Kapitel 6

Nach endlosen Wanderungen durch mein Zimmer setzte ich mich müde und mutlos ans Fenster und starrte hinaus zu den sturmgeschüttelten Bäumen. Tausend Fragen bedrängten mich. Diese erste Begegnung mit meiner Großmutter hatte mich tief erschüttert. Warum wollte sie mich unbedingt von hier fortschicken? Von wem war sie, die kaum je ihr Zimmer verließ, so eingehend über mich und alles, was vorgefallen war, unterrichtet worden? Colin konnte nicht ihr Vertrauter sein; meine Bemerkung über mein Gespräch mit ihm hatte sie überrascht.

Selbst jetzt konnte ich das, was er mir im Stall erzählt hatte, kaum glauben. War ich wirklich im Wäldchen gewesen an jenem schrecklichen Tag und hatte die Geschehnisse mit angesehen? Und wie war ich plötzlich auf diesen Gedanken gekommen, es könnte noch eine dritte Person im Wäldchen gewesen sein? War er völlig aus der Luft gegriffen oder hatte er seinen Ursprung in einer Erinnerung, die ich nicht mehr fassen konnte? Glaubte ich selbst überhaupt an diese Möglichkeit? Was war an der Behauptung, daß die Pembertons verflucht seien, jeder von ihnen zum Wahnsinn verdammt? Gab es eine Grundlage für dieses Schauermärchen?

Während ich über dies nachdachte, stellten sich noch weitere Fragen: Warum hatte Sylvia Pemberton, meine Tante, als einzige dieser Familie meine Rückkehr gewünscht? Was hatte sie veranlaßt, den Brief zu schreiben, der mich hierher geführt hatte? Aus welchem Grund hatte sie meiner Mutter geschrieben, ohne die anderen einzuweihen? Es war ein Rätsel, für das ich keine Lösung finden konnte. Nichts ergab einen Sinn.

Um mich zu trösten, dachte ich an Edward, an unsere Spaziergänge im Cremorne Park mit seinen romantischen Fußwegen, die vom Duft der blühenden Akazien erfüllt waren. Ich liebte Edward sehr. Er war so zuverlässig und aufmerksam, ein Mann, auf den jede Frau stolz gewesen wäre. Schon im nächsten Frühjahr würde ich seine Frau sein, und dann konnte ich Pemberton Hurst auf immer vergessen. Meine Gedanken wechselten zu Colin, meinem Vetter, der die Manieren eines Stallknechts hatte und niemals auf die Gefühle anderer Rücksicht nahm. Wie kam es, fragte ich mich, daß er nicht verheiratet war? Ein Klopfen an meiner Zimmertür riß mich aus meinen Gedanken. Martha trat ins Zimmer. An sie konnte ich mich immer klarer erinnern: Sie war ein stilles Mädchen gewesen, das einfache kleine Weisen auf dem Klavier gespielt und stundenlang über ihren Handarbeiten gesessen hatte. Sie hatte wie ich die dichten dunklen Wimpern der Pembertons, die etwas zu große Nase, das kleine Grübchen am Kinn. Eine hübsche Frau, die sich mit Geschmack zu kleiden verstand und viele häusliche Talente besaß. Und wieso war sie nicht verheiratet? fragte ich mich.

«Leyla, es gibt gleich Abendessen«, sagte sie und sah mir dabei forschend ins Gesicht.

Ich vermutete, daß mittlerweile die ganze Familie wußte, was geschehen war; daß Colin mir verraten hatte, worüber zu sprechen man ihnen allen verboten hatte. Und jetzt suchte Martha, teilnahmsvoll, wie sie war, in meinem Gesicht nach Zeichen von Schmerz und Niedergeschlagenheit.

«Leyla. «Sie trat mit ausgestreckten Armen auf mich zu.»Es tut mir in der Seele leid, daß du die Wahrheit erfahren mußtest. Ich hatte gehofft — wir alle hatten gehofft, daß wenigstens ein Mitglied unserer Familie ein normales und glückliches Leben führen könnte, ohne die Belastung des drohenden Wahnsinns. Er wird mir so wenig erspart bleiben wie dir, Leyla, denn unsere Väter waren ja Brüder. Ach, es tut mir leid. Wenn Colin nur nicht so ein — «

«Nein, Martha, ihm ist kein Vorwurf zu machen. Ich habe ihn beinahe gezwungen, es mir zu sagen. Ich spürte von Anfang an, daß ihr mir alle etwas verbergen wolltet. Früher oder später hätte ich es auf jeden Fall erfahren.«

«Und jetzt, wo du es weißt — «sie drückte mir die Hände —»gehst du doch fort, nicht wahr? Damit du noch etwas von deinem Leben hast. «Ich sah sie verständnislos an.

Beim Essen fehlte nur Colin. Keiner gab eine Erklärung für seine Abwesenheit, und ich fragte auch nicht danach. Die Stimmung war gedrückt. Ich vermutete, daß Großmutter die Schuld daran trug. Die Tatsache, daß ich jetzt wußte, was sie mir alle hatten verheimlichen wollen, war kein Grund zu solcher Gedrücktheit. Auch wenn es ihnen aus Rücksicht auf mich lieber gewesen wäre, daß ich die Wahrheit über den Tod meines Vaters nie erfahren hätte, war doch noch lange kein Anlaß zu wortkarger Düsternis.

Es sei denn, ich wußte immer noch nicht alles.

Der Hammelbraten war köstlich, die Soße fein abgeschmeckt, die Kartoffeln gerade richtig gekocht. Aber obwohl alles bestens geraten war, blieb die Stimmung trübe.

Anna saß mit verschlossener Miene vor ihrem Teller und mied geflissentlich meinen Blick. Mechanisch führte sie ihre Gabel zum Mund. Henry schien innerlich mit irgend etwas stark beschäftigt und aß fast nichts. Martha war lieb wie immer, warf mir teilnahmsvolle Blicke zu und bemühte sich, auf meine Gefühle Rücksicht zu nehmen. Theo hingegen, dem das Essen offensichtlich genauso schmeckte wie mir, schien mehrmals nahe daran zu sein, etwas zu sagen; aber jedesmal vermied er es doch und begnügte sich damit, mich fragend anzusehen. Ich wußte, was sie alle dachten, und ich war bereit, ihnen zu antworten:

Für mich stand fest, daß ich bleiben würde. Als ich vor zwei Tagen nach Pemberton Hurst gekommen war, hatte ich vor allem eine Familie gesucht; mein Bedürfnis, die Jahre meiner Kindheit wiederzufinden, war zweitrangig gewesen. Im Lauf dieser wenigen Tage jedoch waren Dinge geschehen, die meine Bedürfnisse verändert hatten. Meine Vergangenheit war mir wichtig geworden; der Drang zu wissen, was sich damals in meiner Kindheit abgespielt hatte, wurde immer stärker. Ich erinnerte mich an Colins Worte, als wir an diesem Morgen den Stall verlassen hatten.»Geh fort von hier, Leyla. Geh zurück nach London und vergiß uns. «Und ich erinnerte mich auch meiner Reaktion auf diese Worte — ein zwingendes Gefühl, bleiben zu müssen. Die folgenden Stunden innerer Auseinandersetzung mit dem, was ich von Colin erfahren hatte, und das Gespräch mit meiner Großmutter hatten mich zu der Überzeugung gebracht — die nicht zu erklären war, die vielleicht auf einer verschütteten Erinnerung beruhte —, daß mein Vater unschuldig war.

Ich konnte den Ursprung dieses Gefühls nicht erklären, ich konnte es nicht in Worte fassen, doch es war so stark, daß ich nicht anders konnte, als mich nun in all meinem Handeln von ihm leiten zu lassen. Die Aura der Hoffnungslosigkeit, die ich von Anfang an bei Henry wahrgenommen hatte, war, wie ich nun wußte, nicht meiner Phantasie entsprungen, sondern hatte ihre Grundlage in seiner Überzeugung, zum Wahnsinn verdammt zu sein. Warum sollte da jetzt mein inneres Gefühl, daß mein Vater unschuldig war an den Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, nicht auch seinen Ursprung in einer vergessenen Wahrheit haben?

Aufgrund dieser Überzeugung, daß mein Vater nicht getan haben konnte, was alle von ihm behaupteten, stand für mich fest, daß ich in Pemberton Hurst bleiben mußte, bis ich mich an jenen letzten Tag klar und deutlich erinnern konnte.

So würde die Antwort auf die Fragen lauten, die, wie ich wußte, meine Verwandten beschäftigten: Ich glaubte nicht an die Schuld meines Vaters; ich wollte die Wahrheit in der Erinnerung suchen. Sollte ich mich tatsächlich plötzlich erinnern, was ich an jenem Tag im Wäldchen beobachtet hatte, so bedeutete das auch, daß ich mich auch des wahren Mörders erinnern würde. Wenn der Mörder einer jener Menschen war, die in diesem Augenblick mit mir beim Abendessen saßen, dann war ihre gedrückte und düstere Stimmung verständlich. Sie wollten nicht, daß ich mich erinnerte; sie wollten jemanden schützen.

Als das Dessert aufgetragen wurde, eröffnete Henry das Gespräch. Wie in den vergangenen zwei Tagen versuchte ich mir vorzustellen, es sei mein Vater, dem ich zuhörte. Wie stets sprach Anna nur über Belanglosigkeiten, um, wie ich wußte, ihre wahren Empfindungen und Gedanken zu verschleiern. Wie stets hielt Martha sich aus dem Gespräch heraus, als hätte sie nichts im Sinn als ihre Stickerei.

«Sag mal, Leyla«, wandte sich Theo in bemühtem Konversationston an mich,»ist es auf den Straßen in London jetzt eigentlich ruhiger, seit man das Steinpflaster durch Holz ersetzt hat?«

«Das Experiment ist völlig fehlgeschlagen, Theo. Es stellte sich nämlich heraus, daß das Holz bei Regen so glitschig ist, daß man ständig Gefahr läuft auszurutschen. London wird wohl immer laut bleiben; für dich sicher ein Grund mehr, es nicht zu besuchen.«

«Ach, daran liegt es weniger. Wir Pembertons sind nun mal keine reiselustige Familie. «Das gleiche hatte er mir schon einmal erzählt. Die Pembertons seien seßhafte Leute, denen am Reisen nichts läge, hatte er gesagt. Aber warum reisten sie nicht?

«Aber es entgeht einem doch vieles, wenn man immer nur zu Hause sitzt«, meinte ich.

«Wir haben hier auf Pemberton Hurst alles, was wir brauchen«, warf Henry ein.»Wir brauchen die große Welt nicht, um uns zu unterhalten.«

Sonderbare Leute, meine Verwandten. Sie waren ja richtig stolz auf ihre Unbeweglichkeit und Zurückgezogenheit. Sie kamen mir vor wie eine eingeschworene kleine Gemeinschaft, die sich hinter ihren eigenen Mauern verschanzte, um niemanden sehen zu müssen und nicht gesehen zu werden.

Als ich auf Henrys Einwurf nichts erwiderte, fragte Anna, ohne mich dabei anzusehen:»Wann wirst du denn nun abreisen?«

«Tante Anna!«rief Martha.»Das ist aber wirklich nicht nett.«

«Ja, Leyla«, schloß Theo sich den Worten seiner Mutter an,»wie sehen deine Pläne aus, jetzt, da du alles weißt?«

«Jetzt, da ich was weiß?«Dies war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte.

«Nun, du wirst doch jetzt sicher von hier fort wollen, seit du erfahren hast, woran du dich nicht mehr erinnern konntest«, sagte Martha. Ich sah sie an. Auch sie wünschte meine Abreise.»Du meinst, die Sache mit meinem Vater?«Sie nickte.

«Ja, ich würde vielleicht schon morgen von hier abreisen, wenn ich die Geschichte glauben würde. Aber ich glaube sie nicht. Darum habe ich beschlossen, so lange zu bleiben, bis ich mich in aller Einzelheit erinnern kann, was damals vorgefallen ist.«

«Wie meinst du denn das?«Anna drückte wieder einmal dramatisch ihre Hand aufs Herz.»Willst du behaupten, daß wir lügen?«

«Nein, durchaus nicht. Es ist möglich, daß ihr diesen Tag anders seht, ohne es zu wissen. Aber ich habe das Gefühl, Tante Anna, daß mein Vater nicht getan hat, was ihr alle glaubt. Er ist unschuldig, das fühle ich.«

«Aber das ist doch absurd«, sagte Theo.

«Woher willst du das wissen?«fragte ich heftig. Jetzt verteidigte ich nicht nur meinen Vater, sondern auch meine Mutter und mich.»War denn einer von euch dabei? War denn außer mir einer von euch an dem Tag im Wäldchen und hat den Mord mitangesehen? Nein. Also, wie könnt ihr dann so sicher sein? Als ich hierher kam, hoffte ich, daß die Erinnerungen durch diese Umgebung von selbst wieder in mir geweckt werden würden. Aber das ist jetzt anders geworden. Ich bin nicht mehr bereit, tatenlos darauf zu warten, daß ich hier ein Stückchen und dort ein Stückchen Erinnerung erhasche. Ich werde alles daran setzen, mir die ganze Wahrheit ins Gedächtnis zu rufen. Verstehst du das, Onkel Henry?«

«Du wirst dir selbst wehtun, Bunny. Du wirst dich an ein grauenvolles Ereignis erinnern, und die Bilder werden dich bis ans Ende deiner Tage verfolgen. Erspare dir das, Leyla.«

«Aber da doch sowieso der Fluch der Pembertons auf mir lastet, dem wir alle preisgegeben sind, werde ich diese zusätzliche Bürde wohl auch noch ertragen können.«

Henry verstand nicht, was ich meinte. Er beugte sich weit über den Tisch und sagte flehentlich:»Laß es ruhen, Bunny.«

«Ich kann es nicht ruhen lassen. Versteht ihr das denn nicht? Ich glaube nicht, daß mein Vater ein Mörder war. Ich glaube nicht, daß meine Mutter wegen böser Erinnerungen Hals über Kopf von hier geflohen ist. Ich glaube, sie hat mich fortgebracht, um mich vor etwas oder jemandem zu schützen.

Im übrigen glaube ich auch nicht an den Pemberton Fluch. Wir befinden uns im Jahr 1857, in einer Zeit der Aufklärung und des wissenschaftlichen Fortschritts. Gespenster und Verwünschungen gibt es nicht.«

«Aber es war doch der Fluch, der auf dieser Familie lastet, der deinen Vater zu seiner Tat getrieben hat.«

«So ein Unsinn!«Ich sprang zornig auf.»Meiner Meinung nach ist der Fluch nur eine Erfindung, eine Phantasterei, die sich jemand ausgedacht hat, um meinem Vater alle Schuld zuzuschieben und den wahren Mörder zu decken.«

«Schluß jetzt, Leyla!«befahl Henry scharf.»Henry!«rief Anna ängstlich.

«Ihr alle hier könnt es kaum erwarten, daß ich abreise. Warum? Ich war gerade fünf Jahre alt, als ich von hier fortging. Ich hatte erwartet, mit offenen Armen empfangen zu werden, daß wir gemeinsam Erinnerungen austauschen und alte Freundschaften wieder auffrischen würden. Aber das ist nicht geschehen. Ihr behandelt mich wie eine Aussätzige. Sagt mir endlich, was vor zwanzig Jahren geschehen ist!«

«Du weckst einfach schlimme Erinnerungen, das ist alles. «Alle Köpfe drehten sich, als Colin ins Speisezimmer trat. Die Hände in den Hosentaschen, stand er da, und blickte mit einem herausfordernd spöttischen Lächeln in die Runde. Er hatte offensichtlich an der Tür gelauscht.

«Und außerdem verdirbst du ihnen den Nachtisch. Schau hin! Keiner hat mehr als einen Bissen gegessen. Durch deine Anwesenheit werden sie an Dinge erinnert, an die sie sich nicht erinnern wollen.«

«Colin — «begann Henry.

«Ist dir aufgefallen, daß es nirgends im Haus ein Familienbild gibt? Ich kann dir sagen, warum. Weil niemand erinnert werden möchte.«

«Woran?«

Colin zuckte die Achseln und gab mir keine Antwort.»Bin ich für den Braten zu spät dran? Na ja, dann esse ich eben die doppelte Portion Nachtisch. Reich’ mir doch mal die Schale her, Schwesterherz. «Lässig setzte er sich und ließ sich von Martha den Nachtisch reichen. Ich konnte es nicht begreifen. Er hatte nichts mit dem Mann gemeinsam, der sich mir am Morgen im Stall gezeigt hatte. Ich mußte an Edward denken, der niemals launisch war, und ich war wütend auf die Sprunghaftigkeit meines Vetters. Er war nicht nur ungezogen, es war ihm auch völlig gleichgültig, wie sein Verhalten auf andere wirkte.»Colin«, sagte Martha leise.»Leyla hat beschlossen, hier zu bleiben. «Er sah nicht auf.»Ach, ja? Gertrude hat den Pudding wieder ohne Mandeln gemacht. Du mußt wirklich einmal mit ihr darüber sprechen, Onkel.«

Henry, Anna und Theo tauschten Blicke, während Martha sich in sich selbst zurückzog. Mir war es mittlerweile gleichgültig geworden, was diese Leute dachten; ich schuldete ihnen nichts, geradeso wie sie glaubten, mir nichts zu schulden. Zornig und verwirrt lief ich aus dem Speisezimmer in den Flur hinaus.

Dunkelheit umgab mich. Wie stumme Wächter standen die hohen Topfpflanzen in ihren Ecken, und die wuchtigen Möbel wirkten bedrohlich und überwältigend. Die gleiche Stimmung, die mich im Gespräch mit meiner Großmutter erfaßt hatte, überkam mich jetzt wieder. Ihr Geist schien überall in diesem Haus zu sein, allmächtig und allwissend. Unschlüssig lief ich in die Bibliothek und sank müde in einen Sessel vor dem Kamin. Nichts ergab einen Sinn. Nichts war so, wie ich es erwartet hatte.

Ich starrte gedankenverloren ins Feuer, als Martha eintrat. Sie setzte sich leise in einen Sessel, ihren bekümmerten Blick auf mich gerichtet. Sie war zwölf gewesen, als ich fortgegangen war; jetzt war sie zweiunddreißig, eine alte Jungfer, keusch und unberührt, als hätte sie den Schleier genommen.

«Ach, Leyla, es tut mir alles so schrecklich leid. «Sie rang die Hände.»Ich wollte, ich könnte dir helfen. Ich kann mir vorstellen, was du jetzt durchmachst.«

Ich hob den Kopf und sah sie an. Von allen Pembertons war Martha mir die liebste, oder vielmehr diejenige, von der ich mich am wenigsten brüskiert fühlte.

«Martha«, sagte ich müde,»warum gibt es hier im Haus keine Porträts der Familie?«

«Großmutter wünscht es nicht. Sie möchte nicht an den Fluch erinnert werden.«

«Ich glaube nicht an den Fluch.«

«Aber es ist wahr, Leyla! Sir John, unser Großvater, stürzte sich vor zehn Jahren im Wahnsinn vom Ostturm. Die Geschichte des Fluchs reicht weit zurück.«

«Wie weit denn? Weißt du das?«

«Hm. «Sie kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.»Warte mal. Soviel ich weiß, reicht sie Generationen zurück, aber die älteste Geschichte, die mir in Einzelheiten bekannt ist, ist die von Großvaters Bruder Michael. Er hat im Wahnsinn seine Mutter vergiftet und dann sich selbst. Über frühere Vorfahren habe ich nie etwas Genaues gehört.«

«Und wer hat dir die Geschichten erzählt?«

«Großmutter natürlich.«

«Ah, ja. «Mein Blick glitt wieder zum Feuer, und in den Flammen sah ich das Gesicht Abigails, die mit unumschränkter Macht in diesem Haus zu herrschen schien.

«Gibt es eine Familienbibel oder einen Stammbaum, den ich mir einmal ansehen könnte?«

Marthas Blick schweifte über die Borde voller Bücher, die uns umgaben. Es war offensichtlich, daß sie nicht viel las.»Nicht daß ich wüßte.«»Macht nichts. Ich habe viel Zeit. «Ich überlegte einen Moment.»Was kannst du mir über Tante Sylvia erzählen?«

«Tante Sylvia? Oh, sie war sehr alt, wenn auch nicht so alt wie Großmutter. Und sie hat nie geheiratet. Sie zog vor vielen Jahren mit ihrer Schwester hier ins Haus und blieb.«

«Ist sie auch am Wahnsinn zugrunde gegangen?«

«Aber nein. Tante Sylvia war eine Vauxhall, keine Pemberton. Nur die Pembertons haben diese Veranlagung — du, ich, Onkel Henry, Theo. Großmutter und Tante Anna sind keine Pembertons. Sie sind frei davon.«

«Als ich fünf Jahre alt war, Martha«, sagte ich,»wer lebte da in diesem Haus?«

Sie zögerte einen Moment, ehe sie antwortete.»Sir John und Abigail. Dann Tante Sylvia. Onkel Henry, Tante Anna und Theo. Meine Eltern mit Colin und mir. Und deine Eltern und du.«

«Und Thomas.«

«Ach ja, und dein Bruder Thomas.«

«An dem Tag damals waren also vierzehn Menschen hier im Haus. Und heute, zwanzig Jahre später, sind es nur noch sieben.«

«Ja. Aber zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und einige von ihnen waren alt.«

«Aber nicht deine Eltern.«

Martha blickte auf ihre gefalteten Hände nieder.»Sie kamen bei einem Unfall ums Leben.«

«Martha. «Ich beugte mich vor. Ein wenig Hoffnung hatte ich noch. Wenn ich klug war und vorsichtig genug zu Werke ging, gelang es mir vielleicht, meine Cousine auf meine Seite zu ziehen.»Martha, verzeih mir, daß ich schlimme Erinnerungen ausgrabe, aber ich war zwanzig Jahre fort von hier und weiß so vieles nicht. Bitte, hab’ Geduld mit mir, Martha. Du hast deine Mutter und deinen Vater verloren. Ich habe genau wie du meine Eltern und dazu meinen Bruder verloren. Ich habe den Eindruck — «ich sprach jetzt langsam und bedächtig —»daß der Kreis der Erben ganz beträchtlich eingeschränkt — «

«Leyla!«rief sie und sprang so hastig auf, daß sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.»Leyla, wie kannst du so etwas sagen!«

«Martha! Bitte!«Ich warf einen Blick zur Tür.

«Wie kannst du so etwas Gemeines sagen? Meine Eltern sind bei einem Unfall umgekommen. Dein Vater hat Selbstmord verübt, und deine Mutter ist in London an einer Krankheit gestorben. Wie kannst du diese Todesfälle mit einem hinterlistigen Plan in Verbindung bringen!«Marthas Stimme wurde immer lauter und schriller. Ich hätte sie eines solchen Ausbruchs nicht für fähig gehalten.

«Was du denkst, ist abscheulich. Wir sind eine harmonische Familie. Du bist doch der Eindringling hier. Du bist die Fremde. Wir hatten dich vergessen bis zu dem Tag, an dem du plötzlich vor der Tür standst. Großmutter hat recht. Wenn es jemand auf das Erbe abgesehen hat, dann bist du es!«

«Das ist nicht wahr, Martha!«Jetzt sprang auch ich auf, versuchte, sie zu beschwichtigen.

«Was du gesagt hast, ist häßlich und gemein, Leyla. Mit dir kann man nicht befreundet sein.«

Als sie zur Tür wollte, faßte ich sie beim Arm. Doch ehe ich etwas sagen konnte, sagte Colin von der Tür her:»Laß sie los, Leyla. Du hast genug angerichtet.«

Ich warf ihm einen zornigen Blick zu.»Klopfst du eigentlich nie an?«

«Ich sagte, du sollst meine Schwester loslassen.«

Martha schob sich zwischen uns hindurch zur Tür hinaus. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe. Wohin wollte sie? Zu Großmutter, um ihr alles zu erzählen?

«Dich geht das überhaupt nichts an«, fauchte ich wütend.»Na hör mal, schöne Cousine. «Er gab der Tür einen Tritt, daß sie zuschlug, und ging langsam zum Kamin.»Alles, was die Pembertons angeht, geht auch mich an. Ich habe dir doch gesagt, daß die Familie eng verbunden ist.«

«Aber, warum — «ich stellte mich trotzig vor ihm auf —»will mir niemand meine Fragen beantworten?«

«Setz dich erst einmal hin.«

Wie ein trotziges Kind ließ ich mich in einen Sessel fallen.»Ist es dir denn so wichtig, dich an die Vergangenheit zu erinnern? Was versprichst du dir davon?«

«Ich weiß es nicht. Aber ich habe das Gefühl, daß ich die Vergangenheit verändern kann. Und die Gegenwart auch.«

«Bist du denn mit der Gegenwart nicht zufrieden?«

«Nein, im Augenblick nicht. Ehe ich hierher kam, hatte ich eine völlig andere Vergangenheit — da glaubte ich, mein Vater und mein Bruder wären an der Cholera gestorben. Aber diese Vergangenheit hat sich jetzt verändert und dadurch auch die Gegenwart.«

«Wieso bist du so sicher, daß dein Vater unschuldig war?«

«Colin, tief in mir steckt eine Erinnerung, die ich nicht fassen kann. Aber ein Schatten, eine Ahnung davon ist mir zu Bewußtsein gekommen und sagt mir, daß das, was ich über den Tag im Wäldchen gehört habe, nicht wahr ist. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, was tatsächlich geschah, habe ich das ganz deutliche Gefühl, daß das, was man mir gesagt hat, nicht die Wahrheit ist. Kannst du das verstehen?«Als ich mein vom Feuer heißes Gesicht hob und ihn anblickte, sah ich wieder den Colin, den ich am Morgen kennengelernt hatte — einen ernsthaften, teilnahmsvollen und starken Mann.

Aber schon entzog sich mir diese Seite seines Wesen wieder, als er mit einem spöttischen Lächeln sagte:»Ein bißchen melodramatisch, findest du nicht?«»Colin! Ich komme mir vor wie in einem Alptraum. Ich weiß genau, daß hier etwas nicht stimmt, und ich muß es herausfinden. Sag, hat Tante Sylvia jemals von mir gesprochen?«

«Tante Sylvia?«Er überlegte kurz.»Nein, jedenfalls nicht, soweit ich gehört habe. Keiner hier hat je von dir oder deiner Mutter gesprochen. Warum fragst du?«Ich schüttelte den Kopf.»Was ist an Tante Sylvia so Besonderes?«

«Ich beantworte deine Fragen nicht, Colin, wenn du meine nicht beantwortest.«

«Verflixt noch mal, Leyla, sei gerecht!«

«Ich wäre dir dankbar, wenn du mir gegenüber einen anderen Ton anschlagen würdest. Wir sind hier nicht auf dem Pferdemarkt.«

«Dein Edward würde sich wohl eine solche Ausdrucks weise nie erlauben, wie?«

«Bestimmt nicht.«

«Dann kehre zu ihm zurück. Geh weg von hier und heirate ihn, ehe er dir nachkommt und hier die Tür einbricht, um dich zu holen. «Ich mußte wider Willen lächeln bei dieser Vorstellung. Niemals würde Edward etwas so Verrücktes tun. So eine Idee konnte nur Colin einfallen, dem alle gesellschaftlichen Gepflogenheiten völlig gleichgültig waren.

«Was ist denn so lustig?«

«Du redest wie der große Bruder.«

«Na, ich bin doch beinahe dein Bruder. Unsere Väter waren Brüder. Ich bin dein Cousin.«

Ich erwiderte Colins Bemerkung mit einem Lächeln und bekam zu meiner Überraschung ein gleiches zurück.

«Was hast du gemeint, als du eben sagtest, ich solle gerecht sein?.«

«Du hast mich doch sowieso schon dazu gebracht, dir mehr zu sagen, als du unserer Ansicht nach erfahren solltest. «Er hob die Hand, als ich etwas sagen wollte.»Bitte, laß mich ausreden. Die anderen und ich waren uns mit Großmutter darüber einig, dir nichts über die Vergangenheit zu sagen. Wir wollten dich unbefangen lassen, wie wir selbst es gern wären. Aber statt dessen wurde ich schwach, da ich mir vorstellen konnte, wie es sein muß, wenn man lauter Fragen hat und keiner einem Antwort gibt. Darum habe ich dir von deinem Vater erzählt und darum habe ich dir gesagt, daß in unserer Familie der Wahnsinn erblich ist. Du solltest wenigstens wissen, daß er für seine Tat nicht verantwortlich war. Aber ich bedaure diesen Augenblick der Schwäche, Leyla. Sieh’ doch, was seitdem mit dir geschehen ist. Du quälst dich mit dem Bemühen, dich an etwas zu erinnern, was dir nur schmerzlich sein kann.«

Ich sah Colin forschend ins Gesicht. Der Blick seiner Augen war aufrichtig, seine Worte klangen ehrlich. Konnte es wirklich so einfach sein? Daß die Geschichte vom Wahnsinn meines Vaters wahr war? Daß diese Menschen mich nur hatten schützen wollen?

Nein, das stimmte nicht. Ich spürte es deutlicher denn je. Mein Vater war unschuldig, der Fluch war ein Märchen. Der Beweis dafür lag in meinem Gedächtnis eingeschlossen.

«Bitte beantworte meine Fragen, Colin. Warum lebt ihr alle hier in diesem Haus wie in einem Kloster und verlaßt es nie für längere Zeit? Wie kommt es, daß Martha mit ihren zweiunddreißig Jahren hier die Jüngste ist? Warum habe ich immer noch das Gefühl, daß ihr mir etwas verheimlicht? Was meintest du, als du sagtest, du könntest dir vorstellen, daß meine Mutter nicht über diese Familie sprechen wollte? Warum ist Großmutter — «

«Leyla! Hör auf damit. Bitte!«Er hielt sich mit einer übertriebenen Geste die Ohren zu. Dann sagte er in einem Ton, der gereizt klang:»Ich habe das Gefühl, daß deine Phantasie mit dir durchgeht. Du erlauschst Geheimnisse, die es gar nicht gibt.«

«Ich möchte die Ehre meines Vaters wiederherstellen.«

«Indem du mich danach fragst, warum meine Schwester zweiunddreißig Jahre alt ist?«

«Das ist gemein!«rief ich zornig.»Jetzt bist du ungerecht. Aber eines kann ich dir sagen, Colin — «ich sprang auf und stemmte die Arme in die Hüften —»wenn du möchtest, daß ich hier weggehe, mußt du erst meine Fragen beantworten.«

Damit stürmte ich aus dem Zimmer und lief wenig damenhaft die Treppe hinauf. Wütend knallte ich die Tür von meinem Zimmer hinter mir zu. Dieser Mensch war unmöglich, unzuverlässig und unberechenbar.

Mein Blick fiel auf den Führer durch den Cremorne Park, und ich beschloß, augenblicklich einen Brief an Edward zu schreiben. Ich wollte ihm alles berichten, ihn um Rat und, wenn nötig, um Hilfe bitten. Ich wollte den Ruf meines Vaters wiederher stellen, und wenn ich mich durch dieses Bemühen selbst in Gefahr bringen sollte, so würde mir Edwards Wissen um die Situation Schutz und Sicherheit sein.

Ich hatte vielleicht eine Stunde geschrieben, als es klopfte. Zu meinen Füßen lagen zahlreiche zusammengeknüllte Blätter, und meine Wangen brannten. Es war nicht einfach die richtigen Worte zu finden, um Edward auf einleuchtende Weise die Situation zu beschreiben, die ich hier vorgefunden hatte.

«Herein«, sagte ich verdrossen.

Henry öffnete die Tür einen Spalt und schaute herein.»Schläfst du schon, Bunny?«

«Nein, nein! Komm nur herein.«

Beinahe verstohlen schob er sich durch die Tür und kam mit lautlosen Schritten auf mich zu. Nachdem er erst nach rechts und dann nach links gesehen hatte, flüsterte er:»Ich habe dich gestört. «Ich sah auf den Brief hinunter und legte meine Hände darauf.»Aber nein. Ich freue mich, daß du gekommen bist, Onkel Henry. Wollen wir uns an den Kamin setzen?«

Ich folgte ihm zum Sofa, verwundert über sein seltsames Verhalten. Wie immer umgab ihn jene Aura, aber das war es nicht, was mich sonderbar berührte. Es war etwas anderes, Unbestimmbares. Er zauderte, schien angestrengt nachzudenken und sah sich dabei mit hastigen Blicken im Zimmer um.»Was ist denn, Onkel Henry?«

Erst jetzt wandte er sich mir zu, und ich sah es: die zusammengezogenen Pupillen, den glasigen Blick. Mein Onkel mußte unter dem Einfluß von Opium stehen!

«Du hast deine Cousine Martha heute abend sehr erschreckt. Deine Worte beunruhigen uns alle. Du bist unvernünftig, Leyla, ich muß dich warnen.«

«Mich warnen?«

«Ja. Du solltest dich nicht um Dinge kümmern, die dich nichts angehen.«

«Der Tod meines Vaters und meines Bruders sollen mich nichts angehen? Das kann nicht dein Ernst sein!«

«Seither sind zwanzig Jahre vergangen, Bunny.«

«Ob es vor zwanzig Jahren war oder gestern, macht für mich keinen Unterschied. Ich verteidige die Ehre meines Vaters.«

«Aber das ist doch sinnlos, Kind! Das, was du dir unbedingt ins Gedächtnis zurückrufen möchtest, ist ein gräßlicher Alptraum. Wenn du dich eines Tages wirklich daran erinnern solltest, was du damals im Wäldchen sahst, wirst du erkennen, daß wir dir die Wahrheit gesagt haben, glaube mir.«

«Wenn das stimmt, Onkel, warum scheint ihr dann alle zu fürchten, daß ich mich erinnern könnte?«»Einzig um deinetwillen, Bunny.«

«Und ihr wünscht euch nur, daß ich nach London zurückkehre und Edward heirate. Ist das richtig?«

Henry antwortete nicht. Sein Blick huschte unablässig suchend im Zimmer umher. Ich hätte gern gewußt, warum er das Laudanum genommen hatte.

«Oder — «ich senkte die Stimme —»wollt ihr lieber, daß ich gar nicht heirate?«

Er drehte sich um und faßte mich bei den Händen. Seine Handflächen waren klamm und feucht.»Wenn du heiratest, Leyla, gibst du die Krankheit der Pembertons weiter.«

«Eine solche Krankheit gibt es nicht, Onkel Henry. Wie kannst du an ein solches Märchen glauben?«

«Weil ich weiß, daß es wahr ist. «Henrys Gesicht verfinsterte sich.»Du hättest niemals hierher zurückkommen sollen, Leyla

— «

«Aber ich bin zurückgekommen. Und ich lasse mich von meinem Vorhaben nicht abbringen. Ich werde mir meine Erinnerungen zurückholen, und wenn sie noch so schrecklich sind. Sie gehören mir.«

«Aber vielleicht kommen sie nie zurück, Leyla.«

«Ich weiß, daß sie zurückkommen werden.«

«Von uns wird dir keiner helfen.«

Das wußte ich bereits. Anna hatte mir von Anfang an nicht geholfen. Colin war jetzt ebenfalls dagegen, daß ich die Wahrheit erfuhr. Martha war mir böse. Und Theo — was für eine Haltung nahm er ein? Ich konnte mir meine Erinnerungen nur mit Hilfe meiner eigenen Willenskraft zurückerobern.

«Wie willst du dich an Dinge erinnern, die seit zwanzig Jahren verschüttet sind?«

Ich sah Henry ruhig an und antwortete:»Indem ich morgen ins Wäldchen gehe.«

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