Wünschen des Korsaren zu widersetzen. Und so wurde noch am selben Tag der Leichte Kreuzer Wing nach Sydney geschickt. Und wie der Korsar versprochen hatte, öffnete sich diesem die Durchfahrt.
Es würde mindestens einen Monat dauern, bis er wieder zurück sein könnte. Während dieser ganzen Zeit lag die Flotte in der Bucht fest. Was blieb Lord Strawberry weiter übrig, als die Einladung Pritchells, ihn auf die Insel zu begleiten, anzunehmen. So schiffte er sich mit einigen seiner Männer ein und setzte seinen Fuß auf die Insel. Sie bezogen in der Villa Quartier. Von dort aus unternahm er eine regelrechte Treibjagd, aber nirgends fand er auch nur die Spur einer Geschützbatterie. Nirgends auch entdeckte er ein Indiz für die Anwesenheit des Korsaren.
Nach acht Tagen gab er die nutzlose Suche auf. Ein Offizier hatte ihm gesagt, daß der Korsar offensichtlich über ein Unterseeboot verfügte und sich ruhig in der Bucht verstecken könnte, während man auf Land nach ihm suchte. Das allerdings war für den Admiral ein Grund, in der Bucht nach ihm zu suchen. Alle mit Schleppnetzen ausgestatteten Schiffe der Flotte warfen diese aus, um die Bucht abzusuchen. Ihre Beute bestand zwar aus Korallen und Muscheln in den wunderbarsten Farben und jeder Menge Fisch. Aber nichts davon ähnelte einem Unterseeboot.
Trotz der zuvorkommenden Gastfreundschaft, die Joe Pritchell in seiner Villa dem Admiral und dessen Offizieren angedeihen ließ, trotz aller Aufmerksamkeit, mit der er seine Gäste umgab, war der Admiral über das Verschwinden des Korsaren so erzürnt, daß er schließlich demjenigen eine Prämie von tausend Pfund Sterling versprach – Offizier, Matrose oder Kanonier –, der Triplex’ Versteck aufspürte.
Armand merkte, daß Joe, als er von der Absicht des Admirals hörte, still in sich hineinkicherte. Wußte der Eigentümer der Insel mehr, als er zugab?
Bei passender Gelegenheit fragte ihn der Journalist danach.
»Aber ja, natürlich weiß ich, wo er steckt«, sagte Joe und konnte sein Lachen kaum bezähmen. »Was so komisch daran ist, mein Lieber – Lord Strawberry begegnet dem Korsaren wohl zwanzigmal am Tag. Und dafür zahlt er auch noch Prämie, hahaha!«
»Was, der Korsar ist unter uns?«
»Na sicher.«
»Aber wo? Und wann?«
»Ach, mein Bester, darauf kann ich Ihnen nicht antworten. Kriegen Sie es selbst raus. Folgen Sie dem Admiral, vielleicht kann er besser gucken als Sie.«
»Eine Prämie von tausend Pfund! Donnerwetter, wenn ich die gewinne, dann kann Ich meinen Abschied nehmen. Ich würde mir in Sussex ein Häuschen kaufen, denn von dort stamme ich, einen kleinen Bauernhof, und ich würde mir auch eine arbeitsame und sparsame Frau zulegen und meine Tage friedlich und pfeiferauchend beschließen.«
Nach dieser Erklärung blies Korporal Cody Ezechiel Kiddy seine Backen auf, tippte den Zeigefinger der rechten Hand an die faltendurchfurchte Stirn und stürzte sich in einen Abgrund des Nachdenkens.
Aus Sussex gebürtig, war Kiddy einer jener alten Soldaten, die dazu beigetragen haben, Englands Ruhm auf den Meeren zu begründen. Seine Bildung war eher schlecht als mittelmäßig, er schrieb so miserabel, daß es Tage gab, an denen ihn sein Maat zu den Analphabeten zählte. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, daß dieser Haudegen nach einundzwanzig Dienstjahren, nach vierzehn Schlachten, elf Verletzungen, nachdem er zwei Finger der linken Hand, einen der rechten, ein Ohr und die halbe Nase eingebüßt hatte, immer noch nicht mehr als Korporal war.
Wenn seine Stellung bescheiden war, so war es doch nicht sein Charakter. Kiddy gehörte nicht zu den Leuten, für die Offizierstressen ein Zeichen von Intelligenz und Aufrichtigkeit sind. Gern kritisierte er seine Vorgesetzten, und für seinen Spruch war er bei der ganzen Flotte bekannt: »Wenn der Admiral schlau genug wäre, einen alten Hasen um Rat zu fragen, würde er weniger Dummheiten machen.«
Politisch schalt er die Regierung, die nicht daran dachte, die monatliche Rente der Korporale im Ruhestand um fünf Shilling zu erhöhen. Ein »großer Mann« war für ihn jemand, dessen Lederzeug perfekt glänzte; ein guter Boxer war für ihn ein Held, und Verstand war gleichbedeutend mit: Gewehrschuß.
Er war ein Simpel, den die midshipmen einen Gimpel nannten. Die Jugend zeigt eben nie Mitleid.
Kiddy also überlegte. War es der Mangel an dieser Tätigkeit, oder mußte man die Temperatur dafür verantwortlich machen: Der Korporal schwitzte jedenfalls entsetzlich. Endlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben, und nachdem er sich das Gesicht mit einem karierten Taschentuch abgewischt hatte, das so groß wie ein Kinderbettbezug war, machte er sich auf den Weg zu Lord Strawberry, der zu diesem Zeitpunkt bereits wieder auf dem Flaggschiff weilte.
Drei Schritt vor seinem obersten Befehlshaber blieb er stehen, knallte die Hacken zusammen, riß die Hand an seinen Toquo-Polo und wartete. Der Admiral schaute ihn lächelnd an und fragte gutgelaunt: »Was willst du?«
»Wenn Euer Ehren die Chose nicht mißfällt, möchte ich ein Boot und vier Männer zu meiner Verfügung.«
»Und wozu brauchst du die?«
»Dazu, Euer Ehren. Ich werde die Insel von innen und außen erforschen. In dem Augenblick, wo die Felsen marschieren, muß sie ja jemand in Bewegung setzen. Den will ich finden. Ich bringe ihn zu Euer Ehren, und die Prämie gehört mir.«
Das Lächeln des Admirals wurde breiter.
»Und du meinst, du hast Erfolg?«
»Das denke ich«, erklärte Kiddy und reckte sich stolz. »Erfolg hängt von Nachforschung ab. Und meiner Meinung nach kann er soviel Korsar sein, wie er will, einen alten Seemann führt er nicht an der Nase herum.«
»Nun gut, mein tapferer Kämpfer. Nimm dir das Metall-Boot und noch einige Matrosen dazu.«
»Nein, nein, Euer Ehren. Ich meine vier Kanoniere, das reicht, wir brauchen keine Hilfe weiter.«
»Wie du willst. Viel Glück auf den Weg.«
Der Korporal grüßte wieder exakt wie bei seinem Erscheinen, machte kehrt und begab sich ins Zwischendeck, wo seine Kanoniere schwatzend oder kartenspielend beieinandersaßen und sich die Zeit vertrieben. Er spazierte zwischen den Männern hindurch und schien zu überlegen, wen er für das Unternehmen auswählen sollte.
Dann entschied er sich und rief: »Mic, Piff, Mach und Flok.«
Die Angesprochenen hoben den Kopf und antworteten unisono: »Hier!«
»Nehmt eure Gewehre, Patronen dazu und folgt mir.«
Einen Augenblick später wurde die Schaluppe zu Wasser gelassen, und der Korporal Kiddy sprang mit seinen vier Kanonieren hinein.
»An die Ruder!« kommandierte er.
Als das Boot einige Längen von den Kreuzern entfernt war, sagte Kiddy zu den Männern mit der Autorität eines Napoleon gegenüber seinen Truppen: »Meine Kinder, wir sind im Begriff, die Prämie zu erobern. Das heißt, die Prämie ist für mich, aber jeder von euch erhält zehn Pfund. Ich mache keine unnützen Worte mehr, ihr habt verstanden. Sperrt die Augen auf.«
Dieses Muster an Beredsamkeit spornte natürlich die vier an, und Kiddy befahl, Kurs auf die Klippen zu halten, die die Bucht umgaben.
Die Schiffe mit schwerer Tonnage konnten hier natürlich nicht hindurch, aber für ein leichtes Beiboot, das kaum einen Fuß Tiefgang hatte, war das sicher kein Problem. Und so verließ der Korporal die Reede und umschiffte die Insel, um sich zu vergewissern, daß es nicht irgendeine Grotte oder eine Felsspalte gab, die es Korsar Triplex erlaubte, sich zu verstecken. Wie man sieht, war der für gewöhnlich ein wenig komische Mann auf dem Wasser ganz in seinem Element.
Die Soldaten waren durch die in Aussicht gestellte Belohnung erfreut, und bald hatten sie die Insel umrundet und kehrten zu der Stelle der Passage zurück, an der Kiddy die künstlichen Klippen vermutete. Die Schaluppe kurvte vorsichtig zwischen den Granitspitzen hindurch, und zunächst konnte die Mannschaft noch glauben, daß das Unternehmen keinerlei Risiko berge. Die ersten Klippen waren umschifft, und bald schon befand sich das Boot mitten in der Passage, die nun versperrt war und die englische Flotte gefangenhielt.
Aber da geschah etwas Unerwartetes. Eine Felsklippe ragte direkt vor der Schaluppe empor. Kiddy packte die Ruderpinne, um dem Hindernis auszuweichen. Zu seiner Überraschung gehorchte jedoch das Boot dem Ruder nicht und hielt direkt auf die Klippe zu.
»Nach hinten!« schrie er.
Die Männer gehorchten, obwohl sie noch versuchten, das Boot anzuhalten. Doch wahrscheinlich gab es hier eine Strömung, die ihre Anstrengung vergeblich werden ließ. Zehn Sekunden vergingen. Das Boot war dicht an der Klippe; anstatt des starken Stoßes, den Kiddy erwartete, bemerkte der Korporal freilich nur ein leichtes Knirschen. Dann steckte die Schaluppe unbeweglich inmitten der Felsklippe.
»Uff!« murmelte der Korporal. »Das ging noch mal gut. Macht das Boot wieder flott!«
Sofort stemmten sich die Ruderer gegen den Granitblock und versuchten, indem sie all ihre Kräfte anstrengten, das Boot wieder flottzumachen. Vergebens! Es rührte und regte sich nicht. Man hätte meinen können, eine unsichtbare Kraft hielte es an dem Felsen fest.
Sie starrten sich mit einem Anflug von Entsetzen im Gesicht an. Was denn? War das Boot etwa verhext? Was zog sie denn so unwiderstehlich zu den Felsklippen?
Plötzlich tauchte eine riesige, mit einem Lederhandschuh bekleidete Hand aus dem Wasser und hielt sich an der Bordwand der Schaluppe fest; unmittelbar darauf ragte eine runde Kugel, auf der sich die Sonne spiegelte, über die Bordwand. Die verwirrten Kanoniere, die nicht wußten, was ein Taucheranzug war, ließen ihre Ruder los und bedeckten sich die Gesichter. Kiddy wich so erschreckt zurück, daß er von der Ruderbank ins Hintere der Schaluppe purzelte.
Als er sich wieder aufgerappelt hatte, war die Erscheinung verschwunden, aber an der Stelle, wo sie über die Bordwand geblickt hatte, steckte ein Dolch. Und dieser Dolch spießte ein Blatt Papier auf. Nachdem es Kiddy mit einiger Anstrengung gelungen war, den Dolch aus der Bordwand herauszuziehen, las er erstaunt, was auf dem Zettel stand:
Um euch herum sind lauter Elektromagneten angebracht. Wir werden euch von dem Felsen, an dem ihr klebt, wieder losmachen, aber wir raten euch, kehrt unverzüglich in die Bucht zurück. Falls ihr darauf besteht, das offne Meer zu erreichen, werden wir ernsthaft böse. Ihr habt erlebt, wie euer Boot angezogen wird. Genausogut könnte es auch in die Tiefe gezogen werden.
Es gab keine Unterschrift auf diesem Zettel, trotzdem zweifelte keiner der Soldaten daran, daß dahinter Korsar Triplex steckte. Kiddy wollte von seinem Vorhaben, ihn aufzuspüren, nicht ablassen, Mic, Piff, Mach und Flok dagegen weigerten sich, weiterzurudern. Gewiß, sie waren tapfere Soldaten, doch keiner von ihnen fühlte sich berufen, gegen diesen Teufel von Korsaren zu kämpfen, der so stark war, daß er sogar ein Ruderboot festhalten konnte.
Übrigens trennte sich das Boot schon beim ersten Versuch von dem Felsen und konnte ohne neuerlichen Zwischenfall in die Bucht zurückkehren. Allerdings wollte der Korporal nicht auf das Flaggschiff zurückkehren. Er hatte sich gegenüber Lord Strawberry zu zuversichtlich gezeigt, als daß er gleich beim ersten Hindernis aufgeben wollte.
Der Weg auf die hohe See war ihm versperrt, nun gut, dann würde er es eben mit seinen vier Getreuen auf dem Land versuchen. Er würde die Insel um- und umkrempeln, die Büsche durchkämmen, die Felsspalten absuchen und früher oder später ganz gewiß den Unterschlupf dieses verdammten Korsaren entdecken, der ihnen bisher seinen Willen diktiert hatte. Denn das hatte es noch nicht gegeben, daß ein hergelaufener Korsar einem Korporal Seiner Huldreichen Majestät Befehle erteilte.
Kurz, die Schaluppe landete bald darauf an der Stelle des Strandes, an der sich Lavarède mit Sir Joe Pritchell eingeschifft hatte, und die kleine Besatzung sprang an Land.
Alles in allem war den Soldaten fester Boden unter den Füßen lieber als die schwankende Planke eines Schiffes, und einmal auf der Insel, fühlten sie sich gleich zehnmal stärker und mutiger als auf den Wellen des Ozeans.
Von ihrem Korporal geführt, setzten sie sich in Marsch. Quer über die mit Steingeröll gesegneten Abhänge und durch die mit Baumdickicht bestandenen Täler drangen sie vorwärts, Augen und Ohren aufgesperrt.
Aber vergeblich klopften sie mit ihren Gewehrkolben die Felsen ab, umsonst schlugen sie mit ihren Buschmessern durch Lianen- und Dornengestrüpp einen Weg, völlig nutzlos riskierten sie, sich auf den schmalen Pfaden und Stegen der Klippen den Hals zu brechen, von einer Unterkunft des Korsaren keine Spur!
Währenddessen stieg die Sonne immer höher. Es war bald Mittag. Die Hitze machte den Männern zu schaffen, denn sie hatten sich seit Tagesanbruch nicht einen Augenblick Ruhe gegönnt. Die Nachforschungen wurden weniger eifrig geführt, mühsam schleppten die Männer ihre Beine nach, und selbst Kiddy wischte sich mit einem großkarierten Taschentuch unablässig die schweißtriefende Stirn. Der Korporal vermutete, daß dem Korsaren wahrscheinlich irgendeine Grotte als Unterschlupf dienen mochte. Und damit kam er der Wahrheit immerhin beträchtlich nahe.
»Wir müssen eine Stelle finden, wo wir auf den Gipfel der Klippe gelangen können. Dort machen wir halt und ruhen uns erst einmal aus.«
Durch die Aussicht auf baldige Ruhepause stimuliert, legten die Soldaten einen Schritt zu. Bald auch erreichten sie eine Einbuchtung, von wo ein direkter Pfad auf den Gipfel der Felsklippe zu führen schien. Sie machten sich an den Aufstieg. Nach einiger Anstrengung hatten sie den Gipfel erreicht. Auf der anderen Seite bot sich ihnen der Anblick eines schattigen Tales, in dem ein Bach munter rauschte. Ein schmaler Trampelpfad führte von der Spitze der Klippe zu ihm. Er wirkte wie eine Einladung an die Männer.
Fünf Minuten brauchten sie noch, dann saßen sie an dem rauschenden Bach. Sie holten etwas zu essen aus ihren Feldbeuteln: kaltes Roastbeef, Trockengemüse und zur Stärkung der Seele Gin, den jeder in seiner Feldflasche mit sich führte.
»Eßt!« forderte sie der Korporal auf und tat sich selbst an seinem Roastbeef gütlich.
»Trinkt!« sagte er, als das Roastbeef verzehrt war. »Auf Ihre Majestät Queen Victoria!« rief er aus und griff hinter sich, wo seine Feldflasche auf dem Rasen lag.
Aber seine Finger tasteten ins Leere.
Verwundert wandte der tapfere Soldat den Kopf, drehte sich vollends um, kniete nieder und suchte die Stelle ab, auf der er – das wußte er genau – seine Feldflasche abgelegt hatte. Doch er sah nichts weiter als Gras und Moos. Seine Feldflasche war verschwunden.
Und wie er seine Untergebenen so anschaute, da bemerkte er, daß deren Gesichter zumindest genauso verblüfft wie sein eigenes waren.
»Was denn …?« fragte er.
»Meine Feldflasche«, begann Mic.
»Verschwunden!« fuhr Piff fort.
»Gestohlen!« vermutete Mach.
»Kein Gin mehr«, seufzte Flok mit erbärmlicher Stimme, deren Trauer sogar das Moos seufzen ließ.
Die fünf Engländer glotzten sich blöde an.
»Sollte das wieder einer von den Scherzen dieses Korsaren sein?« fragte der Korporal schließlich.
Die Soldaten schüttelten den Kopf.
»Das ist schäbig. Das tut ein Gentleman nicht. Man tötet seine Feinde in allen Ehren, aber, zum Teufel! man trinkt ihnen nicht den Schnaps weg!«
»So was Hinterhältiges!« schimpfte auch Kiddy los. »Es bleibt uns nichts weiter übrig, als Wasser aus dem Bach zu unserer Mahlzeit zu trinken.«
Gesagt, getan.
Sie knieten sich am Ufer des Baches nieder und tranken in kräftigen Zügen von dem klaren Wasser. Dann kehrten sie zu ihrem Platz zurück. Dort erwartete sie eine weitere Überraschung.
Die Feldflaschen waren wieder da. Einschließlich Gin.
Sie rieben sich die Augen, schauten einmal, zweimal, kosteten. Nichts dagegen zu sagen …, der Gin war Gin.
Ein ausgiebiges Glucksen in ihren Kehlen bewies, daß sie diesmal auf Nummer Sicher gingen und den Schnaps lieber in ihre eigenen Kehlen rinnen ließen, als daß ihn ein anderer bekäme. Falls jemand Appetit auf leere Feldflaschen haben sollte – na bitte. Und da Gin in diesen Mengen bekanntlich müde macht, war es nur zu natürlich, wenn sie jetzt ein kleines Nickerchen hielten. Das sah auch ihr Vorgesetzter, der eifrige Kiddy, ein.
Zufrieden streckten sie sich auf dem Moos aus. Jetzt hieß es Kräfte sammeln, um neuen Widerwärtigkeiten unerschrocken gegenübertreten zu können. Denn der englische Soldat ist der beste auf der Welt, das weiß schließlich jeder, allerdings muß er gut essen, besser trinken, ausreichend schlafen und wenig marschieren.
Und bald bewies auch ein wonniges Schnarchen, daß die fünf Helden dem Ruf der englischen Armee alle Ehre machten.
Unmittelbar neben den friedlich Schlafenden rückte plötzlich ein Busch zur Seite und gab den Blick auf eine Höhle frei, in der zwei lachende Gesichter zu erkennen waren. Das waren Joe Pritchell und Armand Lavarède.
»Nun«, sagte der Besitzer der Insel, »ich denke, das hat Sie ein wenig amüsiert.«
»Ich habe Tränen gelacht. Diese Insel ist ja mit einer wirklichen Theatermaschinerie ausgerüstet.«
»Oh, ganz und gar nicht. Ein natürlicher Gang führt von der unterirdischen Grotte bis zu diesem Punkt. Mein ganzes Verdienst bestand nur darin, die Soldaten durch nicht zu übersehende Hinweise bis zu diesem Punkt geleitet zu haben.«
»Ich verstehe nicht.«
»Nun, das ist ganz einfach. Sehen Sie, dieser Pfad, der den Gipfel der Klippe mit dem Bächlein verbindet, den habe ich heute morgen erst anlegen lassen. Wenn sich jemand in einem Gebiet befindet, das er nicht kennt, wird er immer einen ausgetretenen Pfad dem Dickicht vorziehen, weil er annimmt, daß dieser Weg irgendwohin führt.«
»Das ist richtig.«
»Nun, das ist das ganze Geheimnis. Seit sie an Land gegangen sind, folgen diese tapferen Soldaten Pfaden, die ich entsprechend den Instruktionen von Korsar Triplex angelegt habe.«
Armand lächelte.
»Gestatten Sie eine Frage«, sagte er. »Warum gehorchen Sie Kapitän Triplex?«
»Ich gehorche, weil mir in diesem Falle das Gehorchen ausgesprochenes Vergnügen macht«, sagte Pritchell und erwiderte Lavarèdes Lächeln.
Dann wandte er sich an die Männer, die ihm folgten, und sagte: »Also los, Jungs, tut, was wir vereinbart haben.«
Gegen vier Uhr wurde Korporal Kiddy munter. Er empfand ein Gefühl unerklärlichen Wohlbehagens. Die Temperatur schien ihm gefallen zu sein, als hätte man ihn aus der subtropischen in eine angenehmere Klimazone transportiert. Er richtete sich auf, gähnte ausgiebig und murmelte: »Wir müssen zurück an Bord. Morgen können wir weitersehen.«
Er stand auf.
»He! Holla, Jungs! Auf, auf, los!«
Doch plötzlich hielt er inne.
»Nanu, bin ich denn blöde!«
Er blickte erneut zu seinen Männern, rieb sich die Augen und sagte mit wachsender Empörung: »Diese Burschen sind wohl verrückt geworden! Haben die sich einfach ausgezogen! Nur im Hemd …, und das im Dienst!«
Was diese Entrüstung hervorrief, das war das Aussehen der vier Kanoniere. Sie schliefen wie die Engel und hatten, sicher, um weniger unter der Hitze zu leiden, Uniformbluse und Hose abgelegt. Wütend wollte Kiddy sie wecken und zur Räson bringen, aber als er aufsprang, streifte ihn ein Zweig am Bein. Er blickte an sich hinab und blieb wie angewurzelt stehen.
Auch er hatte nur sein Hemd an.
»Das, das, das ist …«, stotterte er, »… das Stärkste, was …, und ich habe es nicht einmal bemerkt.«
Gott sei Dank schlafen sie, dachte er, also kann ich meine Uniform wieder anziehen, ohne daß sie es merken, denn ein Korporal im Hemd sieht nicht gerade autoritär aus.
Und sich immer wieder fragend, wie ihm das nur passieren konnte, machte er sich auf die Suche nach seinen Uniformstücken.
Nach fünf Minuten Suche wurde ihm klar, daß sich seine Sachen nicht auf der Lichtung befanden. Ihm blieben nur sein Hemd, seine Schnürstiefel, seine Feldmütze, sein Gürtel und sein Gewehr.
Das gleiche galt auch für seine Untergebenen. Da wurde es ihm mit einemmal schlagartig klar. Dahinter konnte doch nur wieder Korsar Triplex stecken.
Schreiend und fluchend weckte er die Kanoniere, deren Wutgeschrei sich bald darauf mit seinem vereinte.
Aber sosehr sie auch den schlechten Scherz verfluchen mochten, es blieb ihnen letztlich nichts weiter übrig, als sich in das Unvermeidliche zu schicken und in diesem lächerlichen Aufzug wieder an Bord zurückzukehren.
Die Schande der im Hemd zurückkehrenden Patrouille war die Freude der an Bord verbliebenen Seemänner.
Was aber die Wut des Korporals nur noch vergrößerte, war ein Offizier, der sich zur Villa von Joe Pritchell begeben wollte und dem auf dem Strand einige Uniformen auffielen, die dort herumlagen. Als der Offizier an Bord zurückkehrte, wurden den Männern ihre Uniformen wieder ausgehändigt.
In der Tasche seiner Hose fand Kiddy einen Zettel, auf dem er lesen konnte: Korsar Triplex liebt keine Leute, die allzu neugierig sind.
Von nun an meldete sich niemand mehr freiwillig, das Versteck ausfindig zu machen, von dem aus der geheimnisvolle Korsar die englische Flotte überwachte. Lord Strawberry und sein Stabschef jedoch genossen weiterhin die Gastfreundschaft von Joe Pritchell. Alle warteten darauf, daß die Ankunft des Kreuzers aus Sydney endlich das Geheimnis lösen würde.
Dreiunddreißig Tage waren es inzwischen, daß Lord Strawberry fast täglicher Tischgast von Joe Pritchell war; seit dreiunddreißig Tagen folgte Lavarède letzterem wie ein Schatten, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf das Geheimnis zu erhalten, das ihn umgab. Wenn man noch bedenkt, daß der Pariser während der ganzen Zeit seine Reisegefährten im Inneren der Insel nur sporadisch gesehen hatte, so kann man sich vorstellen, daß er sich allmählich langweilte.
Das Essen, das aus einem erlesenen Menü mit mehreren Gängen bestanden hatte, ging zu Ende. Die Tischgesellschaft war beim Mokka angelangt. Man sah nur strahlende Gesichter, denn man muß anerkennen, daß die englischen Offiziere alles andere als unzufrieden über ihren langen Aufenthalt auf der Goldinsel waren. Ihr Gastgeber war so zuvorkommend, seine Tafel so erlesen, daß diese für gewöhnlich an die spartanische Kost an Bord gewohnten Männer die gastronomischen Meisterwerke ihres Gastgebers in aller Ruhe verdauen wollten.
Pritchell stand inmitten einer Gruppe, zu der auch der Admiral und Armand gehörten, und diskutierte lebhaft über Vor- und Nachteile von Heizkesseln bei Dampfschiffen, wobei er der Überzeugung war, daß die Schiffstechnik ja noch in den Kinderschuhen stecke. Da betrat ein Bediensteter den Raum. Auf einem silbernen Tablett trug er einen Brief. Er ging auf den Eigentümer der Insel zu und überreichte diesem das Schreiben.
Ein Lächeln lag auf Pritchells Gesicht, als er sich umdrehte und dabei zu seinen Zuhörern sagte: »Sie gestatten, meine Herren.«
Dann nahm er den Brief, brach das Siegel, überflog den Inhalt und sagte fröhlich: »Hören Sie, meine Herren, ich erfahre soeben, daß Ihre Gefangenschaft ihrem Ende zugeht.«
Die Anwesenden umringten ihn. Andächtiges, ja fast wehmütiges Schweigen herrschte im Saal. Mit ruhiger Stimme las er vor: »Ehrenwerter Sir. Der nach Sydney entsandte Kreuzer wird heute abend in der Silly-Maudlin-Bucht einlaufen.«
»Oh! Ah!« riefen einige Stimmen.
»Ruhe! Ruhe!« riefen die anderen.
»Dieses Schiff hat Sir Toby Allsmine an Bord. Die Admiralität ermächtigt Lord Strawberry, ein Tribunal einzusetzen, um die unterschiedlichen Standpunkte des Chefs der Pazifikpolizei und seines Anklägers, Korsar Triplex, zu untersuchen. Falls dabei einer als schuldig angesehen werden muß, wird er nach England überführt und dort entsprechend der Rechtsprechung Ihrer Majestät der Königin abgeurteilt.
Sie, Sir Joe Pritchell, bitte ich, diese Neuigkeiten unverzüglich Ihren ehrenwerten Gästen mitzuteilen. Bitten Sie sie, noch heute abend die Mitglieder des Tribunals zu benennen. Heute abend schicke ich Ihnen einen verläßlichen Mann. Mögen ihm alle furchtlos folgen, auch Toby Allsmine. Sie werden sehen und urteilen.
gez. Triplex«
Joe schwieg. Die Offiziere blickten sich fragend an.
»Ich will sehr gern tun, was Mr. Triplex wünscht«, sagte der Admiral schließlich, »aber eins überrascht mich. Wie kann er wissen, wie die Admiralität entschieden hat?«
Ein beifälliges Raunen bewies, daß sich auch die anderen Offiziere schon das gleiche gefragt hatten.
Pritchell zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber dieser Brief muß doch schließlich durch jemand überbracht worden sein?«
»Ja, natürlich.«
»Wer ist das?«
»Ich weiß es nicht, ich werde nachfragen.«
Joe drückte auf einen Klingelknopf. Die Tür zum Salon öffnete sich augenblicklich, und herein trat der Bedienstete, der den Brief überbracht hatte. Sein Herr winkte ihn heran.
»Sie haben mir eben einen Brief überbracht«, sagte er.
»Gewiß, Sir.«
»Von wem erhielten Sie Ihn?«
Der Bedienstete schien verwundert.
»Von wem?«
»Ja. Irgend jemand muß Ihnen den Brief doch ausgehändigt haben.«
»Nein, niemand.«
Die Antwort schien Lord Strawberry zu ärgern.
»Wie ist er denn dann in Ihre Hände gelangt?« fragte er gereizt.
»Nun …, wir saßen in der Küche, die Fenster waren offen. Plötzlich fiel dieser Brief herein. Wir sind zum Fenster geeilt und haben nachgesehen …, niemand. Ich habe den Brief an mich genommen, und da er an Sie gerichtet ist, Sir, habe ich ihn sofort hergebracht.«
Noch vor einem Monat hätte dieser Brief für Verwirrung gesorgt. Aber jetzt? Hatte nicht Triplex ankündigen lassen, daß er sich schon heute abend zeigen würde? Ganz gewiß würde der heutige Abend das Ende der Geheimniskrämerei bringen. Am besten wäre, wenn man dem Wunsch des Korsaren entsprechen und die Offiziere auswählen würde, die das Tribunal bilden sollten.
Das war auch schnell getan. Das Gericht setzte sich aus sieben Personen zusammen: Lord Strawberry, dem Präsidenten; zwei Kapitänen der Kreuzer; drei Offizieren und einem Schreiber als Sekretär.
Letzteren schickte man zu dem Admiralsschiff zurück, um ein Peloton von Seeleuten zusammenzustellen, das das Kriegstribunal eskortieren würde. Gegen vier Uhr gingen die Matrosen an Land, stiegen zur Villa empor, bezogen im Park Quartier und erwarteten die Befehle ihrer Vorgesetzten.
Alles war bereit.
In diesem Augenblick meldeten die Offiziere, die das Meer beobachtet hatten, eine Rauchfahne am Horizont. Sofort richtete man alle verfügbaren Gläser auf die bezeichnete Stelle. Bald war kein Zweifel mehr möglich. Das war der nach Sydney entsandte Kreuzer, der dort mit voller Fahrt voraus herandampfte.
Es war tatsächlich die Wing. Nach ihrer Ankunft in Sydney hatte der Kommandant ein Kabelgramm an die Admiralität geschickt und die Lage geschildert.
Man hatte ihm folgende Antwort geschickt:
Sir Toby Allsmine an Bord schaffen und unverzüglich nach der Goldinsel auslaufen. Schnellstens diese Affäre beenden. Zwischenfälle in China und auf den Philippinen erfordern vollste Bewegungsfreiheit für die Flotte. Differenzen klären und Schuldigen nach England bringen.
Ohne zu zögern, hatte sich der Offizier in die Paramata Street begeben. Sein Erscheinen war für Sir Toby wie ein einschlagender Blitz gewesen. Allsmine glaubte sich verloren. Aber er konnte gegen den Befehl nichts machen und war zähneknirschend an Bord gegangen. Am nächsten Morgen war der Kreuzer, nachdem er in Port Jackson seine Kohlenbunker wieder aufgefüllt hatte, nach der Goldinsel ausgelaufen.
Während der Überfahrt fing sich der Polizist wieder. Schließlich gab es keine Beweise für seine Verbrechen; er konnte nur verurteilt werden, wenn er gestand; und er schwor sich, daß ihm nichts auf der Welt ein Geständnis entlocken würde.
Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, fühlte er sich unbeschwerter und präsentierte seiner Begleitung ein unschuldiges Gewissen. Er erklärte seine Verwirrung der ersten Stunde durch den Zorn, den er empfand, weil die Admiralität einen Mann seiner Verdienste mit einem Banditen auf die gleiche Stufe stellte.
Nun war man also vor der Goldinsel angekommen. Die Passage zur Bucht öffnete sich, um das Schiff hindurchzulassen, danach schloß sie sich wieder. Es war etwa fünf Uhr, als der Kreuzer nicht weit von den anderen Schiffen entfernt vor Anker ging.
Um fünf Uhr zehn legte ein Beiboot vom Flaggschiff ab. Um fünf Uhr zwanzig bestieg Sir Toby das Beiboot; um fünf Uhr fünfunddreißig legte es am Ufer der Bucht an, wo mehrere Offiziere auf Allsmine warteten. Um sechs Uhr zehn erreichte er die Villa, um halb erklang die Glocke zum Abendessen, und der Chef der Pazifikpolizei nahm inmitten der übrigen Gäste Joe Pritchells an dessen Tafel Platz.
In diesem Augenblick geschah der erste Zwischenfall. Lord Strawberry hielt es für seine Pflicht, den Neuankömmling vorzustellen.
»Sir Joe«, sagte er, wobei er sich erhob, »Ihr Haus war unendlich gastfreundlich. Heute abend beanspruchen wir noch einmal Ihr Entgegenkommen, indem wir Ihnen einen neuen Gast zuführen.« Er zeigte auf den Polizisten. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen Sir Toby Allsmine, den Obersten Chef der Pazifikpolizei, vorstelle.«
Höflich grüßte ihn der Eigentümer der Goldinsel und antwortete mit klarer Stimme: »Sir Toby Allsmine sei willkommen im Hause von Sir Joe Pritchell.«
Der Name löste bei dem Polizisten eine unerwartete Reaktion aus. Er schrie kurz auf, wich einen Schritt zurück und wurde fahl im Gesicht.
Joe schien die Verwirrung seines Gastes jedoch nicht wahrzunehmen, denn genauso höflich wie eben sagte er: »Und nun zu Tisch, meine Herren; vergessen wir nicht, daß wir heute noch eine lange Nacht vor uns haben und auch der geheimnisvolle Korsar, dessen Kapriolen mir erlaubt haben, mit Ihnen in Verbindung zu treten, an unserer Zusammenkunft teilnehmen will.«
Wie jedermann hatte auch Lavarède bemerkt, daß der Name von Sir Joe auf Allsmine ungeheuren Eindruck gemacht hatte. Das hatte ihn in einen Abgrund der Nachdenklichkeit gestürzt. Welche Verbindungen – und es mußte welche geben oder gegeben haben, das war offensichtlich – mochten zwischen beiden bestehen?
Wenn er jedoch seinen Gastgeber anblickte, dann war er versucht zu glauben, daß er sich irrte. Pritchell war unglaublich gefaßt und begleitete die Mahlzeit mit seiner gewohnten guten Laune. Wenn Armand allerdings den Polizeichef beobachtete, dann war er seiner Sache wieder sicher. Toby rührte kaum die Speisen an. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, warf er Pritchell versteckte Blicke zu, in denen sich sowohl Haß als auch Angst spiegelten. Mehrere Male ließ er sich sein Glas mit reinem Wasser füllen und leerte es auf einen Zug. Ein ungutes Gefühl mußte ihm die Kehle ausgetrocknet haben.
Diese Beobachtung beschäftigte den Journalisten so intensiv, daß er seinerseits ebenfalls kaum die Speisen anrührte, sondern seine Umgebung aufmerksam musterte. Dabei wunderte er sich zutiefst über die in aller Gemütsruhe kauenden, schwatzenden und sicher ausnehmend gelassen verdauenden britischen Offiziere, denen offenbar die Vorstellung, bald dem gefürchteten Korsaren gegenüberzustehen, nichts von ihrem Phlegma nehmen konnte. Plagte denn diese Leute die Neugier gar nicht? Sie wirkten wie simple Maschinen, die zu nichts anderem taugten, als Essen in sich hineinzuschaufeln.
Wie lang ihm jedoch auch die Mahlzeit vorkommen mochte, einmal mußte sie zu Ende gehen. Endlich erhob man sich von der Tafel, und als hätte der Korsar nur bis zu diesem Augenblick gewartet, erschien justament ein Matrose im Salon, das Gesicht mit einer grünen Maske verdeckt, und rief mit weithin schallender Stimme: »Ich bin beauftragt, die Gentlemen zu Kapitän Triplex zu führen!«
Bei dem nun einsetzenden Lärm und Geraune achtete niemand mehr auf den Polizeichef. Der hatte die Hände nämlich an die Brust gepreßt und glotzte stumpfsinnig die grüne Maske des Matrosen an, dabei murmelte er nur vor sich hin: »Joe Pritchell …, das Tribunal …, die grünen Masken. Alles ist gegen mich …«
Der Admiral war inzwischen aufgestanden und wandte sich an den grün maskierten Matrosen: »Sie sind demnach der Führer, der uns angekündigt wurde.«
»Ja, Euer Ehren. Mein Kapitän entschuldigt sich, nicht selbst gekommen zu sein, aber was er sie sehen lassen will, kann hier nicht gezeigt werden.«
»Gut, die Männer im Park begleiten mich, sie sind meine Wache.«
»Wie Euer Ehren beliebt.«
»In diesem Fall, mein Freund, führen Sie uns!«
Der Matrose grüßte militärisch und ging auf der Treppe, die durch den Keller des Hauses ins Innere der Insel führte, voran. Das bewaffnete Peloton bildete den Schluß.
Lavarède ging neben dem Admiral und Sir Toby. Man hatte den Eingang zu den unterirdischen Gewölben wieder geöffnet. Langsam stiegen die Männer die Stufen der in den Fels gehauenen Treppe hinab. Kurze Zeit darauf befanden sie sich am Ufer des unterirdischen Sees. Wie groß auch immer der Gleichmut der englischen Marineoffiziere sein mochte, diesmal konnten sie einen Ausruf der Bewunderung nicht unterdrücken.
Alle Lampen waren angezündet, und auf dem See lagen die drei Unterseeboote exakt ausgerichtet nebeneinander. Packs Matrosen, alle grün maskiert, standen am Ufer.
»Bewundernswert«, murmelte Lord Strawberry, der angesichts dieses Bildes für einen Augenblick vergessen hatte, daß er ja mit der Mission eines unparteiischen Richters beauftragt war.
»Nicht wahr?« erwiderte Joe Pritchell.
Das war alles. Der Weg führte sie weiter. Die Gruppe schwenkte in einen der vom See ausgehenden Gänge ein. Nach einigen Biegungen erreichten sie eine weiträumige Grotte, deren Ausmaße noch einmal die Bewunderung der Engländer herausforderte.
Man hätte diese Grotte gut und gern für einen Theatersaal halten können. Im Hintergrund war ein weiter samtener Vorhang gespannt, vor dem Bänke aufgestellt waren. Zwischen Vorhang und Bänken stand ein Tisch, der mit einem grünen Tuch bedeckt war, auf dem mehrere Stapel Papier aufgeschichtet waren. Federkiele und Tintenfässer deuteten darauf hin, daß jene, die sich an dem Tisch niederlassen würden, zu schreiben hatten.
Joe deutete auf den Tisch und sagte: »Die für die Mitglieder des Tribunals reservierten Plätze.«
Dann zeigte er auf einen Stuhl zur Rechten.
»Der Platz für Sir Toby Allsmine.«
Er selbst ging zu einem Stuhl, der links von dem Richtertisch stand, setzte sich darauf und sagte: »Und hier sitzt derjenige, der im Namen von Korsar Triplex die Verhandlung führen wird.«
Armand war am Eingang zum Saal stehengeblieben. Unter den Grünmaskierten hatte er Aurett und auch Maudlin, Joan und Robert erkannt. Aber sosehr er Ausschau hielt, Lotia entdeckte er nicht.
Er war erstaunt, Lotia nicht zu sehen, drängte sich deshalb zu seinem Cousin durch und fragte diesen: »Robert, wo ist Lotia?«
Der Angesprochene antwortete dumpf: »Sie konnte uns nicht begleiten.«
»Warum denn nicht?«
Robert schwieg. Erst nach einiger Zeit kam die Antwort genauso dumpf wie beim erstenmal: »Sie stirbt.«
Die leise gesprochenen Worte dröhnten im Ohr des Journalisten. Eine Minute stand er wie angewachsen, ohne einen Gedanken fassen zu können, und es bedurfte seiner ganzen Willensanstrengung, um wieder Herr seiner selbst zu werden.
In der Stunde, in der seine Neugier endlich befriedigt werden sollte, drohte seinem Cousin, seiner Geliebten, diesen jungen, guten, liebenden, jeder Gefahr furchtlos ins Auge blickenden Wesen ein Unglück, das nicht wiedergutzumachen war.
Endlich gelang es ihm, die Worte auszusprechen: »Du übertreibst, Cousin.«
Lotias Geliebter schüttelte den Kopf.
»Nein. Seit acht Tagen steht sie nicht mehr auf. Die Hoffnungslosigkeit hat sie übermannt. Sie ist bleich und abgemagert, sagt kein Wort mehr und scheint nicht einmal mehr an irgend etwas zu denken. Man könnte meinen, sie wartet so ungeduldig auf den Tod wie ein Gefangener auf die Möglichkeit der Flucht. Wenn ich daran denke, daß sie vielleicht morgen ihre Augen für immer schließt, fühle ich, daß ich allmählich wahnsinnig werde. Ich verfluche diejenigen, die versucht haben, mein Schicksal zu wenden. Ich verfluche dich, weil ich denke, daß du gegen die Vorsehung gehandelt hast, die uns auf ewig trennen wollte.«
Armand fühlte, wie sich ihm das Herz zusammenpreßte bei dieser wahnwitzigen Anschuldigung.
Während Armand mit Robert sprach, hatten die übrigen Platz genommen. Joe Pritchell war aufgestanden und hatte das Wort ergriffen.
»Mylord Admiral, meine Herren Offiziere«, sagte er. »Gestatten Sie, daß ich daran erinnere, daß Korsar Triplex, mein Mandant, ein getreuer Untertan Ihrer Majestät der Königin ist. Durch Sir Toby Allsmines Stellung gezwungen, zu nicht alltäglichen Mitteln zu greifen, hat er sich dennoch gegenüber englischen Mitbürgern nichts zuschulden kommen lassen. In diesem Augenblick, wo die Wahrheit im Begriff ist, sich Bahn zu brechen, wo Sie selbst, verehrte Herren, den Schuldigen bestimmen werden, ist es mir eine angenehme Pflicht, derjenigen meine Dankbarkeit zu bezeigen, die Gerechtigkeit wollte. Dank sei der Königin.«
Die Anwesenden erhoben sich. Es gab ein andächtiges Schweigen, bis Joe fortfuhr.
»Noch ein Wort, bevor die Debatte beginnt. Eines Nachts entführte Kapitän Triplex den Polizeichef der Pazifikpolizei. Er hätte ihn töten können, doch er zog es vor, legal zu handeln. Dennoch wollte er diese Anklageverhandlung nicht vergessen, die Erinnerung an die Haltung des Angeklagten bewahren; ein Phonograph hat Rede und Gegenrede aufgezeichnet. Ein fotografisches Gerät hat von der Begegnung kinematographische Klischees in großer Zahl angefertigt, die zu einem Film montiert wurden. Diese Dinge möchte ich Ihnen als erstes zeigen.«
Er wies mit der Hand zu dem Vorhang.
»Die Anklageverhandlung von Korsar Triplex gegen Sir Toby Allsmine, meine Herren.«
Im Saal gingen die Lichter aus.
Da erklang plötzlich eine Stimme in der Dunkelheit, die sagte: »Ein Scherz! Eine kinematographische Aufzeichnung ist doch nichts Seriöses.«
Das war Allsmine, der da mit vor Angst zusammengepreßter Kehle protestierte. Was denn? Man wollte die Verhandlung vor dem Tribunal der grünen Masken zeigen? Er erinnerte sich, was er in dieser Nacht des Sydneyer Dockerfestes für Ängste ausgestanden hatte. Gewiß, er hatte seine Zunge im Zaume gehabt, er hatte nichts gestanden. Der Phonograph konnte ihm wenig anhaben. Aber was würde die Fotografie ergeben? Wie war sein Gesichtsausdruck angesichts der Anklage gewesen? Würde man anhand seiner Physiognomie seine Schuld erkennen können?
Ein Surren war zu vernehmen. Der Vorhang hob sich, undeutliche Formen waren zu erkennen, wurden klarer, nahmen Gestalt an. Auf der Leinwand, die hinter dem Vorhang gespannt war, begann das Tribunal der grünen Masken.
Auf dem ersten Bild sah man einen Saal mit nacktem Mauerwerk. Hinter einem mit einem grünen Tuch bedeckten Tisch saßen unbeweglich wie Statuen drei merkwürdige Gestalten. Lange Gewänder verhüllten sie. Ihre Köpfe verschwanden unter Kapuzen, die statt der Augen und des Mundes jeweils drei Löcher hatten.
»Film ab!« ordnete Joe an.
Der Kinematograph surrte.
Die Gestalten belebten sich. Eine Tür wurde geöffnet. Mehrere Matrosen betraten den Saal und führten einen Mann mit sich, dessen Kopf mit einem Tuch verhüllt war. Dieser Mann wurde auf einen Stuhl gesetzt und von dem Tuch befreit.
Ein Murmeln durchlief die Reihen der Anwesenden. Alle hatten sie in dem Mann, der da auf der Leinwand vor ihnen saß, den Polizeichef erkannt.
Allsmine war aufgesprungen. Auch er blickte gebannt auf die Leinwand. Er empfand unbeschreibliche Furcht, als er sich Gesten vollführen sah, die ihm im Augenblick des Entstehens nicht bewußt geworden waren. Er erblickte sein schreckgeweitetes Gesicht, und er sah, wie sich der Mann mit der Kapuze, der in der Mitte saß, zu einem maskierten Matrosen umdrehte, diesem offensichtlich eine Order erteilte. Mit einemmal geschah eine unerhörte, schreckliche Sache. Direkt von der Leinwand schien eine Stimme zu kommen, die fragte:
»Name, Vorname?«
Allsmines Gesicht verzerrte sich zornig, und das Bild auf der Leinwand antwortete:
»Ich werde kein Wort sagen. Ich billige Ihnen nicht das Recht zu, mich zu verhören.«
Das war schrecklich und magisch zugleich. Lord Strawberry und seine Beisitzer verharrten unbewegt, sie schienen nicht einmal mehr zu atmen, denn sie begriffen sehr wohl, daß sich über diese technischen Apparaturen die Wahrheit zeigte. Denn es war unmöglich, daß der Mensch diese Apparate belügen konnte.
Und die Szene ging weiter.
Der Richter mit der Kapuze schüttelte den Kopf und wandte sich an die ihn umringenden Matrosen.
»Los Jungs! Löst dem Angeklagten die Zunge.«
In den Händen der Bewacher blitzten Messer auf. Der Angeklagte stotterte kläglich:
»Sie wagen es, einen Mann zu töten?«
»Die wilde Bestie töte ich ohne Zögern, ohne Gewissensbisse. Die Zeit vergeht zu schnell. Also antworten Sie. Name, Vorname!«
Der Angeklagte schien sich in sein Schicksal zu ergeben.
»Sir Allsmine, Toby, Jehosuah, Sim.«
»Alter?«
»Siebenundvierzig.«
Der Vorsitzende des Tribunals schaute in die Papiere, die vor ihm lagen.
»Gut. Stimmt. Sie sind der Sohn armer Einwanderer, die sich am Fluß Lachlan, im Inneren von Neusüdwales, niedergelassen hatten?«
»Ja.«
»Sie traten als junger Mann in die Polizei von Sydney ein. Sie hatten Ambitionen, waren arbeitsam, das muß man sagen, denn Sie verschafften sich Ihre Bildung selbst, da es Ihren Eltern an Geld mangelte, Sie eine Schule besuchen zu lassen. Dennoch waren Sie bis etwa zu Ihrem dreißigsten Lebensjahr auf eher unteren Positionen zu finden. Ist das wahr?«
»Ja.«
Der Admiral schüttelte an dieser Stelle den Kopf, denn ihm war der Anflug von Unsicherheit nicht entgangen, der sich auf Allsmines Gesicht widerspiegelte.
»Wie das?« fuhr der Ankläger fort. »In nur sechzehn Jahren sind Sie Polizeipräsident der Pazifikpolizei geworden, ein Titel, der Ihnen beinahe unbegrenzte, beinahe königliche Macht verschafft?«
Ein Keuchen war von dem Platz zu hören, auf dem der wirkliche Allsmine saß.
»Ich werde Ihnen sagen, warum«, fuhr die Erscheinung fort, »denn wir sind nicht ausschließlich deswegen hier. Mit dreißig hatten Sie das unverschämte Glück, Lord Green vorgestellt zu werden, einem reichen und einflußreichen Engländer, den irgendein Spleen nach Australien führte. Ihre Unterhaltun,g der Bericht Ihrer Abenteuer als Polizist amüsierten ihn. Er wollte sich dafür revanchieren, daß Sie ihn so angenehm unterhalten hatten. Durch seinen Einfluß fanden Sie Zugang zur Familie von Miß Joan Heart, die damals neunzehn Jahre alt war und die zu heiraten er gerade im Begriff war. Kurz, in zwei Jahren waren Sie Chef der Kriminalpolizei und Tischgenosse im Haus von Lord Green, dem Haus in der Paramata Street, das Sie jetzt bewohnen.«
Aus dem Hintergrund des Saales erklang ein Schluchzen.
»All das entspricht der Wahrheit, wie ich hoffe.«
»Das gebe ich zu«, sagte Allsmine auf der Leinwand.
»Gut. Im übrigen bewiesen Sie Ihren Gönnern eine Anhänglichkeit, die rührend war. Vor allem, als eine Familienminiatur verschwunden war, für die Lord Green einen stattlichen Preis bezahlt hatte.«
»Ich entdeckte den Dieb!« schrie der wirkliche Allsmine im Saal mit lauter Stimme, die für Augenblicke seine Stimme auf der Leinwand übertönte. »Und dieser Dieb rächt sich heute.«
Aber aus allen Ecken des Saales war zu hören: »Pscht! Pscht! Ruhe! So hören Sie doch!«
Als es wieder ruhig war, hörte man den Ankläger sagen:
»Ich will diesen Vorfall nur gebührend würdigen, denn ohne Ihr Zutun hätte man niemals daran gedacht, Joe Pritchell zu verdächtigen, einen armen und verwaisten Verwandten, den Miß Heart bei sich aufgenommen hatte und dessen Ausbildung sie großzügig bezahlte.«
Die letzten Worte hatten ein leichtes Raunen bei den Zuhörern und Zuschauern hervorgerufen. Joe Pritchell – das war der Name des Inseleigentümers. Aber das Raunen legte sich augenblicklich. Sir Toby zuckte auf der Leinwand zusammen, als der Ankläger weitersprach.
»Man fand die Miniatur bei dem sogenannten Joe, einem Kind von fünfzehn. Sie war unter seinen Sachen versteckt. Trotz des hartnäckigen Leugnens des Knaben konnte an dessen Schuld kein Zweifel bestehen. Die gute Lady wollte sich dennoch nicht von ihm trennen, allerdings gehörte er ab sofort nicht mehr zum Haushalt. Er wurde nach England zurückgeschickt, wo er noch heute wohnt.«
»Diese Einzelheiten kennt doch jeder.«
»Also ist es alles andere als verwunderlich, daß ich sie ebenfalls kenne, das wollen Sie damit sagen? Das ist richtig. Sie werden freilich sofort merken, daß ich auch weniger allgemein bekannte Tatsachen von Ihnen weiß.«
Hier zuckte Allsmine zusammen und zog den Kopf ein. Seine Haltung war so, daß sie einem Geständnis gleichkam. Doch der Kinematograph spulte die Bilder weiter herunter.
»Kurze Zeit später«, fuhr der Ankläger fort, »wurde die Tochter von Lord Green und Lady Joan, ein hübsches rundes Baby von vierzehn Monaten, das von den Bediensteten respekt- und liebevoll Miß Maudlin genannt wurde, Opfer eines seltsamen Leidens. Das waren Anzeichen von Mattigkeit, von Auszehrung. Die Ärzte waren unfähig, die Ursache dieser Krankheit zu diagnostizieren, und sprachen vage von der schlechten Luft in der Stadt und von der Wohltat ländlichen Daseins. Ihre Mutter, Allsmine, lebte zu dieser Zeit noch. Sie schlugen vor, ihr das Kind anzuvertrauen. Dort auf dem Land, in der Nähe des Lachlan River, so meinten Sie, würde Maudlin bald wieder zu Kräften kommen, und es wäre Ihnen angenehm, zu wissen, so sagten Sie, daß das Mädchen Ihrer Wohltäter dieselbe kräftigende Luft atmen könne, die auch Ihnen selbst Kraft geschenkt habe. Und dann bot ja Ihre brave Mutter auch Garantien, die eine Fremde nie bieten konnte. Es kam also so, wie es kommen sollte. Ihre Gründe überzeugten, und die kleine Kranke wurde Ihrer Mutter zur Genesung übergeben.«
»Soweit, so gut!« rief das Bild des Polizeichefs aus. »Was will man mir daraus vorwerfen?«
Die Kapuze seines Befragers bewegte sich.
»Sie stellen die richtige Frage, Allsmine, aber sie ist noch ein bißchen verfrüht; ich werde rechtzeitig darauf zurückkommen. Im Augenblick fahre ich fort im Text. Das Schicksal meinte es nicht gut mit der Familie Green. Der Lord wurde kurze Zeit später bei einer Känguruhjagd getötet …, eine verirrte Kugel mitten ins Herz. Und man hat nie feststellen können, aus welchem Gewehr die todbringende Kugel abgefeuert wurde.«
»Es war ein Unfall«, sagte Sir Tobys Konterfei, wobei seine Züge schrecklich zuckten.
»Es war nicht der einzige. Kaum hatte sich die Witwe von diesem schrecklichen Trauerfall wieder etwas erholt, als sie ein noch schlimmerer Schlag traf. Ihre vor Entsetzen völlig aufgelöste Mutter erschien in Sydney und berichtete, daß Maudlin in den Lachlan River gestürzt sei, der reißende Strom ihren Körper mit sich gerissen und man ihn nirgends gefunden habe. Niemand hatte dem Drama beigewohnt. Ein Boot, das dazu diente, den Fluß zu überqueren, wurde kieloben treibend aufgefunden. Man schloß daraus, daß das Kind sich vom Hause entfernt habe, ins Boot gestiegen sei und wahrscheinlich das Seil, mit dem es festgemacht war, gerissen sei, was weiß ich?«
Und nach einem Schweigen:
»Was ist Ihre Meinung über den Tod der armen Kleinen, Allsmine?«
Das Bild des Angeklagten ließ erkennen, daß er erregt war. Dennoch antwortete er mit fester Stimme:
»Ich neige dazu, die Version zu glauben, die Sie soeben vermutet haben. Wie auch im anderen Fall, so kenne ich die Wahrheit nicht.«
»Sie wollen es nicht wissen.«
Und während der Kinematograph die ganze Verwirrung auf dem Gesicht von Allsmine widerspiegelte, fuhr die Stimme des Mannes in der grünen Kapuze fort, die unerbittliche Anklage zu formulieren.
»Lady Joans Zustand war erschreckend. Vielleicht wäre ihr der Tod wie eine Erlösung vorgekommen, wenn Ihre Freundschaft sie nicht aufmerksam umhegt hätte. Jeden Tag schauten Sie im Haus in der Paramata Street vorbei. Sie stärkten die Unglückliche mit erbaulichen Reden, ja, Sie zwangen sie geradezu gewaltsam, sich zu zerstreuen. Überall zeigten Sie sich an Ihrer Seite. Bald bezeichnete Sie der öffentliche Stadtklatsch, der natürlich von Ihnen nur zu gern genährt wurde, als künftigen Ehemann der Witwe. Und kurz darauf willigte diese, an ihrem einsamen Los schier verzweifelnd und durch Ihre Ergebenheit gerührt, auch ein, Ihre Frau zu werden.«
»Es ist unverschämt, derart mit Gefühlen zu spielen«, erklang im Saal Sir Tobys Stimme.
Aber wie als Antwort auf diesen Einwurf sprach der Ankläger im Kinematographen.
»Sie hatten nichts weiter als krankhaften Ehrgeiz. Die Heirat war das Ziel, auf das Sie schon lange hinarbeiteten, denn es würde Ihnen erlauben, die einflußreichen Beziehungen der Familie Green zu nutzen und so die Stellung einzunehmen, die Sie heute bekleiden. Allein Ihr Wille war Triebfeder Ihres Handelns, allein Tyrannei Ihr Gesetz.«
Die Anwesenden waren beeindruckt. Die Art und Weise, wie das Verhör geführt wurde, ließ sie alle, Präsident wie Beisitzer, zu einer Überzeugung gelangen. In ihre Überlegung hinein schnitt die Stimme des Anklägers wie ein Peitschenknall.
»Ich, Korsar Triplex, klage Sie, Allsmine, folgender Delikte an: erstens im Zimmer Joe Pritchells die gestohlene Miniatur versteckt zu haben. Joe war ein heller Kopf und stand Ihnen im Wege. Zweitens das Gewehr abgefeuert zu haben, dessen Kugel den Tod Ihres Wohltäters, Lord Green, verursachte. Auch er stand Ihnen im Wege. Drittens Maudlin Green durch einen Ihnen ergebenen Mann entführt zu haben, dem entweder Bestrafung für ein Verbrechen drohte oder die Begnadigung winkte und der nicht zögerte, sich mit der üblen Aufgabe zu belasten, das Kind zu ertränken, das seiner Mutter später eine Stütze gegen Ihr heuchlerisches Werben hätte sein können.«
Nach diesen Anklagepunkten war der Film zu Ende; das elektrische Licht flammte wieder auf, und die Zuschauer sahen sich betreten, bleich und durch das Gesehene und Gehörte aufgewühlt an.
Allsmine war aufgestanden und hatte die Hände um die Lehne seines Stuhles gekrallt. Seine Haare waren zerwühlt, sein bleiches Gesicht zeigte noch die ganze Verwirrung des eben auf der Leinwand Erlebten. Dennoch gab er nicht klein bei.
»Das alles ist eine Phantasmagorie, um meine Richter zu beeinflussen!« schrie er. »Ich wurde von dem Korsaren Triplex entführt. Ich war sein Opfer, das ist richtig. Aber hat der Phonograph ein einziges Wort von mir registriert, das einem Eingeständnis meiner Schuld gleichkäme? Um einen Menschen zu verurteilen, braucht man Beweise, Zeugen … Wo sind sie?«
»Hier«, antwortete eine tiefe Stimme.
Toby und die Offiziere drehten sich nach dem Stuhl um, wo eben noch Joe Pritchell gesessen hatte. Letzterer war verschwunden, doch vor dem großen Vorhang, der die Leinwand verdeckte, saßen unbeweglich vier Personen und starrten den Angeklagten an.
Als dieser sie erblickte, verdeckte er sein Gesicht mit den Händen.
James Pack saß da, und neben ihm Maudlin, Bob Sammy und noch ein Mann, dessen Anblick Allsmine maßlose Angst einjagen mußte.
James erhob sich.
»Ich, James Pack, ehemals persönlicher Sekretär von Sir Toby Allsmine, schwöre bei meiner Ehre, daß er schuldig ist. Er hatte einen Mann beauftragt, die Tochter von Lord Green zu töten, doch dieser Mann hatte Mitleid mit der armen Kreatur. Er hat sie mir anvertraut; ich habe sie großgezogen, und beschützt. Heute räche ich sie. Steh auf, Bob Sammy, und sprich!«
Der Riese hob die rechte Hand und sprach mit seiner tönenden Stimme: »Ich schwöre, daß es so und nicht anders gewesen ist.«
»Und du«, wandte sich Pack an den unbekannten Mann, dessen Gegenwart den Polizeichef so offensichtlich schockiert hatte. »Erzähle uns, wie Lord Green umgekommen ist.«
Der Angesprochene hob die rechte Hand und sagte: »Ich schwöre, daß ich die Wahrheit sagen werde, nichts als die Wahrheit.«
Dann begann er langsam in unverkennbar irischem Akzent zu erzählen.
»Ich heiße O’Kean. Ich war Angestellter bei der Polizei und arbeitete für Sir Toby Allsmine. Meine Frau war sehr krank, und wir hatten kaum Geld. Um sie zu retten, so sagten die Ärzte zu mir, müßte ich sie in den Süden Australiens schicken, wo das Klima milder ist. Aber dazu hatten wir kein Geld. Ich sprach mit meinem Chef darüber. Er versprach mir: Ich gebe dir Geld, wenn du mir einen Gefallen tust. Erfreut willigte ich ein. Ich nahm an der Jagd teil, von der Lord Green nicht mehr zurückkehren sollte. Es war ausgemacht, daß Sir Toby und ich gemeinsam auf den Lord schießen sollten. Im letzten Augenblick hat mich der Mut verlassen …, Sir Toby dagegen hat geschossen. Und getroffen. Er war wütend über meine Schwäche, und damit niemand etwas erfahren sollte, hat er mich ins Gefängnis werfen lassen …, ganz insgeheim, ohne Urteil. Dort habe ich zehn Jahre zugebracht … und wäre sicher noch dort, wenn mich nicht Korsar Triplex befreit hätte. Als ich frei war, erfuhr ich, daß meine Frau, für die ich zum Mörder werden wollte, im Elend gestorben war. Allsmine hatte nicht das Herz, ihr einige Guineen zukommen zu lassen, um sie zu retten. Das ist alles.«
Die Anwesenden hörten schweigend zu. Es war an James, dieses Schweigen zu brechen.
»Jetzt ist an der Zeit zu sagen, wer ich bin.«
Er fuhr sich mit der Hand unter die Jacke; das Reißen von Stoff war zu vernehmen, ein Gegenstand fiel zu Boden, und James richtete sich zu voller Größe auf – jede Spur eines Buckels war verschwunden. Dann zog er aus seiner Tasche einen falschen Bart, klebte ihn an und bot den verdutzten Offizieren das Bild desjenigen, der seit einem Monat ihr Gastgeber gewesen war.
»Ich bin Joe Pritchell. Ich bin derjenige, den Allsmine fälschlich des Diebstahls bezichtigte. Der schwächste Feind ist manchmal fähig, den Mächtigsten zu gefährden. Allsmine wurde gefürchtet; in seinem Besitz befanden sich geheime Dossiers, deren Veröffentlichung Hunderte von Familien, darunter sehr ehrwürdige, bloßgestellt hätte. In welcher Familie gibt es kein schwarzes Schaf? Wer hat keinen unter seinesgleichen, der nicht aus der Art geschlagen wäre? Man mußte Allsmine dieser Waffe berauben. Das war mein Auftrag. Ich nahm den Platz eines persönlichen Sekretärs ein, den man ihm aus London schickte. Allmählich kam ich hinter seine Schliche. Nacheinander habe ich seine geheimen Dossiers verschwinden lassen. Heute enthalten sie nur noch weißes Papier. Aber er war in der englischen Gesellschaft so hoch gestiegen, daß ihn ein ›einfacher‹ Bürger nicht stürzen konnte. Bei dem umständlichen Kompetenzengerangel zwischen Admiralität, Geheimdienst, Polizei und Auswärtigem Amt bekamen meine Auftraggeber kalte Füße. Ich war auf mich allein gestellt. Deshalb machte ich mir meine Ausbildung als Ingenieur zunutze, und mit Hilfe des auf der Goldinsel vorhandenen Goldes wurde ich Korsar Triplex. James Pack oder Korsar Triplex oder Joe Pritchell – wer auch immer. Als getreuer Untertan Ihrer Majestät der Königin werde ich Großbritannien an dem Tag, wo man es bedrohen sollte, meine Schiffe zur Verfügung stellen, die mir geholfen haben, Unrecht zu besiegen.«
Dann wandte er sich an Allsmine.
»Nun, Sir Toby«, sagte er, »Sie wollten Zeugen. Genügen Ihnen diese hier?«
Der Polizist wagte einen letzten Versuch, sich zu verteidigen.
»Das Ganze ist eine abscheuliche Verschwörung gegen mich, ein Lügengespinst, Sie haben falsche Zeugen beschafft, alle sind bestochen, ich habe Beweise, die Königin …«
Seine Stimme überschlug sich. Ein heiseres Belfern brach aus seinem Mund, er fiel auf die Knie, reckte die Arme empor, und zwischen seinem heiseren Gekrächze konnte man hin und wieder die Worte vernehmen: »Erbarmen, Erbarmen … Lord Green … Maudlin … Erbarmen …!«
Der Schuldige gestand.
Auf ein Zeichen von Lord Strawberry ergriffen die Matrosen den Polizeichef, der keinerlei Widerstand leistete. Er ließ sich völlig gebrochen abführen. Eine Schaluppe brachte ihn auf das Flaggschiff, wo man ihn in einer Kabine einschloß.
Die Mitglieder des Tribunals hatten sich zurückgezogen. Sie hatten sich in der Villa versammelt, um das Protokoll der bewegenden Sitzung zu verfassen.
Im Saal waren drei Personen zurückgeblieben.
Joe Pritchell, Joan und Maudlin.
Die drei blickten sich an, als wären sie eben aus einem Traum aufgeschreckt worden. Es war Joan, die schließlich auf den ehemaligen Korsaren zuschritt und ihm die Hände entgegenstreckte.
»Joe, mein Junge«, sagte sie, »verzeih einer törichten Frau, daß sie sich einmal geirrt hat und einem Mann ihr Vertrauen schenkte, der dich anklagte.«
»An diesem Tag wurden Sie selbst zum Opfer«, sagte Joe. »Ich war Ihnen nie böse, und in meiner Erinnerung sind Sie mir immer als ein Abbild menschlicher Güte erschienen.«
Er ergriff ihre Hände.
»Verdanke ich Ihnen nicht alles? Haben Sie nicht von weitem meine Ausbildung gesteuert? Mich nicht für den Kampf gewappnet? Haben Sie nicht erst aus mir gemacht, was ich bin? Ihnen verzeihen, sagen Sie …, aber selbst wenn Sie sich schuldig gemacht hätten, wäre ich der letzte, der Sie richten dürfte. Ich habe für Sie immer nur Dankbarkeit und Mitgefühl empfunden.«
»Sie sind so gut …«, begann Joan, aber ihr Gefühl hinderte sie daran, weiterzusprechen.
Dicke Tränen liefen über ihre Wangen, und in mütterlicher Regung schloß sie den Mann in ihre Arme.
Für einen Augenblick standen sie so engumschlungen da, dann fragte ihn Maudlins Mutter:
»Und was willst du nun tun?«
Er hob den Kopf, ein flüchtiger Schatten schien von seiner Stirn zu verfliegen. Mit entschlossener und ruhiger Stimme sagte er: »Ich will den Reichtum der Goldinsel ausbeuten. Ich will all den tapferen Menschen, die mir bei meinem abenteuerlichen Unternehmen beigestanden haben, ein Vermögen schenken. Ihrer Ergebenheit, ihrem Opfersinn verdanke ich den Erfolg. Es ist nur recht und billig, daß ich ihr Glück mache.«
»Und denkst du dabei nicht auch an dein Glück?« fragte ihn Joan.
»An meins?«
»Ja. Willst du allein leben, allein auf dieser verlorenen Insel? Ein Gefangener des Ozeans? Hast du nie davon geträumt, eine Familie zu haben …?«
Joe fröstelte, seine Wimpern zuckten.
»Nein«, antwortete er fast heftig. »Ich muß dem entsagen. Ich gehöre mir nicht; ich bin für diese Menschen da, die ihr Vertrauen in mich gesetzt haben. Welchem jungen Mädchen sollte ich diese Pflicht auferlegen? Welcher Frau könnte ich wohl sagen: Werde die Frau eines Mannes, der der Welt, der Zivilisation entsagt hat?«
»Du könntest diese Frage an eine Frau stellen, die dasselbe durchgemacht hat wie du und die dich …, die dich …, die dich liebt, du Esel«, erklang Maudlins sanfte Stimme.
Der ehemalige Korsar schaute sie an. Sie war rot geworden und hatte den Blick gesenkt.
Offensichtlich war er schnell im Handeln, aber langsam im Begreifen, und so faßte Joan mit der linken Hand seine rechte und mit der rechten Hand Maudlins linke und fügte beide Hände ineinander.
»Im Namen von Lord Green«, sagte sie, »du hast diesem Kind das Leben zurückgegeben, nun bewahre es ihr.« Und mit Tränen in der Stimme fügte sie hinzu: »Ich hab dir einmal Unrecht getan, Joe, laß es mich wieder gutmachen und deine Mutter werden.«
Der junge Mann konnte nicht länger widerstehen. Er, der soviel Gefahren lächelnd überstanden hatte, der im Kampf oftmals seinen erzenen Mut bewiesen hatte, er weinte vor Glück.
Plötzlich drang das Geräusch rascher Schritte unter dem Gewölbe an ihr Ohr. Ein Mann eilte in den Saal und rief: »Sir James …, nein, Sir Joe, kommen Sie uns zu Hilfe.«
Das war Armand Lavarède, aber der Pariser war weit von seinem gewohnten Frohsinn entfernt. Schreckliche Angst hatte sein Gesicht verzerrt. Ihnen schwante Schlimmes, als sie ihn so sahen. »Was gibt es?« fragte der ehemalige Korsar.
»Mein Cousin ist im Begriff, Niari zu töten.«
»Niari töten?«
»Oh, eine rasende Bestie ist nichts gegen ihn …, aber er soll ihn nicht mehr schlagen, denn allein dieser Unglückliche kann Lotia noch dem Tod entreißen.«
»Was sagen Sie?«
»Sie ist nicht mehr bei sich. Um sie zu retten, muß er, muß er, verstehen Sie, er muß anerkennen, daß mein Cousin nicht Thanis ist. Sie werden vielleicht Erfolg haben, ihn zu überzeugen. Wir können nichts mehr ausrichten.«
»Ich komme mit«, sagte Joe Pritchell. »Geb’s der Himmel, daß ich diese Macht habe, von der Sie sprachen.«
Zusammen mit Joan und Maudlin begleitete er auf der Stelle Lavarède. Alle eilten sie durch den unterirdischen Gang, liefen halb um den See und hatten bald darauf Lotias Unterkunft erreicht.
Die Tür stand offen. Sie betraten den Vorraum, und von einer klagenden Stimme geleitet, stiegen sie die Treppe zu dem Zimmer der jungen Dame empor. Dort blieben sie stehen, beeindruckt von dem Anblick, der sich ihnen bot.
Gefesselt lag Niari auf dem Boden. Seine dunklen Augen blickten trotzig und voller Haß in die Roberts, der vor ihm saß, einen Revolver in der Hand, und Anstalten machte, auf ihn einzuschlagen.
»Ihr letzter Seufzer«, sagte der Franzose in diesem Augenblick, wobei er mit dem Arm auf das Bett wies, auf dem Lotia ruhte, »ihr letzter Seufzer wird das Signal zu deinem Tod sein.«
Die Ägypterin war nicht wiederzuerkennen. Die Krankheit hatte ihr Werk getan. Ihr Gesicht wirkte spitz, die eingefallenen Wangen glänzten wächsern.
Als Armand mit seinen Begleitern das Zimmer betrat, blickte Robert sie wütend an. Er sagte kein Wort, doch Lotia richtete sich auf wie elektrisiert und schaute mit fieberkranken Augen auf die Eintretenden.
»Bist du es, göttliche Osiris?« fragte sie. »Kommst du, um deine Tochter zu holen und sie in den Palast der Unendlichkeit zu führen, in dem die Sterne funkeln?«
Das war die Stimme des Fiebers, die aus ihr sprach. Ihre Freunde schauten sie stumm an.
»Ach, laß mich noch auf der Erde. Ägypten geht seiner Freiheit entgegen. Ich höre schon die Freudenschreie seiner Kinder, die sich vom Unterdrücker befreit haben.«
Sie rang die Hände.
»Warte, Osiris. Die Sieger kommen näher. Meine Aufgabe wird erfüllt sein, und ich werde die Gattin des Siegers sein, den ich erwählt habe.«
Ihr Gesicht wurde ekstatisch.
»Da, hörst du sie? Alle haben teil an ihrer Freude. Die heiligen Käfer stoßen ihre Flügeldecken wie Zimbeln aneinander. Die Ibisse fliegen im Goldstaub der Sonne in einem gewaltigen Kreis durch den Himmel. Alles singt, alles tanzt, alles ist bereit, um die Armee des Befreiers zu empfangen. Das azurblaue Band des Nils wogt in rhythmischen Wellen durch die Landschaft wie eine Brust, die endlich frei atmen kann.«
Was die Ankunft des Korsaren nicht bewirkte, Lotias Stimme tat es. Robert stand auf, vergaß einen Augenblick den zu seinen Füßen liegenden Feind, und bittend sprach er zu Lotia: »Lotia, bitte, komm zu dir.«
Doch mit einer Geste gebot sie ihm zu schweigen.
»Still! Möge deine Stimme nicht die Freudenschreie der Freiheit ersticken. Da sind sie, die Kriegswagen, die Kanonen, die Reiter auf schnellen Rappen, deren Hufe aus Gold zu sein scheinen, so sind sie vom gelben Wüstenstaub bedeckt … Und da, ihr Anführer, von seinen höchsten Würdenträgern auf dem Schild getragen, eine Fahne weht über seinem Kopf …«
Plötzlich schwieg die Kranke. Ihr Blick schien überrascht zu sein.
»Was ist das für eine neue Fahne?« murmelte sie.
Wieder verloren sich ihre Blicke im Nichts.
»Das ist nicht die ägyptische Fahne, das ist nicht die blaue Fahne mit den drei Sternen und dem weißen Halbmond. Was sind das für Farben?«
Einen Augenblick schien Lotia zu überlegen, dann murmelte sie: »Blau … Weiß … Rot.«
Sie schrie auf.
»Die Fahne Frankreichs … Frankreich bringt die Freiheit.«
Als ob diese letzte Anstrengung ihre Kräfte erschöpft hätte, griff das arme Kind mit ihren Händen ins Leere, dann fiel sie hintenüber auf die Bettstatt. Mit einem Sprung war Robert bei, das Gesicht in unsäglichem Schmerz verzerrt. Er glaubte, sie sei tot, doch sie war nur ohnmächtig geworden.
Während alle die Kranke umringten und Joan und Maudlin ihr die Schläfen mit kaltem Wasser abtupften, näherte sich Joe Niari. Er hob den Gefesselten auf, setzte ihn in einen Sessel und schaute ihm tief in die Augen.
»Niari«, sagte er, »du hast es gesehen, du hast es gehört?«
Der Ägypter nickte.
»Lotia kämpft gegen den Tod«, sagte Joe. »Ihre Kräfte werden bald erschöpft sein.«
Ein Zittern lief über das magere Gesicht des alten Dieners von Thanis. So flüchtig auch dieses Zeichen von Anteilnahme gewesen sein mochte, Joe hatte es bemerkt. Er versuchte, seiner Stimme einen so einschmeichelnden Klang wie nur möglich zu geben.
»Es ist Hadors Tochter«, fuhr er fort, »die letzte Blüte auf dem viertausend Jahre alten Thron. Ihre Ahnen marschierten unter dem Befehl von sechzehn Dynastien der Pharaonen in den Kampf. Sie waren die unerbittlichen Gegner der Hyksos-Eroberer. Als Zeitgenossen von Moses ertrugen sie unbewegt die Plagen Ägyptens. Sie sahen, wie ihr Fluß rot von Blut wurde; ihr Haus wurde von der Pest heimgesucht; Heuschrecken und Frösche verwüsteten ihre Felder, aber sie beugten ihr stolzes Haupt nicht. Der Pharao gab nach. Er erlaubte den israelitischen Sklaven, Ägypten zu verlassen; doch kaum hatte der Exodus begonnen, als die Hador vor das hunderttorige Theben zogen. Trotz der drohenden Gefahr, ihr Leben zu verlieren, beschimpften sie den allmächtigen Monarchen, geißelten ihn mit tödlichen Worten und beschlossen schließlich, die Flüchtenden zu verfolgen.«
Je länger er redete, desto mehr glätteten sich die Runzeln auf Niaris Stirn. Seine dunklen Augen waren forschend auf Joe gerichtet, seine Nasenflügel bebten. Er schien die staubige Luft des Kampfgetümmels einzuatmen.
»Die Hador spannten ihre schnellsten Rösser vor die Kriegswagen mit den bronzenen Rädern. Mit dem Wurfspieß und dem großen Bogen aus Palmholz bewaffnet, brausten sie wie der Sturmwind hinter der Spur Israels her. Der gesamte ägyptische Adel folgte ihnen und hatte den Pharao bei sich. Der Orkan aus Eisen erreichte die Flüchtenden in der Nähe des Roten Meeres. Der Atem Jehovas, so sagt die Legende, trennte die Wasser des Meeres in zwei Hälften, und die Mauern aus Wasser ließen einen Durchschlupf für Israel. Vor diesem Wunder wären einfache Krieger erschreckt zurückgewichen. Aber die Hador waren Helden, die Griechen hätten Halbgötter aus ihnen gemacht, und das Oberhaupt der Hador lenkte als erster seinen Streitwagen in den Abgrund.«
Trotz der Stricke, die seine Glieder einschnürten, gelang es dem Ägypter, sich auf die Füße zu stellen. Eine Röte durchzog seine bronzefarbene Haut; in seinen Augen glommen kleine Flämmchen.
Nach einem Augenblick des Schweigens fuhr Joe fort.
»Das Schicksal hatte die tapferen Krieger aus dem Niltal verdammt. Als sie gerade die Hebräer erreicht hatten, lösten sich die Räder von den Streitwagen. Pferde und Wagen verkeilten sich ineinander, dann stürzten die Wassermassen über ihnen zusammen, eine riesige Woge gischtete bis zum Himmel empor und riß die Körper dieser Titanen mit sich in die Tiefe des Meeres. Nicht einmal die göttliche Allmacht konnte diese tapferen Krieger schrecken.«
Und plötzlich, übergangslos, bekam seine Stimme einen bittenden Klang.
»Wie die Blume auf dem Korallenstock, so stammt Lotia von diesen Männern ab, die so hart wie Granit sind. Sie ist Anmut, Süße, Güte, wie sie der Stolz und der Mut Ägyptens waren. Willst du sie dazu verdammen, zu sterben? Willst du dieses letzte Band zu den alten glorreichen Zeiten abschneiden? Ihre unschuldige Liebe galt einem unserer Begleiter. Wer ist dieser? Ein Franzose, ein Mann aus diesem wohlwollenden und liebenswürdigen Volk, das Ägypten seinen alten Ruhm wiedergeben wollte. Unwissentlich wurde Lotia durch den Geist ihrer Ahnen geleitet … Art läßt nicht von Art. Was sie unbewußt suchte, das war die Allianz des jungen Ägypten mit Frankreich.«
Joes Ton wurde streng.
»Und was hast du währenddessen getan? Von einem blindwütigen Patriotismus geleitet, hast du diejenige, die allein alle ägyptischen Patrioten um sich scharen könnte, in die Arme des Todes gestoßen.«
Niari unterbrach Joe.
»Aber wenn sie ihn heiratet, ist sie für die Sache verloren, der ich mein ganzes Leben gewidmet habe. Du hast gut gesprochen, und mein Herz hat bei deinen Worten gezittert. Doch der, dessen Schicksal du beklagst, hat sich geweigert, gegen unsere Unterdrücker zu kämpfen.«
Pritchell dachte einen Augenblick nach.
»Wenn er inzwischen einverstanden ist, würdest du dich bereit erklären, für ihn auszusagen?«
Der Ägypter zögerte.
»Ich weiß nicht«, sagte er schließlich.
»Wie?«
»Ich weiß nicht«, wiederholte Niari. »Wie kann ich denn wissen, ob er so handeln wird, wie du meinst, wenn ich getan habe, was er wünscht.«
»Doch, er wird sich bei seiner Ehre dazu verpflichten. Er gehört zu denen, die ihr Wort nicht brechen.«
Tausend Falten schienen Niaris Züge zu durchziehen, seine Augen verrieten etwas von dem inneren Kampf der Zuneigung zu Lotia gegen die Ungewißheit der Zukunft.
»Aber Sie selbst sind doch Engländer«, murmelte er halb überzeugt. »Warum bitten Sie mich um Fürsprache für einen Mann, der, wenn ich Ihnen glauben kann, Krieg gegen Ihre Landsleute führen wird?«
Ein Schatten legte sich auf das Antlitz des Korsaren.
»Warum erinnerst du mich daran? Ich denke nur an Gerechtigkeit.«
Mit blitzenden Augen warf er den Kopf in den Nacken.
»Egal, was du eben gesagt hast, ich bitte dich dennoch. Höher als die Interessen des einzelnen, als die Interessen der Gesellschaft ist die Gerechtigkeit. Höher als das Glück ist die Ehre.«
Einen Augenblick überlegte Niari, dann willigte er ein.
»Es sei. Ich fühle, daß Ihre Worte wahr sind. Wenn sich Robert Lavarède verpflichtet, unsere Männer in den Kampf zu führen, werde ich ihm helfen, den Namen Thanis abzulegen.«
Pritchell wollte etwas sagen, doch dazu hatte er keine Zeit mehr. Leicht wie ein Hauch erklang neben seinem Ohr eine sanfte Stimme.
»Ja«, sagte diese Stimme, »ja, Robert, willige ein. Hilf mir, die Aufgabe zu erfüllen, die mir meine Ahnen hinterlassen haben.«
Lotia war aus ihrer Ohnmacht erwacht. Sie hatte die letzten Worte Niaris mit angehört und bedachte in ihrer Verwirrung nicht, daß das, worum sie ihren Geliebten bat, sie einst entzweit hatte.
Ihre Bitte ließ Robert erbleichen, aber Armand und Joe redeten gleichfalls auf ihn ein.
»Es geht um das Leben Lotias«, sagte Joe.
»Du kannst deinen Vatersnamen wieder annehmen und dich zugleich für die erlittene Unbill an denen rächen, die dich in dieses ägyptische Abenteuer hineinschlittern ließen«, sagte sein Cousin.
Robert dachte nach, dann wandte er sich an Niari.
»Wir werden nach Frankreich zurückkehren. Du wirst erklären, daß ich nicht Thanis bin; deine Erklärung wird notariell beglaubigt, und ich werde wieder ich selbst.«
»Ja.«
»Und ich gebe dir mein Wort, daß ich alles tun werde, was du von mir verlangst, um der ägyptischen Unabhängigkeit zu dienen.«
»Ist das wahr?«
»So wahr ich Robert Lavarède bin.«
»Du wirst Anführer der Erhebung sein?«
»Ich werde der Anführer sein.«
»Du wirst dein Leben unserer Sache weihen.«
»Das werde ich.«
»Und nach dem Sieg wirst du Hadors Tochter gemäß der Sitte deines Landes heiraten?«
»Ja.«
»Wenn du es dir anders überlegen willst, so ist es immer noch an der Zeit, dich von ihr zu trennen«, gab der Ägypter zu bedenken.
»Ich werde ein Feuerwerk an Ideen und Mut aufbringen, um sie im Brautkleid zu erleben. Ich habe geschworen. Ich werde nach Ägypten gehen, ich werde auf meinem Weg alles kurz und klein schlagen, ich werde den Nil umleiten, wenn du es wünschst, aber Lotia soll leben!«
Einen Monat nach diesen Ereignissen war Sydney in Feierstimmung. Eine lärmende, begeisterte und fröhliche Menge füllte die Straßen der Stadt.
Inmitten der lärmenden Menge sah man die Reporter des Instantaneous und der New Sydney Review, denen früher Armand Lavarède schon einmal zu Füßen des Galgens von Sir Toby Allsmine begegnet war. Sie strahlten. Denn als Ausgleich für den bösen Streich, den er ihnen einmal gespielt hatte, als er die fotografischen Platten vernichtete, die sie von Sir Toby aufgenommen hatten, erzählte ihnen der Franzose auf der Überfahrt von der Goldinsel nach Sydney – er und seine Begleiter sowie die fast vollzählig vertretene australische Presse hatten diese Überfahrt auf dem Flaggschiff von Lord Strawberry gemacht – die vollständigen Abenteuer von Korsar Triplex. Das erlaubte den beiden Blättern, diese wunderbare Geschichte achtundvierzig Stunden früher als die anderen Blätter zu veröffentlichen. Man kann sich denken, daß auch die Auflagenhöhe dieser beiden Blätter wunderbar war.
So hatte also die Öffentlichkeit den Sturz Toby Allsmines und die bevorstehende Hochzeit des Korsaren alias Joe Pritchell mit Miß Maudlin Green, der Tochter des von dem Polizeichef ermordeten Lords, erfahren.
Die doppelte Neuigkeit war mittels Telegrafen entlang der gesamten australischen Küste übermittelt worden und hatte für einen »unbeschreiblichen Tumult« gesorgt. Jedermann wollte durch seine Anwesenheit die Hochzeit des illustren Seemannes ehren. Die Eisenbahnergesellschaften hatten Sonderzüge bereitgestellt, die Schiffahrtunternehmen hatten Dampfschiffe gechartert, um unzählige Bewunderer des Korsaren in die Stadt zu bringen, und einige, die weder auf der Bahn noch auf dem Schiff Platz gefunden hatten, waren mit dem Ballon gekommen.
Auf allen Straßen ergoß sich ein ununterbrochener Strom von Fahrrädern, Pferden, Automobilen nach Sydney. Transportunternehmer machten ein Vermögen. Die Einwohnerzahl von Sydney hatte sich verzehnfacht. Man lief Gefahr, erdrückt zu werden. Sowohl auf den Straßen als auch in den Häusern. Die Hotels hatten ihre Preise in die Höhe geschraubt. In einem Einbettzimmer wurden fünf Personen untergebracht, was den Hotelbesitzer nicht daran hinderte, zwei Guineen je Tag von den Gästen zu verlangen. Die Preise für Roastbeef und Brot waren in unermeßliche Höhen geklettert.
Aber dazu muß man sagen, daß diese fabelhaft hohen Preise dem allgemeinen Frohsinn keinen Abbruch taten. Die Australier handeln gern, und sie fanden es ganz natürlich, daß man eine so außergewöhnliche Gelegenheit zum Handeln auch nutzte.
Die Fahrt der Eheleute Pritchell vom Schiff zur Kirche wurde zum Triumphzug. Ihre Fahrzeuge mußten sich durch eine doppelte Hecke von Neugierigen kämpfen, die frenetisch applaudierten. Mit einem Wort, es war ein rauschendes Fest, wie die Zeitungen am nächsten Tag übereinstimmend versicherten.
Am zweiten Tag schien die allgemeine Verrücktheit noch zuzunehmen. Die Schiffe der Pazifikflotte, die an dem Unternehmen teilgenommen hatten, schossen Salut, der von den Küstenbatterien erwidert wurde. Und zu guter Letzt hatte die Menge das Vergnügen, die geheimnisvollen Schiffe des Korsaren im Hafen auftauchen zu sehen.
Endlich sah man Triplex’ Augen!
Währenddessen saß Toby Allsmine besiegt, entehrt, gebrochen in seiner Kabine und dachte nach. Teilnahmslos starrte er vor sich hin; der Applaus der Menge, den ihm der Wind herübertrug, war für ihn eine Drohung.
Zu Boden geworfen zu werden, wenn man die Spitze aller Ehrungen erreicht hat! Gefangener zu sein, wenn man der allmächtige Herr über Millionen von Menschen, die an den Ufern des Pazifiks wohnten, gewesen war … Das war entsetzlich! Aber noch entsetzlicher war, den Triumph seines Feindes mit ansehen zu müssen.
Durch das kleine Bullauge blickte Allsmine zum Hafen hinüber. Die vielen bunten Fähnchen, die man dort an den Signalmasten gehißt hatte, die Detonationen der Kanonen, deren Knall dumpf über das Wasser rollte, die Vivatrufe der Sydneyer trafen ihn mitten ins Herz.
Triplex war alles. Und er war ein Nichts.
Ohnmächtiger Zorn stieg in ihm hoch. Man würde ihn nach England bringen. Wie der schlimmste Verbrecher würde er auf der Armesünderbank sitzen müssen. Der teuflische Korsar hatte seine – Allsmines – Geheimdossiers vernichtet. Wehrlos war er allen Anschuldigen ausgeliefert. Niemand würde jetzt mehr für ihn einen Finger rühren. Aus der Traum, die Mächtigen nach seiner Pfeife tanzen zu lassen! Man würde ihn hängen wie den gewöhnlichsten Spitzbuben.
Ja, sein Gegner hatte recht behalten in der Nacht des Dockerfestes. Wieder hörte er den Korsaren mit schneidender Stimme sagen: »Ich könnte Sie töten, ich ziehe es jedoch vor, Sie lächerlich zu machen, während ich darauf warte, daß die englische Justiz Sie richtet.«
Und wie er Wort gehalten hatte! Er war zum Gespött der Leute geworden. Und nun war alles aus, alles!
Allmählich wurde es stiller an Land. Das große Schweigen der Nacht breitete sich über die Stadt und den schlafenden Hafen. Und auch der Gefangene kam auf andere Gedanken.
Er fühlte ein unstillbares Bedürfnis nach Ruhe. Sein Leben war doch voller Ereignisse gewesen … Mit achtundvierzig Jahren hatte er mehr erlebt als viele seiner Altersgenossen. Er hatte Armut kennengelernt, dann, indem er alle Stufen der Hierarchie durchlaufen hatte, die angenehme Süße der Allmacht. Immer hatte er Hindernisse beiseite geräumt – außer diesem letzten. Na und? Er hatte gespielt, er hatte verloren, er würde bezahlen.
War sein Leben alles in allem so viel wert, daß er es verteidigte? Vielleicht gelang es ihm, seinen Kopf zu retten, wenn er sich gut aufführte … Schöne Aussichten! Eine unumstößliche Verurteilung in eine Verurteilung ständiger Zwangsarbeit umwandeln. War das noch Leben, wenn man der Freiheit beraubt war? Lebenslängliche Haft war nichts weiter als eine lange Agonie. Schnell sterben, mit einem Minimum an Leid, das war erstrebenswerter.
Ja, aber gehenkt werden, am Ende eines Strickes baumeln und von einer gaffenden Menschenmenge bestaunt. Nein, tausendmal nein. Er gehörte nicht zu denen, die die Hand des Henkers aufs Schafott zwingt.
Fast die ganze Nacht überlegte er.
Die Morgendämmerung bleichte schon den Horizont, als er mit einer entschlossenen Geste sagte: »Aus und Schluß, Freund Toby.«
Aus seiner Tasche zog er einen kleinen Flakon. Er schüttelte den Inhalt auf seine Hand. Es waren drei rotbraune Pillen. Tiefsinnig betrachtete er sie und ließ sie in seiner Handfläche kreiseln. Langsam ging er zu seinem Bett und streckte sich darauf aus. Zehn Minuten etwa lag er mit geschlossenen Augen da.
Dann öffnete er die Augen, schaute mit einem Ausdruck von Wut und Schrecken noch einmal aus dem Bullauge und schluckte mit einer entschlossenen Bewegung die drei Pillen hinunter.
Mit einem Gift, das er stets bei sich trug, hatte er sich der menschlichen Gerechtigkeit entzogen.
Sechs Monate waren vergangen. Die beiden Lavarèdes, Aurett, Lotia und Niari waren nach einem bewegenden Abschied von Joe Pritchell, der mit seiner jungen Frau und Joan auf der Goldinsel zurückbleiben wollte, um dort den Reichtum der Insel seinen alten Gefährten zukommen zu lassen, nach Paris zurückgekehrt.
Bei einem Notar ließ man gemäß Niaris Erklärungen ein Zeugnis ausstellen. Von nun an war Robert wieder französischer Staatsbürger und erfreute sich seines alten Namens.
Den Abend dieses glücklichen Tages, an dem die letzten Formalitäten erledigt worden waren, verbrachte er mit Lotia, die in der Zwischenzeit ihre Hoffnung, ihre Gesundheit und auch ihr bewundernswertes Aussehen wiedergewonnen hatte.
Plötzlich trat Niari zu der Gruppe.
»Was ist, Niari?« fragte Lotia.
Der Ägypter verbeugte sich.
»Tochter Hadors, ich habe mein Versprechen gehalten. Wie sieht es mit Ihrem aus?«
»He!« unterbrach ihn Aurett, die, ihrem Gatten über die Schulter schauend, die wunderbaren Abenteuer an der Seite Triplex’ mitlas, die Armand gerade zu Papier brachte, »he, tapferer Niari, laß ihnen doch Zeit, erst einmal auszuruhen.«
Niari schüttelte den Kopf.
Robert lächelte. In den Krieg ziehen bedeutete für ihn, der Heirat mit Lotia wieder einen Schritt näher zu kommen. Und im Augenblick dachte er nur daran.
»Bereite alles für die Abreise vor, Niari«, sagte er. »Wir verlassen Paris, sobald du die notwendigen Vorbereitungen getroffen hast, die du für nötig erachtest.«
Zum erstenmal in dieser Geschichte zeigte sich ein breites Lächeln auf dem Gesicht des Ägypters. Er verbeugte sich vor dem zukünftigen Mann Lotias.
»Ich danke dir für diese Worte, Herr. Dein Mund lügt nicht, und dein Herz ist so ehrlich wie du selbst. Bald werden wir aufbrechen, um den Nil zu erobern.«
»Lieber als den allzu abgewogenen Jules Verne hatte ich die Extravaganzen eines Paul d’Ivoi.« Der solches in seinem Erinnerungsbuch »Die Wörter« bekennt, ist kein Geringerer als der weltbekannte französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre. Sartres Geburtsdatum 1905 ist das Todesjahr Jules Vernes. Verne war der unbestrittene König des französischen Abenteuerromans, und er sollte es noch lange bleiben – bis heute, da er auch als der Vater der utopischen Literatur gilt. Doch war bereits 1894 in Frankreich ein Buch erschienen, das binnen eines Jahres mehrere Auflagen erlebte und selbst – für kurze Zeit – den Ruhm des erfolggewohnten Jules Verne in den Schatten stellte. Ja, dessen nicht genug, 1902 wurde ein Theaterstück in vier Akten und einundzwanzig Bildern nach besagtem Buch aufgeführt, und nach den einhelligen Berichten der Chronisten war das ein Spektakel, das ganz Paris des Jahres 1902 in seinen Bann zog: »Die fünf Sous des Herrn Lavarède.«
Als Autor zeichnete ein den Lesern bis dato völlig unbekannter Paul d’Ivoi. Wer verbarg sich dahinter?
Paul d’Ivoi ist ein Pseudonym. Ursprünglich – jedenfalls was »Die fünf Sous des Herrn Lavarède« betrifft – verbargen sich hinter diesem Pseudonym zwei Autoren: Paul Charles Deleutre (1856 bis 1915), Journalist am Pariser Le Figaro, und Henri Chabrillat (1842 bis 1893), von dem außer seinen Lebensdaten nichts weiter überliefert ist. Chabrillat erlebte den durchschlagenden Erfolg des »Lavarède« nicht mehr. Deleutre jedoch, einmal durch den Erfolg ermutigt, hängte den Journalistenberuf an den Nagel und schrieb bis zu seinem Tode insgesamt einundzwanzig Bände seiner Voyages excentriques (Exzentrische Reisen).
Ein Teil dieser Titel erschien zunächst im Feuilleton bzw. als Fortsetzungsabdruck in den großen Wochenendzeitschriften wie beispielsweise im schon erwähnten Journal des Voyages. Auch der »Korsar Triplex« erblickte hier das Licht der Welt. 1898 erschien der erste Teil des vorliegenden Romans unter dem Titel »Der unsichtbare Korsar«, dem 1901 »Triplex« und ein Jahr darauf »Die Goldinsel« folgten. Später gab d’Ivoi die drei Teile unter dem jetzigen Titel heraus.
Geschickt verknüpft d’Ivoi dabei die Handlungsfäden seiner Geschichten miteinander, so daß bis auf wenige Ausnahmen alle Bände der Exzentrischen Reisen mehr oder weniger auch als die »exzentrischen Abenteuer der Familie Lavarède« gelesen werden können.
Mit der Wahl seines »Haupthelden« Armand Lavarède nämlich war d’Ivoi ein ausgesprochener Glückstreffer gelungen. Dieser pfiffige, in fast allen Berufen bewanderte (natürlich Journalist!) und in allen Lebenslagen nie aufsteckende (natürlich stand seine Wiege in Paris!) Franzose war so recht nach dem Geschmack der französischen Jungen um die Jahrhundertwende. Er war sowohl Phileas Fogg als auch Passepartout in einem; und im Gegensatz zu der sich behäbig entwickelnden Handlung bei Verne hüpft der Lavarède von d’Ivoi wie ein quickes Stehaufmännchen aus einem schier unmöglich zu meisternden Abenteuer ins nächste.
Obwohl alle weiteren einundzwanzig Bände, die d’Ivoi noch veröffentlicht hat, achtbar aufgenommen wurden, erreichte er den Erfolg der »Fünf Sous« nicht mehr. Am nächsten kam dem noch »Korsar Triplex«. Doch hatte man schon zu Lebzeiten des Autors diesem die allzu deutlich zu spürende Nähe zu einem Buch von Jules Verne vorgeworfen. Aber das schien d’Ivoi nicht weiter zu stören. In allen seinen Büchern tauchen einige Erfindungen auf, die Verne zuzuschreiben man allzu schnell bereit ist – aber bitte schön, hatte es nicht die Reise zum Mond bereits bei Cyrano de Bergerac zweihundert Jahre zuvor gegeben? Und war nicht schon Dante bis zum Mittelpunkt der Erde vorgedrungen?
Ganz sicher hatte d’Ivoi nicht den Ehrgeiz, als ein Autor der »wissenschaftlichen Phantastik« angesehen zu werden. Was ihn heute noch lesenswert macht, ist die witzige Liebenswürdigkeit, mit der seine Helden (und Heldinnen) gegen die Widrigkeiten des Zeitgeistes ankämpfen. Und dieser Zeitgeist ist manchmal arg widrig. Entweder posiert er in der Gestalt von übelwollenden Wucherern oder pseudophilosophierenden Polizisten (wie in »Die fünf Sous des Herrn Lavarède«) oder in Person eines schurkischen Staatsdieners, der sein Amt schnöde mißbraucht. Obwohl d’Ivoi den Engländern und den Deutschen gern ein bißchen auf den Füßen herumtrampelt, hütet er sich doch wohltuenderweise vor einem penetranten Nationalismus, der zu seiner Zeit so selten gar nicht war. Denn immerhin ist der geldgierige Widerpart Armand Lavarèdes in den »Fünf Sous«, Bouvreuil, Franzose. Und der wird genauso »mit Lächerlichkeit getötet« wie Sir Toby Allsmine im »Korsar Triplex«. Das ist schließlich das wesentliche Verdienst d’Ivois: der Humor. Immer, wenn es gar zu »dicke« kommt, scheint er dem Leser mit einem Augenzwinkern zu signalisieren, daß dies ja eh nur eine erfundene Geschichte ist. Auch seine Figuren lassen es angesichts lebensbedrohender Umstände nicht an flotten Sprüchen fehlen, um sich und anderen Mut zu machen. Und das könnte man doch als eine fröhliche Botschaft aus diesen »exzentrischen Reisen« herauslesen: Nur dem gehört die Welt, der nie aufgibt. Und lachen kann.
Bernhard Thieme
Titel des französischen Originals: Corsaire Triplex
Leicht gekürzt und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Thieme
Illustrationen von Rainer Schwalme
ISBN 3‑355‑00828‑1
© Verlag Neues Leben, Berlin 1989 Lizenz Nr. 303 (305/81/89) LSV 7723 Einband: Rainer Schwalme Typografie: Katrin Kampa Schrift: 10 p Garamond Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Bestell-Nr. 6446251 00750