Über einer fernen Ebene auf Beta Pyxis III ging Beta Pyxis, die Sonne dieses Systems, gerade im Osten auf. Durch die spezielle Zusammensetzung der Atmosphäre hatte der Himmel eine Färbung, die ins Türkisfarbene ging, mit etwas mehr Grün als auf der Erde, aber im Wesentlichen immer noch blau. Auf der sanft gewellten Ebene wogten die Gräser in Rotund Orangetönen in der morgendlichen Brise. Vogelähnliche Tiere mit zwei Flügelpaaren spielten am Himmel und erkundeten die Luftströmungen in wilden, chaotischen Flugmanövern. Es war unser erster Morgen auf einer neuen Welt, der ersten, auf die ich oder meine Kameraden ihren Fuß gesetzt hatten. Es war wunderschön. Wenn es nicht den großen, wütenden Master Sergeant gegeben hätte, der mir ins Ohr bellte, wäre es ein vollkommener Morgen gewesen.
Leider gab es dieses lästige Detail, das die Vollkommenheit störte.
»Jesus auf der Rodelbahn!«, rief Master Sergeant Antonio Ruiz, nachdem er unsere sechzigköpfige Rekrutenkompanie wütend angefunkelt hatte. Wir standen auf dem Asphalt des Shuttlelandeplatzes der Basis Delta und hatten Haltung angenommen (oder was wir dafür hielten). »Wir haben soeben eindeutig die Schlacht ums verdammte Universum verloren. Wenn ich Sie anschaue, kommen mir sofort die gottverdammten Worte ›total im Arsch‹ in den Sinn. Wenn Sie das Beste sind, was die Erde aufzubieten hat, wird es Zeit, dass wir uns tief bücken und einen Tentakel in den Arsch schieben lassen.«
Das entlockte mehreren Rekruten leises Gelächter. Master Sergeant Antonio Ruiz schien von einem Besetzungsbüro ausgewählt worden zu sein. Er war genauso, wie man sich einen knallharten Ausbilder vorstellte◦– groß, jähzornig und mit einem unbegrenzten Vorrat an phantasievollen Schimpfworten. Zweifellos würde er in den nächsten Sekunden einem der lachenden Rekruten an die Gurgel springen, ihm Unflätigkeiten an den Kopf werfen und zwingen, hundert Liegestütze zu machen. Das kommt davon, wenn man fünfundsiebzig Jahre lang mittelmäßige Kriegsfilme gesehen hat.
»Ha ha ha«, erwiderte Master Sergeant Antonio Ruiz. »Glaubt ihr, ich wüsste nicht, was ihr gerade denkt, ihr blöden Scheißer. Ich weiß, dass ihr euch jetzt noch prächtig über meine Vorstellung amüsiert. Wie köstlich! Ich bin genauso wie alle Ausbilder, die ihr aus Kriegsfilmen kennt! Bin ich nicht einfach unglaublich originell?«
Das Lachen erstarb schlagartig. Seine letzten Sätze standen nicht im Drehbuch.
»Ihr versteht überhaupt nichts«, fuhr er fort. »Ihr bildet euch ein, ich würde so reden, weil das irgendwie zur Rolle eines Ausbilders gehört. Ihr glaubt, dass nach ein paar Wochen der Ausbildung meine böse, aber gerechte Fassade bröckeln wird, worauf ich durchblicken lasse, dass ich doch ein bisschen von euch beeindruckt bin. Und am Ende der Ausbildungszeit werde ich widerstrebend zugeben müssen, dass ihr euch meinen Respekt verdient habt. Ihr bildet euch ein, dass ich es gut mit euch meine, während ihr das Universum etwas sicherer für die Menschheit macht, und dass ich bessere Soldaten und Soldatinnen aus euch gemacht haben werde. Was ihr glaubt und euch einbildet, meine sehr verehrten Rekruten und Rekrutinnen, ist völliger und ausgemachter Blödsinn.«
Master Sergeant Antonio Ruiz trat vor und ging an den Reihen auf und ab. »All das sind nicht mehr als Illusionen, weil ich im Gegensatz zu euch wirklich da draußen im Universum war. Ich habe gesehen, mit welchen Gefahren wir es dort zu tun haben. Ich habe gesehen, wie Männer und Frauen, die ich persönlich kannte, in Fleischbrocken zerrissen wurden, die immer noch in der Lage waren zu schreien. Bei meinem ersten Einsatz wurde mein vorgesetzter Offizier in ein Mittagsbüffet für Aliens verwandelt. Ich habe gesehen, wie die Bestien ihn packten, zu Boden drückten, ihm die inneren Organe herausrissen, sie unter sich aufteilten und genüsslich verschlangen◦– um sich anschließend wieder in den Boden zurückzuziehen, bevor irgendjemand von uns irgendwas dagegen tun konnte.«
Ein ersticktes Lachen von irgendwo hinter mir. Master Sergeant Antonio Ruiz hielt inne und legte den Kopf schief. »Ach. Einer von euch glaubt wohl, ich würde irgendwelche Geschichten erzählen. Es gibt immer einen blöden Saftarsch, der das glaubt. Deshalb habe ich stets das hier zur Hand. Aktivieren!«
Plötzlich tauchte vor uns ein Videoschirm auf. Ich war eine Sekunde lang desorientiert, bevor mir klar wurde, dass Ruiz irgendwie auf meinen BrainPal zugegriffen hatte und mir eine Videoaufzeichnung überspielte. Die Bilder schienen von einer kleinen Helmkamera aufgenommen worden zu sein. Wir sahen mehrere Soldaten, die in einem Schützengraben kauerten und die Einsatzplanung des nächsten Tages besprachen. Da brach einer der Soldaten mitten im Satz ab und legte eine Hand auf den Boden. Er blickte mit ängstlichem Ausdruck auf, dann schrie er »Sie kommen!«◦– einen Sekundenbruchteil, bevor der Boden unter ihm explodierte.
Was als Nächstes geschah, geschah so schnell, dass es trotz der instinktiven, panischen Reaktion, mit der die Kamera weggedreht wurde, deutlich genug zu erkennen war. Es waren entsetzliche Bilder. In der realen Welt übergab sich jemand, ironischerweise im selben Moment wie die Person, an deren Helm die Kamera montiert war. Zum Glück wurde die Übertragung des Videos unmittelbar danach abgebrochen.
»Jetzt klingt es nicht mehr so witzig, was ich sage, nicht wahr?«, fuhr Master Sergeant Antonio Ruiz spöttisch fort. »Plötzlich bin ich gar nicht mehr der beschissene, klischeehafte Ausbilder, nicht wahr? Das alles hier ist plötzlich gar keine amüsante Militärklamotte mehr, nicht wahr? Willkommen in der Scheißrealität! Das Universum ist ein verdammt beschissener Ort, meine Freunde. Und ich rede nicht so zu euch, weil es mir Spaß macht, die Rolle des verdammten Scheißausbilders zu spielen. Der Mann, der dort zerschlitzt und zerfetzt wurde, war einer der besten Soldaten, die ich jemals die Ehre hatte, kennen lernen zu dürfen. Keiner von euch kann sich mit ihm messen. Trotzdem habt ihr gesehen, was mit ihm passiert ist. Jetzt stellt euch vor, was mit euch passieren wird. Ich rede so mit euch, wie ich rede, weil ich wirklich davon überzeugt bin, dass wir ein großes Problem haben. Wenn ihr das Beste seid, was die Menschheit aufzubieten hat, werden wir total und unübertrefflich im Arsch sein. Glaubt ihr mir jetzt?«
Ein paar von uns brachten ein mattes »Ja, Sir« oder etwas Ähnliches heraus. Die Übrigen hatten immer noch die Bilder von der Ausweidung im Kopf, auch ohne dass sie noch einmal von unseren BrainPals abgespielt wurden.
»Sir? Sir?!? Ich bin ein verdammter Master Sergeant, ihr Saftärsche! Ich mache hier meine Arbeit! Ihr werdet mit ›Ja, Master Sergeant‹ antworten, wenn ihr eine Frage bejaht, und mit ›Nein, Master Sergeant‹, wenn ihr sie verneint. Habt ihr das verstanden?«
»Ja, Master Sergeant!«, antworteten wir.
»Das könnt ihr bestimmt viel besser! Sagt es noch einmal!«
»Ja, Master Sergeant!«, brüllten wir. Einige von uns standen in diesem Moment offensichtlich kurz vor den Tränen.
»In den nächsten zwölf Wochen ist es mein Job, euch zu Soldaten auszubilden oder es zumindest zu versuchen, und ich schwöre euch, dass ich meine Arbeit tun werde! Auch wenn mir schon jetzt klar ist, dass es keiner von euch Saftärschen schaffen wird. Ihr denkt jetzt gefälligst über das nach, was ich euch zu sagen habe. Das hier ist nicht das Militär auf der guten alten Erde, wo Ausbilder die Fetten in Form bringen, die Schwachen aufpäppeln und den Blöden etwas beibringen mussten. Jeder von euch steht hier mit der Erfahrung eines ganzen Lebens und einem neuen Körper, der in Bestform ist. Vielleicht glaubt ihr, dass meine Arbeit dadurch leichter wird. Aber so ist es nicht!
Jeder von euch hat fünfundsiebzig Jahre lang schlechte Gewohnheiten und persönliche Ansprüche angesammelt, die ich euch in drei gottverdammten Monaten austreiben muss. Und jeder von euch glaubt, dass sein neuer Körper so etwas wie ein tolles Spielzeug ist. Ja, ich weiß genau, was ihr in der letzten Woche damit gemacht habt. Ihr habt wie die Kaninchen gerammelt. Ratet mal, was jetzt kommt! Genau, die Zeit zum Spielen ist vorbei. In den nächsten zwölf Wochen könnt ihr euch glücklich schätzen, wenn ihr dazu kommt, euch unter der Dusche einen runterzuholen. Jetzt werdet ihr mit eurem tollen neuen Spielzeug arbeiten, meine Hübschen. Denn ich soll Soldaten aus euch machen. Und das wird ein verdammter Vollzeitjob sein.«
Ruiz ging wieder vor den Rekruten auf und ab. »Eins möchte ich noch klarstellen. Ich mag keinen Einzigen von euch, und ich werde nie jemanden von euch mögen. Warum? Weil ich weiß, dass ihr mir und meinen Mitarbeitern trotz der guten Arbeit, die wir in euch investieren, Schande machen werdet. Und das kann ich nicht ausstehen. Ich finde nachts keinen Schlaf, weil ich weiß, dass ihr unweigerlich versagen werdet, ganz gleich, wie gut ich euch ausbilde. Nachdem ich mit euch fertig bin, kann ich nur noch darauf hoffen, dass ihr nicht eure ganze Kompanie mit in den Tod reißen werdet, wenn es so weit ist. Ihr habt richtig gehört: Wenn ihr versagt und nur allein umkommt, rechne ich das als Erfolg! Jetzt glaubt ihr vielleicht, dass ich für euch alle grundsätzlich eine Art Hass empfinde. Ich möchte euch versichern, dass das nicht der Fall ist. Jeder von euch wird versagen, aber jeder wird auf seine ganz individuelle Art versagen, und deshalb kann ich euch auf einer ganz individuellen Grundlage nicht leiden. Schon jetzt erkenne ich an jedem von euch bestimmte Eigenschaften, über die ich mich nur aufregen könnte. Glaubt ihr mir das?«
»Ja, Master Sergeant!«
»Scheiße! Einige von euch glauben immer noch, dass sich mein Hass auf jemand anderen richten wird.« Ruiz streckte den Arm aus und zeigte über die Ebene zur aufgehenden Sonne. »Benutzt eure hübschen neuen Augen, um euren Blick auf den Sendeturm dort zu konzentrieren. Ihr könnt ihn kaum erkennen. Er ist zehn Kilometer entfernt, meine Damen und Herren. Ich werde an jedem von euch etwas finden, das mir stinkt, und wenn das der Fall ist, wird derjenige zu diesem Scheißturm rennen. Und wenn er nach einer Stunde nicht wieder hier ist, wird am nächsten Morgen die gesamte Truppe mitrennen. Habt ihr mich verstanden?«
»Ja, Master Sergeant!« Ich sah, wie einige der Leute Kopfrechnungen anstellten. Er verlangte von uns, in fünf Minuten eine Meile zu laufen, hin und wieder zurück. Ich hatte den Verdacht, dass wir am nächsten Morgen alle die Strecke laufen würden.
»Wer von euch war auf der Erde beim Militär? Vortreten!«
Sieben Rekruten gaben sich zu erkennen.
»Verdammte Scheiße!«, rief Ruiz. »Es gibt nichts in diesem verfluchten Universum, was ich mehr hasse als Rekruten, die Veteranen sind. Mit euch Idioten werde ich die meiste Arbeit haben, weil ich euch alles austreiben muss, was ihr auf der Erde gelernt habt. Dort musstet ihr kleinen Scheißer nichts anderes machen, als gegen Menschen zu kämpfen! Und nicht einmal das konntet ihr richtig. Ja, wir haben euren Subkontinentalen Krieg verfolgt. Scheiße. Ihr habt sechs verdammte Jahre gebraucht, um einen Feind zu besiegen, der kaum über Feuerwaffen verfügte, und ihr habt euch den Sieg nur durch Betrug sichern können. Atomwaffen sind was für Weicheier. Ja, für Weicheier. Wenn die KVA so kämpfen würde, wie es die US-Streitkräfte getan haben◦– ist euch klar, wo die Menschheit heute stehen würde? Wir würden auf einem Asteroiden leben und Algen von Tunnelwänden kratzen! Und wer von euch Arschlöchern war bei den Marines?«
Zwei Rekruten traten vor. »Ihr Scheißer seid die allerschlimmsten!«, brüllte Ruiz ihnen ins Gesicht. »Ihr selbstgefälligen Saftsäcke habt mehr KVA-Soldaten getötet als jede Alien-Spezies◦– weil ihr eure Aktionen nach beschissener Marines-Manier durchgezogen habt, statt es so zu machen, wie man es machen sollte. Wahrscheinlich hattet ihr auf euren alten Körpern irgendwo ein ›Semper Fi‹ tätowiert. Richtig? Richtig?«
»Ja, Master Sergeant!«, antworteten die beiden.
»Ihr habt verdammtes Glück, dass ihr eure Greisenkörper nicht mehr habt, weil ich euch sonst gepackt und es euch eigenhändig rausgeschnitten hätte. Und ich hoffe, ihr glaubt mir, dass ich so etwas tun würde. Ich kann euch versichern, dass es hier anders als bei den Marines oder sonstigen militärischen Einrichtungen läuft. Der Unterschied ist der, dass der Ausbilder hier wirklich und wahrhaftig Gott ist! Ich könnte Blutwurst aus euren Scheißeingeweiden machen, und ich würde nur dann Ärger von oben bekommen, wenn ich nicht dafür sorgte, dass einer von euch anschließend die Sauerei beseitigt.« Ruiz trat zurück und sah die übrigen Veteranen mit finsterem Blick an. »Dies hier ist das wahre Militär, meine Damen und Herren. Ihr seid nicht beim Heer, in der Marine oder der Luftwaffe. Ihr gehört zu uns. Und jedes Mal, wenn ihr das vergesst, werde ich zur Stelle sein und euch dafür fertigmachen. Rennt los!«
Sie rannten.
»Wer von Ihnen ist homosexuell?«, wollte Ruiz wissen.
Vier Rekruten traten vor, einschließlich Alan, der neben mir stand. Ich sah, wie er die Stirn runzelte, als er vortrat.
»Einige der besten Soldaten der Menschheitsgeschichte waren homosexuell«, sagte Ruiz. »Alexander der Große, Richard Löwenherz. Die Spartaner hatten eine eigene Truppe aus Pärchen vom anderen Ufer, weil sie dachten, ein Mann würde härter um das Leben seines Geliebten kämpfen als um das irgendeines anderen Soldaten. Einige der besten Kämpfer, die ich persönlich kennen gelernt habe, waren so schwul wie eine Drei-Dollar-Note. Alles wunderbare Soldaten.
Aber es gibt etwas, das mich an ihnen tierisch nervt: Sie suchen sich immer den unpassendsten Moment aus, um ihre Gefühle zu offenbaren. Es ist mir schon dreimal passiert, dass ich an der Seite eines Schwulen gekämpft habe und er mir ausgerechnet in dem Moment, als es wirklich brenzlig wurde, erklären musste, dass er sich in mich verliebt hatte. Das ist einfach verdammt unpassend. Irgendein Alien will mir das Gehirn aus dem Schädel schlürfen, und mein Kamerad will mit mir unsere Beziehung diskutieren! Als hätte ich im Moment nicht ganz andere Sorgen. Tut euren Kameraden einen verdammten Gefallen. Wenn ihr euch verknallt, setzt euch in eurer Freizeit damit auseinander und nicht, wenn irgendeine Bestie euch zerfleischen will. Rennt los!«
Weg waren sie.
»Wer gehört einer ethnischen Minderheit an?«
Zehn Rekruten traten vor.
»Blödmänner! Schaut euch um, ihr Arschlöcher. Hier sind alle grün. Hier gibt es keine Minderheiten. Wollt ihr einer ethnischen Minderheit angehören? Gut. Im Universum leben zwanzig Milliarden Menschen. Es gibt vier Billionen von andereren intelligenten Spezies, und sie alle würden euch gerne zum Frühstück verspeisen. Und das sind nur die, von denen wir wissen! Der erste von euch, der zickig wird, weil er einer Minderheit angehört, bekommt von meinem grünen Latinofuß einen Tritt in die Weicheier! Bewegt euch!«
Sie rannten über die Ebene davon.
Und so ging es weiter. Ruiz hatte gegen jeden etwas Bestimmtes vorzubringen, gegen Christen, Juden, Moslems und Atheisten, gegen Beamte, Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Haustierbesitzer, Waffenbesitzer, Kampfsportler, Ringer und seltsamerweise (sowohl hinsichtlich seiner Abneigung wie auch der Tatsache, dass es tatsächlich jemanden in der Truppe gab, der in diese Kategorie fiel) gegen Holzschuhtänzer. Einzeln oder in Gruppen wurden immer neue Rekruten herausgepickt und gezwungen, über die Ebene zu rennen.
Irgendwann wurde mir bewusst, dass Ruiz mich anstarrte. Ich wahrte die Haltung.
»Verdammt, ich fasse es nicht«, sagte Ruiz. »Einer von euch Scheißern ist übrig!«
»Ja, Master Sergeant!«, brüllte ich, so laut ich konnte.
»Es ist für mich nur schwer zu glauben, dass du in keine der Kategorien fällst, die mir gegen den Strich gehen!«, sagte Ruiz. »Wahrscheinlich versuchst du nur, dich vor einer erquickenden Joggingrunde am Morgen zu drücken!«
»Nein, Master Sergeant!«, bellte ich.
»Es kann einfach nicht sein, dass du keine Eigenschaft besitzt, die ich verachte. Woher kommst du?«
»Aus Ohio, Master Sergeant!«
Ruiz verzog das Gesicht. Nichts zu machen. Endlich einmal hatte sich die absolute Charakterlosigkeit von Ohio zu meinem Vorteil ausgewirkt. »Als was hast du gearbeitet, Rekrut?«
»Ich war selbstständig, Master Sergeant!«
»In welchem Bereich?«
»Ich war Schriftsteller, Master Sergeant!«
Ruiz zeigte wieder sein teuflisches Grinsen. Offenbar hatte er auch etwas gegen Leute, die mit Worten ihren Lebensunterhalt verdienten. »Mit Literaten habe ich ein besonders fettes Hühnchen zu rupfen!«, rief er. »Du hast also Romane geschrieben!«
»Nein, Master Sergeant!«
»Verdammt! Dann sag mir, was du geschrieben hast!«
»Werbetexte, Master Sergeant!«
»Werbung! Für welche nutzlosen und bescheuerten Dinge hast du Reklame gemacht?«
»Bei meinem erfolgreichsten Auftrag ging es um Rolli Roller, Master Sergeant!« Rolli Roller war das Maskottchen von Nirvana Tires, die Reifen für Spezialfahrzeuge herstellten. Ich hatte die Grundidee und Rollis Motto geliefert, aus der die Zeichner der Firma die Figur entwickelt hatten. Rolli Rollers Auftritt fiel zeitlich mit dem Revival der Motorräder zusammen. Die Mode hielt mehrere Jahre lang an, und Rolli brachte Nirvana eine Menge Geld ein, nicht nur als Figur für Werbespots, sondern auch im Lizenzgeschäft als Vorlage für Stoffpuppen, T-Shirts, Schnapsgläser und so weiter. Es war sogar eine Zeichentrickserie für Kinder geplant, aus der jedoch nichts wurde. Im Grunde war es eine ziemlich alberne Geschichte, aber Rollis Erfolg sorgte dafür, dass mir nie die Kunden ausgingen. Für mich hatte es sich gelohnt. Allerdings nur bis zu diesem Moment, wie es schien.
Ruiz machte unvermittelt einen Satz nach vorn und brüllte mir direkt ins Gesicht. »Du bist für die Rolli-Roller-Kampagne verantwortlich, Rekrut?«
»Ja, Master Sergeant!« Es bereite mir ein perverses Vergnügen, jemanden anzuschreien, dessen Visage nur wenige Millimeter von meinem eigenen entfernt war.
Ruiz hing noch ein paar Sekunden lang vor meinem Gesicht, musterte mich ganz genau und wartete, dass ich zusammenzuckte. Dann knurrte er sogar. Schließlich trat er zurück und knöpfte langsam sein Hemd auf. Ich wahrte die Haltung, aber plötzlich bekam ich große Angst. Er zog sich das Hemd über die rechte Schulter, drehte sie in meine Richtung und trat wieder vor. »Rekrut, sage mir, was du dort auf meiner Schulter siehst!«
Ich schaute hin und dachte: Ich glaub’s einfach nicht! »Da ist ein Tattoo von Rolli Roller, Master Sergeant!«
»Völlig richtig«, bellte Ruiz zurück. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen, Rekrut. Auf der Erde war ich mit einer sehr bösartigen Frau verheiratet. Sie war eine wahrhaftige Giftschlange. Obwohl ich mich während der Ehe gefühlt habe, als würde ich langsam an vielen kleinen Schnittwunden verbluten, hatte sie mich so fest im Griff, dass ich an Selbstmord dachte, als sie sich von mir scheiden lassen wollte. Am tiefsten Punkt meines Lebens stand ich an einer Bushaltestelle und überlegte, ob ich mich vor den nächsten Bus werfen sollte, der vorbeikam. Dann schaute ich auf und sah ein Werbeplakat mit Rolli Roller. Und weißt du, welcher Spruch dort stand, Rekrut?«
»Manchmal muss man einfach die Kurve kratzen, Master Sergeant!« Ich hatte etwa fünfzehn Sekunden gebraucht, um auf diesen Spruch zu kommen und ihn hinzuschreiben. Was für eine Welt!
»Genau!«, sagte er. »Und als ich auf dieses Plakat starrte, hatte ich so etwas wie meinen Moment der Erleuchtung. Plötzlich wusste ich, dass ich einfach die Kurve kratzen musste. Ich habe mich von der bösen Giftschlange scheiden lassen, ich dankte meinem Schicksal, packte meine Sachen in eine Satteltasche und ritt davon. Seit jenem gesegneten Tag ist Rolli Roller mein Avatar gewesen, das Symbol meiner Sehnsucht nach Freiheit und Selbstverwirklichung. Er hat mir das Leben gerettet, Rekrut, und dafür bin ich ihm auf ewig dankbar.«
»Das freut mich, Master Sergeant!«, brüllte ich.
»Rekrut, es ist mir eine Ehre, dich kennen gelernt zu haben. Außerdem bist du der erste Rekrut in meiner Militärlaufbahn, der mir keinen unmittelbaren Anlass zur Verachtung gegeben hat. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das irritiert und entnervt. Doch ich tröste mich mit der ungetrübten Gewissheit, dass du schon bald, höchstwahrscheinlich innerhalb der nächsten paar Stunden, etwas tun wirst, das mich ankotzt. Damit sich meine Hoffnung erfüllt, ernenne ich dich hiermit zum Kompanieführer. Das ist ein undankbarer Scheißjob, der nichts Erstrebenswertes hat, da du noch viel härter mit den armseligen Rekruten umspringen musst als ich, denn für jeden Mist, den sie bauen, wirst du den doppelten Ärger bekommen. Die Leute werden dich hassen, dich verachten, dir das Leben schwer machen, und ich werde dir eine Extraration Scheiße verpassen, wenn es ihnen gelingen sollte. Was hälst du davon, Rekrut? Antworte mir ehrlich!«
»Ich scheine ziemlich tief in der Scheiße zu stecken, Master Sergeant!«, brüllte ich.
»So ist es, Rekrut«, sagte Ruiz. »Aber du steckst schon längst tief in der Scheiße, und zwar seit dem Moment, als du in meiner Kompanie gelandet sind. Jetzt renn los! Wenn die ganze Kompanie rennt, kann der Anführer nicht als Einziger zurückbleiben. Beweg dich!«
»Ich weiß nicht, ob ich dir gratulieren oder dich bedauern soll«, sagte Alan, als wir uns zum Frühstück vor der Messe wiedertrafen.
»Du darfst beides tun«, sagte ich. »Obwohl es wahrscheinlich angemessener wäre, mich zu bedauern. Ach, da sind sie ja.« Ich zeigte auf eine Gruppe von fünf Rekruten, drei Männer und zwei Frauen, die vor der Messe herumlungerten.
Etwas früher, während ich zum Sendeturm gelaufen war, wäre ich fast gegen einen Baum gerannt, als mein BrainPal mir mit einer Nachricht das Sichtfeld versperrte. Ich konnte dem Baum im letzten Moment ausweichen, streifte den Stamm lediglich mit einer Schulter und sagte Arschloch, dass er wieder auf Sprachmodus gehen sollte, bevor ich mir sämtliche Knochen brach. Arschloch gehorchte und las mir noch einmal die Nachricht vor.
Die Ernennung von John Perry zum Anführer der 63. Ausbildungskompanie durch Master Sergeant Antonio Ruiz wird offiziell bestätigt. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Beförderung. Sie haben jetzt Zugriff auf persönliche Daten und BrainPal-Informationen der Rekruten der 63. Ausbildungskompanie. Wir weisen Sie darauf hin, dass diese Informationen nur für offizielle Zwecke verwendet werden dürfen; eine Verwendung für nichtmilitärische Zwecke führt zur sofortigen Enthebung vom Posten des Kompanieführers und einem Disziplinarverfahren nach Maßgabe des Basiskommandanten.
»Toll«, sagte ich und sprang über einen kleinen Bach.
Bis zum Ende der Frühstückspause Ihrer Kompanie müssen Sie Master Sergeant Ruiz Ihre Vorschläge für die Truppführer der Kompanie vorlegen, fuhr Arschloch fort. Möchten Sie zur Unterstützung des Auswahlverfahrens die persönlichen Daten Ihrer Kompanie einsehen?
Ich bestätigte. Während ich weiterrannte, spuckte Arschloch in hohem Tempo Informationen über alle Rekruten aus. Als ich den Sendeturm erreicht hatte, war meine Liste auf zwanzig Kandidaten zusammengeschrumpft, als ich mich der Basis näherte, hatte ich die komplette Kompanie auf einzelne Trupps verteilt und allen fünf neuen Truppführern Nachrichten geschickt, dass sie sich vor der Messe mit mir treffen sollten. Dieser BrainPal war in der Tat eine äußerst praktische Einrichtung.
Außerdem stellte ich fest, dass ich es in fünfundfünfzig Minuten zurück zur Basis geschafft hatte, und ich hatte unterwegs keine anderen Rekruten überholt. Ich konsultierte Arschloch, der mir verriet, dass der langsamste von ihnen (ironischerweise einer der ehemaligen Marines) achtundfünfzig Minuten und dreizehn Sekunden gebraucht hatte. Also würden wir morgen nicht geschlossen zum Sendeturm und zurück rennen◦– zumindest nicht, weil wir zu langsam gewesen waren. Ich zweifelte jedoch nicht an Ruiz’ Fähigkeit, einen anderen Vorwand zu finden. Ich hoffte nur, dass ich nicht derjenige war, der ihm einen lieferte.
Als die fünf Rekruten Alan und mich sahen, nahmen sie alle mehr oder weniger Haltung an. Drei von ihnen salutierten sofort, worauf die anderen zwei etwas unbeholfen nachzogen. Ich erwiderte den Gruß und lächelte. »Übertreibt es nicht«, sagte ich zu den beiden. »Das alles ist auch für mich noch neu. Kommt jetzt. Wir stellen uns an und unterhalten uns während des Essens.«
»Möchtest du, dass ich mich absetze?«, fragte Alan mich, als wir in der Schlange standen. »Wahrscheinlich hast du eine Menge vertrauliche Sachen mit diesen Leuten zu bereden.«
»Nein. Ich möchte dich dabeihaben. Ich würde gerne wissen, was du von ihnen hältst. Außerdem habe ich eine Neuigkeit für dich. Du bist der stellvertretende Anführer unseres Trupps. Da ich den Babysitter für eine komplette Kompanie machen muss, heißt das, dass du praktisch die ganze Arbeit übernehmen musst. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«
»Wird schon schiefgehen«, sagte Alan lächelnd. »Danke, dass du mich in deine Kompanie aufgenommen hast.«
»Welchen Sinn haben führende Posten, wenn man sie nicht für ein wenig Cliquenwirtschaft nutzen kann? Außerdem wirst du mich auffangen, wenn ich in Ungnade fallen sollte.«
»Ich werde dir ein guter Karriere-Airbag sein«, versicherte Alan.
Die Messe war bis auf den letzten Platz besetzt, aber unserer siebenköpfigen Gruppe gelang es, einen Tisch für uns zu beschlagnahmen. »Als Erstes wollen wir uns miteinander bekannt machen«, sagte ich. »Ich bin John Perry und zumindest vorläufig der Anführer der Kompanie. Das ist der stellvertretende Anführer meines Trupps, Alan Rosenthal.«
»Angela Merchant«, sagte die Frau, die mir gegenübersaß. »Aus Trenton, New Jersey.«
»Terry Duncan«, sagte der Mann neben ihr. »Aus Missoula, Montana.«
»Mark Jackson. St. Louis.«
»Sarah O’Connell. Boston.«
»Martin Garabedian. Aus dem sonnigen Fresno in Kalifornien.«
»Damit wäre eine ausreichende geografische Vielfalt gegeben«, sagte ich, worauf die anderen leise lachten. Das war gut. »Ich werde es kurz machen. Wenn ich zu viel rede, wird möglicherweise klar, dass ich keinen blassen Schimmer habe, was ich hier mache. Ich habe euch fünf hauptsächlich deswegen ausgesucht, weil ihr im Laufe eures Lebens etwas gemacht habt, das euch zum Truppführer qualifiziert. Angela, weil sie als Geschäftsführerin gearbeitet hat. Terry hat eine Ranch verwaltet. Mark war Colonel in der Armee, und bei allem Respekt vor Sergeant Ruiz glaube ich, dass das ein Vorteil ist.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Mark.
»Martin war im Stadtrat von Fresno. Und Sarah war dreißig Jahre lang Betreuerin in einem Kindergarten, womit sie die beste Qualifikation von uns allen hat.« Wieder lachten sie. Mann, ich war richtig gut!
»Ich werde ehrlich sein«, fuhr ich fort. »Ich habe nicht vor, euch das Leben zur Hölle zu machen. In diesem Job ist Sergeant Ruiz unschlagbar, sodass ich nur eine blasse Kopie wäre. Außerdem ist es nicht mein Stil. Ich weiß nicht, welchen Führungsstil ihr euch wünscht, aber ich möchte, dass ihr tut, was nötig ist, um eure Rekruten durch die nächsten drei Monate zu führen. Eigentlich liegt mir nichts daran, Kompanieführer zu sein, aber es ist mir sehr wichtig, dass jeder Rekrut in dieser Kompanie eine Ausbildung erhält, die ihn befähigt, da draußen zu überleben. Ruiz’ kleiner Film hat mich beeindruckt, und ich hoffe, dass es bei euch genauso war.«
»Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte Terry. »Sie haben den armen Kerl wie einen Rinderbraten tranchiert.«
»Ich wünschte, man hätte uns den Film vor der Rekrutierung gezeigt«, sagte Angela. »Vielleicht hätte ich mich entschieden, doch lieber alt zu bleiben.«
»Hier geht es um Krieg«, sagte Mark. »Wir wollen unser Bestes tun, damit unsere Leute solche Situationen überstehen«, sagte ich. »Ich habe die Kompanie in sechs Trupps zu zehn Personen aufgeteilt. Ich leite Trupp A, Angela Trupp B, Terry C, Mark D, Sarah E und Martin F. Ich habe euch die Befugnis erteilt, die Daten eurer Rekruten anzurufen. Wählt einen Stellvertreter aus und schickt mir bis zum Mittagessen die Namen. Sorgt gemeinsam dafür, dass es keine Probleme mit der Disziplin und der Ausbildung gibt. Was mich betrifft, habe ich euch nur deshalb ausgesucht, damit ich möglichst wenig Arbeit habe.«
»Außer mit der Führung deines eigenen Trupps«, sagte Martin.
»An dieser Stelle komme ich ins Spiel«, sagte Alan.
»Wir wollen uns jeden Tag zum Mittagessen treffen«, sagte ich. »Die anderen Mahlzeiten nehmen wir gemeinsam mit unserem Trupp ein. Wenn ihr mir etwas mitzuteilen habt, nehmt unverzüglich Kontakt mit mir auf. Aber ich erwarte von euch, dass ihr versucht, möglichst viele Probleme selber zu lösen. Wie ich bereits erwähnte, habe ich nicht vor, euch zu drangsalieren, aber in letzter Konsequenz bin ich der Anführer der Kompanie. Also gilt das, was ich sage. Wenn ich das Gefühl habe, dass ihr euren Aufgaben nicht gewachsen seid, werde ich zuerst unter vier Augen mit euch reden, und wenn das nicht funktioniert, werde ich euch ersetzen. Wenn das passiert, ist es nicht persönlich gemeint. Damit will ich nur erreichen, dass wir alle die nötige Ausbildung erhalten, um da draußen zu überleben. Könnt ihr damit leben?«
Überall wurde genickt.
»Ausgezeichnet«, sagte ich und hob mein Glas. »Dann wollen wir auf die 63. Ausbildungskompanie trinken. Darauf, dass wir die Sache heil überstehen.« Wir stießen an, dann gingen wir zur Mahlzeit und allgemeinem Geplauder über. Alles entwickelte sich bestens, dachte ich.
Es dauerte nicht lange, bis ich diese Einschätzung revidieren musste.
Der Tag auf Beta Pyxis III dauert zweiundzwanzig Stunden, dreizehn Minuten und vierundzwanzig Sekunden. Davon wurden uns zwei Stunden zum Schlafen gegönnt.
Diese reizende Tatsache wurde mir gleich nach der ersten Nacht bewusst, als Arschloch mich mit dröhnendem Sirenenlärm weckte, der mich so abrupt hochschrecken ließ, dass ich von meiner Pritsche fiel. Natürlich handelte es sich um die obere einer doppelstöckigen Pritsche. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass meine Nase nicht gebrochen war, las ich den Text, der vor meinen Augen hing.
Kompanieführer Perry, hiermit wird Ihnen mitgeteilt, dass Ihnen noch 1:40 Minuten bleiben (dieser Zahlenwert verringerte sich mit jeder verstreichenden Sekunde), bis Master Sergeant Ruiz und seine Mitarbeiter Ihre Baracke betreten. Zu diesem Zeitpunkt muss Ihre Kompanie aufgestanden sein und Haltung angenommen haben. Jeder Rekrut, der nicht in korrekter Haltung angetroffen wird, muss mit einem Verweis rechnen, der in Ihrem Führungszeugnis verzeichnet wird.
Über den Kommunikationsring, den ich am Vortag eingerichtet hatte, leitete ich die Nachricht unverzüglich an meine Truppführer weiter, schickte ein allgemeines Wecksignal an sämtliche BrainPals der Kompanie und schaltete die Beleuchtung der Baracke ein. Darauf folgten ein paar amüsante Sekunden, als alle Rekruten von einem Signal, das nur sie hören konnten, aus dem Schlaf gerissen wurden. Die meisten sprangen völlig verwirrt aus dem Bett, ich und die anderen Truppführer packten jene, die immer noch in der Waagerechten lagen, und rissen sie hoch. Innerhalb einer Minute hatten wir alle geweckt und Haltung annehmen lassen. Die restlichen paar Sekunden gingen dafür drauf, einige besonders langsame Rekruten zu überzeugen, dass jetzt nicht der Zeitpunkt zum Pinkeln war, sondern sie strammstehen und sich nicht bei Ruiz unbeliebt machen sollten, wenn er durch die Tür kam.
Nicht dass es eine Rolle gespielt hätte. »Was ist das für ein Saftladen!«, brüllte Ruiz. »Perry!«
»Ja, Master Sergeant!«
»Was, zum Henker, haben Sie während der zweiminüten Vorbereitungszeit getrieben? Sich einen runtergeholt? Die Kompanie ist nicht bereit! Die Rekruten sind nicht für die Übungen angekleidet, die sie in Kürze ausführen müssen! Welche Erklärung haben Sie dafür?«
»Master Sergeant, in der Nachricht hieß es, dass die Kompanie Haltung annehmen sollte, wenn Sie und Ihre Mitarbeiter eintreffen! Dass sich die Leute ankleiden sollen, wurde nicht erwähnt!«
»Verdammt, Perry! Meinen Sie nicht, dass das Angezogensein ein Teil des Strammstehens ist?«
»Ich würde mir nicht anmaßen, etwas zu mutmaßen, Master Sergeant!«
»›Anmaßen zu mutmaßen‹? Wollen Sie mich verscheißern, Perry?«
»Nein, Master Sergeant!«
»Gut, dann mutmaßen Sie bitte, dass sich Ihre Kompanie auf dem Exerzierplatz versammeln soll. Sie haben fünfundvierzig Sekunden. Los!«
»Raus, Leute!«, brüllte ich und rannte im gleichen Moment los, während ich betete, dass mein Trupp mir auf dem Fuß folgte. Als ich durch die Tür kam, hörte ich, wie Angela ihrem Trupp B den gleichen Befehl zuschrie. Es war eine gute Entscheidung gewesen, sie auszusuchen. Endlich erreichten wir den Exerzierplatz, und mein Trupp stellte sich hinter mir in einer Reihe auf. Angelas Leute bauten sich rechts von mir auf, dahinter kamen Terry und die anderen. Der letzte Mann des Trupps F stand in der vierundvierzigsten Sekunde auf Position. Erstaunlich. An anderen Stellen des Exerzierplatzes versammelten sich gleichzeitig die anderen Rekrutenkompanien, und zwar genauso unangekleidet wie die dreiundsechzigste. Ich verspürte eine gewisse Erleichterung.
Im nächsten Moment trat Ruiz vor die Kompanie, gefolgt von seinen zwei Assistenten. »Perry! Wie spät ist es?«
Ich griff auf meinen BrainPal zu. »Genau null Uhr Ortszeit, Master Sergeant!«
»Hervorragend, Perry. Sie können die Uhrzeit ansagen. Wann sind gestern die Lichter ausgegangen?«
»Um genau zweiundzwanzig Uhr, Master Sergeant!«
»Wieder richtig! Jetzt mögen sich einige von euch fragen, warum wir euch nach nur zwei Stunden Schlaf wieder hochscheuchen. Weil wir grausam sind? Sadistisch? Weil wir euch fertigmachen wollen? Ja, das sind wir. Ja, das wollen wir. Aber das ist nicht der Grund, warum wir euch so früh geweckt haben. Der Grund ist ein ganz einfacher. Ihr braucht nicht mehr Schlaf. Dank eurer wunderbaren neuen Körper seid ihr nach zwei Stunden völlig ausgeschlafen! Ihr habt in den letzten Tagen acht Stunden pro Tag geschlafen, weil ihr daran gewöhnt seid. Aber damit ist es jetzt vorbei, meine Damen und Herren. Mit so viel Schlaf vergeudet ihr meine kostbare Zeit. Mehr als zwei Stunden braucht ihr nicht, also werdet ihr von nun an nicht mehr als zwei Stunden bekommen!
Nächste Frage: Wer kann mir sagen, warum ihr gestern die zwanzig Kilometer in einer Stunde rennen solltet?«
Ein Rekrut hob die Hand.
»Ja, Thompson?«, sagte Ruiz. Entweder hatte er sich die Namen sämtlicher Rekruten eingeprägt, oder sein BrainPal stellte ihm diese Information zur Verfügung. Ich wollte mir kein Urteil anmaßen, welche Mutmaßung zutreffend war.
»Master Sergeant, wir mussten die Strecke rennen, weil jeder von uns Ihnen einen Grund zur Verachtung gibt!«
»Ausgezeichnete Antwort, Thompson. Aber sie ist nur zum Teil richtig. Ihr musstet zwanzig Kilometer in einer Stunde laufen, weil ihr es könnt. Selbst die Langsamsten von euch haben die vorgegebene Zeit um nur zwei Minuten unterboten. Das bedeutet, dass jeder Einzelne von euch Scheißern ohne Training, ohne die geringste echte Anstrengung dasselbe leistet wie olympische Goldmedaillengewinner auf der Erde.
Und wisst ihr auch, warum das so ist? Ist es euch klar? Es ist so, weil keiner von euch mehr menschlich ist! Ihr seid viel besser! Ihr wisst es nur noch nicht. Scheiße, ihr habt eine Woche damit verplempert, zwischen den Wänden eines Raumschiffs herumzuhüpfen, und ihr habt wahrscheinlich immer noch nicht kapiert, aus welchem Holz ihr geschnitzt seid. Nun, meine Damen und Herren, das wird sich jetzt ändern. In der ersten Woche eurer Ausbildung geht es nur darum, zu glauben, wozu ihr in der Lage seid. Und ihr werdet glauben! Euch bleibt gar keine andere Wahl!«
Dann rannten wir 25 Kilometer in Unterwäsche.
Fünfundzwanzig Kilometer laufen. Hundert Meter in sieben Sekunden rennen. Aus dem Stand zwei Meter senkrecht in die Luft springen. Einen Satz über zehn Meter breite Gräben machen. Zweihundert Kilo schwere Gewichte stemmen. Aberhundert Kniebeugen, Liegestütze und Klimmzüge. Wie Ruiz gesagt hatte, war es gar nicht so schwer, all diese Leistungen zu vollbringen, sondern zu glauben, dass wir sie schaffen konnten. Immer wieder versagten Rekruten, weil sie irgendwann die Nerven verloren. Dann machten sich Ruiz und seine Assistenten über diese Leute her und schüchterten sie so lange ein, bis sie es schafften (und ließen mich dann Liegestütze machen, weil ich oder meine Truppführer unsere Leute nicht hinreichend eingeschüchtert hatten).
Jeder Rekrut◦– jeder◦– hatte seinen oder ihren Moment des Zweifels. Meiner kam am vierten Tag, als sich die 63. Kompanie rund um den Swimmingpool der Basis versammelt hatte, jeder mit einem fünfundzwanzig Kilo schweren Sandsack im Arm.
»Was ist der größte Schwachpunkt des menschlichen Körpers?«, fragte Ruiz, während er langsam um die Kompanie herumging. »Es ist nicht das Herz oder das Gehirn oder die Füße oder irgendetwas anderes, was ihr jetzt denkt. Ich sage euch, was es ist. Es ist das Blut, und das ist eine schlechte Neuigkeit, weil sich das Blut überall im Körper befindet. Es transportiert Sauerstoff, aber es transportiert auch Krankheiten. Wenn ihr verwundet seid, gerinnt das Blut, aber häufig nicht schnell genug, um euch vor dem Tod durch Verbluten zu bewahren. Obwohl man in diesem Fall in Wirklichkeit an Sauerstoffmangel stirbt. Weil nicht mehr genug Blut im Körper ist. Stattdessen fließt es aus euch heraus und versickert im Boden, wo es euch nichts mehr nützt.
Die Koloniale Verteidigungsarmee hat in ihrer göttlichen Weisheit entschieden, völlig auf normales menschliches Blut zu verzichten. Es wurde durch SmartBlood ersetzt. SmartBlood besteht aus Milliarden Robotern in Nanometergröße, die all das machen, was Blut macht, nur viel besser. Es ist nicht organisch, also ist es keinen biologischen Risiken ausgesetzt. Es kommuniziert mit eurem BrainPal, sodass es innerhalb von Millisekunden gerinnen kann. Ihr könntet ein komplettes Bein verlieren, ohne dass ihr daran verbluten würdet. Viel wichtiger ist für euch im Moment die Tatsache, dass jede ›Zelle‹ SmartBlood viermal so viel Sauerstoff aufnehmen kann wie natürlich rote Blutkörperchen.«
Ruiz blieb stehen. »Das ist für euch deshalb so wichtig, weil ihr alle gleich mit dem Sandsack in den Pool springen werdet. Ihr werdet zu Boden sinken. Und dort werdet ihr mindestens sechs Minuten lang bleiben. Sechs Minuten unter Wasser reichen aus, um einen durchschnittlichen Menschen zu töten, aber jeder von euch kann es mindestens so lange aushalten, ohne eine einzige Gehirnzelle zu verlieren. Um euch einen Anreiz zu geben, lange genug unten zu bleiben, wird der erste von euch, der auftaucht, eine Woche lang zum Latrinendienst verdonnert. Und wenn dieser Rekrut vor Ablauf der sechs Minuten auftaucht, dann sagen wir einfach, dass jeder von euch intensive persönliche Bekanntschaft mit einem Scheißloch irgendwo auf dieser Basis machen wird. Kapiert? Also rein mit euch!«
Wir sprangen, und wie versprochen sanken wir direkt zum Grund des Beckens in drei Metern Tiefe. Fast unmittelbar darauf flippte ich aus. Als Kind war ich einmal in einen abgedeckten Pool gefallen. Dabei hatte ich die Abdeckplane aufgerissen, worauf ich mehrere panische und orientierungslose Minuten damit verbrachte, den Weg zurück an die Oberfläche zu finden. Diese Minuten reichten nicht aus, um zu ertrinken, aber sie hatten genügt, um eine lebenslange Aversion zu entwickeln, mit dem Kopf vollständig unterzutauchen. Nach etwa dreißig Sekunden hatte ich das unwiderstehliche Bedürfnis nach einem tiefen Atemzug an der frischen Luft. Ich würde auf gar keinen Fall eine ganze Minute durchhalten, geschweige denn sechs.
Ich spürte im Rücken eine Berührung. Ich drehte mich erschrocken um und sah, dass Alan, der neben mir untergetaucht war, zu mir herübergekommen war. Durch das trübe Wasser konnte ich erkennen, wie er sich gegen den Kopf tippte und dann auf meinen zeigte. In diesem Moment teilte Arschloch mir mit, dass Alan Kontakt mit mir aufnehmen wollte. Ich dachte ein Einverstanden. Dann hörte ich eine emotionslose Wiedergabe von Alans Stimme in meinem Kopf.
Stimmt was nicht?, fragte Alan.
Phobie, antwortete ich.
Nicht in Panik geraten, gab Alan zurück. Vergiss, dass du unter Wasser bist.
Witzbold!
Dann lenk dich ab. Frag deine Truppführer, ob irgendjemand Probleme hat, und hilf ihnen …
Die unheimliche Ruhe von Alans simulierter Stimme half mir. Ich öffnete einen Kanal zu meinen Truppführern, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen und sie anzuweisen, dasselbe mit ihren Leuten zu machen. Jeder von ihnen hatte ein oder zwei Rekruten, die kurz davor standen, in Panik zu geraten. Sie redeten mit ihnen, um sie zu beruhigen. Neben mir konnte ich erkennen, wie sich Alan um unseren Trupp kümmerte.
Drei Minuten, dann vier Minuten. In Martins Gruppe schlug ein Rekrut wild um sich und zuckte heftig, wobei sein Sandsack als Anker fungierte. Martin ließ seinen eigenen Sack fallen und schwamm zu ihm hinüber. Er packte ihn an den Schultern und brachte ihn dazu, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich zapfte Martins BrainPal an und hörte, wie er zum Rekruten sagte: Konzentrier dich auf mich, auf meine Augen. Es schien zu helfen. Der Rekrut hörte auf, um sich zu schlagen und entspannte sich.
Fünf Minuten. Trotz unserer verbesserten Leistungsfähigkeit spürten jetzt alle die ersten Auswirkungen des Sauerstoffmangels. Die Leute traten von einem Fuß auf den anderen oder hüpften auf der Stelle. In einer Ecke sah ich eine Rekrutin, die ihren Sandsack gegen den Kopf presste. Ich hätte fast darüber gelacht, aber gleichzeitig überlegte ich, ob ich nicht dasselbe tun sollte.
Fünf Minuten und dreiundvierzig Sekunden. Einer der Rekruten aus Marks Trupp ließ den Sandsack fallen und schwamm zur Oberfläche hinauf. Mark setzte ihm lautlos nach, packte den Mann am Knöchel und zog ihn mit seinem Gewicht wieder nach unten. Ich dachte daran, dass Marks stellvertretender Truppführer ihm dabei hätte helfen können, doch als ich meinen BrainPal konsultierte, wurde mir klar, dass der Rekrut mit den Schwierigkeiten sein Stellvertreter war.
Sechs Minuten. Vierzig Rekruten warfen die Sandsäcke weg und kämpften sich nach oben. Mark ließ den Fuß seines Stellvertreters los und gab ihm von unten einen Schubs, damit er als Erster die Oberfläche erreichte und den Latrinendienst übernahm, zu dem er sich bereits freiwillig gemeldet hatte. Ich machte mich ebenfalls bereit für den Aufstieg, als ich sah, wie Alan den Kopf schüttelte.
Der Truppführer sollte am längsten durchhalten, sendete er.
Leck mich, antwortete ich.
Tut mir leid, bist nicht mein Typ, gab er zurück.
Ich schaffte sieben Minuten und einunddreißig Sekunden, bis ich mit dem Gefühl auftauchte, dass meine Lungen jeden Augenblick explodieren würden. Aber ich hatte meinen Moment des Zweifels überstanden. Nun glaubte ich, dass ich mehr war als ein normaler Mensch.
In der zweiten Woche lernten wir unsere Waffe kennen.
»Das ist das KVA-Infantriegewehr vom Typ VZ-35«, sagte Ruiz und zeigte uns seine Waffe, während unsere noch in der Schutzverpackung vor uns auf dem Boden des Exerzierplatzes lagen. »Das ›VZ‹ steht für ›Vielzweck‹. Ihr könnt damit ganz nach Wunsch sechs verschiedene Projektile oder Strahlen erzeugen und abfeuern, und zwar Gewehrkugeln mit und ohne Sprengladung, halbautomatisch sowie vollautomatisch, außerdem leichte Granaten, leichte Lenkraketen, brennbare Hochdruckflüssigkeit und Energiestrahlen im Mikrowellenbereich. Diese Vielfalt wird durch die Verwendung von hochverdichteter nanorobotischer Munition möglich.« Ruiz hielt einen Klotz aus einem stumpf schimmernden Material hoch, das wie Metall aussah. Ein ähnlicher Klotz lag neben dem Gewehr zu meinen Füßen. »Sie konfiguriert sich selbst unmittelbar vor dem Abschuss. Es handelt sich also um eine Waffe mit maximaler Flexibilität und minimalen Trainingsanforderungen, was traurige Ansammlungen von umherlaufendem Fleisch wie ihr sicherlich zu schätzen wisst.
Diejenigen von euch mit militärischer Erfahrung erinnern sich zweifellos daran, wie häufig von euch erwartet wurde, eure Waffe auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen. Das werdet ihr mit eurer VZ-35 nicht tun. Die VZ-35 ist eine äußerst komplext aufgebaute Maschine, und das heißt, dass ihr auf gar keinen Fall daran herumdrehen werdet! Sie ist von Hause aus mit Systemen zur Selbstdiagnose und -reparatur ausgestattet. Außerdem kann sie mit eurem BrainPal Verbindung aufnehmen, um euch über eventuelle Probleme zu informieren, was jedoch praktisch nie geschehen wird, da in den dreißig Jahren, seit diese Waffe in Dienst gestellt wurde, nie eine VZ-35 den Geist aufgegeben hat. Das liegt daran, dass wir im Gegensatz zu den schwachsinnigen Militärwissenschaftlern auf der Erde eine Waffe bauen können, die tatsächlich funktioniert! Es ist nicht eure Aufgabe, an der Waffe herumzufummeln, es ist eure Aufgabe, mit dieser Waffe zu schießen. Vertraut eurer Waffe, denn sie ist mit recht hoher Wahrscheinlichkeit intelligenter als ihr. Wenn ihr ständig daran denkt, bleibt ihr vielleicht am Leben.
Ihr aktiviert eure VZ-35 in dem Augenblick, wo ihr sie aus der Schutzverpackung nehmt und mit eurem BrainPal darauf zugreift. Wenn ihr das getan habt, wird sie im wahrsten Sinne des Wortes eure Waffe sein, eure persönliche Waffe. Solange ihr euch auf dieser Basis aufhaltet, werdet nur ihr selbst mit eurer perönlichen VZ-35 schießen können, und zwar nur dann, wenn ihr von den Anführern eures Trupps oder eurer Kompanie die Erlaubnis dazu erhalten habt. Diese wiederum erhalten die Erlaubnis von ihren Ausbildern. In einer realen Kampfsituation können nur KVA-Soldaten mit KVA-BrainPals eure VZ-35 abfeuern. Solange ihr euren eigenen Kameraden nicht auf die Nerven geht, muss keiner jemals befürchten, dass eure Waffe gegen euch selbst verwendet werden kann.
Von diesem Moment an werdet ihr eure VZ-35 ständig dabeihaben, ganz gleich, wohin ihr geht. Ihr werdet sie auch aufs Scheißhaus mitnehmen. Ihr werdet sie mitnehmen, wenn ihr duschen geht. Macht euch keine Sorgen, dass sie dabei nass wird. Sie wird alles abstoßen, was sie als fremde Materie einstuft. Ihr werdet sie bei den Mahlzeiten dabeihaben. Ihr werdet mit ihr schlafen. Falls es euch irgendwie gelingt, Zeit zum Vögeln zu finden, solltet ihr dafür sorgen, dass eure VZ-35 freie Sicht auf das Geschehen hat.
Ihr werdet lernen, wie ihr diese Waffe benutzen müsst. Sie wird euch das Leben retten. Die Marines der US-Armee sind beschissene Idioten, aber eine Sache haben sie richtig gemacht, und zwar das Glaubensbekenntnis zu ihrem Marines-Gewehr. Darin heißt es: ›Dies ist mein Gewehr. Es gibt viele andere Gewehre, aber dies ist meins. Mein Gewehr ist mein bester Freund. Es ist mein Leben. Ich muss es im Griff haben, wie ich mein Leben im Griff haben muss. Ohne mich ist mein Gewehr nutzlos. Ohne mein Gewehr bin ich nutzlos. Mit meinem Gewehr muss ich zielgenau schießen. Ich muss besser schießen als mein Feind, der versucht, mich zu töten. Ich muss ihn erschießen, bevor er mich erschießen kann. Und ich werde es schaffen.‹
Meine Damen und Herren, macht euch dieses Glaubensbekenntnis zu eigen. Dies ist euer persönliches Gewehr. Nehmt es jetzt zur Hand und aktiviert es.«
Ich bückte mich und zog das Gewehr aus der Plastikhülle. Trotz allem, was Ruiz über die Waffe gesagt hatte, machte die VZ-35 keinen besonderen Eindruck. Sie war schwer, aber sie war keineswegs unhandlich. Sie lag gut in der Hand und hatte genau die richtige Größe, um sie ohne Schwierigkeiten bedienen zu können. Auf einer Seite des Kolbens war ein Aufkleber befestigt. »ZUR AKTIVIERUNG MIT BRAINPAL: Initialisieren Sie Ihren BrainPal und erteilen Sie den Befehl VZ-35 aktivieren, Seriennummer ASD-324-DDD-4E3C1.«
»He, Arschloch«, sagte ich. »Aktiviere VZ-35, Seriennummer ASD-324-DDD-4E3C1.«
VZ-35 ASD-324-DDD-4E3C1 ist jetzt aktiviert für den KVA-Rekruten John Perry, bestätigte Arschloch. Bitte Munition laden. Eine kleine Grafik hing in der Ecke meines Gesichtsfeldes und verriet mir, wie ich mein Gewehr zu laden hatte. Ich bückte mich erneut, um den quaderförmigen Block aufzuheben, der die Munition darstellte. Dabei hätte ich fast das Gleichgewicht verloren, denn das Ding war erstaunlich schwer. Das mit dem »hochverdichtet« war also keineswegs ein Scherz gewesen. Ich schob es wie angewiesen ins Gewehr. Unmittelbar danach verschwand die Grafik mit den Anweisungen und wurde durch folgende Meldung ersetzt:
Schussoptionen verfügbar
Achtung: Die Benutzung eines Munitionstyps verringert die Verfügbarkeit anderer Munitionstypen
Gewehrkugeln: 200 Explosivpatronen: 80 Granaten: 40 Raketen: 35 Projektildauerfeuer: 10 Minuten Mikrowellenstrahlen: 10 Minuten Derzeit ausgewählt: Gewehrkugeln
»Explosivpatronen auswählen«, sagte ich.
Explosivpatronen ausgewählt, bestätigte Arschloch.
»Raketen auswählen«, sagte ich.
Raketen ausgewählt, sagte Arschloch. Bitte Ziel angeben. Plötzlich war jedes Mitglied des Trupps mit einem grünen Zielrahmen markiert. Wenn ich einen davon direkt ansah, blinkte die Markierung. Was soll’s, dachte ich und wählte einen aus, Toshima, einen Rekruten in Martins Trupp.
Ziel erfasst, bestätigte Arschloch. Du kannst jetzt feuern, abbrechen oder ein zweites Ziel auswählen.
»Wow!«, sagte ich, brach den Befehl ab und starrte auf meine VZ-35. Ich drehte mich zu Alan um, der mit seiner Waffe in der Hand neben mir stand. »Dieses Ding macht mir Angst.«
»Was du nicht sagst«, erwiderte er. »Vor zwei Sekunden hätte ich dich fast mit einer Granate in die Luft gejagt.«
Ich kam nicht mehr dazu, etwas zu diesem schockierenden Eingeständnis zu sagen, als Ruiz auf der anderen Seite der Kompanie plötzlich einem Rekruten an die Gurgel sprang. »Was haben Sie gerade gesagt, Rekrut?«, wollte Ruiz wissen. Alle anderen verstummten und sahen sich zum Unglücklichen um, der den Zorn des Ausbilders erregt hatte.
Der Rekrut war Sam McCain. Ich erinnerte mich, dass Sarah O’Connor während einer Sitzung beim Mittagessen über ihn gesagt hatte, dass seine Klappe größer als sein Hirn war. Dazu passte, dass er fast sein ganzes Leben lang als Verkäufer gearbeitet hatte. Selbst als Ruiz nur wenige Millimeter vor seiner Nase hing, legte McCain eine einschmeichelnde Gelassenheit an den Tag. Eine leicht überraschte einschmeichelnde Gelassenheit, bei der es sich aber nichtsdestotrotz um einschmeichelnde Gelassenheit handelte. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, worüber Ruiz sich so sehr aufregte, aber er erwartete in jedem Fall, ungeschoren aus der Sache herauszukommen.
»Ich habe nur meine Waffe bewundert, Master Sergeant«, antwortete McCain und hielt sein Gewehr hoch. »Und ich sagte zu Rekrut Flores, dass mir die armen Schweine, gegen die wir in den Kampf ziehen werden, beinahe leid tun …«
Der Rest seiner Antwort ging verloren, als Ruiz dem verblüfften Rekruten ohne Vorwarnung die Waffe entriss und sie mit einer beinahe gelassenen Drehung herumschwenkte, sodass die flache Seite des Gewehrkolbens gegen McCains Schläfe schlug. McCain fiel wie ein Haufen Wäsche in sich zusammen. Ruiz machte völlig gelassen einen Schritt nach vorn und setzte seinen Stiefel auf McCains Kehle. Dann drehte er das Gewehr herum. McCain starrte entsetzt in den Lauf seiner eigenen Waffe.
»Jetzt fallen Ihnen keine witzigen Sprüche mehr ein, was?«, sagte Ruiz. »Stellen Sie sich vor, ich bin Ihr Feind, Sie kleiner Scheißer. Würden Sie immer noch sagen, dass ich Ihnen leid tue? Ich habe Sie gerade entwaffnet, und zwar schneller, als Sie ein- und ausatmen können. Die armen Schweine da draußen bewegen sich schneller, als Sie sich jemals vorstellen können. Sie haben Ihre Leber zu Brotaufstrich verarbeitet und verspeist, während Sie noch versuchen, irgendein Ziel zu erfassen. Also hoffe ich, dass Ihnen diese armen Schweine nie wieder beinahe leid tun. Sie haben Ihr Mitgefühl nicht verdient. Haben Sie das verstanden, Rekrut?«
»Ja, Master Sergeant!«, keuchte McCain am Stiefelabsatz vorbei. Er stand kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Dann will ich dafür sorgen, dass Sie es auf keinen Fall wieder vergessen«, sagte Ruiz, hielt den Lauf genau zwischen McCains Augen und drückte auf den Abzug. Ein trockenes Klick war zu hören. Alle Mitglieder der Kompanie zuckten zusammen. McCain machte sich die Hosen nass.
»Idiot«, sagte Ruiz, nachdem McCain klar geworden war, dass er doch nicht tot war. »Sie haben vorhin nicht richtig zugehört. Die VZ-35 kann in der Basis nur von ihrem persönlichen Besitzer abgefeuert werden. Und das sind Sie, Arschloch!« Ruiz richtete sich auf, warf McCain verächtlich sein Gewehr zu und wandte sich wieder der ganzen Kompanie zu.
»Ihr alle seid noch blöder, als ich gedacht habe«, erklärte Ruiz. »Ich hoffe, dass ihr mir jetzt zuhört. In der gesamten Geschichte der Menschheit gab es noch nie eine Armee, die für den Krieg mit mehr als dem Mindesten ausgerüstet war, das notwendig ist, um den Feind zu bekämpfen. Ein Krieg ist sehr teuer. Er kostet Geld, und er kostet Leben, und keine Zivilisation hat beides im Überfluss. Wenn man kämpft, versucht man also, sparsam zu sein. Man benutzt nur das, was unbedingt nötig ist, und auf keinen Fall mehr.«
Er sah uns mit finsterer Miene an. »Kapiert ihr, was ich euch damit sagen will? Ihr habt diese wunderbaren neuen Körper und diese tollen neuen Waffen nicht bekommen, weil wir euch einen unfairen Vorteil verschaffen wollen. Ihr habt diese Körper und diese Waffen, weil sie das absolute Minimum darstellen, das nötig ist, wenn ihr da draußen kämpfen und überleben wollt. Es war nicht unser Herzenwunsch, Sie in diese neuen Körper zu stecken, ihr Hohlschädel! Dafür gibt es nur einen einzigen Grund: Wenn wir es nicht getan hätten, wäre die Menschheit längst ausgelöscht.
Habt ihr es jetzt begriffen? Habt ihr jetzt eine ungefähre Vorstellung, was euch da draußen erwartet?«
Aber es ging nicht nur um frische Luft, Übungen und Töten im Dienst der Menschheit. Manchmal hatten wir auch Unterricht.
»Während Ihrer körperlichen Ausbildung lernen Sie, Ihre falschen Vorstellungen und Hemmungen hinsichtlich der Fähigkeiten Ihres neuen Körpers zu überwinden«, erklärte Lieutenant Oglethorpe im Vortragssaal, der mit den Ausbildungskompanien 60 bis 63 gefüllt war. »Jetzt müssen wir dasselbe mit Ihrem Bewusstsein tun. Es wird Zeit, dass Sie einige tief verwurzelte Vorurteile ablegen, von denen Sie wahrscheinlich gar nicht wissen, dass es unbegründete Vorurteile sind.«
Lieutenant Oglethorpe drückte einen Knopf auf dem Podium, hinter dem er stand. An der Wand erwachten zwei große Bildschirme zum Leben. Auf dem linken wurde etwas Alptraumhaftes sichtbar◦– ein schwarzes, knorriges Gebilde mit gezähnten Hummerscheren, die aus einer pornografisch feuchten Körperöffnung hervorragten, sodass man beinahe den Gestank wahrnehmen konnte. Über dem formlosen Körper hingen drei Augenstiele oder Antennen oder was auch immer es in Wirklichkeit sein mochte. Daran hingen Tropfen aus gelblicher Flüssigkeit. H. P. Lovecraft wäre schreiend davor weggelaufen.
Das rechte Bild zeigte ein annähernd hirschartiges Geschöpf mit ausgeprägten, beinahe menschlichen Händen und einem fast niedlichen Gesicht, dessen Miene Friedfertigkeit und Weisheit ausdrückte. Wenn man diesen Typ nicht streicheln konnte, würde man von ihm bestimmt eine Menge über die Natur des Universums lernen.
Lieutenant Oglethorpe nahm einen Laserpointer in die Hand und deutete auf das Alptraumwesen. »Dieses Wesen gehört dem Volk der Bathunga an. Die Bathunga sind zutiefst pazifistische Wesen, ihre Kultur reicht mehrere hunderttausend Jahre zurück, und sie haben eine Mathematik entwickelt, gegen die sich unsere wie einfachste Addition ausnimmt. Sie leben im Ozean, ernähren sich von Plankton und koexistieren auf mehreren Welten mit Menschen, ohne dass es je zu irgendeinem Konflikt kam. Es sind sehr nette Geschöpfe, und dieses Exemplar«◦– er deutete auf den Schirm◦– »ist ein besonders hübscher Vertreter seiner Spezies.«
Dann wandte er sich dem zweiten Bildschirm mit dem Hirschwesen zu. »Dieser Mistkerl hier ist ein Salong. Unsere erste offizielle Begegnung mit den Salong fand statt, nachdem wir eine inoffizielle menschliche Kolonie entdeckt hatten. Menschen sollten nicht auf eigene Faust Kolonien gründen, und in diesem Fall wird der Grund besonders offensichtlich. Die Kolonisten landeten auf einem Planeten, für den sich auch die Salong interessierten, und irgendwann stellten die Salong fest, dass die Menschen eine gute Nahrungsquelle darstellen. Also überfielen sie den Planeten und richteten eine Viehfarm ein. Alle erwachsenen Männer wurden bis auf eine Handvoll getötet, und den Überlebenden wurde das Sperma abgemolken. Die Frauen wurden künstlich befruchtet und ihre Kinder in Pferchen gehalten und wie Kälber gemästet.
Viele Jahre vergingen, bevor wir den Planeten fanden. Danach machten die KVA-Truppen die Salong-Kolonie dem Erdboden gleich und grillten den Leiter der Salong bei lebendigem Leib. Muss ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir seitdem gegen diese babyfressenden Monster Krieg führen?
Vermutlich ist Ihnen klar, was ich Ihnen mit diesen Beispielen verdeutlichen möchte«, sagte Oglethorpe. »Wenn Sie glauben, auf den ersten Blick die Guten von den Bösen unterscheiden zu können, werden Sie nicht lange überleben. Sie können sich keine anthropozentrischen Vorstellungen erlauben, solange einige Aliens uns lieber zu Hamburgern verarbeiten, als mit uns zu kommunizieren.«
In einer anderen Stunde forderte Oglethorpe uns auf, zu raten, was der einzige Vorteil war, den Soldaten auf der Erde gegenüber KVA-Truppen hatten. »Es sind auf keinen Fall die Waffen oder die körperliche Konditionierung«, sagte er, »da wir ihnen auf diesen Feldern sehr weit voraus sind. Nein, der Vorteil, den Soldaten auf der Erde haben, ist der, dass sie wissen, wer ihre Gegner sind. Und sie können sich zumindest innerhalb eines gewissen Rahmens vorstellen, wie der Kampf geführt wird◦– mit welcher Art von Streitkräften sie es zu tun bekommen, welche Waffen eingesetzt werden, wie ihre Ziele aussehen. Aus diesem Grund sind Erfahrungen in einem bestimmten Krieg oder Konflikt direkt auf den nächsten Einsatz anwendbar, auch wenn die Gründe für den Krieg oder die Ziele des Kampfes ganz andere sind.
In dieser Hinsicht befindet sich die KVA im Nachteil. Nehmen wir zum Beispiel die Schlacht gegen die Efg, die noch nicht lange zurückliegt.« Oglethorpe tippte auf einen Bildschirm, der daraufhin ein walähnliches Wesen zeigte, das mit kräftigen Tentakeln ausgestattet war, die sich zu einfachen Händen verzweigten. »Diese Burschen werden bis zu vierzig Meter lang und verfügen über die technische Möglichkeit, Wasser zu polymerisieren. Wir würden unsere schwimmfähigen Schiffe verlieren, wenn sich das Wasser plötzlich in eine treibsandartige Masse verwandelt, die sie und die Besatzungen in die Tiefe zieht. Wie lässt sich die Erfahrung aus dem Kampf gegen diese Spezies umsetzen, wenn man es anschließend beispielsweise mit den Finwe zu tun hat?« Der zweite Bildschirm erhellte sich wieder und zeigte ein süßes reptilisches Wesen. »Die Finwe sind sehr kleine Wüstenbewohner, die hauptsächlich biologische Waffen mit großer Reichweite einsetzen.
Die Antwort lautet natürlich, dass das nicht geht. Trotzdem werden die KVA-Soldaten von einem Kampfeinsatz in den nächsten geschickt. Das ist einer der Gründe, warum die Sterblichkeitsrate in der KVA so hoch ist. Jeder Kampf und jeder Einsatz stellt eine völlig neue Situation dar und ist zumindest aus der Perspektive des einzelnen Soldaten eine einzigartige Erfahrung. Wenn Sie eine Erkenntnis aus diesem kleinen Vortrag ziehen wollen, dann könnte es folgende sein: Falls Sie irgendwelche Vorstellungen haben, wie ein Krieg geführt werden sollte, wäre es besser, wenn Sie sie ganz schnell vergessen. Während Ihrer Ausbildung hier werden Sie auf einiges vorbereitet, was Sie da draußen erwartet, aber denken Sie immer daran, dass Sie als Infanterie häufig als Erste in Kontakt mit einer feindseligen Spezies kommen, deren Methoden und Motive uns völlig unbekannt und in manchen Fällen für uns überhaupt nicht nachvollziehbar sind. Sie werden sehr schnell denken und entscheiden müssen, und dabei dürfen Sie nicht von Ihren bisherigen Erfahrungen ausgehen. Wenn Sie glauben, dass dasselbe funktioniert, was schon einmal funktioniert hat, werden Sie sehr schnell Ihr Leben verlieren.«
Einmal wollte eine Rekrutin von Oglethorpe wissen, warum den KVA-Soldaten überhaupt etwas an den Kolonisten oder den Kolonien liegen sollte. »Wir bekommen ständig eingetrichtert, dass wir gar keine richtigen Menschen mehr sind«, sagte sie. »Wenn das der Fall ist, warum sollen wir uns dann noch für die Kolonisten einsetzen? Sie sind doch nur normale Menschen. Warum züchten wir keine neuen KVA-Soldaten und übernehmen im nächsten Evolutionsschritt einfach selbst den Laden?«
»Glauben Sie nicht, dass diese Frage noch nie zuvor gestellt wurde«, sagte Oglethorpe, was allgemeine Heiterkeit auslöste. »Die kurze Antwort lautet: Weil wir es nicht können. Durch all die genetischen und mechanischen Manipulationen an den Körpern von KVA-Soldaten werden sie unfruchtbar. Weil für jeden von Ihnen zu viel normales genetisches Material benutzt wurde, haben sich jede Menge rezessive Erbanlagen angesammelt, die eine lebensfähige Befruchtung verhindern würden. Und es ist zu viel nichtmenschliches Material im Spiel, um eine erfolgreiche Kreuzung mit normalen Menschen zu ermöglichen. KVA-Soldaten sind ein hochwertiges technisches Produkt, aber in evolutionärer Hinsicht stellen sie eine Sackgasse dar. Das ist ein Grund, warum keiner von Ihnen allzu selbstgefällig werden sollte. Sie können eine Meile in drei Minuten rennen, aber sie können kein Kind zeugen.
Im größeren Zusammenhang jedoch besteht dazu gar keine Notwendigkeit. Der nächste Schritt der menschlichen Evolution findet bereits statt. Die meisten Kolonien sind nicht nur von der Erde, sondern auch untereinander isoliert. Fast alle Menschen, die auf einer Kolonialwelt geboren wurden, verbringen dort ihr ganzes Leben. Außerdem passen sich die Menschen ihrer neuen Heimat an. Einige der ältesten Kolonialwelten haben sich kulturell und linguistisch schon ein gutes Stück von ihren Ursprungskulturen auf der Erde entfernt. In zehntausend Jahren wird sich auch die genetische Drift bemerkbar gemacht haben. Nach entsprechend langer Zeit wird es so viele unterschiedliche Menschenspezies geben, wie es Kolonialplaneten gibt. Die Variationsbreite ist der Schlüssel zum Überleben.
Metaphysisch gesehen sollten Sie sich den Kolonien verbunden fühlen, weil Sie selbst sich bereits verändert haben und demzufolge das menschliche Potenzial ermessen können, zu etwas zu werden, das im Universum überleben kann. In direkterer Hinsicht sollten Ihnen die Kolonien nicht egal sein, weil sie die Zukunft der Menschheit repräsentieren und weil Sie selbst den Menschen immer noch näher stehen als jeder anderen intelligenten Spezies.
Doch in letzter Hinsicht sollte es Ihnen nicht gleichgültig sein, weil Sie alt genug sind, um es erkannt zu haben. Das ist einer der Gründe, warum die KVA alte Menschen rekrutiert◦– nicht nur, weil Sie im Ruhestand sind und eine Belastung für die Wirtschaft darstellen. Der Hauptgrund ist die Tatsache, dass Sie lange genug gelebt haben, um zu wissen, dass es im Leben um mehr als nur das eigene Leben geht. Die meisten von Ihnen hatten Familie und haben Kinder oder Enkel großgezogen, und Sie kennen den Wert einer Tat, die über eigennützige Ziele hinausgeht. Selbst wenn Sie selber nie zu Kolonisten werden, ist Ihnen klar, dass es gut für die Menschheit ist, Kolonien zu gründen, und dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen. Es ist schwierig, dem Gehirn eines Neunzehnjährigen solche Ideen einzutrichtern. Sie jedoch wissen es bereits aus Erfahrung. Und in diesem Universum ist Erfahrung von entscheidender Bedeutung.«
Wir wurden gedrillt. Wir lernten schießen. Wir machten weiter. Wir schliefen nicht viel.
In der sechsten Woche ersetzte ich Sarah O’Connell als Truppführerin. Bei unseren Übungen schnitt E ständig am schlechtesten ab, und bei Wettbewerben zwischen den Kompanien wirkte sich diese Schwäche nachteilig auf die ganze 63. Kompanie aus. Jedes Mal, wenn eine andere Kompanie eine Trophäe gewonnen hatte, knirschte Ruiz mit den Zähnen und machte mich dafür verantwortlich. Sarah nahm es mit Gelassenheit. »Leider ist es nicht ganz dasselbe wie die Betreuung eines Kindergartens«, lautete ihr Kommentar. Alan übernahm ihren Posten und brachte den Trupp auf Vordermann. Bei einem Schießwettbewerb in der siebten Woche konnte die 63. der 56. den Pokal vor der Nase wegschnappen. Ironischerweise war es Sarah, die sich als beste Schützin erwies und die entscheidenden Punkte für uns machte.
In der achten Woche hörte ich auf, mit meinem BrainPal zu sprechen. Arschloch hatte mich lange genug studiert, um meine Denkmuster zu verstehen, sodass er nun scheinbar im Voraus wusste, was ich wollte. Zuerst fiel es mir während einer simulierten Feuerübung auf, als meine VZ-35 von Gewehrkugeln auf Lenkraketen umschaltete, zwei weiter entfernte Ziele unter Beschuss nahm und dann in den Flammenwerfermodus ging, um ein böses zwei Meter großes Insekt zu braten, das ganz in der Nähe aus einer Felsgruppe hervorsprang. Als mir klar wurde, dass ich keinen einzigen Befehl vokalisiert hatte, spürte ich einen unheimlichen Schauder. Ein paar Tage später ärgerte ich mich zum ersten Mal, als ich Arschloch ausdrücklich zu etwas auffordern musste. Erstaunlich, wie schnell eine unheimliche Fähigkeit zur Gewohnheit werden kann.
In der neunten Woche mussten Alan, Martin Garabedian und ich ein internes Disziplinarverfahren durchführen, weil einer von Martins Rekruten es auf Martins Posten als Truppführer abgesehen hatte und sich nicht zu schade gewesen war, zu diesem Zweck ein wenig Sabotage einzusetzen. Der Rekrut hatte sein vergangenes Leben als mittelmäßig berühmter Popstar verbracht und war es gewohnt, seine Ziele mit allen verfügbaren Mitteln zu verfolgen. Es war ihm gelungen, einige Truppkameraden für die Verschwörung zu gewinnen, aber leider hatte er nicht daran gedacht, dass Martin als sein Truppführer Zugriff auf die Nachrichten hatte, die er an sie verschickte. Martin wandte sich an mich, und ich hielt es für angebracht, weder Ruiz noch einen der anderen Ausbilder mit einem Problem zu belästigen, das wir mühelos selber lösen konnten.
Niemand erstattete Meldung, als sich in der folgenden Nacht für kurze Zeit ein Schwebegleiter unerlaubt von der Basis entfernte. Und es schien auch sonst niemand gesehen zu haben, dass ein Rekrut kopfüber unter dem Fahrzeug hing, nur von je zwei Händen an den Füßen gehalten, während der Gleiter gefährlich nahe über ein paar Bäume hinwegflog. Gleichermaßen konnte sich niemand erinnern, die verzweifelten Schreie des Rekruten gehört zu haben, genauso wenig wie Martins sehr kritische und nicht allzu positive Bewertung des bekanntesten Albums jenes früheren Popstars. Nur während des Frühstücks am nächsten Morgen wies Master Sergeant Ruiz mich darauf hin, dass ich ein wenig windzerzaust wirkte, worauf ich erwiderte, dass es vermutlich am 30-Kilometer-Lauf lag, den wir auf seine Anweisung hin vor der Mahlzeit absolviert hatten.
In der elften Woche wurden die 63. und mehrere andere Kompanien in den Bergen nördlich der Basis abgesetzt. Unsere Aufgabe war sehr einfach. Wir sollten die anderen Kompanien ausfindig machen, auslöschen und anschließend mit den Überlebenden zur Basis zurückkehren, und zwar innerhalb von vier Tagen. Um die Sache interessanter zu gestalten, war jeder Rekrut mit einer Vorrichtung ausgestattet, die es registrierte, wenn auf ihn geschossen wurde. Im Fall eines Treffers verspürte der Betreffende lähmende Schmerzen und brach zusammen (um irgendwann durch die Ausbilder, die sich in der Nähe aufhielten, geborgen zu werden). Ich wusste, wie es war, weil ich die Ausrüstung schon einmal getragen hatte, als Ruiz in der Basis ein Demonstrationsobjekt brauchte. Daraufhin schärfte ich meiner Kompanie ein, dass es keineswegs erstrebenswert war, die Erfahrung eines Treffers zu machen.
Der erste Angriff erfolgte fast unmittelbar nachdem wir abgesetzt worden waren. Vier meiner Rekruten gingen zu Boden, bevor ich die Heckenschützen entdeckte und meine Leute darauf aufmerksam machte. Zwei erwischten wir, zwei entkamen. Nach sporadischen Angriffen in den nächsten paar Stunden war klar, dass sich die meisten anderen Kompanien in Trupps von drei oder vier Leuten aufgeteilt hatten und Jagd auf die »Feinde« machten.
Ich hatte eine andere Idee. Durch unsere BrainPals war es möglich, ständig in lautlosem Kontakt zu bleiben, ob wir in Sichtweite waren oder nicht. Die anderen Kompanien schienen nicht erkannt zu haben, was das bedeutete, und das erwies sich als fataler Fehler. Ich wies alle meine Leute an, über einen sicheren Kommunikationskanal miteinander Verbindung zu halten, dann zogen sie allein los. Sie erkundeten das Terrain und machten die Standorte der feindlichen Trupps ausfindig. Auf diese Weise erhielten wir eine immer genauere Karte der Umgebung und der feindlichen Stellungen. Selbst wenn ein Rekrut ›erschossen‹ wurde, war diese Information für die anderen hilfreich, sodass sie seinen ›Tod‹ rächen oder zumindest vermeiden konnten, in die gleiche Falle zu tappen. Ein einzelner Soldat konnte sich schnell und unauffällig bewegen und den Trupps der anderen Kompanien Schwierigkeiten machen, während er trotzdem mit seinen Kameraden in Verbindung blieb und koordinierte Aktionen durchführen konnte.
Es funktionierte. Unsere Rekruten griffen an, wenn sich die Gelegenheit bot, blieben in Deckung, wenn es zu unsicher war, und arbeiteten zusammen, wenn die Konstellation günstig war. Am zweiten Tag erledigten ein Rekrut namens Riley und ich zwei Trupps von unterschiedlichen Kompanien. Sie waren so sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu beschießen, dass sie gar nicht merkten, wie Riley und ich uns anschlichen und als Heckenschützen in den Kampf eingriffen. Er erwischte zwei Leute, ich drei, und die restlichen drei erledigten sich gegenseitig. Es lief wunderbar. Nachdem wir fertig waren, sprachen wir nicht miteinander, sondern zogen uns einfach in den Wald zurück, um weiter das Gelände zu erkunden.
Irgendwann begriffen die anderen Kompanien, was wir taten, und versuchten unsere Taktik zu kopieren. Doch zu diesem Zeitpunkt waren sie gegenüber der 63. bereits hoffnungslos in der Minderzahl. Wir dezimierten sie und hatten den letzten Feind gegen Mittag getötet. Dann liefen wir zur Basis zurück, die etwa achtzig Kilometer entfernt war. Der Letzte von uns traf um 18 Uhr ein. Insgesamt hatten wir neunzehn Rekruten verloren, einschließlich der vier gleich zu Anfang. Aber wir waren für mehr als die Hälfte der Gesamtverluste aller sieben Kompanien verantwortlich, während wir selbst nur knapp ein Drittel unserer Leute eingebüßt hatten. Darüber konnte sich nicht einmal Master Sergeant Ruiz beklagen. Als der Basiskommandant ihm den Manöverpokal überreichte, zeigte sich sogar ein Lächeln auf seinem Gesicht. Ich wagte mir nicht vorzustellen, wie schwer ihm diese Gefühlsregung fiel.
»Unsere Glückssträhne nimmt kein Ende«, sagte der frisch gebackene Gefreite Alan Rosenthal, als er auf dem Shuttle-Landeplatz zu mir kam. »Wir beiden wurden demselben Schiff zugewiesen.«
So war es. Ein schnelle Spritztour zurück nach Phoenix mit dem Truppentransporter Francis Drake, und danach Urlaub, bis die KVAS Modesto im System eintraf. Sie brachte uns zur 2. Kompanie, Bataillon D des 233. Infanterieregiments der KVA. Ein Regiment pro Schiff, was ungefähr eintausend Soldaten waren. Da konnte man leicht den Überblick verlieren. Ich war froh, dass Alan weiterhin in meiner Nähe war.
Ich drehte mich zu ihm um und bewunderte seine blitzblanke neue Galauniform der Kolonialen◦– unter anderem vor dem Hintergrund, dass ich genauso wie er gekleidet war. »Mensch, Alan«, sagte ich. »Wir sehen einfach toll aus.«
»Männer in Uniform habe ich schon immer geliebt«, vertraute Alan mir an. »Und das gilt erst recht, nachdem ich jetzt selber der Mann in Uniform bin.«
»Achtung«, sagte ich. »Da kommt Master Sergeant Ruiz.«
Ruiz hatte mich gesehen, wo ich darauf wartete, mein Shuttle besteigen zu können. Als er sich näherte, stellte ich meinen Sack ab, in dem sich meine Alltagsuniform und ein paar persönliche Dinge befanden, um ihm schneidig salutieren zu können.
»Rühren, Gefreiter«, sagte Ruiz, nachdem er den Gruß erwidert hatte. »Wohin wurden Sie versetzt?«
»Zur Modesto, Master Sergeant«, antwortete ich. »Genauso wie Gefreiter Rosenthal.«
»Ich fasse es nicht«, rief Ruiz. »Sie gehen zum 233. Regiment? Welches Bataillon?«
»D, Master Sergeant. Zweite Kompanie.«
»Das ist höchstgradig unfassbar, Gefreiter«, sagte Ruiz. »Sie haben die Ehre, in der Kompanie von Lieutenant Arthur Keyes dienen zu dürfen, falls es diesem blöden Mistkerl immer noch nicht gelungen ist, sich von einem Alien fressen zu lassen. Wenn Sie ihn sehen, richten Sie ihm einen Gruß von mir aus. ußerdem dürfen Sie ihm sagen, dass Master Sergeant Antonio Ruiz Sie im Gegensatz zu den anderen Rekruten Ihrer Ausbildungskompanie nicht für einen kompletten Volltrottel hält.«
»Danke, Master Sergeant.«
»Bilden Sie sich bloß nichts darauf ein, Gefreiter. Sie sind trotz allem ein Volltrottel. Nur eben kein kompletter.«
»Selbstverständlich, Master Sergeant.«
»Gut. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Manchmal muss man einfach die Kurve kratzen.« Ruiz salutierte. Alan und ich grüßten zurück. Ruiz sah uns beide an, gönnte uns ein widerwilliges, gepresstes Lächeln und entfernte sich dann, ohne sich noch einmal zu uns umzudrehen.
»Dieser Mann jagt mir eine Heidenangst ein«, sagte Alan.
»Ich weiß nicht. Irgendwie mag ich ihn.«
»Natürlich magst du ihn. Er ist beinahe der Ansicht, dass du kein totaler Versager bist. Für seine Verhältnisse ist das ein wahnsinniges Kompliment.«
»Glaube nicht, dass ich mir dessen nicht bewusst bin«, erwiderte ich. »Jetzt muss ich es nur noch schaffen, meinem Ruf auch in Zukunft gerecht zu werden.«
»Du wirst es schaffen«, sagte Alan. »Schließlich bist du trotz allem ein Volltrottel.«
»Das tröstet mich«, sagte ich. »Wenigstens bin ich auch weiterhin in guter Gesellschaft.«
Alan grinste. Die Luke des Shuttles öffnete sich. Wir schnappten unsere Sachen und stiegen ein.
»Ich könnte es versuchen«, sagte Watson und wagte einen Blick über den Felsblock. »Lassen Sie mich ein Loch in eins dieser Dinger bohren.«
»Nein«, entgegnete Viveros, unser Corporal. »Der Schild ist immer noch aktiviert. Sie würden nur Munition verschwenden.«
»Was soll der Blödsinn?«, regte sich Watson auf. »Wir warten hier schon seit Stunden. Wir sitzen hier nur herum. Was sollen wir tun, wenn sie den Schild ausschalten? Zu ihnen rüberspazieren und auf sie schießen? Wir leben nicht mehr im verdammten vierzehnten Jahrhundert, als man mit seinem Gegner einen Termin vereinbart hat, wenn man ihn angreifen wollte!«
Viveros sah ihn verärgert an. »Watson, Sie werden nicht fürs Denken bezahlt. Also halten Sie endlich die Klappe und machen Sie sich bereit. Es wird nicht mehr allzu lange dauern. Nur noch ein Ritual muss vollzogen werden, bevor es losgeht.«
»Aha? Und welches?«, wollte Watson wissen.
»Sie werden singen«, sagte Viveros.
Watson grinste. »Was werden sie singen? Ein Schlager-Medley?«
»Nein«, sagte Viveros. »Sie werden unseren Tod singen.«
Wie auf dieses Stichwort schimmerte plötzlich der untere Rand des gewaltigen halbkugelförmigen Schildes, der das Lager der Consu umschloss. Ich stellte meine Sicht auf die Entfernung von mehreren hundert Metern ein und konzentrierte mich auf den einzelnen Consu, der durch den Schild trat. Das elektromagnetische Feld klebte noch einen Moment lang an seinem schweren Panzer, bis er weit genug entfernt war und sich die Fäden aus Energie in den Schild zurückzogen.
Er war der dritte und letzte Consu, der vor der Schlacht nach draußen trat. Der erste war vor fast zwölf Stunden aufgetaucht, ein Fußsoldat von niederem Rang, dessen aggressives Gebrüll die offizielle Ankündigung darstellte, dass die Consu zum Kampf bereit waren. Die untergeordnete Stellung dieses Boten sollte uns gleichzeitig darauf aufmerksam machen, wie gering unsere Truppen von den Consu geschätzt wurden. Wenn wir wirklich von Bedeutung gewesen wären, hätte man uns einen höherrangigen Soldaten geschickt. Doch keiner von uns fühlte sich dadurch beleidigt, denn der Bote war immer von niederem Rang, ganz gleich, mit welchem Gegner sie es zu tun hatten. Und sofern man nicht eine außergewöhnlich gute Nase für die Pheromone der Consu hatte, waren sie für Menschen ohnehin kaum zu unterscheiden.
Der zweite Consu kam ein paar Stunden später durch den Schild. Er brüllte wie eine Kuhherde auf dem Schlachthof und explodierte unvermittelt. Rosafarbenes Blut und Stücke seiner Organe und seines Panzers klatschten gegen den Schild und fielen verschmort zu Boden. Offenbar glaubten die Consu, dass die Seele eines Soldaten durch die vorherige rituelle Opferung dazu bewogen werden konnte, den Feind noch eine Zeit lang auszukundschaften, bevor sie dorthin ging, wohin die Seelen der Consu ihrer Überzeugung nach gingen. Oder etwas in der Art. Das schien mir eine gute Methode zu sein, schon vorher seine beste Kämpfer zu verlieren, doch da ich in diesem Fall zu ihren Feinden gehörte, war es schwierig, in dieser Praxis einen Nachteil für unsere Seite zu erkennen.
Der dritte Consu war ein Angehöriger der höchsten Kaste, und seine Aufgabe bestand darin, uns die Gründe für unseren bevorstehenden Tod und die Art und Weise, wie wir ums Leben kommen würden, zu erklären. Erst danach sollte es tatsächlich mit dem Töten und Sterben losgehen. Jeder Versuch, den Ablauf zu beschleunigen, indem man vorzeitig auf den Schild feuerte, wäre völlig sinnlos gewesen. Wenn man ihn nicht in eine Sonne warf, gab es nur sehr wenig, womit man einen Consu-Schild eindellen konnte. Einen Boten zu töten hätte nur dazu geführt, dass das Eröffnungsritual von neuem begann, wodurch der eigentliche Kampf noch weiter hinausgezögert wurde.
Außerdem war es keineswegs so, dass sich die Consu hinter dem Schild versteckten. Sie mussten nur sehr viele Rituale zur Vorbereitung auf den Kampf vollziehen, und dabei ließen sie sich ungern von unerwarteten Kugeln, Partikelstrahlen oder Explosivgeschossen stören. In Wirklichkeit schätzten die Consu nichts mehr als einen guten Kampf. Sie hielten überhaupt nichts von der Idee, zu irgendeinem Planeten zu düsen, darauf zu landen und zu warten, bis die Bewohner einen Krieg anfingen.
Was auch hier der Fall war. Die Consu waren nicht im Geringsten daran interessiert, diesen Planeten zu kolonisieren. Sie hatten lediglich eine menschliche Kolonie in Stücke geschossen, um der KVA mitzuteilen, dass sie in der Nähe waren und Lust auf eine deftige Rauferei hatten. Es war ausgeschlossen, die Consu zu missachten, da sie einfach damit weitermachen würden, Kolonisten abzuschlachten, bis jemand kam, um ihnen einen anständigen Kampf zu liefern. Doch man wusste nie, was sie als hinreichende Herausforderung betrachten würden. Man konnte nur solange Truppen schicken, bis ein Bote der Consu herauskam und die Kampfbereitschaft signalisierte.
Abgesehen von ihren beeindruckenden undurchdringlichen Schilden befand sich die Waffentechnik der Consu auf einem ähnlichen Stand wie die der KVA. Das war keineswegs so ermutigend, wie es klang, denn die durchsickernden Berichte von Kämpfen mit anderen Spezies deuteten darauf hin, dass die Waffentechnik in allen Fällen mehr oder weniger der ihrer Gegner entsprach. Das stützte ebenfalls die Theorie, dass das Ganze für die Consu kein Krieg, sondern ein sportlicher Wettkampf war. Nur dass die Rolle der Zuschauer von abgeschlachteten Kolonisten übernommen wurde.
Einen Erstschlag gegen die Consu zu führen stand außer Frage. Ihr Heimatsystem war komplett durch einen Schild geschützt. Die benötigte Energie stammte von einem Weißen Zwerg, der die Zentralsonne des Consu-Systems begleitete. Dieser Himmelskörper war vollständig von einer technischen Vorrichtung eingeschlossen, die den Schild speiste. Wenn man es realistisch betrachtete, sollte man sich auf keinen Fall mit Leuten anlegen, die zu so etwas imstande waren. Doch die Consu hatten recht seltsame Vorstellungen von Ehre. Wenn man ihre Truppen auf einem Planeten ausradierte, kamen sie nie wieder. Es war wie eine Vireninfektion, die durch Antikörper beseitigt wurde.
All diese Informationen standen in unserer Missionsdatenbank, die wir auf Anweisung unseres befehlshabenden Offiziers Lieutenant Keyes vor dem Kampf abrufen und studieren sollten. Die Tatsache, dass Watson offenbar nichts von alledem wusste, konnte nur bedeuten, dass er sich die Berichte nicht angesehen hatte. Das überraschte mich kaum, da mir seit unserer ersten Begegnung klar gewesen war, dass Watson einer jener großspurigen, mutwillig ignoranten Ärsche war, die sich selbst oder ihre Truppkameraden schnell in tödliche Schwierigkeiten bringen würden. Mein Problem war jedoch, dass ich sein Truppkamerad war.
Der Consu breitete die Sensenarme aus, die sich im Laufe ihrer Evolution darauf spezialisiert haben mussten, einem unvorstellbar entsetzlichen Geschöpf auf ihrer Heimatwelt den Garaus zu machen. Darunter kamen die armähnlicheren Gliedmaßen zum Vorschein, die er nun zum Himmel hob.
»Es geht los«, sagte Viveros.
»Ich könnte ihn mühelos abknallen«, sagte Watson.
»Wenn Sie es tun, werde ich im nächsten Moment Sie erschießen«, sagte Viveros.
Die Luft wurde von einem Krachen zerrissen, als hätte Gott höchstpersönlich ein Gewehr abgefeuert. Darauf folgte etwas, das wie eine Kettensäge klang, die durch Blech schnitt. Der Consu sang. Ich ließ mir von Arschloch den Text übersetzen.
Hört her, verehrte Widersacher,
Wir sind die Instrumente eures freudigen Todes.
Wir haben euch nach unserer Art gesegnet,
Der Geist der Besten unter uns hat dem Kampf zugestimmt.
Wir werden euch lobpreisen, wenn wir gegen euch vorrücken,
Und eure Seelen singen, die gerettet und belohnt werden.
Ihr hattet nicht das Glück, in unserem Volk geboren zu sein,
Also bereiten wir euch den Weg zu eurer Erlösung.
Seid tapfer und kämpft wild,
Damit ihr in unseren Nestern wiedergeboren werdet.
Dieser gesegnete Kampf heiligt den Boden,
Und alle, die hier sterben und geboren werden, sind fortan
befreit.
»Mann, ist das laut«, sagte Watson und steckte sich einen Finger ins linke Ohr. Ich glaubte nicht, dass er eine Übersetzung des Gesangs abgerufen hatte.
»Verdammt, das ist weder ein Krieg noch ein Fußballspiel«, sagte ich zu Viveros. »Das ist ein Gottesdienst.«
Viveros zuckte die Achseln. »Das sieht die KVA anders. So leiten die Consu jede Schlacht ein. Für sie ist es so etwas wie eine Nationalhymne. Es ist nicht mehr als ein Ritual. Sehen Sie, jetzt wird der Schild deaktiviert.« Sie zeigte auf das Energiefeld, das nun auf der gesamten Breite flackerte und schließlich erlosch.
»Das wird auch langsam Zeit«, sagte Watson. »Ich wollte schon ein Nickerchen machen.«
»Hören Sie mir zu, alle beide«, sagte Viveros. »Bleiben Sie ruhig, konzentrieren Sie sich und verlassen Sie nicht die Deckung. Wir sind hier an einer sehr guten Kampfposition, und der Lieutenant möchte, dass wir die Mistkerle unter Beschuss nehmen, wenn sie rauskommen. Jagen Sie ihnen einfach nur eine Kugel in den Thorax. Dort sitzt ihr Gehirn. Jeder, den wir erwischen, ist einer weniger, um den wir uns Sorgen machen müssen. Benutzen Sie nur Gewehrkugeln, weil uns alles andere zu schnell verraten würde. Stoppen Sie das Gelaber, kommunizieren Sie ab jetzt nur noch über Ihre BrainPals. Haben Sie das verstanden?«
»Alles klar«, sagte ich.
»Scheißklar«, sagte Watson.
»Ausgezeichnet«, sagte Viveros.
Kurz darauf war der Schild vollständig deaktiviert, und über das Gelände zwischen den Menschen und den Consu jagten Raketen, die wir schon vor Stunden gesichtet hatten, als sie in Stellung gebracht worden waren. Auf die dumpfen Schläge der Explosionen folgten im nächsten Moment menschliche Schreie und das metallische Zirpen der Consu. Ein paar Sekunden lang gab es nichts außer Rauch und Stille, dann war ein langer, schriller Ruf zu hören, als die Consu gegen die Menschen vorrückten. Unsere Truppen blieben jedoch in Deckung und versuchten, so viele Consu wie möglich niederzumähen, bevor die zwei Fronten kollidierten.
»Es geht los«, sagte Viveros. Sie hob ihre Vauzett, zielte damit auf einen fernen Consu und feuerte. Wir taten es ihr nach.
Wie man sich auf den Kampf vorbereitet.
Zuerst kommt der Systemcheck des VZ-35-Infanteriegewehrs. Das ist keine komplizierte Sache, weil sich die VZ-35 selbst wartet und Material aus dem Munitionsblock benutzen kann, um sich zu reparieren. Man kann eine Vauzett nur dann dauerhaft ruinieren, wenn sie mitten in den Feuerstrahl einer aktiven Triebwerksdüse gerät. Da man sich meistens in unmittelbarer Nähe seiner eigenen Waffe befindet, heißt das, dass man höchstwahrscheinlich ganz andere Probleme hat, wenn dieser Fall eintritt.
Als Zweites legt man den Kampfanzug an. Dabei handelt es sich um den standardmäßigen Unitard, der den gesamten Körper von selbst umschließt und nur das Gesicht freilässt. Der Unitard ist so konstruiert, dass man seinen Körper für die gesamte Dauer des Kampfes vergisst. Der »Stoff« aus organisierten Nanobotern lässt Licht durch, um Photosynthese zu ermöglichen, und reguliert die Wärme. Ob man nun auf einer arktischen Eisscholle oder einer Düne aus Wüstensand steht, der einzige Unterschied, den man bemerkt, ist die sichtbare Veränderung der Umgebung. Falls man tatsächlich ins Schwitzen geraten sollte, saugt der Unitard die Feuchtigkeit auf, filtert sie und lagert das Wasser, bis man es in eine Feldflasche umfüllen kann. Urin lässt sich auf dieselbe Weise verarbeiten. Von einer Entleerung der Gedärme in den Unitard wird im Allgemeinen abgeraten.
Wenn man von einer Kugel in den Bauch getroffen wird (oder an irgendeiner anderen Stelle), versteift sich der Unitard an der betreffenden Stelle und verteilt die Aufschlagenergie über die gesamte Anzugoberfläche, damit die Kugel das Material nicht durchdringen kann. Das ist äußerst schmerzhaft, aber immer noch besser, als würde die Kugel fröhlich durch die Eingeweide sausen. Das funktioniert allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt, also sollte man trotzdem dafür sorgen, nicht unter feindlichen Beschuss zu geraten.
Dann kommt der Gürtel. Er enthält ein Kampfmesser, ein Vielzweckwerkzeug, das ungefähr das darstellt, was ein Schweizer Armeemesser werden möchte, wenn es erwachsen ist, ein Einmannzelt, das sich auf ein erstaunlich geringes Volumen zusammenfalten lässt, eine Feldflasche, Energieriegel, die etwa eine Woche vorhalten, und drei Taschen für Munitionsblöcke. Das Gesicht beschmiert man sich mit einer nanotechnischen Creme, die sich mit dem Unitard abspricht. Wenn man dann den Tarnmodus einschaltet, hat man Schwierigkeiten, in einem Spiegel sein eigenes Gesicht zu erkennen.
Als Drittes öffnet man einen BrainPal-Kanal zum Rest des Trupps und lässt ihn geöffnet, bis man zum Schiff zurückkehrt oder gestorben ist. Ich hielt es für ziemlich klug, im Basislager daran zu denken, aber dann stellte es sich als eins der heiligsten unter den ungeschriebenen Gesetzen heraus, die in der Hitze des Gefechts Gültigkeit besaßen. Die Kommunikation über BrainPal bedeutet, dass es keine unklaren Kommandos oder Signale gibt◦– und dass man nicht spricht, um seine Position nicht zu verraten. Wenn man während eines Kampfes einen KVA-Soldaten hört, ist er entweder ein Idiot oder er schreit, weil er getroffen wurde.
Der einzige Nachteil an der BrainPal-Kommunikation ist der, dass man auch emotionale Informationen übermittelt, wenn man nicht aufpasst. Das kann sehr irritierend sein, wenn man plötzlich das Gefühl hat, sich vor Angst in die Hose zu machen, bis man merkt, dass man es gar nicht selber ist, der die Kontrolle über die Blase zu verlieren droht, sondern ein Truppkamerad.
Halte ausschließlich Kontakt mit deinen Truppkameraden! Wenn du versuchst, mit deiner gesamten Kompanie Verbindung zu halten, hast du plötzlich sechzig Leute in deinem Kopf, die fluchen, kämpfen und sterben. Das ist keine erstrebenswerte Erfahrung.
Schließlich sollte man alles vergessen, außer Befehle zu befolgen, alles zu töten, was kein Mensch ist, und am Leben zu bleiben. Die KVA macht es einem leicht, das zu tun, denn in den ersten zwei Dienstjahren gehört jeder Soldat der Infanterie an, ganz gleich, ob man in seinem früheren Leben Hausmeister oder Chirurg, Senator oder Strichjunge war. Wenn man die ersten zwei Jahre übersteht, bekommt man die Chance, sich zu spezialisieren und einen dauerhaften Posten zu erhalten, statt von einer Schlacht zur nächsten zu ziehen und Nischen zu besetzen, die es in jeder Armee gibt. Doch während der zwei Jahre tut man nichts anderes, als dorthin zu gehen, wohin man geschickt wird, sein Gewehr festzuhalten und zu töten, ohne selbst getötet zu werden. Das klingt einfach, aber in der Praxis kann es durchaus schwierig sein.
Man brauchte zwei Schüsse, um einen Soldaten der Consu zu erledigen. Das war etwas Neues. In den Informationen wurde nirgendwo erwähnt, dass sie mit individuellen Schilden ausgestattet waren. Aber etwas sorgte dafür, dass sie den ersten Treffer unbeschadet einsteckten. Danach landeten sie auf dem Arsch, falls sie an der betreffenden Stelle so etwas wie einen Arsch hatten, doch schon wenige Sekunden später waren sie wieder auf den Beinen. Also zwei Schüsse◦– einer, um sie zu Boden zu werfen, und noch einer, damit sie am Boden blieben.
Zwei Schüsse in schneller Folge auf ein sich bewegendes Ziel ist keine einfache Sache, wenn sich das Ziel auf der anderen Seite eines Schlachtfeldes befindet, auf dem jede Menge los ist. Nachdem ich den Bogen raus hatte, ließ ich die Vauzett von Arschloch so programmieren, dass sie zwei Geschosse hintereinander abgab, wenn ich einmal den Abzug auslöste. Das erste war eine Hohlprojektil und das zweite eine Explosivpatrone. Die Programmierung wurde zwischen zwei Schüssen an meine Vauzett übermittelt. Eben noch verschoss ich einzelne handelsübliche Gewehrkugeln, im nächsten Moment feuerte ich meine Consu-Killer-Spezialität ab.
Ich liebte mein Gewehr.
Ich gab die Information an Watson und Viveros weiter, und Viveros schickte sie die Befehlskette hinauf. Nach einer knappen Minute hallten schnelle Doppelschüsse über das Schlachtfeld, gefolgt von den letzten Schnaufern der Consu, deren innere Organe von den Sprengsätzen gegen die Innenseiten ihrer Panzer gematscht wurden. Es klang wie das Knallen von Popcorn. Ich schaute zu Viveros hinüber. Sie war damit beschäftigt, völlig emotionslos zu zielen und zu feuern. Watson schoss und grinste wie ein kleiner Junge, der gerade ein Stofftier in einer Jahrmarktsschießbude gewonnen hatte.
Autsch, sendete Viveros. Wir wurden entdeckt. Kopf runter!
»Was?«, sagte Watson und reckte den Kopf hoch. Ich packte ihn und riss ihn nach unten, als die Raketen in die Felsblöcke schlugen, hinter denen wir uns verschanzt hatten. Wir wurden mit frisch erodiertem Schotter überschüttet. Als ich hochschaute, sah ich gerade noch rechtzeitig, wie ein Felsstück von der Größe einer Bowlingkugel runterkam. Die Flugbahn zielte genau auf meinen Schädel. Ohne nachzudenken, schlug ich danach. Mein Anzug verhärte sich über den gesamten Ärmel, und der Stein prallte wie ein lässig geworfener Softball ab. Es tat höllisch weh. In meinem früheren Leben hätte ich mich daraufhin dreier verkürzter, gebrochener oder ausgerenkter Armknochen rühmen können. So etwas würde ich nicht noch einmal tun.
»Heilige Scheiße, das war knapp!«, sagte Watson.
»Klappe halten!«, erwiderte ich und sendete an Viveros: Was jetzt?
Festhalten, antwortete sie und nahm ihr Vielzweckwerkzeug vom Gürtel. Sie gab den Befehl, dass daraus ein Spiegel wurde, dann benutzte sie ihn, um damit über die Kuppe des Felsblocks zu schauen. Sechs, nein, sieben sind auf dem Weg zu uns …
Aus der Nähe war ein knappes Rrrumms zu hören. Jetzt nur noch fünf, stellte sie richtig und klappte ihr Werkzeug zusammen. Granaten wählen und auf mein Zeichen feuern.
Ich nickte, Watson grinste, und als Viveros das Los! sendete, jagten wir alle gleichzeitig Granaten über die Felsblöcke. Jeder von uns feuerte drei ab. Nach neun Explosionen atmete ich aus, betete und kam hoch. Ich sah die Überreste eines Consu, einen weiteren, der sich benommen von unserem Standort entfernte, und noch zwei, die sich in Deckung flüchten wollten. Viveros erwischte den Verwundeten, Watson und ich erschossen je einen der übrigen beiden.
»Herzlich willkommen zur Party, ihr Arschgesichter!«, jubelte Watson und sprang überschwänglich hinter seinem Felsblock hoch. Im nächsten Moment hatte er einen Consu vor der Nase, der zu nahe für die Granaten gewesen und in Deckung geblieben war, während wir seine Freunde zu Matsch verarbeitet hatten. Der Consu richtete seine Waffe auf Watsons Gesicht und feuerte. Watsons Gesicht dellte sich nach innen ein und dann nach außen, als sich ein Geysir aus SmartBlood und Schädelgewebe über den Consu ergoss. Watsons Unitard tat das, worauf er programmiert war, und versteifte sich, als das Projektil die Rückseite seiner Kapuze traf. Die Energie des Schusses, das SmartBlood, Gehirnmasse, Schädelknochen und die Trümmer des BrainPals entwichen durch die einzige verfügbare Öffnung.
Watson merkte nicht mehr, was geschah. Das Letzte, was er über seinen BrainPal-Kanal schickte, war ein emotionaler Schwall, der sich am besten als Verwirrung und Desorientierung beschreiben ließ, die Überraschung eines Menschen, der weiß, dass er etwas sieht, womit er nicht gerechnet hat, aber noch nicht verstanden hat, worum es sich handelt. Dann brach die Verbindung zu ihm ab, wie ein Datenkanal, der unvermittelt abgeschaltet wird.
Der Consu, der Watson erschossen hatte, sang, während das Gesicht seines Gegners explodierte. Ich hatte den Übersetzungsmodus aktiviert gelassen, sodass ich Watsons Tod mit Untertiteln miterlebte. Das Wort Erlöst! wurde in ständiger Wiederholung eingeblendet, während Fetzen seiner Gehirnmasse wie Tränen am Thorax des Consu herabrannen. Ich schrie und feuerte. Der Consu wurde zurückgeworfen, dann explodierte sein Körper, als eine Patrone nach der anderen durch seinen Brustpanzer schlug und darunter detonierte. Ich schätzte, dass ich dreißig Kugeln für einen Consu verschwendete, der längst tot war, bevor ich aufhörte.
»Perry«, sagte Viveros, die wieder auf ihre Stimme umgeschaltet hatte, um zu mir vorzudringen. »Da kommen noch mehr. Wir sollten von hier verschwinden. Los!«
»Was wird aus Watson?«, fragte ich.
»Wir lassen ihn zurück«, sagte Viveros. »Er ist tot, und hier gibt es niemanden, der Zeit hat, um ihn zu trauern. Wir bergen seine Leiche später. Los jetzt! Wir müssen zusehen, dass wir am Leben bleiben.«
Wir siegten. Die Doppelschusstechnik dünnte die Reihen der Consu beträchtlich aus, bevor sie Vernunft annahmen und ihre Taktik änderten. Sie zogen sich zurück und verlegten sich auf Raketenbeschuss, statt ihren Frontalangriff fortzusetzen. Nach mehreren Stunden Artilleriefeuer fielen die Consu noch weiter zurück und fuhren den Schild wieder hoch. Sie ließen nur einen Trupp zurück, der rituellen Selbstmord beging, als Zeichen, dass sich die Consu als Verlierer der Schlacht betrachteten. Nachdem sie sich die verzierten Dolche in die Hirnschalen gerammt hatten, mussten wir nur noch unsere Toten und Verwundeten einsammeln, die auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben waren.
Die 2. Kompanie hatte die Sache verhältnismäßig gut überstanden. Zwei Tote, einschließlich Watson, und vier Verwundete, einer davon schwer. Die Soldatin würde den nächsten Monat damit zubringen, sich die unteren Eingeweide nachwachsen zu lassen, während die übrigen drei schon nach wenigen Tagen wieder auf den Beinen sein würden. In Anbetracht der Umstände hätte es schlimmer ausgehen können. Ein gepanzerter Gleiter der Consu war in die 4. Kompanie hineingerast, mitten in die Stellung des Bataillons C. Das Fahrzeug war explodiert und hatte sechzehn Soldaten mit in den Tod gerissen, darunter auch den Kommandanten der Kompanie und zwei Truppführer. Viele weitere Mitglieder der Kompanie waren verwundet worden. Falls der Lieutenant der 4. Kompanie nicht zu den Toten gehörte, wünschte er sich vermutlich, er hätte eine solche Katastrophe nicht überlebt.
Nachdem wir das Okay-Signal von Lieutenant Keyes erhalten hatten, ging ich los, um Watson zu holen. Eine Gruppe aus achtbeinigen Aasfressern hatte ihn bereits gefunden. Ich erschoss eins der Tiere und überzeugte dadurch die anderen, sich zu entfernen. Sie hatten in der kurzen Zeit erstaunlich viel geschafft. Ich war überrascht, wie wenig ein Mensch wog, wenn man seinen Kopf und einen großen Teil seines weichen Gewebes abzog. Ich legte das, was von ihm noch übrig war, auf eine Feuerwehrbahre und machte mich auf den Weg zum einige Kilometer entfernten provisorischen Leichenhaus. Ich musste zwischendurch nur einmal anhalten und mich übergeben.
Alan entdeckte mich, als ich ankam. »Brauchst du Hilfe?«, fragte er, als er sich zu mir gesellt hatte.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Er ist nicht mehr besonders schwer.«
»Wer ist das?«, wollte Alan wissen.
»Watson.«
»Ach, er«, sagte Alan und verzog das Gesicht. »Ich bin mir sicher, dass irgendwo irgendjemand um ihn trauern wird.«
»Halt bloß deine Tränen zurück«, sagte ich. »Wie hast du dich heute geschlagen?«
»Gar nicht so schlecht«, sagte Alan. »Die meiste Zeit habe ich den Kopf eingezogen, ab und zu mein Gewehr hochgehalten und ein paar Schüsse in die ungefähre Richtung des Feindes abgegeben. Keine Ahnung, ob ich was getroffen habe.«
»Hast du den Todesgesang vor Beginn des Kampfes gehört?«
»Natürlich. Es klang, als würden sich zwei Güterzüge miteinander paaren. Man muss sich schon sehr anstrengen, wenn man diesen Gesang nicht hören will.«
»Stimmt«, sagte ich. »Ich meine, hast du ihn dir übersetzen lassen? Hast du dir angehört, wovon darin die Rede war?«
»Ja«, sagte Alan. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich mit ihrer Methode anfreunden kann, wie sie uns zu ihrer Religion konvertieren wollen. Schließlich muss man dazu sterben und so weiter.«
»Die KVA scheint es nur für irgendein Ritual zu halten, für eine Art Gebet, das sie sprechen, weil sie es schon immer getan haben.«
»Was meinst du?«, fragte Alan.
Ich drehte den Kopf in Watsons Richtung. »Der Consu, der ihn umgebracht hat, schrie die ganze Zeit ›Erlöst, erlöst!‹, so laut er konnte. Und ich bin überzeugt, dass er dasselbe getan hätte, wenn ich sein Opfer gewesen wäre. Ich meine, die KVA unterschätzt, was hier vor sich geht. Ich bin der Ansicht, dass die Consu nach einem solchen Kampf nicht mehr zurückkommen, weil sie glauben, dass sie verloren haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei diesem Kampf um Sieg oder Niederlage geht. Für sie ist dieser Planet nun durch ihr Blut geweiht worden. Ich glaube, sie glauben, dass er ihnen jetzt gehört.«
»Warum besetzen sie ihn dann nicht?«
»Vielleicht ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen«, sagte ich. »Vielleicht müssen sie noch bis zu einer Art Jüngstem Gericht warten. Aber ich will darauf hinaus, dass die KVA offenbar keine Ahnung hat, ob die Consu diese Welt nun als ihren Besitz betrachten oder nicht. Ich glaube, der Moment wird kommen, wo sie mächtig überrascht sein werden.«
»Okay, das klingt vernünftig«, sagte Alan. »Bisher hat noch jede Armee, von der ich gehört habe, zur Selbstgefälligkeit geneigt. Aber was willst du deswegen unternehmen?«
»Scheiße, Alan, ich habe nicht den leisesten Schimmer. Außer zu versuchen, tot zu sein, wenn es so weit ist.«
»Zu einem anderen und weniger deprimierenden Thema«, sagte Alan. »Gute Arbeit, wie du die Doppelschusstechnik ausgetüftelt hast. Einige von uns waren ziemlich genervt, dass wir auf die Mistkerle geschossen haben und sie trotzdem weitermarschiert sind. In den nächsten paar Wochen werden die Leute dir viele Runden ausgeben.«
»Wir müssen für unsere Getränke nicht bezahlen«, gab ich zu bedenken. »Diese Reise durch die Hölle ist eine Pauschalreise all inclusive, wenn ich mich recht entsinne.«
»Aber wir würden dir einen ausgeben, wenn wir es könnten«, sagte Alan.
»So eine große Sache ist es nun auch wieder nicht«, sagte ich. Dann bemerkte ich, dass Alan stehen geblieben war und Haltung angenommen hatte. Als ich aufblickte, sah ich, wie Viveros, Lieutenant Keyes und ein weiterer Offizier, den ich nicht kannte, auf mich zukamen. Ich hielt an, bis sie mich erreicht hatten.
»Perry«, sagte Lieutenant Keyes.
»Lieutenant«, sagte ich. »Bitte verzeihen Sie, dass ich nicht salutiere. Ich trage einen Toten zum Leichenhaus.«
»Dort gehören sie hin«, sagte Keyes und zeigte auf die Leiche. »Wer ist das?«
»Watson, Lieutenant.«
»Ach, er«, sagte Keyes. »Hat aber nicht sehr lange gedauert, was?«
»Er war vielleicht ein wenig zu überschwänglich«, sagte ich.
»Das mag sein«, sagte Keyes. »Wie dem auch sei, Perry, das hier ist Lieutenant Colonel Rybicki, der Kommandant der Zwohundertdreiunddreißigsten.«
»Lieutenant Colonel, verzeihen Sie, dass ich nicht salutieren kann.«
»Ja, wegen der Leiche, ich weiß«, sagte Rybicki. »Mein Junge, ich möchte Ihnen nur gratulieren, dass Sie auf die Doppelschusstechnik gekommen sind. Sie haben viele Menschenleben gerettet und uns viel Zeit erspart. Diese verdammten Consu haben uns die Sache diesmal einen Zacken schwieriger gemacht. Diese individuellen Schilde waren etwas ganz Neues, und damit haben sie uns ziemlich in Schwierigkeiten gebracht. Ich werde Sie zur Beförderung vorschlagen, Gefreiter. Wie finden Sie das?«
»Vielen Dank, Lieutenant Colonel. Aber ich glaube, früher oder später wäre auch jemand anderer darauf gekommen.«
»Das mag sein, aber Sie waren der Erste, und dafür haben Sie sich eine Anerkennung verdient.«
»Ja, Lieutenant Colonel.«
»Wenn wir wieder an Bord der Modesto sind, hoffe ich, dass Sie sich von einem alten Infanteristen einen ausgeben lassen, mein Junge.«
»Das würde mir gefallen, Sir.« Ich sah, wie Alan im Hintergrund grinste.
»Prima. Also dann noch einmal herzlichen Glückwunsch.« Rybicki zeigte auf Watson. »Und mein Beileid wegen Ihres Freundes.«
»Vielen Dank, Lieutenant Colonel.« Alan salutierte stellvertretend für uns beide. Rybicki erwiderte den Gruß und marschierte davon, gefolgt von Keyes. Viveros drehte sich noch einmal zu Alan und mir um.
»Was finden Sie daran so lustig?«, fragte sie.
»Ich habe nur daran gedacht, dass es ungefähr fünfzig Jahre her ist, dass mich jemand zuletzt ›mein Sohn‹ genannt hat.
Viveros lächelte und zeigte auf Watson. »Sie wissen, wohin Sie ihn bringen sollten?«
»Das Leichenhaus ist gleich hinter dem nächsten Hügel. Ich werde Watson dort abliefern und dann das erste Shuttle nehmen, das zur Modesto zurückfliegt, wenn Sie einverstanden sind.«
»Scheiße, Perry«, sagte Viveros. »Sie sind der Held des Tages. Sie dürfen alles tun, was Sie wollen.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Einen Augenblick noch«, sagte ich. »Läuft es immer so ab, Viveros?«
Sie drehte sich erneut zu mir um. »Was soll immer wie ablaufen?«
»Das hier. Der Krieg, die Kämpfe, das Sterben und so weiter.«
»Was?« Viveros schnaufte. »Nein, Perry. Was heute passiert ist, war ein Kinderspiel. Selten wurde ein Sieg so mühelos errungen.« Damit spazierte sie davon und schien sich prächtig zu amüsieren.
Das war meine erste Schlacht. Für mich hatte die Zeit des Krieges begonnen.
Maggie kam als Erste von den Alten Scheißern ums Leben.
Sie starb in den oberen Atmosphärenschichten einer Kolonie namens Temperantia. Der Name◦– der so viel wie »Mäßigung« bedeutete◦– war pure Ironie, weil der Planet wie die meisten Kolonien von Schwerindustrie geprägt war, in deren Umfeld sich jede Menge Bars und Bordelle tummelten. Da die Kruste reich an Metallerzen war, hatte es lange gedauert, bis die Menschen diese Welt erobert hatten, und es kostete große Mühen, sie nicht wieder zu verlieren. Hier waren dreimal so viele KVA-Streitkräfte dauerhaft stationiert als auf anderen Kolonien, und es wurden immer mehr Soldaten hingeschickt, um die Reihen aufzustocken. Maggies Schiff, die Dayton, war genau zu diesem Zweck nach Temperantia geschickt worden, als Raumschiffe der Ohu in der Nähe auftauchten und einen ganzen Schwarm Kampfdrohnen absetzten.
Maggies Kompanie hatte den Auftrag erhalten, ein Aluminiumbergwerk zurückzuerobern, das einhundert Kilometer von Murphy entfernt lag, dem Hauptraumhafen von Temperantia. Sie erreichten ihr Ziel nicht mehr. Auf dem Weg nach unten wurde ihr Truppentransporter von einer Rakete der Ohu getroffen. Sie zerfetzte den Rumpf und riss mehrere Soldaten ins Vakuum, darunter auch Maggie. Die meisten von ihnen waren sofort tot, durch die Explosion oder umherfliegende Trümmerstücke.
Maggie gehörte nicht zu diesen Glücklichen. Sie wurde in den Weltraum über Temperantia hinausgeschleudert, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Ihr Kampfunitard hatte sich automatisch um ihren Kopf geschlossen, damit ihr nicht die Luft aus den Lungen gesogen wurde. Maggie schickte sofort eine Nachricht an die Anführer ihrer Kompanie und ihres Trupps. Was noch von ihrem Truppführer übrig war, hing hilflos in seinem Fallgeschirr. Der Kompanieführer war ihr auch keine große Hilfe, aber deswegen konnte man ihm keinen Vorwurf machen. Der Truppentransporter war nicht für Rettungsaktionen ausgestattet und selbst schwer angeschlagen. Er wurde immer wieder angegriffen und versuchte das nächste KVA-Schiff zu erreichen, um wenigstens die überlebenden Passagiere in Sicherheit zu bringen.
Eine Nachricht an die Dayton erwies sich als genauso nutzlos, da sie sich ein Feuergefecht mit mehreren Ohu-Schiffen lieferte und keine Rettungseinheiten entbehren konnte. Genauso stand es mit anderen Schiffen. Maggie war ein zu kleines Ziel, zu sehr im Griff der Schwerkraft und der Atmosphäre von Temperantia zu nahe, sodass selbst außerhalb einer Kampfzone ein höchst waghalsiges Rettungsmanöver nötig gewesen wäre. Inmitten einer tobenden Raumschlacht war sie schon so gut wie tot.
Also nahm Maggie, deren Körper inzwischen trotz SmartBlood verzweifelt nach Sauerstoff schrie, Ihre Vauzett, richtete sie auf das nächste Ohu-Schiff, berechnete eine Flugbahn und feuerte eine Rakete nach der anderen ab. Die Geschosse gaben Maggie Schub in die entgegengesetzte Richtung und ließen sie immer schneller auf den dunklen Nachthimmel von Temperantia zurasen. Die Auswertung der Schlacht sollte später ergeben, dass ihre Raketen, nachdem der Treibstoff längst aufgebraucht war, tatsächlich irgendwann das Ohu-Schiff trafen und geringfügigen Schaden anrichteten.
Dann wandte sich Maggie um, dem Planeten zu, der sie töten würde, und als guter Professor für fernöstliche Religionen komponierte sie ein jisei, das Todesgedicht, in der Form eines Haiku.
Trauert nicht um mich, Freunde
Ich falle als Sternschnuppe
Ins nächste Leben
Sie sendete das Gedicht und die letzten Momente ihres Lebens zu uns, bis sie starb und eine helle Leuchtspur über den Nachthimmel von Temperantia zog.
Sie war meine Freundin. Kurze Zeit war sie meine Geliebte gewesen. Im Augenblick ihres Todes war sie tapferer gewesen, als ich jemals sein würde. Und ich wette, sie war eine grandiose Sternschnuppe.
»Das Problem mit der Kolonialen Verteidigungsarmee ist nicht, dass sie keine exzellente Streitmacht wäre. Das Problem ist, dass sie viel zu einfach einzusetzen ist.«
So sprach Thaddeus Bender, zweimaliger Senator der Demokraten aus Massachusetts, ehemaliger Botschafter (zu verschiedenen Zeiten) in Frankreich, Japan und den Vereinten Nationen, Außenminister in der ansonsten katastrophalen Crowe-Regierung, Autor, Vortragsreisender und neuerdings der jüngste Zugang zur Kompanie D. Da die letzte dieser Tätigkeiten für uns die größte Relevanz hatte, waren wir alle bald zur Erkenntnis gelangt, dass Gefreiter Senator Botschafter Minister Bender ein ausgesprochenes Arschloch war.
Es ist erstaunlich, wie schnell sich der Wechsel vom Anfänger zum alten Hasen vollzieht. Als wir in der Modesto eintrafen, erhielten Alan und ich unsere Quartiere zugewiesen, wurden herzlich, wenn auch flüchtig von Lieutenant Keyes begrüßt (der eine Augenbraue hochzog, als wir ihn von Sergeant Ruiz grüßten) und schließlich vom Rest der Kompanie mit freundlicher Nichtbeachtung behandelt. Unsere Truppführer sprachen uns an, wenn wir angesprochen werden mussten, und unsere Truppkameraden gaben Informationen weiter, die wir erfahren mussten. Andernfalls waren wir von allem ausgeschlossen.
Das war keineswegs persönlich gemeint. Die drei anderen Neuen◦– Watson, Gaiman und McKean◦– wurden auf die gleiche Weise behandelt, und dafür gab es hauptsächlich zwei Gründe. Der erste lief darauf hinaus, dass die Ankunft neuer Leute bedeutete, dass andere nicht mehr da waren. Und »nicht mehr da« bedeutete gewöhnlich »tot«. Was die institutionelle Ebene betraf, wurden Soldaten wie durchgebrannte Glühbirnen ausgewechselt. Auf der persönlicheren Ebene der Kompanien und Trupps jedoch ersetzte man einen Freund, einen Kameraden, jemanden, der gekämpft und gewonnen hatte und gestorben war. Für einen Freund und Kameraden eines Verstorbenen konnte man selbstredend niemals ein Ersatz sein.
Der zweite Grund hatte damit zu tun, dass man bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der neuen Kompanie gekämpft hatte. Und solange das nicht geschehen war, gehörte man nicht dazu. Das war einfach undenkbar. Dafür konnte man nichts, aber dieser Zustand würde auch nicht lange anhalten. Bis man sich in der Schlacht bewährt hatte, war man nur irgendein Typ, der die Stelle übernommen hatte, die zuvor ein besserer Mann oder eine bessere Frau besetzt hatte.
Ich bemerkte den Unterschied sofort nach der Schlacht mit den Consu. Ich wurde mit Namen begrüßt, eingeladen, mich an einen Tisch in der Messe zu setzen, gefragt, ob ich eine Runde Billard mitspielen wollte, und in Gespräche verwickelt. Viveros, meine Truppführerin, fragte mich nach meiner Meinung, statt mir zu befehlen, wie etwas gemacht werden sollte. Lieutenant Keyes erzählte mir eine Geschichte über Sergeant Ruiz◦– eine Geschichte, in der es um ein Luftkissenfahrzeug und die Tochter eines Kolonialen ging, eine Geschichte, die einfach unglaublich war. Mit einem Wort: Ich war einer von ihnen geworden, einer von uns. Die Doppelschusstechnik gegen die Consu und die anschließende Auszeichnung waren hilfreich, aber Alan, Gaiman und McKean wurden ebenfalls in die Arme geschlossen, obwohl sie nicht mehr getan hatten, als zu kämpfen und sich nicht töten zu lassen. Das genügte bereits.
Jetzt, nach drei Monaten, hatten auch wir schon mehrere Lieferungen von Neulingen erlebt, die Menschen ersetzten, mit denen wir uns angefreundet hatten. Wir wussten, wie es den Soldaten ging, als wir gekommen waren, um Lücken auszufüllen. Nun reagierten wir auf die gleiche Weise: Solange du nicht gekämpft hast, nimmst du nur Platz weg. Die meisten Neulinge fügten sich, verstanden und hielten die ersten paar Tage durch, bis es in den Einsatz ging.
Für den Gefreiten Senator Botschafter Minister Bender galt das alles nicht. Seit dem ersten Moment hatte er versucht, sich in die Kompanie einzuschmeicheln. Er stattete jedem Mitglied einen persönlichen Besuch ab und versuchte eine tiefe, persönliche Freundschaft aufzubauen. Damit ging er allen auf die Nerven. »Er benimmt sich, als würde er einen Wahlkampf führen«, beklagte sich Alan und traf damit den Nagel auf den Kopf. Wenn man sein Leben lang in der Politik gearbeitet hatte, wurde man so. Man wusste einfach nicht mehr, wie man es abschaltete.
Außerdem war Gefreiter Senator Botschafter Minister Bender sein Leben lang davon ausgegangen, dass sich die Leute brennend für das interessierten, was er zu sagen hatte. Deshalb hörte er nie damit auf, auch nicht, wenn ihm offenkundig niemand mehr zuhörte. Als er also in der Messe seine Ansichten über die Probleme der KVA kundtat, führte er im Großen und Ganzen ein Selbstgespräch. Dennoch war seine Bemerkung provokant genug, um Viveros, mit der ich zu Mittag aß, zu einer Erwiderung anzustacheln.
»Wie bitte?«, sagte sie. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren letzten Satz noch einmal zu wiederholen?«
»Ich sagte, ich glaube, das Problem mit der KVA ist nicht, dass sie keine exzellente Streitmacht wäre, sondern dass sie viel zu einfach einzusetzen ist.«
»Tatsächlich«, sagte Viveros. »Das ist eine interessante These.«
»Es ist wirklich nicht schwer zu verstehen«, sagte Bender und nahm eine Haltung an, die ich sofort wiedererkannte, weil ich sie bereits auf Bildern von ihm gesehen hatte◦– die Hände ausgestreckt und leicht nach innen gebogen, als würde er das Thema, über das er sich ausließ, festhalten und seinen Zuhörern präsentieren. Nachdem ich nun auf der Empfängerseite dieser Geste stand, erkannte ich, wie herablassend sie wirkte. »Es steht außer Zweifel, dass die Koloniale Verteidigungsarmee eine außergewöhnlich fähige Kampftruppe darstellt. Doch realistisch betrachtet geht es darum gar nicht. Es geht um die Frage, was wir tun, um ihren Einsatz zu vermeiden. Gab es Situationen, in denen die KVA eingesetzt wurde, obwohl intensive diplomatische Bemühungen möglicherweise bessere Ergebnisse erbracht hätten?«
»Offenbar haben Sie nicht die gleiche Rede gehört wie ich«, sagte ich. »Ich meine die, in der es heißt, dass wir nicht in einem perfekten Universum leben und die Konkurrenz um Grundstücke hart und brutal ist.«
»Ich habe sie sehr wohl gehört«, sagte Bender. »Ich kann nur nicht behaupten, dass ich auch daran glaube. Wie viele Sterne gibt es in der Galaxis? Vielleicht ein paar hundert Milliarden. Von denen die meisten in irgendeiner Form ein Planetensystem haben. Die Fläche der verfügbaren Grundstücke tendiert gegen unendlich. Nein, ich glaube vielmehr, dass es in Wahrheit um etwas ganz anderes geht. Wir setzen Gewalt ein, wenn wir mit anderen intelligenten Spezies zu tun haben, weil Gewalt die einfachste aller Lösungen ist. Gewalt ist schnell, direkt und einfach, verglichen mit den Kompliziertheiten der Diplomatie. Entweder hat man ein Stück Land, oder man hat es nicht. Im Vergleich dazu ist die Diplomatie in intellektueller Hinsicht ein wesentlich schwierigeres Unterfangen.«
Viveros warf mir einen kurzen Blick zu, dann schaute sie wieder zu Bender. »Sie glauben, das, was wir hier tun, wäre einfach?«
»Nein, das glaube ich nicht.« Bender lächelte und hob beschwichtigend die Hand. »Ich habe nur gesagt: verglichen mit der Diplomatie. Wenn ich Ihnen eine Waffe in die Hand drücke und Ihnen sage, dass Sie einheimische Bewohner von einem Hügel vertreiben sollen, ist die Sache ziemlich einfach. Aber wenn ich Ihnen sage, dass Sie zu den Bewohnern gehen und eine Vereinbarung aushandeln sollen, durch die der Hügel in unseren Besitz gelangt, gibt es sehr viele andere Dinge zu bedenken. Was soll mit den gegenwärtigen Bewohnern geschehen, wie können sie entschädigt werden, welche Rechte haben sie weiterhin in Bezug auf den Hügel und so weiter.«
»Vorausgesetzt, die Leute auf dem Hügel erschießen Sie nicht einfach, wenn Sie mit dem Diplomatenkoffer in der Hand aufkreuzen«, sagte ich.
Bender lächelte mich an und hob energisch den Zeigefinger. »Sehen Sie, genau das ist der Punkt. Wir gehen davon aus, dass unsere Gegner die gleiche kriegerische Perspektive einnehmen wie wir. Aber was wäre◦– nur mal theoretisch angedacht -, wenn wir die Tür zur Diplomatie öffnen würden, vielleicht nur einen kleinen Spalt weit? Würde es nicht jede intelligente Spezies vorziehen, durch diese Tür zu treten? Nehmen wir zum Beispiel die Bewohner von Whaid. Wir werden in Kürze gegen sie in die Schlacht ziehen, nicht wahr?«
So war es. Die Whaidianer und die Menschen hatten sich schon seit mehr als zehn Jahren belagert und einen Kampf um das Earnhardt-System ausgetragen, in dem es drei Welten gab, die für beide Völker bewohnbar waren. Systeme mit mehreren bewohnbaren Planeten waren ziemlich selten. Die Whaidianer waren hartnäckig, aber auch verhältnismäßig schwach. Sie hatten nur wenige Planeten besiedelt, und der Hauptteil ihrer Industrie konzentrierte sich immer noch auf ihre Heimatwelt. Da die Whaidianer den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstanden hatten und sich nicht vom Earnhardt-System fernhalten wollten, sah der Plan vor, in ihr Territorium einzudringen, um ihren Raumhafen und die wichtigsten Industriegebiete zu zerstören, damit ihre Expansionskapazitäten um mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen wurden. Die 233. war ein Teil der Streitmacht, die in der Hauptstadt landen und dort für etwas Unordnung sorgen sollte. Wir sollten nach Möglichkeit keine Zivilisten töten, aber vielleicht ein paar Löcher in ihre Parlamentsgebäude und religiösen Versammlungszentren schießen. Dieses Unternehmen schädigte zwar nicht ihre Industrie, aber es vermittelte ihnen die Botschaft, dass wir sie jederzeit fertigmachen konnten, wenn uns danach war. Sie sollten ein wenig eingeschüchtert werden.
»Was ist mit ihnen?«, fragte Viveros.
»Ich habe mir die Informationen über dieses Völkchen etwas genauer angesehen«, sagte Bender. »Sie müssen wissen, dass sie eine bemerkenswerte Kultur haben. Ihre höchste Kunstform ist eine Art von Massengesang, der an gregorianische Chöre erinnert. Eine komplette Stadt der Whaidianer fängt auf einmal zu singen an. Es heißt, man kann die Gesänge über mehrere Kilometer hören, und sie gehen über Stunden.«
»Also?«
»Also handelt es sich hier um eine Kultur, die wir bewundern und erforschen sollten, statt die Leute auf ihren Planeten zurückzuwerfen, weil sie uns im Weg sind. Haben die Kolonialen auch nur versucht, für den Konflikt mit diesem Volk eine friedliche Lösung zu finden? Ich konnte nirgendwo entsprechende Informationen finden. Ich finde, wir sollten den Versuch machen. Vielleicht könnten sogar wir diesen Versuch unternehmen.«
Viveros schnaufte. »Die Aushandlung von Friedensverträgen gehört nicht ganz zu unserem Aufgabenbereich, Bender.«
»Während meiner ersten Amtszeit als Senator war ich anlässlich einer Party mit Wirtschaftsvertretern in Nordirland, und am Ende konnte ich mit den Katholiken und Protestanten die Bedingungen eines Friedensvertrags aushandeln. Ich war nicht befugt, einen Vertrag abzuschließen, und meine Bemühungen lösten in den Vereinigten Staaten eine große Kontroverse aus. Aber wenn sich die Gelegenheit bietet, Frieden zu schließen, müssen wir sie nutzen.«
»Daran erinnere ich mich«, sagte ich. »Das war kurz vor den blutigsten Demonstrationsmärschen der vergangenen zwei Jahrhunderte. Das würde ich nicht als erfolgreichen Friedensschluss bezeichnen.«
»Daran waren nicht die Vereinbarungen schuld«, erwiderte Bender im Ton der Rechtfertigung. »Irgendein katholischer Jugendlicher unter Drogen warf eine Granate in einen Zug der Orange Order, und danach war alles vorbei.«
»Diese verdammten Menschen, die immer wieder den friedlichen Idealen in die Quere kommen«, sagte ich.
»Ich erwähnte bereits, dass Diplomatie keine einfache Sache ist«, sagte Bender. »Trotzdem glaube ich, dass wir letztlich mehr gewinnen, wenn wir versuchen, mit diesen Völkern zusammenzuarbeiten, statt sie auszulöschen. Zumindest sollte man diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen.«
»Danke für die Belehrung, Bender«, sagte Viveros. »Wenn Sie die Freundlichkeit haben, mir jetzt das Wort zu überlassen, möchte ich zwei Dinge klarstellen. Erstens: Solange Sie noch nicht gekämpft haben, interessiert es mich und alle anderen einen Scheißdreck, was Sie wissen oder zu wissen glauben. Wir sind hier nicht in Nordirland, wir sind hier nicht in Washington, wir sind hier nicht einmal auf der Erde. Sie haben sich als einfacher Soldat rekrutieren lassen, und das sollten Sie nie vergessen. Zweitens: Unabhängig von dem, was Sie glauben, Gefreiter, sind Sie jetzt nicht mehr dem Universum oder der gesamten Menschheit verpflichtet, sondern nur mir, Ihren Kameraden, Ihrer Kompanie und der KVA. Wenn man Ihnen einen Befehl erteilt, führen Sie ihn aus. Wenn Sie etwas tun, das über den Rahmen Ihrer Befehle hinausgeht, müssen Sie sich deswegen vor mir verantworten. Haben Sie das verstanden?«
Bender musterte Viveros mit einem recht kühlen Blick. »Unter der Devise, dass man ›nur seine Befehle ausgeführt hat‹, ist viel Böses getan worden. Ich hoffe inständig, dass wir uns nicht eines Tages auf die gleiche Weise herausreden müssen.«
Viveros kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ich bin mit dem Essen fertig«, sagte sie, stand auf und nahm ihr Tablett in die Hand.
Bender zog die Augenbrauen hoch, als sie ging. »Ich wollte sie nicht beleidigen«, sagte er zu mir.
Ich musterte ihn vorsichtig. »Sagt Ihnen der Name ›Viveros‹ überhaupt etwas, Bender?«
Er runzelte leicht die Stirn. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Denken Sie etwas weiter zurück«, sagte ich. »Damals müssen wir fünf oder sechs gewesen sein.«
Ihm ging ein Licht auf. »Es gab einen peruanischen Staatspräsidenten namens Viveros. Ich glaube, er kam bei einem Attentat ums Leben.«
»Richtig, Pedro Viveros«, sagte ich. »Aber nicht nur er, sondern auch seine Frau, sein Bruder, die Frau seines Bruders und ein großer Teil seiner Familie wurde beim Militärputsch ermordet. Nur eine von Pedros Töchtern überlebte. Ihr Kindermädchen steckte sie in einen Wäscheschacht, als die Soldaten den Präsidentenpalast stürmten und nach weiteren Familienmitgliedern suchten. Nebenbei bemerkt, das Kindermädchen wurde vergewaltigt, bevor man ihr die Kehle aufschlitzte.«
Benders Gesicht nahm eine grünlichgraue Schattierung an. »Sie kann nicht diese Tochter sein«, sagte er.
»Sie ist es aber. Und ich kann Ihnen noch etwas verraten. Als der Putsch niedergeschlagen wurde und die Soldaten, die ihre Familie ermordet hatten, vor Gericht gestellt wurden, lautete ihre Entschuldigung, dass sie nur ihre Befehle ausgeführt hatten. Unabhängig von der Frage, ob Ihre Ansichten Hand und Fuß haben, muss ich Ihnen sagen, dass Sie sie jemandem vorgetragen haben, dem Sie auf gar keinen Fall einen Vortrag über die Banalität des Bösen halten sollten. Viveros weiß alles darüber. Sie weiß es, weil ihre Familie abgeschlachtet wurde, während sie im Keller unter einem Wäschehaufen lag und sich bemühte, trotz ihrer blutenden Wunden nicht zu heulen.«
»Mein Gott, das tut mir natürlich sehr leid«, sagte Bender. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Aber ich wusste ja nichts davon.«
»Natürlich nicht, Bender. Und genau darauf wollte Viveros hinaus. Hier draußen wissen Sie von nichts. Sie wissen gar nichts.«
»Hören Sie zu«, sagte Viveros, während wir uns der Oberfläche näherten. »Unsere Aufgabe beschränkt sich ausschließlich darauf, Sachen kaputtzumachen und wieder zu verschwinden. Wir werden in der Nähe des Regierungsviertels landen, ein paar Gebäude zerstören, aber nicht auf lebende Ziele schießen, es sei denn, KVA-Soldaten werden unter Beschuss genommen. Wir haben diesen Leuten schon einmal in die Eier getreten, und jetzt trampeln wir noch ein bisschen auf ihnen herum, während sie sich am Boden winden. Seien Sie schnell, richten Sie Schaden an, und hauen Sie wieder ab. Ist das allen klar?«
Bis zu diesem Punkt war die Aktion ein Kinderspiel gewesen. Die Whaidianer waren überhaupt nicht auf das plötzliche und gleichzeitige Auftauchen von zwei Dutzend Schlachtschiffen der KVA in ihrem Heimatsystem vorbereitet. Zur Ablenkung hatte die KVA wenige Tage zuvor eine Offensive im Earnhardt-System gestartet, um möglichst viele Schiffe der Whaidianer dorthin zu locken. Also war fast niemand mehr da, der die Heimat verteidigte. Die wenigen Kompanien, die doch da waren, wurden schnell und überraschend vom Himmel geschossen.
Auch mit dem Hauptraumhafen der Whaidianer machten unsere Zerstörer kurzen Prozess. Das mehrere Kilometer lange Gebäude wurde an kritischen Punkten beschossen, worauf man es den Zentripetalkräften überlassen konnte, den Gesamtkomplex auseinanderzureißen. Warum sollten wir mehr Munition verschwenden als unbedingt nötig? Keine Skip-Kapseln wurden entdeckt, die die Streitmacht im Earnhardt-System hätten alarmieren können, also würden die Whaidianer erst davon erfahren, dass wir sie hinters Licht geführt hatten, nachdem es bereits viel zu spät war. Wenn whaidianische Schiff die dortige Schlacht überlebten, würden sie nach Hause fliegen und nichts mehr vorfinden, wo sie andocken oder Reparaturen durchführen lassen konnten. Unsere Truppen wären längst verschwunden, wenn sie eintrafen.
Nachdem der Weltraum gesichert war, feuerte die KVA gemütlich auf Industriezentren, Militärstützpunkte, Bergwerke, Raffinerien, Entsalzungsanlagen, Staudämme, Sonnenkollektorfarmen, Häfen, Startrampen, wichtige Verbindungsstraßen und andere Ziele, die erst von den Whaidianern repariert werden mussten, bevor sie ihre interstellaren Kapazitäten wiederaufbauen konnten. Nach sechs Stunden gnadenloser Angriffe hatten wir die Whaidianer so wirksam in das Zeitalter der Verbrennungsmotoren zurückgebombt, dass sie voraussichtlich eine ganze Weile auf diesem Entwicklungsniveau bleiben würden.
Die KVA vermied eine flächendeckende oder wahllose Bombardierung größerer Städte, da Opfer unter der Zivilbevölkerung nicht unser Kampfziel waren. Der Geheimdienst der KVA ging von größeren Kollateralschäden unterhalb der zerstörten Staudämme aus, aber das ließ sich nicht vermeiden. Die Whaidianer hätten die KVA nicht daran hindern können, ihre Städte in Schutt und Asche zu legen, aber wir gingen davon aus, dass sie genug Probleme mit den Seuchen, Hungersnöten und politischen sowie sozialen Unruhen haben würden, die zwangsläufig aus der Vernichtung der industriellen und technischen Grundlagen der Wirtschaft resultierten. Gezielte Angriffe gegen die Zivilbevölkerung wären demzufolge inhuman und (was für die Führung der KVA genauso wichtig war) eine nutzlose Vergeudung von Ressourcen gewesen. Abgesehen von der Hauptstadt, die ausschließlich zum Zweck der psychologischen Kriegsführung bombardiert wurde, standen weitere Bodenangriffe völlig außer Frage.
Was allerdings nicht bedeutete, dass die Whaidianer in der Hauptstadt dafür Verständnis gezeigt hätten. Selbst während der Landung wurden unsere Truppentransporter mit Projektil- und Strahlenwaffen beschossen. Das Geprassel auf dem Schiffsrumpf klang, als würden darauf Hagel niedergehen und Spiegeleier gebraten.
»Sie gehen in Zweiergruppen«, sagte Viveros, als sie den Trupp aufteilte. »Niemand unternimmt Alleingänge. Orientieren Sie sich an Ihren Landkarten und lassen Sie sich nicht in eine Falle locken. Perry, Sie passen auf Bender auf. Versuchen Sie ihn bitte davon abzuhalten, Friedensverträge zu unterzeichnen. Um Ihnen einen zusätzlichen Anreiz zu geben, werden Sie beide als Erste hinausgehen. Schauen Sie nach oben und erledigen Sie die Heckenschützen.«
»Bender.« Ich winkte ihn herüber. »Stellen Sie Ihre Vauzett auf Raketen und folgen Sie mir. Tarnung aktivieren. Kommunikation nur über BrainPal.« Die Rampe des Transporters klappte auf, und Bender und ich rannten hinunter. Etwa vierzig Meter genau vor mir stand irgendeine undefinierbare abstrakte Skulptur. Ich nahm sie unter Beschuss, während Bender und ich weiterrannten. Abstrakte Kunst war mir schon immer zuwider gewesen.
Ich näherte mich einem großen Gebäude nordwestlich von unserer Landeposition. Hinter der Glasfront der Eingangshalle konnte ich mehrere Whaidianer sehen, die lange Objekte in den Pfoten hielten. Ich feuerte ein paar Raketen in ihre Richtung. Sie würden die Glasscheiben zertrümmern und die Whaidianer wahrscheinlich nicht töten, aber dadurch wären sie lange genug abgelenkt, bis Bender und ich verschwunden waren. Ich teilte Bender mit, dass er ein Fenster im zweiten Stock des Gebäudes zerschießen sollte. Er tat es, und wir sprangen hinauf und hindurch. Drinnen sah es aus wie ein Großraumbüro. Klar, selbst Aliens müssen arbeiten. Allerdings gab es hier keine lebenden Whaidianer mehr. Ich konnte mir vorstellen, dass die meisten heute zu Hause geblieben waren. Was man ihnen nicht verdenken konnte.
Bender und ich fanden eine spiralförmige Rampe, die nach oben führte. Keiner von den Whaidianern aus der Lobby folgte uns. Ich vermutete, dass sie so sehr mit anderen KVA-Soldaten beschäftigt waren, dass sie gar nicht mehr an uns dachten. Die Rampe endete auf dem Dach. Ich hielt Bender zurück, bevor wir in Sicht kamen, und schob mich dann vorsichtig weiter. Ich sah drei Whaidianer, die sich als Heckenschützen hinter der Brüstung des Gebäudes verschanzt hatten. Ich erledigte zwei und Bender den dritten.
Was jetzt?, sendete Bender.
Folgen Sie mir, gab ich zurück.
Ein durchschnittlicher Whaidianer sieht ungefähr wie eine Kreuzung zwischen einem Schwarzbären und einem großen, wütenden Flughörnchen aus. Die Whaidianer, die wir erschossen hatten, sahen wie große wütende Schwarzflugbärenhörnchen mit Gewehren und zertrümmerten Schädeln aus. Wir robbten so schnell wie möglich zur Dachkante. Ich winkte Bender, dass er unter einen der toten Heckenschützen kriechen sollte. Ich übernahm einen anderen.
Kriechen Sie drunter, sendete ich.
Was?, kam von Bender zurück.
Ich zeigte auf die anderen Dächer. Andere Whaidianer auf den Dächern. Wir müssen uns tarnen, während ich sie ausschalte.
Was soll ich machen?, fragte Bender.
Den Eingang zum Dach beobachten und aufpassen, dass sie mit uns nicht dasselbe machen, was wir mit ihnen gemacht haben.
Bender verzog das Gesicht und kroch unter seinen toten Whaidianer. Ich tat dasselbe und bereute es schon im nächsten Moment. Ich wusste nicht, wie ein lebender Whaidianer roch, aber ein toter roch auf jeden Fall verdammt übel. Bender drehte sich um und behielt die Tür im Auge. Ich sendete Viveros per BrainPal einen Überblick des Geländes und kümmerte mich dann um die Heckenschützen auf den anderen Dächern.
Ich erwischte sechs auf vier verschiedenen Dächern, bevor sie merkten, was vor sich ging. Schließlich sah ich einen, der seine Waffe auf unser Dach richtete. Ich schickte ihm einen Gruß mitten ins Gehirn und forderte Bender auf, sich seiner Leiche zu entledigen und vom Dach zu verschwinden. Wir waren erst wenige Sekunden weg, als die Raketen einschlugen.
Auf dem Weg nach unten stießen wir auf die Whaidianer, mit denen ich auf dem Weg nach oben gerechnet hatte. Die Frage, wen die Begegnung mehr überraschte, war beantwortet, als Bender und ich als Erste das Feuer eröffneten und uns ins nächste Stockwerk flüchteten. Ich schickte ein paar Granaten die Rampe hinunter, damit die Whaidianer etwas zum Grübeln hatten, während Bender und ich weiterrannten.
»Was, zum Teufel, machen wir jetzt?«, brüllte Bender mir zu, als wir durch das Gebäude liefen.
Benutzen Sie den BrainPal, Sie Arschloch!, sendete ich und ging um eine Ecke. Dahinter trat ich an eine Glasfront und blickte hinaus. Wir waren mindestens dreißig Meter hoch, was selbst mit unseren verbesserten Körpern zu viel für einen Sprung war.
Sie kommen, sendete Bender. Hinter uns waren Geräusche zu hören, die vermutlich von sehr wütenden Whaidianern stammten.
In Deckung!, befahl ich Bender, richtete meine Vauzett auf die Glasfront und feuerte. Das Glas sprang, zerbrach aber nicht. Ich griff nach etwas, von dem ich annahm, dass es ein whaidianischer Stuhl war, und warf ihn durch das Fenster. Dann zog ich mich in die Nische zurück, in der Bender bereits Stellung bezogen hatte.
Was, zum Teufel …?, sendete er. Jetzt sitzen wir in der Falle!
Warten Sie. Bleiben Sie in Deckung, und feuern Sie auf mein Kommando. Automatikmodus.
Vier Whaidianer kamen um die Ecke und rückten vorsichtig zur zertrümmerten Glasscheibe vor. Ich hörte, wie sie abwechselnd Gurgellaute von sich gaben, und schaltete die Übersetzung ein.
»… durch das Loch in der Wand gesprungen«, sagte in diesem Moment einer von ihnen.
»Unmöglich«, erwiderte ein anderer. »Das ist viel zu hoch. Das hätten sie nicht überlebt.«
»Ich habe gesehen, wie sie über große Entfernungen gesprungen sind«, sagte der Erste. »Vielleicht würden sie es doch überleben.«
»Selbst diese [unübersetzbar] halten keinen Sprung über 130 Deg [Maßeinheit] aus«, sagte der Dritte, der zu den ersten beiden vortrat. »Diese [unübersetzbar] Esser von [unübersetzbar] müssen immer noch hier irgendwo sein.«
»Habt ihr [unübersetzbar◦– vermutlich Personenname] auf der Rampe gesehen? Diese [unübersetzbar] haben [ihn] mit ihren Granaten zerstückelt«, sagte der vierte Whaidianer.
»Wir sind über dieselbe Rampe wie du gekommen«, sagte der Dritte. »Natürlich haben wir [ihn] gesehen. Jetzt seid still und durchsucht diesen Bereich. Wenn sie hier sind, werden wir uns an den [unübersetzbar] rächen und unseren Sieg feiern.« Der vierte Alien trat zum dritten und streckte eine Pfote aus, als wollte er sein Beileid bekunden. Nun standen alle vier in einer übersichtlichen Gruppe vor dem klaffenden Loch in der Wand.
Jetzt, sendete ich an Bender und eröffnete das Feuer. Die Whaidianer schüttelten sich ein paar Sekunden lang wie Marionetten, dann trieben die Einschläge der Patronen sie zurück und warfen sie gegen die Wand, die nicht mehr da war. Bender und ich warteten noch einen Moment ab, dann schlichen wir uns zur Rampe zurück. Dort war niemand, bis auf die Überreste von [unübersetzbar◦– vermutlich Personenname], der sogar noch schlimmer stank als die toten Heckenschützen auf dem Dach. Bis jetzt war unser Ausflug auf Whaid in erster Linie ein schwerer Angriff auf unseren Geruchssinn gewesen. Wir gingen wieder runter bis zum zweiten Stock und verließen das Gebäude auf dieselbe Weise, wie wir es betreten hatten, wobei wir an den vier Whaidianern vorbeikamen, die wir durchs Fenster befördert hatten.
»Das ist nicht gerade das, was ich erwartet hatte«, sagte Bender und glotzte auf die Überreste der Whaidianer.
»Was haben Sie denn erwartet?«, fragte ich.
»Das weiß ich selber nicht so genau.«
»Wie kann es dann nicht das sein, was Sie erwarten haben?«, erkundigte ich mich und wandte mich mit meinem BrainPal an Viveros. Wir sind unten.
Kommen Sie rüber!, befahl Viveros und gab ihren Standort durch. Und bringen Sie Bender mit. Sie werden nicht glauben, was hier los ist. Gleichzeitig hörte ich es im gelegentlichen Gewehrfeuer und Granatendonner◦– einen tiefen, kehligen Gesang, der durch die Gebäude des Regierungsviertels hallte.
»Davon hatte ich Ihnen erzählt«, verkündete Bender beinahe freudig, als wir die letzte Ecke umrundeten und in das natürliche Amphitheater abstiegen. Darin hatten sich mehrere hundert Whaidianer versammelt, die sangen, sich im Rhythmus wiegten und Knüppel schwenkten. Rund um sie herum hatten ein paar Dutzend KVA-Soldaten Stellung bezogen. Wenn sie das Feuer eröffneten, würde ihnen niemand entkommen. Ich schaltete wieder auf den Übersetzungsmodus, aber nichts kam. Entweder hatten die Gesänge keine Bedeutung, oder sie waren in einer whaidianischen Sprache gehalten, die die Linguisten noch nicht entschlüsselt hatten.
Ich entdeckte Viveros und ging zu ihr hinüber. »Was ist hier los?«, rief ich ihr über den Lärm zu.
»Sagen Sie es mir, Perry«, rief sie zurück. »Ich bin hier nur Zuschauerin.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung nach links, wo Lieutenant Keyes sich mit anderen Offizieren besprach. »Sie überlegen sich gerade, was wir tun sollten.«
»Warum hat noch niemand das Feuer eröffnet?«, fragte Bender.
»Weil noch niemand auf uns geschossen hat«, sagte Viveros. »Wir haben den Befehl, nur im Notfall gegen Zivilisten vorzugehen. Und dies scheinen Zivilisten zu sein. Zwar haben alle Knüppel dabei, aber sie haben uns damit nicht bedroht. Sie fuchteln nur damit herum, während sie singen. Deshalb ist es nicht nötig, sie zu töten. Ich hätte gedacht, sie wären glücklich über so eine Situation, Bender.«
»Das bin ich auch«, sagte Bender und zeigte mit offensichtlichem Entzücken in die Menge. »Sehen Sie, da drüben ist der Whaidianer, der die Versammlung leitet. Es ist der Feuy, ein religiöser Anführer. Er genießt hohes Ansehen bei den Whaidianern. Wahrscheinlich hat er das Lied geschrieben, das sie gerade singen. Hat jemand eine Übersetzung?«
»Nein«, sagte Viveros. »Sie benutzen eine Sprache, die uns unbekannt ist. Wir haben keine Ahnung, was der Text bedeutet.«
Bender trat vor. »Es ist ein Friedensgebet«, sagte er. »Es kann gar nichts anderes sein. Sie wissen, was wir ihrem Planeten angetan haben. Sie sehen, was wir ihrer Stadt antun. Jedes Volk, dem so etwas angetan wurde, muss darum flehen, dass es aufhört.«
»Absoluter Blödsinn!«, gab Viveros zurück. »Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wovon sie singen. Es könnte bedeuten, dass sie uns die Köpfe abreißen und in unsere Hälse pissen wollen. Sie könnten ihre Toten betrauern. Genauso gut könnten sie Einkaufslisten singen. Wir wissen es nicht. Und Sie wissen es auch nicht.«
»Sie irren sich«, sagte Bender. »Auf der Erde habe ich fünfzig Jahre lang an vorderster Front für den Frieden gekämpft. Ich weiß, wann ein Volk für den Frieden bereit ist. Ich weiß, wann es die Waffen niederlegen möchte.« Er zeigte auf die singenden Whaidianer. »Dieses Volk ist für den Frieden bereit, Viveros. Ich spüre es. Und ich werde es Ihnen beweisen.« Bender legte seine Vauzett auf den Boden und ging zum Amphitheater hinunter.
»Verdammt noch mal, Bender!«, brüllte Viveros. »Kommen Sie sofort zurück! Das ist ein Befehl!«
»Ich habe aufgehört, ›nur meine Befehle auszuführen‹, Corporal!«, gab Bender zurück und rannte los.
»Scheiße!«, schrie Viveros und setzte ihm nach. Ich wollte sie zurückhalten, verfehlte sie jedoch.
Inzwischen waren Lieutenant Keyes und die anderen Offiziere aufmerksam geworden und beobachteten, wie Bender zu den Whaidianern lief, gefolgt von Viveros. Keyes brüllte etwas, worauf Viveros abrupt stehen blieb. Offenbar hatte er den Befehl gleichzeitig an ihren BrainPal geschickt. Falls er Bender den gleichen Befehl erteilt hatte, ließ sich der ehemalige Senator dadurch nicht beirren.
Schließlich hielt Bender am Rand des Amphitheaters an. Irgendwann bemerkte der Feuy den einzelnen Menschen, der schweigend am Rand der Versammlung stand, und hörte auf zu singen. Die Versammelten reagierten verwirrt, verstummten ebenfalls und brauchten etwa eine Minute, bis sie Bender ebenfalls bemerkten und sich zu ihm umdrehten.
Das war der Augenblick, auf den Bender gewartet hatte. Er schien die Wartezeit genutzt zu haben, sich zu überlegen, was er sagen wollte, und seine Rede ins Whaidianische zu übersetzen. Denn als er sprach, tat er es in ihrer Sprache, und er machte es sogar recht gut.
»Meine Freunde, die ihr ebenfalls nach Frieden strebt«, begann er, die Hände ausgestreckt und leicht nach innen gebogen.
Die spätere Auswertung der Daten ergab, dass nicht weniger als vierzigtausend winzige nadelähnliche Projektile, die die Whaidianer als avdgur bezeichneten, Benders Körper innerhalb einer knappen Sekunde trafen. Sie wurden von den Knüppeln verschossen, die gar keine Knüppel waren, sondern traditionelle Feuerwaffen in Form eines Baumastes, der den Whaidianern heilig war. Bender zerschmolz geradezu, als ein avdgur nach dem anderen seinen Unitard und dann seinen Körper zerschlitzte, bis er jeden festen Zusammenhalt verloren hatte. Später waren sich alle von uns einig, dass es die interessanteste Todesart war, die wir jemals persönlich gesehen hatten.
Benders Körper löste sich in einen feuchten Nebel auf, und die Soldaten der KVA eröffneten das Feuer. Sie hatten tatsächlich leichtes Spiel. Kein einziger Whaidianer entkam lebend aus dem Amphitheater oder schaffte es, außer Bender einen weiteren von unseren Leuten zu töten oder auch nur zu verwunden. Es war in weniger als einer Minute vorbei.
Viveros wartete, bis das Feuer eingestellt wurde, dann ging sie zur Pfütze hinüber, die von Bender übrig geblieben war, und trat wütend mit den Füßen hinein. »Wie gefällt dir dein Frieden jetzt, du Arschloch?«, brüllte sie, während Benders verflüssigte Organe ihre Beine besudelten.
»Bender hatte Recht«, sagte Viveros, als wir zur Modesto zurückkehrten.
»In welcher Hinsicht?«, fragte ich.
»In der Hinsicht, dass die KVA zu schnell und zu oft zum Einsatz kommt. Dass es leichter ist zu kämpfen, als zu verhandeln.« Sie deutete in die ungefähre Richtung der Heimatwelt der Whaidianer, die hinter uns im Weltraum zurückfiel. »Das hier hätte nicht sein müssen. Wir hätten diese armen Mistkerle nicht aus dem Weltraum jagen und dafür sorgen müssen, dass sie die nächsten paar Jahrzehnte damit zubringen werden, zu verhungern, zu sterben und sich gegenseitig umzubringen. Wir haben heute keine Zivilisten ermordet◦– abgesehen von denen, die Bender getötet haben. Aber sie werden jetzt für sehr lange Zeit an Seuchen und Bürgerkriegen zugrunde gehen, weil ihnen kaum etwas anderes übrig bleibt. Es ist trotzdem ein Genozid, nur dass sich unser schlechtes Gewissen in Grenzen hält, weil wir nicht mehr hier sind, wenn es passiert.«
»Sie waren noch nie mit Bender einer Meinung«, sagte ich.
»Das ist nicht wahr«, erwiderte Viveros. »Ich habe nur gesagt, dass er keine Ahnung hat und dass er ausschließlich uns gegenüber verpflichtet ist. Aber ich habe nicht gesagt, dass seine Argumente falsch sind. Er hätte auf mich hören sollen. Wenn er meine Befehle befolgt hätte, wäre er jetzt noch am Leben. Stattdessen muss ich ihn mir jetzt von den Stiefeln kratzen.«
»Wahrscheinlich würde er sagen, dass er für das gestorben ist, woran er geglaubt hat«, sagte ich.
Viveros schnaufte. »Ich bitte Sie! Bender ist an dem gestorben, woran er geglaubt hat. Einfach zu Leuten rüberspazieren, deren Heimatwelt wir soeben zerstört haben, und so zu tun, als wäre er ein Freund! Was für ein Idiot! Wenn ich einer von ihnen gewesen wäre, hätte ich ihn auch erschossen.«
»Diese verdammten Leute, die immer wieder den friedlichen Idealen in die Quere kommen«, sagte ich.
Viveros lächelte. »Wenn Bender wirklich etwas am Frieden und nicht nur an seinem Ego gelegen hätte, hätte er dasselbe getan, was ich tue und was auch Sie tun sollten, Perry«, sagte sie. »Sie sollten Befehlen gehorchen. Am Leben bleiben. Ihre Dienstzeit in der Infanterie hinter sich bringen. Dann die Offizierslaufbahn einschlagen und sich nach oben arbeiten. Zu einem von denen werden, die die Befehle geben und sie nicht nur befolgen. So werden wir Frieden schließen, wenn es möglich ist. Und auf diese Weise kann ich damit leben, ›nur Befehle auszuführen‹. Weil ich weiß, dass ich eines Tages etwas an diesen Befehlen ändern werde.« Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und verschlief den Rest des Rückfluges zu unserem Schiff.
Luisa Viveros starb zwei Monate später auf einem stinkenden Schlammklumpen namens Deep Water. Unser Trupp spazierte in einen Hinterhalt in den natürlichen Katakomben unterhalb der Hann’i-Kolonie, die wir auslöschen sollten. Im Verlauf der Schlacht wurden wir in eine Höhlenkammer getrieben, die vier weitere Zugänge hatte, die allesamt von Infanterie der Hann’i gehalten wurden. Viveros befahl uns den Rückzug in unseren Tunnel, dann feuerte sie auf die Mündung und ließ sie einstürzen, um den Zugang zur Höhle zu versperren. Nach den BrainPal-Daten wandte sie sich anschließend wieder den Hann’i zu und nahm sie unter Beschuss. Sie hielt nicht lange durch. Der Rest des Trupps konnte sich zurück an die Oberfläche kämpfen, was nicht einfach war, wenn man bedachte, wie man uns nach unten gedrängt hatte. Aber es war immer noch besser, als in einem Hinterhalt zu sterben.
Viveros wurde posthum mit einem Tapferkeitsorden ausgezeichnet. Ich wurde zum Corporal befördert und übernahm den Trupp. Viveros Koje und Spind wurden von einem Neuling namens Whitford übernommen, einem ganz anständigen Kerl.
Die Institution hatte eine Glühbirne ausgewechselt. Ich vermisste sie sehr.
Thomas starb an etwas, das er aß.
Was er sich einverleibte, war so neu, dass die KVA noch nicht einmal einen Namen dafür hatte, auf einer Kolonialwelt, die so neu war, dass sie noch nicht einmal einen Eigennamen hatte, sondern nur eine Katalognummer: Kolonie 622, 47 Ursae Majoris. (Bei der KVA waren weiterhin die irdischen Sternenbezeichnungen in Gebrauch, und zwar aus denselben Gründen, warum man auch einen vierundzwanzigstündigen Tag und ein Jahr von 365 Tagen benutzte◦– weil es einfacher war, es so zu machen.) Die übliche Vorgehensweise sah so aus, dass neue Kolonien eine tägliche Zusammenfassung aller Informationen per Skip-Drohne übermittelten, die nach Phoenix flog, damit die Verwaltung den Überblick über alle kolonialen Angelegenheiten behielt.
Die Kolonie 622 hatte Drohnen geschickt, seit sie sechs Monate zuvor gegründet worden war. Abgesehen von den üblichen Streitereien, Pannen und Prügeleien, die auf die Gründung jeder neuen Kolonie folgten, wurde nichts Außergewöhnliches gemeldet. Es gab da nur einen einheimischen Schleimpilz, der so ziemlich alles überwucherte, er tauchte plötzlich in Maschinen, Computern oder Tierställen auf und verschleimte sogar die Wohnquartiere der Kolonie. Eine genetische Probe des Zeugs wurde nach Phoenix geschickt, mit der Bitte, dass jemand ein Fungizid zusammenbraute, mit dem sich die Kolonisten den Pilz buchstäblich von der Pelle halten konnten. Kurz darauf trafen leere Skip-Drohnen ein, die keinerlei Informationen über die Kolonie enthielten.
Thomas und Susan waren auf der Tucson stationiert, die abgestellt wurde, um die Situation zu klären. Die Tucson versuchte die Kolonie aus dem Orbit anzufunken, aber es kam keine Antwort. Die visuelle Fernerkundung zeigte keine Bewegung zwischen den Gebäuden◦– keine Menschen, keine Tiere, kein gar nichts. Die Gebäude selbst schienen jedoch nicht beschädigt zu sein. Thomas’ Kompanie erhielt den Auftrag zur Bodenerkundung.
Die Kolonie war mit einer dicken Schleimschicht bedeckt, die stellenweise mehrere Zentimeter hoch war. Der Glibber tropfte von Stromleitungen und lag auf allen Kommunikationsgeräten. Das war eine gute Nachricht, denn nun bestand die Möglichkeit, dass der Schleimpilz einfach nur die Funktion der Sendeausrüstung beeinträchtigt hatte. Dieser kurze Ausbruch der Hoffnung wurde bald erstickt, als Thomas’ Trupp die Ställe erreichte. Der gesamte Viehbestand war tot und bereits in ein fortgeschrittenes Verwesungsstadium übergegangen, dank der fleißigen Arbeit des Pilzes. Wenig später fanden sie auch die Kolonisten, um die es mehr oder weniger genauso stand. Fast alle (beziehungsweise das, was von ihnen noch übrig war) befanden sich in oder in der Nähe ihrer Betten, mit Ausnahme von Familien, die häufig in Kinderzimmern oder auf dem Weg dorthin gestorben waren, und Mitgliedern der Kolonie, die als Totengräber arbeiteten und die es an oder in der Nähe ihrer Arbeitsplätze erwischt hatte. Was immer geschehen war, es war so schnell geschehen, dass die Kolonisten einfach keine Zeit zum Reagieren mehr gehabt hatten.
Thomas schlug vor, dass eine Leiche zum medizinischen Zentrum der Kolonie gebracht wurde. Dort konnte er eine schnelle Autopsie durchführen, die vielleicht einen Hinweis auf die Todesursache ergab. Sein Truppführer war einverstanden, und Thomas und ein Kamerad suchten sich eine noch halbwegs unversehrte Leiche aus. Thomas fasste sie unter den Armen, und sein Kamerad übernahm die Beine. Thomas sagte zu ihm, dass sie sie anheben würden, wenn er bis drei gezählt hatte. Er kam bis zwei, als sich plötzlich die schleimige Masse von der Leiche erhob und ihm ins Gesicht klatschte. Er keuchte überrascht auf, wobei ihm die Masse in Mund und Kehle drang.
Die übrigen Leute des Trupps wiesen unverzüglich ihre Anzüge an, die Helme zu schließen◦– keinen Augenblick zu früh, denn innerhalb weniger Sekunden sprang der Schleim aus jeder Fuge und Ritze, um sich auf die Menschen zu stürzen. In der gesamten Kolonie wurden ziemlich genau zum selben Zeitpunkt ähnliche Angriffe gemeldet. Sechs weitere Mitglieder von Thomas’ Kompanie hatten es nicht vermeiden können, dass sie Schleim in den Mund bekamen.
Thomas versuchte sich von dem Zeug zu befreien, aber es rutschte ihm nur tiefer in die Kehle. Es verstopfte seine Luftröhre, schob sich in seine Lungen und durch die Speiseröhre in den Magen. Thomas forderte seine Kameraden per BrainPal auf, ihn zum medizinischen Zentrum zu bringen, wo sich der Schleimpilz vielleicht aus seinem Körper absaugen ließ, sodass er wieder atmen konnte. Mit SmartBlood würde es fast fünfzehn Minuten dauern, bis Thomas dauerhafte Hirnschäden erlitt. Es war eine ausgezeichnete Idee, die vielleicht sogar funktioniert hätte, hätte der Schleimpilz nicht konzentrierte Säuren abgegeben, die ihn bei lebendigem Leib von innen heraus verdauten. Thomas’ Lungen waren im nächsten Moment zersetzt, und fünf Minuten später war er an Schock und Sauerstoffmangel gestorben. Die sechs anderen Kameraden erlitten das gleiche Schicksal, dem auch, so lautete das abschließende Urteil, die Kolonisten zum Opfer gefallen waren.
Der Kompanieführer befahl, Thomas und die anderen Opfer zurückzulassen, während sie sich in den Transporter zurückzogen und auf den Weg zur Tucson machten. Doch dem Beiboot wurde die Andockerlaubnis verweigert. Die Insassen wurden einer nach dem anderen eingeschleust, damit das Vakuum jeden Rest des Schleimpilzes tötete, der noch an ihren Anzügen kleben mochte. Dann wurden sie einer intensiven äußeren und inneren Dekontaminierung ausgesetzt, die genauso schmerzhaft war, wie sie klang.
Danach schickte man unbemannte Sonden hinunter, die bewiesen, dass kein Mitglied der Kolonie 622 überlebt hatte. Außerdem bestätigte sich, dass der Schleimpilz nicht nur genug Intelligenz besaß, um mehrere koordinierte Angriffe durchführen zu können, sondern zudem durch traditionelle Waffen praktisch nicht totzukriegen war. Patronen, Granaten und Raketen vernichteten nur kleine Teile, während andere Teile unbeschadet weiterlebten. Mit Flammenwerfern konnte man die obere Schicht des Schleims braten, doch die tieferen Schichten blieben unbehelligt. Strahlenwaffen schnitten durch die Masse, richteten insgesamt aber nur wenig Schaden an. Die Entwicklung eines wirksamen Fungizids wurde eingestellt, als klar wurde, dass der Schleimpilz fast überall auf dem Planeten existierte. Der Aufwand, eine andere bewohnbare Welt zu suchen, wäre kostengünstiger als die Auslöschung des Schleimpilzes auf dem gesamten Planeten.
Thomas’ Tod erinnerte uns daran, dass wir häufig nicht nur nicht wussten, womit wir es hier draußen zu tun hatten, sondern uns manchmal nicht einmal vorstellen konnten, womit wir es zu tun hatten. Thomas beging den Fehler, sich einzubilden, dass der Feind eine ähnliche Natur wie die Menschen hatte. Er irrte sich. Deswegen starb er.
Die Eroberung des Universums ging mir allmählich an die Nieren.
Mein Unwohlsein hatte auf Gindal begonnen, wo wir gindalianische Soldaten in einen Hinterhalt lockten, während sie zur ihren Horsten zurückkehrten. Wir zerfetzten ihnen die riesigen Flügel mit Strahlen und Raketen, sodass sie kreischend an den zweitausend Meter hohen Klippen hinabstürzten. Etwas schlimmer wurde es über Udaspri, wo wir Antriebssysteme mit Trägheitsdämpfung angelegt hatten, um die Sprünge zwischen den Felstrümmern der Ringe von Udaspri besser kontrollieren zu können. Dort entwickelte sich ein Versteckspiel mit den spinnenähnlichen Vindi, die damit angefangen hatten, Stücke des Rings auf den Planeten hinunterzuschleudern, wobei sie den Kurs der Brocken so berechneten, dass sie genau auf die menschliche Kolonie namens Halford fielen. Als wir auf Cova Banda eintrafen, stand ich kurz vor dem Nervenzusammenbruch.
Vielleicht lag es sogar an den Covandu selbst, die in vielerlei Hinsicht wie Klone der Menschen waren. Zweibeinige Säugetierabkömmlinge, die außerordentliches künstlerisches Talent besaßen, vor allem auf den Gebieten der Lyrik und des Dramas, die sich schnell vermehrten und ungewöhnlich aggressiv reagierten, wenn es um ihren Platz im Universum ging. Menschen und Covandu kämpften immer wieder um den gleichen unerschlossenen Lebensraum. Cova Banda war eine menschliche Kolonie gewesen, bevor der Planet den Covandu gehört hatte. Die Menschen hatten ihn verlassen, nachdem ein einheimischen Virus dafür gesorgt hatte, dass ihnen unansehnliche zusätzliche Gliedmaßen wuchsen und sie mordlustige zusätzliche Persönlichkeiten entwickelten. Den Covandu verursachte das Virus nicht einmal Kopfschmerzen, sodass sie den Planeten unmittelbar danach übernahmen. Dreiundsechzig Jahre später hatten die Kolonialen endlich ein Gegenmittel gefunden und wollten Cova Banda zurückhaben. Bedauerlicherweise reagierten die Covandu wieder auf beinahe menschliche Weise, da sie nicht gerade von der Idee angetan waren, etwas abzugeben, was sie als ihren Besitz betrachteten. Also wurden wir gerufen, um gegen die Covandu Krieg zu führen.
Die größten Vertreter dieser Spezies sind nicht einmal einen Zoll groß.
Die Covandu waren natürlich nicht so dumm, ihre winzigen Armeen gegen Menschen antreten zu lassen, die sechzigbis siebzigmal größer als sie waren. Zuerst griffen sie uns mit Flugzeugen, Mörsern mit hoher Reichweite, Panzern und anderem militärischem Gerät an, das vielleicht sogar einigen Schaden anrichten konnte◦– und es auch tatsächlich tat. Es ist nicht einfach, ein zwanzig Zentimeter langes Flugzeug zu erwischen, das mit mehreren hundert Stundenkilometern vorbeirast. Aber man bemüht sich, ihnen den Einsatz dieser Mittel zu erschweren, indem man zum Beispiel in einem Park der Hauptstadt von Cova Banda landet, sodass Artilleriefeuer, das uns verfehlt, ihre eigenen Leute trifft. Außerdem hat man irgendwann sowieso all diese Ärgernisse ausgeschaltet. Unsere Leute gaben sich größere Mühe als sonst, die Truppen der Covandu zu vernichten, und zwar nicht nur, weil sie kleiner sind und man genauer zielen muss. Hinzu kommt der Punkt, dass sich niemand gerne von einem gerade mal zwei Zentimeter großen Gegner töten lässt.
Irgendwann jedoch hat man alle Flugzeuge abgeschossen und alle Panzer vernichtet und muss sich daraufhin direkt mit den Covandu auseinandersetzen. Die übliche Kampfmethode ist folgende: Man tritt auf sie. Man setzt einfach den Fuß auf einen Covandu, übt Druck aus, und damit ist die Sache erledigt. Während man das tut, feuert der Covandu mit seiner Waffe und schreit, so laut es seine winzigen Lungen ihm ermöglichen. Vielleicht kann man das leise Piepsen sogar hören. Aber es nützt ihnen nichts. Unsere Anzüge sind darauf ausgelegt, für Menschen tödliche Geschosse abzuwehren, sodass man die winzigen Staubkörnchen, die ein Covandu einem in die Füße schießen will, kaum bemerkt. Man bemerkt kaum das Knirschen, wenn man auf einen dieser Zwerge tritt. Wenn man den nächsten sieht, tut man es einfach noch einmal.
Das taten wir mehrere Stunden lang, während wir durch die Hauptstadt von Cova Banda stapften, gelegentlich innehielten, wenn wir einen Raketenwerfer auf einem fünf oder sechs Meter hohen Wolkenkratzer bemerkten und ihn mit einem einzigen Schuss ausschalteten. Einige Leute aus unserer Kompanie pumpten stattdessen eine Schrotladung in ein Gebäude, worauf die Splitter, von denen jeder einzelne groß genug war, um einem Covandu den Kopf abzureißen, wie wahnsinnig gewordene Gummibälle herumschossen. Aber hauptsächlich ging es ums Tottreten. Godzilla, das berühmte japanische Monster, das schon zum zigsten Mal wiederbelebt worden war, als ich die Erde verlassen hatte, hätte sich hier pudelwohl gefühlt.
Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann ich angefangen hatte, zu weinen und gegen Wolkenkratzer zu treten. Aber ich musste es schon einige Zeit getan haben. Als Alan endlich zu mir kam, um mich zur Besinnung zu bringen, teilte Arschloch mir mit, dass ich es geschafft hatte, mir drei Zehen zu brechen. Alan führte mich zurück zum Stadtpark, wo wir gelandet waren, und sagte mir, dass ich mich eine Weile setzen sollte. Sobald ich es getan hatte, tauchte ein Covandu hinter einem Felsen auf und richtete seine Waffe auf mein Gesicht. Es fühlte sich an, als würden winzige Sandkörnchen gegen meine Wange geweht.
»Verdammt noch mal!«, brüllte ich, schnappte mir den Convandu und warf ihn wütend gegen den nächsten Wolkenkratzer. Er flog in hohem Bogen davon, schlug mit einem leisen Wump gegen das Gebäude und stürzte dann zwei Meter in die Tiefe. Alle weiteren Covandu in der Umgebung schienen zum Entschluss zu gelangen, auf weitere Mordversuche zu verzichten.
Ich sah Alan an. »Hast du keinen Trupp, um den du dich kümmern musst?« Er war befördert worden, nachdem ein tobender Gindalianer seinem Truppführer das Gesicht vom Kopf gerissen hatte.
»Ich könnte dir dieselbe Frage stellen«, sagte er achselzuckend. »Sie kommen auch allein zurecht. Sie haben ihre Befehle, und es gibt hier kaum noch nennenswerten Widerstand. Nur noch ein paar Aufräumarbeiten, die Tipton ohne Schwierigkeiten leiten kann. Keyes sagte mir, dass ich dich rausholen und fragen soll, was, zum Teufel, mit dir los ist. Also: Was, zum Teufel, ist los mit dir?«
»Scheiße, Alan«, sagte ich. »Ich habe die letzten drei Stunden damit verbracht, auf intelligente Wesen zu treten, als wären es Ameisen. Das ist los mit mir. Ich habe sie unter meinen verdammten Schuhsohlen zerquetscht! Das alles hier …«◦– ich schwenkte den Arm über die Umgebung◦– »ist einfach völlig abartig, Alan. Diese Leute sind nur einen Zoll groß! Es ist, als würde Gulliver den Liliputanern die Hölle heiß machen.«
»Wir können uns die Kriege nicht aussuchen, John«, sagte Alan.
»Wie fühlst du dich bei diesem Krieg?«
»Er beunruhigt mich schon ein wenig«, sagte Alan. »Es ist alles andere als ein anständiger Kampf. Wir machen diese Leute einfach nur fertig. Andererseits gibt es tatsächlich einen Verletzten in meinem Trupp. Ihm ist das Trommelfell geplatzt. Also finde ich, dass wir uns eigentlich nicht beklagen können. Und die Covandu sind auch nicht völlig hilflos. Unter dem Strich ist der Stand zwischen ihnen und uns ziemlich ausgeglichen.«
Das stimmte überraschenderweise sogar. Bei einer Weltraumschlacht waren die Covandu wegen ihrer geringen Größe im Vorteil. Ihre Schiffe waren für uns nur schwer zu erfassen, und ihre Kampfjäger richteten zwar nur wenig Schaden an, konnten in der Masse aber sehr gefährlich werden. Erst am Boden ließ sich unser überwältigender Vorteil ausspielen. Cova Banda war nur von einer verhältnismäßig kleinen Raumflotte geschützt worden. Das war einer der Gründe gewesen, warum die KVA überhaupt entschieden hatte, den Planeten zurückzuerobern.
»Ich rede nicht davon, wer im Großen und Ganzen kampfstärker ist, Alan«, sagte ich. »Ich rede davon, dass unsere Feinde nur einen beschissenen Zoll groß sind. Davor haben wir gegen Spinnen gekämpft. Davor gegen verdammte Flugsaurier. Mein Gefühl für Größenordnungen ist völlig durcheinandergeraten. Ich habe überhaupt kein Gefühl mehr für mich selbst. Ich fühle mich nicht mehr wie ein Mensch, Alan.«
»Genau genommen bist du auch kein Mensch mehr«, sagte Alan. Das sollte wohl ein Versuch sein, meine Laune aufzubessern.
Aber es funktionierte nicht. »Dann ist es eben so, dass ich keine Verbindung mehr zu dem habe, was einmal menschlich an mir war«, sagte ich. »Unsere Aufgabe besteht darin, fremdartige Wesen und Zivilisationen aufzusuchen und die Mistkerle so schnell wie möglich umzubringen. Über diese Wesen wissen wir nur das, was wir wissen müssen, um sie bekämpfen zu können. Außer der Tatsache, dass sie unsere Feinde sind, haben sie für uns keine andere Existenz. Außer der Tatsache, dass sie sich auf ziemlich intelligente Weise gegen uns wehren, könnten es genauso gut Tiere sein, gegen die wir kämpfen.«
»Dadurch wird es für die meisten von uns einfacher«, sagte Alan. »Wenn man sich nicht mit einer Spinne identifizieren kann, fällt es einem auch nicht so schwer, eine zu töten, selbst wenn es eine große und intelligente Spinne ist. Vielleicht wird es dadurch sogar noch leichter.«
»Das könnte es sein, was mich beunruhigt«, sagte ich. »Ich verliere völlig das Gefühl für Konsequenzen. Ich habe gerade ein lebendiges, denkendes Wesen gegen diese Wand geworfen, und es hat mich überhaupt nicht irritiert. Aber die Tatsache, dass es mich nicht irritiert, irritiert mich sehr, Alan. Unsere Handlungen sollten Konsequenzen haben. Wir müssen uns zumindest ansatzweise bewusst sein, wie schrecklich es ist, was wir tun, ob wir es aus einem trifftigen Grund tun oder nicht. Ich finde es überhaupt nicht schrecklich, was ich getan habe, und das macht mir Angst. Ich habe Angst vor dem, was es bedeutet. Ich stapfe durch diese Stadt wie ein gottverdammtes Monster. Und allmählich glaube ich, dass ich genau das bin. Das, wozu ich geworden bin. Ich bin ein Monster. Du bist ein Monster. Wir alle sind verfluchte unmenschliche Monster geworden, und wir verstehen nicht, was daran falsch sein soll.«
Alan musste dazu gar nichts sagen. Also beobachteten wir stattdessen unsere Soldaten, wie sie die Covandu zertrampelten, bis so gut wie keine mehr übrig waren, die sie noch hätten zertrampeln können.
»Also, was ist los mit ihm?«, wollte Lieutenant Keyes von Alan wissen, als die Nachbesprechung mit den anderen Truppführern beendet war.
»Er glaubt, dass wir alle unmenschliche Monster sind«, sagte Alan.
»Ach das«, sagte Lieutenant Keyes und drehte sich zu mir um. »Wie lange sind Sie schon dabei, Perry?«
»Seit fast einem Jahr«, sagte ich.
Keyes nickte. »Dann liegen Sie genau im Zeitplan. Die meisten Leute brauchen fast ein Jahr, bis sie merken, dass sie sich in seelenlose Mordmaschinen ohne Gewissen oder Moral verwandelt haben. Manche früher, manche später. Jensen hier …«◦– er zeigte auf einen anderen Truppführer◦– »hat fast fünfzehn Monate gebraucht, bis er ausgerastet ist. Sagen Sie ihm, was Sie getan haben, Jensen.«
»Ich habe auf Keyes geschossen«, sagte Ron Jensen. »Weil er die Personifikation des bösen Systems war, das mich zu einer Mordmaschine gemacht hat.«
»Hätte mir fast den Kopf weggepustet«, sagte Keyes.
»Nur ein Glückstreffer«, räumte Jensen ein.
»Ja, Sie hatten Glück, dass Sie nicht getroffen haben. Andernfalls wäre ich jetzt tot, und Sie wären ein Gehirn, das in einem Behälter schwimmt und langsam verrückt wird, weil es keinerlei Reize von außen mehr empfängt. Hören Sie, Perry, das passiert jedem von uns. Sie kommen darüber hinweg, wenn Sie erkennen, dass Sie in Wirklichkeit kein unmenschliches Monster sind. Das ist nur Ihr Gehirn, das sich bemüht, mit einer völlig abartigen Situation fertig zu werden. Fünfundsiebzig Jahre lang haben Sie ein Leben geführt, in dem die aufregendsten Momente die waren, wenn Sie eine Frau flachgelegt haben. Und plötzlich wird Ihnen klar, dass Sie mit einer Vauzett auf Weltraumtintenfische ballern, bevor sie Ihnen etwas antun können. Heilige Scheiße. Die Leute, die deswegen nicht durchdrehen, sind diejenigen, denen ich nicht über den Weg traue.«
»Alan ist noch nicht durchgedreht«, sagte ich. »Und er ist schon genauso lange dabei wie ich.«
»Das stimmt«, sagte Keyes. »Wie erklären Sie sich das, Rosenthal?«
»Tief in mir kocht ein riesiger Kessel voller Wut, Lieutenant.«
»Aha, Unterdrückung«, sagte Keyes. »Ausgezeichnet. Versuchen Sie es zu vermeiden, auf mich zu schießen, wenn der Kessel überkocht, ja?«
»Ich kann Ihnen nichts versprechen, Lieutenant«, sagte Alan.
»Wissen Sie, wie ich das Problem gelöst habe?«, sagte Aimee Weber, eine Truppführerin. »Ich habe eine Liste mit allen Dingen von der Erde gemacht, die ich vermisse. Es war ziemlich deprimierend, aber andererseits wurde mir dadurch klar, dass ich noch nicht alles verloren hatte. Wenn man etwas vermisst, hat man dazu immer noch eine Verbindung.«
»Und was haben Sie vermisst?«, fragte ich.
»Shakespeare-Aufführungen im Freien zum Beispiel«, sagte sie. »An meinem letzten Abend auf der Erde sah ich eine Inszenierung des Macbeth, die einfach wunderbar war. Mein Gott, war das großartig! Und hier bekommen wir ja nicht allzu viele Theateraufführungen zu sehen.«
»Ich vermisse die Schokoladenkekse meiner Tochter«, sagte Jensen.
»Sie kriegen Schokoladenkekse in der Modesto«, sagte Keyes. »Die sind sogar verdammt gut.«
»Aber nicht so gut wie die meiner Tochter. Das Geheimnis ist die Melasse.«
»Das klingt ja widerlich!«, sagte Keyes. »Ich kann Melasse nicht ausstehen.«
»Gut, dass ich das nicht gewusst habe, als ich auf Sie geschossen habe«, sagte Jensen. »Sonst hätte ich Sie nicht verfehlt.«
»Ich vermisse das Schwimmen«, sagte Greg Ridley. »Ich bin immer im Fluss neben meinem Grundstück in Tennessee geschwommen. Die meiste Zeit war das Wasser arschkalt, aber so hat es mir gefallen.«
»Achterbahnen«, sagte Keyes. »Die ganz großen Dinger, bei denen man das Gefühl hat, dass einem die Eingeweide durch die Schuhe rausgezogen werden.«
»Bücher«, sagte Alan. »Ein dicker fetter Wälzer an einem Sonntagmorgen.«
»Was ist mit Ihnen, Perry?«, sagte Weber. »Gibt es irgendetwas, das Sie vermissen?«
Ich hob die Schultern. »Eigentlich nur eine Sache.«
»Es kann nicht idiotischer als Achterbahnfahrten sein«, sagte Keyes. »Raus damit. Das ist ein Befehl.«
»Das Einzige, was ich wirklich vermisse, ist, verheiratet zu sein«, sagte ich. »Ich vermisse es, mit meiner Frau dazusitzen, einfach nur zu reden oder gemeinsam zu lesen oder irgendwas zu tun.«
Totenstille. »Den habe ich noch nie gehört«, sagte Ridley.
»Scheiße, das fehlt mir überhaupt nicht«, sagte Jensen. »Die letzten zwanzig Jahre meiner Ehe waren nichts, wovon man gerne erzählt.«
Ich blickte mich um. »Hat niemand von Ihnen einen Ehepartner, der ebenfalls in der Armee ist? Jemanden, mit dem Sie Kontakt halten?«
»Mein Mann hat sich vor mir rekrutieren lassen«, sagte Weber. »Aber er war schon tot, bevor ich meine Ausbildungszeit abgeschlossen hatte.«
»Meine Frau ist an Bord der Boise stationiert«, sagte Keyes. »Gelegentlich schickt sie mir eine Nachricht. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie mich sehr vermisst. Ich vermute, achtunddreißig Jahre an meiner Seite waren genug.«
»Wer hierherkommt, verspürt nicht mehr den Wunsch, sein altes Leben fortzusetzen«, sagte Jensen. »Natürlich vermissen wir die kleinen Dinge des Lebens, aber wie Aimee sagt, hilft uns das, nicht völlig den Verstand zu verlieren. Es ist wie eine Reise in die Vergangenheit, vor dem Zeitpunkt, als man all die Entscheidungen getroffen hat, die das weitere Leben bestimmt haben. Wenn man zurückgehen könnte, würde man noch einmal die gleichen Entscheidungen treffen? Dieses Leben hat man schon einmal geführt. Abgesehen von meiner letzten Bemerkung bereue ich keine einzige meiner Entscheidungen. Aber ich habe es auch nicht eilig, dieselben Entscheidungen noch einmal zu treffen. Meine Frau ist irgendwo hier draußen, klar. Aber sie ist ganz zufrieden mit ihrem neuen Leben ohne mich. Und ich muss sagen, dass ich auch nicht wild darauf bin, diese Dienstverpflichtung wieder zu aktivieren.«
»Das muntert mich nicht gerade auf, Leute«, sagte ich.
»Was genau vermisst du am Verheiratetsein?«, wollte Alan wissen.
»Nun ja, ich vermisse meine Frau«, sagte ich. »Aber ich vermisse auch das Gefühl von◦– ich weiß nicht◦– Behaglichkeit. Das Gefühl, dort zu sein, wo man sein sollte, mit jemandem, der zu einem gehört. Dieses Gefühl fehlt mir hier draußen völlig. Wir ziehen von einer Welt zur nächsten, um zu kämpfen, zusammen mit Menschen, die vielleicht am nächsten oder übernächsten Tag schon tot sind. Nichts für ungut.«
»Kein Problem«, sagte Keyes.
»Hier gibt es nirgendwo festen Boden unter den Füßen«, sagte ich. »Hier gibt es nichts, das mir wirklich sicher vorkommt. Wie in jeder Ehe hatten wir gute und schlechte Zeiten, aber ich wusste, dass ich mich im Ernstfall darauf verlassen konnte. Diese Art von Sicherheit fehlt mir, diese Art der Verbundenheit mit jemandem. Was uns menschlich macht, ist zum Teil das, was wir anderen Menschen bedeuten, und das, was uns andere Menschen bedeuten. Dieser Teil des Menschseins fehlt mir, jemandem etwas zu bedeuten.«
Wieder Stille. »Verdammt, Perry«, sagte Ridley schließlich. »Wenn Sie es so ausdrücken, vermisse auch ich das Eheleben.«
Jensen schnaufte. »Ich nicht. Vermissen Sie weiter Ihre Ehe, Perry. Ich werde weiter die Schokoladenkekse meiner Tochter vermissen.«
»Melasse!«, sagte Keyes. »Widerlich!«
»Fangen Sie nicht schon wieder damit an, Lieutenant«, sagte Jensen. »Sonst muss ich meine Vauzett holen.«
Susans Tod war fast so etwas wie das Gegenteil von dem von Thomas. Ein Streik hatte fast die gesamte Förderung von Erdöl auf Elysium zum Versiegen gebracht. Die Tucson sollte Streikbrecher zum Planeten transportieren und sie beschützen, während mehrere der abgeschalteten Bohrinseln wieder in Betrieb genommen wurden. Susan befand sich auf einer Bohrinsel, als die streikenden Arbeiter mit improvisierten Granatwerfern angriffen. Die Explosion warf Susan und zwei weitere Soldaten von der Plattform und vielleicht fünfzig Meter tief ins Meer. Die anderen beiden Soldaten waren bereits tot, als sie auf die Wasseroberfläche schlugen, doch Susan überlebte es, obwohl sie schwere Verbrennungen erlitten hatte und kaum noch bei Bewusstsein war.
Susan wurde von den Streikenden, die den Angriff gestartet hatten, aus dem Meer gefischt. Die Arbeiter beschlossen, an ihr ein Exempel zu statuieren. In den Meeren von Elysium gibt es ein großes Raubtier, das als Großmaul bezeichnet wird und dessen Kiefer sich so weit öffnen lassen, dass die Bestie mühelos einen Menschen in einem Stück verschlucken kann. Die Großmäuler trieben sich ständig in der Nähe der Bohrinseln herum, weil sie sich vom Abfall ernährten, den die Menschen ins Meer warfen. Die Arbeiter brachten Susan wieder zu Bewusstsein und verlasen dann ein hastig verfasstes Manifest, in der Erwartung, dass ihr BrainPal die Worte an die KVA übertrug. Dann befanden sie Susan für schuldig, mit dem Feind zu kollaborieren, verurteilten sie zum Tode und warfen sie genau unter dem Abfallschacht der Bohrinsel wieder ins Meer.
Es dauerte nicht lange, bis ein Großmaul kam und Susan verschluckte. Zu diesem Zeitpunkt war Susan noch am Leben und bemühte sich, das Großmaul durch dieselbe Öffnung zu verlassen, durch die sie hineingelangt war. Doch bevor sie irgendetwas erreichen konnte, schoss einer der Streikenden dem Großmaul genau in die Rückenflosse, unter der sich das Gehirn des Tieres befand. Das Großmaul war sofort tot und sank mitsamt Susan in die Tiefe. Susan starb, aber nicht, weil sie gefressen wurde oder ertrunken wäre, sondern am Wasserdruck, als sie und das Tier, das sie verschluckt hatte, in der Tiefsee versanken.
Falls die Streikenden diesen Sieg gegen die Unterdrücker feierten, konnte es nur eine kurze Party gewesen sein. Neue Truppen von der Tucson besetzten die Lager der Arbeiter, nahmen mehrere Dutzend Aufwiegler fest, erschossen sie und verfütterten sie an die Großmäuler. Mit Ausnahme der Leute, die Susan auf dem Gewissen hatten. Sie wurden an die Großmäuler verfüttert, ohne zuvor erschossen zu werden. Damit war der Streik beendet.
Susans Tod machte mir klar, dass Menschen genauso unmenschlich sein konnten wie außerirdische Spezies. Wenn ich an Bord der Tucson gewesen wäre, hätte ich dafür gesorgt, dass ich persönlich einen der Mistkerle an die Großmäuler verfüttert hätte, ohne die leisesten Gewissensbisse zu verspüren. Ich wusste nicht, ob ich dadurch besser oder schlechter als das Monster war, in das ich mich während des Kampfes gegen die Covandu verwandelt hatte. Aber nun machte ich mir keine Sorgen mehr, ob ich dadurch weniger menschlich als zuvor geworden war.
Wer von uns an der Schlacht um Coral teilnahm, konnte sich noch gut erinnern, wo er sich aufgehalten hatte, als er zum ersten Mal von der Eroberung des Planeten gehört hatte. Ich ließ mir gerade von Alan erklären, dass das Universum, wie ich es gekannt hatte, schon lange nicht mehr existierte.
»Wir haben es verlassen, als wir das erste Mal geskippt sind«, sagte er. »Dabei sind wir mal schnell ins Universum nebenan gesprungen. So funktioniert der Skip-Antrieb.«
Damit löste er eine nette Reaktion in Form tiefen Schweigens bei mir und Ed McGuire aus, die wir mit Alan in der »Rühren«-Bar des Regiments saßen. Nach einer Weile ergriff Ed, der Aimee Webers Trupp übernommen hatte, das Wort. »Ich kann dir nicht ganz folgen, Alan. Ich dachte immer, dass der Skip-Antrieb uns ermöglicht, schneller als das Licht zu fliegen oder etwas in der Art. Dass es so funktioniert.«
»Nein«, sagte Alan. »Einstein hat immer noch Recht◦– nichts kann sich schneller als mit Lichtgewindigkeit bewegen. Außerdem wäre es sowieso nicht ratsam, mit einem nennenswerten Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit herumzudüsen. Wenn man ein paar hunderttausend Kilometer pro Sekunde draufhat und nur ein winziges Staubkorn trifft, hätte man im nächsten Moment ein ziemlich großes Loch im Raumschiff. Es wäre einfach nur eine unglaublich schnelle Methode, sich umzubringen.«
Ed blinzelte, dann rieb er sich mit der Hand über das Gesicht. »Hui«, sagte er. »Ich kapiere es immer noch nicht.«
»Also gut«, sagte Alan. »Du möchtest also wissen, wie der Skip-Antrieb funktioniert. Wie ich bereits erwähnte, ist die Sache sehr einfach: Man nimmt ein Objekt aus einem Universum, zum Beispiel die Modesto, und versetzt es in ein anderes Universum. Das Problem ist, dass wir diesen Vorgang mit dem Begriff ›Antrieb‹ verbinden. Denn im Grunde hat es überhaupt nichts mit einem Antrieb zu tun, weil es nicht um Beschleunigung geht. Der einzige entscheidende Faktor ist die Position im Multiversum.«
»Alan«, sagte ich. »Du schießt schon wieder weit übers Ziel hinaus.«
»Tschuldigung«, sagte Alan und sah uns nachdenklich an. »Wie weit seid ihr beiden in Mathe gekommen?«
»Ich kann mich vage an die Infinitesimalrechnung erinnern«, sagte ich.
Ed McGuire schloss sich mit einem Nicken an.
»Au weia«, sagte Alan. »Also gut. Dann werde ich möglichst kurze Wörter benutzen. Sofern ihr euch dadurch nicht beleidigt fühlt.«
»Wir werden uns Mühe geben«, sagte Ed.
»Gut. Zunächst einmal … das Universum, in dem wir leben◦– das, in dem wir uns in diesem Moment aufhalten -, ist nur eins von einer unendlichen Anzahl möglicher Universen, deren Existenz die Quantenphysik erlaubt. Jedes Mal, wenn wir ein Elektron an einer bestimmten Position beobachten, ist ein mögliches Universum durch genau diese Elektronenposition definiert, während das Elektron in einem alternativen Universum eine ganz andere Position einnimmt. Könnt ihr mir noch folgen?«
»Nein«, sagte Ed.
»Nichtwissenschaftler! Dann glaubt mir einfach, dass ich die Wahrheit sage. Es geht also darum, dass es viele Universen gibt. Die das Multiversum bilden. Und der Skip-Antrieb öffnet einfach nur eine Tür in ein anderes dieser möglichen Universen.«
»Wie macht er das?«, fragte ich.
»Eure mathematischen Kenntnisse reichen nicht aus, um es zu erklären«, sagte Alan.
»Also ist es Magie.«
»Aus eurer Sicht, ja«, sagte Alan. »Aber physikalisch hat die Sache Hand und Fuß.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Ed. »Wir sind also durch verschiedene Universen gesprungen, aber jedes Universum, in dem wir waren, war genauso wie das, aus dem wir ursprünglich kommen. Jedes ›alternative Universum‹ in der Science Fiction unterscheidet sich irgendwie von dem, das wir kennen. Daran erkennt man, dass man in einem alternativen Universum gelandet ist.«
»Auf diese Frage gibt es tatsächlich eine sehr interessante Antwort«, sagte Alan. »Beginnen wir mit der Behauptung, dass die Versetzung eines Objekts von einem Universum in ein anderes ein extrem unwahrscheinliches Ereignis darstellt.«
»Das sehe ich sofort ein«, sagte ich.
»Im Rahmen der Quantenphysik ist ein solches Ereignis durchaus möglich, da im quantenphysikalischen Universum auf dem untersten Niveau so ziemlich alles möglich ist, auch wenn es in praktischer Hinsicht so gut wie nie passiert. Doch jedes Universum zieht es vor, unwahrscheinliche Ereignisse auf ein absolutes Minimum zu reduzieren, vor allem oberhalb des subatomaren Niveaus.«
»Wie kann ein Universum irgendetwas ›vorziehen‹?«, fragte Ed.
»Dazu fehlt dir die Mathematik«, sagte Alan.
»Natürlich«, sagte Ed und verdrehte die Augen.
»Trotzdem zieht das Universum bestimmte Dinge gegenüber anderen vor. Es zieht zum Beispiel vor, einen Zustand der höheren Entropie anzunehmen. Es zieht vor, dass die Lichtgeschwindigkeit eine Konstante ist. Man kann an diesen Dingen bis zu einem gewissen Grad herummanipulieren, aber dazu ist eine Menge Arbeit nötig. Das Gleiche gilt in diesem Fall. Ein Objekt von einem Universum in ein anderes zu versetzen ist so unwahrscheinlich, dass das Universum, in dem man landet, ansonsten ein exaktes Ebenbild desjenigen ist, das man verlassen hat. Das könnte man als Begrenzung der Unwahrscheinlichkeit betrachten.«
»Aber wie lässt es sich erklären, dass wir dabei einen Ortswechsel durchmachen?«, fragte ich. »Wie gelangen wir von einem Punkt in diesem Universum zu einem ganz anderen Raumpunkt in einem anderen?«
»Denk darüber nach«, sagte Alan. »Ein komplettes Raumschiff in ein anderes Universum zu bringen ist der unglaublich unwahrscheinliche Teil der Sache. Vom Standpunkt des Universums aus betrachtet ist es ziemlich egal, an welchem Punkt in diesem Universum wir landen. Deshalb ist der Begriff ›Antrieb‹ im Grunde irreführend. Wir bewegen uns gar nicht durch den Raum. Wir treffen einfach nur ein.«
»Und was passiert in dem Universum, das wir verlassen haben?«, fragte Ed.
»Dort trifft eine andere Version der Modesto aus einem anderen Universum ein, in dem sich alternative Versionen von uns aufhalten. Zumindest ist das sehr wahrscheinlich. Eine infinitesimal geringe Wahrscheinlichkeit spricht dagegen, dass es passiert, aber im Allgemeinen dürfte genau das geschehen.«
»Werden wir jemals zurückkehren?«, wollte ich wissen.
»Wohin?«, fragte Alan.
»In das Universum, aus dem wir ursprünglich gekommen sind.«
»Nein«, sagte Alan. »Natürlich ist es auch hier theoretisch möglich, dass es passieren könnte, aber es ist extrem unwahrscheinlich. Universen entstehen pausenlos aus sich verzweigenden Möglichkeiten, und die Universen, in die wir gelangen, entstehen im Allgemeinen in dem Moment, wenn wir sie erreichen. Das ist einer der Gründe, warum wir sie überhaupt erreichen können, weil sie unserem nämlich so ähnlich sind. Je länger man von einem bestimmten Universum getrennt war, desto mehr Zeit hatte es, in entscheidenden Punkten abzuweichen, und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dorthin zurückkehren zu können. Selbst die Rückkehr in ein Universum, das man erst vor einer Sekunde verlassen hat, ist phänomenal unwahrscheinlich. In das zurückzukehren, das wir vor über einem Jahr verlassen haben, als wir mit dem ersten Skip-Sprung von der Erde nach Phoenix gelangt sind, steht völlig außer Frage.«
»Das deprimiert mich sehr«, sagte Ed. »Ich mochte mein Universum.«
»Mach dir eins klar, Ed«, sagte Alan. »Du kommst nicht einmal aus demselben Universum wie John und ich, da wir die Erde nicht mit demselben Skip verlassen haben. Sogar die Leute, mit denen wir diesen Skip gemeinsam gemacht haben, leben inzwischen nicht mehr im selben Universum wie wir, da sie längst mit anderen Schiffen in andere Universen geskippt sind. Wenn wir unsere alten Freunde wiedertreffen sollten, wären es nur alternative Versionen von ihnen. Natürlich werden sie genauso aussehen und sich verhalten, denn bis auf eine gelegentliche veränderte Elektronenposition sind sie identisch. Trotzdem stammen wir aus völlig unterschiedlichen Universen.«
»Also sind du und ich das Einzige, was noch von unserem Universum übrig ist«, sagte ich.
»Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass dieses Universum noch existiert«, sagte Alan. »Aber wir sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die einzigen zwei Menschen, die von jenem in dieses Universum gelangt sind.«
»Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll«, sagte ich.
»Versuch dir deswegen nicht allzu viele Sorgen zu machen«, sagte Alan. »Aus der Alltagsperspektive hat diese Universenspringerei so gut wie keine Konsequenzen. In funktioneller Hinsicht bleibt alles ziemlich gleich, egal, in welchem Universum du gerade bist.«
»Warum brauchen wir dann überhaupt Raumschiffe?«, fragte Ed.
»Das ist doch offensichtlich◦– um irgendwohin zu fliegen, sobald man in einem neuen Universum eingetroffen ist«, sagte Alan.
»Nein, das meine ich nicht«, sagte Ed. »Ich meine, wenn man einfach von einem Universum zum nächsten hüpfen kann, warum macht man es dann nicht gleich von Planet zu Planet, ohne Raumschiffe zu benutzen? Man könnte die Leute doch einfach von einem Planeten zum anderen skippen. So würde man sich den Umweg über den Weltraum sparen.«
»Dem Universum ist es lieber, wenn man sich ein Stück von größeren Gravitationssenken wie Sternen und Planeten entfernt, bevor man skippt«, sagte Alan. »Vor allem, wenn man ein anderes Universum ansteuert. Aber man kann sehr nahe an eine Gravitationssenke heranspringen, was der Grund ist, weshalb wir meistens in der Nähe unserer Ziele in ein neues Universum eintreten. Aber wenn man rausspringt, ist es viel leichter, je weiter man davon entfernt ist. Deshalb fliegen wir immer ein Stück hinaus, bevor wir skippen. Es gibt sogar eine exponentielle Relation, die ich euch zeigen könnte, aber …«
»Ja, ich weiß. Dazu hatte ich nicht genug Mathe«, sagte Ed.
Alan wollte gerade etwas Beschwichtigendes erwidern, als sich plötzlich die BrainPals von uns allen aktivierten. Die Modesto hatte soeben die neuesten Nachrichten über das Coral-Massaker empfangen. Und sie waren entsetzlich, ganz gleich, in welchem Universum man sich gerade befand.
Coral war der fünfte Planet, der von Menschen besiedelt worden war, und der erste, der eindeutig bessere Lebensbedingungen für die Menschen bot als die gute alte Erde selbst. Die Oberfläche war geologisch stabil, das Klima sorgte für eine ausgedehnte gemäßigte Zone, die die meisten der großzügig angelegten Landmassen umspannte, und es wimmelte vor einheimischen Tier- und Pflanzenarten, die denen der Erde genetisch ähnlich genug waren, um den Menschen als Nahrung zu dienen und ihren ästhetischen Bedürfnissen zu genügen. Anfangs war diskutiert worden, die Kolonie »Eden« zu nennen, aber dann gelangte man zur Einsicht, dass ein solcher Name karmisch zu sehr vorbelastet war.
Stattdessen entschied man sich für Coral, und zwar wegen der korallenähnlichen Wesen, die wunderbare abwechslungsreiche Inselgruppen und Riffe in der tropischen Zone am Äquator des Planeten schufen. Die menschliche Expansion auf Coral war untypischerweise auf ein Minimum reduziert, und jene Menschen, die sich dort angesiedelt hatten, lebten hauptsächlich unter sehr einfachen, beinahe vorindustriellen Bedingungen. Es war einer der wenigen Planeten im Universum, wo die Menschen versuchten, sich an das vorhandene Ökosystem anzupassen, statt es umzupflügen und durch Viehhaltung und Getreideanbau zu ersetzen. Und es funktionierte sogar. Die kleine und überschaubare menschliche Bevölkerung fügte sich in die Biosphäre von Coral ein und gedieh auf bescheidene und kontrollierte Weise.
Daher war sie nicht im Geringsten auf das Eintreffen der Invasionsarmee der Rraey vorbereitet, die mit genauso vielen Soldaten wie Kolonisten kamen. Die KVA-Garnison über und auf Coral wehrte sich in einem kurzen, aber tapferen Kampf, bevor sie überwältigt wurde, und auch die Kolonisten bemühten sich, den Angriff der Rraey zurückzuschlagen. Doch schon bald darauf lag die Kolonie in Trümmern, und die überlebenden Siedler wurden buchstäblich abgeschlachtet. Die Rraey hatten schon seit längerer Zeit ihrem Appetit auf Menschenfleisch freien Lauf gelassen, sobald sich die Gelegenheit ergab.
Ein Informationsschnipsel, der an unsere BrainPals übertragen wurde, war Teil eines kulinarischen Unterhaltungsprogramms, in dem einer der berühmtesten Köche der Rraey darüber sprach, wie sich ein Mensch am besten zerlegen ließ, um ihn auf vielfältige Weise zubereiten zu können. Die Halsknochen waren eine besondere Delikatesse für Suppen und Brühen. Das Video diente nicht nur dem Zweck, unseren Widerwillen zu erregen, sondern auch als Beweis, dass das Coral-Massaker von langer Hand geplant war, da anlässlich der Feierlichkeiten sogar prominente Rraey angereist waren. Offensichtlich hatten die Aliens vor, sich für längere Zeit auf Coral niederzulassen.
Die Rraey begannen unverzüglich mit der Umsetzung ihres eigentlichen Invasionsziels. Nachdem alle Kolonisten getötet waren, landeten Transportplattformen auf dem Planeten, mit denen die Inseln von Coral abgebaut werden sollten. Die Rraey hatten deswegen bereits mit der Regierung der Kolonialen verhandelt. Einst hatte es zahlreiche Korallenriffe auf der Heimatwelt der Rraey gegeben, bis sie durch Umweltverschmutzung und kommerziellen Abbau zerstört worden waren. Die Kolonialen verweigerten dieses Ansinnen, weil die Siedler von Coral Eingriffe in die Ökosphäre ihres Planeten ablehnten und weil die anthropophagen Tendenzen der Rraey allgemein bekannt waren. Niemand wollte, dass sich die Aliens in der Nähe der Siedlungen herumtrieben und nach arglosen Menschen Ausschau hielten, die sie zu Aspik verarbeiten konnten.
Der Fehler der Kolonialen Regierung war es, nicht erkannt zu haben, welche Bedeutung der Abbau der Korallenriffe für die Rraey hatte. Neben den kommerziellen Aspekten war es für sie eine religiöse Angelegenheit, was die Diplomaten der Kolonialen völlig falsch interpretiert hatten. Ihnen war auch nicht klar, mit welcher Hartnäckigkeit die Rraey ihr Vorhaben verfolgen würden. Die Rraey und die Kolonialen hatten sich ein paarmal getroffen und nie gute Beziehungen entwickelt. Aber wie gut konnte man sich mit jemandem verstehen, der einen als nahrhaften Bestandteil eines schmackhaften Mittagessens betrachtete? Im Großen und Ganzen kümmerten sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten und wir uns um unsere. Erst jetzt, als die letzten Korallenriffe auf der Heimatwelt der Rraey kurz vor dem endgültigen Absterben standen, wurde ihr Bedarf an den Ressourcen von Coral so groß, dass sie keine Rücksicht mehr zu nehmen bereit waren. Coral gehörte jetzt ihnen, und wir würden viel stärker zurückschlagen müssen, um den Planeten zurückzubekommen.
»Die Sache sieht verdammt ernst aus«, sagte Lieutenant Keyes zu seinen Truppführern, »und sie wird noch viel ernster sein, wenn wir dort eingetroffen sind.«
Wir befanden uns im Besprechungsraum der Kompanie, und der Kaffee auf den Tischen wurde kalt, während wir die vielen Seiten der Berichte über die Grausamkeiten im Coral-System durchgingen. Die Skip-Drohnen, die die Rraey nicht abgeschossen hatten, meldeten einen beständigen Strom eintreffener Raumschiffe, die sowohl kriegerischen Zwecken als auch dem Abtransport der Korallen dienten. Weniger als zwei Tage nach dem Coral-Massaker hingen fast tausend Rraey-Schiffe im Orbit über dem Planeten und warteten darauf, mit der großmaßstäblichen Ausbeutung beginnen zu können.
»Unser Wissensstand sieht folgendermaßen aus«, sagte Keyes und sendete eine Grafik des Coral-Systems in unsere BrainPals. »Wir vermuten, dass der größte Anteil der Rraey-Schiffe in diesem System kommerziellen und industriellen Zwecken dient. Nach dem, was wir über ihre Konstruktionsweise wissen, verfügt ungefähr ein Viertel, also etwa dreihundert Einheiten, über militärische Offensiv- und Defensivkapazitäten. Darunter sind viele Truppentransporter mit minimaler Abschirmung und Feuerkraft. Doch die eindeutigen Schlachtschiffe sind sowohl größer als auch stärker als unsere entsprechenden Einheiten. Außerdem schätzen wir, dass sich bis zu einhunderttausend Rraey-Soldaten auf der Oberfläche aufhalten und sich auf die Abwehr von Invasionstruppen vorbereiten.
Sie rechnen damit, dass wir Coral nicht kampflos aufgeben, aber nach unseren geheimdienstlichen Informationen erwarten sie, dass wir in vier bis sechs Tagen einen Angriff starten werden. Innerhalb dieses Zeitraums könnten wir eine ausreichende Zahl von großen Schiffen in Skip-Position bringen. Sie wissen, dass die KVA gerne ihre überwältigende Macht zur Schau stellt, und dafür brauchen wir Zeit.«
»Wann werden wir also angreifen?«, fragte Alan.
»In etwa elf Stunden«, sagte Keyes.
Wir alle rutschten unbehaglich auf unseren Stühlen hin und her.
»Wie soll das funktionieren, Lieutenant?«, fragte Ron Jensen. »Uns stünden nur die einzigen Schiffe zur Verfügung, die bereits in Skip-Position gegangen sind, beziehungsweise die, die es in den nächsten paar Stunden schaffen. Wie viele wären das insgesamt?«
»Zweiundsechzig, einschließlich der Modesto«, sagte Keyes, und unsere BrainPals zeigten eine Liste der verfügbaren Schiffe. Nebenbei fiel mir auf, dass die Hampton Roads dabei war, das Schiff, in dem Harry und Jesse Dienst taten. »Sechs weitere Schiffe erhöhen die Geschwindigkeit, um eine sichere Skip-Distanz zu erreichen, aber wir können uns nicht darauf verlassen, dass sie hier sind, wenn wir zuschlagen.«
»Mensch, Keyes!«, sagte Ed McGuire. »Das heißt, es kommen fünf Rraey-Schiffe auf eins von unseren und zwei Soldaten auf einen von unseren, vorausgesetzt, wir kriegen sie überhaupt bis zum Boden durch. Mir gefällt unsere Tradition der überwältigenden Überlegenheit wesentlich besser.«
»Wenn wir genügend Schiffe für eine beeindruckende Machtdemonstration haben, werden sie auf uns vorbereitet sein«, sagte Keyes. »Es ist besser, jetzt eine kleinere Streitmacht loszuschicken, während sie nicht damit rechnen, und so schnell wie möglich so viel Schaden wie möglich anzurichten. In vier Tagen werden hier zweihundert Schiffe eingetroffen sein. Wenn wir gute Arbeit leisten, müssen sie nur noch die Reste der Rraey-Flotte zusammenfegen.«
Ed schnaufte. »Schade, dass wir ihnen dabei nicht mehr helfen können.«
Keye lächelte gepresst. »Etwas mehr Selbstvertrauen, bitte! Ich weiß, dass das hier kein Picknick auf dem Mond ist, aber wir werden uns nicht wie die Vollidioten anstellen. Wir werden nicht um jeden Meter Boden kämpfen. Wir gehen mit klaren Zielvorgaben runter. Wir greifen anfliegende Truppentransporter an, damit sie keine weiteren Bodentruppen absetzen können. Unsere Bodentruppen werden die Bergbauarbeiten stören, bevor sie losgehen, und zwar so, dass die Rraey nicht auf uns schießen können, ohne ihre eigenen Leute oder ihre Maschinen zu treffen. Wir gehen gegen kommerzielle und industrielle Schiffe vor, sobald sich die Gelegenheit bietet, und wir werden versuchen, die großen Kanonen aus dem Orbit zu locken, damit sie sich zwischen zwei Fronten befinden, wenn unsere Verstärkungstruppen eintreffen.«
»Ich möchte noch einmal auf die Sache mit den Bodentruppen zu sprechen kommen«, sagte Alan. »Wir werden also Soldaten absetzen, und dann sollen unsere Schiffe versuchen, die Rraey-Schiffe wegzulocken? Heißt das für uns, die wir die Bodentruppen sind, das, was ich glaube, was es heißt?«
Keyes nickte. »Wir werden mindestens drei oder vier Tage lang ganz auf uns gestellt sein.«
»Toll!«, sagte Jensen.
»Wir sind im Krieg, Sie Idioten«, gab Keyes zurück. »Es tut mir leid, dass es hier nicht sonderlich angenehm oder bequem zugeht.«
»Was passiert, wenn der Plan fehlschlägt und unsere Schiffe abgeschossen werden?«, fragte ich.
»Dann sitzen wir wohl in der Scheiße«, sagte Keyes. »Aber wir wollen nicht von solchen Eventualitäten ausgehen. Wir sind Profis, wir machen hier unsere Arbeit. Dafür wurden wir ausgebildet. Der Plan hat durchaus seine Risiken, aber man kann uns keinen Leichtsinn vorwerfen, und wenn es funktioniert, haben wir einen Planeten zurückerobert und den Rraey schwere Verluste zugefügt. Lassen Sie uns davon ausgehen, dass wir etwas erreichen werden, meinen Sie nicht auch? Es ist eine etwas verrückte Idee, aber die Sache könnte hinhauen. Und wenn Sie alle daran glauben, stehen die Chancen viel besser, dass es wirklich funktioniert. Alles klar?«
Wieder wurde auf den Stühlen herumgerutscht. Wir waren nicht restlos überzeugt, aber es gab kaum etwas, das wir hätten tun können. Wir würden in diesen Kampf ziehen, ob es uns gefiel oder nicht.
»Diese sechs Schiffe, die vielleicht noch rechtzeitig zur Party kommen«, sagte Jensen, »welche sind es?«
Keyes brauchte einen Moment, um die Informationen abzurufen. »Die Little Rock, die Mobile, die Waco, die Muncie, die Burlington und die Sparrowhawk.«
»Die Sparrowhawk?«, sagte Jensen. »Wirklich?«
»Was ist mit der Sparrowhawk?«, fragte ich. Der Name war ungewöhnlich, da Raumschiffe in Regimentsstärke traditionell nach mittelgroßen Städten und nicht nach Greifvögeln benannt waren.
»Die Geisterbrigade, Perry«, sagte Jensen. »Die Spezialeinheit der KVA. Die ganz harten Typen.«
»Davon habe ich noch nie gehört«, sagte ich. In Wirklichkeit war mir jedoch, als hätte ich den Namen doch schon mal vernommen, nur dass mir nicht mehr erinnerlich war, wann und wo es gewesen war.
»Die KVA hebt sie sich für ganz besondere Gelegenheiten auf«, sagte Jensen. »Sie sind überhaupt nicht nett, wenn sie mit anderen zu tun bekommen. Aber es wäre nett, sie in der Nähe zu haben, wenn es hier rund geht. Dann könnte es sogar sein, dass wir diesen Einsatz überleben.«
»Es wäre nett, aber es wird wahrscheinlich nicht geschehen«, sagte Keyes. »Das hier ist unsere Show, Leute. Die wir auf jeden Fall durchziehen werden.«
Zehn Stunden später skippte die Modesto in die Nähe von Coral und wurde innerhalb der ersten paar Sekunden von sechs Raketen getroffen, die aus geringer Entfernung von einem Kampfkreuzer der Rraey abgefeuert wurden. Das Steuerbordtriebwerk der Modesto wurde zertrümmert, worauf sich das Schiff heftig schlingernd überschlug. Die Mitglieder meines und Alans Trupps drängten sich in einem Transportshuttle, als die Raketen einschlugen. Die Wucht der Explosion schleuderte mehrere unserer Soldaten gegen die Wände des kleinen Schiffs. Im Shuttlehangar wurden lose Ausrüstungsteile herumgeworfen und krachten gegen einen Transporter. Unserer blieb verschont. Zum Glück hielten die Elektromagneten, die die Shuttles am Boden verankerten.
Ich aktivierte Arschloch, um den Status des Schiffes zu checken. Die Modesto war schwer beschädigt, und aktive Tasterstrahlen vom Rraey-Schiff deuteten darauf hin, dass dort die nächste Raketensalve vorbereitet wurde.
»Zeit, von hier zu verschwinden«, brüllte ich Fiona Eaton zu, unserer Pilotin.
»Ich habe noch keine Startgenehmigung von der Flugkontrolle«, gab sie zurück.
»In etwa zehn Sekunden wird hier die nächste Raketensalve einschlagen«, sagte ich. »Das ist unsere verdammte Startgenehmigung.«
Fiona brummte.
Alan, der sich ebenfalls in die Systeme der Modesto eingeklinkt hatte, brüllte von hinten: »Raketen gestartet! Sechsundzwanzig Sekunden bis zum Einschlag.«
»Reicht die Zeit, um von hier wegzukommen?«, fragte ich Fiona.
»Schauen wir mal«, sagte sie und öffnete einen Kanal zu den anderen Shuttles. »Hier spricht Fiona Eaton, Pilotin des Transporters sechs. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich in drei Sekunden die Notöffnung des Hangartors auslösen werde. Viel Glück.« Sie drehte sich zu mir um. »Alles anschnallen«, sagte sie und drückte auf einen roten Knopf.
Grelle Blitze umrahmten die Hangartore. Der Explosionslärm der Notsprengung ging im Röhren der entweichenden Luft unter, als die Türen nach draußen gerissen wurden. Alles, was nicht angebunden war, trieb ebenfalls auf die Öffnung zu. Hinter den Trümmern drehten sich die Sterne synchron zur Trudelbewegung der Modesto. Fiona gab Schub auf das Triebwerk und wartete nur so lange, bis das Hangartor frei von Trümmern war, dann löste sie die elektromagnetische Verankerung und steuerte das Shuttle durch das Tor. Sie versuchte, die wilde Drehung der Modesto auszugleichen, aber wir streiften trotzdem im letzten Moment das Dach des Hangars, bevor wir draußen waren.
Ich griff auf die Videoübertragung des Hangars zu. Weitere Shuttles flogen durch das Tor. Fünf schafften es nach draußen, bevor die zweite Raketensalve ins Schiff schlug. Dadurch änderte sich abrupt der Drehimpuls der Modesto, worauf mehrere bereits gestartete Shuttles gegen die Wände geschleudert wurden. Mindestens eins explodierte, dann wurde die Kamera von einem Trümmerteil getroffen und gab den Geist auf.
»Lösen Sie die Verbindung zwischen Ihren BrainPals und der Modesto«, sagte Fiona. »Damit könnten die Rraey uns orten. Sagen Sie es Ihren Trupps. Verbal.«
Ich tat es.
Alan kam nach vorn. »Wir haben da hinten ein paar leicht Verletzte«, sagte er und zeigte auf unsere Soldaten, »aber nichts Schlimmes. Wie sieht der weitere Plan aus?«
»Ich habe uns auf Kurs Coral gebracht und den Antrieb runtergefahren«, sagte Fiona. »Wahrscheinlich haben sie ihre Ortung auf Triebwerkssignaturen und BrainPal-Übertragungen programmiert. Solange wir uns tot stellen, könnte es sein, dass sie uns lange genug in Ruhe lassen, bis wir in die Atmosphäre eingetreten sind.«
»Es könnte sein?«, sagte Alan.
»Wenn Sie einen besseren Plan haben, bin ich ganz Ohr«, sagte Fiona.
»Ich habe keine Ahnung, was hier los ist«, sagte Alan. »Also erkläre ich mich gerne mit Ihrem Plan einverstanden.«
»Was, zum Teufel, ist da überhaupt passiert?«, wollte Fiona wissen. »Sie haben uns unmittelbar nach dem Skip getroffen. Sie konnten unmöglich wissen, wo wir herauskommen würden.«
»Vielleicht waren wir nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort«, sagte Alan.
»Das glaube ich nicht«, sagte ich und zeigte aus dem Fenster. »Da.«
An der Stelle stand ein Schlachtkreuzer der Rraey, an dem es aufblitzte, als sich mehrere Raketen von ihm entfernten. Auf der anderen Seite tauchte soeben ein KVA-Kreuzer in diesem Universum auf. Wenige Sekunden später trafen die Raketen ihr Ziel und schlugen in das KVA-Schiff ein.
»Ach du Scheiße«, sagte Fiona.
»Sie wissen genau, wo unsere Schiffe herauskommen«, sagte Alan. »Es ist ein Hinterhalt.«
»Wie, zum Henker, machen sie das?«, fragte Fiona verzweifelt. »Was, zum Teufel, ist hier los?«
»Alan?«, sagte ich. »Du bist der Physiker.«
Alan starrte auf den beschädigten KVA-Kreuzer, der nun ins Trudeln geriet und kurz darauf eine weitere Salve einsteckte. »Keine Ahnung, John. Das ist absolutes Neuland für mich.«
»Das kann doch nicht sein!«, sagte Fiona.
»Reißt euch zusammen«, sagte ich. »Wir stecken in Schwierigkeiten, und es ist nicht hilfreich, wenn wir jetzt durchdrehen.«
»Wenn Sie einen besseren Plan haben, bin ich ganz Ohr«, sagte Fiona erneut.
»Geht es in Ordnung, wenn ich auf meinen BrainPal zugreife, ohne den Kontakt zur Modesto herzustellen?«, fragte ich.
»Klar«, sagte Fiona. »Solange keine Sendung das Shuttle verlässt, haben wir nichts zu befürchten.«
Ich forderte Arschloch auf, mir eine geografische Übersicht von Coral zu zeigen. »Also«, sagte ich. »Wir können vermutlich davon ausgehen, dass der Angriff auf die Korallenbergwerke für heute abgeblasen ist. Nicht genug Soldaten konnten von der Modesto entkommen, um einen realistischen Angriffsplan ins Auge zu fassen, und ich glaube nicht einmal, dass alle von uns die Planetenoberfläche heil erreichen werden. Nicht jeder Pilot ist so auf Zack wie Sie, Fiona.«
Fiona nickte, und ich sah, dass sie sich ein wenig entspannte. Lob kam immer gut an, vor allem in Zeiten der Krise.
»Also gut, hier ist mein neuer Plan«, sagte ich, während ich die Karte von Coral an Fiona und Alan sendete. »Die Truppen der Rraey konzentrieren sich an den Korallenriffen und in den Städten der Kolonialen hier an der Küste. Also landen wir hier.« Ich ließ einen Punkt genau in der Mitte von Corals größtem Kontinent aufleuchten. »Wir verstecken uns in diesem Gebirgszug und warten auf die zweite Welle.«
»Wenn sie kommt«, sagte Alan. »Irgendeine Skip-Drohne schafft es bestimmt bis nach Phoenix. Also weiß man dort, dass die Rraey von ihrer Ankunft wissen. Und wenn sie das wissen, kommen sie vielleicht lieber doch nicht.«
»Sie werden auf jeden Fall kommen«, sagte ich. »Vielleicht nicht dann, wenn wir möchten, dass sie kommen. Damit müssen wir uns abfinden. Wir müssen nur auf sie warten und lange genug durchhalten. Die gute Nachricht lautet, dass auf Coral sehr menschenfreundliche Bedingungen herrschen. Wir können uns von dem ernähren, was das Land hergibt, so lange wir wollen.«
»Ich bin eigentlich nicht in Stimmung, zum Kolonisten zu werden«, sagte Alan.
»Es ist ja kein dauerhafter Zustand. Jedenfalls ist es um Längen besser als die Alternative.«
»Gutes Argument«, sagte Alan.
Ich wandte mich an Fiona. »Was können wir für Sie tun, damit Sie uns heil nach unten bringen?«
»Beten«, sagte sie. »Im Moment sieht alles gut aus, weil wir uns kaum von einem abstürzenden Trümmerstück unterscheiden, aber alles, was in die Atmosphäre eindringt und größer als ein menschlicher Körper ist, dürfte von den Rraey-Truppen registriert werden. Sobald wir manövrieren, werden sie zweifellos auf uns aufmerksam.«
»Wie lange können wir noch hier oben bleiben?«, fragte ich.
»Nicht allzu lange«, sagte Fiona. »Wir haben keine Lebensmittel und kein Wasser, und selbst mit unseren neuen, verbesserten Körpern wird uns ziemlich bald die frische Luft ausgehen, weil wir recht viele sind.«
»Wenn wir auf die Atmosphäre treffen, wie lange können Sie warten, bis Sie den Antrieb anschmeißen müssen?«, fragte ich.
»Nicht lange«, sagte sie. »Wenn wir ins Trudeln geraten, kriege ich das Ding nie mehr unter Kontrolle. Dann würden wir einfach weiterstürzen, bis wir sterben.«
»Tun Sie, was Sie können«, sagte ich.
Sie nickte.
»Okay, Alan«, sagte ich. »Jetzt sollten wir unsere Leute von der neuen Planung in Kenntnis setzen.«
»Es geht los«, sagte Fiona und warf die Triebwerke an. Die Beschleunigungskräfte pressten mich tief in den Copilotensitz. Jetzt stürzten wir nicht mehr auf die Oberfläche von Coral, sondern rasten aktiv darauf zu.
»Gleich kommt der Schlag«, sagte Fiona, kurz bevor wir auf die Atmosphäre trafen. Das Shuttle rasselte wie eine Rumbakugel.
Von den Instrumenten kam ein Pling. »Aktive Ortung«, sagte ich. »Wir werden abgetastet.«
»Reagiere«, sagte Fiona und legte das Shuttle in die Kurve. »In ein paar Sekunden fliegen wir in eine hohe Wolkenbank ein. Damit können wir sie vielleicht verwirren.«
»Funktioniert das immer?«, fragte ich.
»Nein«, sagte sie und flog trotzdem in die Wolken.
Wir kamen mehrere Kilometer östlich heraus und empfingen wieder ein Pling. »Sie haben uns immer noch in der Ortung«, sagte ich. »Kampfjäger dreihundertfünfzig Kilometer entfernt, kommt näher.«
»Werde versuchen, so weit wie möglich runterzugehen, bevor sie uns erreichen«, sagte sie. »Wir würden weder ein Wettrennen noch ein Feuergefecht mit ihnen überstehen. Wir können nur hoffen, möglichst nahe am Boden zu sein, sodass ihre Raketen die Bäume und nicht uns treffen.«
»Das klingt nicht sehr aufmunternd«, sagte ich.
»Für heute habe ich keine Aufmunterungseinheiten mehr übrig«, sagte Fiona. »Festhalten.« Dann ging es steil nach unten.
Der Rraey-Kampfjäger war im nächsten Moment über uns. »Raketen«, sagte ich. Fiona machte einen Satz nach links und näherte sich schlingernd dem Boden. Eine Rakete raste über uns hinweg und davon, die andere schlug in einen Hügel, als wir gerade über die Kuppe setzten.
»Nett«, sagte ich. Dann hätte ich mir fast die Zunge abgebissen, als direkt hinter uns eine dritte Rakete explodierte und das Shuttle durchschüttelte. Eine vierte Rakete streifte uns, sodass die Splitter in die Seite des Shuttles schlugen. In der brüllenden Luft konnte ich hören, wie einige meiner Leute schrien.
»Gehe runter«, sagte Fiona und kämpfte mit der Steuerung des Shuttles. Sie hielt mit unglaublich hoher Geschwindigkeit auf einen See zu. »Wir werden ins Wasser stürzen«, sagte sie. »Tut mir leid.«
»Das haben Sie gut gemacht«, sagte ich.
Dann schlug die Nase des Shuttles auf die Seeoberfläche.
Der Lärm von reißendem Metall, als die Nase des Shuttles nach unten gedrückt wird, dann trennt sich das Cockpit vom Rest des Gefährts. Ich sehe kurz meinen und Alans Trupp, als das Passagierabteil davonfliegt◦– eine Momentaufnahme von aufgerissenen Mündern, die stumm im Lärm schreien. Dann das Röhren, als es über die Nase hinwegsaust, die sich in ihre Bestandteile auflöst, während sie über das Wasser hüpft. Die engen, unmöglichen Drehbewegungen, bei denen das Cockpit Metallstücke und Instrumente verliert. Der stechende Schmerz, als etwas meine Wange trifft und sie mitnimmt. Ich höre nur ein Gurgeln, als ich schreien will, und graues SmartBlood schießt im zentrifugalen Bogen aus der Wunde. Ein unbeabsichtiger Blick auf Fiona, deren Kopf und rechter Arm irgendwo hinter uns sind.
Ein metallisches Klank, als sich mein Sitz von den Resten des Cockpits losreißt und ich auf dem Rücken liegend auf einen Felsbuckel zurase. Mein Sitz dreht sich lässig gegen den Uhrzeigersinn, während ich mich über die Wasseroberfläche hüpfend dem Stein nähere. Eine schnelle und schwindelerregende Änderung des Drehmoments, als mein rechtes Bein gegen den Fels schlägt, gefolgt von einem grellweißen Ausbruch gewaltiger Schmerzen, als der Oberschenkelknochen wie eine Salzstange bricht. Mein Fuß wird hochgerissen und trifft mich genau dort, wo sich einmal mein Unterkiefer befunden hat, und ich werde zum möglicherweise ersten Menschen in der Geschichte, der sich selbst einen Tritt gegen den Gaumen verpasst. Ich fliege in hohem Bogen über trockenes Land und lande an einer Stelle, wo immer noch Zweige herabregnen, weil hier kurz zuvor das Passagierabteil hindurchgekracht ist. Ein Ast knallt mir gegen die Brust und bricht mir mindestens drei Rippen. Nach dem Tritt gegen den Gaumen kommt mir dieser Rippenbruch seltsam unspektakulär vor.
Ich blicke nach oben (ich kann sowieso nicht anders) und sehe Alan über mir. Er hängt kopfüber am gesplitterten Ende eines Baumastes, der sich etwa dort in seinen Oberkörper gebohrt hat, wo seine Leber sein müsste. SmartBlood tropft von seinem Kopf auf meinen Hals. Ich sehe, wie seine Augen zucken, als er mich bemerkt. Dann übermittelt mein BrainPal mir eine Botschaft.
Du siehst furchtbar aus, sendet Alan.
Ich kann nicht antworten. Ich kann ihn nur anstarren.
Ich hoffe, ich kann dort, wohin ich gehe, die Sternbilder sehen, sendet er. Er sendet es noch einmal. Und noch einmal. Danach sendet er es nicht mehr.
Zwitschernde Laute. Grobe Tatzen packen meinen Arm. Arschloch erkennt das Zwitschern und schickt mir eine Übersetzung.
Dieser lebt noch.
Lass ihn liegen. Er wird bald sterben. Die Grünen schmecken sowieso nicht gut. Sie sind noch nicht reif.
Ein Schnaufen, das Arschloch als [Lachen] übersetzt.
»Heiliges Kanonenrohr, schaut euch das an!«, sagt jemand. »Dieser Mistkerl lebt noch!«
Eine andere Stimme. Die vertraut klingt. »Lassen Sie mich mal sehen.«
Stille. Dann wieder die vertraute Stimme. »Befreien Sie ihn von diesem Baumstamm. Wir nehmen ihn mit.«
»Großer Gott, Chef«, sagt die erste Stimme. »Schauen Sie ihn sich an. Man sollte ihm einfach nur eine Kugel durch den Kopf jagen. Das wäre das Humanste für ihn.«
»Wir haben den Befehl, Überlebende zu bergen«, sagt die vertraute Stimme. »Und er hat überlebt. Und er ist der Einzige.«
»Wenn man so etwas als ›überleben‹ bezeichnen will.«
»Sind Sie jetzt fertig.«
»Ja, Lieutenant.«
»Gut. Dann heben Sie endlich den verdammten Baumstamm von ihm runter. Die Rraey werden uns hier bald die Hölle heiß machen.«
Die Augen zu öffnen ist genauso schwer, als wollte ich ein Metalltor aufschieben. Etwas gibt mir die Kraft, es zu tun, nämlich der explodierende Schmerz, den ich verspüre, als man den Baumstamm von meinem Brustkorb hebt. Ich reiße die Augen auf und gebe einen kinnlosen Schrei von mir.
»Scheiße!«, sagt die erste Stimme, und ich sehe, dass es ein Mann mit blondem Haar ist, der den schweren Stamm zur Seite wirft. »Er ist wach!«
Eine warme Hand auf einem noch vorhandenen Teil meines Gesichts. »Hallo«, sagt die vertraute Stimme. »Nun wird alles wieder gut. Sie sind jetzt in Sicherheit. Wir bringen Sie zurück. Alles wird gut.«
Ihr Gesicht kommt in mein Blickfeld. Ich kenne es. Ich war mal mit diesem Gesicht verheiratet.
Kathy ist gekommen, um mich zu holen.
Ich weine. Mir wird klar, dass ich tot bin. Aber es stört mich nicht.
Ich drifte wieder weg.
»Haben Sie diesen Typen schon mal gesehen?«, höre ich den blonden Mann fragen.
»Blödsinn«, höre ich Kathy sagen. »Natürlich nicht.«
Dann bin ich weg.
In einem anderen Universum.