Marktlücken

Die Falle

Heute ist Montag. Die Meinung, der Montag sei ein schwerer Tag, stammt sicherlich von Leuten, die am Wochenende ausspannen, ich hingegen hatte Dienst und fasse den Montag nicht weiter tragisch auf. Heute ist es sogar ruhiger als sonst.

Plötzlich klingelt das Telefon. Ich nehme den Hörer ab. »Lossew«, sage ich.

»Vitali«, meldet sich eine Stimme, die mir bekannt vorkommt. »Hier Wolodja, Wolodja Tschugunow. Klar?«

»Ah, ja!« Ich lächle erleichtert. »Grüß dich.« Wolodja Tschugunow ist Taxifahrer. Vor einem Jahr haben wir uns kennengelernt, als wir in seinem Wagen - in einem kritischen Augenblick kreuzte er zufällig unsern Weg - eines Nachts Verbrecher verfolgten, die einen Diebstahl verübt hatten. Wolodja zeigte sich damals nicht nur als ein As im Autofahren, sondern überhaupt als ein Goldjunge.

»Du, hör mal, was passiert ist«, sagt Wolodja aufgeregt. »Ich hab da so einen Typ am Belorussischen Bahnhof aufgegabelt. >Fahr mich irgendwohin, wo man Mittag essen kann<, sagt er. Darauf ich: >Das kann man hier, auf dem Bahnhof.< ->Ist nicht<, sagt er. >Ich will das Essen mit Geld bezahlen, nicht mit der Freiheit.< Klar?«

»Ein Angereister?«

»Hmhm. Und dann hat er noch gefragt: >Weißt du ein Nachtquartier für mich? Einen halben Hunderter laß ich pro Nacht springen, aber die Bleibe muß sauber sein.< Ich sage zu ihm: >Da muß ich überlegen. Ich wüßte zwar eine Stelle, aber da nehmen sie nur ihre Geschäftsleute.< - >Also dann fahr mich zum Essen. Während ich mich stärke, kannst du überlegen. Hier hast du 'n Zehner dafür. Wenn dir was einfällt, kriegst du einen Fünfziger. Ich bin nämlich ein Geschäftsmann, wie du in Moskau schwer einen findest.< Ich hab ihn in eurer Nähe abgesetzt, im >Baku<. Jetzt tafelt er dort. Was soll ich mit ihm machen? Laufenlassen darf man den nicht, ich hab da so einen Animus. Der hat was ausgefressen, der Schuft, dafür verbürge ich mich. Höchstwahrscheinlich hier in Moskau.«

»Oder woanders. Und ist dann nach Moskau gekommen.« Fieberhaft überlege ich. Wolodja hat recht, den Kerl dürfen wir uns nicht entwischen lassen. Andererseits haben wir keinen formellen Grund, um ihn festzunehmen. Alles, was er ausgequatscht hat, würde er sofort abstreiten, und dann wäre nichts mehr aus ihm herauszuholen. Außerdem hat dieser Knabe vielleicht ernst zu nehmende gefährliche Hintermänner. Man müßte sich ihm ganz ungezwungen nähern, so daß er sich völlig sicher fühlt. Und dann könnte man ihn sich mal unter die Lupe nehmen. Aber wie soll man das anstellen? Da fällt mir das Passende ein.

»Wolodja«, sage ich, »fahr ihn zu folgender Adresse. Schreib sie dir auf!« Ich diktiere ihm die Anschrift und füge hinzu: »Ich komme auch hin. Frag dort nach Onkel Ilja.«

»Ist geritzt«, antwortet Wolodja fröhlich. »In einer halben Stunde brechen wir auf. So lange futtert er.«

»Ist mir sehr recht«, sage ich. »Also mach's gut.« Ich lege den Hörer auf, werfe einen Blick auf die Uhr und hebe erneut ab. Die erforderliche Nummer habe ich im Kopf. Unter ihr erreiche ich meinen Bekannten Ilja Sacharowitsch, bis vor sechs, sieben Jahren arbeitete er bei uns, ebenfalls bei Kusmitsch. Aber als er einmal mit Genossen im Hinterhalt lag, wurde er schwer verwundet. Ungefähr drei Monate verbrachte er in verschiedenen Krankenhäusern und wurde mehrmals operiert. Er kam wieder einigermaßen auf die Beine, doch von unserer Firma mußte er Abschied nehmen. Jetzt ist Mittagszeit, Ilja Sacharowitsch brutzelt sich immer selber was, so daß ich die Chance habe, ihn zu Hause zu erreichen. Ich habe Glück. Ilja Sacharowitsch hört mir interessiert zu, versteht sofort und sagt kurz: »Klar. Komm her. Wirst alles stilecht vorfinden.«

Von Kusmitsch erbitte ich einen Wagen, zuvor habe ich ihm erklärt, worum es geht. Das kann nämlich eine sehr ernste Sache sein. Gesucht wird eine Reihe gefährlicher Verbrecher, und wenn dieser Bursche einer von ihnen ist... Mit solchem Erfolg wage ich allerdings nicht zu rechnen.

Wir flitzen zum äußersten Stadtrand von Moskau, ans Ende des Leninprospekts, fast bis zur Ringstraße. In dem Schneefeld dort sind gigantische weiße Häuser emporgewachsen, die einen mit roten, die anderen mit blauen oder gelben Balkons. Der Schnee hat die aufgewühlte Erde zugedeckt. So sehen Moskaus Vorstädte heute aus. Wenn später Bäume und Sträucher erscheinen, Blumenbeete und Rasenflächen, wenn Teiche ausgehoben werden und die Metro hergeführt wird, ist es hier besser als im Zentrum. Die öde Schneelandschaft, über die der Wind grimmig pfeift, wird nur von kleinen Schwärmen vereister Autos an den zahllosen Eingängen belebt. Vor einem halten wir. Der Wind ist so heftig, daß ich kaum aussteigen kann. Nachdem ich mich vom Fahrer verabschiedet habe, laufe ich ins Haus, genauer, werde ich hineingeblasen, sobald ich die Tür aufgerissen habe.

Ein geräuschloser Lift hebt mich in den elften Stock.

Ilja Sacharowitsch öffnet mir. Der sieht ja aus! Wo mag er diese Hose, dieses Hemd ausgegraben haben? Im Vorraum ist eine Ecke mit leeren Wodkaflaschen vollgestellt. Wo hat er die aufgetrieben? Ilja Sacharowitsch kichert und zieht sich auf dem dicken Bauch die rutschende zerknitterte Hose fest. Er ist zufrieden mit dem Eindruck, den er auf mich gemacht hat. Und ich nicke begeistert, bevor ich den Mantel ablege.

»Verstehst du«, sagt Ilja Sacharowitsch lächelnd, »meine Frau ist für eine Woche zu ihrer Schwester gefahren, nun, und da hab ich einen draufgemacht, ist doch klar. Die ganze Nacht haben wir gesoffen, sind erst gegen Morgen auseinandergegangen. Siehst ja, was ich für eine Visage habe!«

»Weshalb mußt du eine Frau haben?« frage ich grinsend.

»Na ja, im großen und ganzen sieht's bei mir doch anständig aus. Obendrein noch Blumen. Wie kommt ein Saufkopp zu dem allem?«

Er führt mich ins Zimmer und sagt zufrieden: »Hab ich nicht ein stilechtes Milieu gezaubert in der Stunde?«

Ja, Ilja Sacharowitsch hat viel Phantasie bewiesen. Übrigens hat er sich nichts auszudenken brauchen, in den zwanzig Jahren seiner Arbeit bei der Kriminalmiliz hat er genug gesehen. Ich ziehe die Jacke aus, entledige mich des Schlipses, hake die Schulterriemen mit der Pistolentasche ab und verstaue alles im Schrank. Die Pistole stecke ich mir nicht ein, dafür besteht jetzt keine Notwendigkeit. Das Treffen wird friedlich verlaufen. Es gilt nur festzustellen, was für ein Vogel uns ins Garn gegangen ist, ob er vielleicht von uns gesucht wird. Und selbst wenn er von uns gesucht wird, so kann ich ihn trotzdem nicht gleich festnehmen. Ilja Sacharowitschs Wohnung muß unverdächtig bleiben. Wir verhaften ihn zu anderer Zeit und an einem anderen Ort, wenn er an die Wohnung, in der er übernachtet hat, nicht mehr denkt.

Ilja Sacharowitsch betrachtet kritisch den Tisch, der mit schmutzigem, an mehreren Stellen von Zigaretten versengtem Wachstuch bedeckt ist. Dicke Wurst- und Brotscheiben liegen darauf, daneben stehen eine grob aufgeschlitzte Konservenbüchse und eine halbvolle Wodkaflasche; Zigaretten, Streichhölzer und speckige Karten vervollständigen das Bild. Mit einem Wort, alles scheint stilecht zu sein. Aber Ilja Sacharowitsch kratzt sich nachdenklich am Ohr und geht in die Küche. Von dort bringt er einen Fetzen Zeitungspapier und kritzelt etwas darauf. Dann sagt er befriedigt: »Vergiß nicht: Du hast schon einen halben Hunderter an mich verloren!«

Unterdessen klingelt es draußen. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen und zünde mir eine Zigarette an. Dann scharre ich die Karten zu mir. Ilja Sacharowitsch geht öffnen. Aus dem Vorraum dringen Getrappel, Wolodjas aufgeregte Stimme und Ilja Sacharowitschs Gebrumm. Eine dritte Stimme höre ich nicht. Doch, jetzt. Der dritte Mann sagt etwas - dumpf und unverständlich. Schließlich kommen alle ins Zimmer.

Donnerwetter, ist das ein Exemplar! Ein Kerl wie ein Quadrat. Er ist einen Kopf kleiner als ich. Aber das ist nicht weiter verwunderlich, mit meinen einsneunundachtzig stehe ich ziemlich einsam da, und mitunter ist mir meine Länge bei unserer schwierigen Arbeit reichlich unbequem. An diesem Burschen sind die Quermaße beeindruckend, bei seinem Anblick denkt man unwillkürlich, daß der Ausdruck »breit wie ein Schrank« nicht aus der Luft gegriffen ist. Man ahnt, daß er Bärenkräfte hat. Sein Gesicht, es wirkt keineswegs blöd, ist gleichsam in die Breite gezogen. Er hat schmale, mißtrauische Augen mit leicht geschwollenen Lidern, dicht darüber buschige Brauen. Alles ist groß und grob - die Nase, der Mund, die Ohren, die dicken frischen Lippen, alles ist auffällig. Nein, der Junge steht nicht auf der Fahndungsliste, ich bin fast überzeugt davon. Doch warum ist er aus dem Bahnhofsrestaurant geflüchtet, was hat ihn erschreckt?

»Setz dich, Kumpel. Aber mach mir den Stuhl nicht kaputt«, sagt Ilja Sacharowitsch. »Du bist mein Gast, wenn du Geld hast. Und hast du keins, versuch dein Glück, schlimmstenfalls ziehst du ohne Unterhose ab!« Lachend deutet er auf die Karten, dann stellt er mich vor: »Das ist mein Busenfreund Vitjok. Obwohl wir gerade erst angefangen haben, hat er mir schon einen halben Hunderter rübergereicht. Und getrunken hat er keinen Tropfen. Das ist ein Freund, was?«

»Für die Freundschaft mit dir reich ich gern mehr rüber, Onkel Ilja!« Ich blinzle verschmitzt und frage den Gast: »Wie sollen wir dich titulieren?« Mein Blick ist aufmerksam, abschätzend, keinerlei Freundlichkeit ist darin. Mag er spüren, daß wir nicht auf den Kopf gefallen sind, mag er sich anbiedern, beweisen, wer er ist und was ihn unserer Gesellschaft würdig macht.

»Ljocha«, knurrt er und streckt seine Pratze aus.

»Setz dich, Ljocha«, sage ich und schiebe sie weg. »Zu früh gibst du Pfötchen. Sag lieber, wie du sonst noch heißt!«

»Wenn du Vitjok bist, bin ich Ljocha«, knurrt er wieder. »Und mit dem Pfötchen kann ich auch anders.«

»Das ist vorerst nicht verlangt«, entgegne ich. »Genehmigen wir uns lieber einen auf die Bekanntschaft. Dann sehen wir weiter.«

»Gemacht«, stimmt Ljocha zu, und seine dicken Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. »Auf die Bekanntschaft trinke ich.«

»Folgendes, Ljocha«, belehrt ihn Ilja Sacharowitsch, während er Wodka eingießt. »Die Regel kennst du doch? Die Fragen stellen wir, da du nun mal bei uns hereingeschneit bist. An dir ist es, zu antworten. Und was ist mit dir?« fragt er Wolodja und zeigt auf den Wodka.

»Bloß nicht, Onkel Ilja«, sagt der und springt auf. »Ich muß los. Hab erst den halben Plan geschafft. Also wird mein Fahrgast zufrieden sein?« Lustig zwinkert er Ljocha zu.

»Wenn er unser Mann ist, dann wird er zufrieden sein«, antwortet Ilja Sacharowitsch ausweichend.

Wolodja geht, und wir setzen unsere Plauderei fort, wobei wir Ljocha von Zeit zu Zeit ein wenig auf den Zahn fühlen. Ihn macht das nicht stutzig, offenbar kennt er die »Regel«.

Nach und nach erfahren wir, daß Ljocha kein Moskauer ist, daß er noch nicht lange hier ist und er dorthin, wo er bisher genächtigt hat, nicht zurück kann. Weil er hier in Moskau mit jemand abgerechnet hat, was jetzt viel Staub aufwirbeln wird.

»Hast du ihn umgelegt?« frage ich sachlich.

»Sieht so aus...«, antwortet Ljocha stirnrunzelnd, und mir scheint, er ist mit dem, was er angestellt hat, unzufrieden.

Ich bin äußerst gespannt. Ein Mord? Wo wurde er begangen, wer ist das Opfer? Aber es gehört sich nicht, so direkt zu fragen. Einstweilen wissen wir nichts. Vielleicht sind wir klüger, wenn wir den gestrigen Tagesbericht gelesen haben. Ljocha jetzt festzunehmen wäre sinnlos, er würde seine Worte sofort abstreiten, und bereits eine Stunde später müßten wir ihn laufenlassen. Dann würde er untertauchen und aus Moskau verschwinden. Und wenn wir endlich etwas über das von ihm begangene Verbrechen erfahren und ein paar Beweise zusammengekratzt haben, ist Ljocha über alle Berge. Hat er diesen Mord überhaupt verübt? Vielleicht will er bloß prahlen, »Autorität« gewinnen, »zünftig« wirken! Aber eine innere Stimme sagt mir, daß Ljocha nicht lügt.

»Wo bist du eigentlich her?« fragt Ilja Sacharowitsch.

»Von da, wo es warm ist und gedörrte Aprikosen wachsen«, sagt Ljocha grinsend.

Als sich nach dem nächsten Gläschen Ljochas Blick trübt, tastet sich Ilja Sacharowitsch erneut an ihn heran. »Hast du bloß abgerechnet oder warst du auf 'n Batzen Geld aus?« fragt er und kaut mühsam Wurst dabei.

»Es mußte sein.«, knurrt Ljocha unwillig.

»Willst du uns für dumm verkaufen?« schnauze ich ihn an.

In solcher Gesellschaft mag man so was nicht. Und wenn man's nicht mag, dann schlägt man zu. Aber eine Schlägerei wäre nachteilig für Ljocha. Er muß befürchten, auf die Straße zu fliegen. Ich spüre mit jeder Faser, daß er Angst hat. Bestimmt hat er etwas auf dem Kerbholz. Und wenn das der Fall ist, bricht er keinen Streit vom Zaun, ich kann ihn also ruhig unter Druck setzen. Ich muß unverzüglich Einzelheiten der von ihm verübten Tat erfahren und ihn wenigstens einen Tag bei Ilja Sacharowitsch festhalten, bis uns ein solches Verbrechen gemeldet wird und wir es diesem Ljocha »anpassen« können.

»Die Nummer laß lieber, klar?« füge ich drohend hinzu. »Antworte, wenn du gefragt wirst. Kennst du nicht das Gesetz? Der Chef ist er.«

Ilja Sacharowitsch lächelt dabei so bedeutsam, daß es Ljocha sichtlich unbehaglich wird.

»Ich hab 'ne Rechnung beglichen«, murmelt er.

»Bist du schon oft in Moskau gewesen?« erkundigt sich Ilja Sacharowitsch. »Weißt du, wie's hier langgeht?«

»Ich bin das erste Mal hier. Und bestimmt auch das letzte.«

»Sehr vernünftig.« Ilja Sacharowitsch nickt. »Weil hier besondere Spielregeln herrschen, Kleiner. Ich hab mir an denen sämtliche Zähne ausgebissen, siehst du?« Er öffnet den Mund, und ich erstarre, aber da fällt mir ein, daß er sich vor Ljochas Ankunft beklagte, er warte schon seit einer Woche auf die neue Prothese und traue sich nicht unter die Leute.

Ljocha grinst zwar, doch in seinen Augen zeigt sich Unruhe.

»Wie hast du ihn umgelegt?« frage ich gleichmütig. »Mit 'm Messer?« Kauend zünde ich mir eine Zigarette an.

Die Frage ist sehr wichtig. Ein Messer ist rasch weggeworfen. Außerdem gilt nicht jedes als blanke Waffe. Aber wenn Ljocha eine Pistole hat, dann sieht die Sache anders aus, dann ist er gefährlich, und ich kann ihn festnehmen. Der Staatsanwalt würde mir sofort einen Haftbefehl geben.

»Ist das nicht egal?« antwortet Ljocha grimmig.

Ich zucke die Schultern. »Ich dachte, du brauchst vielleicht blaue Bohnen, bei Kasse bist du ja wohl.«

Ljocha kneift mißtrauisch die Augen zusammen. »Ich hab vorsichtshalber kaum was bei mir. Hier, dreihundert, das ist alles.« Er wirft rote Zehner auf den Tisch. Dann dreht er die Hosentaschen um, und auf dem Tisch erscheinen ein Kamm, ein Portemonnaie, ein kleines Taschenmesser, mit dem man auf keinen Fall einen Menschen umbringen kann, und ein schmutziges Taschentuch. Ljocha hat einen dicken Pullover an, über weitere Taschen verfügt er also nicht. Aber die Gesäßtasche läßt er merkwürdigerweise aus. Knapp befehle ich: »Was ist da drin? Zeig!«

Ljocha darf deshalb nicht eingeschnappt sein. Ziererei ist in solchen Situationen fehl am Platze. Man muß wissen, was der Fremde mitgebracht hat, was von ihm zu erwarten ist und ob man ihm trauen kann. Eilig zieht Ljocha einen zerknitterten, beschmutzten Ausweis heraus und schleudert ihn geringschätzig auf den Tisch. »Das war drin. Seht's euch an.«

Leider darf ich's mir nicht ansehen. Ein Ausweis gilt hier nichts. Im Gegenteil - das geringste Interesse an einem Ausweis wirkt verdächtig. Deshalb würdige ich ihn keines Blicks, sondern sage enttäuscht: »Und ich dachte, du brauchst blaue Bohnen.«

»Brauch ich auch«, sagt Ljocha plötzlich und lächelt listig.

Doch ich habe den Eindruck, er ist nicht so schlau, wie er erscheinen möchte. Ich spüre, daß er grob, beschränkt und denkfaul ist. Eigenschaften, wie sie schwere, kräftige Menschen oft haben. Aber zugleich ist er mißtrauisch, und deshalb muß ich auf der Hut sein und mir jedes Wort, jede Intonation überlegen.

»Wieviel brauchst du?« frage ich.

»Hast du 'ne ganze Lagerhalle?« Ljocha grient, und mit seinen schwarzen Äuglein unter den geschwollenen Lidern durchbohrt er mich, als wären sie vom Alkohol kein bißchen getrübt gewesen, dabei hat der Schurke doppelt soviel wie Ilja Sacharowitsch und ich getrunken.

»Deine Sache ist es, zu sagen, wieviel du brauchst«, antworte ich, »aber ob ich eine ganze oder eine halbe Lagerhalle voll habe, das ist meine Sache. Deine Neugierde ist nicht gut! Kapiert?«

»Na, vielleicht fünfzig?« fragt er zögernd.

»Wollen sehen«, antworte ich. »Was für 'ne Kanone hast du?«

»Kanone?« Er kratzt sich das Genick, »'ne Walther, glaub ich...«

»... glaub ich.«, spotte ich. »Weißt du wenigstens, an - welchem Ende sie schießt, du Neunmalkluger?«

»Deine Sache ist es, zu beschaffen, was bestellt wird«, versucht Ljocha mich wütend nachzuäffen. »Kapiert?«

»Da kannst du sicher sein, Ljocha«, schaltet sich Ilja Sacharowitsch beschwichtigend ein. »Was Vitjok verspricht, das hält er. Morgen ist alles geritzt. Stimmt's, Vitjok?«

»Klar.« Ich nicke. »Meine blauen Bohnen, dein Zaster. Drei zu eins zu meinen Gunsten. Abgemacht?«

»Topp!« willigt Ljocha ein.

Wo hat er die Pistole? Und warum hat er nicht gleich das System genannt? So blöd kann er doch nicht sein, daß er nicht weiß, was er bei sich trägt! Hat er sie sich erst vor kurzem besorgt? Das ist die erste Frage. Um so mehr, wenn er schon damit geschossen hat. Aber vielleicht ist es gar nicht seine Pistole? Und vielleicht hat er auch nicht geschossen? Das muß geklärt werden, und wir dürfen uns weder Ljocha noch die Pistole entwischen lassen.

Es wird bereits dunkel, und ich verabschiede mich. »Keine Sorge, wird alles bestens erledigt. Wenn's drauf ankommt, schaffen wir dir ran, was du willst. Wir kennen hier alle Schliche. Hauptsache, du hältst dich an Onkel Ilja.«

»In meiner Stadt schaffe ich dir auch ran, was du willst«, sagt Ljocha.

»Und was ist das für 'ne Stadt? Vielleicht muß ich mal 'ne Fliege dorthin machen.«

Ljocha runzelt die Stirn. »Wenn's soweit ist, flüstre ich's dir.«

»Deinen Kopf vertraust du uns an, den Namen deiner Stadt nicht? Bist 'n seltsamer Vogel«, spotte ich.

»Den Kopf vertrau ich dir auch nicht an, und ihm ebensowenig«, entgegnet Ljocha und deutet auf Ilja Sacharowitsch, dann sieht er sich um und fügt hinzu: »Wenn hier was nicht hinhaut, ist er der erste, der vom elften Stock 'n Abgang durchs Fenster macht.« Ein ungutes Lächeln verzerrt seine dicken Lippen.

»Und du bist der zweite?« fragt Ilja Sacharowitsch.

»Na schön, halten wir das der Klarheit halber fest«, sage ich. »Bis morgen.«

Am nächsten Morgen, im Dienst, sehe ich den Tagesbericht über die Vorfälle in der Stadt durch. Doch da ist nichts, was auf Ljocha paßt. Lediglich ein Mord ist passiert, während einer Schlägerei zwischen Betrunkenen, und der Mörder ist sofort verhaftet worden. Um die Mittagszeit ist in drei Wohnungen eingebrochen worden, aber da speiste Ljocha im Restaurant oder saß schon mit uns zusammen. Am Abend sind zwei Überfälle auf der Straße passiert, einem Mann wurde die Mütze weggerissen, einer Frau die Handtasche mit dem Geld - da war Ljocha bereits bei Ilja Sacharowitsch. Eine Vergewaltigung ereignete sich spätabends, als Ljocha sicherlich schon schlief, die Frau hatte zunächst mit flüchtig bekannten Männern in einem Kesselhaus gesüffelt und dort, betrunken wie sie war, getanzt, nun, und anschließend war sie zur Miliz gerannt, um Anzeige zu erstatten. Und die drei Unfälle, bei denen Fußgänger von Autos angefahren wurden, der Motorraddiebstahl, die zwei kleinen Brände und die verlorenen Kinder hatten mit Ljocha selbstverständlich ebenfalls nichts zu tun.

Ich sitze in Kusmitschs Zimmer. Auch Valja Denissow ist da. Behutsam sagt er: »Vielleicht haben sie einen Zugereisten umgebracht und die Leiche versteckt?«

»Tja... Vielleicht...«, knurrt Kusmitsch, lehnt sich im Sessel zurück und reibt sich die grauen Stoppelhaare im Nacken. »Wir müssen rings um diesen Ljocha mal ein bißchen auf den Busch klopfen, meine Lieben. Mir scheint, da eröffnet sich keine besonders angenehme Perspektive für uns.«

»Wir haben doch bislang keinen einzigen Anhaltspunkt!« rufe ich ärgerlich aus. »Wenn man ihn wenigstens wegen 'ner Pistole festnageln könnte!«

»Wir müssen herausfinden, wo dieser Ljocha seine Sachen hat«, bemerkt Valja.

»Ja«, stimmt Kusmitsch zu. »Wir brauchen eine Kombination, damit er uns zu der Adresse führt, wo er übernachtet hat. Und die zweite Kombination brauchen wir, damit er uns zu der Pistole führt. Aber Patronen dürfen wir ihm nicht geben.«

»Aber doch wenigstens zeigen?« frage ich. »Was soll da schon passieren?«

»Und was hast du davon?«

»Weiß ich noch nicht«, bekenne ich ehrlich.

»Er kennt sich in Pistolen schlecht aus«, erinnert Valja. »Und in Kalibern auch.«

Da habe ich eine Idee. Hastig entwickle ich meinen Plan.

Kusmitsch schmunzelt sich in den Bart hinein. »Na bitte, versuch es«, sagt er. »Im großen und ganzen nicht schlecht ausgedacht. Bis auf eine schwache Stelle. Überleg dir, wo du alles her hast. Und dann laßt euch was zu der ersten Kombination einfallen. Die Adresse müssen wir unbedingt haben.«

»Vielleicht ist da auch die Pistole?« meint Valja.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagt Kusmitsch und wiegt den Kopf. »Außerdem müssen wir alles über den verübten Mord in Erfahrung bringen. Das ist der dritte Punkt.«

»Falls es überhaupt ein Mord ist«, sagt Valja.

»Ich bin überzeugt, daß sie etwas angestellt haben«, entgegne ich.

»Genau, es handelt sich um mehrere«, bemerkt Kusmitsch. »Der macht doch nicht allein einen Abstecher nach Moskau! Und das ist das vierte, was geklärt werden muß, ob er allein ist oder nicht, und wo die anderen sind. Wir müssen alle kriegen.«

Also muß viererlei geklärt werden: Wo ist die Pistole, wo hat sich Ljocha bisher in Moskau versteckt gehalten, was hat er verbrochen und wo, ist er allein nach Moskau gekommen, und wenn nicht - wo sind seine Komplizen?

Was die Pistole betrifft, da habe ich mir, glaube ich, eine gar nicht schlechte Kombination ausgedacht. Als wir Kusmitsch verlassen, sagt Valja Denissow zu meinem Plan: »Vielleicht führt uns die Pistole zu der Adresse, zu dem Verbrechen und zu den Mittätern. Meinst du nicht auch?«

»Man müßte es so machen«, antworte ich. Doch wie das zu machen ist, weiß ich einstweilen nicht, und das läßt mir keine Ruhe. Denn andere Anhaltspunkte haben wir vorläufig nicht.

Valja und ich gehen in mein Zimmer. Der Tisch meines Freundes Igor Otkalenko ist leer. Igor ist seit einer Woche auf Dienstreise.

»Ich denke, man muß ihn erschrecken«, schlägt Valja vor. »Damit er um Rat fragt, um Hilfe bittet.

Natürlich müßte man ihm vorher irgend etwas von sich selbst erzählen. Und dann...«

Ehe Valja ausgesprochen hat, klingelt das Telefon.

»Lossew«, sage ich in den Hörer.

»Tag, Vitjok«, antwortet lachend eine bekannte Stimme. »Schönen Gruß von Ljocha.«

»Guten Tag, Onkel Ilja«, gebe ich erfreut zurück, »was macht er denn?«

»Er hat wie ein Toter geschlafen. Und jetzt wartet er, daß ich mit Brot zurückkomme. Wir wollen frühstücken. In meiner Gegenwart hat er ein Weibsbild angerufen. Eine Musa Wladimirowna.«

»Was hat er zu ihr gesagt?«

»Nichts. Sie war nicht zu erreichen. Hoffentlich telefoniert er nicht in meiner Abwesenheit mit ihr. Wann kommst du?«

»So in anderthalb Stunden.«

»Habt ihr euch was überlegt?«

»Dies und das. Hat Ljocha was verlauten lassen?«

»Nichts. Er ist auf der Hut.«

»Na schön. Hast du dir die Nummer gemerkt, die er gewählt hat?«

»Klar. Schreib auf.« Ilja Sacharowitsch diktiert. Prachtkerl. Um seine Augen kann ihn ein Junger beneiden.

Wir verabschieden uns. Ich gebe Valja die Telefonnummer. »Stellt fest, um was für eine Institution es sich handelt und wer diese Musa Wladimirowna ist, wo sie wohnt und so weiter.«

Eine Stunde später fahre ich mit dem Auto zu Ilja Sacharowitsch. Unterwegs überlege ich, wie ich mich verhalten werde.

Wie ein Sturmwind fege ich in die kleine Wohnung. Kaum haben wir uns begrüßt, falle ich über Ljocha her. »Was hast du Blödmann bloß angerichtet? Die Leiche ist gefunden worden!«

Ljocha starrt mich sprachlos an, dann sagt er unsicher: »Ist sie nicht.«

»Denkst du! Die Kennzeichen stimmen!«

»Was für Kennzeichen?«

»Na deine, du Trottel, deine!«

»Wirklich?« Ljocha erschrickt. Doch seine schwarzen Äuglein unter den geschwollenen Lidern starren mich böse und mißtrauisch an.

»Immer mit der Ruhe«, sage ich. »Du bist hier in Moskau. Das ist was anderes als unterm Schlehenbaum liegen und sich den Wanst wärmen.« Und sachlich frage ich: »Wo hast du ihn umgelegt, in welchem Bezirk ungefähr?«

»Kenn ich eure Bezirke?« Ljocha hebt die Schultern.

»Dann beschreib die Stelle. Moskau kenne ich wie meine Westentasche.«

»Wozu brauchst du das eigentlich?«

»Der muß doch ein Brett vor dem Kopf haben!« Ich rufe Ilja Sacharowitsch als Zeugen an und wende mich wieder an Ljocha: »Begreifst du denn nicht, in was du reingerasselt bist? Wenn sie dich wegen Mord suchen, dann kommst du von hier nicht heil weg, ist dir das klar?«

»Allein auf keinen Fall!« bestätigt Ilja Sacharowitsch. »Bloß dann, wenn ihm einer hilft.«

»Was kann derjenige denn machen?« fragt Ljocha nervös. Er raucht hastig an, lehnt sich auf dem Stuhl zurück und betrachtet mich forschend.

»Alles, was notwendig ist. Zum Beispiel blaue Bohnen besorgen, wie wir es vereinbart haben. Oder hast du's dir anders überlegt?«

»Wieso denn?« ruft Ljocha lebhaft. »Immer her damit.«

»Nein, mein lieber Freund«, sage ich ruhig. »Ich warte noch, ehe ich das Geschäft mit dir mache. Meine blauen Bohnen wachsen nicht im Wald. Und die Freiheit hab ich auch noch nicht satt. Weißt du, was auf solche Geschäfte steht?«

»Warum willst du noch warten?«

»Weil ich wissen möchte, ob sie dich tatsächlich suchen oder ob hier ein Fehler vorliegt.«

»Du sagst doch, sie suchen«, entgegnet Ljocha düster, »oder faselst du bloß?«

»Ich fasle nicht. Und deine Kennzeichen stimmen mit denen überein, die man mir zugeflüstert hat.« Ich blicke in Ljochas Visage. »Es geht um die Leiche. Wo hast du den Mann umgelegt?«

»Ich sag dir doch, ich weiß es nicht.«

»Willst du mich für dumm verkaufen, Ljocha?« sage ich drohend. »Aus Moskau kommst du jetzt nicht mehr raus. Du sitzt fest.« Ich halte ihm die Faust vor die Nase.

Ljocha zieht nervös an der Zigarette und drückt sie, ohne sie zu Ende geraucht zu haben, wütend in den Aschenbecher. »Na schön«, sagt er entschlossen. »Erinnern wir uns mal.« Er kraust die Stirn und kratzt sich im Nacken. »Also folgendermaßen. Da war 'ne riesige Kirche. Die war sogar von dem Hof dort zu sehen. Außerdem waren Bahnhöfe in der Nähe. In dem Hof haben wir ihn. abends.«

Ljocha hat zum erstenmal »wir« gesagt.

»Habt ihr ihn wirklich abgeknallt?«, fragt Ilja Sacharowitsch.

»Was nicht noch«, antwortet Ljocha und grinst selbstzufrieden. »Wir haben ihn - zack! Und kein Schnaufer mehr. Dann hat ihm Pest noch mit einem Stein über die Rübe. Und wir sind abgehauen.«

»Dann ist er vielleicht gar nicht tot?« frage ich.

»Doch, doch«, antwortet Ljocha. »Er hat nicht mehr geatmet.«

»Aber ihr seid doch getürmt.«

»Wir sind noch mal zurückgegangen. Haben ihn in einen Schuppen geschleppt und hinter Brettern versteckt. Bis zum Frühling findet ihn da keiner.«

»Und wessen Schuppen ist das?«

»Weiß der Henker. Wir haben das Schloß aufgebrochen und dann wieder angehängt. Sie können ihn nicht gefunden haben, das ist alles Faselei«, schließt Ljocha überzeugt.

»War es nicht schrecklich für dich, Ljocha, jemanden umzubringen?« fragt Ilja Sacharowitsch.

»Was ist daran schrecklich?« entgegnet Ljocha forsch. »Zack - und fertig.«

»Da ist 'ne Menge schrecklich dran«, sagt Ilja Sacharowitsch und seufzt. »Natürlich nur, wenn es das erste Mal ist. Ein Menschenleben, Ljocha, hat seinen Wert. Möchtest du zum Beispiel abkratzen?«

»Wer möchte das schon?«

»Na siehst du. Und da sagst du, es wäre nicht schrecklich.«

»Ich war ja betrunken«, sagt Ljocha mürrisch.

»Aha, ich glaube, ich weiß, welcher Bezirk das ist. Berichtige mich, wenn ich mich irre«, sage ich zögernd, als wühlte ich in meinem Gedächtnis. »Ein Durchgangshof. Von dort ist die Jelochowskaja-Kirche zu sehen. Ein Eisentor, mit Kette, aber man kann durchgehen.«

»Das Tor ist im Haus, ein Zaun ist da nicht«, erklärt Ljocha.

»Genau. Der Hof ist nicht groß, ziemlich eng«, fahre ich fort, als erinnerte ich mich. »In der Mitte ein Spielplatz, rechts Schuppen, ungefähr sechs, stimmt's?«

»Genau!« Ljocha starrt mich verwundert an. »Bloß sind die Schuppen hinter dem Spielplatz. Und das Haus ist rechts.«

»Aha. Zweistöckig, ein Ziegelbau.«

»Nein. Vierstöckig. Und aus dem zweiten Stock kam der, den wir.« Ljocha stockt plötzlich, als sei ihm bewußt geworden, daß er zuviel gesagt hat, und grinsend, um meine Aufmerksamkeit abzulenken, fügt er hinzu: »Solche Idioten! Mitten im Winter fällt es ihnen ein, das Tor grün anzustreichen.«

»Schon gut.« Geringschätzig winke ich ab, als hätte ich es satt, mich mit diesem ganzen Quatsch zu belasten.

Jetzt dürfte der Hof zu finden sein. Doch die Pistole läßt mir keine Ruhe. Wenn ich die Waffe nicht finde, wenn einer der Banditen sie behält, kann Schlimmes passieren. Also muß ich das Gespräch auf die Pistole bringen, und da kommt mir zustatten, was wir »zu Hause« vorbereitet haben.

Verächtlich hole ich Patronen aus der Tasche und streue sie vor Ljocha auf den Tisch. Argwöhnisch betrachtet er sie.

»Erkennst du sie?« frage ich spöttisch.

»Was gibt's da zu erkennen?« antwortet Ljocha im gleichen Ton.

»Oh, heilige Einfalt! Das sind doch alles verschiedene Kaliber. Das sieht man mit bloßem Auge.« Ich lege zwei Patronen nebeneinander. »Das ist für die >Walther< Modell 3, und für einen Nagant. Und diese hier«, ich schiebe ihm die dritte Patrone hin, »ist für eine TT. Welche brauchst du, na?«

Ljocha reibt sich verdutzt die Nase. »Wahrscheinlich >Walther<.«

»Wahrscheinlich!« äffe ich ihn nach. »Und welche Nummer?«

»Weiß der Henker!«

»Also hol sie her, dann probieren wir.«

»Sieh mal an, so 'n >Probierer< «, sagt Ljocha mißtrauisch, beugt sich über den Tisch und betrachtet die Patronen, ohne sie anzufassen, dann lehnt er sich zurück, schiebt die Hände in die Taschen und erklärt: »Ich nehme sie mit, und dort werden sie probiert.«

»Dort sollen sie ihre eigenen probieren«, antworte ich scharf. »Diese gebe ich nicht aus der Hand, mein Freund. Es sind nicht meine.«

»Ich lasse dir Geld hier.«

Ich weiß, daß Ljocha dieses Haus nicht mehr ungesehen verlassen kann. Sobald er auf die Straße tritt, wird er beschattet, und dann führt er unsere Jungs zu dem Ort, wo die Pistole versteckt ist, oder zu dem wahren Besitzer. Vielleicht führt er uns zu Pest? Oder zu einem dritten, falls er existiert? Die Patronen darf ich Ljocha trotzdem nicht geben. Das fehlte gerade noch, daß wir diese Halunken mit Patronen versorgen! Das könnte ein Menschenleben kosten.

»Also folgendes«, sage ich entschlossen, an Ljocha gewandt. »Willst du die Bohnen probieren oder nicht?«

»Natürlich«, antwortet er prompt.

»Dann komm. Ich seh mir eure Kanone mal an.«

»Ich soll mit dir fahren?«

»Mit mir. Was glotzt du so?« sage ich lächelnd. »Hab keine Angst, ich tu dir nichts.«

»Warum solltest du mir was tun«, brummt Ljocha, der sich von meinem plötzlichen Vorschlag noch nicht erholt hat. »Ohne Grund tun wir auch keinem was.«

»Also habt ihr dem, der jetzt hinter den Brettern liegt, auch nicht ohne Grund was getan«, meint Ilja Sacharowitsch.

»Genau«, antwortet Ljocha verdrossen.

»Wie haben sich denn eure Wege gekreuzt, wenn du zum erstenmal in Moskau bist und er, wie's aussieht, ein Hiesiger ist?« bohrt Ilja Sacharowitsch.

»Er ist auch aus unserer Gegend.«

»Weshalb habt ihr ihn dann nicht bei euch um die Ecke gebracht?« fragt Ilja Sacharowitsch verwundert. »Wäre das nicht viel einfacher gewesen, ihr Pinsel?«

»Es mußte so sein«, entgegnet Ljocha unzufrieden und warnt: »Laß mich endlich in Ruhe, Onkel Ilja. Über diese Sache quatsche ich nicht mehr. Ich darf nicht.«

»Oh!« Ilja Sacharowitsch wendet sich an mich. »Hast du gehört, Vitjok? Ich sage dir doch, der Junge ist echt.« Er weist auf Ljocha. »Du kannst ihm völlig vertrauen. Wie er uns.«

»Also fahren wir?« frage ich.

»Vorläufig fahren wir nirgends hin, klar?« antwortet Ljocha hitzig. »Pest hat sie, die Kanone. Sie gehört ihm. Bloß blaue Bohnen hat er nicht. Er gibt dir dafür, was du willst.«

»Nun, und worauf warten wir?«

»Auf Pest«, antwortet Ljocha ebenso hitzig. »Seit wir an dem Abend auseinandergelaufen sind, haben wir uns nicht mehr getroffen. Ich hatte Angst, zu der Adresse zu gehen, wo ich übernachten sollte. Zu einer Frau. Und da bin ich auf euch gestoßen. Pest hat mich verloren. Und vorläufig weiß ich nichts über ihn.«

»Und weiter?« frage ich kalt.

»Weiter? Ich hab Schokoladen-Musa angerufen, seine Kleine«, fährt Ljocha willig fort. »Am Telefon hat sie mir was vorgemacht. Will den Namen Pest nicht mal hören. Wir müssen uns treffen, sagt sie, in der Stadt. Zu ihr darf ich nicht.«

»Kennst du sie überhaupt?«

»Was heißt hier kennen? Von weitem hab ich sie zweimal gesehen.«

»Wohnt Pest bei ihr?«

»Weiß der Henker. Vielleicht.«

»Und wie willst du ihn finden?« frage ich.

»Ich treffe mich mit Schokoladen-Musa um vier, dann gibt sie mir Bescheid. Ist es von hier weit bis zum Belorussischen Bahnhof?«

»Von hier aus ist es überallhin weit«, antworte ich zerstreut. »Dies ist das Ende von Moskau.«

Ljocha ist redselig geworden. Warum plötzlich? Ist er so erschrocken? Seine Lage ist natürlich nicht beneidenswert. Das weiß er. Es qualmt schon, wenn's nicht sogar schon brennt. Aber er macht nicht den Eindruck, als wäre er in Panik. Fremdes Blut an den Händen verändert allerdings manches in der Psyche. Seinen augenblicklichen Zustand muß ich unbedingt ausnutzen.

»Vergiß nicht«, sage ich nachdrücklich zu ihm. »Wenn du einen Mord auf dem Kerbholz hast, dann kann das Höchststrafe bedeuten. Trau keinem. Gott nicht, und dem Teufel auch nicht. Pest zum Beispiel. Wie gut kennst du ihn?«

»Der hält bis ans Grab zu mir.«

»Bis ans Grab hält keiner zu dir, weder der Bruder noch der Freund. Nur die Mutter, klar? Hast du deine Mutter noch?«

»Ja«, antwortet Ljocha unwillig.

»Prächtig. Sonst haben wir nämlich keinen auf der Welt. Außer ihr weint niemand um dich.«

»Pest ist mein alter Kumpel«, sagt Ljocha eigensinnig, »der ist mir nie in den Rücken gefallen. Da kannst du ganz beruhigt sein.«

Anscheinend bereitet er mich auf eine Begegnung mit diesem Pest vor.

»Ha!« rufe ich ironisch aus. »Was habt ihr denn schon groß angestellt? Mal einem die Fresse poliert? Oder als kleine Bengel aus einem Kiosk Bonbons geklaut?«

»Wir hatten was Beßres als Kioske«, erwidert Ljocha selbstzufrieden.

»Wo habt ihr gearbeitet?«

»Bei uns.«

»Und wo ist das?«

»In... Jushnomorsk.«

»Sieh an. Direkt am blauen Meer also?«

»Hmhm.«

»Und von dort haben sie dich zur Erholung weggeschickt?«

»Ich hatte mir was eingebrockt«, sagt Ljocha und seufzt unwillkürlich. »Zweimal haben sie mich geschnappt. Einmal haben sie mir zwei Jahre aufgebrummt, und dann fünf. Paragraph hundertvierundvierzig, Abschnitt zwei, und neunundachtzig, ebenfalls Abschnitt zwei.«

Bezüglich des ersten Paragraphen kommen mir keine Zweifel, höchstwahrscheinlich Einbruchsdiebstahl, das paßt durchaus zu Ljocha. Aber was den zweiten Paragraphen betrifft, da lügt er bestimmt, um seinen Wert, seine Autorität höherzuschrauben. Das ist bei denen so üblich. Dieser Paragraph ist nichts für ihn - schwerer Diebstahl von Staatseigentum durch eine Gruppe oder unter Anwendung technischer Mittel. Selbstverständlich lügt er.

»Wo hast du das letzte Mal gesessen?« frage ich weiter.

»In Mordwinien, verschärfte Bedingungen«, teilt Ljocha leicht prahlerisch mit. »Dort hab ich Pest kennengelernt. Und dort sind wir Kumpel geworden. Er ist auch aus unsrer Gegend. Dann sind wir zusammen rausgekommen.«

»Und wen hat er in Jushnomorsk?«

»Die Mutter, die Frau und die Tochter«, sagt Ljocha grinsend. »Drei Generationen von Weibsen heulen sich die Augen nach ihm aus.«

Ich schaue auf die Uhr und sage: »Bis zum Belorussischen Bahnhof brauchen wir lange. Es ist Zeit, Ljocha, daß wir aufbrechen.« Ich sage das in einem Ton, als wäre unsere gemeinsame Fahrt schon längst besprochen und entschieden.

»In Ordnung«, antwortet Ljocha unbekümmert und offenbar sogar erfreut. »Gehn wir. Ach, ich mache dich mit 'ner Puppe bekannt, da haut's dich um.«

Und aus irgendeinem Grunde scheint es mir, als treibe einer mit dem anderen sein Spiel, ein ernstes zudem.

Wir suchen Pest

Als Valja Denissow und ich uns an dem Morgen trennten, ging er in sein Zimmer zurück, zog sich die Jacke aus und machte sich an die Arbeit. Valja ist in allem, und besonders in der Arbeit, überaus penibel -wie ein alter Junggeselle. Niemals vergißt er etwas, alle in einer Sache gesammelten Angaben, selbst die geringfügigsten, ordnet er so genau und gewissenhaft, daß die Weiterarbeit hundertfach leichter wird. Auch gekleidet ist Valja immer sehr penibel, ein wenig geckenhaft sogar. Sein Äußeres führt manchen irre. Mittelgroß, schlank, elegant, die blonden Haare modisch geschnitten, nachdenkliche große blaue Augen im schmalen Gesicht, die Hände eines Musikers, die Stirn vornehm blaß. Nun, geradezu ein armer Werther mit seinen Leiden, nicht aber ein Fahnder der Miliz. Erst wenn man Valja gut kennt, verschwindet dieser Eindruck.

An diesem Morgen arbeitete Valja so gründlich wie immer. Er wählte sofort die Telefonnummer, die ich ihm gegeben hatte, und erkundigte sich höflich: »Entschuldigen Sie, junge Frau, ist dort die Poliklinik?«

Eine fröhliche Frauenstimme antwortete: »Ich werde bald Großmutter, junger Mann. Hier ist nicht die Poliklinik. In die Poliklinik wird gelegentlich einer gebracht, der bei uns gewesen ist. Oder zur Miliz.«

»Oho!« wunderte sich Valja. »Nun, junge Frauen und Großmütter sind am Telefon leicht zu verwechseln. Jedenfalls haben Sie eine erstaunlich junge Stimme. Aber wen schaffen Sie in die Poliklinik? Oder zur Miliz? Sie haben mich wirklich neugierig gemacht.«

»Darauf will ich Ihnen mit meiner jungen Stimme antworten«, sagte die Frau lachend. »Wer zuviel ißt, wird in die Poliklinik geschafft, wer zuviel trinkt, zur Miliz.«

»Alles klar«, antwortete Valja. »Und Sie bieten so schmackhafte Gerichte an, daß man zuviel davon essen kann? Beschönigen Sie nicht die rauhe Wirklichkeit?«

»Kommen Sie her und probieren Sie. Sie werden es nicht bereuen;«

»Ausgezeichnet. Ich werde kommen und Freunde mitbringen. Wie nennen Sie sich, und wo befinden Sie sich? Diktieren Sie, ich notiere.«

Valja begab sich in das Restaurant, ohne in dem Gespräch mit der unbekannten Frau den Namen Musa Wladimirowna auch nur erwähnt zu haben. Er war im stillen zu dem Schluß gekommen, daß diese Frau auf keinen Fall Musa Wladimirowna sein könne, die hatte es, so mußte man annehmen, bis zur Großmutter noch weit.

Doch vorher fuhr Valja in die Verwaltung, der alle Moskauer Restaurants unterstehen, ging zu den Kaderleuten, stellte sich in aller Form vor und bat, ihm einen vorläufigen Ausweis zu geben, der ihn als Kaderinspektor legitimierte.

»Ich muß in zwei Bezirken etwas nachprüfen«, teilte Valja nebelhaft mit.

Die Kriminalmiliz ist nicht die OBChSS[1], und dieser Umstand wurde, wie Valja erwartet hatte, mit sichtlicher Erleichterung aufgenommen.

Dennoch fragte der Abteilungsleiter, zu dem Valja schließlich geschickt wurde, ein grauhaariger, fülliger, hochmütig aussehender Mann: »Haben Sie einen konkreten Verdacht?«

»Nein«, antwortete Valja kurz und zwinkerte mit seinen langen mädchenhaften Wimpern.

»Also gehen Sie aufs Geratewohl«, konstatierte der Dicke mehr, als daß er fragte, und schlug vor: »Wir können helfen, wenn's recht ist.«

»Schwerlich«, antwortete Valja.

»Ach, so ist das«, sagte der Dicke spöttisch. »Aber wir sind auch nicht von gestern, junger Mann. Ich, zum Beispiel, habe schon mit Menschen gearbeitet, als Sie sicherlich noch nicht auf der Welt waren. Ich rate Ihnen, nicht geringschätzig zu sein.«

Valja entgegnete kaltblütig: »Seien Sie so gut, halten Sie mich nicht auf.«

Der Dicke war wie vor den Kopf geschlagen. Er blickte Valja verwirrt und feindselig an und murmelte schließlich: »Nun, meinetwegen.«

Er unterschrieb eilig das Papier, das Valja vor ihn hingelegt hatte, lehnte sich im Sessel zurück und erklärte: »Ausnahmsweise. Nächstes Mal kümmern Sie sich rechtzeitig um ein spezielles Schreiben Ihrer Leitung. Ich wünsche Erfolg.« Er hatte die alte herablassende Selbstsicherheit zurückgewonnen.

»Ich danke Ihnen«, antwortete Valja höflich, als er das Papier nahm. »Nächstes Mal kümmere ich mich bestimmt darum. Alles Gute.«

Valja begab sich unverzüglich in das Restaurant, das sich keineswegs in dem Bezirk befand, den er in der Verwaltung genannt hatte. Er brauchte nicht weit zu fahren.

Es war bald Mittag, und Valja betrat mit sorgloser Miene das Restaurant. Er hatte beschlossen, sich zunächst einmal umzuschauen und vielleicht sogar zu essen. Warum auch nicht? Er kam ohnehin nicht jeden Tag zu einem Mittagessen! Das Restaurant wirkte unansehnlich, trotz seines prunkvollen Namens, der etwas ganz Überirdisches verhieß. Alles hier war langweilig, alltäglich, grau. Angeschmutzte Tischtücher, billige rosa Plastbecher für Papierservietten, trostlose, dunkel gemusterte Wände, geschmacklose Standardlüster, abgeschabte grüne Plüschvorhänge an den schmalen Fenstern.

Er mußte lange auf die Kellnerin warten, obwohl das Lokal halb leer war. Indessen konnte sich Valja akklimatisieren und ein wenig nachdenken. Wer mochte diese Musa Wladimirowna sein, eine Kellnerin? Wahrscheinlich. Dann hatten die zugereisten Kerle sie leicht kennenlernen können. Und sie hatte ihnen gleich ihre Telefonnummer gegeben und ein Treffen vereinbart? Das wunderte Valja nicht. Dergleichen war ihm nicht neu.

Endlich erschien die Kellnerin, dick, nicht mehr jung, schläfrig. Sie zog einen kleinen Notizblock aus der Tasche und stellte sich schweigend darauf ein, eine Bestellung zu hören.

»Erst einmal - guten Tag«, sagte Valja schmunzelnd.

»Guten Tag«, antwortete die Kellnerin gereizt. Und in demselben unliebenswürdigen Ton fragte sie: »Was wollen Sie essen?«

Valja musterte sie interessiert und sagte plötzlich: »Es ist langweilig bei Ihnen, stimmt's?«

»Was soll mittags hier schon los sein? Nehmen Sie dreihundert Gramm Kognak, dann wird's gleich lustiger.« Auf ihrem blassen schlaffen Gesicht erschien ein dreistes Lächeln.

»Und dann geh ich den Beschwerden auf den Grund«, sagte Valja seufzend.

Die Kellnerin stutzte. »Was für Beschwerden?«

»Die üblichen. Die bei uns in der Verwaltung einlaufen.«

»Natürlich! Die können immer bloß schreiben!« rief die Kellnerin empört. »Wissen Sie, was für'n Gelichter hier reinkommt? Für eine Kopeke trinken sie, verlangen aber eine Bedienung für hundert Rubel. Tun, als wären sie Barone von und zu, besonders, wenn sie 'ne Dame bei sich haben. Und wenn was nicht paßt, gleich schreiben sie. Sind alle mächtig schriftgelehrt heutzutage.«

»Dennoch ist unser Personal nicht immer Spitze«, bemerkte Valja belehrend. »Es fehlt an Selbstkritik.«

»An Nerven fehlt's!« brauste die Kellnerin auf. »Die Selbstkritik steht uns bis hier.« Sie führte die rundliche Hand zum Hals. Dann fragte sie neugierig: »Über wen hat man sich denn beschwert?«

»Darüber darf ich noch nicht sprechen«, antwortete Valja großspurig und griff nach der fleckigen Speisekarte. »Nun, was nehmen wir denn?« Er blickte zur Kellnerin auf. »Wie ist übrigens Ihr Name?«

»Katja. Lawotschkina...« Sie machte eine Pause, überwand sich und fragte: »Beschwert man sich zufällig auch über mich?«

Valja lächelte gutmütig. »Also meinetwegen, ich gebe Ihnen jetzt ein Dienstgeheimnis preis - über Sie nicht.«

»Oh, ich weiß, über wen«, Katja klatschte erfreut in die Hände. »Ganz genau. Bestimmt über Vera Woronina, nicht?«

»Nein.« Valja schüttelte geheimnisvoll den Kopf und stachelte sie damit zu neuen Mutmaßungen an.

»Dann Maria.«

»Auch nicht Maria.«

»Etwa Ljubka Spiridonowa?«

»Auch nicht Ljubka.« Valja lächelte und gab damit zu verstehen, daß er den Namen nicht nennen könne, aber nicht widersprechen werde, wenn Katja ihn erriete.

»Wen haben wir denn noch? Doch wohl nicht Musa? Mit der sind immer alle zufrieden.«

»Warum sind alle mit ihr zufrieden?« fragte Valja so gleichgültig wie möglich.

»Oh, die versteht's, man könnte neidisch werden.« Katja winkte ab. »Die macht es jedem recht. Jeden lächelt sie an. Muß das denn sein? Ich, zum Beispiel, kann das nicht. Und außerdem ist Musa hübsch. Das ist auch wichtig, wissen Sie.« Katja seufzte. »Ihr wird alles verziehen.«

»Ist sie Aktivistin der kommunistischen Arbeit?« erkundigte sich Valja sachlich.

»Klar. Und ins Betriebsgewerkschaftskomitee wurde sie auch gewählt.«

»Also beziehen sich die Beschwerden nicht auf Ihre Schicht«, schloß Valja und wandte sich wieder der Speisekarte zu. »Tja, was essen wir?«

»Bitte sehr«, reagierte Katja bereitwillig. »Als Vorspeise läßt sich Fisch organisieren. Wir haben Stör bekommen. Ganz frisch.«

»Aber auf der Speisekarte.«

»Lassen Sie mich nur machen«, unterbrach ihn Katja energisch. »Und dann Zunge.«

Kurz und gut, Valja kam zu einem überraschend guten Mittagessen, das ein großes Loch in sein Budget riß.

»Danke, Genossin Lawotschkina«, sagte Valja feierlich zum Schluß und ließ ihr das Wechselgeld. Dann ging er in das Zimmer des Direktors.

Dort traf er einen Mann in mittleren Jahren an, groß, braungebrannt, mit magerem Gesicht, dünner Adlernase und tiefen Geheimratsecken. Er trug einen modernen Anzug, ein schneeweißes Oberhemd und einen gestreiften Schlips. An seinem dicht behaarten Handgelenk prangte eine ungewöhnliche Uhr mit breitem goldenem Armband. Selbstherrlich rekelte er sich im Sessel.

»Bitte«, sagte er liebenswürdig und lud Valja mit einer großartigen Geste ein, in dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Was kann ich für Sie tun?«

Valja lächelte. »Machen Sie sich zunächst einmal damit vertraut.« Er reichte den provisorischen Ausweis, den er in der Verwaltung erhalten hatte, über den Tisch, der Direktor warf einen Blick darauf und gab ihn sofort zurück.

»Alles klar. Bitte.« Offensichtlich hatte man ihm bereits mitgeteilt, daß ein Inspektor erschienen war.

Valja erklärte kurz seinen Besuch und fügte hinzu: »Eine rein prophylaktische Maßnahme. Niemand wird konkret verdächtigt. Ich möchte mich nur allgemein über die Kader informieren.«

»Ich verstehe.« Der Direktor zog eine Schublade auf, wühlte in Papieren, holte irgendwelche Listen hervor und gab sie Valja. »Um operativ leiten zu können, habe ich stets eine Kopie zur Hand. Hier finden Sie Namen, Tätigkeit, Wohnanschrift und Telefonnummer.«

»Nun, dann sehen wir das mal durch.«

»Augenblick.« Der Direktor schnellte empor, ging zur Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und sagte zu jemand in dem engen Korridor: »Valetschka, ich bin weggefahren.« Er schloß die Tür, kehrte zum Tisch zurück und fragte bereitwillig: »Na, wie ist es? Fangen wir mit den Kellnerinnen an?«

»Gut«, stimmte Valja zu. »Ich bitte aber um völlige Offenheit. Mich interessieren Charakter, Schulbildung, Führung. Auch der Familienstand.« Lächelnd breitete er die Arme aus. »Ich muß alles wissen. So ist nun mal meine Arbeit.«

»Ich verstehe, ich verstehe.« Der Direktor nickte ernst.

Er nannte die Namen der Kellnerinnen und charakterisierte jede mit wenigen Worten. Valja hörte aufmerksam zu, stellte hier und da ergänzende Fragen und machte sich Notizen.

Der Direktor zählte indessen gewissenhaft sämtliche Nöte und Verfehlungen seiner Untergebenen auf, ohne übrigens ihre positiven Eigenschaften zu vergessen. Eine war schon dreimal ausgezeichnet worden, eine andere war erst kürzlich irgendwohin delegiert worden, vertrug sich aber nicht mit ihrem Mann, der Mann einer dritten saß im Gefängnis, er war ein Trunkenbold und Radaubruder, und sie war schon mit blauen Flecken zur Arbeit gekommen, die vierte hatte lange Finger, besserte sich nun allerdings. Und die fünfte war gewissenhaft, höflich und anständig, doch jeder Kerl verdrehte ihr den Kopf, und nachher gab es Tragödien, da wollte sie sich ertränken, erhängen und vergiften. Nun, und diese hier war faul, außerdem log sie, und er hätte sie längst entlassen, wenn ihm nicht ihre Kinder leid täten, sie hatte drei, von drei Vätern übrigens, und die Dumme verlangte keine Alimente. Diese Dumme war Katja Lawotschkina. Schließlich erklärte der Direktor mürrisch: »Und nun zu Musa Wladimirowna Lesnowa: Da ist nicht viel zu sagen. Sie ist so einigermaßen. Überheblich, frech, ich würde meinen - eine Egoistin durch und durch. Übrigens kann ich ihr nichts Schlechtes nachsagen«, fügte er unlustig hinzu.

»Ist Ihnen ihr Familienstand bekannt?« fragte Valja, als habe ihn die eintönige Aufzählung ermüdet.

»Im Grunde alleinstehend«, bemerkte der Direktor geringschätzig. »Sie soll hier in Moskau ihre Mutter haben. Und Musa Wladimirowna selbst... Ich glaube, sie hat ein Kind.«

»Wie ist sie in der Arbeit?«

»Ganz gut, Klagen gibt's nicht. Sie wurde ins Gewerkschaftskomitee gewählt. Freilich kokettiert sie gern mit den Gästen. Das stört, wissen Sie. Allerlei Zudringlichkeiten, Flirts. Da muß man reagieren. Und daher natürlich verschiedene Redereien. Und überhaupt.«

»Was heißt >Redereien

»Nun, wie soll ich es Ihnen sagen?« stammelte der Direktor. »Na ja, sie soll da jemand haben«, sagte er ärgerlich. »Kurzum, sie hat sich verliebt.«

»Gefällt Ihnen das nicht?«

»Das möcht ich nicht sagen. Aber trotzdem. Eine Zufallsbekanntschaft.«

Plötzlich kam Valja die Erleuchtung. Offenbar hatte es der Direktor selbst auf Musa abgesehen, kam aber nicht zum Zuge. Und deshalb schäumte er, versuchte einen Schatten auf sie zu werfen.

»Wissen Sie, was das für ein Mann ist?« fragte Valja unumwunden. »Das ist nicht bloße Neugierde. Wenn er ein guter Mann ist, dann - viel Glück. Aber wenn er schlecht ist, Sie verstehen.«

»Woher soll ich das wissen?« knurrte der Direktor ärgerlich. Er zog die schwarzen buschigen Brauen über der Adlernase zusammen. »Das weiß nicht mal ihre beste Freundin.«

Hat er tatsächlich die Freundin ausgefragt? dachte Valja.

»Wer ist ihre Freundin?«

»Unsere Buchhalterin. Ninotschka.«

»Schön, zur Buchhaltung kommen wir noch«, sagte Valja gleichmütig. »Gehen wir erst einmal die Kellnerinnen durch. Wer kommt nach der Lesnowa?«

Eilig, als freue er sich, daß das unangenehme Thema endlich erschöpft sei, nannte der Direktor neue Namen. Valja hörte aufmerksam zu, machte sich Notizen und stellte Fragen.

Als der Direktor dann zur Buchhaltung kam und Nina Skworzowa erwähnte, fragte Valja: »Ist das die Freundin?«

»Ja.«

»Wie ist sie?«

»Ein sehr gutes Mädchen. Die Ehrlichkeit in Person. Sie wohnt bei ihren Eltern. Keinerlei Verehrer. Hübsch ist sie, bescheiden. Ich kenne ihren Vater, wir haben zusammen gearbeitet. Ein sehr gutes Mädchen. Komsomolzin.«

»Was ist daran gut, daß sie keine Kavaliere hat?« fragte Valja lächelnd. »Bestimmt hat sie welche, aber Sie sind ja nicht verpflichtet, das zu wissen.«

»Wirklich, sie hat keine!« rief der Direktor erregt und wurde verlegen. »Natürlich. Es ist durchaus möglich.«

»Dann gehen wir weiter«, schlug Valja vor.

Er verlor sich in Vermutungen. Solch eine Freundin hatte sie also. Die Charakteristik rief bei ihm keinerlei Zweifel hervor. Aber was für ein Mensch war Musa? Es konnte nicht schaden, mit dieser Nina Skworzowa zu sprechen, vorsichtig, damit sie keinen Verdacht schöpfte.

Als der Direktor jeden Mitarbeiter ausführlich charakterisiert hatte, sagte Valja nach kurzem Schweigen: »Schön, jetzt bin ich im Bilde. Nicht jeder Leiter könnte so informieren wie Sie. Ich hätte nur eine Bitte. Könnten Sie mir für ein Stündchen irgendein Zimmer für zwei, drei kurze Gespräche überlassen?«

»Selbstverständlich!« rief der Direktor bereitwillig. »Nehmen Sie das Zimmer des Hauptbuchhalters. Der Arme ist krank, liegt schon die zweite Woche im Bett.«

»Danke. Schicken Sie mir eine Kellnerin, jemand aus der Küche und aus der Buchhaltung. Es sollen aber gute Kräfte sein, mit Bewußtsein, Sie verstehen.«

Nach einer Weile unterhielt sich Valja in dem kleinen Zimmer des Hauptbuchhalters schon mit der Kellnerin Vera Woronina, einem derben rothaarigen Mädchen mit sommersprossigem blassem Gesicht und müden Augen. Obwohl sie Aktivistin war und Delegierte irgendeiner Moskauer Konferenz, war sie gehemmt und wortkarg. Nach einer Viertelstunde verabschiedete sich Valja erleichtert von ihr, ohne eine einzige vernünftige Auskunft von ihr erhalten zu haben. Nicht minder erleichtert war wohl auch Vera, der unklar blieb, was der blutjunge Inspektor aus der Verwaltung eigentlich von ihr hatte hören wollen.

Nach ihr trat Nina Skworzowa ein. Valja erriet sofort, daß sie es war, noch ehe sie ihren Namen nannte. Nach der Beschreibung des Direktors hatte er sie sich genau so vorgestellt. Außerdem war Valja überzeugt gewesen, daß der Direktor, nach der Charakteristik, die er ihr gegeben hatte, keine andere aus der Buchhaltung schicken würde. Nina war mittelgroß und zierlich, sie hatte lange goldblonde Locken. Die großen grauen Augen blickten ernst, ein wenig unruhig. Der adrette weiße Kittel betonte ihre schlanke Figur. Kurz und gut, Valja fand sie sehr sympathisch, er ertappte sich sogar bei dem Gedanken, daß es schön wäre, solch ein Mädchen in einer anderen Umgebung kennenzulernen und irgendwohin einzuladen.

Er stellte sich ihr ganz offiziell vor, und dann fragte er übertrieben streng: »Wie gefällt Ihnen die Arbeit hier?«

Das Mädchen lächelte kaum merklich. Dieses Lächeln stand ihr. Valja runzelte die Stirn, senkte den Blick und tat, als sehe er seine Notizen durch.

»Die Arbeit gefällt mir gut«, antwortete Nina sanft, als wolle sie ihn beschwichtigen. »Ich kann mich nicht beklagen.«

»Mich interessieren nicht nur die Klagen. Arbeiten Sie schon lange hier?«

»Zwei Jahre.«

»Haben Sie etwas zu kritisieren? Haben Sie Wünsche? Vielleicht sollte etwas verändert werden im Buchhaltungssystem, in der Rechnungsführung?«

»Oh, wo denken Sie hin?« Nina zuckte lächelnd die Schultern. »Ich habe keinerlei Wünsche. Dazu arbeite ich noch nicht lange genug. Ich bin ja sozusagen direkt von der Schulbank hergekommen. Mein Chef könnte Ihnen besser Auskunft geben.« Sie sah sich im Zimmer um. »Leider ist er krank, Grippe. Wieviel Kranke wir haben, wenn Sie wüßten...«

»Eine Epidemie«, sagte Valja seufzend. »Sogar in den Zeitungen wird darüber geschrieben. Und Sie hat es nicht erwischt?«

»Nein, aber mein Vater ist krank«, sagte Nina bekümmert. »Und auch eine Freundin. Sogar schwer. Die >Schnelle Medizinische Hilfe< mußte geholt werden.«

»Arbeitet Ihre Freundin hier?«

»Nein, wir haben zusammen studiert.«

»Bestimmt haben Sie auch hier viele Freundinnen. Mir scheint, Sie haben nette Kolleginnen.«

»Nicht nur nette. Aber natürlich habe ich hier auch Freundinnen.«

»Und wer sind Ihre Freundinnen?« fragte er.

»Wer? Nun, zwei, drei Mädchen.« Nina lächelte und fragte ein wenig verwundert: »Warum wollen Sie das wissen?«

»Weil der Mensch den am besten kennt, mit dem er befreundet ist. Eine Kellnerin hier hat mir manches von Ihnen erzählt. Nur Gutes. Und von Ihren Freundinnen ebenfalls.«

»Welche hat sie genannt?«

Valja zögerte. »Wie heißt sie doch. Musja, Mura. Jedenfalls so ähnlich.«

»Sicherlich Musa, nicht wahr?« sagte Nina lebhaft. »Sie ist tatsächlich meine Freundin. Nicht die beste, nicht die vertrauteste, aber doch eine gute Freundin. Leider hat sie eine Menge Verehrer. Das stört unsere Beziehung etwas.«

»Haben Sie weniger Verehrer?«

»Na hören Sie! Erstens ist Musa sehr hübsch. Und zweitens ist sie sehr fröhlich und gesellig. Sie muß immer Leute um sich haben.«

»Sie sind doch auch hübsch.«

»Mir fehlt Musas Charakter«, sagte Nina lachend. »Und das ist für Verehrer sehr wichtig. Was meinen Sie?«

»Ein geselliger Charakter bringt nicht immer nur Freude«, antwortete Valja belehrend. »So was artet manchmal in Anspruchslosigkeit aus. Da kann alles mögliche passieren.«

»Bei Musa ist das nicht so. Obwohl ich manchmal ziemlich perplex war, wenn ich ihre Verehrer sah.«

»Macht sie Sie mit allen bekannt?«

»Stellen Sie sich das vor.«

»Wissen Sie«, Valja senkte verschwörerhaft die Stimme, »ich möchte Ihnen etwas im Vertrauen sagen. Doch sollte ich mich geirrt haben, dürfen Sie das um so weniger ausplaudern. Versprechen Sie mir das? Sonst hat das recht unangenehme Folgen.«

Nina nickte. »Selbstverständlich.«

»Folgendes: Mir scheint, Ihr Direktor hat selbst versucht, Musa den Hof zu machen. Stimmt's?«

»Ja.« Nina lachte leise und senkte den Blick. »Es ist nur nichts daraus geworden. Sergej Iossifowitsch, unser Direktor, ist nicht mehr der Jüngste mit seinen sechsundfünfzig Jahren.«

»Und wie alt ist Musas Verehrer?«

»Fünfundzwanzig, schätze ich.«

»Schätzen Sie?« rief Valja unwillkürlich.

»Gewiß.« Nina lächelte. »Ich konnte ihn doch nicht fragen.«

»Wo haben Sie ihn gesehen?« fragte Valja so gleichgültig wie möglich, als sei ihm einerlei, was er frage, wenn er sich nur weiter so vertraulich mit Nina unterhalten könne.

»Bei Musa«, antwortete sie ruhig. »Er ist dienstlich hier, nicht für lange.«

»Also ist er kein Moskauer?«

»Nein, ich glaube, er ist aus Charkow.«

»Und wie hat er Ihnen gefallen, dieser Dienstreisende?« fragte Valja und ließ durchblicken, daß ihn nicht Musas Verehrer interessierte, sondern Ninas Ansicht über einen Menschen.

»Nicht besonders«, antwortete Nina zögernd. »Ich weiß selbst nicht, warum. Er ist höflich, sanft, irgendwie benebelnd. Aber Musa hat ihn sehr gern. Und er hat eine sportliche Figur.«

Valja stutzte. Der von Nina beschriebene Mann hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Ljocha. Zugleich sagte ihm der Instinkt des Fahnders, daß man diesen neuen Mann nicht außer acht lassen durfte, daß er nicht nur mit Musa, sondern möglicherweise auch mit Ljocha in Verbindung stand. Weshalb sonst hätte Musa so leicht eingewilligt, sich mit Ljocha zu treffen? Eine parallele Romanze? Ausgeschlossen. Wer war also Musas Verehrer?

»Sicherlich heiraten sie bald?« fragte Valja.

»Oh, das ist eine lange Geschichte.« Nina winkte ab. »Nikolai... Er heißt Nikolai. Zuerst muß er sich scheiden lassen. Aber seine Frau willigt nicht ein. Allerdings glaube ich das nicht so recht. Ich glaube ihm überhaupt nicht. Doch Musa tut es. Mit ihm ist sie lustig, bei mir weint sie sich aus.«

»Kennen sie sich schon lange?«

»Fast ein Jahr. In der Zeit ist er viermal hier gewesen.«

»Und hat bei Musa gewohnt?«

»Ich glaube, ja.« Nina wurde leicht verlegen.

»Ja, sie kann einem leid tun.« Valja seufzte. »Na, sollen sie sich selbst darüber klarwerden. Und wenn ich nun noch einmal mit Ihnen sprechen muß, sind Sie mir dann böse?«

Nina lächelte. »Sicherlich nicht.«

»Und. darf ich Sie anrufen?«

»Bitte.« Sie blickte Valja ernst und forschend an.

Sie verabschiedeten sich.

Auf dem Weg zu seiner Dienststelle dachte Valja über die wichtigen Angaben nach, die er erhalten hatte. Er kam zu dem Schluß, daß Ljocha und dieser verdächtige Dienstreisende, jeder auf seine Weise, dem leichtsinnigen Dummchen Musa blauen Dunst vormachten, und außerdem ließ sich der Dienstreisende Nikolai jedesmal, wenn er nach Moskau kam, häuslich bei ihr nieder. Als Valja schließlich in seinem Arbeitszimmer war, rief er zunächst Ilja Sacharowitsch an. Und der holte mich aus dem Vorraum zurück, wo Ljocha und ich uns anzogen, um zu dem Treffen mit Musa zu fahren.

So erhielt ich im letzten Augenblick wichtige Mitteilungen über Pest-Nikolai und seine Valjas Meinung nach leichtsinnige, vertrauensselige, aber durchaus ehrliche kleine Freundin.

Auf der Straße beschließt Ljocha ein Taxi zu nehmen. Wo mag er das viele Geld herhaben?

Wir steigen in den nach Benzin riechenden betagten Wagen und fahren eine Weile schweigend.

Mir scheint, Musa und Ljocha kennen sich nicht. Das stimmt völlig mit dem überein, was Valja mir in aller Eile am Telefon gesagt hat. Nikolai hat sich offenbar gescheut, das Mädchen mit so einer Banditenvisage bekannt zu machen. Und er selbst. Wie hat sich Valja ausgedrückt. Benebelnd. Ein vielsagendes Wort. Aber wenn Ljocha Musa nicht kennt, wie soll dann das Treffen vor sich gehen? Danach frage ich Ljocha leise, damit der Fahrer nichts hört.

Ljocha grinst. »Sie kennt mich nicht, aber ich kenne sie. Klar?«

»Nein«, sage ich streng.

»Pest und ich haben in ihrem Restaurant gegessen. Da hat er sie mir gezeigt.«

»Und weshalb hat er dich nicht vorgestellt?«

»Es mußte wohl so sein.«

»Vernünftig«, sage ich. »Und ihre Adresse hast du nicht?«

»Hmhm.«

»Noch vernünftiger. Hat Pest so entschieden?«

»Das haben wir gemeinsam entschieden«, knurrt Ljocha unwillig, offensichtlich will er seine untergeordnete Stellung nicht zugeben.

»Aber er hat erlaubt, daß du sie auf der Arbeit anrufst?«

»Was soll ich machen, wo wir uns doch verloren haben?«

Eine Zeitlang schweigen wir und schauen auf die vorbeihuschenden Häuser und den endlosen Passantenstrom. Weiter weg ist alles verschneit, die Höfe, die Bäume, die Dächer, doch auf der Fahrbahn und den Gehwegen hat sich der Schnee in schwarzen Matsch verwandelt. Die niedrige Sonne am blaßblauen reinen Himmel schimmert kupferfarben in den Scheiben der oberen Etagen der Hochhäuser. Es ist noch hell. Die Tage sind schon merklich länger.

»Was willst du eigentlich von ihr?« frage ich Ljocha.

»Ich muß wissen, wo Pest steckt«, sagt er und fügt geheimnisvoll hinzu: »Er hat alles, verstehst du?«

»Paß auf, daß du dich kultiviert benimmst, sonst erschreckst du sie.«

»Macht nichts, sie ist nicht aus Lehm und zerbröckelt nicht«, brummt Ljocha, doch ich merke, daß ihn die bevorstehende Begegnung beunruhigt.

Schließlich sind wir am Belorussischen Bahnhof. Treffpunkt ist der Metroeingang. Wie immer sind hier unheimlich viele Menschen. Wir treten zur Seite, und Ljocha mustert die Vorübergehenden. Ich stehe ein Stück von ihm entfernt, als gehörten wir nicht zusammen. Von der offenbar nicht einfachen Aufgabe, Musa zu erkennen, ist er völlig in Anspruch genommen - er hat sie ja erst einmal gesehen, ohne Mantel. In der Menge bemerke ich unsere Jungs. Wahrscheinlich sind sie uns gefolgt und lassen Ljocha nicht aus den Augen.

Nach ungefähr zehn Minuten stürzt sich Ljocha plötzlich unter die Leute. Bestimmt hat er Musa entdeckt. Er tritt zu einem hochgewachsenen Mädchen. Sie trägt einen hübschen Lammfellmantel mit flauschigem Kragen und eine große helle Pelzmütze. Ein sehr attraktives Mädchen. Der ungeschlachte Hüne Ljocha mit der ins Genick geschobenen Schirmmütze und dem billigen offenen Mantel, unter dem der aufgeknöpfte zerknitterte Hemdkragen hervorschaut, wirkt plump neben ihr.

Ich gehe um die beiden herum und sehe Musas gebräuntes Gesicht mit den schwarzen Brauen. Sie verzieht verächtlich die grell geschminkten Lippen. Ljocha und das, was er zu ihr sagt, sind ihr offensichtlich unangenehm. Ja, hübsch ist sie, alles, was recht ist. Einen treffenden Spitznamen hat man ihr angehängt - Schokolade. Ich nähere mich dem Paar so weit, daß ich Gesprächsfetzen verstehen kann.

»Und ich sage - nein«, erklärt Musa streng. »Kolja hat davon nichts gesagt. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, er wird Sie selbst anrufen.«

»Ich brauche ihn dringend, verstehst du?« knurrt Ljocha.

»Er ist jetzt sowieso nicht zu Hause. Und Sie...«

Da werde ich abgedrängt und höre die beiden nicht mehr. Als ich mich wieder herangepirscht habe, hat ihr Gespräch bereits einen anderen Charakter.

»Wo haben Sie denn Ihren Kumpel?« fragt Musa weniger kühl.

»Er ist mit mir hier«, sagt Ljocha beruhigt und deutet dorthin, wo er mich verlassen hat. »Er wartet, verstehst du?«

»Dann rufen Sie ihn, und wir fahren«, versetzt Musa ungeduldig.

Ihre Augen, die sonst sicherlich lustig, verschmitzt und zutraulich blicken, blitzen jetzt energisch. Unter der Pelzmütze quillt schönes schwarzes Haar hervor. Tatsächlich - Schokolade. Valja sagt, sie will diesen Pest sogar heiraten. Und er schwindelt ihr was vor, gibt sich als Dienstreisender aus, bemüht sich angeblich um die Scheidung von seiner Frau. Gekleidet ist sie wie ein Püppchen. Ob Pest ihr solche Geschenke macht? Ich frage mich wieder, wo sie das viele Geld herhaben. Wenn wir den Grund für den Mord erfahren, werden wir bestimmt auch die Quelle ihres Einkommens finden.

Indessen ziehe ich mich zu meinem Platz am Metroeingang zurück, und gleich darauf erscheint Ljocha.

»Wir fahren«, ruft er mir zu, ohne stehenzubleiben.

Ich laufe ihm nach.

Musa erwartet uns am Rand des Trottoirs. Artig stelle ich mich vor: »Vitja.«

»Musa.« Sie gibt mir die Hand und betrachtet mich mit unverhohlenem Interesse. Dann wendet sie sich an Ljocha: »Ljocha, holen Sie ein Taxi. Drüben stehen welche.« Sie weist auf den Platz. »Wir warten hier auf Sie.«

Widerspruchslos läuft Ljocha los.

Wir bleiben allein.

»Sind Sie auch fremd hier?« fragt Musa lächelnd.

»Nein, ich bin Moskauer.«

»Wie haben Sie Ljocha kennengelernt?«

»Zufällig«, antworte ich und füge, ebenfalls lächelnd, hinzu: »Können Sie sich das vorstellen? Es hat uns auf den ersten Blick zueinander hingezogen.«

»Oh, das nehme ich Ihnen nicht ab«, sagt Musa lachend. »Sind Sie auch mit Kolja bekannt? Zu ihm hat es Sie nicht hingezogen?«

»Es ist Ljocha, der mich zu ihm hinzieht«, antworte ich in ihrem Ton und frage: »Und zu welchem von beiden zieht es Sie?«

Musa seufzt, und plötzlich erklärt sie: »Wissen Sie, Kolja ist ein guter Mensch, aber ein Pechvogel.« Neugierig erkundigt sie sich: »Wo arbeiten Sie?«

»In einer Werkstatt«, teile ich unbekümmert mit, denn auf diese Frage bin ich vorbereitet. »Reparatur von Lederwaren. Auf der Sretenka.«

»Oh, da bekommen Sie bestimmt hübsche Sachen in die Hände?«

Ich lächle schlau. »Gelegentlich. Für gute Freunde natürlich.«

»Und wenn wir beide nun Freunde werden?« fragt Musa kokett. »Ich brauche ganz dringend eine Tasche zu blauen Schuhen. Natürlich nicht aus unserer Produktion.«

»Bei uns gibt es, wie in Griechenland, alles«, sage ich.

»Oh, Vitja, Sie sind ein Schatz!« Musa klatscht in die Hände. »Mit Ihnen muß man Freundschaft halten, das hab ich gleich begriffen.«

»Das muß man unbedingt«, bestätige ich und frage ungeniert: »Und wo arbeiten Sie?«

»In einem Restaurant. Ich kaufe eine italienische Tasche bei Ihnen, und Sie bekommen bei mir ein tolles Essen - Sie werden sehen.«

»Abgemacht«, antworte ich enthusiastisch. »So was nennt man Zufall. Mit Kolja sind Sie wahrscheinlich auch so bekannt geworden?«

»Nein, wir wurden bekannt gemacht«, antwortet sie. »Wieso?«

»Nur so. Und mit Ljocha hat er Sie bekannt gemacht?«

»Mit Ljocha habe ich mich eben selber bekannt gemacht«, sagt Musa lachend. »Ich wußte nicht einmal, daß Kolja so einen Bekannten hat. Plötzlich ruft er mich auf der Arbeit an. Können Sie sich das vorstellen? Männer rufen mich sonst nie auf der Arbeit an.«

»Was ist denn dabei?« Ich zucke unbekümmert die Schultern. »Wenn er doch Kolja sucht. Geschäftlich.«

»Wieso geschäftlich?« fragt Musa neugierig.

»Das soll Kolja Ihnen selbst erzählen.«

Musa droht mir kokett mit dem Finger. »Vitja, Sie dürfen mir nichts verheimlichen, das mag ich nicht!«

»Haben wir denn vereinbart, uns nichts zu verheimlichen?«

»Nun, dann vereinbaren wir das jetzt.«

»Gut.« Ich nicke. »Aber nur auf Gegenseitigkeit. Sie dürfen mir auch nichts verheimlichen. Einverstanden?«

»Oh, für eine Frau ist das gefährlich.«

»Manchmal auch für einen Mann.«

Während wir auf Ljocha und das Taxi warten, plaudern wir. Ich frage Musa immer dreister aus, besonders über ihren Freund Kolja. Sie scheint schon das Gefühl zu haben, als wäre ich auf ihn eifersüchtig, und das gefällt ihr.

»Er macht doch bestimmt nicht jeden Tag eine Dienstreise hierher«, sage ich.

»Jeden zweiten Tag«, lacht Musa.

»Wo arbeitet er denn?«

Sie droht mir wieder mit dem Finger. »Weshalb wollen Sie das wissen?«

»Um meinen Gesichtskreis zu erweitern.«

»Erweitern Sie ihn in eine andere Richtung.«

»Vielleicht in Ihre?«

Musa droht mir wieder lachend mit dem Finger. Sie fühlt sich wohl, sie ist, kann man sagen, in ihrem Element.

Mir wird allmählich kalt. Musa hat es natürlich schön warm in ihrem prachtvollen Lammfellmantel und den Pelzstiefelchen. Mein alter Mantel dagegen, den ich speziell für solche Treffs habe, schützt wenig. Die Füße erstarren mir.

»Wo wollen wir denn hin?« frage ich.

»In die Wohnung von Koljas Freund. Er ist im Ausland und hat Kolja die Schlüssel dagelassen.«

»Donnerwetter, hat der Freunde!«

»Na und? Kolja sagt, daß er selbst auch bald ins Ausland fährt.«

»Sehr bald?« frage ich lächelnd.

»Vielleicht in einem Jahr. Inzwischen kann noch viel passieren.«

»Ohne Zweifel«, sage ich überzeugt, und da ich allmählich die Geduld verliere, schaue ich in Richtung Taxi-Halteplatz.

Endlich rollt ein Taxi heran. Ich helfe Musa beim Einsteigen und setze mich neben sie auf den Rücksitz. Musa nennt die Adresse, und ich präge sie mir ein.

Der Wagen flitzt durch die bereits von winterlicher Dämmerung erfüllten Straßen des Zentrums. Durch alle Ritzen zieht es eiskalt herein. Nanu, am Morgen waren es doch noch null Grad? Ganz schöne Schwankungen!

Musa sieht auf die Uhr, runzelt die Brauen, als überlege sie angestrengt, dann beugt sie sich zum

Fahrer vor. »Bitte halten Sie an einer Telefonzelle. Ich muß telefonieren.«

Der Fahrer nickt.

Musa denkt nicht daran, uns etwas zu erklären.

Wenig später hält der Wagen vor einem großen Lebensmittelgeschäft. Am Eingang stehen Telefonzellen. Ich helfe Musa beim Aussteigen, wage aber nicht, sie zu begleiten.

Bevor sie telefonieren geht, sagt sie zu dem vorn sitzenden Ljocha, wobei sie auf das Geschäft zeigt: »Ljocha, Sie gehn inzwischen einkaufen.« Das klingt beinahe wie ein Befehl.

Ljocha knurrt etwas und steigt unlustig aus. Ich aber setze mich wieder vergnügt auf meinen Platz, auf dem ich mich schon ein wenig erwärmen konnte.

Musa telefoniert lange, wahrscheinlich führt sie nicht nur ein Gespräch. Ljocha kommt auch nicht zurück. Ich habe Zeit zum Nachdenken. Wem gehört die Wohnung, zu der wir fahren? Das läßt sich leicht feststellen. Doch jetzt muß ich entscheiden, wie ich mich weiter verhalten werde. Also ich lerne Pest kennen. Ihn gleich festzunehmen wäre ebenso nutzlos, wie es bei Ljocha der Fall wäre. Es liegen weder Anschuldigungen noch Beweise vor. Nicht einmal der Fakt des Verbrechens ist bisher festgestellt worden: Die Leiche wurde noch nicht entdeckt. Kein Staatsanwalt würde einen Haftbefehl ausstellen. Also bleibt mir nur, Pest kennenzulernen und alle Umstände zu klären, die mit dem Mord in Zusammenhang stehen. Kurz und gut, Ermittlung. Doch nein! Wenn Pest eine Pistole hat, kann ich ihn festnehmen. Muß ich ihn festnehmen. Ich werde ihn mit den Patronen ködern.

Pflichtbewußt sind die Jungs unserem Taxi gefolgt. Eben habe ich sie bemerkt. Selbstverständlich werden sie warten, bis ich jenes Haus verlasse. Sie werden wahrscheinlich sogar feststellen, in welche Wohnung wir gehen. Das ist für sie kein Problem. Und sie werden in der Nähe sein. Beide Kerle sind keine Grünschnäbel, und wer weiß, was ihnen plötzlich einfällt. Besonders diesem Pest. Und was Musa betrifft... Sie ist zwar nicht übermäßig schlau, aber bei all ihrem Leichtsinn scheint sie ein tapferes und energisches Mädchen zu sein. Sie ist einfach getäuscht worden. Pest-Kolja hat sie geschickt getäuscht. Zugleich weiß sie eine Menge und könnte eine wertvolle Verbündete werden. Doch einstweilen ist es nicht ratsam, die Karten vor ihr aufzudecken.

Musa kommt zum Wagen gelaufen, und ich bin ihr beim Einsteigen behilflich.

Musa setzt sich auf ihren Platz und sagt aufgeregt. »Oh, hab ich geschimpft! Die reinste Leibeigenschaft! Nicht mal für 'ne Stunde darf man weg!«

»Haben Sie Ihre Arbeitsstelle angerufen?«

»Ja. Und dabei ist es um diese Zeit ruhig im Restaurant. Das Mittagessen ist vorbei, das

Abendessen fängt gerade erst an. Da könnten sie doch mal ein Auge zudrücken, schließlich bin ich Mitglied des Gewerkschaftskomitees«, fügt sie nicht ohne Stolz hinzu. »Und sie haben mich selbst gewählt.«

»Ja«, sage ich mitfühlend. »Ganz schön lange haben Sie geschimpft.«

»Ich habe noch meine Mutter angerufen.«

»Und Kolja«, ergänze ich in ihrem Ton.

Lächelnd fragt sie: »Woher wissen Sie das? Sie haben doch hier im Auto gesessen.«

»Es ist nicht schwer, das zu erraten.«

»Stimmt«, sagt sie. »Ich hab ihn angerufen.«

Wie gern würde ich sie jetzt bei der Hand nehmen, ihr in die ausdrucksvollen, lustigen Augen blicken und sie warnen. Was tust du? Worauf läßt du dich ein, du Tollkopf? Dein Kolja ist ein Bandit, verlaß ihn, solange es noch nicht zu spät ist. Aber ich darf ihr nichts sagen. Ich schaue ihr nur in die Augen, die zunächst verwundert, dann unstet blicken. Hat sie Angst bekommen? Aber doch nicht vor mir! Freundschaftlich lächle ich ihr zu. Nun schaut sie mich forschend an. Und plötzlich ist es, als gäbe es eine Brücke zwischen uns, eine Brücke der Sympathie und des Vertrauens. Ja, sie hat ausdrucksvolle Augen.

»Abgemacht?« frage ich rätselhaft.

Lächelnd nickt sie.

Da wird die Vordertür geöffnet, und Ljocha läßt sich mit einem großen Paket ins Auto plumpsen. Mit ihm dringt ein Schwall Kälte herein.

»Fahr los, Chef«, sagt Ljocha heiser.

Und wieder flitzen wir durch Moskaus Straßen. Es wird dunkel, aber die Laternen brennen noch nicht. Die Sicht ist schlecht. Die gefährlichste Zeit für die Fußgänger, und für die Fahrer auch. Zumal die Hauptverkehrszeit begonnen hat und sehr viele Fahrzeuge auf den Straßen sind. Wir bewegen uns in einem geschlossenen Autostrom ruckartig vorwärts. Während eines solchen Rucks geraten wir bei Rot auf eine Kreuzung. Obwohl nirgends eine Trillerpfeife erschallt, biegt der Fahrer scharf ab und türmt durch ein Gewirr mir unbekannter Gassen. Im Auto herrscht gespanntes Schweigen, als warte jeder von uns unruhig auf irgend etwas. Nun, ich habe Grund, unruhig zu sein, aber sie? Sie könnten ein wenig plaudern. Allerdings kennen sie sich kaum und haben nichts, worüber sie plaudern könnten, zumal in Gegenwart eines Fremden. Ljocha starrt mürrisch vor sich hin und kaut an der erloschenen Zigarette. Musa und ich lassen hin und wieder eine Bemerkung über das Wetter und die Straßen fallen.

Inzwischen fahren wir den Prospekt Mira entlang und biegen bald darauf in eine Seitenstraße ein. Eben sind die Laternen erstrahlt. Auch die Straße, in die wir eingebogen sind, ist gut beleuchtet. Der Fahrer findet mühelos die gewünschte Hausnummer. Der Wagen hält vor einem hohen Turm.

»Da wären wir«, sagt der Fahrer. Schnaufend kramt Ljocha nach dem Geld. Ich steige rasch aus und schaue mich um. Tatsächlich! Die Jungs haben uns verloren. In dieser Situation war das nicht zu vermeiden. Die verteufelten Rucks vor den Verkehrsampeln! Besonders der letzte, bei Rot! Sie werden uns nicht finden. Und das kompliziert die Lage.

Ich helfe Musa beim Aussteigen. Kokett lächelt sie mich an. Ljocha kramt immer noch nach dem Geld, das Paket stört ihn.

»Ich verlasse Sie gleich«, sagt Musa. »Ich verspäte mich sowieso schon. Ich schließe Ihnen nur die Wohnung auf. Und Sie warten dort auf Kolja.«

»Schade, daß Sie uns verlassen«, sage ich. »Eine Frau ist eine Zierde jeder Männergesellschaft.«

Mir tut es wirklich leid, daß sie weggeht. Mir ist, als würde ich es ohne sie schwerer haben. Die Situation hat sich ja auch insofern kompliziert, als die Jungs uns verloren haben. Und da habe ich eine Idee. Wenn ich nun... Ohne die Jungs entwischt mir Pest-Kolja bestimmt. Ljocha und er werden sich nach diesem Treff wieder trennen. Ja, ich muß es riskieren. Einen anderen Weg sehe ich nicht. Doch zunächst frage ich Musa: »Musa, ist ein Telefon in der Wohnung? Ich muß auch Bescheid geben, ich habe ja nicht gedacht, daß ich so lange weg bleibe. Nebenbei bemerkt, auch bei mir zu Hause warten Kunden.«

»Nein«, Musa schüttelt den Kopf. »Da ist kein Telefon.«

»Dann, Musa. Würden Sie das für mich erledigen?«

»Selbstverständlich. Wo soll ich anrufen?«

»Ich notiere es Ihnen.« Auf ein Stück Papier schreibe ich Ilja Sacharowitschs Nummer und gebe es ihr.

»Das ist ein Bekannter von mir«, erkläre ich. »Bestellen Sie ihm, er möchte uns in einer Stunde hier abholen. Ljocha übernachtet bei ihm. Macht Ihnen das keine Mühe?«

Trotz allem fühle ich mich unbehaglich, genauer, unsicher, obwohl Musa keinerlei Befürchtungen und schon gar nicht Feindseligkeit in mir hervorruft. Im Gegenteil, zwischen uns ist ein gewisser freundschaftlicher Kontakt entstanden, eine gewisse Sympathie füreinander. Und meine Bitte dürfte ihr nicht verdächtig erscheinen. Die beiden Kerle, besonders Pest, würden bei einem solchen Ersuchen sofort aufhorchen. Dieses Mädchen aber ahnt nichts von den Machenschaften der beiden. Das hat Valja gesagt.

»Klar, mach ich«, antwortet Musa ruhig, während sie den Zettel mit der Telefonnummer in die Handtasche steckt. »Ach!«

Sie stürzt zum Taxi, läuft um den Wagen herum, öffnet die Vordertür und sagt zum Fahrer: »Bitte, junger Mann, warten Sie fünf Minuten. Ich bin furchtbar spät dran. Es soll Ihr Schade nicht sein.« Sie lächelt bezaubernd. Und dieses Lächeln tut im Verein mit dem zu erwartenden Trinkgeld seine Wirkung.

Mit dem Lift fahren wir alle drei in die neunte Etage hinauf, und Musa öffnet uns die Wohnungstür.

»So, meine Lieben, machen Sie es sich bequem«, sagt sie. »Den Tisch müssen Sie sich selber decken. Schauen Sie«, sie geht in die Küche, und wir folgen ihr gehorsam. »Hier steht das Geschirr. Ljocha, legen Sie das Paket dorthin. Kolja kommt wahrscheinlich in einer halben Stunde.«

Ljocha legt das Paket auf den Tisch, und wir kehren in den engen Vorraum zurück. Dort verabschiedet sich Musa von uns. Die Tür klappt zu, und Ljocha und ich sind allein.

»Na, sehen wir uns mal um«, sage ich. »Warst du schon mal hier?«

»Nein.« Ljocha zündet sich eine Zigarette an.

Wir sind in einer Einzimmerwohnung, die mit ein paar altersschwachen Möbeln ausgestattet ist. Im Zimmer stehen zwei Regale mit verstaubten, offenbar zufällig hierher geratenen Büchern. Die Liege in der Ecke ist mit einem abgeschabten Teppich bedeckt, in der anderen Ecke lagert ein Haufen Spannrahmen. An den Wänden hängen Fotos und ein großes Ölgemälde. Eine Stadtlandschaft - stille Gasse im Winter. Das Bild ist der einzige lebendige frische Fleck in diesem vernachlässigten unwohnlichen Zimmer.

»Na schön«, sagt Ljocha. »Gehn wir in die Küche.«

Dort nehme ich ein paar armselige Teller und Gläser aus dem Schrank und billige, krumme Gabeln, während Ljocha Brot, Wurst, Käse, irgendwelche Konservenbüchsen und natürlich Wodka auspackt.

Die von Musa erwähnte halbe Stunde vergeht, aber Pest-Kolja erscheint nicht. Eine Stunde vergeht. Auch Ilja Sacharowitsch läßt sich nicht blicken. Er soll ja auch nicht herkommen. Selbstverständlich hat er begriffen, daß er die von Musa mitgeteilte Adresse an unsere Jungs weitergeben soll. Wahrscheinlich warten sie schon auf der Straße.

»Vielleicht kommt er nicht?« frage ich schließlich.

»Der kommt, wo soll er sonst hin?« sagt Ljocha mit Baßstimme und tritt an den Tisch. »Stärken wir uns erst mal.«

Wir trinken, essen einen Happen, und Ljocha, der sich eine Zigarette angezündet hat, gerät in heitere, beinahe träumerische Stimmung. »Ach«, seufzt er, »die Leute mit dem großen Geld, die führn ein Leben...«

»Wo nehmen sie das Geld her?« frage ich mit vollem Mund.

»Wo sie es hernehmen, da sind wir beide nicht«, antwortet Ljocha. »Das ist so 'ne Art Amerika. Da lassen sie unsereins nicht hin.«

»Die Sache ist doch so«, sage ich, »sie nehmen dort, und du nimmst von ihnen. Fertig, aus. Was willst du mehr?«

»Die scheffeln Tausende, und dir werfen sie Kopeken hin«, knurrt Ljocha. »So 'n Fahrplan haben die, kapiert?«

»Pest werfen sie auch bloß Kopeken hin?« frage ich.

»Na, für den knapsen sie auch mal 'n paar Rubelchen ab.«

»Man muß eben Grips haben.« Gewichtig klopfe ich mir mit dem Finger an die Stirn. »Dann können sie einen nicht mit Kopeken abspeisen.«

»Haha! Versuch mal, dich an die ranzumachen. Da hast du gleich 'n Messer zwischen den Rippen. So speisen sie dich nämlich auch ab. Die finden immer zwei, die sie auf dich hetzen. Und - zack! Wie Pest und ich den da. Alles in bester Form.«

»Da haben sie also auch irgendwas nicht teilen wollen?«

»Genau. Und dann heißt es: Ljocha, los, leg ihn um. Mach dich dreckig für ihre Kopeken. Spiel Versteck mit dem Knast. Oder mit der Todesstrafe. Ich weiß doch Bescheid!«

»Spuck drauf. Hast du denn Lust zu so was?«

»>Spuck drauf< näht dir kein Hemd und bringt keine Flasche zum Tröpfeln. Trotz allem hab ich was auf der hohen Kante. Ich kann einer gewissen Person sogar Geschenke machen.«

»Musas Lammfellmantel hat doch bestimmt Pest gekauft?«

»Wer sonst? Ich sag dir doch, der zieht mehr an Land als ich. Der läuft schon lange bei denen an der Leine.«

Die Unterhaltung wird immer interessanter. Zum erstenmal ist Ljocha so offenherzig. Und das liegt keineswegs daran, daß wir schon das dritte Glas intus haben. Letztens haben wir mehr getrunken. Aber jetzt sind die Situation und der Grad an Vertraulichkeit anders. Außerdem wird Ljocha mal von Wut, mal von Neid, mal von Wehmut gepeinigt. Von wölfischer, wilder, einsamer Wehmut, die ihn nie verläßt. Bald tritt sie an die Oberfläche, bald taucht sie unter, von Ausbrüchen der Wut oder der Leidenschaft verdrängt. Sie ist wie eine Vorahnung künftigen Unglücks. Im geeigneten Augenblick ist das ein starker Hebel, um solch einen Menschen umzustülpen, ihn zu zwingen, einen anderen Weg im Leben zu wählen. Wann wird dieser Augenblick zwischen Ljocha und mir eintreten? Daß er einmal kommen wird, spüre ich. Etwas an Ljocha ist noch nicht ganz verloren.

»Ja, die drehn große Dinger«, sagt Ljocha neidisch und seufzt. »Bereiten sich lange vor. Es sind eben Meister...«

Ich höre aufmerksam zu. Offenbar ist von irgendeiner Bande die Rede, in der Ljocha und Pest nur drittrangige Rollen spielen. Was sind das für Dinger, was für Verbrechen plant und verübt diese Bande? Vielleicht teilt Ljocha noch etwas mit. Aber da wird die Wohnungstür aufgeschlossen, jemand betritt die Wohnung und ruft aufgekratzt: »He, Leute!«

»He, Pest!«

Ljocha springt so ungeschickt auf, daß er mir beinahe den Tisch mit den Eßwaren in den Schoß kippt. Im letzten Moment verhindere ich es.

Aus dem Vorraum kommt ein junger Mann, der fast so groß ist wie ich, zu uns in die Küche. Die hellen Haare sind zurückgekämmt und hängen, eine modische Mähne, beinahe bis auf die Schultern, das weiche rosa Gesicht mit dem kleinen Mund gleicht dem eines Engels, die leeren blauen Augen blicken kalt und aufmerksam. Stolz die Haltung des Kopfes, der ganzen schlanken, eleganten Figur. Er trägt - Mantel und Mütze hat er im Vorraum abgelegt - einen modernen braunen Anzug und unter der Jacke einen hübschen salatgrünen Pullover.

Die blauen Augen richten sich auf mich. »Aha, das ist also der neue Bekannte«, sagt Pest langsam. »Wie heißt du?«

»Vitjok. Und du bist Pest«, antworte ich freundschaftlich und rekele mich auf dem Stuhl.

Die Kälte verschwindet nicht aus den blauen Augen, die gespannte Aufmerksamkeit auch nicht. »Damit hätten wir uns also kennengelernt«, sagt Pest zurückhaltend und setzt sich an den Tisch. »Gieß ein«, befiehlt er Ljocha, ohne den Kopf nach ihm zu wenden. »Trinken wir zunächst auf die Bekanntschaft.«

Ljocha gießt willig Wodka in die Gläser. Pest sagt spöttisch zu mir: »Na dann erzähl mal, Vitjok, wie's einem ehrlichen Dieb bei euch so geht. Wie kämpft die große Moskauer Kriminalmiliz? Zittert ihr?«

»Leicht haben wir's nicht«, sage ich grinsend.

»Ihr dreht nette Dingerchen, wie man hört?«

»Für den einen sind sie nett, für den anderen weniger«, erwidere ich unbestimmt. »Je nachdem, worauf einer aus ist.«

»Hast du was vorzuschlagen?«

»Du hast in Moskau wohl nichts zu tun?« frage ich geringschätzig.

»Langsam, Vitjok«, sagt Pest drohend, »kämm nicht gegen den Strich. Du bist zu mir gekommen, nicht ich zu dir. Vergiß das nicht. Und spuck aus, was dich herführt.«

»Dein Kumpel hat beschlossen, sich für dich zu bemühen«, ich deute auf Ljocha, der, mürrisch wie immer, zuhört.

Ljocha nickt, klemmt sich eine Zigarette zwischen die Zähne und greift nach den Streichhölzern.

»So. Bisher ist klar, daß nichts klar ist«, stellt Pest fest, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Weiter, Vitjok.«

Sein Betragen, seine Sprechweise, sogar sein Blick gefallen mir nicht. Und ich spüre, daß auch ich ihm nicht gefalle. Aber ich verhalte mich doch völlig normal, anfangs hab ich mich sogar freundschaftlich gezeigt! Woher dieses Mißtrauen, diese Feindseligkeit?

»Er meint, du brauchst blaue Bohnen«, fahre ich fort. »Ist's an dem?«

»Nehmen wir mal an«, sagt Pest vorsichtig.

»Gut. Aber was für 'ne Kanone du hast, das ist ihm schleierhaft.« Ich grinse verächtlich.

»Braucht ihn auch nicht zu kümmern«, antwortet Pest. »Was für Bohnen hast du?«

»Welche werden gebraucht?«

Es ist besser, ihm nicht das ganze Sortiment vorzuweisen. Eine so reichliche Auswahl kann Verdacht hervorrufen. Den scheint er ohnehin schon zu haben. Ja, Pest ist nicht der Simpel Ljocha. Wo mag er den Spitznamen herhaben? Pest? Er sieht doch aus wie das blühende Leben! Die leeren, kalten Augen allerdings... Fast unheimlich. Wie ist es möglich, daß Musa das nicht gemerkt hat?

»Ich brauche welche für eine >Walther<, Modell 1«, sagt Pest exakt. »Ist so was aufzutreiben?«

»Hast du die Kanone bei dir?« frage ich sachlich und hole drei Patronen aus der Tasche. »Wir müßten mal probieren. Diese beiden sind für >Walther<, die Nummer weiß ich nicht.«

»Du hast aber gesagt, du weißt es«, ruft Ljocha.

»Ja?« Pest wirft ihm einen Blick zu. »Also hast du's verschwitzt, Professor.«

»Ich weiß bloß, daß die für eine >Walther< sind«, sage ich ärgerlich. »Und die da paßt für einen Nagant. Auch für TT hab ich welche.« Ich winke geringschätzig ab. »Es sind nicht meine. Kumpels haben sie mir gegeben. Und du mach nicht die Pferde scheu«, sage ich zu Ljocha und zwinkere ihm freundschaftlich zu.

Pest scharrt, ohne mir zu antworten, die Patronen zu sich heran und betrachtet sie.

»Na gut«, sagt er schließlich und schiebt sie beiseite. »Trinken wir erst mal. Los, Ljocha.«

Und Ljocha gießt so bereitwillig wie zuvor Wodka in die großen grünen Gläser.

»Trinken wir auf die Weiber«, schlägt Pest vor. »Auf die klugen und schönen. Die uns ewig gehören. Solche wie Musa. Och, dieses Schokoladchen, ich kann dir flüstern.« Er leckt sich die Lippen. »Zum erstenmal hab ich so was Süßes, bei Gott. Von der kommst du nicht mehr los. Kannst einen Tag mit ihr sitzen, zehn Tage. Und gerissen ist das Aas, wenn du wüßtest.«

Wir stoßen an, trinken, essen einen Happen.

»Hast du Musa früher schon mal getroffen?« fängt Pest wieder an und wendet den leeren, aber klammernden Blick nicht von mir ab.

»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »An so eine würde ich mich erinnern, da kannst du Gift drauf nehmen. Aber wieso ist sie gerissen? Hat sie dich übers Ohr gehauen?«

»Warum sie gerissen ist?« fragt er grinsend zurück. »Sie kann wahrsagen, verstehst du?«

»Ist sie 'ne Zigeunerin?«

»Besser. Zigeunerinnen lesen aus der Hand oder aus den Karten. Schokoladchen liest aus den Augen. Und es haut immer hin. Sie hat 'ne Witterung wie 'n Hund.«

»Du spinnst«, sage ich und lächle mißtrauisch.

»Ich sag's, wie's ist!« ruft er begeistert. »Es haut immer alles hin. Alles trifft ein. So was hast du noch nicht gesehn. Ach!« Er seufzt. »Wenn ich sie satt hab, mach ich sie kalt. Damit kein andrer sie kriegt. Und weißt du, auf wen wir zum Schluß trinken? Auf die lieben Mütter, ja? Ljocha!«

Diesen Ljocha kommandiert er ganz schön herum. Und der gehorcht ohne Widerrede. Ja, in der Bande spielen sie unterschiedliche Rollen. Pest ist weit klüger, energischer und böser, und deshalb auch gefährlicher. Er ahnt etwas. Und führt etwas im Schilde.

Wir trinken aus. Pest schiebt entschlossen den Stuhl zurück, steht auf, als hätte er keinen Tropfen getrunken, und sagt zu mir: »Wart hier, Vitjok. Ich geh mal und probiere, ob deine blauen Bohnen passen.«

Er nimmt die Patronen vom Tisch und geht zur Tür. Auf der Schwelle dreht er sich jedoch um und befiehlt: »Ljocha! Los, komm mit!«

Ljocha rappelt sich schwerfällig hoch.

Ich bleibe allein in der Küche.

Aus dem Zimmer, in das Pest und Ljocha gegangen sind, dringt kein Laut. Seltsam. Als hätten sie dort ihr Leben ausgehaucht. Vielleicht probieren sie die Patronen gar nicht? Eine muß passen, und dann klickt das Schloß der Pistole. Aha, jetzt. Ich höre deutlich metallisches Klicken. Aber keine Stimmen. Machen sie alles schweigend? Nein, wahrscheinlich flüstern sie. Wozu hat Pest Ljocha mitgenommen? Aha! Da sind sie.

Ich sitze nach wie vor rauchend am Tisch. Als erster betritt Pest die Küche, er lächelt zufrieden. Dann erscheint Ljocha. Er ist noch mürrischer als sonst. Pest hat die Patronen in der Hand, alle drei. Ljocha hat nichts in den Händen. »Diese paßt«, sagt Pest und legt eine Patrone vor mich hin. »Wieviel kannst du besorgen?«

»Zwanzig... Oder willst du mehr?«

»Mindestens fünfzig. Und sieh mal, hier.«

Pest beugt sich zu mir und nimmt die Patrone in die Hand. Ich beuge mich ebenfalls vor. Im gleichen Moment trifft ein furchtbarer Schlag meinen Kopf. Ich stürze mit dem Stuhl zu Boden. Vor meinen Augen dreht sich alles wie rasend und verschwindet. Unerträglicher Schmerz droht meinen Schädel zu sprengen. In der undurchdringlichen Finsternis sagt Pest wie in weiter Ferne: »Geschieht ihm recht, dem Hund! Ganz normal umgelegt. Blödmann, wem hast du vertraut? Wäre Musa nicht gewesen. Sie hätten uns beide schon am Haken. Schnell. Schnell.«

Die Stimme wird schwächer und verhallt in der Finsternis. Für eine Sekunde ist sie plötzlich wieder da: »Wäre Musa nicht gewesen. Wäre Musa.« Dann ist sie endgültig verschwunden. Ich verliere das Bewußtsein.

Als ich zu mir komme, herrscht Dunkelheit ringsum, bedrückende Dunkelheit. Ich versuche mich zu bewegen und höre mein eigenes Stöhnen. Dieses Dunkel. Ich habe die Augen geöffnet, ja, aber es wird nicht hell. Ich habe Angst. Denn ringsum ist niemand. Ich bin allein.

Allmählich kehrt die Erinnerung zurück. Zunächst die visuelle. Schatten tauchen auf. Aha, Männer. Allmählich erkenne ich sie. Der eine beugt sich zu mir, während der andere von hinten. Sie haben mich nicht erschlagen, das ist klar, ich lebe, sie hatten es zu eilig.

Das Dunkel lichtet sich kaum merklich, ich nehme einen goldenen Schimmer wahr. Erneut versuche ich, mich zu bewegen. Ich hebe die Hand an. Immer noch bin ich allein. Ich liege auf dem Fußboden, das Gesicht nach unten. Ich muß noch einmal versuchen, mich zu bewegen. Ich mag nicht. Habe keine Kraft. Ich möchte nur daliegen. Aber ich zwinge mich. So. Uff. Langsam drehe ich mich auf den Rücken. Dann auf die andere Seite. Ich erblicke ein Fenster. Nach und nach erinnere ich mich.

Eine neue Aufgabe - aufstehen. Ich will nicht. Ich will liegen, sonst nichts. Aber ich muß aufstehen. Unverzüglich. Wenigstens knien. Nachher kannst du dich wieder hinlegen, verspreche ich mir listig. Wie mir die Hände zittern. So. Ich krieche zur Tür, halte mich an der Wand fest und stehe langsam auf. Jetzt zittern mir die Beine. So. Gut. Ich stehe schon, an die Wand gelehnt. Mir wird übel. Krampfhaft schlucke ich Speichel. Wieder und wieder. Die Übelkeit vergeht. Ich fahre mit der Hand an der Wand entlang und finde den Schalter neben der Tür. Ich drücke, und mit dem Klicken flammt Licht auf. Unwillkürlich kneife ich die Augen zusammen. So. Jetzt sieht die Sache anders aus. Nur der Kopf tut mir fürchterlich weh. Kein Wunder. Ljocha hätte ihn mir ja um ein Haar gespalten! War er zu aufgeregt, der Schuft? Danke, daß du mich am Leben gelassen hast. Danke, Ljocha.

Und nun gehen wir in den Vorraum. Nicht so hastig, mein Lieber. Halt dich an der Wand fest, wenn dir schwindlig ist. Ja, so. Oh, wieder diese Übelkeit. Ich bleibe stehen, schlucke krampfhaft. So, jetzt ist mir leichter. Ich kann weitergehen. So. Wie spät mag es sein? Ich bleibe stehen, hebe den Arm und starre lange auf die Uhr. Endlich begreife ich, daß sie geht und es halb elf ist. Wieviel Stunden habe ich in dieser verfluchten Küche gelegen? Wann sind wir hergekommen? Um vier haben wir uns mit Musa getroffen. Ungefähr um fünf sind wir hier angekommen. Mindestens eine Stunde haben wir gewartet. Also ist Pest gegen sechs erschienen. Und eine weitere Stunde später haben sie mich. Demnach habe ich rund vier Stunden hier gelegen.

Zweifellos werde ich schon gesucht. Und da unsere Leute noch nicht da sind, bedeutet das, daß sie diese Adresse nicht kennen. Ich hab doch Musa gebeten, anzurufen. Hat sie meine Bitte nicht erfüllt? Halt, halt! Wer hat gesagt: »Wäre Musa nicht gewesen.«? Pest. Also hat sie mich verraten. Überlistet hat sie mich, das ist alles. Ich habe mich wohl noch nie so geirrt. Ob sie meinen Plan durchschaut hat? Nein. Durchschaut hat ihn Pest. Sie hat ihm bloß meine Bitte und die Telefonnummer mitgeteilt. Wie konnte ich ihr trauen? So ein Früchtchen! Sie ist kein naives, getäuschtes Mädchen. Sie hat es fertiggebracht, mich zu täuschen. Und ich habe meinen Fehler teuer bezahlt. Nur gut, daß Ljocha die Hand gezittert hat.

Ich hab den Vorraum erreicht und lasse mich erschöpft auf einen Stuhl sinken. So. Jetzt kann ich weiter überlegen.

Da ich also verschollen bin und Ljocha verschwunden ist, werden sich meine Leute an das einzige ihnen bekannte Glied halten - an Musa. Wird sie sagen, wo ich mich befinde? Doch wenn ich berücksichtige, daß seit meinem Verschwinden sechs Stunden vergangen und die Jungs noch nicht hier sind, dann bedeutet dies, daß Musa nichts gesagt hat. Welche Schlußfolgerung ergibt sich daraus?

Mein armer Kopf fühlt sich nach der verstärkten Arbeit etwas besser. Schmerz empfinde ich nur dann, wenn ich ihn, wo auch immer, berühre. Ein mächtiger Schlag.

Somit ist anzunehmen, daß unsere Jungs hier überhaupt nicht aufkreuzen werden. Ich muß mich also mit eigenen Kräften herausrappeln.

Ich sitze im Vorraum auf dem unbequemen Stuhl und komme allmählich zu mir. Nach einer Weile stehe ich ohne große Mühe auf und gehe zur Tür. Sie hat ein einfaches Schloß, doch öffnen läßt es sich nicht. Ich plage mich mit ihm ungefähr zwanzig Minuten ab, verausgabe mich völlig und überzeuge mich schließlich, daß meine Bemühungen sinnlos sind. Wurde das Schloß beschädigt? Ach, ist das eine Situation! Es bleibt nur ein wenig angenehmer Ausweg.

Ich kehre in die Küche zurück, schaue mich um und packe einen Schemel. Ich bin inzwischen wieder bei Kräften und donnere ihn dermaßen an die Wand zur Nachbarwohnung, daß sicherlich das ganze Haus wackelt. Wenig später klopft jemand hartnäckig an meine Wohnungstür.

Ich laufe in den Vorraum und muß durch die geschlossene Tür verhandeln. Ich erfahre, daß auf der anderen Seite der beunruhigte Nachbar steht. Er bejaht meine Frage, ob er Telefon hat. Nachdem ich ihn instruiert habe, läuft er in seine Wohnung und telefoniert. Die weiteren Ereignisse rollen mit kinematographischer Geschwindigkeit ab.

Eine Stunde später sitze ich bereits in Kusmitschs Arbeitszimmer. Valja und Petja Schuchmin sind auch da. Trotz der späten Stunde sind sie noch im Dienst. Mein Verschwinden hat alle in Aufregung versetzt. Während ich mir dauernd an den brummenden Schädel fasse, erstatte ich Bericht...

»Tja...«, sagt Kusmitsch, als ich meinen Bericht beende, und fährt sich über die Stoppelhaare im Nacken, was von äußerster Unzufriedenheit zeugt. »Einen aussichtsreichen Fall hast du uns da ausgegraben.«

»Einen gefährlichen Fall«, füge ich hinzu. »Wer weiß, was sie noch anstellen. Und sie haben eine Pistole, Fjodor Kusmitsch.«

Kusmitsch nickt. »Wir dürfen die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen, meine Lieben.« Und finster ergänzt er: »Musa ist auch verschwunden. So sieht's aus.«

Ein gewisser Gwimar Iwanowitsch

Am nächsten Morgen komme ich später als gewöhnlich zur Arbeit. Selbstverständlich mit Kusmitschs Erlaubnis. Als er mich in der Nacht nach Hause fuhr, riet er mir sogar, mich krank schreiben zu lassen, aber ich lehnte ab. Der Schädel brummte nicht mehr allzu arg, und ich konnte sogar die Mütze aufsetzen. Mich für eine Weile ins Bett zu legen kam mir entwürdigend vor. Zu Hause erzählte ich Swetka nichts von dem Vorfall. Wir hatten eine Versammlung, erklärte ich, deshalb wurde es so spät. Andere Männer, das nebenbei, bemänteln mitunter weit lustigere Betätigungen mit Versammlungen. Was soll's, sogar darin äußert sich eine gewisse Spezifik unserer Arbeit.

In der Nacht konnte ich lange nicht einschlafen. Der Kopf tat mir scheußlich weh, und merkwürdigerweise abwechselnd an verschiedenen Stellen. Ich lag mit geschlossenen Augen da und dachte nach. Zunächst über meinen unverzeihlichen Fehler, den ich machte, als ich Musa vertraute. Dann über Ljocha und Pest. Was war das für eine Bande, der sie angehörten, was hatte die beiden zu uns nach Moskau getrieben? Lange wälzte ich mich hin und her. Dann schlief ich endlich ein.

Und nun sagt Kusmitsch zu uns: »Also, meine Lieben, in dieser Sache müssen zunächst drei Dinge geklärt werden. Erstens: Wo haben die Banditen wen ermordet, und wo ist die Leiche? Hat es überhaupt einen Mord gegeben? Zweitens: Wem gehört die Wohnung, in die Lossew geführt wurde? Und schließlich - Musa. Wir müssen sie finden. Vielleicht führt sie uns zu Pest. Und in dessen Umkreis hält sich Ljocha auf. Nun, was sagt ihr?«

Ich schweige ein Weilchen, dann antworte ich: »Es gibt einen vierten Punkt, Fjodor Kusmitsch! Wir müssen unsere Genossen in Jushnomorsk befragen. Bestimmt kennen sie diese Typen.«

»Sehr gut.« Kusmitsch nickt. »Noch etwas?«

»Übrigens«, meldet sich Petja Schuchmin, »laut Bericht ist gestern in der Nähe der Jelochowskaja-Kirche in eine Wohnung eingebrochen worden. Erinnert ihr euch?«

»Ja«, sage ich. »Stimmt.« Verwundert schaue ich Petja an. »Und was willst du damit sagen?«

Der riesige Petja sieht neben dem schmächtigen Valja Denissow sehr effektvoll aus. Er hat Ähnlichkeit mit Ljocha, der allerdings irgendwie formlos, ungeschlacht wirkt, während Petja immerhin SamboMeister von »Dynamo Moskau« ist und deshalb einen straffen, sportlichen Eindruck macht, trotz des ausgebeutelten Anzugs und des ewig aufgeknöpften Hemdkragens. Den Schlips trägt Petja vorwiegend in der Tasche und bindet ihn nur im Ernstfall um, wenn er zu einem hohen Vorgesetzten gerufen wird oder wenn es die operative Situation erfordert.

»Gar nichts will ich damit sagen. Ich erinnere nur.«

»Du hast doch bestimmt schon mit den Jungs gesprochen, die sich mit dem Diebstahl befassen!« sage ich zu Petja.

»Hab ich.«

Das ist eine weitere Besonderheit von Petja. Er weiß immer alles. Überall hat er Freunde, und manchmal gerade dort, wo man sie dringend braucht. Er ist ungewöhnlich kontaktfreudig.

»Und was wurde gestohlen?« fragt Valja.

»Es handelt sich um die Wohnung irgendeines Akademiemitglieds. Gestohlen wurden vor allem Antiquitäten und Bilder. Das übliche.«

»Und wie sind sie hineingekommen?« will ich wissen.

»Fein säuberlich«, sagt Petja. »Qualifiziert. Schlösser nützen da gar nichts.«

»Apropos«, schaltet sich Kusmitsch ein, der bis dahin geschwiegen hat, »wir müssen nachsehen, und nicht nur in den Berichten, was in dem Bezirk in diesen Tagen noch passiert ist. Ich meine, wir müssen hinfahren und uns an Ort und Stelle erkundigen. Ja...« Kusmitsch verstummt, blickt mit gerunzelter Stirn ins Leere, dreht mechanisch die Brille in den Händen und fährt seufzend fort: »Nun, meine Lieben, ziehen wir eine Zwischenbilanz. Erstens: Wir sind einer gefährlichen Verbrechergruppe auf die Spur gekommen. Zweitens: Allem Anschein nach ist die Gruppe nicht von hier. Jeden Augenblick kann sie aus Moskau verschwinden. Was sie hier will, ist uns bislang unklar. Drittens: Wir kennen zwei Mitglieder der Gruppe persönlich. Beide haben ihre Fingerabdrücke in der Wohnung hinterlassen. Wir nehmen die beiden jetzt unter die Lupe. Sie sind vorbestraft. Also werden wir bald alles über sie wissen. Und wir werden ihre Fotos haben. Folglich dürfte es zumindest diesen beiden schwerfallen, Moskau zu verlassen. Wir haben für sie schon in der Nacht alle Ausgänge sperren lassen.«

»Vielleicht sind sie von der Wohnung aus direkt zum Bahnhof gefahren?« fragt Petja. »Oder auf einen Flugplatz? Sie hatten fünf Stunden Vorsprung, als wir sie zu suchen begannen. Sie konnten sogar noch dies und das erledigen, zum Beispiel Musa abholen.«

»Höchstwahrscheinlich sind sie hier nicht allein«, sagt Valja. »Und sie können nicht selbst entscheiden, ob sie wegfahren oder bleiben.«

»Aber sie haben wahrscheinlich wenig Lust, den anderen ihre Dummheiten zu beichten«, füge ich hinzu. »Ich habe Ljocha schon gesagt, daß die Ausgänge aus der Stadt für ihn gesperrt sind. Und er war mächtig erschrocken. Doch nachdem er nun weiß, wer ich bin, wird er es erst recht nicht wagen, sich irgendwo zu zeigen, weder auf einem Bahnhof noch auf einem Flugplatz.«

»Möglich, möglich«, sagt Kusmitsch nachdenklich. »Wir wollen einstweilen davon ausgehen, daß sich beide noch in Moskau aufhalten. Aber für alle Fälle. Moment.« Er nimmt den Hörer des Haustelefons ab, wählt eine kurze Nummer und sagt: »Hier Oberstleutnant Zwetkow. Grüß dich. Ich hab mal eine Frage: Gestern zwischen achtzehn und vierundzwanzig Uhr, wieviel Züge sind da in Richtung Jushnomorsk abgefahren? Und Flugzeuge? So. Telegrafieren Sie nach Woronesh und Rostow. Man soll die Züge nach den beiden von gestern, du erinnerst dich, kontrollieren. Also, bis dann.« Kusmitsch legt den Hörer auf und sagt zu uns: »Trotzdem wollen wir annehmen, daß sie noch in Moskau sind. Also machen wir uns an die Arbeit. Jushnomorsk rufe ich selbst an. Bald werden wir alle Angaben über diese beiden haben. Und jeder von euch arbeitet auf seiner Linie.« Er wendet sich an Petja: »Du, Schuchmin, fährst zu der Wohnung, wo Lossew gestern eingesperrt war. Erkunde alles - wem sie gehört, wo der Inhaber ist,

was er für ein Mensch ist, wen er kennt, wer zu ihm kommt und so weiter. Denk daran, von dieser Wohnung können ganz überraschende Fäden ausgehen. Hast du mich verstanden?«

»Völlig, Fjodor Kusmitsch.« Petja nickt und fügt hinzu: »Ich kenne dort einen Revierinspektor.«

»Schön. Also weiter: Du, Denissow«, sagt Kusmitsch und schaut Valja an, »fahndest nach Musa. In ihrem Restaurant, zu Hause, bei ihren Freundinnen, bei ihren Bekannten. Und bring möglichst alles über sie in Erfahrung. Es ist durchaus möglich, daß sie uns nur zu Pest-Kolja führt, und zu sonst keinem. Aber auch das wäre eine ganze Menge. Alles klar?«

»Ja«, bestätigt Valja und fragt seinerseits: »Wurden in der Wohnung ihre Fingerabdrücke festgestellt?«

»Es wurden von mehreren Personen Fingerabdrücke festgestellt«, sagt Kusmitsch. »Ob welche von Frauen darunter sind, ist unbekannt. Identifizieren können wir, wie du weißt, nur Vorbestrafte. Diese Musa aber scheint nicht vorbestraft zu sein.«

»Scheint mir auch so«, bestätige ich.

»Außerdem wüßte es der Restaurantleiter«, fügt Valja schmunzelnd hinzu. »Er versucht ja mit ihr anzubändeln. Sie soll sehr hübsch sein.«

»Stimmt«, bestätige ich. »Eine Augenweide.«

»Deshalb hast du ja auch eins auf den Schädel gekriegt«, sagt Petja lachend. »Das werde ich Swetka erzählen, dann blüht dir noch was.«

»Laß das, Schuchmin«, sagt Kusmitsch stirnrunzelnd, »dazu ist jetzt keine Zeit.« Er sieht auf die Uhr. »Es ist schon elf.« Und zu mir sagt er: »Du, Lossew, fährst in die Gegend um die Jelochowskaja-Kirche. Such dort den Hof und den Schuppen. Und den Ermordeten. Ohne positives Ergebnis laß dich hier nicht blicken. Ich bin sicher, dort ist der Mord verübt worden. Offenbar wurde ein Zugereister ermordet. Denn bisher hat niemand Anzeige erstattet. Und versuch festzustellen, wer der Ermordete ist, woher er gekommen ist, zu wem er wollte. Und ob jemand dort auf dem Hof etwas bemerkt hat. Laß nichts unbeachtet. Du bist der erste, der am Tatort erscheint. Da kann uns jede Kleinigkeit weiterhelfen.«

Ich weiß, warum Kusmitsch mir das alles sagt. Tatortbesichtigung ist nicht meine stärkste Seite. Ich befasse mich lieber mit anderen Dingen.

»Na, sind wir uns einig?« Kusmitsch läßt den Blick von einem zum anderen wandern. »Gibt's sonst noch Ideen?«

»Beten wir zu Gott, daß wir mit diesen fertig werden«, sagt Petja lachend.

Wir verlassen Kusmitschs Zimmer. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt und begreift, daß er sich beeilen muß. Die Spuren »kühlen« mit jeder Minute mehr ab, die Erinnerung der Leute verblaßt, jemand geht oder fährt weg, etwas wird weggeworfen oder bewußt vernichtet.

Petja Schuchmin begab sich zum Prospekt Mira. Ein Wagen war nicht zur Stelle, und er fuhr mit dem Trolleybus den ehemaligen Sadowoje-Ring entlang. Schuchmin hatte keine Erinnerung an die schattigen Boulevards, die einst wie ein zweiter grüner Ring das Stadtzentrum umspannten. Er kannte den Sadowoje-Ring, wie ihn die Moskauer bis zum heutigen Tage nennen, seit eh und je als geräuschvolle endlose Asphaltmagistrale, wahrscheinlich die belebteste der Stadt.

Auf dem Kolchosnaja-Platz stieg er in einen anderen Trolleybus um, der schon den Prospekt Mira entlangrollte. Den Rest des Weges legte Petja zu Fuß zurück, und schließlich stand er vor dem Haus, zu dem er wollte.

Er fuhr mit dem Lift zu der bewußten Wohnung hinauf und klingelte. Er wartete ein Weilchen und klingelte noch einmal, energischer diesmal. Vergebens.

Dann klingelte er an der Nachbarwohnung, deren Wand ich am Abend zuvor mit dem Schemel bearbeitet hatte. Kaum hatte Petja den Klingelknopf berührt, wurde die Tür geöffnet. Als habe jemand dagestanden und auf dieses Klingeln gewartet.

Auf der Schwelle erschien ein mittelgroßer dicker Mann in blauem Bademantel, ein dünner Kranz zerzausten grauen Haars umrahmte eine große rosa Glatze. Hinter starken Brillengläsern blickten verschwommene wäßrige Augen Petja neugierig an.

»Willkommen, junger Freund«, sagte der Mann, bevor Petja den Mund auftun konnte.

»Warum begrüßen Sie einen Fremden so überschwenglich?« fragte Petja vorwurfsvoll. »Es kann doch...«

»Ich bitte Sie! Sie sind doch von der Miliz, nicht wahr?«

»Nun, in diesem Falle haben Sie tatsächlich recht.«

»Sehen Sie, in solchen Fällen irre ich mich nie«, erklärte der Dicke fröhlich und trat in den Korridor zurück. »Bitte.«

Petja ging in die Wohnung. Der Dicke schloß die Tür, reichte ihm die Hand und stellte sich vor. »Artemi Wassiljewitsch Beleschow. Ich bin zur Zeit krank geschrieben«, fügte er in entschuldigendem Ton hinzu.

Schuchmin nannte ebenfalls seinen Namen. Aber Beleschow fragte streng: »Und welchen Dienstgrad haben Sie?«

»Oberleutnant«, sagte Petja.

Beleschow führte ihn ins Zimmer, ließ ihn auf dem Sofa hinter dem niedrigen Klubtischchen Platz nehmen, setzte sich in den tiefen Sessel gegenüber, faltete die rundlichen rosa Hände auf dem Bauch und sagte ärgerlich: »Immerzu muß ich an den gestrigen Vorfall denken. Das erschüttert doch die Grundfesten! Da muß doch durchgegriffen werden! Wir sind zu liberal, verstehen Sie? Der Boden muß denen unter den Füßen brennen, so wär's richtig!« Er drohte mit der Faust. »Nicht genug, daß sie auf der Straße. sie müssen auch noch in fremde Wohnungen. Warum konnte Ihr Kollege die Tür nicht öffnen?«

»Der Schlüssel war von außen ins Schloß gesteckt und der Bart abgebrochen worden.«

»Schau an. Worauf die so kommen. Köpfchen muß man haben! Ich gehöre ebenfalls zur Intelligenz, wissen Sie. Zur Arbeiterintelligenz selbstredend. Die verfaulte, die steht mir bis hier.« Er fuhr sich über den Hals.

»Und wo arbeiten Sie?« fragte Petja.

»Ich bin Direktor«, antwortete Beleschow mit bescheidenem Stolz. »Habe ein Kulturhaus. Mit einem Saal für tausendeinhundert Personen. Schon allein künstlerische Intelligenz gibt's in Hülle und Fülle. Dirigenten, Regisseure, Schauspieler, Solisten. Ich bin zweiundzwanzig Jahre dabei. Und habe folgende Schlußfolgerung über sie gezogen: In der dritten Generation ist's mit denen aus und vorbei. Da muß von vorn angefangen werden. Angenommen, bei einem verläuft alles normal. Er strengt sich an, trinkt nicht, schafft, erntet Beifall, Ehrungen und alles übrige. Der Sohn, sage ich Ihnen, ist schon nicht mehr das. Der versetzt mehr, als er schafft. Na, und dem Enkel ist bloß noch das Gefängnis sicher, wahrhaftig. Das sind die, die in fremden Wohnungen stöbern. Wie gestern. Stimmt's?«

»Kennen Sie den Inhaber der Wohnung?« fragte Petja entschlossen. Ihm war klargeworden, daß sein Gesprächspartner immer weiter solche globalen Probleme erörtern würde und von selbst nie auf diese Frage zu sprechen käme.

»Auch über ihn sage ich Ihnen meine Meinung«, antwortete Beleschow energisch. »Das ist kein Maler, sondern ich weiß nicht was. Sein Vater war ein richtiger Meister, ein verdienter Mann. Diesen hier bitte ich: >Igor, mal mir ein Wandbild im oberen Foyer, kriegst es gut bezahlt.< - >Nein<, antwortet er, >ich fahre jetzt an den Busen der Natur.<«

»Also ist er Maler?« fragte Petja verwundert. »In seiner Wohnung hängt doch bloß ein Bild. Und überhaupt.«

»Ach!« Beleschow winkte ärgerlich ab. »Ein Jahr hat er die Wohnung schon, aber drin gewohnt hat er höchstens einen Monat. Fast ein halbes Jahr hat er auf Kamtschatka verbracht. Und jetzt ist er schon ungefähr zwei Monate weg. Wenn da ein Rohrbruch ist oder sonst was, kannst du so nett sein und seine Schwester anrufen! Und in der Wohnung geht ein und aus, wer will. Ich meine es buchstäblich so: Wer will.«

»Und woher haben die Leute den Schlüssel?«

»Was weiß ich.«

»Vielleicht von der Schwester?«

»Bestimmt nicht. Die gibt den Schlüssel nicht irgend jemand. Ich kenne sie, sie ist hier gewesen. So eine Strenge, Unabhängige, Grauhaarige. Sie ist bestimmt älter als ich.«

»Und die, die gestern hier waren, haben Sie nicht zufällig gesehen?«

»Ich habe nicht mal gehört, wie sie gekommen sind, merkwürdig. Ich muß wohl gerade ferngesehen haben.«

»Haben Sie überhaupt mal jemand in die Wohnung gehen sehen?«

»Selbstverständlich.«

»Wie lange sind Sie schon krank? Entschuldigen Sie die Frage.«

»Zwei Wochen. Sie dürfen aber nicht denken.«

»Nein, nein, ich denke gar nichts«, unterbrach ihn Petja. »Ist in diesen zwei Wochen jemand in der Wohnung gewesen? Können Sie den Betreffenden beschreiben?«

»Gewiß.« Beleschow nahm eine würdevolle Haltung ein und rückte die Brille zurecht. »Da war zum Beispiel ein junger Mann. Er fummelte und fummelte mit dem Schlüssel, da ging ich natürlich hinaus. Nun, was soll ich über ihn sagen? Er war groß, rotblond, sehr höflich. So und so, Igor hat mich gebeten, etwas zu holen. Darauf ich: >Na, dann hol es.<«

»Ist das schon lange her?«

»Ich glaube, es war vorgestern.«

Das könnte Pest gewesen sein, dachte Petja. Schon nach dem Mord.

»Und noch einen hab ich gesehen«, fuhr Beleschow fort. »Dreimal haben wir uns getroffen. Ich dachte schon, er wohnt bei Igor. Einmal kam er mit Brot.«

»Und wie sah der aus?« fragte Petja.

»Der war schon älter. Bestimmt über vierzig. Er war elegant gekleidet. Ein richtiger Herr. Oder ein Dirigent. Er ist in einem Dienst-Wolga vorgefahren. Oho, dachte ich, ein großes Tier. Nun, und das dritte Mal kam er mit einer Dame, genauer gesagt, einem jungen Mädchen, einer richtigen Schönheit.«

»Können Sie sie beschreiben?«

»Nun ja. Funkelnde schwarze Augen, groß wie Untertassen. Brünett. Hübsches Näschen, hübsches Mündchen.«

»Was hatte sie an?«

»Was sie anhatte? Einen Lammfellmantel. Dazu eine Pelzmütze - so ein Ding.« Beleschow hob die Hände über den Kopf. »Stiefelchen. Umwerfend.«

Oho, dachte Petja. Das war Musa. Aber nicht mit Pest, sondern einem anderen. Er gab ihm zunächst einmal den Namen »Onkel«.

»Hatten Sie keine Gelegenheit, mit diesem Onkel zu sprechen?« fragte Petja hoffnungsvoll.

»Hatte ich. Wir fuhren zusammen im Lift hoch. Ein kultivierter Mann. >Ich kenne die Familie schon lange<, sagt er. >Zur Zeit bin ich auf Dienstreise in Moskau, da haben sie mir angeboten, hier zu logieren. Ich werde Sie keinesfalls stören.< - >Ich bitte Sie<, antworte ich, >von mir aus können Sie dort wohnen, solange Sie wollen<. Nun habe ich ihn schon seit ein paar Tagen nicht gesehen. Wahrscheinlich ist er abgereist.«

»Hat er Ihnen nicht gesagt, woher er kommt und wie er heißt?«

»Woher er kommt, hat er mir nicht gesagt. Aber wie er heißt.« Beleschow runzelte die Brauen und starrte nachdenklich zur Decke. »Es ist, wissen Sie, ein ganz seltsamer Name. Er endet auf >ar<. Bomar. Gomar. Der Vatersname aber ist normal - Iwanowitsch. Der Familienname ist auch nicht einfach. Ich habe ihn vergessen. Ich hatte ja auch keinen Grund, ihn mir zu merken.«

Im stillen hatte Petja schon folgendes Schema gebaut: Igor gibt den Wohnungsschlüssel diesem »Onkel« und fährt weg. Nein. Igor ist vor zwei Monaten weggefahren, der »Onkel« aber erst vor kurzem hergekommen. Also hat der »Onkel« den Schlüssel von der Schwester erhalten. Und nach dessen Abreise hat sie ihn Pest gegeben. Das ist wirklich merkwürdig. Ja, ich muß wohl diese Schwester besuchen, die Unabhängige und Grauhaarige, dachte Petja mißvergnügt. Der »Onkel« kennt also die ganze Familie schon lange. Und Pest, der selten in Moskau ist, kennt immerhin Igor. Woher kennt er Igor? Oder hat Pest gelogen und kennt Igor überhaupt nicht? Aber wo hat er dann den Wohnungsschlüssel her, woher kennt er den Namen des Wohnungsinhabers? Man mag es drehen und wenden, wie man will, es bleibt nur die Schwester. Sie kennt Pest und vertraut ihm den Schlüssel an? Das ist zweifelhaft. Hat der »Onkel« ihm den Schlüssel gegeben? Warum? Er hat doch Musa hergebracht, und es ist anzunehmen, daß Pest davon nichts wußte. Hat sie's mit beiden? Petja spürte, daß er sich in all diesen Fragen verhedderte. Er hatte immer Schwierigkeiten, wenn es galt, allgemeine Probleme zu lösen und die Hauptlinie festzulegen, nach der vorgegangen werden sollte. Er hatte immer den Eindruck, als lasse er dabei etwas außer acht, als vergesse er etwas Wichtiges, wie das mitunter auch geschah. Wenn aber ein anderer diese Linie für ihn festlegte, dann folgte Petja ihr sicher und findig. Woran sollte er sich jetzt halten? Worauf kam es an? Über den Wohnungsinhaber schien alles klar zu sein. Ein Maler, seit zwei Monaten abwesend. Die Schwester wohnt in Moskau. Musa und Pest kennt dieser Nachbar überhaupt nicht. Bleibt der »Onkel«. Was weiß er über den rätselhaften »Onkel«?

»Wo arbeitet dieser Onkel, was meinen Sie, Artemi Wassiljewitsch?« fragte Petja hoffnungsvoll.

»Was für ein Onkel? Entschuldigen Sie.« Beleschow schaute Petja durch die Brille erstaunt an, er hörte sogar auf, die Daumen auf dem Bauch zu drehen.

»Dieser Logiergast bei Igor«, erklärte Petja lächelnd. »Der Einfachheit halber nenne ich ihn Onkel.«

»Wo er arbeitet? Er hat etwas angedeutet. Mit Versorgung hat er zu tun, glaube ich. Offen gestanden, ich kenne mich da nicht so aus. Es ist sozusagen nicht meine Sphäre. Ja!« rief er plötzlich lebhaft. »Wir hatten da ein Gespräch. Ich sagte im Scherz zu ihm: >Versorgen Sie mich mit Blasinstrumenten. Ich bezahle Sie großzügig. Das Orchester ist am Zusammenbrechen, der Dirigent verliert die Nerven. Können Sie sich das vorstellen?< Ja! Und dann fällt mir noch folgendes ein: Er hat ein Schnurrbärtchen, ein ganz schmales, schwarzes, wie ein Strich. Und auf der rechten Wange ein Muttermal. So groß.« Er legte zwei Finger ringförmig zusammen. »Wie ein Zwanzigkopekenstück. Wenn Sie ihn treffen, dann erkennen Sie ihn sofort an dem Muttermal, dafür verbürge ich mich.«

»Bestimmt«, sagte Petja. »Aber was hat er Ihnen geantwortet, als Sie das von dem Orchester sagten?«

»Er lächelte fein und antwortete: >Das ist nicht mein Gebiet. Wenn Sie Textilwaren brauchen, Massenbedarfsartikel, dann können wir uns unterhalten.< Nun, ich entgegnete ihm mit seinen Worten, natürlich ebenfalls im Scherz: >Das ist nicht mein Gebiet, sonst gern, das erkläre ich Ihnen als Direktor.< Da lachte er. >Hauptsache, erst einmal Direktor sein. Dann ist es nebensächlich, ob es sich um ein Kulturhaus handelt oder ein Textilkaufhaus. Ein Kaufhaus ist da sogar vorteilhaftere Taktgefühl, sage ich Ihnen, fehlt ihm völlig. Was heißt vorteilhafter? Ich bin doch kein Kaufmann, sondern immerhin Kulturarbeiter«, schloß Beleschow ärgerlich.

»Haben Sie vielen Dank«, sagte Petja und stand auf. »Ich möchte Sie nicht länger stören. Ich wünsche Ihnen gute Besserung.«

»Danke«, antwortete Beleschow würdevoll. »Wenn Sie mich brauchen, ich stehe Ihnen immer zur Verfügung.«

Als Petja auf dem Treppenabsatz war, hatte er es nicht eilig, den Lift zu holen. Von diesem Absatz gingen noch die Türen von zwei anderen Wohnungen ab. Bevor er heraufgefahren war, hatte er sich in der Hausverwaltung das Hausbuch zeigen lassen und festgestellt, welche Nachbarn Igor Jewgenjewitsch Kontschewski hatte, der Mitglied des Künstlerverbandes war, alleinstehend, 1946 geboren. Deshalb wußte Petja Bescheid. In der einen Wohnung traf er eine junge Frau mit Säugling und deren Mutter an. In der zweiten eine gehbehinderte alte Rentnerin, die Petja keine nützlichen Hinweise geben konnte, weil sie fast taub war und schlecht sah.

Dagegen wußte die junge Mutti mit dem Namen Ljolja alles, was ringsum geschah. Sie erklärte, daß Gwimar Iwanowitsch - Ljolja wiederholte den sonderbaren Namen zweimal mit gewissem Stolz - in einem Ministerium arbeite, daß er aus Kiew dienstlich nach Moskau komme und jedesmal in Igors Wohnung logiere, ihr Mann sei mit Igor gut befreundet. Bei Gwimar Iwanowitsch sei - freilich schon während seines vorigen Aufenthalts - ein mittelgroßer Mann gewesen, ungefähr fünfundvierzig Jahre alt, lustig, interessant, leichtsinnig sogar. Er habe sie ins Theater eingeladen. An sein Gesicht könne sie sich nicht erinnern, aber wenn sie ihn sähe, würde sie ihn sofort erkennen.

»Hat Gwimar Iwanowitsch Sie mit ihm bekannt gemacht?« fragte Petja fröhlich.

Ljolja war etwas mollig, sie hatte lebhafte braune Augen und Grübchen in den roten Wangen. Es war einfach unmöglich, ernst mit ihr zu reden, man wollte unbedingt scherzen und Süßholz raspeln. Und es erschien Petja durchaus natürlich, daß Gwimar Iwanowitschs Freund sich leichtsinnig ihr gegenüber verhalten hatte.

»Selbstverständlich hat Gwimar Iwanowitsch uns bekannt gemacht. In dieser Hinsicht ist er sehr rührig.« Ljolja lachte so ansteckend, daß Petja schmunzeln mußte. »Als er Anlauf nahm«, fuhr Ljolja fort, »dachte ich mir gleich, daß er mich einlädt. Aber er lud mich ausgerechnet ins Theater ein. Und da sagte Gwimar Iwanowitsch zu ihm: >Vergiß nicht: Sie darf nicht länger als eine Stunde das Haus verlassen. Sonst weint das Baby.< Na, da ließ er gleich die Flügel hängen.«

»Und wie heißt dieser Bekannte?«

»Viktor.«

»Haben Sie ihn wiedergesehen?«

»Nein. Als ich Gwimar Iwanowitsch in der Woche traf, sagte er: >Mein Freund wartet, bis Ihr Andrej größer ist und Sie mehr freie Zeit haben.< Und ich antwortete: >Wenn ich Andrej verheiratet habe, werde ich mich Ihrem Freund widmen.<« Ljolja lachte wieder hell auf. Aber schlagartig, als sei ihr etwas eingefallen, wurde sie ernst und fragte: »Sie sind also von der Miliz?«

»Genau«, bestätigte Petja nicht sehr ernst.

»Oh, so erklären Sie mir doch endlich vernünftig, was dort bei Igor eigentlich vorgefallen ist!« Sie deutete auf die Nachbarwohnung. »Im Haus wird ja wer weiß was getratscht.«

Indessen kam eine korpulente Frau mit einem Kind auf den Armen ins Zimmer.

»Das ist meine Mutter«, sagte Ljolja.

Die Frau nickte Petja zu. Sie hatte, obwohl sie höchstens fünfundvierzig Jahre alt war, ein gedunsenes, krankhaft blasses Gesicht.

»Also, was ist vorgefallen? Sprechen Sie«, sagte Ljolja.

»Genaues ist noch nicht bekannt«, antwortete Petja. »Offenbar haben irgendwelche Rowdys einen Mann in die Wohnung gelockt, verprügelt und eingesperrt.«

»Und ausgeraubt natürlich?«

»Ja. Und dann sind sie geflohen. Und der Mann hat Lärm geschlagen.«

»Ich hoffe doch, daß nicht Gwimar Iwanowitsch ihn hineingelockt hat? Der verlockt eher eine Frau, aus Zärtlichkeit«, sagte Ljolja kichernd.

»Er war es nicht, soviel steht fest«, stimmte Petja ihr zu. »Aber den, der es war, müssen wir finden.«

»Wo ist denn Gwimar Iwanowitsch?«

»Offenbar schon abgereist.«

»Ach!« Ljolja winkte mit dem rundlichen Händchen ärgerlich ab. »Sie finden ja sowieso keinen. Nie wird einer gefunden. Das steht nur immer in den Zeitungen, daß einer gefunden wurde.«

»Trotzdem kommt es vor, daß wir einen finden«, erwiderte Petja lächelnd. »Und wie ist Gwimar Iwanowitsch zu Igor in die Wohnung gekommen, hat er Ihnen das erzählt?«

»Natürlich hat er mir das erzählt«, antwortete Ljolja bereitwillig. »Zuerst hat er seine Schwester kennengelernt. Sie war ohne Urlaubsplatz in den Süden gefahren, und Gwimar Iwanowitsch vermietete ihr in seinem Haus ein Zimmer.«

»Ich denke, er wohnt in Kiew?«

»Er hat ein Haus im Süden, am Schwarzen Meer, oder seine Verwandten haben eins, das habe ich nicht so genau verstanden. Nun, und durch die Schwester wurde er auch mit Igor bekannt.«

»Kennen Sie noch irgendwelche Freunde von Igor?« fragte Petja für alle Fälle.

»Lauter Maler.« Ljolja lachte. »Und dann noch mein Alik, ein verhinderter Maler.«

Aus der weiteren Unterhaltung ging hervor, daß Ljolja als Oberschwester in der chirurgischen Abteilung einer städtischen Klinik arbeitete, wo ihr Mann Alik als Arzt tätig war.

»Er ist ein Schüler von Ilja Michailowitsch Dalf«, sagte Ljolja stolz. »Haben Sie von dem schon gehört? Alik schreibt seine Dissertation bei ihm. In unsere Abteilung werden sogar Patienten aus Spezialkliniken zur Operation gebracht.«

Da mischte sich Ljoljas Mutter ins Gespräch und erklärte gereizt, wenn Alik auch ein Schüler von Dalf sei, so sei es doch keine Art, jeden Abend entweder Dienst zu haben oder zu Freunden zu laufen, um beinahe bis zwei Uhr nachts Preference zu spielen, als habe man keine Familie.

Petja wunderte sich unsäglich, daß dieser ihm unbekannte Alik seine hübsche lustige Frau einer Preference zuliebe vernachlässigte. Bald darauf verabschiedete er sich von beiden Frauen, um sich zu einer dritten zu begeben, zu Igors Schwester Alexandra Jewgenjewna, deren Adresse, ebenso wie die Telefonnummer ihrer Dienststelle, er von Beleschow hatte. Aus dessen Wohnung hatte er Alexandra Jewgenjewna auf ihrer Arbeitsstelle angerufen und ein Treffen vereinbart. Dieses Telefongespräch hatte Petja unangenehm berührt. Alexandra Jewgenjewna sprach barsch, abgehackt, mit feindselig schnarrender Stimme und gab zu verstehen, daß ihr das bevorstehende Treffen lästig sei und sie am liebsten überhaupt ablehnen würde. Aber wenn nötig, solle er eben kommen. Allerdings sei ihre Zeit knapp, und sie könne höchstens eine halbe Stunde für ihn erübrigen. Petja mußte alle Bedingungen akzeptieren und auch noch für die Liebenswürdigkeit danken. Und obwohl er von Natur aus gutmütig war, fuhr er verärgert zu Alexandra Jewgenjewna, und er dachte sich unterwegs allerlei giftige Wendungen aus, die er im Gespräch mit diesem Dämchen einflechten wollte.

Das große alte Haus in einer der Arbatgassen empfing ihn mit einem riesigen halbdunklen Flur. Hoch oben leuchtete geheimnisvoll eine einzige Glühlampe, weiter hinten war die breite, aufwärtsführende Treppe neben dem Eisengitter des vorsintflutlichen Aufzugs kaum zu erkennen.

Auf den Treppenstufen saßen junge Burschen. Ihr Grölen, ihr trunkenes Gelächter und Fluchen hallte in dem leeren Treppenhaus wider. Als der eine Bursche den eintretenden Petja bemerkte, rief er keck: »Onkelchen, komm mal her, gib mir Feuer!«

Petja verfinsterte sich noch mehr. Als er an der Treppe war, fragte er halblaut: »Wer hat mich gerufen? Du? Los, laß dich mal anschauen, damit ich mir dein Gesicht merke.«

Er nahm den erstbesten Burschen beim Kragen, zerrte ihn hoch und schleuderte ihn wie eine kleine Katze beiseite. »Rotzbengel, verdammter! Oder warst du's?« Er schnappte sich den nächsten.

Die anderen sprangen auf und wichen zur Haustür zurück. Der Bursche, den Petja immer noch am Schlafittchen hielt, wollte sich losreißen und ihnen folgen.

»Du wartest«, sagte Petja drohend. »Kommst schon noch zurecht. Richte ihnen aus, daß ich jetzt öfter hier aufkreuzen werde. Und wenn ich einen von euch erwische, zieh ich ihm die Hammelbeine lang. Klar? Eure Visagen merke ich mir. Und nun - hau ab!« Er schubste den Burschen zur Haustür.

Seine Laune war endgültig verdorben.

Der geräumige knarrende Aufzug trug ihn in die fünfte Etage. Auf dem halbdunklen Treppenabsatz entzifferte er mühsam die Wohnungsnummern an den geschnitzten, mit Briefkästen behängten Türen. Schließlich entnahm er der kurzen Liste an einer von ihnen, daß er, wenn er zu Alexandra Jewgenjewna wolle, zweimal kurz, einmal lang klingeln müsse.

Die Tür wurde von einer stattlichen Dame mit großer Hornbrille geöffnet. Üppiges graues Haar schmückte das stolz erhobene Haupt.

»Treten Sie ein«, sagte Alexandra Jewgenjewna erhaben, nachdem Petja sich vorgestellt hatte.

Sie führte ihn durch einen langen, dämmrigen Korridor an mehreren geschlossenen Türen vorbei. Das große Zimmer, das sie betraten, war mit altertümlichen Möbeln vollgestellt, an den Wänden hingen dicht an dicht Bilder unterschiedlicher Größe, vor allem Porträts. An dem verschnörkelten Lüster brannten von den sechs Glühlampen nur drei.

Alexandra Jewgenjewna wies Petja einen plumpen Sessel mit abgeschabten samtenen Armlehnen zu, warf demonstrativ einen Blick auf die Standuhr in der Ecke und sagte mit tiefer, verräucherter Stimme, wobei sie sich in den Sessel auf der anderen Seite des runden Tisches niederließ: »Also, worum handelt es sich, junger Mann?«

Petja teilte zurückhaltend mit, was in der Wohnung ihres Bruders geschehen war.

»Das ist ja unglaublich!« entrüstete sich Alexandra Jewgenjewna und fügte gehässig hinzu: »Das gereicht Ihnen nicht zur Ehre. Ihrer Behörde, wollte ich sagen«, korrigierte sie sich.

Petja reagierte nicht auf ihre sarkastische Bemerkung, sondern fragte ruhig, was Gwimar Iwanowitsch, der zeitweilige Bewohner jener Wohnung, für ein Mensch sei.

Alexandra Jewgenjewna zuckte die Schultern, zündete sich gemächlich eine lange Zigarette an, die sie in eine noch längere Zigarettenspitze gesteckt hatte, und antwortete ungnädig: »Was soll ich dazu sagen? Ein intelligenter Mann. Ist irgendwo angestellt. Er hat uns einmal geholfen, als wir ein Zimmer suchten. Er besitzt ein Haus in Jushnomorsk, nahe am Meer. Hierher kommt er dienstlich. Ich vertraue ihm völlig.«

»Wann ist er abgereist?«

»Er ist noch nicht abgereist.« Alexandra Jewgenjewna streifte die Asche elegant in der großen flachen Perlmuttmuschel ab, die auf dem Tisch stand. »Sonst hätte er mir den Schlüssel zurückgegeben.«

»Dann ist ihm wohl der Schlüssel gestohlen worden? Hat er Ihnen das nicht mitgeteilt?«

»Stellen Sie sich vor, nein!«

»Kennen Sie seine Moskauer Bekannten?« fragte Petja.

»Einen nur. Wie heißt er doch? Er brachte ihn einmal mit. Ach ja! Viktor Arsentjewitsch. Weil er Gemälde besitzt, bildet er sich ein, etwas von Malerei zu verstehen. Lachhaft!« Verächtlich verzog sie das Gesicht und streifte wieder elegant die Asche ab. »Wenn er auch manches hinzukauft.«

»Arbeitet er auf diesem Gebiet?«

»Wo denken Sie hin! Ein regelrechter Dilettant. Er arbeitet in einem Werk oder einer Fabrik. Als was, weiß ich nicht.«

»Wo hat er die Gemälde her?« erkundigte sich Petja.

»Sein verstorbener Schwiegervater hat sie gesammelt, sagt er. Seine Frau hat sie geerbt. Der Schwiegervater soll ein berühmter Arzt gewesen sein. Und verstand auch etwas von Malerei, nach der Sammlung zu urteilen. Dieser Viktor Arsentjewitsch hat mir eine Liste der Bilder gezeigt. Eine recht gute Sammlung. Italiener, Holländer, russische Realisten.« Alexandra Jewgenjewna sprach geringschätzig. Kurzsichtig blinzelnd blickte sie an Petja vorbei. Dann fiel ihr Blick auf die Uhr, und sie richtete sich, als wollte sie sich erheben, in ihrem Sessel auf. »Noch etwas?« fragte sie schroff.

»Hat Gwimar Iwanowitsch gesagt, wann er abreist?«

»Nein. Gewöhnlich bleibt er eine bis anderthalb Wochen. Aber, ich wiederhole es, wäre er abgereist, hätte er mir vorher den Schlüssel gebracht. Wie immer.«

»Vielleicht übernachtet er bei Viktor Arsentjewitsch? In dem Haus Ihres Bruders hat man ihn schon drei, vier Tage nicht gesehen.«

»Er ist ein Mann und kann sonstwo übernachten«, sagte Alexandra Jewgenjewna streng. »Fragen Sie nicht so naiv.« Kritisch musterte sie Petja und fügte hinzu: »Arbeiten Sie schon lange bei Ihrer Miliz?«

»Es ist nicht meine Miliz«, antwortete Petja brummig, »sondern Ihre.«

»So?« Alexandra Jewgenjewna machte kein Hehl aus ihrer Ironie. »Das habe ich eigentlich noch nie bemerkt.«

»Wenn etwas passiert, werden Sie es merken«, antwortete Petja.

Er hätte gern geraucht, fand es aber erniedrigend, diese arrogante Person um Erlaubnis zu bitten. Deshalb beherrschte er sich und ärgerte sich immer mehr über sie und über sich selbst.

»Wenn etwas passiert«, entgegnete Alexandra Jewgenjewna so ironisch wie zuvor, »dann merke ich, daß Sie schlecht arbeiten. Wenn Sie gut arbeiten, passiert nichts.« Sie blickte Petja an, offenbar erwartete sie eine Diskussion, doch er schwieg.

Nach einer Weile stand er auf und sagte: »Das war's. Entschuldigen Sie die Störung. Ich empfehle Ihnen, das Schloß an Igor Jewgenjewitschs Wohnungstür auswechseln zu lassen, es ist kaputt. Und dann möchte ich Sie bitten...«

»Was denn noch?« fragte Alexandra Jewgenjewna gereizt, drückte die Zigarette aus und erhob sich ebenfalls.

»Wenn Gwimar Iwanowitsch kommt, bitten Sie ihn, mich unverzüglich unter dieser Nummer anzurufen.« Petja zog den Notizblock hervor, schrieb seine Telefonnummer und seinen Namen auf, riß das Blatt heraus und gab es Alexandra Jewgenjewna. Die nahm es verächtlich und legte es, ohne einen Blick daraufzuwerfen, neben den Aschenbecher.

»Ich werde mich bemühen.«

»Es ist sehr wichtig«, sagte Petja.

»Bei Ihnen scheint alles wichtig zu sein«, spöttelte Alexandra Jewgenjewna.

Petja ging schweigend durch den Korridor zur Wohnungstür, und nachdem er sich angezogen hatte, verbeugte er sich stumm, aber höflich vor Alexandra Jewgenjewna, die ihn begleitet hatte.

Erleichtert lief er die breite Treppe hinunter. An den Aufzug dachte er nicht.

Der Tag ging zu Ende. Petja fuhr zur Dienststelle. Unterwegs sagte er sich, daß seine interessanteste und wichtigste Entdeckung heute wohl dieser Gwimar Iwanowitsch sei.

Valja Denissow kehrte, nachdem er den Auftrag erhalten hatte, Musa zu suchen, in sein Zimmer zurück, setzte sich an den Schreibtisch, zündete sich eine Zigarette an und überlegte - kühl, streng logisch, ohne alle Emotionen. Was geschehen war, war geschehen, jetzt mußte er entscheiden, wie er die Suche gestalten wollte. Er kannte den Namen der Gesuchten - Musa Wladimirowna Lesnowa. Er kannte ihre Adresse, ihre Telefonnummer, ihre Arbeitsstelle, und er wußte, wie sie aussah. Doch all dies nutzte ihm bislang nichts, denn sie war nicht zu Hause und auch nicht auf der Arbeitsstelle. Valja überzeugte sich telefonisch gleich noch einmal davon. Was blieb? Es blieben die Verwandten und die Freunde, bei denen Musa sein konnte. An Verwandten hatte Musa nur die Mutter, die allein lebte. Die Adresse und die Telefonnummer von Albina Afanassjewna hatte Valja ebenfalls. Nun, und von den Freunden kannte Valja, wenn er Pest-Kolja nicht rechnete, nur Nina. Ob er wollte oder nicht, er mußte sich mit ihr treffen.

Zunächst aber begab er sich zu Musas Wohnung, obwohl er wußte, daß sie nicht dort war. Er hoffte dennoch, etwas Brauchbares in Erfahrung zu bringen.

Die Metro fuhr bald über, bald unter der Erde und brachte Valja zur Station »Molodjoshnaja«, nahe Moskaus Grenze, der Ring-Autobahn. Zwischen den Neubauten fand Denissow nicht ohne Mühe das Haus, das er suchte. Es hatte lange grüne Loggien. Nach einem Blick auf das dritte Geschoß, wo Musas Wohnung lag, ging Valja in die Hausverwaltung im Souterrain.

Dies war ein Genossenschaftshaus, und Musas Zweizimmerwohnung hatte einiges gekostet. Aber als Genossenschaftsmitglied war bis vor kurzem Musas Mann Boris Grigorjewitsch Saitschikow eingetragen gewesen, Oberingenieur eines Konstruktionsbüros. Nach der Scheidung wurde Musa Genossenschaftsmitglied, Saitschikow überließ ihr die Wohnung. Sie blieb dort mit dem zweijährigen Töchterchen, das jedoch, den Worten der dicken Buchhalterin aus der Hausverwaltung zufolge, bald darauf von der Großmutter zu sich genommen wurde.

»Musa ist natürlich froh darüber«, fuhr die Buchhalterin bissig fort. »Die hat doch nur Kerle im Sinn.«

Als Mitarbeiter der Miliz interessierte sich Denissow scheinbar überhaupt nicht für Musa, und sie waren wie zufällig auf sie zu sprechen gekommen. Die Fragen, die Musa betrafen, stellte er in gleichgültigstem Ton.

»Sie hat also verschiedene Liebschaften?« fragte er.

»Klar. Mal mit dem einen, mal mit einem andern. Sie bringt sie mit nach Hause. Kommt mitten in der Nacht mit dem Taxi. Welcher Ehemann hält das aus, noch dazu ein Ingenieur?« fragte die Buchhalterin empört. »Nun, da ist er eben abgehauen, hat alles stehen- und liegenlassen. Mein Gott, wenn ich so einen Mann hätte, ich...«

»Und jetzt lebt sie allein?«

»So was gibt's bei Musa nicht. Die Männer fliegen auf sie wie auf Honig. Sie ist eben attraktiv.«

»Und wen hat sie im Augenblick?«

»So einen Rothaarigen. Langen. Scheint ein Dienstreisender zu sein. Ein stiller, freundlicher Mann. Die Nachbarn sagen, von dem ist kein grobes Wort zu hören. Und wenn er da ist, ist auch Musa still. Dabei hat sie ihren Mann manchmal heruntergeputzt, daß es durchs ganze Haus schallte.«

Als Valja sich von der geschwätzigen Buchhalterin verabschiedet hatte, ging er zu Musas Nachbarn. Aus dem Hausbuch wußte er, daß es sich um eine große Familie handelte. Doch er traf nur die eine Großmutter an, die andere war zur Arbeit. Valja fragte, ob es an der Hausverwaltung etwas auszusetzen gebe. Natürlich gab es das, und die Unterhaltung nahm allmählich nicht nur lebhaften, sondern sogar dramatischen Charakter an. Die kleine alte Frau, die so ruhig und bescheiden wirkte, erwies sich als außerordentlich energisch. In dieser Situation war es nicht schwierig, auf die Nachbarin zu sprechen zu kommen. Und Valja erfuhr einen wichtigen Umstand: Musa hatte nicht zu Hause übernachtet. Tags zuvor war sie, wie immer, morgens zur Arbeit gegangen, und ungefähr zwei Stunden später hatte sich auch ihr Liebhaber entfernt. Seitdem war Musa nicht heimgekehrt.

»Sicherlich hat sie bei ihrer Mutter geschlafen«, meinte die Oma.

Alles wäre verständlich gewesen, wenn sich Musa ins Restaurant begeben hätte. Aber weder gestern noch heute war sie dort erschienen.

Und Denissow fuhr durch ganz Moskau zur Perwomaiskaja-Straße, in der Musas Mutter wohnte. Wo kann Musa stecken? überlegte er unterwegs. Höchstwahrscheinlich hat sie die Nacht mit diesem Pest verbracht. Dann muß sie wissen, wo er sich verkrochen hat und wo sich sein Kumpan Ljocha aufhält. Durch Musa diesen Pest aufzuspüren - das ist der schnellste und sicherste Weg. Deshalb muß ich sie unbedingt finden, diese unsolide junge Frau.

Die Fahrt verging wie im Flug. Auf der Station »Perwomaiskaja« stieg Denissow ans Tageslicht und schritt, die Hausnummern studierend, den Bürgersteig entlang. Er brauchte nicht weit zu gehen. Das gesuchte Haus stand in der Nähe der Metrostation, weit hinten in einem verschneiten Hof.

Die Tür öffnete ihm eine mittelgroße schlanke Frau mit schwarzen Haaren. Zu einer tadellos sitzenden Hose trug sie eine bunte offene Jacke. Nur das fahle Gesicht und die Fältchen in den Mundwinkeln, an den Augen und am Hals verrieten Albina Afanassjewnas Alter. Aber die lebhaften Augen mit dem blaßblauen Lidschatten und die geschminkten Lippen zeugten davon, daß sie nicht aufgehört hatte, auf ihr Äußeres zu achten.

Denissow hatte vorgehabt, den Zweck seines Besuches nicht zu verheimlichen. Als Mutter mußte Albina Afanassjewna daran interessiert sein, daß sich ihre Tochter anständig aufführte. Da sie das Enkelchen zu sich genommen hatte, war sie mit ihrer Tochter und deren Lebensweise sicherlich nicht einverstanden, wünschte sich aber, daß das geliebte Enkelkind eine gute Mutter habe. Doch bei Albina Afanassjewnas Anblick dachte Valja plötzlich: Ob sie nicht das Enkelkind genommen hat, um der Tochter diesen Lebenswandel zu ermöglichen, um sie von allen Sorgen zu befreien, damit sie sich vergnügen kann, wie sie selbst sich wahrscheinlich einst vergnügt hatte, und gleichzeitig einen neuen Ehemann findet, der besser ist als ein Ingenieur? Und wenn dies so war, konnte es sein, daß Albina Afanassjewna vom Erscheinen eines Milizmitarbeiters nicht erbaut war und vorsichtig wurde, und dann war an ein offenherziges Gespräch nicht zu denken. Nein, diese durchaus noch attraktive Frau flößte Valja kein Vertrauen ein.

Deshalb lächelte Valja bieder und fragte: »Guten Tag, sind Sie Albina Afanassjewna?«

»Ja«, antwortete sie.

»Entschuldigen Sie«, sagte Valja verlegen, »ich suche Kolja, ich bin sein Kumpel.«

Die Frau schaute ihn erstaunt an. »Welchen Kolja?«

»Er ist mit Musa befreundet.«

»Ach, das hatte ich ganz vergessen, bitte, treten Sie ein. Zwischen Tür und Angel redet es sich schlecht.«

»Danke. Ich bleibe nur einen Augenblick.« In dem kleinen Korridor legte Denissow Mantel und Mütze ab und strich sich die Haare glatt. Albina Afanassjewna bat ihn ins Zimmer. Ihr war anzumerken, daß der unerwartete Gast sie interessierte.

»Hier schläft mein Enkelkind, sprechen Sie bitte leise«, bat sie.

»Vielleicht gehen wir in die Küche?« schlug Valja vor.

»Das können wir machen.«

In der sauberen hellen Küche fühlte sich Valja ungezwungener. »Ich bin eben in Moskau angekommen und suche Kolja«, erklärte er, als er sich an den Tisch setzte. »Bei Musa bin ich schon gewesen. Kolja hatte mir die Adresse aufgeschrieben. Doch die Nachbarin sagte mir, Musa sei letzte Nacht nicht zu Hause gewesen, und schickte mich zu Ihnen. Und da bin ich nun. Entschuldigen Sie.«

»Schon gut.« Albina Afanassjewna schwenkte wie abwehrend die schmale Hand. Eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren Brauen. »Allerdings weiß auch ich nicht, wo Musa ist.«

»Und Kolja?« fragte Valja treuherzig.

Albina Afanassjewna strich sich lachend eine Strähne aus der Stirn. »Wie komme ich dazu, auf den achtzugeben? Ich kenne ihn ja gar nicht. Musa hat Freunde noch und noch. Und sie ist nicht darauf versessen, sie mir vorzustellen.« Sie seufzte.

»Und Sie haben ihn nie gesehen?« fragte Valja erstaunt.

»Doch. Einmal. Ich fuhr zu Musa, und er war gerade da.«

»Er ist ein hübscher Junge. Ein sehr hübscher sogar.«

»Ob hübsch oder nicht«, entgegnete Albina Afanassjewna bekümmert, »Musa muß ein neues Leben anfangen, und dafür ist hübsches Aussehen allein zu wenig. Da kommt es auf Solidität an, auf eine gute Position. Musa ist ja kein junges Mädchen mehr. Gwimar Iwanowitsch, ja, der könnte sie in Gold fassen.«

»Was ist er, Ihr Gwimar Iwanowitsch, ein Prinz?« fragte Valja spöttisch.

»Ein Prinz ist er nicht, aber Geld hat er offenbar mehr als ein Prinz«, antwortete Albina Afanassjewna und fügte hinzu: »Zum Beispiel hat er ihr einen Ring geschenkt. Mit drei Steinen. Der ist unbezahlbar.«

»Alles ist bezahlbar«, sagte Valja. »Wir haben nur manchmal vom Preis keine Ahnung.«

»Da braucht man sich gar nicht auf die Ahnung zu verlassen. Musa hat ihn schätzen lassen. Und sie haben ihr dreitausend geboten.«

»Oho! Hat er ihn einfach so geschenkt? Um ihrer schönen Augen willen?«

»Nein, aus Berechnung. Er möchte sie heiraten. Und er hat Musa auch Geld für einen Farbfernseher gegeben. Sie muß ihn aber auf Abzahlung kaufen. Ich habe gestern schon die Formalitäten erledigt. Was will man mehr?«

»Und Musa?«

»Musa? Die lacht, die dumme Gans. Und dabei könnte sie...«

»Kolja ist auch nicht unbemittelt.« Valja hielt es für seine Pflicht, dem angeblichen Kumpel beizustehen. »Der Lammfellmantel, den er ihr geschenkt hat.«

»Ach!« Albina Afanassjewna seufzte wieder. »Gwimar Iwanowitsch hat ihr gesagt: >Bedenke, das, was Kolja hat, sind Groschen im Vergleich zu dem, was ich habe.< Wenn er will, schenkt er ihr ein Haus, nicht bloß so 'n Mantel.«

»Woher hat er das viele Geld?«

»Woher? Je weniger wir wissen, desto ruhiger schlafen wir.«

Oho, dachte Denissow. Ein neues Motiv. Wer ist Gwimar Iwanowitsch?

»Ja«, stimmte er zu. »Man muß sehen, wo man bleibt.«

»Das meine ich auch«, sagte Albina Afanassjewna. »Sie hat ein Töchterchen. Das braucht doch einen Vater.«

»Selbstverständlich«, pflichtete er ihr bei und fügte hinzu: »Kolja hat auch eine kleine Tochter zu Hause. Sie ist jetzt in die Schule gekommen.«

»Na bitte«, brauste Albina Afanassjewna auf, und ihr Gesicht wirkte böse und zugleich müde. »Das ist doch meine Rede! Und die Frau hat er natürlich sitzenlassen, stimmt's?«

»Na ja«, sagte Valja unschlüssig.

»Dumme Gans! So eine dumme Gans!« rief Albina Afanassjewna wütend. »Aber wie ich Ihnen helfen soll, weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wo die beiden stecken. Wo sie schlafen, wo sie sich herumtreiben. Ach, richtig! Sie rief mich gestern mittag an. >Bestell Nina<, sagte sie, >wenn sie anruft<, - das ist ihre Freundin - , >daß ich bei dir übernachtet habe.< - >Und wo bist du?< hab ich gefragt. >Ich bin weit weg, Mama<, hat sie geantwortet. >Morgen komm ich zurück.< Das war alles.«

»Mußte sie denn nicht zur Arbeit?«

»Sie arbeitet jeden zweiten Tag. Heute hat sie Schicht. Himmel, das habe ich ja ganz vergessen! Rufen Sie sie im Restaurant an. Oder nein, das mach ich selbst.«

Albina Afanassjewna lief in den Korridor, wo das Telefon stand. Valja blieb sitzen, er hörte, was sie draußen sagte.

»Ich möchte Musa Lesnowa sprechen«, bat Albina Afanassjewna. »Wieso nicht?« fragte sie enttäuscht. »Hier ist die Mutter. Woher soll ich das wissen?.« Und plötzlich schrie sie: »Schließlich ist sie erwachsen, erwachsen! Ich führe sie doch nicht am Händchen!. So was nennt sich Kollektiv!. Ihr kümmert euch ja um keinen! Um keinen!«

Valja stürzte in den Korridor und versuchte ihr den Hörer aus der Hand zu nehmen. Aber Albina Afanassjewna klammerte sich zeternd daran, obwohl schon kurzes, gleichgültiges Tuten ertönte.

Als das Kind zu weinen begann, schleuderte Albina Afanassjewna den Hörer mit solcher Wucht weg, daß Valja ihn beinahe nicht hätte auffangen können, und rannte jammernd ins Zimmer.

»Du meine arme, verlassene Waise! Von allen verlassene Waise! O Gott, dieses verfluchte Leben.«

Gleich darauf kam sie mit dem Kind auf dem Arm in den Korridor zurück. Ihre geschminkten Lippen zitterten, die erweiterten Augen blickten verstört. »Komm!« kreischte sie wie eine Wahnsinnige. »Wir gehen sie suchen! Unsere Natter! Unsere Schlampe!«

Das Kind wand sich schreiend in ihren Armen.

»Beruhigen Sie sich doch. Albina Afanassjewna! Bitte!« sagte Valja erschüttert.

»O diese Natter! Wo ist sie? Wo?« kreischte Albina Afanassjewna, während sie im Korridor und im Zimmer irgendwelche Sachen suchte.

Und da brüllte Valja plötzlich mit einer Stimme, die ihm nicht zu gehören schien: »Ruhe!«

Albina Afanassjewna verstummte sofort, blickte ihn erschreckt an und glitt an der Wand zu Boden, wobei sie das still gewordene Kind an sich preßte. Der Anfall war vorüber.

Valja nahm ihr das Kind ab, legte es ins Bettchen und deckte es zu, dann half er Albina Afanassjewna auf und führte sie in die Küche. Sie sank schluchzend und murmelnd auf einen Stuhl. Nach ein paar Minuten kam sie zu sich und blickte Valja mit wachen Sinnen an.

»Haben Sie das oft?« fragte er hart.

»Wenn ich mit meiner Kraft am Ende bin. Ich hasse sie. Sie hat mir mein Leben zerstört. Und dem Kind zerstört sie's auch.« Albina Afanassjewna wies auf das Zimmer, wo die Kleine schlief, und wiederholte mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich hasse sie.«

»Aber sie ist Ihre Tochter«, bemerkte Valja feindselig.

»Verflucht soll sie sein! Sie ist nicht meine Tochter, sondern eine Schlange!«

»Sie haben sie erzogen! Wahrscheinlich haben Sie ihr ein Beispiel gegeben.«

»Was? Wenn das Luder kommt, dann.«

»Genug!« fuhr Valja dazwischen. »Überlegen Sie lieber, wo und bei wem sie und Kolja jetzt sein können. Überlegen Sie«, befahl er. »Wir müssen sie finden.«

Albina Afanassjewna preßte gekränkt die Lippen zusammen, dann strich sie sich müde das Haar aus der Stirn, rieb sich die Wangen, als wasche sie etwas ab, und sagte nachdenklich: »Nina hat nicht angerufen. Vielleicht weiß sie, wo Musa ist. Für mich ist es, offen gestanden, ein Rätsel.« Und mit erneut ausbrechender Wut fügte sie hinzu: »Ich will es auch nicht wissen. Und ich will sie nicht sehen. Soll sie der Teufel holen!«

»Na gut«, sagte Valja müde. »Ich muß jetzt gehn.«

Im Korridor zog er sich langsam an. Albina Afanassjewna blieb in der Küche. Er rief ihr »Auf Wiedersehen«, zu und verließ die Wohnung. Erst jetzt spürte er, wie müde er war. Doch er mußte unverzüglich ins Restaurant fahren und mit Nina sprechen. Hoffentlich war dieser verflixten Musa nichts zugestoßen.

Valja ging zur Metro, fuhr lange in dem polternden halbleeren Wagen, stieg dann aus und ließ sich von der Rolltreppe nach oben befördern. Auf der Straße rannte er zur Trolleybus-Haltestelle und stellte sich zu den wenigen Wartenden. Er hätte etwas essen müssen, und es hätte auch nicht geschadet, ein wenig auszuruhen. Aber er war von fieberhafter Ungeduld erfaßt. Zunächst war es ihm nur darum zu tun, irgendwelche Angaben über Musa zu erhalten. Und seine Gedanken waren klar und sachlich. Doch als er sich dem Restaurant näherte, empfand er freudige Erregung.

Er sprang aus dem Trolleybus, überquerte an der Ampel hastig die Straße und befand sich endlich vor dem Restaurant. Sollte er hineingehen und zunächst etwas essen? Später.

Der Direktor war nicht anwesend, aber Valja war hier schon bekannt, und er machte es sich im Direktorzimmer bequem, bevor er Nina zu sich bat.

Sie erschien sofort, und nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte sie: »Wie gut, daß Sie gekommen sind.«

»Ist Ihnen etwas passiert?« fragte Valja.

»Nein, nein, mit mir ist alles in Ordnung«, antwortete Nina halb entschuldigend, halb beruhigend. »Aber ich brauche Ihren Rat. Denn ich verstehe gar nichts mehr.« Nina, die an der anderen Seite des Tisches saß, senkte den Blick und versuchte ihrer Verwirrung Herr zu werden.

»Was ist los?« fragte Valja eindringlich.

»Erinnern Sie sich? Ich habe Ihnen von meiner Freundin Musa erzählt.«

»Nun ja, ja, natürlich.«

»Also«, fuhr Nina aufgeregt fort, »Musa ist heute nicht zur Arbeit gekommen, und vor einer Stunde hat sie mich angerufen.«

»Sie?« rief Valja unwillkürlich.

»Ja, mich«, antwortete Nina und schaute ihn erstaunt an. »Und wissen Sie, was sie sagte? >Auf Wiedersehen, Ninotschka<, sagte sie, und dann weinte sie. Können Sie sich das vorstellen?«

»Das war alles?«

»Nein. Sie sagte noch, daß sie nicht mehr zur Arbeit kommt. Daß sie wegfährt. Ganz und gar. Wohin, wisse sie selbst nicht.«

»Wisse sie selbst nicht?«

»Kolja bringt sie irgendwohin. Flüsternd sagte sie, wahrscheinlich war er in der Nähe, er drohe, sie umzubringen, wenn sie nicht mit ihm fahre. >Er liebt mich schrecklich<, sagte sie.«

»Tja«, entgegnete Valja verblüfft. »Demnach war sie vor einer Stunde noch in Moskau?«

»Selbstverständlich«, bestätigte Nina und blickte Valja unruhig an. »Was soll ich machen, was meinen Sie? Ich spüre, daß sie nur aus Angst mit ihm fährt. Vielleicht sollte man die Miliz einschalten?«

»Woher rief sie an, hat sie Ihnen das gesagt?«

»Nein.«

»Will sie denn keine Sachen mitnehmen?«

»Ich habe ihr ja auch geraten: >Nimm doch wenigstens etwas mit. Das übrige schicke ich dir nach.< Da fing sie wieder an zu weinen und sagte:

>Kolja erlaubt es nicht. Vielleicht später.< Die beiden sind doch einfach nicht normal!«

»Wissen Sie, warum Kolja so überstürzt abreist?«

»Keine Ahnung. Und wie kann er es wagen...«

»Ninotschka, einen Augenblick.« Valja ergriff den Telefonhörer. Er durfte keine Zeit verlieren, obwohl Ninas Anwesenheit das bevorstehende Gespräch erschwerte. Aber er konnte sie ja nicht einfach hinausschicken.

Hastig wählte Valja eine Nummer. »Hier Denissow. Ist Fjodor Kusmitsch in seinem Zimmer? Aha.« Rasch drückte er die Gabel herunter und wählte erneut. »Fjodor Kusmitsch? Hier Denissow. Ich rufe aus dem Restaurant an. Mir gegenüber sitzt die Freundin der Kellnerin Lesnowa. Ja, ja. Sie sagt, die Lesnowa habe ihr vor einer Stunde telefonisch mitgeteilt, daß sie kündige und Moskau verlasse. Ein gewisser Kolja, verstehen Sie, bringt sie weg und erlaubt ihr nicht mal, ein paar Sachen mitzunehmen. Es ist nichts bekannt. Ja, vor einer Stunde waren sie noch in Moskau. Das ist eine empörende Disziplinlosigkeit. Nein, der Direktor weiß es noch nicht. Natürlich, das muß er selbst entscheiden. Ich möchte Sie nur informieren, da mich die Verwaltung nun mal hergeschickt hat.« Valja schwafelte noch eine Weile allerlei »Dienstliches« und legte den Hörer schließlich erleichtert auf. Streng blickte er Nina an.

»Das Ganze ist eine Unverschämtheit!« sagte er. »Mein Vorgesetzter wird die Miliz verständigen. Sieh an, diese Musa! Aber Sergej Iossifowitsch äußerte sich ja ziemlich abfällig über sie. Also war er durchaus objektiv.«

»Über ihn kann man sich auch abfällig äußern«, erwiderte Nina gekränkt.

»Reden kann man selbstverständlich viel, aber hier liegen ja nun Fakten vor«, sagte Valja. »Ach, übrigens, hat Musa Ihnen von einem gewissen Gwimar Iwanowitsch erzählt?«

»Ja.«

»Und was hat sie erzählt, falls es kein Geheimnis ist?«

»Daß er sie heiraten will. Daß er sehr reich ist. Er hat ihr einen Ring geschenkt und einen Farbfernseher. Sie ist verrückt nach Sachen, etwas anderes interessiert das Dummchen ja nicht.«

»Trotzdem fährt sie mit Kolja. Also ist es ihr nicht um Reichtum zu tun.«

»Oh, ja, natürlich! Aber ich habe Ihnen doch erklärt - sie hat Angst vor ihm, deshalb fährt sie mit.«

»Vielleicht liebt sie ihn?«

»Nein, sie hat Angst. Das habe ich aus ihrer Stimme gehört.«

»Wer ist denn eigentlich dieser Gwimar Iwanowitsch, wo arbeitet er, wissen Sie das?«

»Er kommt, glaube ich, ebenso wie Kolja dienstlich nach Moskau. In irgendeine Fabrik. Kolja hat gedroht, auch ihn umzubringen. Er ist wie von Sinnen vor Liebe. Da übertreibt Musa kein bißchen.«

»Gut und schön«, sagte Valja. »Aber da muß noch etwas sein. Nun, mich betrifft das ja nicht. Es ist nur ziemlich merkwürdig.«

Er fürchtete, Nina könne ihn fragen, woher er von Gwimar Iwanowitsch wisse, den er so unvorsichtig erwähnt hatte. Dann wüßte er keine Antwort, denn über Gwimar Iwanowitsch hatte ihn eben erst Kusmitsch informiert, für alle Fälle, zur Orientierung. Zum Glück war das Mädchen angesichts des Schicksals ihrer Freundin so aufgeregt, daß die Frage des Verwaltungsinspektors sie nicht stutzig machte. Hoffentlich erinnerte sie sich später nicht daran.

Kurz darauf verabschiedete sich Valja von Nina und verließ überstürzt das Restaurant. Gegessen hatte er nun doch nichts. Erst auf der Straße fiel ihm ein, daß er mit Nina kein neues Treffen vereinbart hatte. Aber schon wurde er von anderen Gedanken in Anspruch genommen - unruhigen, fieberhaften, unaufschiebbaren Gedanken. Was war mit Musa geschehen? Wohin wollte dieser Pest sie bringen? Und welche Rolle spielte bei alldem der geheimnisvolle Gwimar Iwanowitsch?

Nach der Dienstbesprechung bei Kusmitsch gehe ich in mein Zimmer und rufe Jegor Iwanowitsch Saweljew an, den Revierinspektor, meinen guten Bekannten, der den mich interessierenden Bezirk wie seine fünf Finger kennt. Und wir verabreden uns.

Ich überbringe Saweljew eine wenig angenehme Neuigkeit - in seinem Revier ist allem Anschein nach ein Mord verübt worden. Da er nichts davon weiß, ist es doppelt unangenehm für ihn.

Ich habe die erste Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, da drängt Saweljew schon zum Aufbruch. Wir verlassen sein warmes Dienstzimmer und machen, vom wütenden eiskalten Wind durchgepustet, die »Runde« über die verschneiten Höfe und durch die Gassen seines unübersichtlichen Reviers. Dabei teile ich ihm die Anhaltspunkte mit, über die ich verfüge: In dem gesuchten Hof befindet sich eine Reihe von Schuppen, an einem von ihnen ist das Schloß beschädigt, das Hoftor ist vor kurzem grün angestrichen worden, vom Hof aus ist die Jelochowskaja-Kirche zu sehen. Und das Wohnhaus, das vom Hof zu betreten ist, hat mindestens zwei Etagen, denn Ljochas Worten zufolge kam der Mann, dem Pest und er auflauerten, aus der zweiten Etage in den Hof.

Wir besichtigen den ersten Hof, den zweiten, den dritten, schlittern über Eishöcker, fallen in Schneewehen, fluchen und wandern weiter. Wir stehen vor Schuppen, reißen an Schlössern, hier und da lösen sie sich, und Saweljew notiert sich das. Mit steifen Fingern malt er unmögliche Krakel.

Der schmächtige, mittelgroße Saweljew ist kein junger Spunt mehr, fünfzig Jahre hat er bestimmt schon auf dem Buckel. Doch seine Bewegungen sind ungestüm und energisch. Sein hohlwangiges Gesicht ist glattrasiert, die Schläfen sind grau, seine Augen tränen im Wind, es sind gute, vertrauenerweckende Augen in einem Netz von Fältchen. Die Milizuniform sitzt ihm wie angegossen. So sieht Saweljew, obwohl er kein Jüngling mehr ist und keineswegs eine Grenadiergestalt hat, doch erstaunlich forsch aus und nötigt jedermann Respekt ab. Übrigens ist es nicht besonders interessant, uns zu betrachten, während wir zwischen den Schneewehen auf den Höfen umherstapfen, und es ist auch kaum jemand da, der das tun könnte, die Kinder sind zum großen Teil noch in der Schule, und der Frost zwickt so sehr, daß die Erwachsenen, ohne sich aufzuhalten, heimlaufen.

Bisher haben wir noch in keinem Hof alle meine Anhaltspunkte bestätigt gefunden, höchstens das eine oder andere - ausgenommen das grüne Tor. Diesem Hauptmerkmal, auf das ich so große Hoffnungen gesetzt hatte, mißtraue ich immer mehr. In der Tat, wer kommt schon auf die Idee, mitten im Winter sein Tor zu streichen? Quatsch! Meine Stimmung sinkt allmählich. Vielleicht hat Ljocha gelogen?

Da ist noch ein Hof. Eng, wie alle Höfe hier. Das dreistöckige Ziegelhaus hat zwei Eingänge. Hinter dem Spielplatz mit den Pilzen, den kleinen Bänken und der Schlitterbahn stehen Schuppen. Über den Dächern der den Hof begrenzenden Häuser ragt die Kuppel der Jelochowskaja-Kirche. Wir nehmen Schuppen für Schuppen in Augenschein. Nein, da ist alles heil, die rostigen Bügel der Schlösser sind wie für die Ewigkeit eingerastet. Dies ist nicht der Hof, bestimmt nicht. Wenn »der« Hof überhaupt existiert. Wir kehren in die schmale, schneeverwehte Gasse mit der tiefen Fahrspur in der Mitte zurück. Auf dem abschüssigen Trottoir, wo es nur einen rutschigen Trampelpfad gibt, können wir nicht nebeneinander gehen. Saweljew geht vor mir. Während ich immer wieder ausgleite und mit den Armen fuchtle, um das Gleichgewicht zu halten, sage ich zu ihm: »Übersieh nichts, Jegor Iwanowitsch!«

»Keine Angst«, antwortet er mit rauher Stimme, ohne sich umzudrehen.

»Bleiben uns noch ein paar geeignete Höfe?«

»Klar. Die hast du in einer Woche noch nicht alle besichtigt. Wir beide sind aber erst drei Stunden unterwegs.«

»Mehr als drei.«

Plötzlich bleiben wir beide gleichzeitig stehen und tauschen einen Blick. Vor uns ist ein schneebekleistertes grünes Eisentor. Die Farbe scheint frisch zu sein, die metallischen Vorsprünge glänzen. Hinter dem Tor gähnt der dunkle Durchgang, weiter hinten ist der Hof zu sehen. Das durch eine Kette gesicherte Tor ist so weit geöffnet, daß sogar ein Dicker durchschlüpfen kann.

»Na, gehn wir rein?« frage ich.

Saweljew schüttelt ärgerlich den Kopf. »Hundertmal bin ich hier gewesen«, sagt er niedergeschlagen, als habe er meine Frage nicht gehört. »Vor zwei Tagen ist hier in eine Wohnung eingebrochen worden. Und das Tor ist mir gar nicht aufgefallen. Ich bin alt geworden, wahrhaftig, ich bin alt geworden.«

»Gehn wir rein?« frage ich wieder.

»Klar, gehn wir rein«, sagt Jegor Iwanowitsch. »Was denn sonst? Sofort gehn wir rein. Mein Gott...«

Mühelos schieben wir uns durch den Spalt, passieren den halbdunklen Torweg und gelangen auf den Hof. Er ist, wie alle Höfe in diesem alten Stadtteil, mäßig groß und von höchst wunderlicher Gestalt. Da sind Vorsprünge, Durchgänge, Sackgassen, Schuppen und fensterlose Brandmauern. Eins der Häuser, es ist vierstöckig, weist mit seinem einzigen breiten Eingang zum Hof. Die graue Fassade ist mit Stuck verziert. Die ungewöhnlich hohen Fenster haben prächtige Fensterkreuze.

Obwohl der Hof so eng ist, hat er doch einen bescheidenen Spielplatz neben den drei oder vier schiefen Bäumen. An einem Schneehügelchen zanken sich zwei .Knirpse um einen Schlitten. Sie tragen gleiche Pelzmäntel und gleiche Schals. Auf der Bank sitzt eine in ein Tuch gemummte Frau und liest in einem Buch, ohne sich durch das Geschrei der Kinder stören zu lassen.

Langsam gehen wir über den Hof. Ich nehme das alte Haus zur Kenntnis, die nahe Kuppel der Jelochowskaja-Kirche, die wunderbar zu sehen ist, und. Aber die Schuppen müssen wir uns aus der Nähe anschauen. Es sind insgesamt vier. Nein, fünf. Sie stehen in ungleichmäßiger Reihe an der fensterlosen Ziegelwand eines Hauses, dessen Fassade dem Nachbarhof zugewandt ist. Sie sind unterschiedlich hoch und breit. Natürlich hängen an allen Schlösser, eins wirkt plump und altertümlich, es könnte von einem Kaufmannsspeicher stammen.

Wir treten heran, und ich stelle fest, daß keines Spuren von Gewaltanwendung aufweist.

»Tja.« Saweljew hebt die Schultern. »Alles paßt soweit, und nun dies - die Schlösser sind offensichtlich unversehrt.«

Seine Worte klingen nicht ärgerlich, sondern eher erleichtert. Ich verstehe ihn. Aber. Ljocha hat diesen Hof mit dem grünen Tor, der Kirche, den Schuppen nicht erfinden können. Auf keinen Fall. Davon bin ich überzeugt.

Ich trete an den äußersten Schuppen und rüttle am Schloß. Noch einmal. Ich versuche es zu drehen, zu kippen. Umsonst. Das Schloß hält. Ich packe das nächste. Das gleiche Ergebnis. Auch der dritte Schuppen ist gut gesichert. Doch der vierte.

Das plumpe Speicherschloß klickt plötzlich in meinen Händen, und der Bügel springt heraus. Sekundenlang bin ich starr vor Überraschung. Saweljew hinter mir schnauft. So ruhig wie möglich sage ich zu ihm: »Bleib hier, Jegor Iwanowitsch, halt Wache. Ich geh anrufen.«

»Bist du dir sicher?« fragt er bekümmert.

»Ja«, sage ich.

Eine halbe Stunde später wimmelt es auf dem Hof von Menschen. Die diensthabenden Einsatzgruppen unserer Kriminalmiliz, der Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft, die Jungs aus der Bezirksabteilung, die Zeugen. Weiter weg drängen sich Einwohner der Nachbarhäuser und die allgegenwärtigen Bengel der gesamten Umgebung, wie von einem geheimnisvollen Telegraphen zusammengetrommelt. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem unserem prächtigen Fährtenhund Mars, der friedlich neben seinem Führer sitzt, die rote Zunge seitlich herausbaumeln läßt und in der Sonne blinzelt. Es ist, als begreife auch er, daß es für ihn hier nichts zu tun gibt, die Ereignisse haben sich vor drei Tagen abgespielt, und alle Spuren sind längst verloren.

Indessen öffnen wir die Schuppentür und beginnen mit Taschenlampen die Durchsuchung. Schließlich entdecke ich in einer Ecke, hinter einem Bretterhaufen, den Leichnam. Der Mann liegt unnatürlich da, beide Arme unter sich, ein Hosenbein ist hochgerutscht. Er trägt einen Wintermantel, keine Kopfbedeckung. Das Gesicht ist fleckig, die Augen sind glasig, an der marmornen adrigen Stirn kleben schwarze Haare. Der Fotograf macht die notwendigen Aufnahmen, dann wird der Mann in die Mitte des Schuppens gelegt, der Arzt beugt sich über ihn, prüft etwas, winkt hoffnungslos ab und sagt zum Untersuchungsführer: »Sie sehen selbst. Zwei Messerstiche. Sofortiger letaler Ausgang. Morgen bekommen Sie das ausführliche Gutachten. Dürfen wir ihn wegschaffen?«

»Augenblick noch«, antwortet der Untersuchungsführer und wendet sich mir zu. »Untersuchen Sie seine Kleidung, Vitali. Aber aufmerksam. Ich schließe das Protokoll ab.«

Ja, er ist nicht beraubt worden. Alles ist da -Brieftasche, Portemonnaie, Uhr, allerhand Krimskrams. Ich gebe die Sachen dem Untersuchungsführer. Seinem Aussehen nach ist der Ermordete fünfundvierzig Jahre alt, das schwarze Haar ist schon schütter, das Gesicht gebräunt, er ist gediegen gekleidet, der Mantel mit Pelzkragen, der schöne dunkle Anzug, das Oberhemd, der Schlips, die Schuhe - alles ist teuer und hochmodern. Wo wollte dieser Mann hin an dem Abend? Zu Besuch? Ins Theater? Weshalb wurde er umgebracht? Wie stets kommen uns tausend Fragen.

»Ein seltsamer Name«, sagt der Untersuchungsführer, der in den Papieren des Ermordeten blättert. »Gwimar. Haben Sie den schon mal gehört? Gwimar Iwanowitsch Semanski.«

Wirklich seltsam. Vielleicht spanisch? Indessen wird der Tote abtransportiert - zur Leichenhalle. Die Papiere bleiben beim Untersuchungsführer. Der Sachverständige und die operativen Kräfte haben den Schuppen untersucht. Ohne Erfolg. Keinerlei Spuren sind zu finden, als hätte der Wind den Ermordeten hereingeweht.

Der Untersuchungsführer verabschiedet sich von mir. Nach einem Blick auf die Uhr schlägt er vor: »Treffen wir uns um sechs bei Fjodor Kusmitsch. Dort besprechen wir alles.«

»Gut«, sage ich. »Einstweilen seh ich mich hier noch ein bißchen um.«

»Richtig«, stimmt der Untersuchungsführer zu. »Versuchen Sie festzustellen, woher er kam, aus welcher Wohnung.«

»Eben«, sage ich und nicke.

Wir sind wieder allein, Saweljew und ich.

Saweljew schaut den Weggehenden nach, bis sie in dem dunklen Torweg verschwunden sind, seufzt bekümmert, wirft die nicht zu Ende gerauchte Zigarette in den Schnee und zerdrückt sie mechanisch mit dem Absatz. Dann wendet er sich mir zu. »Soll ich dir mal was sagen?«

»Ja.«

»Am Tag nach dem Mord ist hier eingebrochen worden.« Er weist auf ein Fenster des Hauses.

»Welcher Stock?«

»Zweiter. Wieso?«

»Semanski ist an dem Abend aus dem zweiten Stock gekommen. Als sie im Hof auf ihn gewartet haben. Das hat Ljocha behauptet.«

»Deiner Meinung nach ist er aus der Wohnung gekommen, in die dann eingebrochen wurde?«

Ich zucke die Schultern. »Wer wohnt dort?«

»Ein Abteilungsleiter. Er arbeitet in einer Fabrik. Ein achtbarer Genosse. Personengebundenes Auto. Ein eigenes hat er selbstverständlich auch. Er heißt Viktor Arsentjewitsch Kuprejtschik. Seine Frau ist noch jung. Sie ist Ärztin.« Saweljew verstummt.

»Sonst niemand?« frage ich ungeduldig.

»Nein. Sie sind bloß noch zu zweit.«

»Du sagst, bloß noch. Wieviel sind es denn gewesen?«

»Vor kurzem drei. Da lebte ihr Vater noch. Es ist seine Wohnung. Er war ein berühmter Professor, Akademiemitglied. Ebenfalls Mediziner. Er hieß Brjuchanow. Hast du den Namen schon mal gehört?«

»Hab ich.«

»Sicherlich von deinem Vater?«

»Ja.«

Seit mein Vater im Krankenhaus den schwerverwundeten Igor und dann noch zwei oder drei Jungs von uns untersucht hat, wissen viele, was er ist, und obwohl ich ein bißchen stolz bin, ist mir seine Popularität andererseits doch peinlich.

»Ist klar«, sagt Saweljew, »die haben ja auf derselben Linie gearbeitet. Aber Brjuchanow war Akademiemitglied. Was der alles hinterlassen hat! Allein die unzähligen Bilder!«

»Halten wir mal fest«, sage ich. »Wann war der Diebstahl?«

»Am Einundzwanzigsten, Mittwoch. Heute ist Freitag.«

»Ja. Und der Mord passierte, Ljochas Worten zufolge, am Dienstagabend. Ob es wirklich ein und dieselbe Gruppe ist? Inwiefern hat dieser Gwimar Iwanowitsch sie gestört?«

»Da heißt es nachforschen«, sagt Saweljew und seufzt wieder.

»Es ist wohl zwecklos, jetzt in die Wohnung zu gehen?« frage ich. »Sicher sind die Inhaber von der Arbeit noch nicht zurück. Was meinst du?«

»Wer weiß?«

»Gehen wir für alle Fälle mal rauf«, beschließe ich. »Es ist ja bald sechs. Er heißt also Viktor Arsentjewitsch. Und wie heißt seine Gattin?«

»Inna Borissowna." Sie hat ihren Mädchennamen behalten. Also Brjuchanowa.«

»Ein berühmter Name«, sage ich. »Da muß sie stolz drauf sein.«

Wir gehen in das dunkle Treppenhaus, und ein altertümlicher Lift hievt uns mühsam in die zweite Etage. An der lederbezogenen hohen Tür mit dem Kupferschildchen »Professor B. K. Brjuchanow« drehe ich die Klingel. Wir lauschen. Schritte nähern sich, und eine Frauenstimme fragt zaghaft: »Wer ist da? Zu wem wollen Sie?«

»Ich bin's, Inna Borissowna, Revierinspektor Saweljew«, sagt Saweljew.

Das Schloß rasselt, die Tür wird einen Spaltbreit geöffnet, aber noch ist die Sicherheitskette vorgelegt. Die Frau schaut heraus, nickt, als sie Saweljew erkennt, und löst die Kette.

»Bitte«, sagt sie. »Treten Sie ein.«

N u n kann ich sie mir anscha u en . Sie ist fü l li g u n d sehr groß, und sie wirkt älter, als sie ist. Doch das Gesicht ist schmal und rassig, irgendwie arrogant, der Mund hat fast keine Lippen, die Flügel der langen Hakennase wirken nervös, das üppige rotblonde Haar ist im Nacken nachlässig zusammengebunden.

Die Frau führt uns in ein großes Zimmer. Schwere, geschnitzte Möbel ringsum - ein Sofa, Stühle, ein Schrank, ein runder Tisch, ein Bronzelüster darüber, viele Bilder an den Wänden.

»Entschuldigen Sie, Inna Borissowna«, sagt Saweljew, als wir uns an den Tisch setzen. »Dieser Genosse, er ist von der Kriminalmiliz, möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Bitte.« Sie schaut mich müde an.

»Kennen Sie Gwimar Iwanowitsch Semanski?« frage ich.

»Ja, selbstverständlich«, Inna Borissowna nickt. »Er besucht uns gelegentlich. Er ist ein Kollege meines Mannes. Genauer gesagt, seine Dienstreisen führen ihn in die Fabrik, wo mein Mann arbeitet.«

»Wann war er das letzte Mal bei Ihnen?«

Sie überlegt. »Ich glaube, am Dienstag. Ja, ja. Und am Tag darauf war der Diebstahl.«

»Hielt er sich lange bei Ihnen auf?«

»Ungefähr bis elf, wie immer. Zunächst tranken wir Tee. Dann gingen mein Mann und er ins Arbeitszimmer, um irgendwelche dienstlichen Sachen zu besprechen.«

»War Gwimar Iwanowitsch ruhig oder nervös?«

»Er machte einen ruhigen Eindruck. Und lustig war er. Ach, ja«, sie lächelte schwach, »er teilte uns mit, daß er heiraten wolle.«

»Sagte er, wer seine Braut ist?«

»Nein. Er sagte nur, sie habe ihn einiges gekostet.« Sie lächelt wieder.

»Hat er noch andre Bekannte in Moskau?«

»Eigentlich nicht. Ach, doch... Ich habe einen gesehen. Er stand mit Gwimar Iwanowitsch auf unserem Hof. Das ist eine Woche her. Sie standen da und stritten. Gwimar Iwanowitsch sah mich nicht.«

Ich ziehe ein paar Fotos aus der Tasche. Bevor ich die Dienststelle verließ, hatte ich die Fotos von Pest und Ljocha erhalten. Mit Hilfe der von ihnen hinterlassenen Fingerabdrücke waren ihre Akten herausgesucht worden. Nun kann ich die beiden Fotos mit einigen anderen vorzeigen, und ich frage Inna Borissowna: »Erkennen Sie hier den Mann, der sich mit Gwimar Iwanowitsch gestritten hat?«

Sie betrachtet die Bilder und schüttelt den Kopf. »Nein. Das hier sind junge Männer. Der Mann auf dem Hof war älter. Und er wirkte sehr unangenehm.«

»Wenn sich die Leute zanken, wirken sie immer sehr unangenehm«, entgegne ich. »Können Sie sein Gesicht beschreiben?«

»Ich will es versuchen. Rot, graues BürstenSchnurrbärtchen, Säcke unter den Augen, wahrscheinlich ist er nierenkrank. Gwimar Iwanowitsch und er stritten heftig. Deshalb bemerkte er mich nicht. Doch ich habe gesehen, daß ein Mann sie beobachtete. Aus dem Torweg. So ein Hagerer. Er trug eine Schirmmütze und einen grünen Schal.«

»Einer von diesen?« Abermals reiche ich ihr die Bilder.

»Nein. Er ist nicht dabei. Ich ging dicht an ihm vorbei. Er beobachtete so gespannt, daß es mich beunruhigte.«

Ja, das ist nun völlig unverständlich. Als wäre die Wohnung des verstorbenen Akademiemitglieds in diesen Tagen von mehreren Verbrechergruppen umkreist worden. Ein merkwürdiger Knoten bildete sich hier.

Draußen ist es bereits dunkel. Wir verabschieden uns.

Seltsame Ereignisse im Hof eines Hauses

Mit dem Diebstahl in der Basmannaja beschäftigt sich eine Gruppe aus einer anderen Abteilung. Die Leitung hat Pascha Mestscherjakow. Als ich am Morgen zur Arbeit komme, gehe ich kurz zu ihm hinein, und wir vereinbaren, uns gleich nach den Dienstbesprechungen der Abteilungen bei unserem Kusmitsch zu treffen. Kusmitsch beordert auch Valja und Petja zu sich. Über unsere gestrigen Entdeckungen und unsere Vermutungen und Pläne im Zusammenhang mit diesen Entdeckungen ist er informiert. Kurzum, es findet eine operative Konferenz statt, obwohl Kusmitsch solche Worte nicht mag. Er sagt lieber: Kommt mal vorbei, wir müssen uns was durch den Kopf gehen lassen. Und so setzen wir uns zusammen, um uns das sonderbare Verbrechen in der Basmannaja »durch den Kopf gehen« zu lassen.

Pascha, ein bescheidener, wortkarger Junge, wie stets in blauem Anzug, hellblauem Hemd und bläulichem Schlips, informiert uns über den Einbruchsdiebstahl. Die Fakten, die er mitteilt, versuchen wir gleich mit Ljocha, Pest und ihren möglichen Komplizen in Beziehung zu setzen, wenn sich hier auch nicht klären läßt, warum sie bei der Vorbereitung des Diebstahls Gwimar Semanski umbringen mußten. Der Umstand jedoch, daß er ebenfalls aus Jushnomorsk kam, erlaubt die Annahme, daß er mit Mitgliedern der Bande bekannt war und sogar irgendwelche Beziehungen zu ihnen unterhielt. Bestehen bleibt auch die Version, daß Pest den Mord aus Eifersucht organisierte oder provozierte, denn Semanski hatte ernste Absichten auf Musa.

Pascha beschreibt, was die Diebe mitgenommen haben. Und da fällt uns auf, daß die Bilder qualifiziert ausgewählt wurden, wozu weder Ljocha noch Pest imstande wären. Und uns allen kommt der Gedanke -ob nicht Semanski, der Zutritt zu der Wohnung hatte und außerdem gebildet genug war, die zu stehlenden Sachen aussuchte, das Erforderliche über die Besitzer mitteilte und dann von den Komplizen umgebracht wurde, weil er von der Beute den Löwenanteil forderte.

»Aber er ist ja nicht nach, sondern vor dem Diebstahl ermordet worden«, sagt Valja Denissow.

»Trotzdem ist es möglich«, entgegne ich. »Eine außerordentlich reiche Beute stand in Aussicht. Da haben sie sich vielleicht schon vorher in die Haare gekriegt.«

»Ist doch klar!« unterstützt mich Petja.

»Was hat die Arbeit am Tatort erbracht?« erkundigt sich Kusmitsch bei Pascha. »Hast du das Untersuchungsprotokoll bei dir?«

»Ja«, antwortet Pascha und öffnet seine Mappe.

Und da erfahren wir interessante Fakten. Erstens: Am Tatort, in der Wohnung also, sind Fingerabdrücke von fremden Personen nicht festgestellt worden. Folglich wurden Ljocha und Pest dort von jemand zu etwas gezwungen, was sie in der Wohnung des Malers Kontschewski zu tun vergessen hatten. Immer vorausgesetzt, daß sie den Diebstahl verübt haben. Aber andere Fakten weisen darauf hin, daß sie ihn verübt haben können. Im Korridor wurde eine Zigarettenkippe der Marke »Prima« gefunden, die Ljocha geraucht hat. Die Gruppe des Speichels an der Kippe stimmt mit Ljochas Gruppe überein. Die von Ljocha und Pest in Kontschewskis Wohnung zurückgelassenen Kippen sind untersucht worden. Aber viel wichtiger als die Kippen ist Pest-Koljas Handschuh, der in der Wohnung auf dem Fußboden entdeckt wurde. Ein brauner Handschuh, halb Leder, halb Wildleder, mit Metallknopf und erhabenen derben Nähten. Den dazugehörigen zweiten Handschuh habe ich mit eigenen Augen bei Pest gesehen, als wir in den Vorraum gingen, um Zigaretten zu holen. Ich hatte keine mehr im Mantel, doch Pest holte aus einer Tasche seines Mantels zunächst einen solchen Handschuh, wobei er schimpfte, den zweiten habe er irgendwo verloren, und dann ein Päckchen Zigaretten. Ja, es besteht kein Zweifel mehr, sogar Kusmitsch glaubt nun meine Version - das spüre ich. Wenn Pest und Ljocha den Diebstahl in derselben Wohnung begangen haben, in der sich auch der äußerst verdächtige Gwimar Semanski aufgehalten hat, so kann es wegen der Teilung der Beute zwischen ihnen durchaus zum Konflikt gekommen sein, viel eher als wegen Musa.

»Sie haben im Hof gewartet, solange er in der Wohnung war«, sagt Petja, »und als er kam, gab's Krach.«

»Nein«, entgegne ich, »Ljocha hat mir gegenüber angedeutet, jemand habe ihnen befohlen, Semanski zu töten. Und außerdem, dieser Grauhaarige im Hof...«

»Nun, einstweilen ist es sinnlos, sich zu streiten«, sagt Kusmitsch. »Einstweilen scheint mir, daß Lossew recht hat. Sie haben auf Befehl getötet. Und hier sind nicht zwei am Werk, sondern es handelt sich offenbar um eine ganze Bande.«

Pests Bande also, in der er übrigens keineswegs der Anführer ist, Anführer ist höchstwahrscheinlich der kleine Grauhaarige, der sich mit Semanski auf dem Hof gezankt hat - diese Bande also ist nach Moskau gekommen und hat die Wohnung des verstorbenen Akademiemitglieds beraubt. Offensichtlich hat irgendwer der Bande einen Wink gegeben, sie auf diese Wohnung aufmerksam gemacht. So erscheint die Version, dies könnte Semanski gewesen sein, durchaus real. Er hatte Zutritt zu der Wohnung und war in der Lage, den Wert der dort befindlichen Gemälde und Antiquitäten zu bestimmen.

Nur ein Detail ist unklar. Wer ist der Hagere, der Semanski und den grauhaarigen Dicken beobachtete, als sie sich im Hof zankten? Anscheinend ein unbedeutendes Detail, zumal Inna Borissowna es sich möglicherweise nur eingebildet hat. Und dennoch. Unser Kusmitsch sagt oft: »Ein kleines Detail ist wie die winzige Ecke einer Zeichnung, ist sie nicht kongruent, so stimmen riesige Vielecke nicht überein. Und bei uns platzt in so einem Fall die schönste Version.« Übrigens, letztlich kann sich alles aufklären und zurechtrücken. Wir müssen nur tüchtig ackern, weiter nichts.

»Welche interessanten Kontakte hat das Ehepaar noch?« fragt Kusmitsch Pascha. »Abgesehen von Gwimar Semanski?«

»Da gibt's tausend Leute«, knurrt Pascha.

»Aber auf Semanski seid ihr nicht gestoßen?« frage ich.

»Soweit sind wir noch nicht«, antwortet Pascha.

»Sehen wir uns also mal an, wie weit ihr seid«, sagt Kusmitsch. »Hast du Listen?«

»Selbstverständlich.« Pascha holt die Listen hervor, und wir vertiefen uns in die Arbeit.

Aufgeführt sind sämtliche Verwandten von Inna Brjuchanowa und Viktor Kuprejtschik, sämtliche Freunde, Kollegen, Bekannte und zufälligen Besucher der Wohnung in der letzten Zeit - der Klempner, der Kunsttischler, die Wäschereiangestellte, der Lieferant aus der Delikatessenhandlung, der Arzt der Poliklinik, der den erkälteten Kuprejtschik behandelte, die Krankenschwester, die kam, um ihm Schröpfköpfe zu setzen, der Postbote, der die neuesten Subskriptionsbände Tolstoi und Turgenjew brachte. Kurzum, keiner, der in der letzten Zeit die Schwelle dieser Wohnung überschritten hat, scheint vergessen. Nur Semanski fehlt.

»Auswärtige sind hier überhaupt nicht vertreten«, bemerkt Valja.

»Soweit sind wir noch nicht«, sagt Pascha wieder. »In den drei Tagen haben wir doch schon jede Menge überprüft...«

»Aber die Bande scheint vorwiegend aus Auswärtigen zu bestehen«, meldet sich Petja. »An die müssen wir ran.«

»Jetzt ist das klar«, stimmt Pascha mürrisch zu.

»Ärgere dich nicht«, tröstet ihn Petja. »Wir klemmen uns dahinter, daß es nur so raucht!«

»Hast du die Liste der gestohlenen Sachen hier?« fragt Kusmitsch.

»Ja.« Pascha holt zusammengeheftete Listen aus seiner Mappe.

»Hm«, sagt Kusmitsch. »So was trägt man nicht auf dem Rücken weg.«

»Genau«, greife ich auf und blicke Pascha an. »Wie steht's mit Autos, habt ihr da was ermittelt?«

»Ja«, antwortet Pascha. »An dem Tag wurden vor dem Haus vier Autos bemerkt.«

»Vor dem Haus - bedeutet das im Hof?« präzisiere ich.

»Nun ja.« Pascha nickt. »Alle vier haben wir gefunden und überprüft. Fehlanzeige.«

»Da ist bestimmt noch eins gewesen«, meint Valja.

»Ja«, sage ich. »Die haben doch eine Unmenge Sachen herausgeholt.«

»Ach, bestimmt erinnert sich keiner mehr an den Tag«, erklärt Petja. »Der Diebstahl war am Mittwoch. Heute ist Sonnabend. Ein freier Tag, nebenbei bemerkt. Natürlich für normale Leute.« Er seufzt demonstrativ.

»Bei Mord wird ununterbrochen ermittelt. Wir aber haben bereits drei Tage verloren«, erwidert Kusmitsch streng. »Das weißt du sehr gut, Schuchmin.«

»Ich habe ja keine Einwände, Fjodor Kusmitsch. Ich konstatiere nur.«

»Konstatiere lieber, was uns weiterbringt. Zum Beispiel das Auto, das ist ein ernstes Problem. Es muß eins dagewesen sein. Es hat bestimmt irgendwo gestanden.«

»Sogar die Zeit läßt sich bestimmen«, füge ich hinzu. »Ljocha stieg ungefähr um zwei zu Wolodja ins Taxi. Also nach dem Diebstahl, da waren die Sachen schon abtransportiert.«

»Genau«, sagt Pascha. »Auch nach dem, was wir ermittelt haben, wurde der Diebstahl in der ersten Tageshälfte verübt.«

»Kurz und gut, meine Lieben«, sagt Kusmitsch und klatscht mit der flachen Hand auf den Tisch, »wir verständigen uns mit unserer Leitung und der Staatsanwaltschaft, weil diese beiden Fälle, der Mord und der Diebstahl, allem Anschein nach zusammengelegt werden müssen. Wir werden Hand in Hand arbeiten. Mestscherjakow, du hast doch wohl nichts dagegen, oder?«

»Ich denke, so ist es richtig, Fjodor Kusmitsch.«

»Na gut. Dann gehen wir folgendermaßen vor...« Kusmitsch wendet sich an uns. »Du, Denissow, suchst weiterhin Musa. Bestimmt haben wir noch nicht sämtliche ihrer Kontakte aufgespürt. Und wenn sie jetzt auch mit diesem Kolja zusammen ist, so muß sie doch irgendwo auftauchen, allein oder mit ihm. Hast du mich verstanden?«

»Klar, Fjodor Kusmitsch. Hauptsache, sie sind noch nicht weggefahren.«

»Wohl kaum.« Kusmitsch wiegt nachdenklich den Kopf. »Das dürfte jetzt gar nicht so einfach für sie sein. Und dieser Kolja wartet lieber ab. Er weiß, daß wir überall auf ihn warten. Kolja hat Erfahrung, und er ist schlau. Das sieht man an seiner vorigen Geschichte. Deshalb mußt du Musa suchen, die steckt die Nase eher heraus. Und führt uns zu ihm. Schade, daß sie ihr Töchterchen so wenig liebt. Schade.« Ärgerlich reibt er sich die grauen Stoppelhaare im Nacken. »Also weiter. Du weißt Bescheid, Denissow. Nun du«, sagt Kusmitsch zu mir. »Mach dich gründlich mit dem Haus vertraut, mit den Mietern, und natürlich mit der Wohnung. Und vergiß den Hof nicht. Stelle fest, wer dort in letzter Zeit herumlungerte. Und denk an das Auto. Ihr Auto. Selbstverständlich ist es ein Moskauer Wagen. Demnach gehört ein Moskauer zu der Bande, der einen eigenen oder einen Dienstwagen hat. Kapiert?«

»Kapiert«, antworte ich munter.

»Im übrigen, meine Lieben, schmeckt mir an dem Diebstahl etwas nicht«, sagt Kusmitsch nachdenklich und reibt sich wieder die Stoppelhaare. »Das Ganze sieht doch aus wie ein Durchschnittsfall, nicht? Und alles scheint zusammenzupassen. Aber. da sind kleine Unstimmigkeiten. Zunächst einmal - die Zusammensetzung der Bande. Nehmen wir an, Semanski ist ihr Komplize. Wer ist dann der Grauhaarige? Und obendrein der Moskauer mit Auto. Und beseitigt haben sie diesen Semanski genau dort, wo sie am nächsten Vormittag. Tja.«

»Und zweitens?« frage ich.

»Zweitens: Ljocha hat dir von seinen Geschichten nicht ganz exakt berichtet. Als ihr in der Wohnung auf Pest gewartet habt. Erinnerst du dich? Es gibt Leute, sagt er, die scheffeln das Geld, aber wo sie es herhaben, da lassen sie mich und dich nicht hin. Uns speisen sie mit Kopeken ab. Probier mal, dich an sie ranzumachen.«

»Ja, ja«, bestätige ich. »Ich erinnere mich. Er sagte noch, so wie Pest und ich den da, so erledigen sie jeden, der sich an sie heranmacht. Sie!«

»Ja.« Kusmitsch nickt. »Nach einem gewöhnlichen Einbruchsdiebstahl sieht das doch eigentlich nicht aus, selbst wenn es der größte wäre.«

»Trotzdem - Pest und Ljocha haben ihn verübt«, behaupte ich. »Und der ermordete Gwimar Semanski ist in der Wohnung gewesen.«

»Alles richtig«, seufzt Kusmitsch. »Alles richtig. Deshalb müssen wir uns mit dem Diebstahl befassen.«

»Fjodor Kusmitsch«, fragt Valja, »hat Jushnomorsk unsere Anfrage beantwortet?«

»Bisher noch nicht. Wir mahnen heute.«

»Vielleicht wissen sie auch etwas über Semanski?« fährt Valja fort. »Man sollte sich nach ihm erkundigen.«

»Ein guter Gedanke«, sagt Kusmitsch. »Also rührt euch inzwischen, meine Lieben. Heut abend erwarten euch hier vielleicht schon Neuigkeiten. Kann sein, daß ihr selbst ebenfalls etwas erreicht. Das ist noch wichtiger.«

Wir gehen in den Korridor und zünden uns wie auf Kommando Zigaretten an. In Kusmitschs Zimmer rauchen wir nach wie vor keine einzige. Das hat zur Folge, daß er sich viel seltener eine ansteckt.

In meinem Zimmer teilen Petja und ich uns die Arbeit. Ich übernehme die Inhaber der beraubten Wohnung, den Hof und das, was sich dort zugetragen hat. Petja trifft sich mit den vier Autofahrern, um festzustellen, ob nicht einer von ihnen einen fünften Wagen auf dem Hof gesehen hat und sagen kann, wer in ihm saß, was mit ihm gebracht oder abtransportiert wurde und was das überhaupt für ein Auto war. In Paschas Liste sind vier Autos aufgeführt, durchweg Wolgas, alles Dienstfahrzeuge, genauer, drei, das vierte war ein Taxi. Keiner der vier Fahrer hat mit dem Diebstahl etwas zu tun, die Jungs aus Paschas Gruppe sind da absolut sicher. Deshalb kann man mit ihnen offen sprechen und mit ihrer Hilfe rechnen. Das versicherte uns Pascha, und im großen und ganzen stimmte das.

Petja Schuchmin machte sich auf, um den erhaltenen Auftrag auszuführen.

Der erste Fahrer, Wladimir Pawlowitsch Chramow, den Petja zu Hause antraf, weil er Überstunden abbummeln durfte, war ein nicht mehr junger düsterer Mann in häuslich salopper Kleidung - alte Hose, Pantoffeln... Als er erfuhr, daß Petja von der Miliz war, verfinsterte er sich noch mehr und forderte ihn widerstrebend auf, abzulegen und ins Zimmer zu treten. Dort lagen eine Brille und eine entfaltete Zeitung auf dem sauberen Tisch. In der kleinen Wohnung war sonst niemand.

Chramow hörte Petja an, kratzte sich hinterm Ohr und sagte poltrig: »Ich hab die Halunken da nicht gezählt. Ich war dienstlich dort.«

»In was für Diensten?« fragte Petja, bestrebt, Chramow zum Sprechen zu bringen.

»Ich sollte Professor Valeri Alexejewitsch Tomilin zu einer Konferenz abholen, zu einem Vortrag. Das steht alles im Fahrauftrag, Sie können es nachprüfen, wenn Sie wollen.«

»Das wollen wir nicht«, antwortete Petja. »Wir wollen etwas anderes wissen: Haben Sie dort, auf dem Hof, lange auf den Professor gewartet?«

»Zwanzig Minuten bis eine halbe Stunde.«

»Wen haben Sie in der Zeit gesehen, wer ist vorbeigegangen?«

»Alle möglichen Leute. Wie soll man sich das merken?«

»Haben Sie sich wenigstens einen gemerkt?« fragte Petja hartnäckig.

»Keinen einzigen. Es ist nicht meine Gewohnheit, einem was anzuhängen. Nachher kann ich dafür geradestehen. Dann schleppen Sie mich in den Gerichtssaal, ich weiß Bescheid.«

»Ich bitte Sie! Weshalb sollte ich Sie in den Gerichtssaal schleppen?« flehte Petja. »Ich möchte doch nur einen Anhaltspunkt finden. Denn gerade zu der Zeit wurden vier, vielleicht auch fünf Koffer mit gestohlenem Gut herausgetragen. Und ganz bestimmt sind sie in einem Auto verstaut worden.«

»Ich hab nichts gesehen.« Chramow schüttelte den kahlen Kopf. »Ich hab Zeitung gelesen.«

»Es kann doch nicht sein, daß Sie gar nichts gesehen haben!« entgegnete Petja. »Sie wollen mir bloß nicht helfen. Was ist los, Wladimir Pawlowitsch? Sie sind doch ein ehrlicher Mensch!«

»Ehrlich bin ich«, sagte Chramow würdevoll. »Ich hab nun schon zweiundfünfzig Jahre auf dem Buckel, aber noch nie hab ich vor Gericht gestanden, und Zeuge bin ich auch noch nicht gewesen. Und das will ich auch nicht werden. Man muß seine Nerven schonen, so stand's neulich auch in der >Gesundheit<.«

»Braucht man denn Nerven, um zu sagen, was man gesehen hat? Gewissen braucht man da, keine Nerven«, brauste Petja auf.

»Wieso keine Nerven? Und wenn die vor Gericht gehen?«

»Wer?«

»Na die, die mit den Koffern abgehauen sind.«

»Die werden vor Gericht gebracht. Die gehen nicht von selbst hin. Und was haben Sie damit zu tun? Sie werden doch nicht dabeisein!«

»Mich bringen Sie auch hin. Ich weiß Bescheid.«

»Schluß jetzt«, unterbrach Petja. »Sie wollen mir nicht helfen, also lassen wir das.«

»Aber ich bin doch ganz aufrichtig«, rief Chramow, den der scharfe Klang von Petjas Stimme offensichtlich beunruhigte.

»Wenn Sie aufrichtig sind, dann lassen Sie uns anders reden«, sagte Petja wieder geduldig. »Um wieviel Uhr kamen Sie, um den Professor abzuholen?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Wladimir Pawlowitsch!« sagte Petja vorwurfsvoll. »Bitte, erinnern Sie sich!«

Chramow seufzte. »Um neun Uhr dreißig.«

»So. Und zwanzig bis dreißig Minuten haben Sie gewartet. Sehr schön.«

»Und keiner hat Koffer getragen«, rief Chramow.

»Ebenfalls sehr schön. Erinnern Sie sich, daß mitten auf dem Hof ein Spielplatz ist? Da stehn auch ein paar schiefe Bäume.«

»Ja, ich erinnre mich.«

»Spielten dort Kinder?«

»Ja. Wieso?«

»Waren es drei?«

»Zwei Knirpse. So groß...« Chramow zeigte es mit der Hand.

»Spielten sie allein?«

»Eine alte Frau saß in der Nähe. Mit Brille. Sie las in einem Buch. Blickte kein einziges Mal auf.«

»Und ist jemand zu dieser alten Frau gegangen?«

»Eine andere alte Frau«, sagte Chramow grinsend, der sich nun sicher fühlte. »Sie setzte sich zu ihr. Sie hatte einen flauschigen roten Kragen, ihren Kopf hab ich nicht gesehen. Na, und dann ging das Tratschen los.«

»Ist noch jemand auf dem Hof erschienen?«

»Ja, ein Mann. Er fragte mich: >Kommst du vom Kombinat, um Viktor abzuholen?...< - >Nein<, sagte ich. Dann zog er ab.«

»Zog er ganz ab?« fragte Petja gespannt.

»Nein, nein, er setzte sich auf eine Bank. Wollte wohl warten.«

»Wie sah der Mann aus?«

»Es war ein junger Bursche. Wie soll er ausgesehen haben? Normal.«

Petja holte ein paar Fotos aus der Tasche und reichte sie Chramow. »Ist er hier dabei?«

»An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern«, antwortete Chramow übertrieben gleichgültig. »Ich hab ihn ja nur kurz gesehen.«

»Wladimir Pawlowitsch!« sagte Petja. »Verstehen Sie doch endlich, ich tue das nicht für mich. Wenn Ihnen morgen etwas zustößt, werde ich ebenfalls suchen.«

Chramow nahm die Fotos, sah sie sich der Reihe nach an und gab sie Petja zurück.

»Er ist nicht dabei.«

»Wie war er bekleidet?«

»Dunkler Mantel, Schirmmütze, grüner Schal.«

»Und saß er allein da, als Sie wegfuhren?«

»Genau.«

Mehr war aus Chramow nicht herauszubekommen. Aber Petja war überzeugt, interessante Hinweise erhalten zu haben. Das bezog sich nicht nur auf den Mann mit dem grünen Schal, sondern auch auf die Frauen.

Den zweiten Fahrer, Sewa Dobrynin, traf Petja in der Garage an. Sewa hatte gerade einen Vorgesetzten seiner Hauptverwaltung hergebracht und wartete nun auf einen neuen Auftrag des Dispatchers. Er erinnerte sich sehr gut an den Tag und an den Hof. Von dem Diebstahl hatte er gehört, aber die Jungs aus Pascha Mestscherjakows Gruppe hatten es noch nicht geschafft, sich mit ihm zu unterhalten. Dabei brannte er vor Verlangen, dieses ungewöhnliche Thema zu erörtern. Doch wie zum Trotz war in dem Hof, während er sich dort aufhielt, nichts Interessantes passiert, wie er meinte.

»Um wieviel Uhr warst du dort?« fragte Petja.

»Augenblick...« Sewa überlegte. »Aha. Um Punkt zehn! Ich habe unseren Mechaniker Onkel Andrej zu dem erkrankten Fedka Blinow kutschiert, von dem er einen Schlüssel brauchte. Dann fuhren wir Ersatzteile holen. Und wann war der Diebstahl, ist das schon bekannt?«

»Wie lange hast du auf dem Hof gestanden?« erkundigte sich Petja, ohne auf Sewas Frage einzugehen.

»Ungefähr eine halbe Stunde. Fedka und Onkel Andrej haben sich ein Gläschen zur Morgenstunde genehmigt. Das ist ihre Schwäche. Aber ich frage dich.«

»Nein, Sewa«, unterbrach ihn Petja sanft. »Du vergißt, daß ich die Fragen stelle. Klar? Also erzähl mir, wen du im Hof gesehen hast!«

»Wer interessiert dich denn? Wer kam, wer stand oder wer saß?« sagte Sewa lachend. »Ich erinnere mich an alle. Ich hab flinke Augen. Peile alles gleichzeitig an. Und reagiere sofort. Gestern, zum Beispiel.«

»Fangen wir mit denen an, die saßen«, unterbrach ihn Petja streng. »Prüfen wir dein Auge.«

»Bitte«, antwortete Sewa bereitwillig. »Auf der einen Bank saßen zwei Omas. Die eine mit Brille und Buch, die andere mit rotem Kragen und Filzstiefeln.«

»Weiter niemand?«

»Weiter niemand.«

»Und wer stand?«

»Ein Bursche mit grünem Schal und Schirmmütze. Er wartete am Tor auf jemand. Verrenkte sich fast den Hals dabei.«

»Und hatte er Erfolg?«

»Ja. Er rannte auf die Straße.«

»Und dann?«

»Dann kam ein Taxi in den Hof gefahren.«

»Und der Bursche?«

»Den hab ich nicht mehr gesehen. Oder doch, Moment. Er stellte sich wieder ans Tor.«

»Allein?«

»Nein, mit noch einem. Er zeigte ihm etwas.«

»Wie sah der andre aus, erinnerst du dich?«

»Den hab ich mir nicht so richtig angeguckt. Sie waren zu weit weg. Ich hab sie nur im Spiegel gesehen. Nun, er trug eine schwarze Mütze und einen schwarzen Mantel, und dann war da irgendwas Rotes, entweder seine Visage oder ein Schal.« Sewa lachte und fragte neugierig: »Meinst du, die haben abgestaubt?«

»Ich meine noch gar nichts«, antwortete Petja. »Aber was hat er dem Schwarzroten gezeigt, was denkst du?«

»Er hat ihm die Omas gezeigt. Genauer, die Oma mit der Brille. Die andere war schon weg. Und noch genauer - nicht sie«, rief Sewa, als sei ihm das eben eingefallen, »sondern einen Mann, der sich zu der Oma mit der Brille setzte. Ja! Und auf den zeigte der Bursche.«

»Ob das ein Bekannter von ihnen war?«

»Nein. Er zeigte auf ihn wie auf einen Fremden. Aber irgendwie ärgerlich, wütend. Jedenfalls kam es mir so vor.«

Petja zog für alle Fälle seine Fotos heraus, unter denen sich auch die von Ljocha und Pest-Kolja befanden. Aber Sewa, der jedes neugierig betrachtete, fand weder den Burschen mit dem grünen Schal noch den im schwarzen Mantel.

Petja steckte die Fotos mit Bedauern in die Tasche und fragte nach kurzem Zögern: »Also bist du weggefahren, als das Taxi kam?«

»Genau. Ich hab es erst vorbeigelassen, dann bin ich zum Tor gerollt.«

»Und die zwei?«

»Die hab ich nicht mehr gesehen.«

»Und der, der mit der Oma auf der Bank saß?«

»War auch weg.« Sewa verzog betrübt das Gesicht. Er konnte nichts Nützliches mehr mitteilen. Aber Petja war zufrieden. Es wird immer heißer, dachte er, und unverständlicher. Irgendwelche Leute schwirren hier herum. Und von Ljocha und Pest ist nichts zu sehen. Merkwürdig. Aber das konnte nur bedeuten, daß Petja neuen Bandenmitgliedern auf die Spur gekommen war. Und das war sehr wichtig.

Nun galt es, den Taxifahrer ausfindig zu machen, der fast zur selben Zeit wie Sewa auf dem Hof gewesen war. Das war nicht schwierig, weil Petja sowohl dessen Namen als auch den Betrieb und sogar die Wagennummer hatte. All das hatte Paschas Gruppe ermittelt.

Petja hatte Glück. Der Dispatcher des Taxibetriebs, wo er anrief, teilte mit, daß der Fahrer Awerkin eben zurückgekommen sei und sich im Reparaturbereich befinde, denn er habe einen unbedeutenden Verkehrsunfall gehabt. Der Dispatcher fügte hinzu, der Fahrer sei unschuldig, ein Inspektor der Staatlichen Autoinspektion habe an Ort und Stelle ein Protokoll aufgenommen.

Petja fuhr sofort hin.

Tolja Awerkin war ein mittelgroßer kräftiger junger Mann. Er war erst vor kurzem aus der Armee entlassen worden und wirkte militärisch straff und ernst. Petja hatte sofort Vertrauen zu dem ruhigen, soliden Burschen. Und ihre Unterhaltung verlief so, als wären sie alte Bekannte.

Petja erzählte kurz, was in dem Hof passiert war, auf dem Tolja vor drei Tagen mit seinem Wagen gewesen war, schilderte die Situation und beschrieb die Leute, die sich dort aufgehalten hatten. Tolja erinnerte sich an sie. Und er erinnerte sich noch an Wichtigeres. Doch er erzählte der Reihe nach, und er fing damit an, daß er über Funk einen Auftrag erhielt und losfuhr, um die betreffende Gasse und das Haus zu suchen. Als er dort ankam, sah er einen parkenden grünen Shiguli. Der Fahrer hatte sich vorgebeugt und beobachtete etwas äußerst gespannt. Tolja, der auf die Hausnummern achtete, fuhr langsam an dem Shiguli vorbei und stoppte, um sich zu orientieren, bevor er in den Hof einschwenkte. In diesem Augenblick stieg der Bursche aus und ging unzufrieden auf das Tor zu, während ihm ein anderer Bursche, der dort gestanden hatte, entgegengelaufen kam. Er trug einen grünen Schal. Sie trafen sich neben Toljas Wagen. Das Seitenfenster war, wie immer, etwas heruntergelassen, und Tolja hörte das Gespräch. »Seid ihr da bald fertig?« fragte der Bursche ungeduldig, der aus dem Shiguli gestiegen war. »Denk dran, ich muß um zwei wieder in Moskau sein. Und bis zur Datsche sind's bestimmt vierzig Kilometer!« - »Was redest du da?« antwortete der mit dem grünen Schal. »Wir sind doch dort gewesen, hast du das vergessen? Einundzwanzig Kilometer bis zur Verkehrsampel, wo wir abbiegen. Dann zwei bis zur kleinen Brücke, und von da noch zweihundert Meter nach rechts, das ist alles.«

»Ich hab überlegt, wo das sein könnte«, sagte Tolja. »Und nun muß ich selbst dorthin, kannst du dir das vorstellen? Ich hab einen Auftrag bekommen. Sobald der Scheinwerfer ausgewechselt ist, zische ich ab.«

»Woher weißt du, daß es dort ist?«

»Verstehst du, aus dem kardiologischen Sanatorium soll ich Patienten abholen. Sie haben mir beschrieben, wie ich fahren muß. Und das ist genau der Weg. Dafür verbürge ich mich. An der Ampel bei Kilometer einundzwanzig abbiegen. Dann eine kleine Brücke. Dort in der Nähe ist die bewußte Datsche. Ich muß aber weiter, an einem Friedhof und einem Bahnhof vorbei.« Tolja blickte Petja forschend an und schlug plötzlich vor: »Willst du nicht mitkommen? Das dauert höchstens zwei Stunden. Vierzig Minuten hin, vierzig zurück. Du siehst dir die Datsche und so weiter an. Und ich nehme dich auf dem Rückweg wieder mit. Du wartest einfach an der Brücke. Na?«

Petja sagte sich, daß er sich die Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen dürfe. Ihm bot sich die einmalige Chance, die verdächtige Datsche zu finden. Ohne Tolja wäre das unmöglich. Und verdächtig war sie deshalb, weil die gestohlenen Sachen höchstwahrscheinlich mit dem grünen Shiguli abtransportiert und dann in ebendieser Datsche versteckt worden waren.

»In Ordnung«, sagte Petja entschlossen.

Unterwegs unterhielten sich die neuen Freunde über das Leben.

»Ich habe folgende Philosophie«, sagte Petja. »Kämpfen - mit aller Kraft. Ist Schmutz ringsumher? Ja. Gibt es negative Momente? Ja.«

»Im Sinne von Überbleibseln?« wollte Tolja wissen.

»Nicht nur. Hier muß die Kriminologie noch ihr Wort sprechen. Die Wissenschaft von den Ursachen der Kriminalität. Hast du davon schon mal gehört?«

»Nein«, bekannte Tolja. »Ich kenne bloß die Kriminalistik.«

»Die Kriminalistik lehrt, wie man ein Verbrechen aufklärt. Das ist auch sehr wichtig.«

Tolja, der kein Auge von der Straße ließ, lächelte knapp. »Also arbeitest du wissenschaftlich?«

»Genau.«

»Und ihr klärt alles auf, was es auch ist?«

»Wir bemühen uns«, antwortete Petja aufrichtig.

»Ich möchte etwas zu deiner Philosophie sagen... Ohne Beziehung kommst du heute nirgends rein, kriegst du nichts. Nicht mal Kinokarten. Du hilfst mir, ich helfe dir. Das ist verbrecherisch, meine ich. Aber dagegen kämpfen kann man nicht. Es fehlt ein Gesetz.«

»Stimmt«, sagte Petja. »Ein gefährliches Übel. Heute zum Beispiel zahlst du einen Überpreis für eine Bisammütze, die du haben willst, morgen kaufst du dir eine Stellung und übermorgen - die Freiheit, wenn du hinter schwedische Gardinen geraten bist. Die Moral ist dieselbe. Aber der Moral kommst du mit einem Gesetz allein nicht bei.«

»Und ohne diese Schurkerei geht's nicht - das ist es«, sagte Tolja böse. »Bei uns im Betrieb zum Beispiel. Gib dem Schlosser, wenn was ist, der Wäscherin, dem Wächter, der Rechnungsführerin. Und gibst du nicht, klappt deine Arbeit nicht. So hat man an manchem Tag, ehe man sich's versieht, zwei Rubel verplempert. Und wo nimmst du die her? Da sind zunächst die >Trinkgelder<. Wie ein Bettler starrst du auf die fremde Hand. Und zum anderen - du machst Schmu. Ach, das schmeckt mir alles nicht, das kannst du mir glauben. Aber das sind noch Kinkerlitzchen. Sieh dich doch um. Was sagt dir da deine Philosophie?«

»Verstehst du«, antwortete Petja. »Ich bin nur ein kleines Licht, kein Minister. Und ich werde auch nie einer sein. Aber was ich kann, das tu ich. Damit ich vor mir selbst Achtung habe.« Und überraschend fragte er: »Willst du nicht bei uns anfangen? Du paßt zu uns. Unsere Arbeit ist genau richtig für dich, wie ich sehe. Eine gerechte Arbeit. Die Kriminalmiliz - das ist schon was.«

»Und ihr nehmt nicht mal Schmiergelder?« neckte Tolja.

»Deinetwegen bemühen wir uns, darauf zu verzichten.«

»Eine herrliche Arbeit.«

»Versuch's mal. Ich lasse meine Beziehungen spielen und bringe dich bei uns unter. Ich helfe dir, du hilfst mir.«

Beide lachten. Dann seufzte Tolja und sagte: »Wenn man bei euch arbeiten will, muß man bestimmt verheiratet sein.«

»Wieso das?« fragte Petja verwundert.

»Ihr habt's oft mit verdorbenen Frauen zu tun. Da verliert man schnell mal den Kopf.«

»Na, du legst aber los«, rief Petja verblüfft.

»Du meinst, es ist nicht so?«

»Je nachdem, was du für 'n Kopf hast«, antwortete Petja lachend. »Ist nicht viel drin, verlierst du ihn.«

»Bist du verheiratet?«

»Nein. Ich halte mich noch. Und einer meiner Freunde, Denissow heißt er, der hält sich auch noch. Und der ist sogar noch konsequenter als ich. Und stell dir vor, wir haben beide noch unsern Kopf. Ein anderer hat vor kurzem geheiratet, ein dritter hat sich scheiden lassen. Es sind also sämtliche Varianten vorhanden. Kannst dir die passende aussuchen.«

»Das ist eine ernste Sache«, sagte Tolja, ohne auf Petjas scherzhaften Ton einzugehen. »Weißt du, ich hab schon genug gesehen.«

»Komm zu uns. Da lernst du das Leben kennen. Die meisten jungen Leute stoßen sowieso von der Armee zu uns«, entgegnete Petja. »Eine bessere Schule gibt's nicht, das weiß ich von mir selbst. Auch bei uns werden Gefechte ausgetragen.«

Sie hatten den Autobahnring, der die Hauptstadt umschließt, passiert und fuhren durch die freie Natur. Das breite, hier und da an den Seiten vereiste graue Straßenband zog sich zwischen verschneiten Feldern und dunklen Wäldchen hin. Selten begegneten sie einem Auto.

Bald sahen sie weit vorn, über der Straße, einen gelben Punkt. Mal erlosch er, mal flammte er wieder auf; je mehr sie sich ihm näherten, desto heller wurde er.

»Da ist es«, sagte Tolja, »Kilometer einundzwanzig, siehst du?«

Petja blickte auf den vorbeihuschenden Kilometerstein. »Stimmt«, sagte er und zweifelte ein letztes Mal: »Vielleicht gibt's auf einer anderen Route genauso einen Punkt?«

»Auch eine kleine Brücke nach zwei Kilometern?« meinte Tolja sarkastisch und entschied: »Unmöglich stimmen zwei Routen so haargenau überein.«

Unter dem gelben Auge der Verkehrsampel bogen sie ab und fuhren langsam und vorsichtig auf einer schmalen, stellenweise vereisten Chaussee in einen Wald hinein.

Verschneite Fichten ragten links und rechts, und Petja genoß den Anblick der märchenhaften kalten Pracht. Dann tauchte eine Datschensiedlung auf, zwischen zwei zugefrorenen Teichen fuhren sie über einen Damm und kamen an einem Lebensmittelladen vorbei. Eine Kurve - und wieder hatten sie ein verschneites Feld auf der einen Seite, während auf der anderen Datschen standen. Es ging einen Abhang hinunter, und plötzlich sah Petja eine Brücke mit Metallgeländern vor sich. Dahinter stieg die Chaussee zu einem mit Kiefern bestandenen Friedhof an.

Vor der Brücke bremste Tolja. »Da wären wir«, sagte er und schaute auf die Uhr. »Jetzt ist es halb vier. Ich werde frühestens in einer halben Stunde zurück sein. Wenn du noch nicht da bist, warte ich zehn Minuten, falls meine Fahrgäste es erlauben.

Klappt es nicht, fährst du allein zurück. Es ist ja nicht weit bis zum Bahnhof.«

»Selbstverständlich«, sagte Petja. »Vielen Dank. Und noch etwas. Schreib dir meine Telefonnummer auf, und ich notiere mir deine, wenn du nichts dagegen hast. Unser Gespräch ist noch nicht zu Ende.«

»Aha. Na gut.«

Sie tauschten ihre Telefonnummern aus. Petja stieg aus, winkte dem sich entfernenden Wagen nach und hielt Umschau.

Ein schmaler Asphaltweg führte von der Brücke aus aufwärts. Auf beiden Seiten zogen sich Datschenzäune hin. Hinter den dichten hohen Sträuchern und kahlen Bäumen waren die Häuser nicht zu sehen. Der Schnee ringsum war ungewöhnlich weiß und blendete sogar an diesem trüben Tag. Die in den Ohren tönende Stille wurde nur von Vogelstimmen gebrochen.

Während Petja gemächlich aufwärts wanderte, überlegte er, wie er die fragliche Datsche finden könnte. Die zweihundert Meter, von denen der Bursche mit dem grünen Schal gesprochen hatte, waren in Wirklichkeit vielleicht dreihundert, und auf solch einem Abschnitt konnten beiderseits der Straße etliche Datschen stehen.

Petja hatte schon drei oder vier Grundstücke hinter sich gelassen, da fiel ihm eine Autospur auf, die streckenweise verweht, streckenweise deutlich erkennbar war. Durch einen Seitenweg führte sie auf eine andere Straße und zu einem Tor in einem niedrigen langen Staketenzaun. Hier war sie so deutlich, daß Petja an seinem Erfolg zu zweifeln begann. Eine derart frische Spur brauchte er nicht.

Jenseits von Zaun und dunkler Hecke stand in der Tiefe des verschneiten Gartens eine kleine Datsche. Ihre Fensterläden waren geschlossen, aus dem Schornstein stieg kein Rauch. Sie wirkte verlassen. Aber die Autospur stammte zweifellos von diesem Tag. Als sich Petja näherte, sah er, daß das Tor nur angelehnt war. Die Autospur führte zur Rückseite der Datsche.

Petja verzögerte unwillkürlich den Schritt und blieb stehen.

»Was gaffst du hier?« rief ihm jemand zu.

Petja sah sich um. Im Gebüsch hinter dem Zaun stand ein Bursche in Mantel und Schirmmütze, mit einem grünen Schal um den Hals. Das ist er! durchzuckte es Petja.

»Ich geh spazieren«, sagte er und lächelte gutmütig. »Was kümmert's dich?«

»Siehst du, dort?« Der Bursche streckte die Hand aus. »Da sind auch solche wie du spazierengegangen. Und haben eine Datsche niedergebrannt. Klar?«

»Bist du übergeschnappt?« fragte Petja ärgerlich. »Wieso soll ich Datschen niederbrennen?«

»Wer weiß, was du so treibst. Du bist fremd hier. Also verschwinde und gaff nicht.«

»Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe. Ich bin für dich fremd, und du bist es für mich. Also sind wir quitt.«

Indessen rief von der Datsche jemand: »Stjopka! Komm, helfen, wir müssen los!«

»Gleich!« schrie der Bursche mit dem grünen Schal und wandte sich erneut an Petja: »Hau ab. Seh ich dich noch mal, dann nimm dich in acht!«

Er lief zur Datsche.

Gleich fahren sie weg, dachte Petja besorgt. Und nehmen irgend etwas mit. Sicherlich die gestohlenen Sachen. Wer mag der zweite sein, vielleicht Pest? Aber sie konnten auch zu dritt oder zu viert sein. Mit Pest und dem Besitzer des grünen Shiguli. Allein konnte Petja sie nicht festnehmen. Das war ohnehin nicht ratsam. Wichtiger war, ihnen nachzufahren und festzustellen, wo sie die Sachen hinbrachten. Doch Petja hatte keinen Wagen zur Hand, und bis Tolja kam, dauerte es noch eine Weile. Und Petja sagte sich, daß er vielleicht auf der Chaussee ein Auto anhalten könne. Jeder Kraftfahrer war verpflichtet, ihm zu helfen.

Er wartete, bis der Bursche hinter der Datsche verschwunden war, dann ging er schnellen Schritts zurück. Er bemerkte nicht, daß er von der Datsche aus beobachtet wurde.

Wenig später hörte er das Geräusch eines anspringenden Motors. Jetzt fahren sie ab, überholen mich - und dann sind sie über alle Berge. Petja nahm die Beine in die Hand und rannte bergab, schlitternd und mit den Armen fuchtelnd, um das Gleichgewicht zu halten.

Kurz vor der Brücke verfiel er keuchend in Schritt. Ein Auto war nicht in Sicht, die Chaussee lag öde da, hinter ihr dehnte sich ein endloses Schneefeld unter grauem Himmel, am Hang hinter dem zugefrorenen Flüßchen spektakelten Vögel in den hohen Kiefern des Friedhofs. In der Ferne rollte ein elektrischer Vorortzug.

Petja blieb an der Brücke stehen und hielt ungeduldig Ausschau. Hol's der Teufel, wie zum Trotz kein einziges Fahrzeug! Ihm wurde kalt. Der Wind schnitt ihm ins Gesicht, daß ihm die Augen tränten.

Da hörte Petja lauter werdendes Motorengeräusch hinter sich. In der Kurve des schmalen Weges, den er selbst eben herabgekommen war, zeigte sich ein roter Moskwitsch. Petja lief ihm winkend entgegen und erkannte plötzlich, daß der Wagen schneller wurde und genau auf ihn zuhielt. Petja sprang ungeschickt zur Seite, spürte stechenden Schmerz im Fuß, dann einen heftigen, lauten Schlag, und sogleich wurde es dunkel.

Als er die Augen öffnete, sah er den sich entfernenden roten Moskwitsch. Er selbst lag am Straßenrand, neben der Brücke. Er versuchte, den brennenden Fuß zu bewegen, rasender Schmerz zuckte durch den Körper, und Petja wäre beinahe erneut ohnmächtig geworden. Aber er mußte unbedingt aufstehen, damit man ihn bemerkte, damit er sich auf der zu Stein gefrorenen Erde nicht den Tod holte. Vorsichtig begann er zu robben. Dann verschnaufte er und robbte weiter auf das Brückengeländer zu. Der Schmerz wurde stärker, doch die durchdringende Kälte ängstigte Petja mehr. Er hatte Schnee im Gesicht, und er leckte ihn von den Lippen, die Arme, auf denen er lag und die ihn zogen, schützten ihn, da er sie anwinkelte und an die Brust preßte, vor der grauenhaften Kälte, die der Boden verströmte. Noch eine krampfhafte Anstrengung erschütterte seinen Körper, noch eine und noch eine... Schluchzend robbte Petja. Nach jeder Anstrengung blieb er für ein paar Sekunden reglos liegen.

Da war endlich die Brücke. Der Schmerz schien nachzulassen, zu gefrieren. Petja klammerte sich an das frostklebrige Geländer und richtete sich langsam auf. Herrgott, wenn doch jemand käme, dachte er verzweifelt, als er sich auf das Geländer stützte, sich beinahe darüberlegte. Ihm wurde schwindlig, alles drehte sich vor seinen Augen, Übelkeit stieg in ihm auf. Petja unterdrückte, überwand sie. Dann hob er den verletzten Fuß, der so unerträglich schmerzte, daß er damit nicht den Boden berühren, geschweige denn stehen konnte.

Petja wußte nicht, wie lange er so auf dem Geländer hing, außerstande, sich zu bewegen. Bald schluchzte er, bald stöhnte er verhalten. Endlich vernahm er Motorengeräusch. Ein Auto näherte sich aus Richtung Friedhof. Aber Petja hatte nicht die Kraft, sich umzudrehen.

Das Auto flitzte heran und blieb stehen. Eine Tür klappte. Petja biß die Zähne zusammen und versuchte sich hochzustemmen, sich von dem Geländer zu lösen - vergebens. Um ein Haar hätte er den verletzten Fuß belastet. Entsetzt kniff er die Augen zusammen, da er schneidenden Schmerz erwartete.

»Petka!« hörte er Tolja rufen. »Was ist mit dir?«

Tolja packte ihn bei den Schultern.

Petja stöhnte laut auf und fragte mühsam: »Fährst du mich?«

»Sag mal, hast du nicht mehr alle?« antwortete Tolja ärgerlich. »Nein, ich laß dich hier. Na los, stütz dich auf mich. So. Ach, bist du ein Bär. Weiter, weiter. Fahrgäste hab ich nicht. Man hat sie dabehalten. Es geht ihnen schlechter, den Armen. So.«

Tolja, der ununterbrochen sprach, schleppte Petja behutsam zum Wagen, öffnete die Hintertür, bückte sich und hob Petja auf den Sitz. Petja ließ sich erschöpft sinken, leise stieß er Flüche aus, das half ihm, den Schmerz zu ertragen.

Tolja schlug die Tür zu, lief um den Wagen und setzte sich ans Lenkrad. »Wohin?« fragte er, ohne den Kopf zu wenden.

»Presch ab«, sagte Petja. »Ein roter Moskwitsch, hol ihn ein. Die Banditen türmen.«

Tolja brauste ab, daß die Reifen quietschten. Er begriff, daß sich der rote Moskwitsch nur vor der Ringautobahn einholen ließe, später würde er in dem Spinnennetz von Straßen und in dem Strom der Autos verschwinden.

Tolja, der das Lenkrad umklammert hielt und unablässig nach vorn starrte, schien eins zu sein mit dem Wagen. Das Gaspedal drückte er fast gänzlich durch. Einige Male hatte er den Eindruck, als komme das Auto von der Fahrbahn ab, als werde es aus der Kurve getragen, als verkrafte es die Belastung nicht. Aber der Motor brummte stark und gleichmäßig, der Wagen gehorchte feinfühlig, und Tolja empfand sogar Freude bei dieser rasenden Geschwindigkeit, die er meisterte.

Unter der Verkehrsampel bogen sie in die Hauptstraße ein.

Petja hatte sich trotz der Schmerzen aufgerichtet. Er hielt sich an der Lehne des Vordersitzes fest und blickte gespannt nach vorn. Die Straße war belebt, und vor ihnen fuhren zahlreiche Autos. Ein roter Moskwitsch war nicht zu sehen.

»Gleich sind wir an einem Posten der Autoinspektion«, sagte Tolja nervös. »Ich fürchte, die stoppen mich.«

»Gib Gas.«, krächzte Petja. »Die werden's verstehen, und falls nicht, rechtfertigen wir uns später.«

»Da!« schrie Tolja.

Vorn leuchtete ein rotes Auto auf.

Tolja beugte sich vor, gab Gas, überholte mühelos zwei oder drei Fahrzeuge, die vor dem Posten der Autoinspektion ängstlich langsamer geworden waren, wäre um ein Haar auf den Roten aufgefahren und räusperte sich verärgert. Das war ein roter Wolga, ein Dienstwagen. Tolja überholte auch ihn und jagte weiter, die anderen Kraftfahrer schockierend.

In der Ferne tauchte die Brücke auf, die über die Ringautobahn führte. Aus, vorbei. hämmerte es in Toljas Schläfen. Doch halsstarrig, als könnte er nicht mehr innehalten, überholte er. Ein Fahrer wollte ihn nicht vorbeilassen, da überfuhr Tolja die Sperrlinie und raste weiter. Wie zur Belohnung zeigte sich vorn abermals ein roter Wagen. Tolja schoß ihm wie ein Habicht nach.

Dies war der Moskwitsch. Petja war überzeugt davon, obwohl er die Nummer des Wagens, der ihn an der Brücke angefahren hatte, nicht kannte.

»Du hast doch ein Funkgerät«, sagte Petja, als sie auf der Brücke waren. »Übermittle.. dem Dispatcher.«

Tolja verringerte die Geschwindigkeit, schaltete das Funkgerät ein und nahm den Hörer.

»Knospe!« rief er, »Knospe!« Und als sich der Dispatcher meldete, wiederholte er, was Petja ihm sagte. »Bei mir ist der Inspektor der Kriminalmiliz Schuchmin. Wir verfolgen ein Fahrzeug. Setzen Sie sich mit dem Diensthabenden der Stadt in Verbindung.

Er soll Streifenwagen zuschalten. Ich gebe unsere Marschroute durch. Alles verstanden? Empfang.«

Aus dem Lautsprecher schallte eine aufgeregte Frauenstimme. »Ich habe Sie verstanden. Ich setze mich mit dem Diensthabenden in Verbindung. Augenblick.« Ihre Stimme verschwand und ertönte gleich darauf von neuem: »Erledigt. Geben Sie Ihre Marschroute. Empfang.«

»Wir verfolgen einen roten Moskwitsch, Nummer.«

Tolja beugte sich über das Lenkrad und gab Gas, überholte den vor ihm fahrenden Wolga, hängte sich an den roten Moskwitsch und nannte dessen Nummer. Dann nannte er die Straße, durch die er fuhr, die Straße, in die er einbog, den Platz, die nächste Straße.

Nach einer Weile merkte Tolja, daß alle Verkehrsregler ihm die Möglichkeit gaben, dem roten Moskwitsch zu folgen. Plötzlich wurden sie von einem dunklen Wolga überholt. Sofort blinkte das »Ruflämpchen« an Toljas Funkgerät. Er knipste den Schalter und sagte: »Empfang.«

»Stellen Sie die Verfolgung ein«, sagte die Dispatcherin, und ihre Stimme klang erleichtert. »Sie wurden abgelöst. Fahren Sie mit Schuchmin zu dessen Dienststelle. Herzlichen Dank. Prachtkerle!«

Tolja lächelte, warf rasch einen Blick nach hinten und sah, daß Petja sich ermattet zurückgelehnt hatte.

Nach der Konferenz bei Kusmitsch begab sich Valja Denissow zu seinem Freund, dem Untersuchungsführer Gratschew, der damit beauftragt war, den Diebstahl bei dem verstorbenen Akademiemitglied Brjuchanow zu klären. Nachdem Valja ihm den Mord an Gwimar Semanski und die Neuigkeiten über den Diebstahl mitgeteilt hatte, die es allem Anschein nach erlaubten, beide Fälle zusammenzulegen, fragte er: »Wenn ich diesen Schurken Pest nun trotz allem finde, darf ich ihn dann sofort festnehmen oder nicht? Gibt mir der Staatsanwalt einen Haftbefehl?«

»Welche Frage! Selbstverständlich«, antwortete Gratschew erstaunt. »Ihn belasten: Erstens, der

Überfall auf Lossew, zweitens, der Handschuh in der Wohnung, drittens, der Mord an Semanski. Allerdings haben wir für den letzten Punkt keine Beweise. Wir stützen uns da nur auf Ljochas Worte. Den gedenkst du nicht festzunehmen?«

»Laß die Witze«, sagte Valja streng.

»Schon gut, du langweiliger Mensch«, entgegnete Gratschew lachend. »Hab keine Bedenken wegen des Haftbefehls. Finde diesen Pest und verhafte ihn.«

»Ich habe aber doch Bedenken. Zu dem Überfall auf Lossew haben wir nur die Aussage von Lossew selbst. Weiter. Den Handschuh hat ebenfalls nur Lossew bei Pest gesehen. Vielleicht hat Pest ihn inzwischen schon weggeworfen, was soll er mit dem einen? Und für den Diebstahl haben wir, ebensowenig wie für den Mord, wie du selbst sagst, auch keine Beweise. Was ergibt das?«

»Das ergibt einiges«, erwiderte Gratschew. »Einverstanden, jeder Fakt für sich allein genommen würde für eine Verhaftung nicht ausreichen. Aber alle zusammen. Und dann mußt du Pests Persönlichkeit berücksichtigen. Er hat drei Vorstrafen, nicht wahr? Jeden Augenblick kann er untertauchen. Genauer gesagt - er ist bereits untergetaucht. Nein, du brauchst keine Bedenken zu haben«, schloß er ernst. »Nimm ihn fest, wenn du ihn erwischst.«

Valja verabschiedete sich von Gratschew und ging, tief in Gedanken versunken, in sein Zimmer hinauf.

Also, wo sollte er mit der Suche nach diesem Pest-Kolja beginnen? Dessen trügerisches Äußere und heimtückischen, brutalen Charakter kannte Valja bereits. Er wußte auch, daß Pest in solchen Dingen Erfahrung hatte. Aber wahrscheinlich war da ein noch Erfahrenerer, der ihn anleitete. Oder angeleitet hatte... Vielleicht war Gwimar Semanski Anführer und Initiator bei dem Diebstahl gewesen? Und den hatte sich Pest vom Halse geschafft, um die Beute nicht teilen zu müssen. Wenn es sich so verhielt, dann war Pest jetzt sein eigener Herr und hockte nur deshalb in Moskau, weil er Angst hatte und abwarten wollte, oder aber, um das gestohlene Gut vorteilhaft zu verhökern.

Wie komme ich an Pest heran, durch wen? überlegte Denissow, als er allein in seinem Zimmer saß. Am leichtesten läßt sich das natürlich durch Musa bewerkstelligen. Und es dürfte auch nicht so schwer sein, sie zu finden, obwohl sie jetzt mit Pest zusammen ist. Sie ist Moskauerin und hat hier ihre Bindungen. Und plötzlich hatte Valja das beunruhigende Gefühl, als habe er gestern einen Hinweis nicht beachtet, nicht zu schätzen gewußt. Was war das gewesen?

Er beschloß, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was er gesehen und gehört hatte.

Zunächst war er zu dem Haus gefahren, in dem Musa wohnte, in der Hausverwaltung hatte die Buchhalterin gesagt. Was hatte sie gesagt.? Ohne Liebhaber ist die nie. Der Mann, ein Ingenieur, hat sie verlassen. Nein, das war es nicht. Dann hatte Valja mit der Nachbarin gesprochen.. Sie zanken sich nicht. Hat die Nacht nicht zu Hause verbracht. Das war es auch nicht. Dann kam Musas Mutter an die Reihe, Albina Afanassjewna. Ja, ja. Ein hysterischer Anfall. Kann die Tochter nicht leiden. Trotzdem wünscht sie ihr einen reichen Mann. Diesen Pest mag sie nicht. Gwimar Semanski - das ist was anderes. Er hat Musa einen Ring geschenkt. Wird ihr ein Haus schenken. Da war noch was. Stop! Sie wollte sie suchen. Nein, da war noch ein Geschenk. Also, der Ring, das Haus. Was noch? Ach ja! Ein Fernsehapparat. Ein Farbfernseher. Er hat Geld dafür gegeben. Und?. Sie soll ihn auf Abzahlung kaufen. Und weiter? Ah, Albina Afanassjewna hat die Formalitäten erledigt. Auf Musas Namen natürlich. Und was folgt daraus? Sie benötigte dazu Musas Personalausweis und eine Bescheinigung ihrer Arbeitsstelle. Vorgestern hat Albina Afanassjewna das erledigt. Vorgestern. Musa ist inzwischen nicht mehr bei ihr gewesen. Ohne Personalausweis kann sie nicht wegfahren! Den hat die Mutter! Das war es. Jetzt hatte er es!

Valja verlor die gewohnte Selbstbeherrschung. Er sprang auf, schnappte sich Mantel und Mütze und stürzte in den Korridor. Im Laufen zog er sich an.

Wie ein Blitz war er die Treppe hinunter, spurtete den endlos langen Korridor entlang, zeigte dem jungen Diensthabenden flüchtig den Ausweis und stürmte in die Gasse hinaus. Er hatte Glück, zwei Mitarbeiter setzten sich gerade gemächlich in ein Auto.

»Freunde«, flehte Valja, »nehmt mich ein Stück in Richtung Perwomaiskaja mit, ich hab's furchtbar eilig.«

Die Mitarbeiter tauschten einen Blick, und der eine sagte: »Er übertreibt nie, ich kenne ihn.«

Der andere verbarg ein Lächeln und bestätigte: »Ich kenne ihn auch.« Und zu Denissow sagte er: »Bitte, Maestro. An welcher Stelle der Perwomaiskaja dürfen wir Sie absetzen?«

Der Wagen fuhr los und kurvte durch das Gewirr der Moskauer Straßen. Während der Fahrt unterhielten sie sich über »alles«. Die Fälle, an denen die Mitarbeiter aus Zwetkows Abteilung arbeiteten, waren immer interessant. Ehe sie sich's versahen, waren sie in der Perwomaiskaja, wo Denissow unweit des Hauses ausstieg, in dem Albina Afanassjewna wohnte, Musas Mutter.

Valja durchquerte den verschneiten Hof mit dem verödeten Spielplatz, lief den Asphaltweg am Haus entlang und wollte gerade durch die Tür schlüpfen, als er hinter sich eine fröhliche Stimme hörte. »Zu wem wollen Sie so eilig, junger Mann?«

Valja drehte sich um.

Neben der Haustür hatte Albina Afanassjewna hinter einem Mauervorsprung Schutz vor dem Wind gesucht. Sie trug einen hübschen Pelzmantel und hatte sich ein weißes, weiches Tuch umgebunden. Ihre schwarzen Augen blitzten jugendlich in dem geröteten Gesicht. Neben ihr stand ein Kinderwagen.

»Zu Ihnen«, sagte er.

»Sehr schön. Da können Sie mir gleich helfen.«

Valja half ihr gern, den Wagen in den ersten Stock zu tragen, das kleine Mädchen musterte ihn, und er zwinkerte ihr zu.

Während Albina Afanassjewna im Zimmer das Enkeltöchterchen versorgte, legte er im Korridor, ihrer Einladung folgend, Mantel und Mütze ab und ging in die Küche. Valja hatte immer noch nicht entschieden, ob er weiter die Rolle eines Freundes von Pest-Kolja spielen oder mit dieser Frau offen sprechen sollte. Er hätte gern offen mit ihr gesprochen. Obwohl es riskant war...

Draußen klingelte es.

»Ah, das ist Ninotschka!« rief Albina Afanassjewna, lief in den Korridor und öffnete die Wohnungstür. Lebhaft begrüßte sie den Ankömmling.

»Kommen Sie herein, Ninotschka«, sagte Albina Afanassjewna. »Bitte in die Küche. Dort wartet ein junger Mann auf mich. Ich komme sofort, ich mache nur Nataschka fertig.«

Valja überlegte indessen fieberhaft, was er tun sollte. Nina durfte einstweilen nicht wissen, daß er Mitarbeiter der Kriminalmiliz war, wie es überhaupt niemand aus dem Restaurant wissen durfte. Aber in Albina Afanassjewnas Gegenwart konnte er sich nun nicht mehr als Inspektor der Restaurantverwaltung ausgeben und in Ninas nicht als Pest-Koljas Freund.

Nina kam in die Küche und blieb überrascht stehen. »Sie?«

»Ja, ich«, bestätigte Valja und fügte ernst hinzu: »Bitte, Nina, wundern Sie sich über nichts. Ich werde Ihnen später alles erklären. Sagen Sie mir zunächst, weshalb Sie hergekommen sind!«

»Musa hat mich gebeten, ihren Ausweis zu holen.«

»Ach! Obwohl. Ich hab's mir gedacht. Also lassen Sie ihn sich geben, und dann gehen wir gemeinsam weg. Einverstanden?«

»Selbstverständlich.« Nina hatte sich von ihrer Überraschung noch nicht erholt.

Aber da erschien endlich Albina Afanassjewna. Sie hatte wieder die bunte Jacke und die hübsche Hose an, die ihre schlanke Figur zur Geltung brachte.

»Na, habt ihr euch bekannt gemacht?« fragte sie.

»Ja«, sagte Valja und fügte hinzu: »Ich bin nur gekommen, um zu hören, ob Sie schon etwas über Ihre Tochter erfahren haben.«

»Da ist nichts zu erfahren«, antwortete Albina Afanassjewna jähzornig. »Die Mutter und das eigene Kind sind ihr völlig egal. Da, sehen Sie?« Sie wies auf Nina. »Die Freundin muß den Ausweis abholen. Das ist der Dank für alles! Für meine Tränen, meine Qualen!«

Sie begann sich wieder zu erregen, zu ereifern und in Hysterie zu steigern - wie letztes Mal. Aber da sagte Valja streng: »Gehen Sie, Albina Afanassjewna holen Sie den Ausweis. Gehen Sie.«

Es war, als erwache Albina Afanassjewna, und eilig antwortete sie: »Ja, ja. Gleich. Wo ist er denn, um Himmels willen.« Sie lief ins Zimmer.

Nina und Valja standen niedergeschlagen in der Küche. Als Valja gerade das Schweigen brechen wollte, erschien Albina Afanassjewna mit dem Ausweis, reichte ihn Nina und sagte: »Da, Ninotschka. Geben Sie ihn ihr. Soll sie ihr Glück suchen, soll sie jemanden richtig lieben. Nataschka und ich werden irgendwie allein fertig werden.« Tränen traten ihr in die Augen.

»Was reden Sie da, Albina Afanassjewna«, rief Nina. »Sie kommt ja zurück. Sie kommt bald zurück, Sie werden sehen. Und sie liebt Sie, und sie liebt auch Natascha.«

»Ich weiß nicht, wen sie liebt, und ich will es auch gar nicht wissen!« schrie Albina Afanassjewna und ballte die Fäuste. »Richten Sie ihr das aus, der Schlampe! Oh!« Sie preßte die Hände an die Wangen und blickte Valja flehend an. »Verzeihen Sie.«

Während Valja und Nina sich im Korridor anzogen, sprach sie kein Wort mehr. Dann nickte sie und schloß mit schuldbewußtem Lächeln die Tür hinter ihnen.

Erst als sie im Hof waren, sagte Nina nach einem Seufzer: »Wie schrecklich! Sie quält sich ja so.«

»Und wie«, stimmte Valja zu. »So was wünscht man keinem. Aber ist Ihnen klar, was mit Ihrer Freundin geschieht?«

»Ach!« Nina winkte ärgerlich ab. »Eine neue Liebelei. Das vergeht, wie immer. Da ist mit ihr nichts anzufangen. Sie hat eben so einen unausgeglichenen Charakter. Und Sie.«, verstohlen schaute sie Valja an, »Sie interessieren sich offenbar sehr für sie?«

»Mehr für Musas Freund, um ehrlich zu sein.«

»Warum?« rief Nina erstaunt, fügte aber sogleich hinzu: »Das darf ich wohl nicht fragen?«

»Sie dürfen. Ich habe versprochen, Ihnen alles zu erklären, erinnern Sie sich? Aber erzählen Sie mir zunächst einmal, wie Sie Musa den Ausweis geben wollen.«

»Ich rufe sie an, und dann treffen wir uns.«

»Wo?«

»Irgendwo. Ins Restaurant will sie nicht kommen.«

Valja überlegte: Wenn man Musa beschattete, nachdem sie sich mit Nina getroffen hatte, dann führte sie einen sicherlich zu Pest. Der zweite Weg dorthin führte über die Telefonnummer, unter der Musa zu erreichen war. Kurzum, es war kein Problem, den Ort festzustellen, wo sich Pest, und mit ihm wahrscheinlich auch Ljocha, versteckt hielt. Und dann galt es sie festzunehmen. Das würde eine schwierige und gefährliche Operation werden. Zwei Banditen, der eine bewaffnet.

»Wann sollen Sie Musa anrufen?« fragte Valja.

Nina schaute auf die Uhr. »Jetzt ist es halb eins. Anrufen soll ich sie zwischen eins und zwei.«

»Ausgezeichnet. Fahren wir.«

»Wohin?« fragte Nina erschrocken.

»Haben Sie keine Angst«, sagte Valja. »Wir fahren zu meiner Dienststelle. Ich bitte Sie sehr. Ich muß mich mit meinen Genossen beraten. Ach ja! Es handelt sich darum, daß ich.«, er zögerte, »bei der Kriminalmiliz arbeite.«

Nina nickte lächelnd. »Das hab ich mir gleich gedacht. Schon neulich.«

»Warum?« fragte Valja.

»Weil ich die Inspektoren unserer Verwaltung kenne«, antwortete sie. »Und die stellen ganz andere Fragen.«

»Tja.«, sagte Valja ärgerlich. »Demnach bin ich nicht besonders gut gewesen. Und ich habe mit meiner Rolle keine Ehre eingelegt?«

»Doch«, entgegnete Nina. »Solche Fragen haben Sie ja nur mir gestellt. Sergej Iossifowitsch zum Beispiel ist überzeugt, daß Sie ein Inspektor sind. Ein neuer. Die wechseln häufig bei uns.«

»Soll er bei seiner Überzeugung bleiben, ja? Und die anderen auch, ich bitte Sie darum. Werden Sie sich nicht verplappern?«

»Selbstverständlich nicht.«

Plaudernd gingen sie zur Metro hinunter, fuhren ins Zentrum und stiegen dort in einen Trolleybus um. Er war fast leer, und sie konnten sich ungestört unterhalten.

»Und was sage ich im Restaurant?« besann sich Nina plötzlich, als sie die Passierscheinstelle bereits hinter sich hatten und in der hohen Eingangshalle waren.

»Halb so schlimm.« Valja lächelte. »Wir lassen uns was einfallen.«

Zum Glück war Kusmitsch in seinem Zimmer. Er wollte gerade Mittag essen gehen, als Valja klopfte.

»Komm herein«, sagte Kusmitsch. »Was gibt's?«

Valja schloß die Tür hinter sich und schilderte die entstandene Situation. »Wenn wir sie in der Wohnung verhaften, kann es Opfer geben«, schloß er. »Deshalb habe ich einen Vorschlag, Fjodor Kusmitsch. Ich begleite Nina. Sozusagen als ihr Freund.«

»Aha. Und weiter?«

»Ich stelle mich Musa vor, und wir gehen mit ihr in die Wohnung. Dort bleiben wir, trinken ein Gläschen. Im geeigneten Augenblick öffne ich die Tür, unsere Jungs kommen herein.«

»Nein.« Kusmitsch schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Die sind mit allen Wassern gewaschen. Die lassen dich erst gar nicht in die Wohnung.«

»Je nachdem, wie ich spiele.«

»Nina muß mitspielen, vergiß das nicht«, sagte Kusmitsch. »Bist du ihrer völlig sicher? Immerhin ist sie Musas Freundin.«

»Sie ist in Ordnung, Fjodor Kusmitsch. Sie können ja selbst mit ihr sprechen.«

»Ruf sie her.«

Valja sprang auf.

Das Gespräch dauerte noch nicht lange, doch Valja merkte schon, daß Nina Kusmitsch gefiel. Er schien ihr zu vertrauen und die Überzeugung gewonnen zu haben, daß Nina sie nicht hereinlegen, Valja nicht verraten würde. Aber das war zu wenig. Kusmitsch sollte entscheiden, ob das Mädchen imstande war, Valja zu »sekundieren«, ihm in der gefährlichen Situation zu helfen, die sich nach dem Treffen mit Musa unweigerlich ergab. Im tiefsten Innern war Valja nicht überzeugt davon. Eben deshalb wollte er, daß Kusmitsch selbst die Entscheidung fällte. Denn allzuviel stand auf dem Spiel.

Kusmitsch drehte die Brille in den Händen und sagte schließlich eindringlich: »Folgendes, Nina: Sie können uns sehr helfen. Und wenn ich sage >uns<, dann meine ich >allen<. Denn es ist nicht unser Privatvergnügen, und es geschieht auch nicht um unserer eigenen Sicherheit willen, wenn wir Verbrecher fangen. Darin besteht eben unser wenig angenehmer, aber, ich meine, nützlicher Dienst. Und wir vertrauen uns nicht jedem an. Das verstehen Sie doch?«

»Vollkommen«, antwortete Nina leise.

Nach kurzem Schweigen fragte Kusmitsch unvermutet: »Könnten Sie Musa, wenn Sie sich mit ihr treffen, irgendwohin einladen?«

»Ich weiß nicht, wohin.«

»Aber ich weiß es!« rief Valja. »Ich lade Sie beide ein. Und Musa wird dann Kolja hinzitieren. Dafür verbürge ich mich.«

»Und wohin wollen Sie uns einladen?« fragte Nina lächelnd.

Valja merkte, daß ihr Lächeln auch Kusmitsch gefiel.

In Wirklichkeit gefiel Kusmitsch etwas anderes. Er stellte fest, daß sich das Mädchen beruhigt hatte und sich schon auf das Verhalten einstimmte, das von ihr erwartet wurde. Ja, Nina schien für die Rolle geeignet zu sein, die sie ihr anvertrauen wollten.

»Also, wohin laden Sie uns ein?« wiederholte Nina, als wollte sie Valja necken.

»Das erfahren Sie noch«, antwortete er. »Sie dürfen aber nicht ablehnen.«

»Er ist Ihr neuer Freund«, erklärte Kusmitsch ohne eine Spur von Spott. »Sie hatten noch keine Gelegenheit, ihn Musa vorzustellen. Und er, verstehen Sie, macht Ihnen mächtig den Hof. Er gefällt Ihnen, vergessen Sie das nicht.«

»Das vergesse ich nicht«, sagte Nina lachend.

Sie war überhaupt nicht schüchtern, sondern lebhaft und fröhlich, und das war Valja sehr angenehm.

»Ich werde ihr mit dem größten Vergnügen den Hof machen«, sagte er.

Kusmitsch runzelte die Brauen und versetzte: »Das Vergnügen wirst du nachher haben. Einstweilen rate ich dir, die Hauptsache im Auge zu behalten. Tust du das nicht, kann es dich teuer zu stehen kommen.«

Dann telefonierte Nina mit Musa, und sie vereinbarten, sich am Majakowski-Platz zu treffen, am Metroeingang.

Als sie Kusmitschs Zimmer bereits verlassen hatten, sagte Valja plötzlich schuldbewußt: »Oh, Ninotschka, entschuldigen Sie, ich muß Kusmitsch noch etwas fragen. Ich bin gleich wieder da.«

Er lief zurück. Kusmitsch erwartete ihn. »Also«, sagte er. »Die Gruppe folgt euch. In Autos. Deine Aufgabe besteht darin, nicht in die Wohnung zu gehen, sondern die Banditen herauszulocken. Oder, schlimmstenfalls, mit Pest zusammen herauszukommen. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Fjodor Kusmitsch. Wenn ich ihn neben mir habe...«

»Ihr handelt dann je nach den Umständen. Aber das Signal gibst du.«

Zum Majakowski-Platz wurden sie mit einem Auto gebracht. Dann überquerten Nina und Valja, sich angeregt unterhaltend, den Platz, kamen am Majakowskidenkmal vorbei und näherten sich dem Metroeingang.

Es war ein sonniger Frosttag, wie er für das winterliche Moskau jetzt so selten ist. Der endlose Passantenstrom flutete an den mächtigen Säulen des Konzertsaales vorbei, und schwarzer Matsch schmatzte unter den Füßen. Nur auf den fernen Dächern und dem Denkmal wirkte der Schnee unwahrscheinlich weiß und steril.

In dem blauen Mantel mit dem weichen Pelzkragen und der Mütze aus dem gleichen Fell sah Nina Valjas Meinung nach reizend aus. Ihr Gesicht war gerötet, die Augen wirkten dunkel vor verhaltener Erregung, und er fragte dauernd: »Ist Ihnen nicht kalt?«

»Kein bißchen«, antwortete Nina lächelnd, und mit einem Blick auf sein Kunstfasermäntelchen meinte sie: »Aber Sie frieren bestimmt.«

»Ich friere nie. Mein Mantel ist nämlich elektrisch beheizt.«

So versicherten sie einander, daß ihnen nicht kalt sei, bis Nina plötzlich rief: »Da ist ja Musa!«

Valja erkannte sie sofort. In ihrem hübschen Lammfellmantel, der großen flauschigen Mütze und den eleganten Stiefelchen trat sie zu ihnen und umarmte Nina.

»Ich bin nicht allein«, sagte Nina. »Macht euch bekannt.«

Musa musterte Valja rasch und drohte der Freundin mit dem Finger. »Oh, Nina! Ist das dein Freund? Das glaube ich dir nicht.«

»Warum nicht?« fragte Valja lächelnd. »Haben Sie keinen?«

»Ich bin nur so überrascht«, antwortete Musa lachend.

»Ich mache einen Vorschlag«, sagte Valja. »Ich habe nämlich gewisse Beziehungen zur Konzertagentur, Nina weiß das.« Er zog, um überzeugend zu wirken, ein Büchlein aus der Tasche und schwenkte es. »Und in Moskau tritt zum erstenmal das weltberühmte Negerensemble >Black Band< auf. Ich hoffe, Sie haben davon gehört?«

»Und ob!« rief Musa begeistert. »Die Leute reißen sich um die Karten. Tagelang stehen sie an.«

»Richtig«, bestätigte Valja. »Und morgen findet die erste Vorstellung statt.«

»Oh, morgen fahren wir schon weg«, teilte Musa bekümmert mit.

»Ich will Sie ja für heute einladen«, sagte Valja. »Zur Generalprobe um vier.«

»Valja!« Musa drohte ihm mit dem Finger. »Verkohlen Sie uns auch nicht? Das ist ja unwahrscheinlich! Mein Gott, die >Black Band

»Sie lehnen also nicht ab?«

»Das fehlte noch! Und ob wir gehen.«

»Zu viert. Falls Sie einen Freund haben. Das will ich doch hoffen.«

»Nehmen wir es an.«

»Dann müssen wir uns beeilen. Wir haben ungefähr eine Stunde und fünfzehn Minuten Zeit. Warten Sie. Dort stehen Taxis. Moment!«

Valja rannte los. Die Mädchen folgten ihm.

Wenig später stiegen sie in ein Auto.

»Wohin?« Valja drehte sich um.

»Zum Belorussischen Bahnhof, und dann in die Lesnaja«, antwortete Musa. »Dort zeige ich den Weg.«

Der Wagen bog in die Gorkistraße ein, wendete am zentralen Telegrafenamt und fuhr in Richtung Belorussischer Bahnhof. Valja, der mit den Mädchen scherzte, blickte ab und zu in den Rückspiegel.

Als das Taxi, das Musas Anweisungen gefolgt war, schließlich in einer stillen Gasse unweit der LesnajaStraße anhielt, half Valja den Mädchen beim Aussteigen und sagte zu Musa: »Nina und ich warten auf Sie. Damit der Chef nicht nervös wird. Einverstanden?«

»Sie warten hier, und Nina kommt mit«, ordnete Musa an und fügte strahlend hinzu: »Sie sind einfach ein Zauberer! >Black Band

»Beeil dich, verehrtes Publikum!« rief Valja lachend.

Die Mädchen verschwanden im Haus.

Valja steckte die Hände in die Manteltaschen und spazierte auf dem Trottoir auf und ab. Der Taxifahrer, der auf Valjas Wunsch ein Stückchen weitergefahren war, duselte am Lenkrad. Vor dem Haus auf der anderen Straßenseite hielt ein Auto. Kurz darauf stoppte ein zweites in der Nähe. Passanten waren kaum zu sehen. Ein Lastwagen rumpelte durch die Gasse, ein Taxi flitzte vorbei. Am blaßblauen, leicht diesigen Himmel schien die Sonne, die schon kaum merklich zu wärmen begann. Valja zwang sich zu ruhigem Schritt, obwohl ihm vor Erregung ein leichter Schauer über den Rücken lief. Er warf einen Blick auf die Uhr. Höchste Zeit...

Da klappte wie auf sein Kommando die Haustür, Nina, Musa und ein hochgewachsener rotblonder Bursche in heller Lammfelljacke und Pelzmütze kamen heraus. Valja erkannte ihn sofort. Pest!

Lächelnd ging Valja ihnen entgegen. Lässig gab ihm der Bursche die Hand. »Ich bin Niko...«

Er konnte den Satz nicht beenden. Er glitt aus, flog über Valja hinweg, der sich gebückt hatte, und plumpste aufs Trottoir. Im selben Augenblick saß Valja auf ihm und drehte ihm den rechten Arm mit solcher Kraft nach hinten, daß Pest aufschrie und die Nase in den Schnee stieß.

Von den parkenden Autos kamen Männer gelaufen.

Erneut begebe ich mich zu dem unglückseligen Hof. Über die Ereignisse, die sich dort abgespielt haben, werden Petja Schuchmin und ich heute von zwei Seiten Angaben sammeln. Er - bei den Kraftfahrern, die mit ihren Wagen dort gewesen sind, und ich bei den Mietern.

Ich schlendere die stille, mir bereits bekannte Gasse entlang. Fußgänger sind kaum unterwegs, Autos auch nicht. Es ist mühselig, auf dem vereisten, unebenen Trottoir zu gehen. Vor dem grünen Tor bleibe ich stehen und betrachte es. Tatsächlich - wer mag auf die Idee gekommen sein, es um diese Jahreszeit zu streichen? Sicherlich wollte die Hausverwaltung das Geld verbuttern, das ihr noch zur Verfügung stand. Die frische Farbe ist schon zur Hälfte abgeblättert, das Tor mit Eis und gefrorenen Schneeklumpen bedeckt. Ich zwänge mich durch den Spalt und passiere den dunklen Torweg. Auf dem Spielplatz sind wieder die beiden Knirpse in den warmen gelben Kombinationen. Mit kleinen Schaufeln buddeln sie schnaufend im Schnee. Auf der Bank sitzt, in ein Tuch gemummelt, die Oma und liest in einem dicken Buch. Die zweite Bank ist leer. Sonst ist niemand auf dem Hof.

Ich trete zu der Frau, grüße und setze mich zu ihr. Durch die starken Gläser ihrer Brille wirft sie mir einen gleichgültigen Blick zu. Sie hat ein müdes, nicht mehr junges, intelligentes Gesicht.

»Sind das Ihre Enkel?« frage ich und deute auf die Kinder.

Die Frau blickt erneut auf und sagt seufzend: »Ja.«

»Nette Kinder. Da brauchen Sie wirklich nicht zu seufzen.«

»O doch! Ihretwegen habe ich meine Arbeit aufgegeben. Meine Tochter hat mich darum gebeten. Deshalb sind sie so nett«, schließt sie nicht ohne Stolz.

»Das berühmte Großmutterproblem«, sage ich. »Die Soziologen studieren ja jetzt alles. Und auf diesem Gebiet haben sie kürzlich eine Entdeckung gemacht. Ich hab's gelesen. Demnach sind an der Erziehung der Enkel zweimal mehr Großmütter beteiligt, die eine halbe Stunde bis zu ihnen fahren müssen, als solche, die eine Stunde zu fahren haben. Jetzt schreibt bestimmt schon jemand eine Dissertation zu diesem Thema.«

Lächelnd mustert mich die Frau. »Ich wohne bei diesen Schlingeln.«

»Also wohnt die Schwiegermutter mit in der Familie«, sage ich dozierend. »Darüber haben die Soziologen ebenfalls Untersuchungen angestellt. Und sie haben herausgefunden, daß junge Ehen häufiger von den Müttern der Ehemänner als von den berüchtigten Müttern der Ehefrauen auseinandergebracht werden.«

»Du lieber Himmel! Sind Sie etwa Soziologe?«

»Beinahe«, antworte ich. »Ich studiere ebenfalls die verschiedensten Lebenssituationen, wissen Sie. Aber auf etwas anderer Linie. Haben Sie von dem Diebstahl in dem Haus dort gehört?« Ich weise auf das Haus, wo sich die Wohnung des verstorbenen Akademiemitglieds befindet.

»Wie sollte ich nicht! Und zwei Tage darauf wurde hier ein Ermordeter gefunden. Schrecklich. Man hat ja Angst, mit den Kindern ins Freie zu gehen.«

»Sicherlich gehen Sie jeden Tag um dieselbe Zeit hinaus?«

»Selbstverständlich. Zweimal. Am Vormittag und am Nachmittag, wie jetzt. Und ich sage Ihnen, das war ja beinah vorauszusehen.«

»Vorauszusehen?« frage ich. »Hatten Sie eine Vorahnung?«

»Nein. Da gab's etwas Realeres. Ich lese gern Kriminalromane. Und ich versichere Ihnen: Ich wäre ein guter Detektiv geworden. Ja, ja.«

»Wie die meisten Frauen«, sage ich lachend.

»Natürlich. Wir sind begabter. Und außerdem gute Psychologen. Sollen die Männer herumrennen und schießen.« Sie winkt geringschätzig ab.

»Was haben Sie vorausgesehen, den Diebstahl oder den Mord?«

»Eigentlich beides.«

»Haben Sie auf dem Hof etwas beobachtet?«

»Genau. Einmal setzte sich ein Mann zu mir, wie Sie jetzt, und er fragte mich über die Mieter aus. Das war natürlich ein Ablenkungsmanöver.«

»Er wußte nicht, mit wem er es zu tun hat«, sage ich lächelnd.

»Eben. Und auch über die Brjuchanows. Wann sie kommen, wann sie gehen, wer sie besucht. Und das alles wie beiläufig. Ich kannte Boris Brjuchanow schon, als er noch studierte. Ich war damals ein Schulmädchen. Die Familie wohnte bereits vor dem Krieg hier. Auch an seine Eltern erinnere ich mich.«

»Und wer war das, der Sie ausfragte?«

»Ein junger Mann wie Sie.... das heißt, nicht ganz«, verbesserte sie sich lächelnd. »Er war rotblond, hager, durchaus anständig gekleidet. Aber unsympathisch, muß ich sagen. Schlechte Manieren, wissen Sie.«

Das ist Pest gewesen, denke ich. Bestimmt.

»Also zunächst war dieser junge Mann hier«, fährt die Frau mit wachsender Begeisterung fort. »Und ein, zwei Tage später habe ich zwei nicht mehr junge, gut gekleidete Fremde beobachtet, die sich unflätig beschimpften. Dabei sahen sie, daß ich mit den Kindern in der Nähe war.«

»Weshalb beschimpften sie sich?«

»Genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Ich habe mir ja auch keine Mühe gegeben, sie zu verstehen. Immerhin bekam ich mit, daß der eine vom anderen verlangte, nicht mehr irgendwo hinzugehen. Und er drohte ihm. Nun, und der andere weigerte sich. Aber stellen Sie sich vor, plötzlich bemerkte ich, daß diese beiden von einem dritten beobachtet wurden. Er stand dort drüben.« Sie wies auf das Tor. »Ich habe ihn genau gesehen. Doch die beiden hatten ja mit sich selbst zu tun. Es war ein junger Mann, der dem sehr ähnelte, der sich zu mir gesetzt hatte. Er war dann noch oft in unserem Hof. Und wissen Sie, was mir noch aufgefallen ist? Wir wohnen über den Brjuchanows. Einmal trete ich aus der Wohnung, um einkaufen zu gehen, da höre ich eine Etage tiefer etwas klappern. Ich beuge mich übers Geländer und sehe, wie dieser junge Mann etwas aus dem Briefkasten der Brjuchanows zieht und die Treppe hinunterläuft. Am Abend habe ich es Inna erzählt. Aber die Ärmste hatte andere Sorgen. Bedenken Sie doch, sie hat gegen den eigenen Bruder prozessieren müssen. Ein Schurke ist das - unbeschreiblich. Er hat buchstäblich den gesamten Nachlaß des Vaters verlangt. Dabei hat der nichts mehr von ihm wissen wollen und ihn aus dem Haus gejagt. Urteilen Sie selbst: Arbeiten wollte er nicht, das Medizinstudium hat er an den Nagel gehängt, hat bloß noch getrunken. Und geheiratet hat er eine Trinkerin, eine Prostituierte, wie man sagt. Geradezu eine Mißgeburt in der Familie! Inna hätte ihm alles gegeben. Nur gut, daß ihr Mann einschritt. Der ist ungeheuer energisch. Er hat diesen Oleg dermaßen zusammengestaucht, daß der sich nicht mehr herwagt.« Zum Schluß sagt meine Gesprächspartnerin, sie heißt übrigens Sofja Semjonowna: »Sie dürfen nicht glauben, daß ich mit jedem, der mir über den Weg läuft, solche Gespräche führe.« Sie lächelt fein. »Von Ihnen hatte ich nicht den Eindruck, daß Sie mir zufällig über den Weg gelaufen sind.«

»Warum nicht?«

»Weil ich einen guten Detektiv abgegeben hätte, wie ich schon sagte. Ich errate alles.«

»Und was haben Sie an mir erraten?«

»Daß wir beide Kollegen sind«, antwortet Sofja Semjonowna lachend.

»Na wissen Sie«, sage ich, »vor Ihnen muß man ja den Hut ziehen.«

»Ziehen Sie ihn, aber erkälten Sie sich nicht!«

Ich nehme die Mütze ab und verbeuge mich, und die beiden Knirpse starren mich offenen Mundes an.

»Da mein Inkognito nun gelüftet ist«, sage ich, »darf ich Ihnen, von Spezialist zu Spezialist, eine Frage stellen. Schauen Sie«, ich ziehe Fotos aus der Tasche, unter denen sich die von Ljocha und Pest befinden, »haben Sie einen von diesen Männern hier auf dem Hof gesehen?«

Sofja Semjonowna nimmt die Fotos und betrachtet eins nach dem anderen. Unsicher sagt sie: »Dieser hier, glaube ich, hat sich mit mir unterhalten, wenn ich mich nicht irre.« Sie zeigt auf das Foto von Pest-Kolja.

Also doch er, bekräftige ich in Gedanken.

Schließlich verabschiede ich mich von Sofja Semjonowna. Wir sind durchaus zufrieden miteinander.

Ich winke den Knirpsen zu. Der eine hebt lächelnd die Hand, der andere schaut mich mit ängstlicher Neugier an.

Ich gehe durch das Tor auf die Gasse und schaue auf die Uhr. Oho! Allerhand Zeit habe ich mit Sofja Semjonowna verplaudert. Aber unsere Unterhaltung ist aufschlußreich gewesen. Nur ein Punkt ist unklar geblieben. Das fünfte Auto. Sofja Semjonowna hat im Hof nur die bemerkt, die schon bei uns auf der Liste stehen. Doch es ist ein fünftes Auto dagewesen. Möglicherweise fuhr es nicht in den Hof, sondern wartete in der Gasse. Unserer Schätzung nach konnten die gestohlenen Sachen in vier oder fünf Koffern untergebracht werden. Sofja Semjonowna hat niemanden Koffer schleppen sehen, als sie mit ihren Enkeln im Hof war.

Übrigens läßt sich jetzt ziemlich genau die Zeit sagen, wann der Diebstahl verübt wurde. Sofja Semjonowna hält sich mit den Enkeln vormittags von halb zehn bis halb zwölf im Hof auf. Inna Borissowna und ihr Gatte gehen um halb neun zur Arbeit. Ljocha ist bereits nach dem Diebstahl zu Wolodja ins Taxi gestiegen, ungefähr um vierzehn Uhr, nachdem er vorher die gestohlenen Sachen zur Datsche gebracht hatte. Folglich ist der Diebstahl entweder zwischen halb neun und halb zehn verübt worden, oder zwischen halb zwölf und halb eins, wenn man berücksichtigt, daß Ljocha Zeit brauchte, um die Sachen wegzuschaffen und am Belorussischen Bahnhof zu erscheinen.

Und dennoch - das fünfte Fahrzeug. Es läßt mir keine Ruhe. Wer konnte es sehen, wenn es nicht im Hof, sondern in der Gasse parkte?

Ich bleibe stehen und halte aufmerksam Umschau. Die Gasse ist leer. Die spärlichen Passanten zählen nicht, ebensowenig die vorbeifahrenden Autos. Aber so ist das jetzt, um die Mittagszeit. Morgen werde ich um halb neun hier sein, wer weiß, was ich dann zu sehen bekomme.

Mit diesen Gedanken biege ich aus der Gasse in die geräuschvolle bogenförmig verlaufende Straße mit den alten Häusern und den zahllosen kleinen Läden, Werkstätten und Ateliers ein. Nach wenigen Schritten stoße ich auf eine Imbißstube mit dem majestätischen Namen »Pamir«. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen und trete ein, zumal ich tüchtig durchgefroren bin und es höchste Zeit ist, Mittag zu essen.

Die Imbißstube ist dicht besetzt, es ist laut und rauchig dort, aber warm. Mit Mühe finde ich einen freien Platz. Eine gleichgültige dicke Frau mit schmuddliger Schürze legt mir die lädierte Speisekarte hin. »Suchen Sie sich was aus?« fragt sie und will schon wieder gehen.

Ich tippe mit dem Finger auf das erstbeste Gericht.

»Haben wir nicht mehr.«

»Dann bringen Sie mir, was Sie haben.«

»Das hätten Sie gleich sagen sollen.«

Sie verschwindet, und ich bin zu langem, ödem Warten verurteilt.

Am Nachbartisch sitzen eng beieinander sechs oder sieben Männer, rauchen wie die Schlote und reden wild durcheinander. Vor ihnen stehen Biergläser, unter dem Tisch sehe ich Flaschen. Sie haben sie nicht sehr sorgfältig versteckt.

»Ich sag: >Leute, ihr sucht an der falschen Stelle.< Und stoße sie fast mit der Nase drauf.« Ein unrasierter, zottiger, etwa vierzigjähriger Mann in zerknitterter Jacke und offenstehendem Hemd erringt endlich die Aufmerksamkeit der anderen.

»Wo stößt du sie drauf?« fragt einer.

»Auf den Schuppen doch. Wo die Leiche liegt. Einer sagt zu mir: >Bist doch blau, Junge, verschwinde.< ->Wieso denn?< frage ich. >Heutzutage picheln doch alle, bloß die Eulen nicht, und die tun's deshalb nicht, weil sie am Tag schlafen. In der Nacht haben aber die Geschäfte zu.<«

Die Freunde wiehern vor Lachen.

»Und dann?«

»Dann hab ich«, fährt der Erzähler selbstzufrieden fort, »das Schloß am Schuppen abgerissen, und alle stürzten rein. Ich hielt mich zurück. Sie konnten sich ja selber überzeugen. Und dann ging's los: >Danke, Wassili Prokofjewitsch<, >Was hätten wir ohne Sie gemacht, Wassili Prokofjewitsch. Wir schlagen Sie zur Auszeichnung vor, Wassili Prokofjewitsch<. Ohne mich würden die heut noch suchen!«

»Und wer war der Tote?«

»Oh... Ein großer Mann. Ermordet bei der Erfüllung...«

»Und meine Rosa meinte, es wäre irgend so ein Künstler gewesen. Die hätten ihn im Hof ausgezogen und erstochen. Ist ja abends auch stockfinster bei uns, schaurig.«

»Und du selbst hast nichts gesehen?«

»Abends sind seine Augen doch vom Wodka getrübt«, sagt einer lachend.

»Nichts, aber Rosa weiß es. Sie war rausgegangen, um mich zu suchen.«

»Laß uns mit deiner Rosa in Frieden. Was geben sie dir denn nun, haben sie was gesagt?«

»Einen Orden natürlich nicht. Die verteilen sie ja bloß untereinander«, antwortet der zottige Wassili geringschätzig. »Na, vielleicht 'ne Urkunde. Denn ohne mich hätten die ja nie. Und wenn noch mal so was passiert? Dann kommen sie wieder zu mir angerannt. Unser Revierinspektor Jegor Iwanowitsch, das ist so 'n Strenger, der sagt immer zu mir: >Wasja, du bist meine Stütze.<«

»Ha! Schöne Stütze!« ruft einer der am Tisch Sitzenden spöttisch.

Sie fangen an sich zu beschimpfen.

Und mir wird endlich eine kalte dünne Suppe serviert.

So entstehen Gerüchte. Insbesondere unter solchen Trunkenbolden. Und nur deshalb, weil wir, wie ich meine, keine genaue Information geben.

Während mir diese trübseligen Gedanken durch den Kopf gehen, beende ich mein Mahl, zünde mir eine Zigarette an und überlege, was weiter zu tun ist. Unbedingt muß ich heute Viktor Kuprejtschik, den Mann von Inna Borissowna, aufsuchen, der so hart mit ihrem Brüderchen umgesprungen ist. Es ist wohl das beste, wenn ich mich mit Kuprejtschik in ruhiger, häuslicher Atmosphäre unterhalte. Deshalb rufe ich ihn von der nächsten Telefonzelle aus in seiner Arbeitsstelle an (die Telefonnummer habe ich von Pascha Mestscherjakow), und wir verabreden uns.

Gegen neunzehn Uhr drehe ich die altmodische Klingel an der hohen, lederbespannten Tür in der zweiten Etage des mir jetzt schon vertrauten Hauses.

Ein grauhaariger, mittelgroßer, wohlgenährter Mann von unscheinbarem Äußeren öffnet mir. Er hat flache, sehr regelmäßige Gesichtszüge ohne besondere Kennzeichen. Das ist Kuprejtschik. Er trägt eine hübsche braune Hausjacke über einem schneeweißen Oberhemd mit aufgeknöpftem Kragen, eine elegante braune Hose und pelzgefütterte Hausschuhe.

»Bitte«, sagt er und macht eine einladende Gebärde. »Legen Sie ab.«

Wir gehen nicht in das Zimmer, wo ich mit Inna Borissowna gesprochen habe, sondern durch einen schmalen Korridor in einen anderen Raum. Offenbar ist dies das Arbeitszimmer des verstorbenen Akademiemitglieds, jetzt Kuprejtschiks Arbeitszimmer. Die Einrichtung ist nicht angetastet worden. Riesige, mit Büchern vollgestopfte Regale nehmen zwei Wände ein, vom Fußboden bis zur Decke, davor türmen sich auf zwei ungewöhnlich massiven ovalen Tischen mit geschnitzten Beinen Bücher und Zeitschriften. Die dritte Wand, an der ein großes Ledersofa steht, ist gänzlich von Bildern eingenommen. Ich komme nicht dazu, sie zu betrachten, sie hängen, unterschiedlich in der Größe, dicht an dicht, Landschaften, Porträts und Genreszenen. Allerdings gähnen Lücken in den Bilderreihen. Wahrscheinlich die Spuren des Diebstahls. Vor dem hohen Fenster mit den dichten Stores steht ein großer, mit Schnitzereien verzierter Schreibtisch.

Kuprejtschik führt mich zu dem Sofa, rückt ein Tischchen heran, bittet mich, ihn eine Sekunde zu entschuldigen, und verschwindet. Er ist tatsächlich nach einer Sekunde wieder da - mit einem Tablett, auf dem eine Kaffeekanne, Tassen, eine Zuckerdose, eine Schale mit Gebäck und ein Kännchen mit Milch stehen.

»Na wissen Sie«, sage ich lächelnd, »wenn Sie jeden Mitarbeiter der Miliz mit Kaffee bewirten wollen...«

»Das habe ich nicht vor«, entgegnet er ruhig, sachlich sogar. »Aber die erste Bekanntschaft muß doch irgendwie gewürdigt werden.«

Auf dem Weg hierher habe ich mir alles ins Gedächtnis zurückgerufen, was Petja mir über ihn erzählt hat - er hat versucht, mit Ljolja, der jungen Nachbarin von Gwimar Semanski, anzubändeln, der ihn ihr vorstellte; ein Verzeichnis ebendieser Bilder hat er der Schwester des Malers Kontschewski gezeigt und sich als Kenner ausgegeben.

»Was kann ich für Sie tun?« fragt Kuprejtschik, während er gelassen Kaffee einschenkt.

»Haben Sie in bezug auf den Diebstahl einen Verdacht? Die Diebe haben sich ja nicht zufällig Ihre Wohnung ausgesucht.«

»Da mögen Sie recht haben. Aber einen Verdacht.« Nachdenklich trinkt er einen Schluck Kaffee und schüttelt den Kopf.

»Wir haben den Verdacht, daß der Diebstahl von Zugereisten begangen worden ist«, fahre ich fort und greife ebenfalls nach der Tasse. »Kommen Leute von auswärts zu Ihnen?«

»Hin und wieder«, antwortet er zurückhaltend. »Kennen Sie einen gewissen Gwimar Iwanowitsch Semanski?«

Ich spüre, wie mein Gesprächspartner aufmerkt, obwohl sein Gesichtsausdruck ruhig und müde bleibt und seine Hand, die die Kaffeetasse hält, kein bißchen zittert. Doch die Brauen haben kaum merklich gezuckt, und die Augen haben sich für einen Moment verengt.

»Ja.« Er stellt die Tasse auf das Tischchen, zündet sich eine Zigarette an und zieht den Kristallaschenbecher zu sich heran.

»Wer ist er, von wo kommt er?« frage ich.

»Entschuldigen Sie, in welchem Zusammenhang interessieren Sie sich für ihn, wenn es kein Geheimnis ist?« Zum erstenmal stellt er eine Frage.

»Im Zusammenhang mit seinem Tod«, sage ich.

»Was?«

Er springt wie von der Tarantel gestochen auf und läßt beinahe die Zigarette fallen. »Er ist gestorben?«

»Er wurde ermordet«, antworte ich kurz. »Das kann nicht sein«, stammelt Kuprejtschik, ohne den entsetzten Blick von mir zu wenden. »Weshalb. Weshalb, mein Gott?«

Er machte den Eindruck eines ruhigen Menschen -und nun. Ob Semanski ein naher Freund von ihm gewesen ist? Aber dann wüßte er bereits von dessen Tod, oder er hätte Semanski gesucht. Denn seit dem Mord sind schon fünf Tage verstrichen.

Da beruhigt er sich plötzlich, als lese er meine Gedanken, und nimmt sich zusammen. Sein Gesicht hat wieder den ruhigen, müden Ausdruck, nur die Röte verrät seine Erregung.

»Wer hat das Verbrechen begangen?« fragt er.

»Nach dem fahnden wir noch.«

»Also beschäftigen Sie sich nicht mit dem Diebstahl, sondern mit dem Mord?« Zum erstenmal gebraucht er dieses schlimme Wort. »Oder gibt es einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen?«

»Das wissen wir noch nicht.«

»Mit dem Diebstahl haben sich bisher doch andere Genossen beschäftigt«, bemerkt Kuprejtschik, »deshalb dachte ich. Sicherlich sind Sie aus einer anderen Abteilung? Nach dem Mord haben die Genossen mich nicht gefragt.«

Sieh mal einer an, wie gut du schalten kannst! Doch ich lasse seine Frage unbeantwortet und frage meinerseits: »So, jetzt wissen Sie, in welchem Zusammenhang ich mich für Gwimar Semanski interessiere. Erzählen Sie mir also, wer er ist, woher er ist und weshalb er nach Moskau kam!«

Kuprejtschik raucht nachdenklich, trinkt gemächlich Kaffee und sagt schließlich: »Eigentlich kenne ich ihn kaum. Er sagte, er sei auf Dienstreise hier. Er arbeitet in Kiew, ich glaube, im Ministerium für Textilmaschinenbau. Kennengelernt haben wir uns zufällig, in der Wohnung eines Malers. Ich interessiere mich nämlich für Malerei, wissen Sie. Das alles hier«, er deutet auf die über mir hängenden Gemälde, »hat allerdings mein Schwiegervater hinterlassen. Aber einiges habe ich hinzugefügt. Wäre dieser Diebstahl nicht gewesen. Die Halunken haben ja die besten Stücke weggeschleppt!«

»Demnach verstehen die Diebe etwas von Malerei«, bemerke ich.

»Genau. So sind die Gauner heute.«

»Und Semanski verstand auch etwas von Malerei?«

Kuprejtschik wirft mir einen raschen Blick zu. »Das habe ich mir noch gar nicht vor Augen geführt. Aber es ist ein Gedanke! Ja, er ist bei mir gewesen, und er verstand etwas von Malerei, ich habe ihm die wertvollsten Bilder gezeigt, und er war ein Zugereister. Paßt denn wirklich alles zusammen?«

»Keineswegs«, sage ich lächelnd. »Warum verdächtigen Sie ihn so rasch?«

»Ich? Ich denke gar nicht daran!« Er zuckt gleichgültig die Schultern. »Sie selbst haben nach ihm gefragt. Und Sie sagten, Sie hätten Zugereiste in Verdacht. Er war ein Zugereister. Aber wer hat ihn getötet, und weshalb?«

»Wir werden es herausbekommen«, versichere ich. »Alles kommt mal ans Licht.«

»Schrecklich.« Er fröstelt. »Irgendwo in der Nähe geht der Tod um. Brrr. Ich hoffe nur, daß Sie diese Halsabschneider finden.«

»Wenn Sie uns helfen.«

»Das liegt in meinem Interesse. Aber wie kann ich helfen?«

»Einstweilen sollen Sie mir alles sagen, was Sie über Semanski wissen.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt.«

»Ich denke, noch nicht alles«, erwidere ich lächelnd.

»Dann erklären Sie mir, was Sie interessiert«, antwortet er und zündet sich eine neue Zigarette an.

»Alles!«

»Da muß ich überlegen. Geben Sie mir für alle Fälle Ihre Telefonnummer.«

Er notiert sich meinen Namen und meine Nummer, und das Gespräch geht weiter.

»Erinnern Sie sich vielleicht«, frage ich, »ob Sie in der letzten Zeit noch anderen Besuch von auswärts hatten?«

»Außer ihm ist niemand bei mir gewesen«, antwortet Kuprejtschik und blickt mich müde an.

»Kannte auch Ihre Frau Semanski?«

»Flüchtig. Sie hat ihm einmal Tee angeboten.«

»Hat er Ihnen von seiner Familie erzählt?«

»Nein. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er eine hatte.«

»Aber seine Kiewer Adresse hat er Ihnen dagelassen?«

»Stellen Sie sich vor, nein.« Er breitet die Arme aus, dann schenkt er uns wieder Kaffee ein.

»Wo sind Sie mit ihm gewesen, abgesehen von der Schwester des Malers Kontschewski?«

»Das kann ich auf Anhieb nicht sagen. Ich will versuchen, mich zu erinnern.«

Ein schwieriges Gespräch. Der rote Faden windet sich merkwürdig, verschwindet plötzlich und kommt wieder zum Vorschein, strafft sich und erschlafft. Bei solch komplizierten Gesprächen muß man auf jede Betonung achten, auf jeden Blick und versuchen, die verborgenen Gedanken des Menschen, der einem gegenübersitzt, zu erfassen, jede Anspielung und jeden falschen Zungenschlag.

Schließlich sind wir beide müde, und im beiderseitigen Einverständnis vertagen wir das Gespräch und vereinbaren einen neuen Termin.

»Dienstlich hatten Sie mit Semanski nicht zu tun?« frage ich noch beiläufig.

»Nein, was denken Sie!« antwortet Kuprejtschik und lächelt herablassend.

Ich verabschiede mich.

Der Weg führt ins Ungewisse

Kusmitsch verhörte Musa sofort nach Pests Verhaftung. Er war in der Sache ja völlig auf dem laufenden. Zur selben Zeit befand ich mich bei Kuprejtschik, ohne von den wichtigen Ereignissen zu wissen, die sich an diesem Tag zugetragen hatten. Ich hätte Musa ohnehin nicht zu vernehmen brauchen. Da sie mich hintergangen und verraten hatte, bestanden Beziehungen eigener Art zwischen uns. Valja Denissows Beziehungen zu ihr waren nicht minder kompliziert, obwohl nicht sie ihn, sondern er sie hintergangen, wenn auch nicht verraten hatte. Eher hatte er sie gerettet, und zwar vor Pest, und sie gehindert, Moskau zu verlassen, was sie selbst nicht wollte.

Trotzdem hätte sie möglicherweise nicht mit ihm gesprochen. Kusmitsch aber war Musa völlig fremd. Außerdem mußte man mit ihr sehr behutsam reden, denn sie sollte anschließend auf freien Fuß gesetzt werden. Wer weiß, zu wem sie dann lief, um über das Vorgefallene zu berichten. Sie hatte ja kein Vertrauen. Deshalb konnte jedes unbedachte Wort, das sie aufschnappte, zu Unannehmlichkeiten und Schlimmerem führen.

Musa wurde gebeten, im Korridor vor Zwetkows Zimmer zu warten. Sie befand sich immer noch in einem Schockzustand. Im Auto (selbstverständlich wurde sie getrennt von Pest transportiert) war sie in Tränen zerflossen, aber die Jungs hatten nichts getan, um sie zu trösten. Solch gleichgültiges Verhalten von Männern ihr gegenüber war sie nicht gewohnt, die Tränen versiegten, und während sie sich die Augen mit dem zerknüllten Taschentüchlein betupfte, erkundigte sie sich, was eigentlich vorgefallen sei und wohin man sie bringe. Sie erhielt den kurzen Bescheid, daß man sie zur Miliz bringe, wo sie alles erfahren werde.

»Dazu haben Sie kein Recht!« rief Musa. »Dafür werden Sie sich verantworten! Und für Kolja auch, Sie werden schon sehen!«

Im Korridor vor Zwetkows Zimmer faßte sie einen Mitarbeiter beim Ärmel und fragte ängstlich: »Wird man mich freilassen? Vergessen Sie nicht, daß ich ein kleines Kind habe, das allein zu Hause ist.«

»Ihre Mutter wird bestimmt nach ihm sehen«, antwortete der Mitarbeiter spöttisch. »Das scheint ja nichts Neues für sie zu sein.«

»Was geht es Sie an, wer nach meinem Kind sieht?« schrie sie.

Als sie wenig später in Kusmitschs Zimmer gebeten wurde, verhielt sie sich schüchtern und kleinlaut.

Kusmitschs Äußeres, sein grauer Kopf und der ruhige, feste Blick ließen es nicht geraten erscheinen, zu zetern und in Hysterie zu verfallen.

»Setzen Sie sich, Musa Wladimirowna, wir wollen uns unterhalten«, sagte Kusmitsch und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Musa ließ sich gehorsam nieder, jedoch nur auf den Stuhlrand. Mit Mühe beherrschte sie sich, unbewußt knüllte sie das tränennasse Tüchlein.

»Mir scheint, Sie haben nicht ganz begriffen, was geschehen ist, stimmt's?« fragte Kusmitsch, sogar eine Spur teilnahmsvoll.

Musa nickte wortlos, da sie erneut in Tränen auszubrechen fürchtete.

»Nun, dann will ich es Ihnen erklären«, sagte Kusmitsch. »Vor Ihren Augen wurde ein gefährlicher Verbrecher dingfest gemacht, der schon drei Haftstrafen verbüßt hat, ein gewisser Nikolai Iwanowitsch Sowko. Diesmal wurde er wegen Verdachts des Mordes und des Diebstahls festgenommen. Und so einer ist Ihr Freund, Musa Wladimirowna.«

»Hier liegt ein Mißverständnis vor!« erwiderte Musa und blickte Kusmitsch zum erstenmal an. »Er ist geheimer Mitarbeiter, Major.«

»Was?!« rief Kusmitsch verwundert. »Geheimer Mitarbeiter, Major, was reden Sie da?«

»Ja, ja, er hat es mir selbst erzählt. Er kommt nur dienstlich nach Moskau«, fuhr Musa eifrig fort. »Und getötet hat er... Er hatte den Auftrag dazu. Man hatte ihm eine Pistole gegeben.«

»Das hat er Ihnen erzählt?« fragte Kusmitsch ärgerlich.

»Ja. Und ich hab ihm mein Wort gegeben, es nicht auszuplaudern. Aber jetzt. muß ich es ja wohl.«

Kusmitsch betrachtete Musa so aufmerksam, als suchte er zu verstehen, wer da vor ihm saß, eine Betrügerin oder eine Betrogene. Er schüttelte den Kopf. »Solchen Unsinn soll ich glauben? Verzeihen Sie, Sie sehen sich wohl am liebsten Spionagefilme an?«

»Sie können mich nicht für dumm verkaufen«, entgegnete Musa gekränkt.

»Nicht ich bin es, der Sie für dumm verkauft«, sagte Kusmitsch und runzelte die Stirn. »Gleich zeige ich Ihnen etwas.« Er nahm den Hörer ab, wählte eine kurze Nummer und fragte: »Maria Nikolajewna, haben Sie schon das letzte Material über Sowko und seine Fotos?. Sehr schön. Bringen Sie es bitte her.«

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, blickte er die bedrückte Musa an und rieb sich ärgerlich die Stoppelhaare am Hinterkopf. »Gleich werden Sie sich überzeugen, wer Ihr Freund ist! Doch vorher möchte ich wissen, wie Sie ihn kennengelernt haben.«

»Zufällig«, antwortete Musa leise. »Er kam in unser Restaurant und setzte sich an einen meiner Tische. Das war vor einem Jahr.«

»Kam er allein?«

»Nein. Mit noch einem. Bürger.«

»Haben Sie diesen Bürger später wiedergesehen?«

»Ja. Aber ich erinnere mich nicht, wann das war.«

»Versuchen Sie es. Ich kann warten.«

»Wahrscheinlich bei Koljas nächstem Besuch. Sie aßen bei uns im Restaurant Mittag.«

»Wie hieß dieser Bürger?«

»Keine Ahnung.«

»Überlegen Sie.«

Indessen kam eine nicht mehr junge, streng wirkende Frau herein und legte eine dunkle Mappe vor Kusmitsch hin. Der dankte mit einem Nicken, und die Frau ging hinaus.

»Na schön.« Kusmitsch öffnete die Mappe.

»Erkennen Sie ihn?«

Er nahm ein paar Fotos heraus und reichte sie Musa. Auf ihnen war, en face und en profil, Pest-Kolja abgebildet, offensichtlich zu verschiedenen Zeiten. Seine erloschenen Augen in dem von blonden Bartstoppeln überwucherten Gesicht erweckten kein Mitleid, solch böse, nur vorläufig gezähmte Kraft war in diesem Menschen zu erahnen.

Musa sah sich die Fotos an und fragte: »Was soll das?«

»Sagen Sie mir zunächst, wer das ist!«

»Das ist. Kolja.«

»Die Fotos wurden jedesmal vor Gerichtsverhandlungen gemacht. Zunächst wurde er wegen Schlägerei verurteilt, dann wegen Diebstahls, und schließlich wegen bewaffneten Raubs. So sieht seine wunderschöne Biographie aus! Wollen Sie die letzte Anklageschrift lesen? Hier ist sie.« Kusmitsch nahm zusammengeheftete Blätter aus der Mappe.

»Danke.« Musa winkte ab. »Ich glaube es auch so.«

»Wie Sie wünschen.« Kusmitsch zuckte die Schultern und legte die Blätter wieder in die Mappe. »Kommen wir auf meine Frage zurück. Wie hieß der Bürger? Bestimmt hat Nikolai ihn in Ihrer Gegenwart angesprochen!«

»Tja. Lew, glaube ich.«

»Schön. Wenigstens was - Lew. Und wie sah er aus?«

»Wie er aussah?« Musa strich sich über die Stirn. »Nun, mittelgroß, nicht mehr jung, grauer Schnurrbart.«

»Hat Nikolai Ihnen nicht gesagt, wer dieser Mann ist?«

»Nein. Ich durfte ihn überhaupt nichts fragen, da seine Arbeit ja geheim war, wie er sagte.«

»So, so. Und wie haben Sie Gwimar Semanski kennengelernt?«

Musa blickte Kusmitsch erschreckt an. »Und Sie? Woher wissen Sie von ihm?«

Kusmitsch seufzte. »Wir müssen manches wissen. Um solche geheimen >Majore< aufzuspüren. Also, wie haben Sie ihn kennengelernt?«

»Er kam einmal zum Essen zu uns. Mit Kolja und dem Grauen.«

»Und dann?«

»Dann kam er allein wieder.«

»Wann war das?«

»Ich erinnere mich nicht. Es ist schon lange her.«

»Was hat Semanski Ihnen erzählt? Wo wohnt er, wo arbeitet er?«

»Er ist Junggeselle. Und er wohnt im Kaukasus, in Jushnomorsk. Er hat ein Haus am Meer. Wo er arbeitet, weiß ich nicht genau.«

»Hat er Ihnen einen Heiratsantrag gemacht?«

»Ja.«

»Haben Sie abgelehnt?«.

»Ja.«

»Warum?«

»Warum, warum. Ich liebe ihn eben nicht.«

»Aber seine teuren Geschenke haben Sie genommen, nicht wahr?«

»Na, wenn man was geschenkt bekommt. Er hat gesagt, er wäre beleidigt, wenn ich's nicht nehme.«

»Klar«, sagte Kusmitsch. »Da kann man ja nicht anders. Nur gut, daß nicht Sie Ihre Tochter erziehen.«

»Das will ich aber, und ich werde es auch tun.« Musas Augen blitzten. »Das können Sie mir nicht verbieten.«

»Fragt sich nur, ob es uns nachher gelingt, sie umzuerziehen, damit sie versteht, was gut ist und was schlecht.«

»Keine Sorge, das werde ich ihr schon selbst beibringen.«

»Es muß aber meine Sorge sein. Damit Ihre Tochter nicht auch mal so einem Pest-Kolja in die Hände fällt.«

»Pest?« fragte Musa unsicher.

»Ja«, bestätigte Kusmitsch ruhig. »Das ist sein Gaunername. Kein besonders angenehmer Name, nicht? Pest - das ist eine gefährliche ansteckende. Krankheit. Sie, Musa Wladimirowna, standen schon mit einem Bein im Gefängnis. Weil es unmöglich ist, sich mit Pest-Kolja einzulassen und kein Verbrechen zu begehen. Er hätte Sie dazu gezwungen. Hätte er Sie nicht auch gezwungen, aus Moskau zu fliehen? Hatten Sie große Lust dazu?«

»Nein, was denken Sie!« rief Musa.

»Kolja können Sie den Laufpaß geben«, fuhr Kusmitsch kalt fort. »Doch leider ist es nicht sicher, ob nicht ein anderer Pest Sie ins fröhliche Leben hineinzieht. Jedenfalls werden wir Sie künftig im Auge behalten, berücksichtigen Sie das. Und mit uns wird's nicht sehr fröhlich werden. Und berücksichtigen Sie auch, daß Semanski ermordet worden ist.«

»Was?!« Musa preßte die Hand auf den Mund.

»Wen hat Pest-Kolja im geheimen Auftrag getötet?«

»Er sagte. irgendwas Dummes. Ich weiß nicht mehr.«

»Aha. Gut, daß Sie das wenigstens jetzt dumm finden. Und nun, Musa Wladimirowna, vergegenwärtigen Sie sich den letzten Sonntag. Was haben Sie da gemacht?«

Sie zögerte. »Ich bin zur Arbeit gefahren.«

»Und Nikolai?«

»Der ist auch weggegangen.«

»Wann haben Sie ihn wiedergesehen?«

»Am späten Abend. Als ich heimkam. Er war sehr aufgeregt. Dann sagte er mir das... von dem Auftrag.«

»Was hat er Ihnen über den Mord erzählt? Wo hat er getötet, wen, wann ist das gewesen?«

»Er sagte, er hätte vor zwei oder drei Stunden jemanden umgebracht. Genau weiß ich das nicht mehr. Und wen. Er sagte, einen Feind. Ich habe nichts gefragt. Ja! Er sagte noch, daß sie nun vielleicht ihn aufspüren und ebenfalls umbringen würden. Die Feinde.«

»Haben Sie ihm deshalb von dem Mann berichtet, der Ljocha zu der Verabredung mit Ihnen begleitet hatte?«

»Ja.«

»Den Mann haben Sie ganz schön hereingelegt. Und wie! Das Vertrauen, das er Ihnen schenkte, ist ihn teuer zu stehen gekommen.«

»Was haben sie mit ihm gemacht?« fragte Musa zaghaft.

»Sie sind hinterrücks über ihn hergefallen. Zu zweit. Doch er ist am Leben geblieben. Sonst. Na schön. Also an den Sonntag erinnern Sie sich. Waren Sie am Montag zu Hause?«

»Ja.«

»Und wann ist Nikolai weggegangen?«

»Er ist bei mir geblieben.«

»Das stimmt nicht. Überlegen Sie. Er ist morgens weggegangen.«

»Ist er nicht. Wenn ich es Ihnen sage. Er hatte Angst. Nicht mal zum Bäcker wagte er sich. Er hat nur telefoniert.«

»Das kann nicht sein.« Kusmitsch schüttelte den Kopf. »Am Morgen ist er weggegangen.«

Selbstverständlich war Pest weggegangen. Denn an dem Morgen hatte er an dem Diebstahl in der Wohnung des verstorbenen Akademiemitglieds teilgenommen und dort seinen Handschuh verloren.

»Wirklich, er ist nicht weggegangen«, wiederholte Musa.

»Gleich wird der Untersuchungsführer Sie vernehmen, der den Fall Sowko bearbeitet«, sagte Kusmitsch streng. »Ich rate Ihnen, sich den Montag genauestens ins Gedächtnis zurückzurufen. Genauestens.«

Auf dem Schreibtisch klingelte das Telefon. Kusmitsch nahm den Hörer, räusperte sich und sagte: »Zwetkow.«

»Genosse Oberstleutnant«, es war die Stimme des Diensthabenden, »eben wurde gemeldet, daß der verwundete Schuchmin in einem Taxi einen roten Moskwitsch verfolgt. Die Fahrtrichtung ist bekannt. Die Einsatzwagen sind zugeschaltet. Sie übernehmen das Objekt.«

Als ich nach dem Besuch bei Kuprejtschik in die Dienststelle zurückkomme, treffe ich in Kusmitschs Zimmer den Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft Viktor Anatoljewitsch und Valja Denissow an.

»Gut, daß du da bist«, sagt Kusmitsch und nickt mir zu. »Bei uns brennt's nämlich. Er«, Kusmitsch deutet auf Valja, »hat eben Pest festgenommen.«

»Und Musa?« frage ich sogleich.

»Die haben wir auch«, antwortet Kusmitsch. »Viktor Anatoljewitsch wird sie gleich vernehmen. Also«, er wendet sich an den Untersuchungsführer, »eine komische Sache. Sie bestätigt, daß Sowko den Mord begangen hat, angeblich hat er ihr das gestanden. Aber seine Teilnahme an dem Diebstahl bestreitet sie. Ihren Worten zufolge hat er am Montagvormittag zu Hause gesessen. Er hatte Angst, die Nase rauszustecken. Doch wir haben inzwischen.«

Da beugt sich Valja zu mir und flüstert: »Unser Pjotr ist im Krankenhaus.«

»Was ist passiert?«

Valja berichtet kurz und sagt zum Schluß: »Dieser Awerkin ist ein prima Kerl. Er will zu uns. Als Pjotr ihn auf dem Hinweg zu überreden versuchte, schwankte er noch, aber als er dann den verwundeten Pjotr auflas, war die Sache für ihn entschieden.«

»Gibt's was Neues von der Gruppe, die den Moskwitsch überwacht?« frage ich Valja.

»Ja«, antwortet Kusmitsch, der meine Frage gehört hat. »Zwei Männer sind ausgestiegen. Der eine, er trägt einen grünen Schal, ist vor dem Mord und dem Diebstahl mehrere Male im Hof gesehen worden. Irgendwelche Gegenstände hatten sie nicht bei sich. Es wäre sinnlos gewesen, die beiden festzunehmen.«

»Aber sie haben doch Petja angefahren!« sage ich.

»Unsere Jungs haben sich den Wagen angesehen. Er weist keine Spuren auf. Zeugen gibt es ebenfalls nicht. Es ist besser, wenn wir sie eine Weile beobachten. Die führen uns vielleicht noch irgendwohin. Was meinst du, Viktor Anatoljewitsch? Oder sollen wir sie sofort festnehmen?«

Viktor Anatoljewitsch ist mit Kusmitsch einverstanden. »Ja«, sagt er, »es hat keinen Zweck,

sie jetzt zu verhaften. Das würde die ganze Bande aufscheuchen, und jeder würde woanders hinrennen.«

»Pests Verhaftung scheucht sie wohl nicht auf?« frage ich.

»Das ist was anderes«, antwortet Kusmitsch. »Sie wissen, daß wir Pest und Ljocha persönlich kennen und Pest jeden Moment geschnappt werden kann.«

»Aber Musa wird ihnen alles erzählen«, beharre ich.

»Ich denke nicht«, sagt Kusmitsch. »Der Mord an Semanski ist ihr mächtig in die Glieder gefahren, sie wird jetzt wie ein Mäuschen sein. Wem soll sie es denn auch erzählen? Außer Pest kennt sie nur Ljocha, und der wird um keinen Preis zu ihr gehen wollen. Ich bin gespannt, was Viktor Anatoljewitsch uns nach der Vernehmung sagen wird.«

Viktor Anatoljewitsch schaut auf die Uhr und erhebt sich. »Ich gehe«, sagt er, »es ist Zeit.«

Als er draußen ist, schlußfolgert Kusmitsch: »Der Weg zu Ljocha, meine Lieben, führt jetzt nur über Pest. Und auch zu den anderen, den Großen. Musa kann uns da nicht helfen.«

»Fjodor Kusmitsch«, meldet sich Valja, der bis dahin geschwiegen hat, »was teilt Jushnomorsk mit?«

»Eben, eben«, sagt Kusmitsch. »Sie teilen einiges mit.« Er holt eine dünne grüne Mappe aus dem Panzerschrank, setzt sich die Brille auf und blättert in den Papieren. »Über Sowko teilen sie mit, daß er vorbestraft ist, wissen wir. Seine Adresse. Die Mutter ist Rentnerin, hat in verschiedenen Sanatorien als Köchin gearbeitet. Der Vater ist tot. Der hatte zwei Vorstrafen. Unterschlagung. Er hat im Handelsnetz gearbeitet.«

»Ist der Vater schon lange tot?« frage ich.

»Er ist vor fünf Jahren gestorben. Als Pest die zweite Strafe verbüßte. Pest ist verheiratet. Seine Frau ist Köchin. Arbeitet in einem Sanatorium. Die Tochter ist sieben Jahre alt, sie geht in die erste Klasse. Das Verhältnis in der Familie ist schlecht. Seine Frau hat die Scheidung eingereicht. Die Mutter hält zu ihm. Natürlich gibt's Zank. Und die Tochter steht dazwischen.«

»Ein lustiges Leben«, sage ich seufzend. »Schade um das Mädchen.«

»Um alle ist es schade«, berichtigt mich Kusmitsch. »Der Lump macht drei Leben kaputt, ganz zu schweigen von dem eigenen. Weiter. Ljocha.« Er nimmt ein anderes Blatt. »Genauer gesagt - Leonid Wassiljewitsch Krassikow. Seine Mutter und seine Schwester wohnen zusammen. Die Schwester ist geschieden, arbeitet als Buchhalterin in einem Geschäft. Ljocha ist selten bei ihnen.«

»Wo wohnt er denn?« frage ich.

»Das ist unbekannt«, antwortet Kusmitsch. »Er und Pest haben ausgedehnte Beziehungen zu nicht erfaßten Elementen. Von ihrer Moskaureise hat keiner etwas gewußt. Unbestätigten Angaben zufolge haben sie Beziehungen zu irgendwelchen Geschäftemachern. Der Charakter dieser Beziehungen ist ebenfalls unbekannt. Aber das Interessanteste«, fährt Kusmitsch fort, »betrifft Gwimar Iwanowitsch Semanski. Er war Direktor einer Großhandlung, die nur Betriebe beliefern. Die haben da einiges zu bieten -Spezialkleidung, Schuhe, Wäsche für Wohnheime, Werkzeug. Semanski ist unbescholten und freiwillig dort weggegangen. Es heißt hier: >Unseres Wissens hat er bisher keine neue Arbeit aufgenommen.< Aber in Moskau hat er sich als Dienstreisender ausgegeben. So ist es doch?«

»Ja«, bestätige ich. »So hat er sich Kuprejtschik vorgestellt, der Kontschewskaja, Ljolja und auch Musa. Kurzum, allen.«

»Ist da nicht vermerkt, wo Ljochas Schwester als Buchhalterin arbeitet?« fragt Denissow.

»Mal schauen«, antwortet Kusmitsch und blättert in den Papieren. »Hm. Nein, hier steht nichts darüber. Doch! In einer Großhandlung. Na sieh dir das an! Das ist ja sehr interessant. Bist ein Prachtkerl, Denissow. Es ist dieselbe Handlung. Die Nummer stimmt überein. Jetzt aber los, Lossew.«

Ein Telefon klingelt, und Kusmitsch nimmt den Hörer ab. »Hier Zwetkow. Ja. Sammeln Sie alle Angaben über die beiden und - zu Mestscherjakow. Ja, er ist im Bilde. Auf wessen Namen wird der rote Moskwitsch geführt? Und der grüne Shiguli? Ich glaube, Awerkin hat einen Teil der Nummer genannt. Warte mal.« Kusmitsch schaut Valja an. »Erinnerst du dich zufällig?«

»Die Serie MKS, und die beiden ersten Ziffern sind die Eins und die Sieben«, antwortet Valja.

Kusmitsch nickt und übermittelt dem unsichtbaren Gesprächspartner, was Valja mitgeteilt hat, und dann verabschieden sie sich.

»Also der rote Moskwitsch und der grüne Shiguli sind nur durch den Burschen mit dem grünen Schal verbunden«, sage ich. »Ziemlich dünn.«

»Und durch die Datsche«, ergänzt Valja. »Der grüne Shiguli wollte hin, und der rote Moskwitsch ist dort gewesen.«

»Tja«, sagt Kusmitsch skeptisch. »Irgendwie schmeckt mir das nicht. Zwei Autos. Eine mächtig große und bunte Verbrechergruppe. Seht mal: Pest, Ljocha, dieser Kleine, der Graue und die beiden aus dem Moskwitsch.«

»Der ermordete Semanski nicht gerechnet«, ergänze ich.

»Eben, eben«, greift Kusmitsch auf und schüttelt ärgerlich den Kopf. Dann wendet er sich an mich: »Also los, Lossew, berichte, was du heute erreicht hast.«

»Das Wichtigste, meine ich, war mein Besuch bei Kuprejtschik«, sage ich. »Offenbar kannte er Semanski gut, weit besser, als er zeigen will. Seine Aussage hat ein paar schwache Stellen. Kuprejtschiks Frau bezeichnet Semanski als Kollegen ihres Mannes, angeblich führen ihn seine Dienstreisen in die Fabrik, wo Kuprejtschik arbeitet. Sie hat ihre dienstlichen Gespräche im Arbeitszimmer erwähnt, wo sie ihnen Tee servierte. Kuprejtschik dagegen behauptet, sie hätten sich zufällig kennengelernt, und nur das Interesse an der Malerei habe sie verbunden. Weiter: Nach Kuprejtschiks Angaben stammt Semanski aus Kiew, wo er im Ministerium für Textilmaschinenbau arbeitete. Nun ist mir unklar, ob Semanski ihn getäuscht hat oder Kuprejtschik mich täuschen will. Und noch eine Unklarheit: Auf meine Frage, ob er bei Semanski gewesen sei, hat er geantwortet, er sei nicht bei ihm gewesen. Er ist aber dort gewesen, er fing sogar einen Flirt mit der Nachbarin an, wie Petja berichtete. Erinnern Sie sich? Die Nachbarin heißt Ljolja.«

»Ja, ich erinnere mich«, sagt Kusmitsch, der aufmerksam zugehört hat.

»Schon während seines vorigen Besuchs in Moskau hat Semanski ihn dieser Ljolja vorgestellt. Und bei der Gelegenheit bezeichnete er Kuprejtschik als seinen Freund. Also waren sie schon lange und gut miteinander bekannt. Doch mir gegenüber versuchte er heute diese Beziehung als kurz und flüchtig darzustellen. Übrigens habe ich ihn nicht gefragt, wann sie sich kennenlernten. Ich habe nur seine Einstellung erkundet, überführen wollte ich ihn nicht.«

»Richtig«, sagt Kusmitsch. »Rein menschlich kann man ihn ja verstehen. Ein Mann wurde ermordet, das ist eine dunkle Geschichte. Der Diebstahl scheint damit zusammenzuhängen. Aus dem allen hält man sich am besten heraus. Diese Möglichkeit darfst du nicht außer acht lassen. Sei nicht von vornherein auf Anklage eingestellt, das ist gefährlich. Einstweilen ist Kuprejtschik das Opfer eines Verbrechens, vergiß das nicht.«

»Ich vergesse es nicht, Fjodor Kusmitsch«, antworte ich. »Aber trotzdem ist hier manches, was einen stutzig macht, nicht wahr?«

»Sicher. Und das Gespräch mit ihm muß fortgesetzt werden.«

»Er ist selbst dafür. Er hat sich meine Telefonnummer notiert.«

»Sehr schön. Und was hast du noch?«

»Eine Frau hat Pest auf dem Foto erkannt.«

»Aha«, sagt Kusmitsch gespannt.

»Er setzte sich zu ihr, als sie mit ihren Enkelkindern zum Spielen auf dem Hof war«, fahre ich fort. »Er erkundigte sich nach den Mietern, und beiläufig auch nach Kuprejtschiks Wohnung. Wer die Inhaber sind, wann sie weggehen, wann sie wiederkommen. Kurzum, normale Vorbereitung eines Diebstahls.«

»All das mußten sie doch von Semanski wissen«, sagt Valja.

»Der war vielleicht doch nicht so genau informiert«, entgegne ich.

»Du sagst, sie hat Pest erkannt?« fragt Kusmitsch.

»Ja. Und das ist eine weitere Bestätigung dafür, daß er an dem Diebstahl beteiligt war. Von dem Handschuh ganz zu schweigen. Wurde eigentlich der zweite bei ihm gefunden?« frage ich Valja.

»Ja«, antwortet der. »Und den grünen Shiguli hat die Frau nicht im Hof gesehen?«

»Nein«, sage ich. »Er hat doch auf der Straße gestanden, ist dem Taxifahrer, wie heißt er doch, dort aufgefallen.«

»Awerkin«, wirft Valja ein. »Also sind sie nicht mal am Tag des Diebstahls auf den Hof gefahren?«

»Sieht so aus.«

»Trotzdem meine ich, daß sie an dem Vormittag auf dem Hof gewesen sind«, sagt Valja, »wenn auch nur für einen Moment. Vier oder sogar fünf Koffer bis in die Gasse zu schleppen wäre ein überflüssiges Risiko gewesen.«

»Vermutlich«, sagt Kusmitsch. »Demnach müßte jemand den Wagen im Hof gesehen haben!«

»Der Diebstahl konnte ausgeführt werden«, sage ich, »entweder zwischen halb neun, wenn Kuprejtschik und seine Frau das Haus verlassen, und halb zehn, wenn die Frau mit den Enkeln zum Spielen herauskommt, oder zwischen halb zwölf, wenn sie heimgehen, und halb eins, weil Ljocha ungefähr um zwei in das Taxi am Belorussischen Bahnhof stieg.«

»Die Sachen haben sie in die Datsche gebracht«, bemerkt Valja. »Die Fahrt hin und zurück dauert anderthalb Stunden. Also dürfen wir die zweite Zeitspanne nicht so groß bemessen - es kann höchstens zwischen halb zwölf und zwölf passiert sein. Dann hätte es Ljocha geschafft, ungefähr um zwei am Belorussischen Bahnhof zu sein.«

»Es ist überhaupt merkwürdig, warum er unbedingt auf dem Belorussischen Bahnhof essen wollte«, füge ich hinzu. »Auf der Rückfahrt von der Datsche sind sie doch am Kiewer Bahnhof vorbeigekommen! Außerdem müßte er in dem Zeitraum nicht nur zum Belorussischen Bahnhof gelangt, sondern auch dort im Restaurant gewesen, vor Schreck hinausgelaufen sein und ein Taxi gefunden haben. Nein, die zweite Zeitspanne entfällt.« Und ich folgere: »Der Diebstahl hat zwischen halb neun und halb zehn stattgefunden.«

»All das, meine Lieben«, sagt Kusmitsch seufzend, »müssen wir Pest erzählen. Seine Vernehmung ist jetzt die Hauptsache. Morgen früh befassen Viktor Anatoljewitsch und ich uns mit ihm. Du bist davon suspendiert«, wendet sich Kusmitsch an Valja. »Dein Gesicht würde ihm die Laune verderben. Aber du, Lossew...« Kusmitsch sieht mich nachdenklich an. »Du könntest vielleicht.«

»Es wäre gut, wenn ich dabei wäre, Fjodor Kusmitsch«, sage ich. »Mein Anblick wird ihn erschrecken. Wie ein Gespenst. Wie der Schatten von Hamlets Vater.«

»Na schön«, antwortet Kusmitsch lachend. »Sei dabei«, und er schaut auf die Uhr. »Jetzt müssen wir aber los, meine Lieben, sonst lassen sie uns dort nicht mehr rein.«

Er holt eine große Tüte Apfelsinen aus dem Schreibtisch, und wir fahren alle zu Petja ins Krankenhaus.

Am Morgen bittet mich Kusmitsch zu sich und sagt: »Viktor Anatoljewitsch kann nicht kommen, wir haben eben telefoniert. Er schlägt vor, Pest zunächst einmal ohne ihn zu vernehmen. Aufschieben können wir es nicht. Knobeln wir also einen Plan aus, eine Taktik. Das ist eine wichtige und keineswegs einfache Vernehmung.«

Vor uns auf dem Tisch liegt eine dicke Mappe mit dem Material, das sich in dieser Sache bereits angesammelt hat. Kusmitsch schiebt sie mir zu und sagt: »Rufen wir uns zunächst einmal ins Gedächtnis, was wir über Pest wissen. Stöber da mal ein bißchen.«

Ich blättere in den Papieren und zähle auf: »Name: Nikolai Iwanowitsch Sowko. Adresse. Unter der ist er allerdings selten anzutreffen. Da wohnen seine Mutter, seine Frau und seine Tochter. Die Mutter liebt und verteidigt ihn. Die Frau liebt ihn offenbar nicht mehr und hat die Scheidung eingereicht. Die Tochter. Nun, die liebt er offensichtlich nicht, ebensowenig wie die Frau. Sonst würde er sich um sie kümmern, sich mal zu Hause zeigen. Ob die Tochter ihn liebt, wissen wir nicht, vielleicht tut sie es. Aber höchstwahrscheinlich nicht. Das ist ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruht, scheint mir.«

»Richtig«, sagt Kusmitsch und nickt. »Ausnahmen bestätigen die Regel. Du glaubst also, die Mutter liebt ihn?«

»Ich weiß nicht recht«, antworte ich zögernd. »Eine Mutter liebt auch, wenn ihr Gefühl nicht erwidert wird.«

»So ist es. Mit einem Wort, über seinen Wohnort wissen wir wenig. Im Interesse der Sache müssen wir aber Bescheid wissen. Nicht nur über die Verhältnisse in seiner Familie, sondern über alle seine Verbindungen, auch die zu Ganoven. Du wirst also mal dorthin fahren müssen. Einstweilen geht es bei der Vernehmung Sowkos mehr um Aufklärung als um Überführung. Na, macht nichts. Also weiter im Text. Kommen wir jetzt zu seinen Moskauer Kontakten.«

»Da schaut's lustiger aus«, sage ich. »Wir kennen fast alle. Es sind Ljocha, der tote Semanski, dieser Graue, mit dem sich Semanski auf dem Hof gezankt hat, dann die beiden aus dem roten Moskwitsch, deren Namen wir heute erfahren.«

»Der Graue heißt offenbar Lew, der Nachname ist bisher unbekannt«, fügt Kusmitsch nachdenklich hinzu.

»Vorläufig ist klar«, fahre ich fort, »daß es sich bei den beiden um Moskauer handelt. Der Besitzer des roten Moskwitsch ist höchstwahrscheinlich der Bursche mit dem grünen Schal, am Tag des Diebstahls lief er aus dem Tor zum Shiguli, also saß am Lenkrad der andere. Das wären Pests, das heißt Sowkos, Verbindungen.«

»Ja«, sagt Kusmitsch, »und vergiß Musa nicht.«

»Natürlich! Die Hauptsache.«

»Das nun wieder nicht. Wie ist sein Verhältnis zu ihr, was meinst du?«

»Er scheint in sie vernarrt zu sein. Er hat mir gesagt, er bringt sie um, damit sie kein anderer kriegt. Er wollte sie ja auch mitnehmen, beinahe gewaltsam.«

Wir reden noch eine Weile über Sowko, über seine Beziehungen und seinen Charakter. Ja, seinen Charakter kennen wir schon in allgemeinen Zügen -Sowko ist heimtückisch, verlogen, boshaft und gefährlich. Kurzum, wir sind auf die Vernehmung vorbereitet.

Kusmitsch schaut auf die Uhr, ruft unsere Isolierzelle an und bittet, Sowko zur Vernehmung vorzuführen. Wenig später wird kurz an die Tür geklopft, und auf der Schwelle erscheint der Begleitposten. »Genosse Oberstleutnant«, meldet er, »Häftling Sowko ist zur Vernehmung vorgeführt.«

»Bringen Sie ihn herein«, sagt Kusmitsch.

Dann haben wir Sowko vor uns. Er ist immer noch derselbe - wulstige frische Lippen, klare blaue Augen, ordentliche, fast elegante Frisur. Überhaupt hat er, groß und schlank wie er ist, in dem gut geschnittenen Anzug seine Eleganz nicht eingebüßt - trotz der vierundzwanzigstündigen Haft. Offenbar hat er sich in der Zelle schon eingelebt, er ist ja nicht zum erstenmal hinter Gittern. Auch seine Sicherheit hat er nicht verloren. Energisch und betont ruhig tritt er ein. Sein Lächeln wirkt naiv und unschuldig. Als er mich auf dem Sofa sitzen sieht, scheint eine Wolke sein schmales, rosiges Gesicht zu überziehen.

»Setzen Sie sich, Sowko«, sagt Kusmitsch. »Ich möchte Sie zunächst warnen. Versteck wird hier nicht gespielt. Wir kennen Sie samt Ihren früheren und heutigen Geschichten. Und im Unterschied zu den Regeln, von denen Sie sicherlich gehört haben, gedenke ich Ihnen sofort mitzuteilen, was wir wissen, damit Sie begreifen, wann es für Sie nutzlos, vermutlich sogar schädlich ist, sich bockbeinig zu stellen.«

»Und wann ist es nützlich?« fragt Sowko grinsend.

»Was für Sie nützlich ist, müßten Sie, denke ich, selbst kapieren«, bemerkt Kusmitsch gleichgültig. »Im Gegensatz zu Ihren früheren Straftaten geht es hier um etwas Besonderes.«

»Inwiefern?«

»Sie haben einen Mord, einen Mordversuch und einen großen Einbruchsdiebstahl begangen.«

»Das beweisen Sie mir erst mal.«

»Das werde ich!«

»Aber ich helfe Ihnen dabei nicht, machen Sie sich da keine Hoffnungen«, erwidert Sowko und lächelt.

»Wenn Sie damit sagen möchten, daß Sie nicht mit der Wahrheit herausrücken wollen«, entgegnet Kusmitsch, »dann schaden Sie sich sehr, Sowko.«

»Machen Sie sich keine Sorgen um mich, das tun schon andre - daß ich nicht umfalle«, antwortet Sowko böse und wird rot.

»Die anderen holen wir uns auch noch«, verspricht Kusmitsch.

»Ich bin nicht von gestern, hab schon ganz andere Vernehmungen überstanden.«

»Das hast du, aber ich hoffe, du hast einiges dabei gelernt. Zum Beispiel, daß es dumm und nachteilig ist, sich störrisch zu zeigen, wenn alles klar, bekannt und bewiesen ist.«

»Nehmen wir an, ich hätte das gelernt«, sagt Sowko herablassend. »Doch einen Mord nehme ich nicht auf meine Kappe, da können Sie beruhigt sein.«

»Schiebst du es Ljocha in die Schuhe?« frage ich leise.

»Ich schieb es keinem in die Schuhe. Ich bestreite nur alles. Ich weiß weder von einem Mord noch von einem Mordanschlag oder einem Einbruchsdiebstahl. Vielleicht möchten Sie mir noch was anhängen? Nur zu, beweisen Sie es. Sowie Sie es beweisen, gebe ich's zu. Sonst nicht.«

»Das habe ich Ihnen bereits versprochen«, sagt Kusmitsch. »Es ist unsere Aufgabe, alles zu beweisen. Aber lassen Sie uns zunächst Ihre Position bestimmen. Also das, was offenkundig ist, werden Sie nicht bestreiten, wenn ich Sie recht verstanden habe?«

»Genau«, sagt Sowko.

»Na, dann fangen wir mal an. Zunächst die Menschen, dann die Fakten. Von Ihrer Mutter, Ihrer Frau und Ihrer Tochter sagen Sie sich doch wohl nicht los?«

»Nein.«

»Wie sie sich auch von ihm nicht lossagen würden«, bemerke ich.

»Du kannst...« Sowko wendet sich mir jäh zu, verstummt und fügt ruhiger hinzu: »Das geht keinen was an. Das ist meine Sache, verstanden?«

»Nehmen wir also an, daß Sie sich von ihnen nicht lossagen«, fährt Kusmitsch so gelassen fort, als habe er Sowkos Ausbruch nicht gehört. »Doch uns geht jetzt alles an, Sowko, was Sie angeht. Absolut alles. Weil Sie entschlossen sind, zum Schaden aller zu leben, weil Sie entschlossen sind, den Menschen nur Kummer zu machen, selbst denen, die Sie lieben.«

Bei diesen Worten lächelt Sowko geringschätzig, aber in seinen leeren Augen erscheint ein Ausdruck von gespannter Aufmerksamkeit.

»Weiter! Ihre Bekanntschaft mit Ljocha, das heißt mit Krassikow, streiten Sie doch hoffentlich ebenfalls nicht ab?«

»Natürlich nicht.«

»Haben Sie Gwimar Iwanowitsch Semanski gekannt?«

»Nein.«

»Na, na. Das zu bestreiten ist dumm.«

»Beweisen Sie, daß ich ihn gekannt habe.«

»Das können zwei Personen bestätigen. Krassikow und.«

»Wo ist er denn, Ihr Krassikow?« fragt Sowko spöttisch und schaut sich um.

»Er wird bald hier sein«, sage ich drohend. »Du weißt, daß er aus Moskau nicht herauskommt. Sein Foto ist bei allen Posten. Er kann hier nicht lange herumlungern.«

»Erstens also Krassikow«, fährt Kusmitsch fort, als wäre nichts gewesen. »Und zweitens. Musa Lesnowa.«

»Ach. Die haben Sie auch mit hereingezogen?«

»Sie selbst haben sie hereingezogen, Sowko.« Kusmitsch wiegt bekümmert den Kopf. »Über Musa sprechen wir noch. Ich wiederhole: Haben Sie Semanski gekannt?«

»Nun ja.«

»Und haben Sie gewußt, daß er ermordet wurde?«

»Ich hab's gehört.«

»Von wem?« fragt Kusmitsch ernst.

»Ich erinnere mich nicht.«

»So. In diesem Punkt, meinen Sie, wäre Leugnen ratsam?«

»Ja«, antwortet Sowko schroff, und seine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. »Sie nicht?«

»Vielleicht. Hier müssen wir natürlich den Beweis antreten. So ohne weiteres gibt man ja einen Mord nicht zu«, pflichtet ihm Kusmitsch bei und fragt plötzlich: »Kennen Sie Lew Sacharowitsch?«

»Lew Ignatjewitsch«, berichtigt ihn Sowko unwillkürlich.

»Ganz recht. Sie kennen ihn?«

»Ja.«

»Einstweilen gehen wir nur die Leute durch. Die Fakten kommen anschließend an die Reihe. Bisher verhalten Sie sich ja ganz vernünftig.«

»Ich bin überhaupt ein vernünftiger Mensch.«

»Kennen Sie Viktor Arsentjewitsch Kuprejtschik?«

»Nein.«

Bei diesem »nein« stutzt Kusmitsch. Wahrscheinlich deshalb, weil es aufrichtig klingt.

»Sie sind in die Wohnung eingestiegen, ohne zu wissen, wer der Inhaber ist?«

»In welche Wohnung? Ich bin in keine Wohnung eingestiegen.«

Das ist eine offensichtliche Lüge, und wir brauchten Sowko nur den Handschuh zu zeigen, den er in der Wohnung verloren hat, um ihn zu überführen. Aber dazu ist es noch zu früh.

»Schön«, sagt Kusmitsch. »Also über Kuprejtschik wissen Sie nichts?«

»Nein.«

»Dann müssen wir auch das beweisen.«

»Versuchen Sie es.« Sowko grinst frech. »Ich bin gespannt, was dabei herauskommt.«

»Wir werden es versuchen«, sagt Kusmitsch und nickt. »Wie heißt eigentlich der Bursche mit dem grünen Schal und der Schirmmütze? Er hat einen roten Moskwitsch.«

Sowko mustert Kusmitsch so gespannt, als wolle er erraten, was die Frage bedeutet. Woran denkt er? Warum ist er plötzlich dermaßen gespannt?

Offenbar spürt auch Kusmitsch Sowkos Zustand, und er sagt geheimnisvoll: »Er ist da allen ziemlich auf den Wecker gefallen, dieser Bursche.«

»Wo?« fragt Sowko übertrieben lässig.

»In dem Hof«, antwortet Kusmitsch.

Sowko schweigt.

»Sind Sie in der Datsche gewesen?« fragt Kusmitsch.

Sowko zögert, schließlich preßt er hervor: »Nein.«

»Natürlich nicht«, spotte ich, »so ein kleiner Köter hat nicht zu wissen, wo was liegt. Er hat nur den zu beißen, den man ihm zeigte und in den Wind zu kläffen.«

Sowko dreht sich brüsk um. Sein schmales Gesicht wird hochrot und verzerrt sich, die Augen sind voller Wut. Er kann sich kaum beherrschen. »Du... Du schweig lieber«, sagt er. »Es wird sich noch herausstellen, wer hier der Köter ist.«

»Nur weiter so«, hetze ich ihn auf. »Demnach haben sie dich nicht auf die Datsche gelassen. Und den grünen Shiguli hast du bestimmt auch nie auf dem Hof gesehen.«

»Was für einen Shiguli?« fragt Sowko gereizt. »Du kannst mich nicht für dumm verkaufen. Einen Dreck werde ich dir sagen, schreib dir das hinter die Ohren.«

Merkwürdig, ich habe das Gefühl, daß er von dem Shiguli tatsächlich nichts weiß.

»Berücksichtigen Sie«, sagt Kusmitsch zu Sowko, »daß wir Musa einstweilen freigelassen haben.«

»Selbst wenn Sie es wollten, Sie haben kein Recht, sie einzusperren«, entgegnet Sowko grinsend. »Bei der können Sie nirgends einhaken.«

»Ja, Sie sind nicht mehr dazu gekommen, die Lesnowa in Ihre Machenschaften hineinzuziehen, das ist uns bekannt. Stimmt es, daß Sie beabsichtigten, sie zu heiraten?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Sie irren sich«, sagt Kusmitsch geduldig. »Ich habe Ihnen bereits erklärt: Alles, was Sie betrifft, betrifft jetzt leider auch uns. Aber der Musa machen Sie bloß das Leben kaputt. Wohin wollten Sie sie eigentlich bringen? Zu sich nach Hause, wo Ihre Frau und Ihre kleine Tochter auf Sie warten?«

»Dorthin, wo Sie sie nie gefunden hätten«, antwortet Sowko frech. »Da wäre alles Schnüffeln umsonst gewesen. Solche Frauen verläßt man nicht.«

»Na klar!« stichele ich. »Sie liest die Zukunft in den Augen und ist bis zum Tod die Deine, nicht? Du hast ja auch versprochen, sie umzubringen, wenn sie dir über ist, damit sie kein anderer kriegt!«

Sowko schnellt erneut herum, bereit, sich auf mich zu stürzen, seine Augen werden seltsam fahl. Er ballt die Fäuste und schreit: »Laß die Finger von ihr! Sonst mach ich dich kalt! Das ist meine Musa, kapiert? Meine! Mit Gwimar ist sie nicht mitgegangen, seine Millionen waren ihr schnuppe, und mit dir geht sie erst recht nicht. Mit keinem geht sie. Nicht mal mit Jermakow. Kapiert? Mit keinem. Aber mir folgt sie bis ans Ende der Welt. Ich brauche bloß zu zwinkern!«

»Damit du sie dort umbringst?« spotte ich.

»Ah!« Sowko ist wie ein Tiger mit einem Satz bei mir. Da ich nicht mehr aufspringen kann, wehre ich ihn mit den Füßen ab.

Er fällt hin und brüllt wie am Spieß. Natürlich simuliert er. Ich habe ihn ja nur mit einem Viertel meiner Kraft geschubst.

Ich bleibe auf dem Sofa sitzen. Kusmitsch dreht ungerührt die Brille in den Händen. Sowko verstummt allmählich, erhebt sich aber nicht, sondern beobachtet uns.

»Na, stehen Sie schon auf, Sowko«, sagt Kusmitsch.

Sowko rührt sich nicht, er hat ein Bein angezogen und das Gesicht mit den Armen verdeckt. Ich sehe nur ein Auge, und in dem ist wölfische Tücke.

»Er möchte sich ausruhen«, sage ich spöttisch, »und die Gedanken sammeln, um noch so was herauszuhauen.«

Sowko verändert seine Lage, wahrscheinlich ist ihm das Bein eingeschlafen. Schließlich erhebt er sich langsam, setzt sich, ohne einen von uns anzusehen, an den Tisch und zieht automatisch die Hose an den Knien hoch.

»Na gut«, sagt Kusmitsch zufrieden, »wenn Sie einverstanden sind, fahren wir in unserer Unterhaltung fort.«

Sowko blickt Kusmitsch argwöhnisch an und grinst. »Meinetwegen.«

»Wenden wir uns nun den Fakten zu«, sagt Kusmitsch.

»Ich möchte nur noch erinnern, daß Sie uns über die Hälfte der genannten Leute noch nichts erzählt haben.«

»Es ist ja noch nicht aller Tage Abend«, versucht Sowko zu scherzen.

»Da haben Sie recht«, entgegnet Kusmitsch ruhig. »Zweifellos werden wir Sie gelegentlich nach ihnen fragen. Die Fakten also. Da wäre zunächst der Mord an Semanski. Sie werden doch nicht leugnen, daß Sie daran beteiligt waren?«

»Keineswegs«, sagt Sowko befriedigt. »Ich war daran beteiligt, das stimmt.«

»Das sagt auch Krassikow«, bemerkt Kusmitsch. »Er hat noch den Schuppen erwähnt. Weshalb kehrten Sie eigentlich auf den Hof zurück?«

»Ljocha wollte ihn in den Schuppen bringen.«

»Ljocha? Hat es Zweck, in diesem Punkt zu faseln, Sowko?«

»Ljocha«, beharrt er.

»Wälz nur alles auf ihn«, sage ich, »er kann dir ja einstweilen nicht antworten. Aber mir hat er erzählt, daß du ihm befohlen hast, mit dir zurückzugehen.«

»Er lügt.«

»Wir werden bald wissen, wer hier lügt, sei ganz beruhigt.«

»Vielleicht ist es keiner von Ihnen beiden gewesen?« fragt Kusmitsch. »Vielleicht hat es Lew Ignatjewitsch befohlen? Überlegen Sie.«

»Er war nicht dabei«, sagt Sowko fest.

»Er kann doch vorher befohlen haben, die Leiche zu verstecken. Er ist am Tag im Hof gewesen und hat die Schuppen gesehen.«

»Woher wissen Sie, daß er dort gewesen ist?«

»Woher...« Kusmitsch lächelt. »Solche Fragen wollen wir vorläufig lassen.«

Sowko ist offensichtlich müde von der Anstrengung, von der Notwendigkeit, ständig auf der Hut zu sein, ständig etwas zu erfinden oder zu verheimlichen. Er würde jetzt gern gemütlich plauschen und herauszufinden versuchen, was wir wissen. Ihm schwirrt der Kopf von unseren vielfältigen und überraschenden Fragen.

»Habe ich recht mit dem, was ich über Lew Ignatjewitsch gesagt habe?« fragt Kusmitsch. »Sie hatten doch versprochen, Dinge, die offenkundig sind, nicht abzustreiten.«

»Mit so was gibt der sich nicht ab«, antwortet Sowko.

»Schön«, sagt Kusmitsch. »Wenn nicht, dann nicht. Natürlich entzieht es sich Ihrer Kenntnis, wo er sich jetzt befindet?«

»Klar.« Sowko grinst unverschämt.

»Schade. Aber überlegen Sie's sich. Vielleicht bestätigt er, daß Sie den Mord nicht begangen haben. Ihre Worte allein genügen da nicht, Sie verstehen. Auf Krassikow dürfen Sie nicht allzusehr bauen, der muß zusehen, sich selbst zu retten. Übrigens, aus welcher Etage kam Semanski an dem Abend in den Hof?«

»Weiß der Teufel.«

»Krassikow sagt, aus der zweiten.«

»Aha. Mag sein.«

»Wer wohnt dort?«

»Irgendein wichtiger Mann. Gwimar Iwanowitsch ist immer zu dem gegangen.«

»Wie heißt dieser Mann?«

»Keine Ahnung.«

»Du hast seine Wohnung ausgeplündert«, sage ich spöttisch, »da müßtest du doch wenigstens wissen, wen du beraubst.«

»Geh zum.« Sowko braust auf. »Ich weiß von keinen! Diebstahl, klar?«

Den Mord gibt er zu, den Einbruchsdiebstahl nicht. Höchst amüsant. Übrigens, den Mord hofft er von sich abzuschütteln, bei dem Diebstahl gelänge ihm das nicht.

»Na schön«, sagt Kusmitsch. »Das können Sie sich auch hoch überlegen. Aber beachten Sie, daß wir für Ihre Beteiligung an dem Diebstahl direkte Beweise haben. Sie leugnen also etwas, was offenkundig ist. Übrigens«, fügt Kusmitsch hinzu, »wir müssen uns noch über Jermakow unterhalten.«

»Was?!« fragt Sowko verblüfft und starrt Kusmitsch mit seinen hellen leeren Augen an.

»Über Jermakow«, wiederholt Kusmitsch fest.

Sowko hat vergessen, daß ihm der Name in seinem Wutanfall entschlüpft ist. »Nicht mal mit Jermakow« würde Musa seiner Meinung nach gehen. Und nun wirkt Kusmitschs Informiertheit niederschmetternd auf ihn. In diesem Zustand ist er, als der Begleitposten ihn abführt. Die Vernehmung ist zu Ende.

Sowko wird sich jetzt das Gehirn zermartern, in was für eine Falle er geraten ist, was wir wissen und was ihm droht.

Der Fall wird immer komplizierter, immer neue Personen tauchen auf, immer rätselhafter sind ihre Rollen, immer verwickelter ihre Beziehungen.

»Also, dann wollen wir mal auswerten, mein Lieber«, schlägt Kusmitsch vor, als wir allein sind. »Einiges ist in der Schwebe geblieben, nicht wahr?«

»Und manches Neue haben wir erfahren«, ergänze ich.

»Eben, eben.« Kusmitsch nickt. »Kurzum, gehen wir noch einmal alles durch, solange wir es frisch im Gedächtnis haben. Und einige Punkte notieren wir uns.« Er nimmt ein Blatt Papier aus der Schublade und reicht es mir. »Manches haben wir nicht ausgelotet, das müssen wir uns merken und Viktor Anatoljewitsch mitteilen. Zum Beispiel, was diesen Semanski betrifft. Da Sowko nun schon mal eingestanden hat, daß er ihn kennt, hätten wir herauskriegen müssen, was er von ihm weiß. Und dann sagte er noch, Semanski sei oft zu Kuprejtschik gegangen. Warum? Es war doch eine Zufallsbekanntschaft.«

»Eine Zufallsbekanntschaft war es nach Kuprejtschiks Worten«, betone ich. »Angeblich führte das Interesse an der Malerei die beiden zusammen.«

»Richtig. Und was noch?«

»Der geheimnisvolle Lew Ignatjewitsch! Außer dem Vor- und Vatersnamen kennen wir nun wohl auch seine Personenbeschreibung.«

»Tja«, sagt Kusmitsch nachdenklich. »Das scheint eine interessante Gestalt zu sein. Mit ihm ist Sowko zu Musa ins Restaurant zum Essen gekommen. Er wurde im Hof gesehen. Aber hier müssen wir uns ein bißchen vorbereiten, mein Lieber. Zunächst einmal erkundigen wir uns in Jushnomorsk nach ihm, ja? Schreib das als zweiten Punkt auf und telefoniere. Nimm die Spezialleitung. Vielleicht wissen sie etwas über diesen Lew Ignatjewitsch. Sicherlich stammt er auch von dort. Ja.« Befriedigt seufzt er. »Und was haben wir noch?«

»Jermakow«, sage ich, »der ist ein völlig unbeschriebenes Blatt für uns. Vielleicht erkundige ich mich auch nach ihm?«

»Probier es... Das wäre Punkt drei.« Er sieht zu, wie ich schreibe, und als ich fertig bin, fügt er hinzu: »Und zum Schluß halten wir fest, daß er den Kerl mit dem grünen Schal und diesen Kuprejtschik anscheinend überhaupt nicht kennt.«

»Ganz recht, >anscheinend<«, sage ich. »Er lügt.«

»Daß er in diesem Punkt lügt, ist ebenfalls interessant. Notiere das, sei so gut.«

»Und was haben wir bei den Fakten nicht ausgelotet?« fragt Kusmitsch. »Was meinst du? Da ist doch noch was!«

»Das betrifft den grünen Shiguli. Meiner Meinung nach hat er ihn nie gesehen«, sage ich. »Andererseits kann das nicht sein.«

»Ja«, stimmt Kusmitsch mir zu, »das ist merkwürdig. Wie wir da weiterkommen wollen, ist mir noch schleierhaft. Also schreib es einstweilen auf.« Nach einer Pause fragt er: »Was ist bei den Fakten noch unklar?«

»Den Mord gibt er zu, den Diebstahl nicht.«

»Nun, das ist vielleicht verständlich. Hier ist. Ja! Das Mordmotiv ist unklar geblieben. Bisher ist es ja nur unsere Vermutung, daß sie die Beute nicht geteilt haben. Aber wie verhält es sich wirklich? Darüber haben wir mit Sowko noch nicht gesprochen. Na los, schreib auf.«

Kusmitschs Stimme klingt ärgerlich. Das ist tatsächlich ein wichtiges Moment, und wir hätten es beinahe außer acht gelassen.

»Ja, schreib auf«, wiederholt Kusmitsch und sagt: »Jetzt, denke ich, haben wir alles. Was meinst du?«

»Scheint so.«

»Dann beweg dich!« sagt Kusmitsch und schaut auf die Uhr. »Schon vier. Wie schnell die Zeit vergeht! Und sieh mal nach, ob Valja schon da ist. Er hat noch nicht angerufen. Ich erkundige mich inzwischen im Krankenhaus, wie's unserem Pjotr heut geht.«

Ich verlasse Kusmitschs Zimmer, zünde mir eine Zigarette an und schlendere den langen Korridor zur diensthabenden Abteilung entlang. Von dort rufe ich die Kriminalmiliz in Jushnomorsk an und lasse meinen alten Freund Dawud Mamedow an den Apparat rufen. Ich habe ihm mal in Moskau sehr geholfen, und seitdem brennt er darauf, sich zu revanchieren.

»Du kommst also her?« fragt er freudig. »Das ist gut! Komm unbedingt. Wenn auch Winter ist und Schnee liegt, ja, davon haben wir viel in diesem Jahr! Komm trotzdem. Wir erledigen alles.«

»Danke«, antworte ich. »Zunächst aber kümmere dich schnellstens um diese beiden. Unauffällig, Dawud. Hast du mich verstanden?«

»Aber ja, natürlich hab ich dich verständen.«

Auf dem Weg in mein Zimmer stelle ich fest, daß Valja noch nicht zurück ist. Er hat einen wichtigen Auftrag, und auch ich warte ungeduldig auf ihn.

In meinem Zimmer setze ich mich müde in den Sessel und schaue wieder auf die Uhr. Halb fünf.

Obwohl ich heute eigentlich nichts Besonderes getan habe, bin ich hundemüde. Und ich habe doch noch so viele Dinge zu erledigen. Seltsamerweise werden es nicht weniger. Im Gegenteil sogar. Als hätte ich eine sagenhafte Hydra vor mir. Erledigst du eine Sache, erscheinen an ihrer Stelle gleich zwei heue. Da bist du machtlos. Übrigens müßte ich etwas essen, und unwillkürlich blicke ich abermals auf die Uhr.

Das Stadttelefon klingelt. Ich nehme den Hörer ab. »Hier Lossew.«

»Guten Tag, Vitali Semjonowitsch«, sagt eine mir unbekannte knarrende Männerstimme. Sie klingt sicher und solide. »Sie kennen mich nicht. Aber ich kann Ihnen nützlich sein. Am Telefon läßt sich natürlich nicht alles sagen.«

»Ich verstehe«, antworte ich. Der Anruf überrascht mich nicht. Bei unserer Arbeit ereignet sich so was öfters. »Kommen Sie her, dann reden wir.«

»Nein. Ich würde mich mit Ihnen lieber in der Stadt treffen«, sagt der Unbekannte.

»Wo da?« frage ich.

»Vielleicht im Zentrum. In der Gorkistraße. Vor dem zentralen Telegrafenamt.«

»Wann?«

»In einer Stunde, wenn es Ihnen recht ist. Jetzt ist es halb fünf.«

»Ja, halb fünf«, bestätige ich nach einem Blick auf die Uhr. »Einverstanden. In einer Stunde. „Wie erkennen wir uns?«

»Ich kenne Sie und komme auf Sie zu, wenn in Ihrer Nähe alles ruhig ist.«

»Seien Sie unbesorgt«, sage ich lachend. Sieh mal einer an! Welch vorsichtiger Herr. Mir mißfällt nur, daß er mich kennt, während ich im dunklen tappe.

In Gedanken gehe ich alle abgeschlossenen und nicht abgeschlossenen Fälle durch, die der Grund für dieses Treffen sein könnten, und gelange zu dem Schluß, daß es Dutzende von Gründen dafür geben könnte. Herumzurätseln ist sinnlos, am einfachsten ist es, abzuwarten. Vielleicht kommt inzwischen Valja zurück.

Ich wähle seine Nummer, vergebens. Ärgerlich werfe ich den Hörer auf, ergreife ihn erneut und wähle eine andere Nummer. Aha. Kusmitsch ist auch weg. Ob er mit dem Krankenhaus telefoniert hat? Das kann ich ebensogut. Ich rufe das Krankenhaus an, und als sich eine melodische Mädchenstimme meldet, frage ich: »Sind Sie's, Lena?«

»Ja. Mit wem spreche ich?«

»Oh, da habe ich ja Glück«, sage ich erfreut. »Hier ist Lossew, der entsetzlich lange Lackaffe von der Kriminalmiliz. Vielleicht erinnern Sie sich noch an mich?«

Lena lacht. »Warum reden Sie so abfällig über sich? Sie sind doch ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Bestimmt wollen Sie sich nach Schuchmin erkundigen?«

Wir plaudern eine Weile, und Lena gibt mir Informationen über Petja, wie sie ein Mädchen von der Auskunftszentrale gewöhnlich nicht hat. Mir ist klar, daß sie selbst bei unserem Freund war. Außerdem ist sie gern bereit, ihm einen Gruß von mir und allerlei nebulöse Worte auszurichten, denen Petja entnehmen kann, daß sich der Fall normal entwickelt und sogar schon einige Erfolge zu verzeichnen sind. Nach dem Gespräch blicke ich auf die Uhr. Ich muß mich auf den Weg machen. Zum Telegrafenamt gehe ich am besten zu Fuß, dann habe ich noch ein paar Minuten, um mir den Ort der Begegnung von weitem anzusehen.

Draußen herrscht Schneegestöber. Es ist kalt. Gott sei Dank haben wir aber nicht mehr solche Kälte wie im Dezember, als die Temperatur bis auf vierzig Grad sank! Für Moskau war das geradezu eine Naturkatastrophe. Heizungsrohre platzten, hier und da übernachteten Eltern mit ihren Kindern in Schulen, es gab Störungen in der Versorgung, die Zeitungen erschienen verspätet, und wir hatten mehr als sonst zu tun, wie seltsam das auch klingen mag.

Kurzum, so ist es jetzt nicht. Wir haben leichten Frost und Schneegestöber. Es läuft sich angenehm. Die Dämmerung hat sich auf die Stadt gesenkt. An den hohen Masten erglühen die mächtigen Laternen wie violette Knospen.

Drei Minuten vor der vereinbarten Zeit nähere ich mich dem Telegrafenamt, überquere jedoch nicht die Ogarjowstraße, sondern betrachte gespannt die vielen Menschen vor dem Telegrafengebäude und auf der kleinen Terrasse zwischen den beiden altertümlichen Laternen, zu der vom Trottoir eine breite Marmortreppe hinaufführt. Kein einziges bekanntes Gesicht... Allerdings ist die Sicht nicht besonders. Mir bleibt nur, zum vereinbarten Treffpunkt zu gehen und zu warten. Das tue ich.

Wenig später tritt ein mittelgroßer älterer Mann zu mir. Er trägt einen dunklen Mantel mit Pelzkragen und eine Pelzmütze. Sein Schal ist grellrot. Auch sein Gesicht ist rot - von Wind und Kälte. Brauen und Schnurrbart sind bereift.

»Guten Tag, Vitali Semjonowitsch«, sagt er heiser.

»Guten Tag«, antworte ich zurückhaltend.

»Wollen wir uns drüben ins Cafe setzen?« fragt er mich.

»Gern«, sage ich, »hier läßt es sich schlecht reden.«

Wir gehen die Treppe hinunter, überqueren die Straße und sind gleich darauf in dem zweigeschossigen Cafe mit den großen Glasfenstern. Während wir in der Garderobe unsere Mäntel und Mützen abgeben, mustern wir uns verstohlen. Der Unbekannte scheint über fünfzig zu sein, er ist solide gekleidet und tritt sicher und energisch auf. Der Blick unter den dichten Brauen hervor ist klug und leicht ironisch.

Wir setzen uns an ein Tischchen und zünden uns Zigaretten an.

»Wie darf ich Sie anreden?« erkundige ich mich.

»Meinetwegen Iwan Iwanowitsch«, antwortet mein Gesprächspartner lachend.

»Das geht nicht«, entgegne ich.

»Warum nicht?«

»Weil wir dann nicht die gleichen Bedingungen hätten, da Sie meinen Namen wissen. Und ungleiche Bedingungen lassen kein Vertrauen aufkommen. Aber vor allem - Iwan Iwanowitsch ist allzu banal. Ich müßte jedesmal lachen, wenn ich Sie so anspreche. Und an ein ernstes Gespräch wäre nicht zu denken. Was meinen Sie dazu?«

Mein Gesprächspartner schmunzelt. Dabei gleitet der gestutzte graue Schnurrbart hoch und entblößt feuchte, regelmäßige, geradezu perlmuttene Zähne -sicherlich falsche.

»Es ist angenehm, sich mit Ihnen zu unterhalten«, sagt er. »Aber es sei, wie Sie es wünschen. Ich heiße Pawel Alexejewitsch.«

»Das klingt schon besser«, erwidere ich. »Jedenfalls kommt es der Wahrheit näher.«

»Es ist die absolute Wahrheit. Was wollen wir trinken?«

Die Serviererin tritt heran. Wie könnte man dem Mädchen beibringen, wenigstens professionell zu lächeln? Nachdem wir bestellt haben, erörtern wir dieses Problem, bis uns die griesgrämige Serviererin den Kaffee und den Kognak bringt.

»Auf eine vergnügliche Bekanntschaft«, sagt Pawel Alexejewitsch und hebt sein Glas.

»Auf eine nützliche Bekanntschaft«, präzisiere ich.

Ach, wie gern würde ich jetzt gebratenes Fleisch essen, aber ich darf nicht gegen die Etikette verstoßen.

»Sehen Sie, ich bin Romantiker, und Sie sind Materialist«, scherzt Pawel Alexejewitsch, während er mit dem Löffelchen im Kaffee rührt. »Mir ist das Vergnügen wichtig, Ihnen der Nutzen.«

»Es ist einfach so, daß Sie sich verstellen, während ich das nicht tue«, entgegne ich. »Sie haben mich aus Berechnung herbestellt, ich bin aus Neugierde gekommen, und das ist beinahe Romantik.«

»Sie sind nicht aus bloßer Neugierde gekommen«, sagt Pawel Alexejewitsch schmunzelnd. »Sie sind gekommen, weil Sie mit einer Beute rechnen. Und Sie haben sich nicht geirrt, das kann ich Ihnen versichern. Und da Sie mich nicht kennen und niemals kennenlernen werden, denn ich werde nie in die Sphäre Ihrer Tätigkeit geraten, will ich offen zu Ihnen sein. Übrigens gibt es noch einen Grund dafür. Erinnern Sie sich an einen Mann mit dem Spitznamen Zigeuner?«

»Natürlich.«

Zigeuner spielte in einem komplizierten Fall eine Rolle. Ich selbst hatte ihn verhaftet. Allerdings mußten wir ihn bald darauf freilassen, weil wir seine Schuld nicht beweisen konnten.

»Nun, ich kenne Zigeuner ebenfalls«, sagt Pawel Alexejewitsch nachdenklich. »Alias Boris Viktorowitsch Swiristenko. Er hat mir von Ihnen erzählt.«

»Was hat er Ihnen denn erzählt?« frage ich interessiert und trinke einen Schluck Kaffee.

»Erstens: Daß Sie ein kluger Mensch sind. Zweitens: Daß Sie sehr feinfühlig sind, was heutzutage viel wert ist.«

Allmählich begreife ich. Wahrscheinlich hat Swiristenko jemandem gesagt, er verdanke mir seine Freilassung. Ich würde gern wissen, wozu er diese Lüge brauchte.

»Und was ergibt sich Ihrer Meinung nach aus seinen Mitteilungen?« frage ich stirnrunzelnd.

»Um Himmels willen«, freundschaftlich berührt er meinen Arm, »fassen Sie es nicht als Taktlosigkeit auf, daß ich Swiristenko erwähne. Er hat sich nur den besten Freunden anvertraut. Die hatten ja, verzeihen Sie, das ganze Sümmchen für ihn gesammelt. Aber das bleibt unter uns. Ich habe also ein wichtiges Anliegen an Sie. Doch die Hauptsache ist, daß Sie mir gefallen.« Pawel Alexejewitsch lächelt und tätschelt wieder meinen Arm.

Ach, dieser Swiristenko ist ein ganz Ausgekochter! Um wieviel mag er seine Kollegen geschröpft haben?

»Und weshalb gefalle ich Ihnen?« frage ich.

»Weil Sie tatsächlich ein kluger Mensch sind. Ich bin überzeugt davon. Klugheit ist das allerwichtigste, wichtiger sogar als Ehrlichkeit. Und deshalb wende ich mich vor allem an Ihre Klugheit. Jeder will auf seine Art leben. Der eine einfach, wie es gerade kommt. Das sind hohle, schlaffe, schwache Menschen. Die anderen - im Dienst an der Gesellschaft, wobei sie für sich persönlich auf alles oder doch auf vieles verzichten. Von dieser Sorte gibt es heute wenig. Das sind Romantiker, Idealisten, beschränkte und kurzsichtige Menschen. Die dritten, und das ist die große Mehrheit, sind Materialisten, energische, praktische, unsentimentale Leute. Sie begreifen, daß die materiellen Güter heutzutage das wichtigste sind, daß es sich nur um ihretwillen lohnt, zu arbeiten, sich anzustrengen. Aber sie arbeiten nicht für die Enkel und die Urenkel, sondern für sich, damit es nicht nach hundert Jahren besser wird, sondern heute, und nicht unbedingt für alle, sondern für sie selbst. Natürlich ist das Egoismus, aber vernünftiger Egoismus, würde ich sagen. Der Egoismus eines Menschen, der alles versteht und alles sieht.«

Ich höre ihm interessiert, aber angewidert zu. Er entwickelt da eine gefährliche, schurkische Philosophie. Und er beruft sich nicht nur auf einen Präzedenzfall, sondern versucht die theoretische Basis zu liefern.

Mein scheinbar wohlmeinendes Schweigen inspiriert Pawel Alexejewitsch sichtlich, und überzeugt fährt er fort: »Die Menschen dieser letzten Kategorie sind sehr verschieden in bezug auf Vorbildung, Ansprüche und Möglichkeiten. Der eine züchtet zum Beispiel Frühgurken oder Tomaten in seinem Garten und verkauft sie als erster auf dem Markt, der andere repariert die Elektrogeräte der Nachbarn, der dritte ist ein Demagoge und Ehrgeizling, er macht Karriere, kommandiert herum und fährt ins Ausland, der vierte betrügt die Käufer beim Abwiegen und Vertauschen der Warensorte, der fünfte studiert unsere Planung und unser Versorgungssystem und sucht dort Möglichkeiten zur Bereicherung. Wie gefällt Ihnen dieses Schema der Gesellschaft?«

»Es ist durchaus real«, pflichte ich ihm bei. »Abgesehen von den Proportionen. Da machen Sie einen entscheidenden Fehler. Nun, aber Ihnen selbst stehen doch offensichtlich die Realisten der fünften Kategorie am nächsten?«

»Theoretisch - ja.«

»Das verstehe ich nicht, ehrlich gesagt.«

»Dabei ist hier alles völlig klar. Arbeitete ich auf diesem, Ihren Begriffen nach illegalen Gebiet, so hätte ich es wohl nicht gewagt, mich mit Ihnen zu treffen. Aber ich kenne dieses Gebiet gleichsam nur von fern, und ich erhalte ein gewisses Honorar für Dienste wie den heutigen. Ich bin Materialist, das verhehle ich nicht.«

»Der sechsten Kategorie?« frage ich lächelnd.

»Wenn Sie so wollen. Es gibt ja viele davon.«

»Welchen Dienst haben Sie übernommen, und wem wollen Sie ihn erweisen?«

»Auch Ihnen. Denn auch Sie sind ein kluger Mensch.«

»Nun gut, ich bin ganz Ohr.«

Wir zünden uns wieder Zigaretten an.

»Folgendes«, sagt Pawel Alexejewitsch eindringlich. »Der erste Vorschlag: Kämpfen Sie nicht gegen Windmühlen.«

»Wie läßt sich das, angewandt auf einen konkreten Fall, entschlüsseln?« frage ich.

»Wie das zu entschlüsseln ist? Folgendermaßen!«

Wir trinken geruhsam Kaffee, nippen ab und zu an dem Kognak, rauchen, und wer uns so sieht, glaubt, wir unterhielten uns freundschaftlich. In Wirklichkeit aber nimmt unser Gespräch einen immer gespannteren und gefährlicheren Charakter an. Und ich warte darauf, daß mein gebildeter Gesprächspartner von den theoretischen Überlegungen zu praktischen Vorschlägen übergeht. Die Sache riecht nach Angebot einer Bestechungssumme, einer großen zudem. Aber wofür, zu welchen Bedingungen? Mich interessieren die Bedingungen. Denn je größer das Bestechungsgeld, desto wichtiger und interessanter die Bedingungen. Das zum einen. Und zum anderen - ich kann vorläufig nicht feststellen, »woher der Wind weht«, wer diesen Mann geschickt hat. Swiristenko? Hat das mit dem verflossenen Fall zu tun? Es wäre sinnlos, mir jetzt dafür ein Bestechungsgeld anzubieten. Außerdem wäre es zu riskant für Swiristenko. Erfahren seine Kumpane, daß damals kein Bestechungsgeld gezahlt worden ist, daß er die Summe für sich behalten hat, dann... Dann ist es aus mit ihm. Nein, da mußte etwas anderes sein.

»Folgendermaßen ist das zu entschlüsseln«, fährt Pawel Alexejewitsch fort und lehnt sich zurück. »Unsere Planung ist so organisiert, daß immer wieder nicht ausgenutzte, nicht registrierte Reserven übrigbleiben.«

»Von wem nicht registriert?«

»Von den übergeordneten Organen natürlich. Und den Betrieben, den Besitzern dieser Reserven, dieser materiellen Überschüsse, bei denen es sich meistens um Engpaßmaterial handelt, steht es frei, sie entweder zu sparen oder sie zu verwenden. Darüber ist übrigens mehrere Male in den Zeitungen geschrieben worden, sicherlich haben Sie es gelesen?«

»Ja, ich habe es gelesen.«

»Nun gut. Und diese Überschüsse, mit denen man unterschiedlich verfahren kann, verheißen unternehmungslustigen Leuten einen schönen Gewinn und der Bevölkerung notwendige zusätzliche, gleichsam überplanmäßige Waren. Das Paradoxon besteht darin, daß weder die Pläne des Betriebes noch die des ganzen Wirtschaftszweiges leiden.«

»Auf dem Papier?«

»Die Pläne, verehrter Vitali Semjonowitsch, werden immer auf Papier gemacht.«

»Aber sie müssen eine reale materielle Grundlage haben. Die Grundlage erweist sich als Fälschung, wenn der Plan unregistrierte Überschüsse erzeugt.«

Ich fange an, mich zu ereifern. Die Unverschämtheit und das offensichtliche Glück dieser abgefeimten Leute bringt mich in Wut. Ich halte mit Mühe an mich, um nicht zuviel zu sagen. Soll er ruhig auspacken. Es ist ganz nützlich, sich das anzuhören.

»Ja, in gewissem Sinne entsteht ein. fehlerhafter Plan«, sagt Pawel Alexejewitsch mit ironischem Lächeln. »Aber mit diesem Plan sind alle zufrieden, und alle bestätigen ihn. Das ist das zweite Paradoxon der genannten Situation.«

»Zufrieden aus Unkenntnis der Möglichkeiten und der von irgend jemand verschleierten Reserven, aus einem gewissen nicht aufgedeckten Betrug heraus?«

»Das hat keinerlei Bedeutung, aus welchem Grund sie zufrieden sind«, entgegnet Pawel Alexejewitsch geringschätzig und schlürft Kaffee. »Im Gegenteil, die Bevölkerung erhält, wie ich schon sagte, zusätzliche Waren aus Fonds, die sonst in den Betrieben sinnlos aufgehäuft werden würden.«

»Fonds, die der Planung absichtlich entzogen werden?«

»Wenn Sie so wollen, ja. Die Wirtschaftler sind ein vorsorgliches Völkchen und haben Angst vor Mißgeschicken. Die von ihnen für den schwarzen Tag angehäuften Überschüsse findet ohnehin niemand und wird sie auch nicht suchen, das ist es doch. Es sind dies die natürlichen Unkosten der gigantischen Gesamtplanung. Wenn es auch legitim ist, ihre Verwendung zu bestrafen, so ist es doch ungerecht, meine ich.«

»Eine sehr strittige Behauptung«, spotte ich.

Pawel Alexejewitsch schlägt überzeugt mit der Hand auf das Tischchen. »Ja, ja. Doch vor allem - es ist sinnlos. Man bestraft einen, aber von dieser Möglichkeit erfährt ein Dutzend unternehmungslustiger Leute. Es entsteht eine Lücke, und für die finden sich nicht wenig Interessenten, das versichere ich Ihnen.«

»Und wenn wir diese Ritze zustopfen?«

»Dann wird eine andere entdeckt. Arbeitslos sind Sie noch nie gewesen, scheint mir, und werden es auch nie sein.«

»Der Streit ist nutzlos«, sage ich. »Offensichtlich werden wir einander nicht überzeugen. Ich schlage vor, vom Allgemeinen zum Besonderen überzugehen. Sie haben sich doch nicht um einer theoretischen Diskussion willen mit mir getroffen. Ich verstehe überhaupt nicht, wozu Sie diese Diskussion brauchen.«

»Zur Selbstbestätigung«, sagt Pawel Alexejewitsch lachend. »Sie sollen einen denkenden Menschen vor sich sehen, keinen gewinnsüchtigen Praktiker. Nun, und natürlich habe ich gehofft, Sie in manchem zu überzeugen.«

»Betrachten Sie diese Etappe als zurückgelegt«, sage ich entschlossen. »Entschuldigen Sie, wenn ich mich drastisch ausdrücke, aber Sie wollen doch offensichtlich, daß ich mich eines Dienstvergehens schuldig mache, während Sie Ihrerseits zu einer gewissen materiellen Kompensation bereit sind. So ist es doch, wenn ich mich nicht irre?«

»Nicht ganz. Ich will Ihnen begreiflich machen, daß der Kampf gegen Erscheinungen solcher Art wie der Kampf gegen Windmühlen sinnlos ist.«

»Es kann Ihnen doch gleichgültig sein, ob ich das begreife oder nicht, denn mit solchen Erscheinungen, oder genauer - Verbrechen, befasse ich mich nicht, das...«

»Ich weiß«, unterbricht mich Pawel Alexejewitsch. »Sie wollen sagen, daß das Sache der OBChSS ist, während Sie bei der Kriminalmiliz arbeiten, nicht wahr?«

»Eben.«

»Aber in diesem Falle ist Ihre Arbeit für uns von Bedeutung. Weil wir wollen, daß Sie sich nur mit Ihrer unmittelbaren Aufgabe beschäftigen. Nur damit. Und schlagen Sie das große Geld nicht aus. Das wäre sehr dumm. Wie Sie sehen, wird von Ihnen keinerlei dienstliches Vergehen verlangt. Arbeiten Sie auf Ihrer Linie, und fertig. Das Geld wird Ihnen so übermittelt, daß niemand Sie dafür belangen kann.«

»Sehr verlockend«, sage ich lächelnd. »Aber erklären Sie zunächst, was das bedeutet: beschäftigen Sie sich nur mit Ihrer unmittelbaren Aufgabe<. Womit könnte ich mich denn noch beschäftigen?«

»Sie untersuchen den Mord an einem gewissen Gwimar Iwanowitsch Semanski, nicht wahr?«

»Nun ja, und außerdem einen Diebstahl, einen Einbruchsdiebstahl.«

»Ach ja. Richtig. Und das ist Ihre direkte Aufgabe. Hängen der Mord und der Diebstahl eigentlich zusammen?«

»Vielleicht.«

»Ja, ja. Ich habe kein Recht, Ihnen solche Fragen zu stellen, ich verstehe. Also untersuchen Sie all dies. Aber. nichts weiter, dringen Sie nicht in einen fremden Garten ein, selbst wenn Sie plötzlich. wenn Ihnen etwas schwant. Drücken wir es mal so aus. Einverstanden?«

»Was nennen Sie fremden Garten

»Den Tätigkeitsbereich der OBChSS«, sagt Pawel Alexejewitsch fest, und sein rotes Gesicht mit den Säckchen unter den Augen und dem grauen Schnurrbart verhärtet sich gleichsam.

»Was könnte mich in diesen Garten führen?«

»Nun, solche Fragen dürfen Sie nicht stellen.« Pawel Alexejewitsch schüttelt vorwurfsvoll den Kopf. »Vielleicht finden Sie plötzlich etwas heraus, vielleicht nicht, vielleicht ist da überhaupt nichts. Und dann ist die Belohnung einfach ein gefundener Schatz. Also wie ist es, ist Ihnen dieser Vorschlag im Prinzip recht?«

»Im Prinzip selbstverständlich nicht«, sage ich nachdenklich. »Aber ich möchte mir das durch den Kopf gehen lassen. Anrufen kann ich Sie wohl nicht?«

»Natürlich nicht. Ich rufe Sie an. Wann?«

»Morgen ist Sonnabend. Rufen Sie am Montag abend an.«

»Sehr schön. Aber man hat mich gebeten, Ihnen folgendes auszurichten. Berücksichtigen Sie, daß mir persönlich das nicht gefällt. Aber ich bin verpflichtet, es Ihnen mitzuteilen.«

»Schon gut, ich höre.«

»Folgendes: Wenn Sie den Vorschlag mißachten und trotzdem in den fremden Garten eindringen, dann ist das ein großes Risiko für Sie. In die Sache sind wichtige Leute verwickelt, und es steht zu viel auf dem Spiel.«

»Klar...«, sage ich.

»Das wäre dann wohl alles«, sagt Pawel Alexejewitsch zum Schluß. »Bis Montag.«

Mißerfolge

Valja Denissow fuhr am Vormittag in jene Gasse, gleich nach der Dienstbesprechung bei Kusmitsch. Seine Aufgabe war nicht einfach. Er sollte nicht nur feststellen, in welcher Wohnung sich Pest mit seiner Musa versteckt gehalten hatte, sondern auch, wer ihnen dort Obdach gewährt hatte und warum. Gab es von der Wohnung »Zugänge« zu Mitgliedern der Bande? Gingen von ihr überhaupt Fäden aus? Wenn ja - wohin, zu wem, durch wen?

Die mit reinem nächtlichem Schnee bedeckte Gasse war wie am Vortag leer, trist und diesmal gleichsam von Spannung erfüllt. Besonders stark empfand Valja diese Spannung vor dem Haus Nummer sieben, einem unansehnlichen zweistöckigen Haus vom Anfang des Jahrhunderts, mit bröckelndem Putz, schmalen Fenstern und beschneiten kleinen Balkons, die verschnörkelte Eisengitter hatten.

Valja kannte die Nummer der Wohnung, zu der er wollte. Nina hatte sie ihm mitgeteilt. Sie versicherte, daß es in der zweiten Etage außer zwei hohen Türen eine dritte, niedrige gab, wohl mit der Nummer neun, die sich für Musa und sie aufgetan hatte.

In dem dunklen Flur stieg Valja die Treppe mit dem wackligen Geländer zur zweiten Etage hinauf. Auf jedem Absatz empfingen ihn andere Gerüche - mal roch es nach gebratenem Fisch, mal nach Desinfektion, und ganz oben penetrant nach Katzen. Hier fand Valja tatsächlich die niedrige Tür mit der Nummer neun. Auf der Treppe war ihm keine Menschenseele begegnet. Er drehte sich um und lief hinunter auf die öde verschneite Gasse. Die Hausverwaltung zu finden war nicht schwierig. Zehn Minuten später unterhielt sich Valja schon mit einer ältlichen, krankhaft dicken Buchhalterin. Sie nahm die Brille ab, und ihr blasses, gedunsenes Gesicht wirkte derart müde, daß es Valja peinlich war, sie mit seinen Fragen zu behelligen. Doch im Laufe des Gesprächs schien Leben in die Frau zu kommen, und in ihren Augen glomm Neugierde auf.

Im Unterschied zu Petja Schuchmin, der die Menschen mit seiner Lustigkeit und Treuherzigkeit gewann, trat Valja ernst, aufmerksam und ausgesucht höflich auf. Und seine Feinfühligkeit und Höflichkeit zogen die Menschen mitunter mehr an als Petjas Witze und Kumpelhaftigkeit. Auch diese Frau faßte Vertrauen zu Valja.

»... im zweiten Stock des Hauses sind ebenfalls drei Wohnungen«, berichtete die Frau indessen, und an ihrem gespannten, neugierigen Blick erkannte Valja, daß sie immer noch nicht erraten hatte, was er eigentlich wollte. »Zwei sind kommunale Mehrzimmerwohnungen, genau wie unten, Nummer neun ist von der Nachbarwohnung abgeteilt worden. Sie besteht nur aus Zimmer und Küche, und natürlich ist auch eine Toilette vorhanden. Doch ein Badezimmer hat sie nicht, nur ein Waschbecken in der Küche. In dieser Wohnung hat unser Schlosser gewohnt, er ist schon vor zehn Jahren gestorben. Aber seine Frau wohnt noch dort. Die Kinder sind ausgeflogen, haben die Mutter vergessen, und sie ist ständig betrunken. Mal schläft sie, mal singt sie.«

»Woher nimmt sie das Geld zum Trinken?« fragte Valja schmunzelnd. »Die Rente reicht dafür doch bestimmt nicht.«

»Ihre Gäste bringen was zu trinken mit. Sie sammelt sie auf dem Bahnhof auf, zum Übernachten. Der Bahnhof ist ja nicht weit von hier.«

»Das ist doch verboten.«

»Selbstverständlich. Aber was will man mit ihr machen? Sie verbringt ihren Lebensabend und stört niemanden. Und für manche Leute ist sie oft die letzte Rettung. Versuchen Sie mal, ein Hotelzimmer zu bekommen!«

Valja hätte ihr gern erzählt, wen die betrunkene alte Polina Tichonowna diesmal beherbergt hatte, doch er fragte nur: »Beschweren sich die Nachbarn nicht?«

»Sie haben Mitleid«, antwortete die Frau seufzend, »und bringen ihr auch Essen. Und das, obwohl sie zwei erwachsene Kinder hat!«

»Die müßten gerichtlich belangt werden.«

»Das haben ihr die Nachbarn auch geraten. Aber sie will es nicht. Sie ist eben sehr gekränkt«, sagte die Frau. »So ist das nun, da zieht man Kinder auf, gönnt sich nichts, gibt das Letzte, und man weiß nicht, wie sie es einem danken. Die Familie in der vierten Wohnung, zum Beispiel.«

Auf ganz natürliche Weise führte die Unterhaltung von der Wohnung, die Valja interessierte, fort. Und erst als er sicher war, daß die beredte Buchhalterin alle Hoffnung verloren hatte, den Grund seines Besuches zu begreifen, verabschiedete er sich. Er kehrte zu dem ihm bereits bekannten Haus zurück, stieg in den zweiten Stock hinauf und klingelte an der niedrigen Tür. Niemand öffnete ihm. Da klingelte er noch einmal, lang und fordernd, und schließlich sagte er sich, die Alte, die gestern ihre Quartiergäste verloren hatte, sei sicherlich auf der Jagd nach neuen und werde nicht so bald wiederkommen, und dann vielleicht nicht allein. Valja wollte gerade gehen, als sich in der Wohnung etwas rührte. Das Schloß klirrte, die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und ein runzliges, schnurrbärtiges Greisinnengesicht mit tränenden Augen zeigte sich. Unter dem dunklen Kopftuch lugten graue Haarzotteln hervor.

»Zu wem willst du?« fragte die Alte mit knarrender Baßstimme.

»Zu Ihnen, Polina Tichonowna«, antwortete Valja höflich. »Darf ich eintreten?«

Die Alte musterte Valja mißtrauisch und wackelte mit dem Kopf. »Ich glaube, ich kenne dich gar nicht.«

»Ich bin zum erstenmal hier.«

»Aha. Hast du 'n Fläschchen mitgebracht?«

»Nein. Ich muß mit Ihnen sprechen.«

»Ach nein, ein Redseliger!« knurrte die Alte und öffnete weit die Tür. »Na, komm rein!«

Vom Treppenhaus gelangte man sofort in die unordentliche kleine Küche. Dahinter war das Zimmer, und Valja ging, ohne zu fragen, hinein. Schwerer, abgestandener Geruch schlug ihm entgegen. Valja sah ein ungemachtes breites Bett, einen mit schmutzigem Geschirr und Flaschen vollgestellten Tisch, Stühle, auf denen irgendwelche Lumpen lagen, und in der Ecke neben dem schiefen Schrank eine Batterie staubiger Flaschen.

»Setz dich, wohin du willst, mein lieber Gast«, sagte die Alte und ließ sich ächzend auf das Bett nieder. Den verschossenen Morgenrock zu schließen fiel ihr nicht ein. »Ach, du lieber Gott, keiner braucht mich, ich bin von allen verlassen.«

»Sie scheinen aber oft Besuch zu haben«, entgegnete Valja, der sich einen Stuhl frei gemacht hatte. »Sie können doch nicht allein so viel verbraucht haben.« Er deutete auf die Flaschen in der Ecke.

»Stimmt!« sagte die Alte. »Und das da hat Kolja alles stehengelassen.« Sie wies auf den Tisch. »Setz dich, ich schenk dir ein, mir tut's nicht leid, wenn's ein guter Mensch ist.«

»Danke. Aber Kolja war doch bestimmt nicht allein hier?«

»War er auch nicht. Er hatte seine Hübsche mitgebracht. Zwei Tage waren sie bei mir.«

»Und dann?«

»Gestern wurden sie festgenommen. Da war was los! Allein an Autos waren zehn Stück da. Und Männer - mindestens zwanzig, ein ganzes Regiment. Und die ballerten in alle Richtungen. Furchtbar.«

»Demnach haben sie auch auf Sie geballert?« Valja lächelte.

»Nein. Also, sie wollten zum Konzertsaal. Dieser Kolja mit den Frauen. Und ich bin hinterher, zum Lebensmittelladen an der Ecke: Kaum trete ich aus dem Haus, da geht's los. Ich wäre fast gestorben.«

Valja atmete erleichtert auf. Die Alte erinnerte sich augenscheinlich nicht an ihn, vielleicht hatte sie ihn gar nicht bemerkt.

»Wie ist Kolja überhaupt zu Ihnen gekommen?«

»Sein Freund brachte ihn mit, der Ljonja. Der hatte vorher schon eine Woche bei mir gewohnt.«

»Zum erstenmal?«

»Hmhm.«

»Und wer hat den hergebracht?«

»Wie soll ich das noch wissen? Irgend jemand.«

»Vielleicht hat er Sie auf dem Bahnhof angesprochen?«

»Ja, kann sein«, pflichtete sie bereitwillig bei. »Richtig, sie kamen auf dem Bahnhof zu mir, Ljonja und noch einer, so ein Stattlicher, Älterer. Der sagte: >Oma, könnten Sie den jungen Mann nicht für drei, vier Nächte aufnehmen? Sie werden zufrieden sein.< Und er zeigte auf Ljonja. Nun, da hab ich ihn genommen, den Ljonja.«

»Und den älteren Mann kannten Sie nicht?«

»Nein, ich hatte ihn noch nie gesehen.«

»Hat Ljonja Ihnen erzählt, woher er ist?«

»Wann hätte er das tun sollen? Ich hab ihn ja kaum zu Gesicht gekriegt. Morgens zog er los, und spätnachts kehrte er zurück. Aber dann... Ja, wann war denn das? Ach so. Am vorigen Sonntag. Da kam er auch mitten in der Nacht zurück. Oh, ich bin fast gestorben. Er war ganz außer sich. Völlig verstört sah er aus. >Oma<, sagte er, >laß uns einen trinken. Was ich gemacht hab, was ich angerichtet hab. < Na, ein Fläschchen fand sich natürlich. Wir tranken. Ich fragte ihn: >Was hast du denn gemacht, du armer Teufel?< ->Oh<, sagte er, >wir haben einen Menschen umgebracht, Oma.< Und heulte fast. >Wie konntest du das übers Herz bringen?< fragte ich, >es ist doch Gottes Geschöpf, wie du selbst. Was hat er dir getan?< - >Nichts hat er mir getan. Und die Hand hat mir gezittert. Da hat mein Kumpel das Messer genommen und. den Mann erledigt. Aber das Blut klebt auch an mir<, sagte er. Und zitterte am ganzen Leib.«

»Hat er nicht den Namen seines Kumpels genannt?« fragte Valja.

»Wozu muß ich das wissen? So 'n Mörder.«

»Und was war dann?«

»Die ganze Nacht konnte er sich nicht beruhigen. Das Gewissen plagte ihn mächtig. Das muß einen ja auch mitnehmen, einen Menschen ins Jenseits zu befördern. Gegen die menschliche Natur ist das, sage ich.« Sie bekreuzigte sich und blickte in die Ecke am Fenster, wo zwei kleine dunkle Ikonen hingen.

»Also hat er sehr gelitten«, sagte Valja.

»Und wie«, bestätigte Polina Tichonowna. »>Aus<, sagte er. >Mit mir ist's zu Ende. Wenn sie mich nicht einlochen, dann bringen mich die Gedanken um. Ich werde meine Mutter und meine Schwester nie wiedersehen, und Sina auch nicht.<«

»Welche Sina?«

»Wer soll das wissen? Sicherlich seine Frau oder seine Braut.«

»Und am anderen Tag, am Montag?«

»Am Montag? Da schlief er bis Mittag, und dann sagte er.«

»Da schlief er?«

»Ja, er schlief. Die Nacht hatte er sich doch um die Ohren geschlagen. Dann stand er auf und sagte: >Ich geh essen. Wo kann ich das hier in der Nähe?< - >Na auf dem Bahnhof<, sagte ich. >Da ist ein Restaurant.< Und er ging. Aber vorher sagte er noch: >Oh, ich hab Angst, Oma.< In der Nacht kam er nicht heim. Ich dachte schon - aus und vorbei. Doch am nächsten Tag, gegen Abend, tanzte er mit Kolja und der Hübschen an.«

»Und wo ist Ljonja jetzt?«

»Nach Hause gefahren.«

»Wie das?«

»Ganz einfach. Als Kolja und seine Hübsche festgenommen worden waren, kam Ljonja. Das war schon am Abend.«

Und da sagte sich Valja, daß es ein großer Fehler von ihnen gewesen war, die Wohnung nicht überwachen zu lassen. Natürlich wußten sie nicht, daß sich Ljocha dort versteckt hielt, sie waren sogar überzeugt, daß er nicht dort sein würde, wo sich Pest und Musa aufhielten. Und trotzdem war das ihr Fehler, genauer gesagt, sein, Valjas, Fehler, denn er hatte die Operation geleitet. Und nun war Ljocha verschwunden. Das mußte er Kusmitsch melden.

»Er kam also«, setzte die Alte ihre Erzählung fort. »Na, und ich erzählte ihm das von seinem Freund. Da fing er an zu flattern. >Rette mich, Oma<, sagte er. >Was soll ich denn tun?< fragte ich. >Kauf mir eine Fahrkarte, egal wohin, wenn es nur weit weg ist<, sagte er. >Vielleicht in deine Heimatstadt?< fragte ich. >Egal<, antwortete er, >Hauptsache, ich kann sofort losfahren.< Na, und dann hab ich ihm eine Fahrkarte gekauft. In derselben Nacht ist er abgefahren, der Sünder.«

»Nach wohin haben Sie die Fahrkarte gekauft?«

»Das weiß ich nicht mehr. Für sechs Rubel zehn. Zweite Klasse.«

»Haben Sie sie auf dem Belorussischen Bahnhof gekauft?«

»Wo denn sonst? Das ist doch unser Bahnhof.«

»Um wieviel Uhr fuhr der Zug ab?«

»So um elf.«

»Also, Oma, hoffentlich gabeln Sie nicht wieder einen Mörder auf, wenn Sie sich Quartiergäste holen«, sagte Valja ärgerlich. »Da ist es schon besser, sich von seinen Kindern unterstützen zu lassen. Das rate ich Ihnen.« Er stand auf.

Die Alte, die immer noch auf dem Bett saß, blickte ihn mit ihren trüben Augen an und fragte mit plötzlicher Feindseligkeit: »Wer bist du eigentlich, Freundchen?«

»Ich hoffte Ljonja bei Ihnen zu treffen«, antwortete Valja unbestimmt. »Ich sollte ihm einen Gruß ausrichten.«

»Bist wohl aus seiner Heimat?«

»So ähnlich.«

»Er fährt dorthin, denk an meine Worte! Weil sein Herz an seiner Mutter hängt.«

»Was hat der schon für 'n Herz!« Valja winkte ab.

»Ein ganz gewöhnliches«, sagte die Alte streng. »Wie wir beide es auch haben. Bei allen Menschen sehnt es sich nach Wärme, und es bricht einem, sobald man Schlechtes tut. Christus lehrt, daß es keine Feinde gibt auf der Welt. Wenn ich also etwas liebe, und er liebt was anderes, dann sind wir einander nicht feind.«

»Und wenn ich einem anderen etwas wegnehme?« fragte Valja.

»Um so schlimmer für dich. Dem anderen raubst du einen Gegenstand, aber dir raubst du die Ruhe. Und es ist um deine Seele geschehen. Am Tag mag es ja noch gehen, aber in der Nacht.... Die Gedanken, die dir da kommen...«

»Ach, Oma, so ein Gewissen müßte jeder haben«, sagte Valja. »Na, leben Sie wohl, einstweilen. Und denken Sie an meinen Rat.«

Auf der Straße atmete er mit voller Brust die frostklare Luft. Er lief zum Bahnhof. Wohin mag die Alte die Fahrkarte gelöst haben? fragte er sich. Vielleicht ist er noch unterwegs? Vielleicht schnappen wir ihn noch?

Auf dem Bahnhof ging Valja zur Miliz. Der zuständige Hauptmann, ein wackerer schnurrbärtiger Kerl, verstand ihn sofort und stürzte los, um Erkundigungen einzuziehen.

Das dauerte ziemlich lange, und Valja, der immer wieder auf die Uhr sah, war nahe daran, die Geduld zu verlieren, als der Hauptmann schließlich zurückkam.

»Folgendes«, sagte er energisch, »es handelt sich um den Zug Nummer hundertdreiundneunzig. Abfahrt zweiundzwanzig Uhr sechsundzwanzig Richtung -Kaliningrad. Die Fahrkarte zu sechs zehn, zweiter Klasse, wurde bis Kaliningrad gelöst. Der Zug nähert sich jetzt Vilnius. Bisher ist er pünktlich. Komm, Freund, wir rufen Vilnius an. Sie empfangen ihn dort und nehmen ihn hops.« Und als sie schon gingen, fügte er hinzu: »Du hast ja keine Ahnung, was wir da für Genossen haben! Die sind auf Draht, kannst beruhigt sein.«

»Ich bin erst dann beruhigt, wenn ich den Halunken vor mir habe«, bekannte Valja. »Informiere sie, daß es sich um einen besonders gefährlichen Verbrecher handelt. Er hat einen Mord begangen. Höchstwahrscheinlich ist er bewaffnet. Um ein Haar hätte er auch einen von uns umgebracht - Lossew.«

»Tatsächlich?«

Wenig später sprach Valja mit Vilnius. Ihm wurde mitgeteilt, daß der Zug Nummer hundertdreiundneunzig bereits am Bahnsteig stehe und in fünf Minuten abfahre. Eine operative Gruppe werde sofort zusteigen. Man werde den Verbrecher natürlich erst während der Fahrt festnehmen und könne das entweder in einer guten Stunde aus Kaisiadorys melden oder weitere vierzig Minuten später aus Kaunas. Die Gruppe sei auf die Gefährlichkeit des Verbrechers hingewiesen worden. Entsprechende Maßnahmen wurden ergriffen.

»Willst du auf die Meldung warten?«

»Na klar.«

»Dann komm mit in unser Zimmer.«

Valja wurde gastfreundlich aufgenommen. Man bewirtete ihn mit starkem aromatischem Tee und Lebkuchen, und sie tauschten die letzten Neuigkeiten aus. Valja erzählte kurz von dem Fall, mit dem er sich gerade beschäftigte. So wäre die Zeit wie im Fluge vergangen, hätte er nicht ungeduldig auf die Mitteilung aus dem Zug Moskau - Kaliningrad gewartet, der jetzt irgendwo zwischen verschneiten Feldern dahinfuhr.

Die Meldung aus Kaisiadorys verblüffte Valja. Ljocha war nicht in dem Zug. Aus den Angaben der Schaffner und der Fahrgäste ging hervor, daß ein Mann, der mit dem Gesuchten große Ähnlichkeit hatte, bereits in Orscha ausgestiegen war, obwohl er eine Fahrkarte nach Kaliningrad besaß. Überhaupt sei er sehr nervös und in Eile gewesen, hatte eine Schaffnerin erklärt.

»Wo kann er von Orscha aus hin?« fragte Valja ärgerlich.

»Wohin er will«, antwortete der Hauptmann. »Seit er in Orscha ausgestiegen ist, sind fast acht Stunden vergangen. Allein an Fernzügen sind in der Zeit... Ich sage dir gleich, wieviel dort abgefahren sind.«

Er zog ein dickes Kursbuch hervor und blätterte unwahrscheinlich schnell darin. »Aha, Orscha. Tabelle sechs. Hier. Drei Züge in Richtung Minsk. Weiter.

Sechs Züge nach Moskau. Tabelle einundzwanzig. Wo ist hier Orscha? Da. Aus Leningrad nach Gomel und Priluki. Drei Züge. Und in umgekehrter Richtung, ebenfalls über Gomel. Zwei. Insgesamt wieviel? Vierzehn Züge sind in diesen acht Stunden dort abgefahren. In alle Richtungen.«

»Und die müssen alle kontrolliert werden. Unverzüglich«, erklärte Valja. »Was ist das schon -vierzehn Züge! Wir müssen bloß wissen, wo sie sich gerade befinden. Umsteigen wird er nicht mehr. Er fühlt sich jetzt sicher.«

»Und warum bist du überzeugt, daß er mit einem Zug weiterfährt?« erkundigte sich der Hauptmann. »Vielleicht hat er sich in einen Bus gesetzt oder sich von einem Lastwagen mitnehmen lassen! Nach dem Kerl müssen wir jetzt überall fahnden, mein Freund. So ist nun mal unser Beruf.«

»Wir haben ja gewußt, worauf wir uns einlassen«, erwiderte Valja schmunzelnd. »Los, kurbeln wir. Womit fangen wir an?«

»Verfassen wir zunächst einmal den Steckbrief: Gesucht wird im Zusammenhang mit einem Mord und einem Einbruchsdiebstahl ein besonders gefährlicher Verbrecher, sein Ausweis ist ausgestellt auf den Namen Leonid Wassiljewitsch Krassikow. Richtig?« Der Hauptmann schaute Valja an, und als der nickte, fuhr er fort: »Kennzeichen. Los, diktiere.«

Als der Text fertig war, hüstelte er zufrieden und sagte: »Ich lasse das jetzt von meinen Vorgesetzten absegnen, und dann geb ich's an unseren Eisenbahntelegrafen. In einer Stunde haben wir ein Netz ausgeworfen, daß du bloß staunst. Da schlüpft kein Hase durch. Schließlich suchen wir nicht irgendwen, sondern einen Mörder.«

Als Valja den Bahnhof verließ, war es schon stockdunkel. Es hatte keinen Sinn mehr, in die Dienststelle zurückzukehren, und so fuhr er heim.

Eine komplizierte Maschinerie war in Gang gesetzt worden, und nur ein Zufall konnte Ljocha noch retten.

Am Morgen, gleich nach der Dienstbesprechung, beratschlage ich mit Kusmitsch. Natürlich ist auch Valja Denissow dabei.

Nach meinem ausführlichen Bericht über das gestrige Treffen im Cafe erkundigt sich Kusmitsch: »Und wieviel Abfindung hat er dir angeboten, damit du ihnen nichts tust?«

»Zahlen hat er nicht genannt«, antworte ich und füge scherzhaft hinzu: »Aber ich koste eine Menge, das kann ich Ihnen versichern. Zwei Jahresgehälter müssen sie schon hinblättern, oder drei.«

»Na, na, bilde dir nur nicht zuviel ein!« erwidert Kusmitsch lachend. »Trotzdem hast du eine interessante Begegnung gehabt. Eine sehr interessante. Ein seltsamer Philosoph hat sich da gefunden!«

»Da sie nervös geworden sind, machen sie Fehler«, sage ich, »und führen uns selbst zum Ziel.«

»Siehst du es schon?« fragt Kusmitsch.

»Vorläufig nicht.«

»Und in welcher Richtung wir graben sollen, ist vorläufig auch unklar. Ich denke, meine Lieben, wir müssen weiter so vorgehen wie bisher. Dieser Weg hat sie unruhig gemacht. Also ist er richtig. Den Mord haben wir aufgedeckt. Das Motiv allerdings.«

»Sie haben etwas nicht unter sich geteilt«, sage ich.

»Ja, aber dein Stelldichein führt von dem Diebstahl weg«, entgegnet Kusmitsch kopfschüttelnd. »Der Diebstahl stört irgendwie, irritiert.«

»Die Beweise fehlen. Aber die Logik..«, wende ich ein.

»Warum hüllst du dich in Schweigen?« Kusmitsch blickt Valja an.

Der hebt die Schultern und sagt: »Ich denke: Woher haben sie Lossews Telefonnummer, woher kennen sie seinen Vor- und Vatersnamen?«

»Meine Telefonnummer habe ich Kuprejtschik gegeben«, antworte ich. »Aber daß er diesen Typ zu mir geschickt hätte. Das entfällt. Freilich hatte das, was er über den toten Semanski sagte, ein paar kleine Unstimmigkeiten, aber mit dem Diebstahl in seiner eigenen Wohnung und mit dem Mord an Semanski hat er nichts zu tun. Ihr hättet ihn mal sehen sollen, als ich ihm den Mord mitteilte. Überhaupt müssen wir hier einen anderen Weg einschlagen, scheint mir. Sobald wir festgestellt haben, wer dieser Pawel Alexejewitsch ist, ist alles gelaufen. Aber es ist nicht so einfach, das herauszubekommen. Er ruft mich am Montag an, dann treffen wir uns und. Alles Weitere ist Sache der Technik.«

»Meinst du, er ist sich darüber nicht im klaren?« fragt Kusmitsch. »Halt ihn nicht für dümmer als dich selbst. Überleg lieber, wer dich in dieser Sache noch kennt.«

»In dieser Sache? Nur der Hof und Kuprejtschiks Haus, seine Frau und er selbst.«

»Ja, bislang ist das alles schleierhaft, meine Lieben«, sagt Kusmitsch und nickt, als wäre er zufrieden. »Ehe wir es uns versehen, haben wir es mit einer großen OBChSS-Kundschaft zu tun. Und selbstverständlich studieren wir sie dabei, und sie uns. Dumm sind die auch nicht.«

»Aber wie frech sie vorgehen«, sage ich ärgerlich. »Wie selbstsicher!«

»Weil irgendeinem so eine Sache mal geglückt ist«, antwortet Valja so ruhig wie immer. »Und deshalb mußt auch du, ihren Berechnungen nach, bestechlich sein.«

»Ich laß mich bestechen«, sage ich drohend. »Ich laß mich bestechen, aber hinterher kann der Schuft seine Knochen einzeln zusammensuchen. Trotzdem müssen wir mit diesem Typ anfangen, müssen wir herausfinden, um wen es sich bei Pawel Alexejewitsch handelt und welche Verbindungen er hat.« Ich wende mich an Kusmitsch: »Erlauben Sie, daß ich ein Treffen mit ihm vereinbare?«

»Ob er uns wirklich so mir nichts, dir nichts auf den Leim geht?« fragt Valja zweifelnd.

»Wenn er A gesagt hat, muß er auch B sagen«, entgegne ich. »Er ist ja darauf eingegangen, hat mir Zeit zum Überlegen gegeben.«

»Worauf er eingegangen ist, werden wir ja sehen«, sagt Kusmitsch. »Also verabrede dich mit ihm, und wir nehmen ihn dann sofort unter Beobachtung. Das wär's.« Und Valja fragt er: »Gibt's was Neues von der Eisenbahn?«

»Nichts, Fjodor Kusmitsch«, antwortet Valja. »Ich habe dort angerufen.«

»Hm. Schlecht. Wir haben uns Ljocha durch die Lappen gehen lassen. Vierundzwanzig Stunden ist es her, seit er in Orscha ausgestiegen ist. Da kann er schon weit sein.«

»Polina Tichonowna meint, ihn zieht's mächtig heim. Angeblich spürt sie es mit dem Herzen. Durchaus möglich, daß er nach Hause fährt. Zumal dort irgendeine Sina auf ihn wartet.«

»Setz dich noch mal mit Jushnomorsk in Verbindung«, sagt Kusmitsch. »Orientiere sie auf Ljocha. Falls er der Fahndung entwischt, muß er heute dort auftauchen. Und erkundige dich bei der Gelegenheit, was sie über Lew Ignatjewitsch und Jermakow in Erfahrung gebracht haben.«

»Klar.«

Ich bin schon an der Tür, als Kusmitsch mir nachruft: »Und dann such Kuprejtschik noch einmal auf. Es ist Zeit, denke ich, ihn ein bißchen zu piesacken, ihm all unsere Fragen zu stellen. Möglicherweise kennt er außer Semanski noch jemand aus der Bande. Semanski kann ihn mit jemand bekannt gemacht haben.«

»Mit wem? Mit einem Gauner wie Ljocha oder mit dem Kerl, der den grünen Schal trägt?« frage ich. »Nein, nein, Fjodor Kusmitsch.«

»Mit denen natürlich nicht. Eher mit solchen wie Lew Ignatjewitsch. Kurzum, fühl ihm auf den Zahn.«

»Mach ich, obwohl ich meine Zweifel habe. Warum sollten sie sich zu zweit die Wohnung angesehen haben? Den Tip hatte Semanski geliefert, das ist klar.« Ich bleibe an der Tür stehen und spreche mit großem Schwung. »Aber welche Rolle mag dieser Lew Ignatjewitsch spielen? Die Rollen der anderen sind klar. Semanski war Komplize, Lieferant der Tips. Pest und Ljocha führten die Sache aus, die beiden Moskauer mit den Autos transportierten die Sachen ab und sollen vielleicht Käufer finden. Aber Lew Ignatjewitsch? Ist er der Anführer?«

»Und Jermakow?« fragt Valja.

»Höchstwahrscheinlich ein illegaler Geschäftemacher, eine lokale Berühmtheit unter den Kriminellen«, antworte ich. »Während dieser Lew Ignatjewitsch unmittelbaren Kontakt zur Gruppe hat. Mit Pest ist er im Restaurant gewesen, auf dem Hof hat er sich mit Semanski gezankt, den Pest dann tötete.«

»Eben, eben«, sagt Kusmitsch und nickt. »Sie haben sich gezankt. Vielleicht genoß Semanski kein Vertrauen mehr. Und Lew Ignatjewitsch ging dann selbst in Kuprejtschiks Wohnung. Unter einem passenden Vorwand natürlich. Um gewissermaßen das Schlachtfeld zu rekognoszieren und Semanskis Angaben zu überprüfen.«

»Schon möglich, daß er bei Kuprejtschik war«, stimme ich zu.

»Na gut«, konstatiert Kusmitsch. »Ich habe das natürlich nur als Hypothese angeführt. Versuche zu klären, wie sich alles verhält. Und piesacke ihn, hab keine Angst. Sie haben ihn noch stärker gepiesackt.« Und sachlich schließt er: »Also zieh los. Ruf Jushnomorsk an. Und mit Kuprejtschik triff dich möglichst noch im Laufe des Tages. Am Abend will Mestscherjakow über die beiden Moskauer berichten. Er hat da wohl schon einiges ausgegraben.«

Ich nicke und verlasse das Zimmer.

In der operativen Abteilung werde ich sofort mit Jushnomorsk verbunden. Der Zeitunterschied beträgt nur eine Stunde, und in Jushnomorsk wird auch gerade mit Hochdruck gearbeitet. Der Diensthabende der Stadtabteilung von Jushnomorsk nimmt meine Mitteilung, daß Ljocha möglicherweise dort erscheinen wird, entgegen und verspricht, alles zu tun, um ihn festzunehmen.

»Er wird im Zusammenhang mit einem Mord und einem großen Einbruchsdiebstahl gesucht«, betone ich und warne: »Vergessen Sie nicht: Er ist bewaffnet und äußerst gereizt.«

»Ja, ja«, sagt der Diensthabende ungeduldig. »Wird alles gemacht, Genosse Lossew.«

Sein Ton mißfällt mir, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm Erfolg zu wünschen. Mein Freund Mamedow ist nicht anwesend. Ich bitte ihm auszurichten, mir das, was er bereits in Erfahrung gebracht hat, durchzugeben. Damit verabschiede ich mich von dem Diensthabenden.

Aus meinem Zimmer rufe ich Kuprejtschik an. Natürlich ist er zu Hause. Es ist elf Uhr, und seine Stimme klingt so, als trinke er gerade seinen Morgenkaffee und sehe die Zeitungen durch. Ach, haben die Leute ein Leben, hol's der Teufel!

Kuprejtschik ist außerordentlich liebenswürdig, und wir verabreden, daß ich in einer Stunde bei ihm sein werde.

Selbstverständlich hätte ich ihn, obwohl Sonnabend ist, zu mir bestellen können. Aber das wäre nicht ratsam gewesen. Kuprejtschik hätte sich über die Störung geärgert und nur den einen Gedanken gehabt, möglichst rasch wegzukommen. Und ein geruhsames Gespräch, in dessen Verlauf er versucht hätte, sich an alles zu erinnern und mir maximal zu helfen, wäre ausgeschlossen gewesen. Aber gerade solch ein Gespräch brauche ich. Und deshalb will ich zu ihm gehen, trotz des scheußlichen Wetters. Wie aus Säcken fällt nasser schwerer Schnee, die Feuchtigkeit dringt einem bis in die Knochen, und unter den Sohlen hat man eisige Pfützen.

Genau eine Stunde später gehe ich über den unglückseligen Hof zur Haustür und steige in den zweiten Stock hinauf.

Kuprejtschik öffnet mir selbst. Er hat wieder die braune Hausjacke an, ein schneeweißes Hemd darunter, diesmal allerdings salopp ohne Schlips, der Kragen ist nicht zugeknöpft. Kuprejtschik ist frisch, munter und höflich. Im Arbeitszimmer versinke ich gleichsam in dem Bücherchaos, das wohl doch eine stabile Ordnung hat. Mir scheint, in den letzten zwei Tagen ist kein Buch in den riesigen Regalen, keine Zeitschrift auf den ovalen Tischen angerührt worden.

Auf dem polierten Tischchen, an dem wir letztes Mal Kaffee tranken, stehen heute eine Schale mit Apfelsinen und Äpfeln sowie zwei Tellerchen mit Obstmessern.

»Gegen so ein ekelhaftes Wetter gibt's nur ein Mittel«, sagt Kuprejtschik.

Er bringt eine Flasche Kognak und zwei Gläser, und als ich abwehrend die Hände hebe, fügt er hinzu: »Ich weiß. Sie sind im Dienst. Aber selbst Kommissar Maigret lehnte bei schlechtem Wetter ein Gläschen nicht ab.«

»Angesichts dieses klassischen Beispiels muß ich mich geschlagen geben«, antworte ich.

Wir stoßen an und trinken. Danach zünden wir uns gemächlich jeder eine Zigarette an.

»Sie versprachen mir, sich alles ins Gedächtnis zurückzurufen, was Semanski betrifft«, sage ich. »Ist Ihnen das gelungen?«

»An einiges erinnere ich mich, es ist aber ziemlich bedeutungslos. Deshalb habe ich Sie nicht angerufen«, antwortet Kuprejtschik.

»Und was ist das?«

»Erstens ist mir eingefallen, wie wir uns kennenlernten. Er suchte mich im Betrieb auf. Sagte, er hätte dienstlich bei uns zu tun. In Sachen seines Ministeriums für Textilmaschinenbau. Wir kamen ins Gespräch, redeten über alles mögliche. Er war ein geselliger Mensch, und er interessierte sich, das erwähnte ich schon, für Malerei. Dafür interessiere ich mich auch. Ein Wort gab das andere, und wir kamen auf dieses Thema zu sprechen. Als er erfuhr, daß ich Bilder besitze, war er Feuer und Flamme. Er war mir sehr sympathisch. Seitdem sahen wir uns, wenn er nach Moskau kam. Er machte mich mit dem Maler Kontschewski und dessen Schwester bekannt.«

Somit scheint einer der hauptsächlichen zweifelhaften Punkte unseres letzten Gesprächs eine Erklärung erhalten zu haben.

»Kann es sein, daß er die Diebe auf Ihre Wohnung hingewiesen hat?« frage ich. »Voriges Mal, glaube ich, hatten Sie diesen Gedanken.«

»Ja, ja!« ruft Kuprejtschik und nickt erfreut. »Stellen Sie sich vor, den Gedanken habe ich auch jetzt.«

Merkwürdig, warum freut er sich?

»Mit wem verhandelte Semanski bei Ihnen in der Fabrik, und aus welchem Anlaß?« frage ich.

»Das weiß ich nicht mehr. Vielleicht war er beim Chefingenieur, vielleicht drehte es sich um neue Technik. Ich möchte nichts Falsches sagen, denn es ist ja schon lange her. Später kam er dann in irgendwelchen anderen Angelegenheiten nach Moskau und nicht mehr zu uns. Doch er rief mich stets an und besuchte mich. Er war ein angenehmer Gesprächspartner, und er liebte die Malerei. Ich möchte nicht schlecht von ihm denken.« Er seufzt. »Entsetzlich, was mit ihm passiert ist. Wo wurde er überfallen?«

»Bei Ihnen auf dem Hof.«

»O Gott! Direkt auf dem Hof?«

»Ja.«

»Haben Sie den Täter?«

»Bisher nicht. Und da ist noch der Diebstahl bei Ihnen.«

»Ja. Ein Alptraum.«

Ich sehe, daß Kuprejtschik erregt ist.

»Und hatten Sie nie einen Verdacht gegen ihn?«

»Einen Verdacht?« Er trinkt nervös einen Schluck Kognak und reibt sich nachdenklich das Kinn. »Einen Verdacht hatte ich eigentlich nicht, aber... Seltsamerweise hat er nie über seine Arbeit gesprochen. Als hätte er gar keine. Über seine Familie auch nicht. Ach ja! Letztes Mal teilte er plötzlich mit, daß er heiraten werde. Er lud meine Frau und mich sogar zur Hochzeit ein. Wir waren sehr überrascht.«

»Hat er gesagt, wer die Braut ist?«

»Nein. Auch nicht, wann und wo die Hochzeit stattfindet.«

»Wo hat er in Moskau logiert?«

»In der Wohnung seines Freundes, des Malers Kontschewski. Ich bin einmal bei ihm gewesen.« Kuprejtschik lächelt, als sei ihm etwas Angenehmes eingefallen. Richtig, dort lernte er ja die sympathische Nachbarin Ljolja kennen! Oder ist er zufrieden, weil er einen weiteren unklaren Punkt unserer vorigen Unterhaltung geklärt hat? Genauer, er hat seinen Fehler korrigiert. Den zweiten, nebenbei bemerkt.

»Lernten Sie durch Semanski noch jemand kennen?«

»Hm. Ich glaube, nein.«

»Überlegen Sie, es ist sehr wichtig.«

Kuprejtschik zerschneidet einen Apfel, schält ein Stückchen und kaut nachdenklich. Schließlich teilt er mit: »Nun, er hat mich einmal einer Nachbarin vorgestellt, einer netten jungen Person.«

»Heißt sie Ljolja?«

»Ja. Kennen Sie sie auch?«

»Rein dienstlich«, entgegne ich lächelnd. »Und mit wem hat er Sie noch bekannt gemacht?«

»Ich kann mich wirklich an keinen weiter erinnern.«

»Vielleicht mit irgendwelchen Zugereisten, Landsleuten von ihm, zum Beispiel.«

»Nein. Ich erinnere mich nicht.« Er schüttelt den grauen Kopf und schält das nächste Stückchen. Dann besinnt er sich und schiebt mir die Schale mit dem Obst zu. »Bitte. Sie nehmen ja nichts. Bitte.«

Ich danke und füge nachdenklich hinzu: »Semanski ist mit einem Landsmann nach Moskau gekommen. Sie haben sich bei Ihnen auf dem Hof gezankt.«

Kuprejtschik hält im Schälen inne und schaut mich argwöhnisch an. »Sie haben sich gezankt?«

»Ja, und zwar heftig.«

»Das geht mich nichts an«, sagt er scharf.

»Da haben Sie recht.«

Mich wundert seine plötzliche Gereiztheit. Nun, verstärken wir dieses Moment und prüfen wir die Reaktion.

»Kennen Sie zufällig einen gewissen Lew Ignatjewitsch?« frage ich.

»Nicht, daß ich wüßte«, sagt er gereizt. »Wer soll das sein? Auch ein Zugereister?«

»Ja.«

»Woran erkennen Sie die Zugereisten eigentlich?«

»Manchmal an bloßen Kleinigkeiten.«

»Und diesen. Lew. Lew Ignatjewitsch, so heißt er doch?«

Er gibt sich den Anschein, als habe er sich den Namen nicht gleich gemerkt.

»Ebenfalls an Kleinigkeiten«, sage ich in rätselhaftem Ton.

»Natürlich supergeheime Methoden, nicht wahr?« Kuprejtschik versucht ironisch zu sein.

»Nur zum Teil«, antworte ich so ruhig, als bemerkte ich seine Ironie nicht. »Also an Lew Ignatjewitsch erinnern Sie sich nicht? Komisch.«

»Wieso komisch?«

»Mir scheint, Sie kennen ihn.«

»Und mir scheint, Sie kennen ihn nicht«, versetzt er aufgebracht, besinnt sich aber und sagt: »Natürlich kann ich das nicht beurteilen, Sie aber auch nicht. Ach, ist ja alles Blödsinn!« Ärgerlich zieht er aus der vor ihm liegenden Packung eine Zigarette.

Komisch ist es trotzdem. Warum will er, nachdem er die Bekanntschaft mit Semanski zugegeben hat, nicht eingestehen, daß er auch Lew Ignatjewitsch kennt?

Oder ist es mir nur so vorgekommen, als kenne er ihn? Denn dieser Lew Ignatjewitsch. Er stritt sich mit Semanski so heftig, daß die beiden sowohl der in der Nähe sitzenden Sofja Semjonowna als auch der über den Hof gehenden Inna Borissowna auffielen. Beide beschrieben diesen Lew Ignatjewitsch. Die Merkmale. Ich habe sie im Kopf. Doch jetzt stelle ich mir wohl zum erstenmal den lebendigen Menschen danach vor, einen stämmigen, mittelgroßen älteren Mann mit grauem Haar, gestutztem Schnurrbart und Säcken unter den Augen. Und plötzlich wird mir heiß. Wäre es möglich, daß ich mich gestern abend mit ihm getroffen habe? Ja, ja, es sieht ganz so aus. Aber dann. Um wenigstens einen Augenblick Zeit zum Überlegen zu haben, nehme auch ich mir eine Zigarette, knipse mit dem Feuerzeug und rauche an. Lew Ignatjewitsch kennt meine Telefonnummer, meinen Vor- und Vatersnamen. Ob Kuprejtschik ihn mit alldem versorgt hat? Nein, das hat er sich vielleicht auf anderem Wege beschafft. Er hat ja auch Swiristenko ausfindig gemacht. Etwas anderes ist unverständlich. Weshalb ließ sich der gar nicht dumme Lew Ignatjewitsch zu einem so frechen und riskanten Schritt hinreißen? Weshalb? Denn der Wohnungsdiebstahl, in den er verwickelt ist, und der Mord an Semanski haben nichts mit dem zu tun, wovor er mich gewarnt hat. Dies ist ja »mein Garten«, und auf den soll ich meine Arbeit beschränken, wie er mir riet. Hetzte er mich absichtlich auf seine Spur, um mich von der anderen abzulenken? Bestimmt wurde er von jemand zu mir geschickt. Von wem? Warum?

Ich schiebe alle diese Fragen von mir. Zunächst muß ich wissen, ob mein Gesprächspartner mit Lew Ignatjewitsch bekannt ist oder nicht.

»Völlig richtig«, stimme ich zu. »Das ist alles Blödsinn. Sie sind überhaupt nicht verpflichtet, ihn zu kennen, ebensowenig wie ich es bin. Obwohl ich ihn tatsächlich kenne. Kurz vor dem Diebstahl hat er sich bei Ihnen auf dem Hof mit Semanski gezankt.«

»Das ist also der Landsmann, den Sie erwähnten?«

»Ja. Sie sind im Hof gesehen worden. Und man hat sich ihr Äußeres gemerkt.«

»Und Ihnen davon erzählt?«

»Selbstverständlich. Und da dachte ich: Wenn Semanski bei Ihnen gewesen ist, kann auch.«

»Er ist nicht bei mir gewesen«, unterbricht mich Kuprejtschik entschieden.

»Nun, wenn nicht, dann nicht. Aber mit dem Diebstahl hat dieser Mann offenbar zu tun. Und mit dem Mord möglicherweise auch.«

»Da kann ich Ihnen schlecht helfen«, sagt Kuprejtschik und deutet auf die Schale. »So greifen Sie doch zu!«

»Danke.« Ich nehme eine Apfelsine und beginne sie zu schälen.

Kuprejtschik zögert eine Weile, dann fragt er: »Und weshalb meinen Sie, daß er mit dem Mord zu tun hat?«

»Wer?«

»Na dieser. Lew Ignatjewitsch.«

»Weil er sich mit Semanski gestritten hat und er einen der Mörder kennt.«

»Was sagen Sie da? Also kennen auch Sie die Mörder?«

»Gewiß.«

»Und Sie haben sie nicht festgenommen?«

Ich schmunzle. »Es ist noch zu früh, eine Pressekonferenz über diesen Fall abzuhalten.«

»Ja, ja. Entschuldigen Sie. Solche Fragen darf ich Ihnen nicht stellen, ich verstehe.«

»Und ich darf Sie Ihnen nicht beantworten.«

»Trotzdem haben Sie geantwortet«, sagt er lächelnd und gleichsam vorwurfsvoll.

»Ja, aus Charakterschwäche.« Ich lächle ebenfalls. »Aber Sie durften antworten und haben es nicht getan.«

»Das habe ich Ihnen doch schon.«

»Ja, ja.« Ich nicke. »Sie kennen ihn nicht.«

Sein Betragen mißfällt mir. Er verheimlicht mir etwas, hält mit etwas hinter dem Berge. Warum? Fürchtet er, daß diese Bekanntschaften seinem Ruf schaden? Und dazu noch der Mord. Wie kann ich es trotzdem erreichen, daß er sich mir anvertraut und alles erzählt? Letztlich liegt es in seinem Interesse, daß alles aufgeklärt wird.

»Ich will Ihnen die Situation umreißen, in der Sie sich befinden, Viktor Arsentjewitsch«, sage ich. »Meiner Ansicht nach sind Sie sich nicht völlig im klaren darüber.«

»Bitte.«

»Also. Die Situation ist natürlich wenig angenehm. Rings um Sie, genauer, rings um Ihre Wohnung kreiste eine ganze Bande. Sie beobachtete, studierte, machte einen Plan. Zunächst mußte sie sich überzeugen, daß das Spiel der Mühe wert ist, daß es in der Wohnung, um es grob zu sagen, etwas zu holen gibt. Jemand lieferte diese Information, und das Spiel begann. Aus allem ist ersichtlich, daß sich die Täter geschickt und sorgfältig vorbereiteten. Das Interesse an Ihnen, genauer, an Ihrer Wohnung...«

»Warum erwähnen Sie ständig mich?« fragt Kuprejtschik nervös. »Ich hoffe doch, daß ich persönlich für die Verbrecher uninteressant bin.«

»Das hoffe ich auch.«

»Aber Sie sind sich nicht sicher?«

»Solange die Sache nicht aufgeklärt ist, kann man sich nicht sicher sein«, antworte ich ruhig. »Ich wiederhole also: Das Interesse an Ihnen, genauer, an Ihrer Wohnung, war so groß, daß sie es sogar auf einen Mord ankommen ließen. Entweder hatten sie etwas nicht geteilt, oder sie hatten beschlossen, einen Konkurrenten zu beseitigen.«

»Das ist nun aber ein kommerzieller Terminus, der hier nicht anwendbar ist«, unterbricht er mich.

»Kommerziell? Semanski ist doch kommerziell tätig gewesen!«

»So? In welchem Sinne?«

»In direktem. Er ist früher mal Direktor einer Großhandlung gewesen.«

»Oho! Sie haben also bereits seine Biographie studiert?«

»Das gehört dazu. Aber einstweilen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf folgendes lenken: Für Sie sind, scheint mir, in der entstandenen Situation zwei Ergebnisse wünschenswert. Erstens: Die Rückgabe der gestohlenen Sachen. Habe ich recht?«

»Selbstredend«, stimmt er zu. »Und zweitens?«

»Das zweite Ergebnis ist sozusagen mehr moralischer als materieller Natur. Sie bedauern jetzt doch sicherlich, daß Sie mit Semanski befreundet waren. Immerhin wirft das einen gewissen Schatten auf Sie, nicht wahr?«

»Natürlich bedaure ich es. Aber es wirft keinerlei Schatten auf mich. Konnte ich denn ahnen, daß er ein Gauner ist?«

»Wenn Sie es gewollt hätten, bestimmt. Sie haben doch gerade erklärt, daß er Ihnen nie von seiner Arbeit erzählte, als hätte er überhaupt keine gehabt. Ist es so?«

»Gewiß.«

»Sie hätten mühelos feststellen können, daß er keinerlei Dienstauftrag besaß, Sie in der Fabrik aufzusuchen.«

Kuprejtschik erschrickt. »Erlauben Sie.«, stammelt er. »Ich bin nicht auf die Idee gekommen. Und mit dem Diebstahl.«

»Sie haben recht«, unterbreche ich ihn. »Mit dem Diebstahl hat das nichts zu tun. Aber mit Semanskis Persönlichkeit hat das unmittelbar zu tun, das müssen Sie zugeben.«

»Unbedingt.«

»Und deshalb gereicht Ihnen solch eine Freundschaft nicht gerade zur Ehre. Und Sie bedauern, daß Sie mit ihm befreundet waren.«

»Ja«, sagt er seufzend. »Aber wer konnte das ahnen?«

»Somit besteht das zweite wünschenswerte Ergebnis für Sie darin, den Makel loszuwerden, den diese Freundschaft Ihnen aufgedrückt hat.«

»Möglicherweise.«

»Wenn Sie beide Ergebnisse erzielen wollen, Viktor Arsentjewitsch, dann ist es notwendig, daß Sie uns gegenüber völlig offen sind. Doch bisher, entschuldigen Sie, bin ich nicht überzeugt davon.«

»Sie meinen, ich verheimliche etwas?« braust er auf. »Na, hören Sie mal. Sie haben keinen Grund.«

»Genauer, Sie halten mit etwas hinter dem Berge. So kommt es mir jedenfalls vor. Sehen Sie, ich bin Ihnen gegenüber völlig offen. Mehr noch, ich möchte Ihnen helfen. Sie hingegen helfen mir überhaupt nicht.«

»Womit halte ich Ihrer Meinung nach denn hinter dem Berge?« fragt er verwirrt.

»Mindestens in zwei Punkten«, antworte ich. »Erstens - was Lew Ignatjewitsch betrifft. Ich habe trotz allem den Eindruck, daß Sie ihn kennen. Sie fürchten eben, mit einem zweiten Makel behaftet zu werden. Stimmt's?«

»Nein. Ich kenne ihn tatsächlich nicht.«

»Schön, Viktor Arsentjewitsch, reden wir ein andermal weiter«, schlage ich vor. »Denken Sie inzwischen nach. Es wäre wirklich das Beste, wenn Sie rückhaltlos offen wären.«

»Wie Sie wollen. Nur.«

Ich beuge mich vor und lege meine Hand auf seine, als wollte ich ihn auffordern, innezuhalten. »Denken Sie nach«, wiederhole ich. »Wir sehen uns wieder. Und dann nenne ich Ihnen den zweiten Punkt, in dem Sie nicht offen sind.«

Ich stehe auf. Das Gespräch ist beendet. Es war nicht leicht. Ich sehe, daß Kuprejtschik ermüdet ist. Ich selbst bin es auch. Obwohl ich die Zeit nutzbringend verbracht habe, entgleiten mir gewisse Einzelheiten des geführten Gesprächs.

Erst gegen Mittag kehre ich in die Dienststelle zurück. Ein Gläschen Kognak und eine Apfelsine sind keine Mahlzeit. Und als ich erfahre, daß Kusmitsch in die Kantine gegangen ist, lenke ich meine Schritte ebenfalls dorthin. Unsere Kantine ist nicht schlecht, vielleicht deshalb nicht, weil die Mitarbeiter der OBChSS die Patenschaft haben. Darum esse ich, wenn ich es ermöglichen kann, stets hier Mittag. Heute, am Sonnabend, ist wenig Betrieb. Ich setze mich zu den mir bekannten Jungs aus einer anderen Abteilung, und bei dem interessanten Gespräch bin ich, ehe ich mich's versehe, mit dem Essen fertig. Als ich schließlich hinaufgehe, ist Kusmitsch bereits in seinem Zimmer. Zunächst berichte ich ihm ausführlich von meinem Besuch bei Kuprejtschik. Kusmitsch hört schweigend zu, ohne mich zu unterbrechen. Bald dreht er die Brille in den Händen, bald ordnet er die Bleistifte auf dem Tisch.

»So«, sagt er, als ich verstummt bin. »Gar nicht schlecht, wenn du auch nicht alles geklärt hast.«

»Wenigstens sieht man, was noch geklärt werden muß.«

»Eben, eben«, sagt Kusmitsch. »Zum Beispiel Semanski. Fast ein Jahr ist er mit Kuprejtschik befreundet, und plötzlich beschließt er, die Bande auf ihn zu hetzen. Demnach hat er selbst sich erst kürzlich mit ihr eingelassen, nicht wahr? Was hat er vorher getrieben? Er hat doch schon vor ungefähr zwei Jahren die Arbeit aufgegeben. Das ist unklar. Noch unklarer ist dieser Lew Ignatjewitsch. Ein nicht mehr junger solider Mann, ein regelrechter Philosoph, und befaßt sich plötzlich mit Einbruchsdiebstählen, organisiert eine Bande? Das glaube ich nicht. Da stimmt etwas nicht. Er selbst hat sich dir als Geschäftsmann vorgestellt, als Kaufmann, und dir ein geschäftliches Angebot gemacht. Und plötzlich soll er einen Diebstahl verübt haben? So was gibt's nicht, mein Lieber.«

»Ja«, stimme ich zu. »Das ist alles merkwürdig mit Lew Ignatjewitsch, das bestreite ich nicht.«

»Hoffentlich irrst du dich nicht«, sagt Kusmitsch und wiegt den Kopf. »Im Cafe hast du nicht mit Lew Ignatjewitsch zusammengesessen. Ein derart solider Mann raubt keine Wohnungen aus. Dort, im Cafe, als er philosophierte und geschäftliche Angebote machte, war er an seinem Platz. Lew Ignatjewitsch hingegen hat durch Pest und Semanski mit dem Wohnungsdiebstahl bei Kuprejtschik zu tun.«

»Und mit dem Mord offensichtlich auch«, ergänze ich.

»Eben, eben«, sagt Kusmitsch und seufzt. »Nein, mein Lieber, höchstwahrscheinlich irrst du dich. Das kommt vor.«

»Sie sehen sich aber sehr ähnlich.«

»Eben deshalb. Nun, wir werden sehen. Wenn es klappt, triffst du dich noch mal mit diesem Pawel Alexejewitsch. Er soll dich am Montag anrufen?«

»Ja.«

»Nun gut. Und einstweilen machen wir weiter. Dein Kuprejtschik gefällt mir nicht. Du hast recht, mit irgend etwas hält er hinter dem Berge.«

»Daß er mit Lew Ignatjewitsch bekannt ist.«

»Das - erstens. Und dann - was Semanski anbelangt. Forschen wir mal in der Fabrik nach, ob Semanski dort gewesen ist und bei wem. Denn Kuprejtschik ist erschrocken, als du erklärt hast, Semanski habe vielleicht gar keinen Dienstauftrag gehabt.«

»Ja«, bestätige ich. »Und er hat gesagt, wir kämen von dem Diebstahl ab... Mich auf den Diebstahl zu beschränken, darum bat mich doch. Pawel Alexejewitsch, dort im Cafe!«

»Sieh mal einer an«, Kusmitsch schmunzelt zufrieden. »Was du so für Verbindungen herstellst!«

»Das verbindet sich doch ganz von selbst.«

»Na, na, nicht so hastig. Hast du in Erfahrung gebracht, was für eine Arbeit dieser Kuprejtschik in der Fabrik hat?«

»Nein.«

»Wenn du wegen Semanski dort hinfährst, interessiere dich auch dafür. Aber vorsichtig. Für uns ist er bislang nur ein Geschädigter, ein Opfer sozusagen. Stimmt ein winziges Eckchen nicht, sind zwei riesige Vielecke schon nicht kongruent. Und wir haben nicht nur eine Unstimmigkeit dieser Art.«

Ja, es gibt ziemlich viel Unklarheiten in der Sache mit dem Einbruchsdiebstahl. Es will sich kein geschlossenes Bild ergeben. Genauer, hinter dem Diebstahl wächst eine andere Sache auf - der Mord, und dahinter beginnt sich verschwommen noch etwas abzuzeichnen.

»Hat Denissow Erfolg gehabt?« frage ich.

»Vor einer Stunde hat er vom Bahnhof angerufen«, antwortet Kusmitsch ärgerlich und reibt sich die grauen Stoppelhaare im Nacken. »Offensichtlich ist Ljocha nicht mehr in der Zone, wo aktiv nach ihm gefahndet wird. Sie haben ihn entwischen lassen. Es sind ja bereits vierundzwanzig Stunden vergangen, seit die Fahndung eingeleitet wurde.«

Ein Telefon klingelt. Kusmitsch hebt den Hörer ab. »Ach, du bist's, grüß dich. Los, los, wir warten.« Er legt den Hörer auf und teilt mit: »Pascha Mestscherjakow. Er kommt gleich.«

Pascha, in seinem unwandelbaren dunkelblauen Anzug und dem hellblauen Oberhemd, erscheint fast unverzüglich. Wie immer ist er ernst und konzentriert. In den Händen hält er eine grüne Mappe. Er öffnet sie und nimmt einige Blätter heraus.

»Die beiden Bürger aus dem roten Moskwitsch sind ermittelt«, sagt er. »Der eine heißt Stepan Iwanowitsch Scherschen, der zweite Iwan Stepanowitsch Gawrilow. Sie wurden zwei Tage lang beobachtet, seit dem Augenblick, da sie Schuchmin anfuhren. Beide gehen schon lange keiner geregelten Arbeit nach. Scherschen lebt auf großem Fuß, wirft mit Geld um sich - Restaurants, Frauen, ausländische Klamotten. Ledig. Hat einen grünen Shiguli. Seine letzte Arbeit - Techniker bei der Wohnungsverwaltung. Lustig, kontaktfreudig, zahlreiche Verbindungen -meistens von Zechereien her. Wenn er trinkt, wird er-aggressiv und argwöhnisch. Angst hat er nur vor einem Menschen - vor Gawrilow. Der ist verschlossen und schweigsam. Läßt niemand an sich heran. Äußerlich lebt er bescheiden. Seine Frau arbeitet in einer Apotheke. Er hat eine Tochter, sie geht in die zweite Klasse. In der Nähe von Moskau hat er ein Haus. Ein solides Haus. Es ist auf den Namen des Schwiegervaters eingetragen.«

»Ist es das, wo Pjotr war?« frage ich.

»Nein. Das ist eine Datsche. Dazu komme ich gleich - das haut dich um. Aber zunächst noch etwas zu diesen beiden. Gawrilow ist Schlosser. Auch er hat bei der Wohnungsverwaltung gearbeitet. Dort hat er Scherschen kennengelernt. Von dieser Tätigkeit rührt offenbar ihr Interesse an fremden Wohnungen her. Sie haben gesehen, wie die Leute leben, wie sie die Wohnungen verschließen, was für Schlösser sie einbauen, was in den Wohnungen aufbewahrt wird. Gawrilow ist ein erstklassiger Schlosser. Er kriegt jedes Schloß auf. Einmal hat er in einer benachbarten Dienststelle einen englischen Safe geöffnet, man hatte ihn gerufen, weil der Schlüssel nicht aufzufinden war.«

»Der mit der Schirmmütze und dem grünen Schal ist also Gawrilow?« frage ich.

»Genau.«

»Und der rote Moskwitsch gehört ihm?«

»Der ist auf den Schwiegervater eingetragen. Gawrilow fährt ihn mit Vollmacht.«

»Was ist denn das für ein Schwiegervater?«

»Ein Graf«, teilt Pascha sachlich mit. »Genauer, der Nachkomme. Seine Mutter war eine Leibeigene, hatte in Paris einen Schönheitspreis bekommen. Aber der Vater war ein echter Graf, der jüngste Sproß. Nach der Revolution ging er arbeiten. Und nun behauptet der Sohn, also der Schwiegervater dieses Gawrilow, daß er von seinen Vorfahren allerlei geerbt habe. Er selbst ist jetzt schon Rentner.«

»Donnerwetter«, sage ich lächelnd. »Ganz schön raffiniert.«

»Genau«, sagt Pascha. »Aber da ist plötzlich noch ein dritter Mann, sozusagen im Umfeld der beiden. Über den sind wir uns noch nicht völlig im klaren. Gestern sind wir auf ihn gestoßen.«

»Warum sagst du >im Umfeld

»Offensichtlich gehört er nicht unmittelbar zu der Gruppe.«

»Und wer ist das?«

»Er heißt Oleg Brjuchanow.«

»Brjuchanow?« frage ich ungläubig. »Ist das ein Namensvetter des verstorbenen Akademiemitglieds oder...«

»Ganz recht, sein Sohn«, bestätigt Pascha griesgrämig.

»Ich hoffe doch, daß nicht er die Wohnung seines Vaters geplündert hat?«

»Das hoffe ich auch. Aber er ist mit Scherschen bekannt, sie picheln zusammen.«

»Was macht dieser Oleg Brjuchanow, wo arbeitet er?«

»Er ist Assistent in einem Laboratorium des Instituts, wo sein Vater Direktor war. Dort klaut er Alkohol. Ein unwahrscheinlicher Säufer. Wo getrunken wird, da ist auch er, jede Gesellschaft ist ihm recht. Wenn man ihn nicht einlädt, setzt er sich einfach dazu. Ein gutmütiger Schwätzer, harmlos.«

»Aber mit der Schwester hat er prozessiert«, sage ich. »Er wollte den ganzen väterlichen Nachlaß haben.«

»Wahrscheinlich hatte seine Frau ihn aufgehetzt.«

»Es soll schon seine dritte sein. Eine Trinkerin, Prostituierte.« Ich wiederhole, was Sofja Semjonowna mir im Hof erzählt hat.

»Seine Frau haben wir noch nicht kennengelernt. Wir sind ja erst gestern auf ihn gestoßen. Möglich ist. alles.«

»Und wo arbeitet sie?«

»Im selben Institut, als Laborantin. Meine Jungs sind heute hingefahren. Sie müßten eigentlich schon zurück sein. Erlauben Sie?« Pascha deutet auf das Telefon.

»Bitte«, sagt Kusmitsch.

Pascha geht um den Tisch herum, hebt den Hörer ab, wählt eine kurze Nummer und sagt; »Wolkow?... Komm zu Oberstleutnant Zwetkow, ich bin bei ihm. Du erstattest gleich hier Bericht. Ja, bring mit.« Er legt den Hörer auf und sagt zu uns: »Er kommt gleich.«

Wenig später erscheint Vitja Wolkow, ein netter weißblonder Junge mit einem Universitätsabzeichen am Revers des modernen Sakkos. Er trägt ein schneeweißes Hemd und einen Schlips.

»Warum bist du so elegant?« frage ich.

»Mit Absicht«, erklärt Vitja. »Immerhin war ich in einem Institut der Akademie der Wissenschaften. Die sollen nicht denken, Kriminalisten wären unkultiviert.«

»Also schieß los«, sagt Pascha.

»Und setz dich«, fügt Kusmitsch hinzu.

Vitja setzt sich an das Tischchen, das vor Kusmitschs Schreibtisch steht. »Ich habe mich mit dem Leiter des Laboratoriums unterhalten, mit dem stellvertretenden Sekretär des Parteibüros, mit einer Laborantin und einem Professor. Sie alle kennen Oleg Brjuchanow und seine Frau sehr gut. Über Oleg gehen die Meinungen nicht auseinander. Saufbold, Faulenzer, gutmütig, willen- und prinzipienlos. Er hat alles durch die Kehle gejagt. Als Student wurde er im dritten Studienjahr gefeuert. Im Laboratorium behält man ihn nur aus Achtung vor dem Andenken seines Vaters.«

»Hast du ihn gesprochen?« frage ich.

»Zum Schluß. Er war mächtig aufgeregt.«

»Und wie ist seine Frau?« frage ich ungeduldig.

»Eine Kobra. Dort nennt sie jeder so. Mit Oleg macht sie, was sie will«, sagt Vitja. »Angeblich schlägt sie ihn sogar. Sie ist wütend auf die ganze Welt. Und überall beklagt sie sich über ihren Mann. Außerdem soll sie unwahrscheinlich habgierig sein.«

»Hast du sie gesehen?«

»Ja. Von weitem.«

»Hattest wohl Angst, dich ihr zu nähern?« frage ich lachend.

»Versuch es doch selbst!«

»Warum eigentlich nicht?« Ich blicke Kusmitsch an. »Vor Schlangen fürchte ich mich nicht. Vor Säufern auch nicht. Erlauben Sie es mir, Fjodor Kusmitsch?«

»Entscheiden Sie«, sagt Pascha. »Wir legen die beiden Fälle, den Diebstahl und den Mord, zusammen und geben sie Ihnen.«

In diesem Augenblick geht die Tür auf, und Valja Denissow schaut herein. »Gestatten Sie, Fjodor Kusmitsch?«

»Bitte«, sagt Kusmitsch.

»Du hast noch nichts über die Datsche gesagt, wo unser Pjotr war«, erinnere ich Pascha.

»Richtig!« Pascha schlägt sich an die Stirn und lächelt. »Diese Datsche muß unbedingt durchsucht werden. Wenn sie da etwas von der Beute versteckt haben, dann ist das genial.«

»Warum ist das genial?«

»Weil das Akademiemitglied Brjuchanows Datsche ist.«

»Wessen?!« frage ich verblüfft.

»Akademiemitglied Brjuchanows«, wiederholt Pascha feierlich.

»Das ist ja ein Ding«, sage ich schließlich. »Wer mag sich das ausgedacht haben?«

»Höchstwahrscheinlich Gawrilow«, antwortet Pascha.

»Die haben da Leutchen, die schlauer als dein Gawrilow sind«, entgegne ich. »Zum Beispiel Lew Ignatjewitsch oder Pest.«

»Gawrilow ist, glaube ich, von anderem Schlag«, meint Kusmitsch. »Der ist ein Meister, ein Spezialist. Bestimmt hat er den Mord an Semanski nicht gebilligt.«

»Wahrscheinlich haben sie nicht das ganze Diebesgut in der Datsche versteckt«, sage ich. »Bestenfalls haben Gawrilow und Scherschen ihren Anteil dort untergebracht.«

»Wie mögen sie auf die Datsche verfallen sein?« fragt Valja.

Ihm wird erklärt, wer Gawrilow ist und daß Schlösser für ihn kein Problem sind. Und von der Datsche hat ihnen natürlich Oleg erzählt, wer sonst? Im Rausch.

»Er kann ihnen auch von der Wohnung seines Vaters erzählt haben«, sage ich. »Von den vielen Sachen dort, von den Bildern, derentwegen er gegen seine Schwester prozessiert hat. Aber dazu hatte ihn wohl seine Frau angestiftet, nicht?«

»Ja, die Kobra«, bestätigt Vitja.

»Sie soll Trinkerin und Prostituierte sein«, sage ich.

Vitja schüttelt den Kopf. »Sie ist eine energische, entschlossene Frau. Keine schlechte Laborantin. Dünn wie eine Hopfenstange, schwarz wie Kohle, und eine Nase hat sie... wie Gogol.«

Alle lächeln.

»Du bist ein Maler, Vitja«, sage ich. »Das war ja eben ein richtiges Porträt.«

»Also«, mischt sich Kusmitsch ein, »Gawrilow und Scherschen können wir jetzt nicht festnehmen, wir müssen sie auf frischer Tat ertappen. Aber wir dürfen sie nicht aus den Augen lassen.«

»Wir achten auf sie«, sagt Pascha und nickt.

»Das zum einen«, fährt Kusmitsch fort. »Zweitens die Datsche. Ich denke, die muß beobachtet werden. Da erscheint vielleicht noch ein anderer Besucher. Was meint ihr?«

»Da kommt nur Lew Ignatjewitsch in Frage«, antworte ich. »Natürlich nur dann, wenn er von dem Einfall der beiden weiß. Sonst keiner. Ljocha ist flüchtig, Pest haben wir. Aber ich denke, wir sollten uns die Datsche zunächst einmal selbst ansehen.«

Kusmitsch hat nichts dagegen. »Aber es darf nichts verändert werden«, sagt er und fährt fort: »Und drittens müssen wir uns mit diesem Oleg unterhalten. Über den Diebstahl in der Wohnung seines Vaters. Das ist völlig natürlich, selbst wenn wir keinen Verdacht gegen ihn haben.«

»Und mit seiner Frau auch«, füge ich hinzu. »Dem Ehepaar kann das ebenfalls nicht verdächtig erscheinen. Wie heißt sie übrigens?«

»Galina Ossipowna«, teilt Vitja mit. »Mit Nachnamen Golowanowa, nach ihrem ersten Mann.«

»Folgendes«, resümiert Kusmitsch, »die Datsche wird ab sofort beobachtet. Und morgen.«

»Morgen ist Sonntag, Fjodor Kusmitsch«, erinnere ich höflich.

»Tja, hast recht.« Ärgerlich reibt er sich die Stoppelhaare im Nacken und fährt ruhig fort: »Dann bitten wir diesen Oleg Montag früh hierher, unterhalten uns mit ihm, wie es sich gehört, und fahren mit ihm sofort zur Datsche. Unter irgendeinem Vorwand. Sofern natürlich vorher niemand dort aufgekreuzt ist.«

»Und wenn nun morgen doch jemand aufkreuzt?« frage ich.

»Dann muß er sofort festgenommen werden«, sagt Kusmitsch achselzuckend. »Ist das nicht selbstverständlich? Er wäre ja schließlich in eine fremde Datsche eingedrungen. Und ihr braust dann natürlich sofort dorthin. Deshalb muß der Diensthabende morgen jeden Augenblick wissen, wo ihr euch befindet.«

Das bezieht sich auf mich und Valja.

»Ja«, seufze ich. »Arme Skier, arme Swetka.«

»Deine Swetlana ist ein vernünftiger Mensch«, sagt Kusmitsch, »und sie kennt unsere Arbeit.«

Valja seufzt ebenfalls, sagt aber nichts. Sicherlich hat er eine Verabredung.

Damit ist unsere Beratung zu Ende, und Kusmitsch entläßt uns in die verdiente Ruhe.

Der Sonntag vergeht ohne außergewöhnliche Vorkommnisse. Tagsüber schreibt Swetka einen wissenschaftlichen Artikel über ihre Bibliotheksprobleme, zum Abendessen fahren wir zu meinen Eltern, und ich spiele Schach mit meinem Vater. Dabei führen wir immer die interessantesten Gespräche. Diesmal erzähle ich ihm von der Familie des Akademiemitglieds Brjuchanow, genauer, von dessen Kindern. Wie sich herausstellt, kannte mein Vater den alten Brjuchanow gut. »Er war ein typischer Gelehrter«, sagt er. »Zum Direktor eignete er sich nicht. Er war weich und gutmütig, den Menschen zugetan. Im Institut war er sehr beliebt. Seine Tochter Inna ähnelt ihm. Daß er einen Sohn hat, wußte ich nicht.« - »Von dem hab ich dir absichtlich erzählt«, sage ich lachend, »damit du mich mehr schätzt.« Dann essen wir Abendbrot, und meine Schwiegermutter (wenn wir zu meinen Eltern fahren, nehmen wir Anna Michailowna mit) beklagt sich bei meiner Mutter - weil sie so dick ist und ein krankes Herz hat, keucht sie dabei -, daß ich schlecht esse, schlecht schlafe und schlecht aussehe und daß Swetka schlecht auf mich aufpaßt. Meine Mutter, die Ärztin ist, versichert ihr, daß es gar nicht so schlimm stehe, und verteidigt Swetka. Mein Vater lächelt nur, und Swetka sitzt still und bescheiden da, wer sie nicht kennt, könnte meinen, sie sei immer so. Dann verabschieden wir uns bald, denn morgen müssen wir alle arbeiten.

Kaum bin ich am Montag nach der Dienstbesprechung wieder in meinem Zimmer, wird mir Oleg Brjuchanow gemeldet.

»Madame ist auch mitgekommen«, sagt der Mitarbeiter. »Sie wollte ihren Gemahl nicht allein lassen. Fjodor Kusmitsch hat sie zu sich gebeten. Jetzt hat er seine liebe Not mit ihr.«

»Der Montag ist ein schwerer Tag«, entgegne ich seufzend. »Also her mit diesem Oleg. Ich werde Obrigkeit mimen.«

Lächelnd tritt ein schmächtiger kahlköpfiger Mann mit Brille in mein Zimmer. Seine Augen blicken erschreckt, und deshalb wirkt sein Lächeln deplaziert, Er ist schlecht und nachlässig gekleidet, sein Schlips ist verrutscht, ein Knopf an der abgetragenen Jacke hängt nur noch an einem Faden, die Hose scheint schon lange nicht gebügelt worden zu sein. Kurz und gut, der Mann sieht irgendwie ausgeblichen und jämmerlich aus. Hin und wieder kichert er seltsam.

»Meine Verehrung«, sagt er so ungezwungen wie möglich. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Nehmen Sie Platz, Oleg Borissowitsch«, antworte ich kühl. »Unterhalten wir uns ein wenig.«

Er sieht aus, als wäre er mindestens vierzig, doch ich weiß, daß er erst sechsundzwanzig Jahre alt ist. In der Armee hat er nicht gedient - er hat schlechte Augen, Plattfüße und irgendwas mit der Leber.

Er setzt sich seitlich auf einen Stuhl und zieht eine zerdrückte Schachtel »Belomor« hervor. Seine Hände zittern leicht. »Sie gestatten doch?« fragt er höflich. Nachdem er die Erlaubnis erhalten hat, zündet er sich gierig eine Zigarette an.

»Haben Sie Ihren Vater geliebt?« frage ich unvermittelt.

»Ich ihn ja, aber er mich nicht«, sagt Oleg und kichert. »Weshalb hätte er mich auch lieben sollen? Bin ja bloß Ausschuß geworden, ha, ha, ha!«

Seine schuppenübersäten Schultern beben vor Lachen, die Augen hinter den Brillengläsern werden feucht, doch das schmale unrasierte Gesichtchen wirkt irgendwie traurig.

»Und Ihre Schwester?« frage ich. »Wie stehen Sie zu ihr?«

»Zu Inna? Sie war immer gewaltig. Fünfmal so wuchtig wie ich. Sie hat das Gewicht abbekommen, ich die Fröhlichkeit. Sie ist der reinste Griesgram. Wie soll man solch einen Dickwanst lieben, urteilen Sie selbst! So was ist doch furchtbar. Man muß so leicht und frei leben, wie man atmet. Habe ich recht?«

»Völlig«, sage ich. »Aber weshalb haben Sie dann gegen Inna Borissowna prozessiert? Konnten Sie das Erbe Ihres Vaters nicht gütlich und gerecht teilen?«

»Du lieber Himmel!« ruft Oleg märtyrerhaft aus, und seine Augen werden wieder feucht. »Das ist doch Galja gewesen. Wie eine Bohrmaschine. Kennen Sie solche Frauen? S-s-s... Davor gibt's keine Rettung. Tag und Nacht. Ich wäre am liebsten weggelaufen. Aber wohin? Mich wieder scheiden lassen? Ich hatte es satt. Nun, da hab ich eben Inna verklagt. Meine Klageschrift trug Galja selbst zum Gericht. Die Kumpel meinten, ich hätte es richtig gemacht.«

»Welche Kumpel?«

»Du lieber Himmel, alle möglichen Freunde. Freunde hab ich wie Sand am Meer. Ich bin nämlich ein schlichter Mensch. Und ich trinke gern einen. Und es gibt viele, die gern mit mir trinken. Und wer trinkt heutzutage nicht gern? Das ist doch eine wahre Freude. Du schenkst ein, sagst etwas Gutes, Herzliches.«

»Warten Sie, Oleg.« Unwillkürlich lächle ich. »Nennen Sie mir lieber Ihre Freunde, zunächst die vertrautesten, mit denen Sie sich am meisten treffen.«

»Meine Freunde?« antwortet Oleg munter. »Die Freunde, die ich habe, sind wie Pusteblumen auf dem Feld. Sobald du pustest, sind sie weg, wahrhaftig. Ich staune selber manchmal. Aber in der Natur gibt's keine Leere. Es finden sich neue.«

»Nennen Sie wenigstens die, die noch nicht weggeflogen sind.«

»Meinetwegen!« sagt Oleg bereitwillig. »Ich weiß nur nicht, mit wem ich anfangen soll. Mit denen aus dem Haus, mit denen von der Arbeit oder mit den zufälligen?«

»Mit denen aus dem Haus«, schlage ich vor, denn ich weiß, daß Scherschen als Techniker der Wohnungsverwaltung für das Haus zuständig war, in dem Oleg wohnt. Dort arbeitete auch Gawrilow als Schlosser.

»Meinetwegen«, wiederholt Oleg und gestikuliert heftig. »Das sind meine besten Freunde. Aber mit wem anfangen, um keinen zu beleidigen, das ist das Problem.«

»Fangen Sie doch mit Stepan an!«

»Mit Stepan?« ruft Oleg erfreut. »Der ist nicht mehr da. Wenn sie mich jetzt mal einladen, dann geht's hoch her. Doch das ist selten. Ich meine, lieber oft und nicht so üppig, aber sie machen's umgekehrt.«

»Wer ist das - sie?«

»Stepan Scherschen und Iwan Gawrilow, wissen Sie das nicht? Er hat bei uns im Haus als Schlosser gearbeitet. Ein gutherziger Mensch. Und ein vorzüglicher Meister.« Oleg klatscht in die Hände. »Ein richtiger Könner. Einen Wasserhahn oder einen Spüler auswechseln - das sind kleine Fische für ihn. Der würde einen Floh beschlagen! Ein Künstler ist er, kein Tagelöhner, in dem steckt ein göttlicher Funke.«

»Haben Sie sich mit ihm beraten, ob Sie prozessieren sollen?«

»Wozu? Ich hab's bloß erzählt. Was Inna bliebe und was ich bekäme, wenn es gerecht zuginge. Ich habe ihnen Bild für Bild beschrieben«, sagt Oleg. »Und stellen Sie sich vor, sie haben mir aufmerksam zugehört. Die Menschen haben eben doch einen Hang zum Schönen.«

»Sie erinnern sich an alle Bilder Ihres Vaters?«

»Selbstverständlich. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Wände mit den Bildern, und ich kann sagen, wo welches hängt im Arbeitszimmer und im Eßzimmer. Und mein Herz freut sich.« Oleg seufzt. »Ich liebe die Bilder sehr, das muß ich Ihnen gestehen. Seit meiner Kindheit liebe ich sie. Solange ich zurückdenken kann. Hätte mir mein Vater erlaubt, diese Richtung einzuschlagen, dann wäre vielleicht etwas aus mir geworden. Aber er war dagegen. Medizin, sagte er, und basta. Aber die Medizin kann mir gestohlen bleiben. Ich wagte allerdings nicht, mich gegen den Vater aufzulehnen.«

»Und warum sind Sie mit diesen Freunden zur Datsche Ihres Vaters gefahren?« frage ich.

»Wie lange ist das schon her!« sagt Oleg unbekümmert und rückt zum wiederholten Male die rutschende Brille zurecht. »Das war vor einem Jahr. Im Winter wohnt ja niemand dort. Nun, wir saßen da ein, zwei Stunden. Tranken in der frischen Luft, unterhielten uns freundschaftlich.«

Ja, dieser jämmerliche Alkoholiker kann der Bande als zusätzliche Informationsquelle gedient haben. Und er selbst hat es nicht gemerkt.

»Wann haben Sie Inna zum letztenmal gesehen?«

»Bei der Gerichtsverhandlung. Offen gestanden, ich schäme mich. Die Gerichtsverhandlung werde ich Galja nie verzeihen.« Tränen treten ihm in die Augen. »Die Schande, die sie über mich gebracht hat.« Oleg seufzt und starrt bekümmert ins Leere, zusammengesunken und die Hände auf Greisenart über den Knien gefaltet.

Er tut mir leid. Und mit diesem Gefühl entlasse ich ihn, nachdem ich seinen Passierschein unterschrieben habe.

Ich rufe Kusmitsch an.

»Komm her«, sagt er kurz.

»Ist das Dämchen noch bei Ihnen?«

»Die hab ich rausgejagt.«

»Das gibt's doch nicht!« entfährt es mir unwillkürlich.

Ich weiß, wie galant Kusmitsch Frauen gegenüber ist, sogar solchen, die ein schändliches Verbrechen begangen haben und vor Wut unflätig schimpfen. Er bleibt immer korrekt, und er hat auch uns gelehrt, in jeder Frau vor allem die Frau zu sehen, die Achtung und Schutz verdient. Oft wirkt das so, daß sich die Frauen unserem Verhalten anpassen.

»Ich hab sie natürlich nicht direkt rausgejagt«, antwortet er finster. »Dieses Wort drückt mehr den Wunsch als die Tat aus.«

»Hat sie etwas Interessantes mitgeteilt?« frage ich, als ich bei Kusmitsch sitze.

»Dazu ist sie gar nicht in der Lage. Von der Sache weiß sie nichts. Sie lebt wie ein wildes Tier. Für sie sind alle Menschen Feinde und Schurken. Auf den Mann schimpft sie, auf dessen Schwester, nicht einmal den toten Brjuchanow hat sie verschont. Und auf die Diebe schimpft sie, nebenbei bemerkt, auch. Buchstäblich auf alle. Kurzum, ich hab sie hinauskomplimentiert. Wie war's bei dir?«

»Er hat bestätigt, daß er die beiden kennt, daß er mit ihnen befreundet ist, daß er ihnen von der Wohnung seines Vaters erzählt hat, daß er mit ihnen im vorigen Winter in der Datsche gewesen ist, wo sie gepichelt haben. Aber mit dem Diebstahl hat er nichts zu tun. Die Hauptinformation hat offenbar Semanski geliefert.«

»Und was macht er selbst für einen Eindruck?«

»Ein keineswegs dummer, gutmütiger, schwacher Mensch. Er hat sich dem Trunk ergeben und die letzte Willenskraft verloren. Er tut mir leid.«

»Kann man ihm nicht helfen?«

»Schwer«, sage ich. »Bei der Frau...«

»Wie alt ist er?«

»Sechsundzwanzig.«

»Wie wäre, es mit einer Entziehungskur?«

»Er müßte entsprechend vorbereitet werden, damit er es selbst wünscht. Er liebt sehr die Malerei. Aber der Vater wollte unbedingt einen Mediziner aus ihm machen.«

»Tja. Man muß den Jungen kurieren und in ein neues Gleis bringen«, sagt Kusmitsch. »Fahr mal zu ihm ins Institut. Da sind doch Mediziner, die müßten das verstehen. Sprich auch im Parteibüro vor. Im Gedenken an den Vater sollen sie ihm helfen. So geht das doch nicht.«

Auf dem Tisch klingelt ein Telefon. Er nimmt den Hörer ab. »Zwetkow... Ach, du bist es. Gut, ich warte. Er ist bei mir. Schön.« Kusmitsch legt auf und teilt mit: »Denissow. Er ruft vom Bahnhof an. Er bringt Neuigkeiten. Du möchtest bitte auch auf ihn warten. Und noch etwas: Aus Jushnomorsk ist Material eingetroffen. Befassen wir uns einstweilen damit.«

Er steht auf, geht zum Safe und nimmt eine dicke Mappe heraus. Nachdem er wieder Platz genommen und sich die Brille aufgesetzt hat, beginnt er zu blättern. »Hier«, er zieht ein paar zusammengeheftete Bogen heraus. »Die Antwort auf unsere Anfrage. Ja. Einen Lew Ignatjewitsch haben sie nicht aufgestöbert. Entweder ist das ein erfundener Name, oder der Mann ist nie in ihr Blickfeld geraten. Wahrscheinlich trifft das erste zu. Was meinst du?«

»Vielleicht haben sie schlecht gesucht«, sage ich ärgerlich.

»Auch das ist möglich«, stimmt Kusmitsch zu. »Wir schicken ihnen auf alle Fälle ein Foto von Pawel Alexejewitsch, sobald du dich mit ihm getroffen hast. Er soll dich doch heute anrufen, nicht wahr?«

»Ja. Gegen Abend.«

»Vereinbare ein Treffen mit ihm, gib der Verlockung nach.«

»Soll ich nicht feilschen?« frage ich lächelnd.

»Versuch erst mal, dich mit ihm zu treffen. Das ist die Hauptsache. Und dann. Dann laß die Frage offen. Gewinne ihn für dich, sprich mit ihm ab, wie ihr in Verbindung bleiben wollt. Und achte auf jede Anspielung, jeden falschen Zungenschlag. Laß durchblicken, daß von dir viel abhängt. Treib den Preis in die Höhe.«

»Klar, Fjodor Kusmitsch.«

»Nun unsere zweite Anfrage, Jermakow betreffend.« Er überfliegt ein anderes Blatt und tippt mit dem Finger darauf. »Da. Sie schreiben, daß sie drei passende Jermakows haben. Alle auf der OBChSS-Linie. Der eine ist Direktor eines Obst- und Gemüselagers, der zweite Jermakow, er ist Invalide; hat eine Verkaufsstelle auf dem Markt, und der dritte ist Direktor eines Konfektionsladens, eines führenden Betriebes, wie sie schreiben. Also das ist diese Dreieinigkeit. Der erste Jermakow bietet ihrer Meinung nach die besten Perspektiven für uns.«

»Perspektiven bieten sie alle«, sage ich lächelnd.

»Jedenfalls ist eine spezielle Untersuchung erforderlich. Merkst du etwas?«

»Ich merke. Wahrscheinlich soll ich hinfahren.«

»Eben, eben. Im Sommer wäre es natürlich angenehmer«, sagt Kusmitsch schmunzelnd. »Aber das läßt sich nicht immer so einrichten.«

»Auf die Weintraubenzeit bin ich nicht versessen.«

Da wird an die Tür geklopft, und Valja Denissow kommt herein.

»Na endlich!« sagt Kusmitsch ungeduldig und nimmt die Brille ab. »Erzähle, was ist los?«

»Etwas sehr Betrübliches«, sagt Valja ernst. »Ljocha ist tot.«

»Was?!« rufe ich aus. »Tot?«

»Der Schurke wußte, daß er sich schnellstens aus dem Staub machen mußte. Deshalb verließ er in Orscha den Zug. Per Anhalter fuhr er dann bis Mogiljow, das sind ungefähr achtzig Kilometer. Und erst dort ist er wieder in einen Zug gestiegen. Richtung Kiew. Anscheinend zog es ihn doch heim. Und im Zug, er saß im ersten Wagen, kam seine Ganovennatur wieder zum Durchbruch. In der Nacht, schon in Tschernigow, schnappte er sich einen fremden Koffer und türmte. Jemand bemerkte das und stürzte ihm nach. Ja, und auf dem Bahnhofsvorplatz geriet er unter den einzigen Lastwagen, der um diese Stunde dort vorbeifuhr.«

»Hatte er irgendwelche Papiere bei sich?« fragt Kusmitsch.

»Nein. Aber die Kennzeichen stimmen haargenau überein. Ich habe mit einem Genossen in Tschernigow gesprochen. Er ist im Leichenschauhaus gewesen.«

»Ja«, sage ich und hole tief Luft. »Ljocha ist also gestorben. Noch bevor er menschlich gelebt hat. Schade.«

»Wie er gelebt hat, so ist er auch verreckt«, sagt Valja angewidert. »Aber besser er als von seiner Hand ein anderer.«

»Ein anderer ist ja schon von seiner Hand umgekommen.«

»Eben. Wenn er auch geweint hat, aber eine gewisse Schwelle hatte er schon überschritten«, fährt Valja in feindseligem Ton fort. »Es hätte ihm nichts mehr ausgemacht, ein zweites Mal zu töten. Nach diesem Mord war er noch gefährlicher geworden.«

»Überlege mal«, füge ich hinzu. »In so einer Situation riskiert er einen Diebstahl. Da muß er doch völlig den Verstand verloren haben! Hatte er kein Geld mehr bei sich?«

»Was hatte er überhaupt bei sich, hast du dich erkundigt?« fragt Kusmitsch.

»Belangloses Zeug«, Valja winkt ab. »Irgendwelche Schlüssel, ein Taschenmesser, einen Kamm, ein Taschentuch, ein Portemonnaie mit drei Rubeln und etwas Kleingeld.«

»Das kann nicht sein!« erkläre ich entschieden. »Er hat Geld gehabt. Mir selbst hat er dreihundert Rubel gezeigt. Die hat man ihm bestimmt im Leichenschauhaus abgenommen.«

Valja zuckt die Schultern. »Wer weiß.« Und spöttisch fügt er hinzu: »Zwei mit Kartoffeln gefüllte Pasteten hatte er noch bei sich. Die hatte er in Mogiljow am Büfett gekauft.«

»Keine Notizen, keine Briefe?« fragt Kusmitsch.

»Nichts.«

»Sie sollen uns das Protokoll schicken. Und seine sämtlichen Sachen. Teile das Tschernigow mit«, sagt Kusmitsch zu Valja. »Wir werden hier alles selbst untersuchen. Und ein Foto sollen sie auch schicken...« Er seufzt. »Dumm ist er gestorben, häßlich.«

»Seine Mutter wartet auf ihn und irgendeine Sina«, füge ich hinzu. »Und außerdem kann ich nicht vergessen, daß seine Hand trotz allem gezittert hat, als er mir von hinten einen Schlag versetzte. Nun kann er Pest in keinem Punkt überführen. Pest wird alles auf ihn schieben, sobald er erfährt, daß Ljocha nicht mehr lebt. Pest hat Glück.«

»Die beiden Moskauer werden ihn überführen«, sagt Valja und wendet sich an Kusmitsch: »Wann werden wir sie festnehmen, Fjodor Kusmitsch?«

»Sie werden bestimmt zur Datsche fahren«, antwortet der zerstreut, offenbar denkt er an etwas anderes, »wo wir auf sie warten. Sollen sie herausholen, was sie dort versteckt haben.«

»Wir wollen sie auf frischer Tat ertappen?« präzisiert Valja.

»Genau«, erwidert Kusmitsch ungeduldig und sagt zu mir: »Wenn du in Jushnomorsk bist, besuch seine Mutter und seine Schwester. Vielleicht läßt sich dort der eine oder andere blicken, der uns interessiert. Und außerdem mußt du feststellen, welche Verbindungen er dort hatte. Denn seine Verbindungen sind in den meisten Fällen auch Sowkos Verbindungen. Halt also die Ohren steif, Fehler können wir uns nicht leisten. Nun, vor deiner Abreise reden wir noch darüber.«

»Wann soll ich fahren, Fjodor Kusmitsch?«

»Zuerst mußt du dich mit diesem Pawel Alexejewitsch treffen, damit wir uns an ihn heften können. Dann kannst du fahren. Alles Weitere schaffen wir ohne dich.«

»Und wenn kein Treffen zustande kommt?«

»Wir werden sehen. Je nachdem. Orakeln wollen wir nicht.«

Die zweite Tageshälfte ist bereits angebrochen, darum halte ich mich in meinem Zimmer auf und warte auf Pawel Alexejewitschs Anruf. Das ist jetzt die wichtigste Aufgabe - diesen geheimnisvollen Typ auszumachen und zu ermitteln, wer er ist und mit wem er Kontakt hat.

Ich nutze die Pause, um allerlei schriftliche Arbeiten zu erledigen. Über Haustelefon kläre ich einige unaufschiebbare Fragen. Das Stadttelefon benutze ich nicht. Es wird bereits kontrolliert, und wer mich jetzt auch anruft, sein Apparat wird sofort festgestellt. Hier ist alles von operativem Interesse, selbst wenn der Anruf aus einer öffentlichen Telefonzelle kommt.

Während ich schreibe, kehren meine Gedanken immer wieder zu Ljocha zurück. Tatsächlich - wie er lebte, so ist er gestorben. Erfreuliches hatte er jedenfalls nicht zu erwarten. Er hätte sich für Beteiligung an einem Mord und für einen schweren Einbruchsdiebstahl verantworten müssen. Und wenn man berücksichtigt, daß er schon drei Vorstrafen hatte, so hätten diese Sina und seine Mutter eine halbe Ewigkeit auf ihn warten können. Und wer weiß, wie er sich dann in der Freiheit entwickelt hätte. Eine lange Haft birgt Gefahren. Wir haben das schon oft bemerkt - Familien- und positive Freundesbande zerreißen, statt dessen bilden sich negative, gefährliche Freundschaften heraus, die sich nach den langen Jahren gemeinsamer Haft als sehr beständig erweisen. Ljocha wäre sicherlich in eine Strafkolonie mit verschärften Bedingungen eingewiesen worden, und man muß viel Entschlossenheit und Seelenstärke besitzen, um dort den negativen Einflüssen zu widerstehen. Meine Gedanken werden vom Klingeln des Telefons unterbrochen.

»Vitali Semjonowitsch?« höre ich die bekannte knarrende Stimme. »Meine Verehrung. Hier spricht Pawel Alexejewitsch. Ich rufe an, wie wir es vereinbart hatten, erinnern Sie sich?«

»Selbstverständlich erinnere ich mich«, sage ich so freundlich wie möglich. »Wir müssen uns noch einmal treffen.«

»Nein, das ist nicht nötig«, entgegnet er sanft. »Vorläufig jedenfalls nicht. Ihr Einverständnis werden wir an Ihren Handlungen erkennen. Und dann werden wir unverzüglich reagieren. Da können Sie ganz beruhigt sein.«

»Hm... Da wäre noch einiges festzulegen«, sage ich zweifelnd und bemühe mich, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen.

»Das einzige, was Sie, wie ich denke, festgelegt haben möchten«, entgegnet Pawel Alexejewitsch, »wird so entschieden, wie Sie es sich nicht erträumen. Aber einstweilen sehen wir nicht, daß Sie uns entgegenkommen. Berücksichtigen Sie das. Wir werden aufmerksam beobachten. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich bin in Eile. In ungefähr zwei Wochen rufe ich Sie wieder an.«

Kurzes Tuten ertönt im Hörer. Langsam lege ich auf. Sogleich klingelt das Telefon erneut. Mir wird gemeldet, daß der Anruf von einer Telefonzelle am zentralen Telegrafenamt kam. Das war zu erwarten gewesen. Ja, der rätselhafte Pawel Alexejewitsch ist mir entschlüpft.

Wieder keine sehr angenehme Dienstreise

Mein Flugzeug startet mittags, am Morgen gehe ich noch zur Arbeit. Ich muß mit Valja Denissow sprechen. Während ich gestern auf Pawel Alexejewitschs Anruf wartete, war er in Kuprejtschiks Fabrik. Er hat festgestellt, daß Kuprejtschik als Leiter der Versorgungsabteilung dort gut angeschrieben ist. Aber vor allem hat Valja - es muß unheimlich langweilig gewesen sein - im Betriebsschutz die Bücher durchgeblättert, in denen die Besucher eingetragen werden, die einmalige Passierscheine erhalten. Der Name Semanski taucht in ihnen nicht auf. Also hat Kuprejtschik gelogen, als er von Semanskis Besuch in der Fabrik sprach. Sie haben sich auf eine andere Weise kennengelernt. Offenbar will Kuprejtschik es mir nicht erzählen. Das ist sehr seltsam und unangenehm. Was hat er zu verbergen?

In diesem Zusammenhang erhebt sich erneut die Frage, inwieweit der verehrte Kuprejtschik überhaupt glaubwürdig ist. Das ist übrigens schon der zweite Grund, der mich an seiner Aufrichtigkeit zweifeln läßt. Der erste besteht darin, daß ich ihm nach wie vor nicht glaube, wenn er behauptet, den mir bisher unbekannten Lew Ignatjewitsch und dessen Doppelgänger Pawel Alexejewitsch nicht zu kennen.

All das geht mir durch den Kopf, während ich in der riesigen Wartehalle des Flugplatzes Wnukowo auf und ab gehe. Rings um mich sind wie üblich Trubel und nie verstummendes Stimmengesumm, das plötzlich von fernem Flugzeugmotorengebrüll oder von der knisternden Stimme des Ansagers überdeckt wird, der den Start oder die Landung von Flugzeugen ankündigt.

Schließlich fordert er die Passagiere meiner Linie zum Einsteigen auf. Mit einiger Verspätung allerdings. Mein Kollege von der hiesigen Milizabteilung, der es für seine Pflicht hält, mich von Zeit zu Zeit aufzusuchen, erklärt die Verspätung damit, daß die Maschine bereits verspätet gelandet sei. Na und? Gibt's denn keine Reserveflugzeuge für solche Fälle? In der Schar der Passagiere gehe ich über die schneebedeckten Platten zu der in der Nähe stehenden Maschine. Dann finde ich in dem Gedränge meinen Platz an einem Bullauge. Ich lege den Mantel ab, verstaue meine Reisetasche im Gepäcknetz, lasse mich mit einem Packen frischer Zeitungen in den weichen Sessel sinken und ziehe die Anschnallgurte unter mir hervor.

Wir fliegen zwei bis drei Stunden über einer geschlossenen Wolkendecke, zum Schluß in der undurchdringlichen Finsternis des früh hereingebrochenen Winterabends. Zeitweise holpert die Maschine heftig, ein paarmal sackt sie in Luftlöcher, und mir wird übel. Kurzum, wir erfahren alle Reize eines Fluges im Winter. Ich fürchte sogar, daß uns unser Flugplatz nicht annimmt und zur Landung an einen anderen Ort schickt. Wie oft habe ich das erlebt, zumal im Winter, wenn das Wetter unbeständig und tückisch ist.

Doch wir bekommen Landeerlaubnis. Und schon werde ich von Dawud Mamedow umarmt. Er ist klein, hager und lebhaft. Die zottigen Brauen im schmalen, braunen Gesicht lassen ihn streng erscheinen. Aber seine Augen strahlen vor Freude. Auf dem Platz vor dem Flughafengebäude wartet ein Auto auf uns. Windig, feucht und matschig ist es hier, vom schwarzen sternenlosen Himmel fallen große nasse Schneeflocken. Ringsum ist nichts zu sehen.

Der Wagen schleicht nur. Dawud erzählt gestikulierend allerhand lustige Geschichten, die sich in der Stadt zugetragen haben. Auf diese Weise vergeht die Zeit schnell.

Im Hotel ist ein Zimmer für mich reserviert, zu meiner Überraschung erwarten uns dort drei Jungs von der Kriminalmiliz am gedeckten Tisch. Kurzum, der Rest des Abends verläuft fröhlich und angenehm.

Am Morgen gehe ich zu Dawud in die Dienststelle. Ernst und konzentriert informiert er mich über die Lage der Dinge.

Was Ljocha und Pest betrifft, so hat Dawud außer den Verwandten ein paar ihrer Verbindungen ausfindig gemacht, darunter eine zu einem jungen Mann, der Lahmer genannt wird. Dieser Lahme ist zweimal vorbestraft, durch irgendeine Verletzung hat er ein steifes Bein, und er arbeitet nun als Flickschuster in der Uferstraße. Der Lahme kennt in der Stadt all und jeden und erfreut sich nicht geringer Autorität. Übrigens hat er, Dawuds Worten zufolge, auch Feinde genug. Er ist ein kluger, verständiger, vorurteilsfreier Bursche.

»Wie heißt er, und was ist dir über ihn noch bekannt?«

»Er heißt Sergej Golubkin. Und er lebt allein, der Ärmste. Verwandte scheint er nicht zu haben. Er ist aus Nowosibirsk gekommen, schon mit steifem Bein und den beiden Vorstrafen. Solch ein Geschenk haben wir aus Sibirien gekriegt, verstehst du?«

»Ist er schon lange hier?«

»Vier Jahre.«

»Vielleicht hat er Angehörige in Nowosibirsk?«

»Unsere Genossen haben uns von dort mitgeteilt, daß seine Eltern tot sind. Das Häuschen hat er verkauft, als er das zweite Mal entlassen wurde. Und dann ist er hierher gezogen.«

»Weshalb hat er seine Heimatstadt verlassen?«

»Das weiß ich nicht, mein Lieber. Ich hab ihn nicht gefragt, und er hat keinem etwas anvertraut.«

»Hat er hier keine Frau, keine Freundin?«

»Offenbar nicht. Immerhin, das steife Bein...«

»Ja...« Ich überlege kurz, dann sage ich: »Na gut. Da müssen wir uns wohl noch was einfallen lassen. Befassen wir uns nun mit den anderen Objekten. Da ist zunächst Semanski. Er wurde in Moskau ermordet, wie du weißt. Was ist dir bekannt über ihn, abgesehen von seiner ehemaligen Direktorentätigkeit?«

»Ach, mein Lieber«, sagt Dawud ärgerlich. »Der ist nicht unser Objekt. Die Jungs aus der OBChSS haben mir das von dem Geschäft mitgeteilt, weiter nichts. Wir müssen sie fragen.«

»Dann ruf mal einen von ihnen her.«

Dawud nimmt den Telefonhörer ab und wählt eine Nummer. »Viktor?« fragt er. »Der Genosse aus Moskau ist hier, er möchte mit dir sprechen. Los, mein Lieber, bemüh dich her. Er ist bei mir.« Dawud legt auf und teilt zufrieden mit: »Er kommt gleich. Ein großer Spezialist.«

»Schön. Und über diesen Lew Ignatjewitsch hat sich bei euch nichts gefunden?«

»Über den haben wir hier nichts.«

»Also ist er entweder ein Moskauer, oder. ihr habt schlecht gesucht.« Als Antwort auf Dawuds entrüstete Gebärde füge ich hinzu: »Sei nicht beleidigt. Alles ist möglich. Du selbst hast ja nicht nach ihm geforscht. Aber er war gut bekannt mit Semanski. Und mit Pest auch.«

»Du wirst sehen, daß dieser Lew Ignatjewitsch ein Moskauer ist. Aufs Suchen verstehen wir uns, mein Lieber.«

Bei meinem Grinsen wird Dawud verlegen.

»Gut, wir prüfen das nach«, sage ich. »Und dieser Jermakow hat mit der Sache vielleicht gar nichts zu tun. Pest war in großer Wut, als er behauptete, Musa würde ihn, Pest, nicht mal Jermakow zuliebe verlassen. Nur dieses eine Mal fiel der Name Jermakow.«

»Wir haben drei Jermakows für dich ausgewählt«, sagt Dawud. »In der Stadt wohnen nämlich mehr als vierzig Jermakows, kannst du dir das vorstellen? Aber die anderen sind nicht im mindesten verdächtig.«

»Und diese drei sind es?«

»Versteh doch, mein Lieber, nicht mein Gebiet.«

In diesem Moment betritt, ohne angeklopft zu haben, ein kleiner dicker Mann das Zimmer. Zu dem beigefarbenen hochmodernen Anzug trägt er einen roten Schlips mit weißen Streifen. Glatt nach hinten gekämmte pechschwarze glänzende Haare, volles Gesicht, kleine Stupsnase, unter dünnen, wie gemalt wirkenden Brauen tiefliegende lebhafte Äuglein, dicke Lippen und straffe rote Wangen. Kurz und gut, gleich auf den ersten Blick mißfällt mir dieser Mann. Unterm Arm hält er eine Ledermappe mit großem Metallschloß.

»Hauptmann Okajomow, Viktor Iwanowitsch«, stellt er sich knapp vor. »Stellvertretender Leiter der OBChSS.«

Wir tauschen einen kurzen Händedruck Offenbar bin auch ich nicht nach seinem Geschmack.

»Mich interessiert zunächst Gwimar Iwanowitsch Semanski«, sage ich. »Er wurde vor zehn Tagen in Moskau ermordet. Wir hatten eine Anfrage an Sie gerichtet. Was ist über ihn bekannt?«

»Oh!« Okajomow zieht eine dünne Braue hoch. »Ermordet?«

»Von Ihren Kriminellen übrigens«, füge ich hinzu und wende mich an Dawud: »Es sind, wie du weißt, zwei Mörder. Nikolai Sowko, genannt Pest, und Ljocha, das heißt Leonid Krassikow. Sowko haben wir verhaftet, Krassikow ist ums Leben gekommen.«

»Ai, ai!« Dawud schüttelt den Kopf. »Wie das?«

Ich erzähle ihm kurz die Geschichte von Ljochas Tod. »Und nun interessiert mich Semanski«, sage ich zum Schluß, an Okajomow gewandt.

Er lächelt herablassend. »Dieses Objekt ist komplizierter als Ihr Ljocha. Auf unserem Gebiet muß man schon seinen Verstand anstrengen. Denn.«

Er ist ungeheuer zufrieden mit sich und schickt sich augenscheinlich an, uns eine erbauliche Lektion zu halten.

»Strengen Sie bitte Ihren Verstand in bezug auf Semanski an«, sage ich sarkastisch.

»Semanski, zum Beispiel«, greift Okajomow auf, ohne im mindesten auf meinen Ton zu reagieren. »Diesen Vogel hätten wir seinerzeit beinahe im Netz gehabt. Im letzten Moment entwischte er uns. Aber mir entwischt man nicht so leicht, müssen Sie wissen. Er tauchte unter, und das rettete ihn. Seine Stelle im Geschäft nahm ein neuer Mann ein. Schprinz mit Namen, Georgi Iwanowitsch, auf den passe ich erst einmal auf«, erklärt Okajomow vielsagend. »Über kurz oder lang habe ich ihn.«

»Womit hat Semanski in seinem Geschäft gehandelt?« frage ich.

»Nicht mit großen Dingen«, antwortet Okajomow geringschätzig. »Mit ganz uninteressanten Waren. Mit Kitteln, zum Beispiel, Kombinationen, Flauschdecken für Wohnheime und Gummistiefeln. Keinerlei Mangelware. Und alles geht bargeldlos an Betriebe.«

»Wie manipulieren sie denn da?«

»Elementar. Warenlose Operationen. Nehmen wir mal an, Schprinz steht mit einer Fabrik nichtalkoholischer Getränke in Kontakt. Dort ist ein gewisser Wlachow Leiter der Versorgungsabteilung. Sie haben also eine Abmachung getroffen. Wlachow übergibt dem Geschäft eine Vollmacht, die ihn zum Erwerb von Waren für die Fabrik berechtigt, zum Beispiel von Wäsche und Decken. Natürlich stellt er sich diese Vollmacht selbst aus, die notwendigen Unterschriften fälscht er. Dann bestätigt er auf den Frachtbriefen den angeblichen Empfang dieser Waren durch seine Unterschrift. Das Geschäft richtet ganz offiziell eine Zahlungsforderung an die Staatsbank, und die Fabrik überweist ihm das Geld im Verrechnungsverkehr. So wird die unterschlagene Ware bezahlt. Völlig elementar!«

»So eine Unverschämtheit!« sage ich. »Und damit hat sich Semanski befaßt?«

»Selbstverständlich. Damit befassen sich alle.« Okajomow lächelt schlau.

Ich denke an Kuprejtschik. Er ist Leiter einer Versorgungsabteilung. Sollte auch er sich mit solchen Manipulationen beschäftigen?

»Wissen Sie, was Semanski trieb, nachdem er aus dem Geschäft ausgeschieden war?« frage ich.

»Er ist uns nicht mehr unter die Augen gekommen.« Okajomow zuckt die Schultern, schnipst mit einem seltsamen Feuerzeug und zündet sich eine Zigarette an. Dann erklärt er herablassend: »Er hat sich die Taschen vollgestopft und ist untergetaucht. Um die Nerven zu kurieren. Elementar.«

»Wie konnte er sich die Taschen vollstopfen, wenn er sich bloß mit Kleinkram abgegeben hat?«

»Man muß es eben verstehen«, bemerkt Okajomow nebelhaft.

Weiter hat er nichts zu sagen. Von irgendwelchen anderen Geschäften Semanskis weiß er offenbar nichts. Aber solche Geschäfte muß er gemacht haben, weshalb wäre er sonst nach Moskau gekommen?

»Also ist er aus Ihrem Gesichtskreis verschwunden und bei uns aufgetaucht«, sage ich lächelnd. »Hat einen Tip gegeben, die Wohnung eines verstorbenen Akademiemitgliedes betreffend. Und sie wurde ausgeplündert. Ziemlich qualifiziert. Bilder, Antiquitäten.«

»Und weshalb wurde er umgebracht?« fragt Okajomow in demselben herablassenden Ton. »Sind Sie darüber informiert?« Er läßt sich auf einer Ecke des Tisches nieder, an dem Dawud sitzt, und raucht, den kleinen Finger elegant abgespreizt, seine lange Zigarette.

»Wahrscheinlich hatten sie irgend etwas nicht geteilt«, antworte ich.

Okajomow grinst. »Da hatte er sich also mit Grobianen eingelassen. Elementar!«

»Hatten Sie in Ihrer Praxis schon solche Fälle?« frage ich.

»Eigentlich nicht.«

»Ich ja«, sage ich seufzend. »Mit Ihrem Kontingent übrigens... Hatte Semanski Familie?«

»Er wohnte mit seiner Schwester zusammen. Sie haben hier ein großes Haus. Im Sommer nehmen sie Urlauber auf. Die lassen sich keinen Verdienst entgehen.«

»Ja.« Ich nicke. »Bekannte aus Moskau logierten bei ihnen. Die Schwester eines Malers.«

»Richtig. Er interessierte sich für dessen Kleckserei«, bestätigt Okajomow.

»Nun gut«, sage ich. »Gehen wir zu den Jermakows über. Welchen von den dreien haben Sie aufs Korn genommen?«

»Die haben alle Dreck am Stecken, man braucht sie sich bloß mal näher anzusehen. Elementar!« antwortet Okajomow spöttisch und wippt mit einem Bein.

»Aber wir benötigen bloß einen.« Ich berichte, unter welchen Umständen wir auf den Namen gestoßen sind. Dawud kennt die Geschichte bereits, hört jedoch auch beim zweiten Mal aufmerksam zu, die dichten Brauen gekraust. Okajomow allerdings demonstriert mit seiner Miene spöttische Herablassung. Es ist, als sagte er: Ach, was sind Ihre Bagatellsachen schon im Vergleich zu meinen höchst wichtigen Fällen! Eine hundsgemeine dumme Manier.

Als ich mit meiner Erzählung fertig bin, bemerkt Okajomow lächelnd: »Bei einem ernsthaften Geschäftemacher könnten Ihre Klienten nur als Laufburschen fungieren, als Handlanger. Elementar!

Solche unbedeutenden Verbindungen fixieren wir mitunter gar nicht.«

»Sie denken dabei auch an die drei Jermakows?« Ich bemühe mich, seinen unangenehmen Ton zu ignorieren.

»Unter anderem.«

»Also läßt sich nicht feststellen, an welchen von ihnen Pest dachte?«

»Genau«, bestätigt Okajomow.

»Würden Sie mir eine Charakteristik der drei geben?«

»Einiges kann ich mitteilen.« Okajomow legt sich die Mappe aufs Knie, läßt das Schloß aufschnappen und nimmt zusammengeheftete Blätter heraus. Dann legt er die Mappe neben sich auf den Tisch, auf dessen Ecke er immer noch sitzt, überfliegt die Blätter und sagt: »Ja. Also der erste Jermakow. Geli Stanislawowitsch. Direktor eines Konfektionsgeschäfts, das drei Filialen hat - auf dem Markt, am Bahnhof und an der Uferstraße. Die Filiale auf dem Markt betreibt der zweite Jermakow, Wassili Prokofjewitsch. Sie sind Vettern. Elementar, nicht?«

»Möglich.«

»Was ist möglich?« fragt Okajomow.

»Daß das elementar ist«, erkläre ich.

Die Ironie meiner Worte geht ihm nicht auf.

»Nun, und der dritte Jermakow«, fährt Okajomow nach einem Blick in die Papiere fort, »ist Iwan Spiridonowitsch, Direktor des Obst- und Gemüselagers. Ebenfalls ein Gauner. Da haben wir gewichtige Signale. Somit entsteht ein Gemälde wie von Aiwasowski. Wasser weit und breit.« Okajomow legt die Blätter ordentlich in die Mappe und läßt das Metallschloß klicken.

»Und haben Sie auch Signale, die die Vettern Jermakow betreffen?« frage ich.

»Direkte Signale selbstverständlich nicht«, antwortet Okajomow ausweichend, woraus ich schließe, daß er überhaupt keine hat.

Damit endet unsere erste Besprechung, ich danke Okajomow, und er geht mit einer Miene hinaus, als hätte er uns, ohne Dank zu fordern, unermeßlich reich gemacht. Ach, ein leichtes Leben haben die Überheblichen! Weil sie von ihren Fähigkeiten derart überzeugt sind, zwingen sie mitunter auch den M enschen ihrer Umg ebu ng d iese Überzeug ung au f, und so machen sie Karriere. Da sei Gott vor, daß so einer wie Okajomow aufsteigt.

Nach dem Mittagessen gehe ich mit Dawud in die Stadt. »Zeig mir die Topographie«, sage ich zu ihm, »und nach Möglichkeit alle handelnden Personen. Einschließlich des Lahmen.«

Es herrscht feuchtes, warmes Wetter. Der Schnee ist in der Nacht weggeschmolzen, unter den Füßen haben wir Schlamm, fächerartig spritzt er unter den Rädern der Autos hervor, und die spärlichen Passanten müssen beiseite springen. Der schwere graue Himmel scheint dicht über unseren Köpfen zu hängen und die niedrigen Häuser zu Boden zu drücken. Vom Meer, das von hier aus nicht zu sehen ist, weht kalter Wind. Der Kurort hat zu dieser Jahreszeit nichts Anziehendes. Wir gehen eine der zentralen Straßen entlang. Die hellen Häuser wirken düster und unzufrieden. Hier sind zahlreiche Geschäfte, Cafes, Kioske, Imbißstuben, Modeateliers, wahrscheinlich mehr als in einer normalen Stadt. Viele Cafes und Imbißstuben sind geschlossen.

Dawud deutet auf die andere Straßenseite, und ich bemerke ein großes Aushängeschild mit der Aufschrift »Konfektion«. Die Schaufenster darunter sind geschmackvoll dekoriert. Das Warenangebot in dem Geschäft scheint nicht schlecht zu sein.

»Gehn wir rein?« fragt Dawud.

Wir überqueren die Straße.

Der Laden ist geräumig und fast leer. Die wenigen Käufer verlieren sich zwischen den Verkaufstischen. Die sympathischen jungen Verkäuferinnen in eleganten dunkelgrauen Kleidern mit roten Manschetten und Gürteln sind keineswegs mit eigenen Angelegenheiten und Plaudereien beschäftigt, sondern lächeln Dawud und mich an und scheinen geradezu davon zu träumen, uns zu bedienen. Eine erstaunlich ungewohnte und angenehme Empfind ung. Ein mustergültiges Geschäft, alles, was recht ist.

Wir schauen uns die Anzüge an. Nachdem wir unsere Ansichten über einige Modelle ausgetauscht haben, schlend ern wir in die Abteilung für Oberhemden, Wäsche und »Zubehör«.

»Was meinst du«, frage ich Dawud leise, »würden wir den Direktor erkennen, wenn er hier plötzlich hereinkäme?«

Dawud zuckt die Schultern.

Indessen ist hinter einem Ladentisch ein fülliger grauhaariger Mann mit rotem Gesicht und buschigem Schnurrbart erschienen, eine stattliche, repräsentative Gestalt. Streng spricht er mit einer Verkäuferin.

»Sie haben aber einen bärbeißigen Direktor!« sage ich zu der Verkäuferin, die neben uns steht.

Sie schüttelt den Kopf. »Das ist nicht der Direktor, sondern sein Stellvertreter. Unser Direktor ist jung und höflich.«

»Das ist ein bißchen wenig für einen Direktor -höflich zu sein.«

»Oh, wo denken Sie hin! Er hat außerdem Unternehmungsgeist und Erfahrung. Er hat ein Institut in Moskau absolviert. Und unser Geschäft ist das beste in der Stadt.«

Doch wir bekommen diesen bemerkenswerten Direktor nicht zu Gesicht. Selbstverständlich ist er jung, kein älterer Mann heißt Geli.

Dawud und ich verlassen den Laden, wandern eine Zeitlang durch Straßen und enge Gassen und erreichen schließlich einen großen leeren Platz. Weit hinten sehe ich einen langen Zaun mit einem weit offenen hohen Tor, über dem ein großes Schild befestigt ist: »Kolchosmarkt«. Am Tor wird etwas verkauft. Abseits stehen ein paar PKW und LKW, schlammbespritzt, daneben zwei oder drei Fuhrwerke mit traurigen Pferden.

Wir gehen durch das Tor und geraten zwischen lange Reihen von Verkaufsständen mit Holzüberdachungen. Zu dieser späten Stunde sind nur wenig Verkäufer und Käufer da. Obendrein ist der Winter nicht die rechte Zeit für ein schwunghaftes Marktleben. Auf einem bescheidenen Aushängeschild lese ich: »Konfektion« und in kleinerer Schrift darunter »Filiale von Nr. 17«. In dem kleinen Schaufenster steht eine Puppe mit zerknautschtem Anzug, Hut und buntem Schlips, am unnatürlich gebogenen Arm hängt sogar ein Spazierstock, Schuhe hat sie nicht an, demonstriert werden nur Strümpfe. Zu Füßen der Puppe liegen Männerhemden, Frauenblusen und allerlei Trikotagen.

In dem winzigen Laden drängen sich Käufer. Man kann also hineingehen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zuerst trete ich ein, dann folgt Dawud.

Und da bemerke ich, daß der hinter dem Ladentisch stehende kräftig gebaute schnurrbärtige Mann mit dem glattrasierten Kopf dem eintretenden Dawud einen fragenden, beunruhigten Blick zuwirft. Das ist zweifellos Jermakow. Ein recht stattlicher Invalide! Offensichtlich kennt er Dawud. Und deshalb mische ich mich, als hätte ich nichts mit ihm zu tun, unter die Käufer. Dawud wird seiner Überraschung sofort Herr, tritt zu Jermakow und gibt ihm die Hand. Jermakow ist einen Kopf größer als er und dreimal breiter. Sein kahler runder Kopf mit den abstehenden Ohren neigt sich vor Dawud über den Ladentisch. Sein Gesicht sehe ich nicht, ich sehe nur den rosafarbenen glänzenden Hinterkopf. Jermakow spricht mit lauter Baßstimme. »Unsere Verehrung, Dawud Mamedowitsch«, sagt er servil. »Ich freue mich, freue mich von Herzen, daß Sie hereingeschaut haben. Womit kann ich dienen?«

»Tja, meine Tochter hat bald Geburtstag«, erklärt Dawud zögernd, während er mit gleichgültigem Blick die Regale hinter Jermakow mustert. »Ich hab die netten Blusen im Fenster gesehen, und da dachte ich, geh mal rein, laß sie dir zeigen und berate dich dann mit deiner Frau.«

Dawud hat mir nicht gesagt, daß er mit Jermakow bekannt ist. Jermakow kennt sogar Dawuds Vor- und Vatersnamen.

»Das sind keine Blusen zum Verschenken, verehrter Dawud Mamedowitsch«, antwortet Jermakow. »In den nächsten Tagen erhalten wir neue Ware, dann werde ich Ihnen etwas beiseite legen. Kommen Sie am Sonnabend, ich bitte Sie sehr. Mit Ihrer Gattin natürlich. Wir werden das Richtige finden. Ihre Tochter wird zufrieden sein.«

Ich betrachte Jermakow, der sich inzwischen aufgerichtet hat. Im breiten groben Gesicht lauern helle Augen, Luchsaugen. Seine Bewegungen sind hastig und eckig. Er strotzt vor Kraft. Laut welcher Bestimmung gilt so einer als Invalide? Ein Kerl wie ein Schrank, und höchstens fünfundvierzig Jahre alt. Man merkt ihm an, daß er nicht nur stark, sondern auch gewitzt ist. Jetzt ist er dienstfertig und freundlich, doch wenn ihm etwas nicht paßt, haut er bestimmt mit der Faust auf den Tisch, daß der zusammenbricht. Sicherlich ist er schnell dabei, jemand etwas heimzuzahlen. Notfalls stellt er sich aber einfältig und gutmütig, freundlich und dienstfertig. Gekleidet ist er einfach, nachlässig sogar. Der aufgeknöpfte Kragen des zerknitterten Hemdes unter dem billigen Jackett gibt einen stämmigen Hals frei. Mit einem bunten Tuch wischt er sich immer wieder den rasierten Kopf und das Gesicht. Offenbar ist ihm heiß, selbst an einem so kalten Tag. Kann Pest an ihn gedacht haben? Hätte sich Schokoladen-Musa von so einem verlocken lassen? Das ist schwer vorstellbar. Nein, nein, dieser Jermakow entfällt.

»Nun, aber vielleicht brauchen Sie auch etwas für sich oder für Ihre Gattin?« fragt Jermakow mit seiner Baßstimme, zu der der servile Ton durchaus nicht passen will. »Es wäre mir ein Vergnügen, wir sind ja sozusagen Nachbarn.«

Nachbarn sind sie also, und Jermakow ist über seine Umgebung offensichtlich im Bilde.

Langsam verlasse ich den Laden, gehe ein Stück und bleibe vor der Auslage eines kleinen Geschirrladens stehen. Wenig später gesellt sich Dawud zu mir.

»Hast du das gehört?« fragt er ärgerlich. »Wir studieren sie und sie uns. Sogar meinen Vornamen kennt er! Und drängt einem gleich seine Dienste auf. Ein schwacher Mensch läßt sich damit fangen. Nun, was sagst du?«

»Mit dem, den wir brauchen, hat der keine Ähnlichkeit.«

»Du setzt deine Hoffnungen auf den jungen Direktor?«

»Nicht unbedingt. Gehen wir erst einmal zum dritten Jermakow, ins Obst- und Gemüselager«, schlage ich vor. »Dein Okajomow meint ja, der biete die meisten Perspektiven.«

»Gern. Aber bei dem können wir nicht so einfach hereinschneien, da brauchen wir einen Vorwand. Suchen wir ihn morgen auf. Ich bereite etwas vor. Jetzt aber mache ich dich mit dem Lahmen bekannt. Das ist ganz was anderes, sage ich dir.«

»Ist es ratsam, wenn ich ihn durch dich kennenlerne? Vielleicht sollte ich allein hingehen?«

»Nein, nein. Ich habe ihm geholfen, er hilft mir. Da bin ich ganz sicher.«

»Wie hast du ihm geholfen?«

»Vor einem Jahr wollten ihn vier Kerle umbringen. Weswegen, weiß ich nicht. Ich frage ihn nicht. Und er sagt es nicht. Spät am Abend überfielen sie ihn auf der Uferstraße. Tagelang hatten sie auf ihn gelauert. Das hat mir der Lahme selber erzählt. >Ein alter Kumpel wollte mit mir abrechnen<, erklärte er. Nun, die Uferstraße war leer, verstehst du. Winter, Wind, Dunkelheit. Kurz und gut, er blickte dem Tod ins Auge. Zufällig war ich zur Stelle. Ich hatte Kopfschmerzen nach der Arbeit und machte einen Abstecher zur Uferstraße. Auch mich verletzten sie mit dem Messer. Trotzdem - ich hab ihm das Leben gerettet, und sie haben sich in der Dunkelheit davongemacht, die Hunde. Verraten hat er keinen. Aber er erinnert sich genau.«

»Ist er dein Helfer geworden?«

»Nein. Ich ziehe ihn in meine Sachen nicht hinein, verstehst du. Der Bursche hat allerhand durchgemacht im Leben. Er braucht Ruhe. Wenn ich mal in der Nähe bin, gehe ich zu ihm. >Tag, Serjosha<, sage ich. >Was macht die Gesundheit?< - >Alles bestens<, antwortet er und klopft mit dem Hämmerchen. - >Gibt's Klagen?< frage ich. - >Ich huste nicht mehr<, sagt er und lächelt. Er hat so ein trauriges Lächeln, weißt du.«

»Und hat er gefährliche Verbindungen?«

»Er selbst ist nicht mehr gefährlich, dafür verbürge ich mich.«

»Wofür hat er die Vorstrafen?«

»Schlägereien. Paragraph zweihundertsechs. Aber wie und warum das alles war - ist mir unbekannt, ich habe ihn nicht gefragt und will es einstweilen auch nicht tun.«

Plaudernd erreichen wir die Uferstraße. Endlich sehe ich das Meer, das grimmige Wintermeer, das ich vorher nur einmal kurz als grauen Streifen von weitem wahrgenommen habe, als wir zum Markt gingen. Den Strand ersetzt eine schmale Kette grüner nasser Steine, so daß sich selbst bei mäßiger Brandung, wie jetzt, zottige Wellenkämme über der granitenen Brüstung der Uferstraße aufbäumen und salzige Gischt bis zu den Häusern fliegt.

Die. Uferstraße ist von nicht sehr hohen weißen Gebäuden gesäumt. In den Erdgeschossen befinden sich Geschäfte, Cafes und Restaurants. Immer wieder bemerke ich an den Türen Täfelchen mit der Aufschrift »Geschlossen«. Diese Restaurants und Cafes sind wahrscheinlich nur im Sommer geöffnet. Die wenigen Passanten beeilen sich und kneifen vor den Gischtspritzern die Augen zusammen.

Dann stehen wir vor einer kleinen Schuhmacherwerkstatt. Offenbar ist sie in einem Torweg eingerichtet. Der Bogen ist mit Brettern verkleidet, nur eine schmale Tür und ein Fensterchen sind ausgespart, in dem ein paar Herren- und Damenschuhe ausgestellt sind. Wir sind am Ziel.

Dawud öffnet die Tür, und wir treten in einen engen Raum. Eine Holzbarriere teilt ihn in zwei Teile. Hinter der Barriere sitzt auf einem niedrigen Schemel der Meister. In dem düsteren Raum erkenne ich nur mit Mühe die hagere gebeugte Gestalt mit dem unnatürlich weggespreizten Bein. Auf einer Kiste neben ihm ist Werkzeug bereitgelegt, ringsherum liegen Stiefel und Schuhe, Lederreste, stehen irgendwelche Büchsen und Schachteln. Scharfer Geruch nach Leder, Lack, Leim und Tabak schlägt mir in die Nase. Eine Lampe mit kegelförmigem Blechschirm hängt in Augenhöhe des Meisters.

Als wir uns mit den Ellenbogen auf die Barriere stützen, hebt der Schuster den Kopf. Er hat ein unrasiertes schmales blasses Gesicht mit dunklen Ringen unter den Augen, die verwegen und klug, aber ohne List oder gar Heimtücke blicken.

»Guten Tag, Serjosha«, sagt Dawud und reicht ihm über die Barriere die Hand.

Der Lahme wischt sich erst die Hand an der Schürze ab, ehe er Dawuds ergreift. »Guten Tag, Dawud.« In seiner Stimme schwingt Wärme.

»Gibt's Klagen?« fragt Dawud.

»Ich huste nicht«, antwortet der Lahme schmunzelnd.

Das ist offenbar ihr Begrüßungsritual geworden.

»Hör zu, mein Lieber«, sagt Dawud ernst. »Ich habe dich nie um etwas gebeten, stimmt's?«

»So ist es«, bestätigt der Lahme ruhig.

»Jetzt habe ich eine Bitte, eine dringende Bitte, verstehst du?«

»Schieß los.«

»Schau«, Dawud legt mir die Hand auf die Schulter. »Dies ist mein Freund. Er ist aus Moskau gekommen. Vertrau ihm wie mir, klar?«

»Klar.« Der Lahme mustert mich.

»Folgendes. Hilf ihm. Hilf ihm nach besten Kräften. Er wird dir selbst erzählen, was nötig ist. Er heißt Vitali. Also macht euch bekannt.«

Wir tauschen einen Handschlag.

Dawud schaut auf die Uhr. »Mittagspause. Ich gehe, und ihr sprecht miteinander. Um siebzehn Uhr erwarte ich dich, Vitali, ja?«

Ich nicke, Dawud winkt uns zu und verläßt uns.

Der Lahme erhebt sich mühsam von seinem Hocker und kommt, stark hinkend, hinter der Barriere hervor. »Ein ernstes Gespräch duldet keine Hast«, sagt er. »Legen wir also eine zweite Mittagspause ein. Ich habe sowieso nicht allzuviel zu tun.«

Er schiebt einen langen Riegel vor die Tür und stellt ein Täfelchen mit der Aufschrift »Mittagspause« ins Fenster. »Darf ich in meine Appartements bitten«, sagt er scherzhaft.

Er öffnet die hintere Tür, knipst Licht an, und ich folge ihm in ein geräumiges Zimmer. Unter der Lampe mit versengtem rosa Schirm steht ein wachstuchbedeckter Tisch, an der Wand lehnt ein vorsintflutliches Büfett mit Glastüren, und in der Ecke liegt auf vier Klötzen eine Kastenmatratze. Darauf sind Decken und zwei bunte Kissen am Kopfende. Neben dem Büfett hängen irgendwelche Sachen an der Wand.

»Wohnst du hier?« frage ich.

»Nur dann, wenn ich keine Lust habe, nach Hause zu gehen«, antwortet er und fügt nach kurzem Zögern hinzu: »Oder wenn's gefährlich wäre.«

»So was kommt auch vor?«

»Durchaus. Setz dich doch.«

Wir setzen uns an den Tisch.

»Hast du keine Angst, hierzubleiben?« frage ich.

»Nein. Und außerdem hab ich hier zwei Ausgänge.« Er deutet auf die schlecht beleuchtete Zimmerecke hinter sich. »Einer führt auf den Hof, der andere in den Flur des Nachbarhauses, unter die Treppe, so daß er nicht zu sehen ist. Ich komme also immer weg.«

»Sofern im Flur und auf dem Hof keiner wartet.«

»Na, da müßte schon eine ganze Kompanie anrücken«, entgegnet der Lahme grinsend. »Soviel sind's nie. Außerdem weiß keiner von diesen Ausgängen. Dir erzähl ich's, weil du Dawuds Freund bist.«

»Vertrauen gegen Vertrauen«, sage ich. »Darf man bei dir rauchen?«

»Klar. Wir sind ja nicht im Restaurant.«

»Im Restaurant darf man nicht?« frage ich erstaunt.

»In keinem einzigen. Wir sind eine Nichtraucherstadt. Nirgends darf geraucht werden. Nicht im Kino, nicht im Theater, nicht am Strand.«

»Na so was«, versetze ich. »Hätte ich das geahnt... Aber ich wäre trotzdem gekommen. Eine ernste Sache führt mich her.« Ich zünde mir eine Zigarette an. »In Moskau ist ein Mann ermordet worden. Er war aus eurer Stadt. Gwimar Iwanowitsch Semanski. Er war hier Direktor eines Geschäfts. Kanntest du ihn?«

»Nein.« Der Lahme schüttelt den Kopf.

»Ermordet haben ihn auch welche von hier«, fahre ich fort. »Pest und Ljocha. Kennst du die?«

»Die ja«, sagt der Lahme gleichmütig und langt ebenfalls nach einer Zigarette. Und ich hatte gedacht, er rauche nicht.

»Pest ist verhaftet, Ljocha tödlich verunglückt.«

»Besser wär's umgekehrt.«

»Stimmt«, sage ich. »Aber so hat es das Schicksal gewollt. Vorläufig ist unklar, weshalb sie den Mann ermordet haben. In Moskau haben sie in großem Stil eine Wohnung geplündert. Semanski scheint ihnen den Tip geliefert zu haben. Und dann, denke ich, haben sie irgend etwas nicht geteilt.«

»Und was sagt Pest?«

»Bislang gar nichts. Er redet, wenn man ihn in die Enge getrieben hat. Aber nun ist Ljocha tot. Und Pest versucht, alles auf ihn abzuwälzen. Im Moment haben wir nichts, um ihn in die Enge zu treiben. Sie haben den Mord zu zweit verübt. Aber wahrscheinlich hat ein dritter den Befehl gegeben.«

Der Lahme hört gespannt zu, die Zigarette hat er vergessen. Er duckt sich auf seinem Stuhl wie zum Sprung. Nur das weggespreizte steife Bein stört dieses Bild.

»Kennst du zufällig einen Lew Ignatjewitsch?« frage ich.

»Nein. Das ist alles nicht unsere Kragenweite. Wir haben hier andere Leutchen«, sagt er grinsend und zieht endlich an der Zigarette. »Aber da ist ein Umstand.«

»Ja?«

»Die beiden kenne ich in- und auswendig. Besonders Pest. Ich hatte einen Zwischenfall mit ihm, noch dort.« Der Lahme winkt unbestimmt mit der Hand. »Einbruchsdiebstähle haben die nie gemacht. Das war nicht ihre Spezialität. Überhaupt haben sie schon länger als ein Jahr kein Ding mehr gedreht. Aber Geld haben sie wie Heu. Nun heißt es, sie hätten sich als Gorillas verdingt.«

»Bei wem?«

»Das weiß keiner. Sie machen ein Geheimnis draus. Oder muß man sagen >machten

»Läßt sich herausbringen, bei wem sie sich verdingt hatten?«

»Es kommt auf einen Versuch an.«

»Versuch es. Du kennst doch viele hier?«

»Mehr als genug.«

»Feinde hast du dir auch gemacht?«

»Ebenfalls mehr als genug.«

»Und warum?«

»Weil unsere Ansichten auseinandergehen.« Der Lahme lächelt kaum merklich. »Die Ganovenszene kann ich nicht leiden. Und auf irgendwelche Geschäfte hab ich mich nie eingelassen. Na ja, das können sie mir nicht verzeihen. Deshalb haben sie mich aus meiner Vaterstadt rausgedrängt. Und hier ist es auch publik geworden. Dank Pest. So daß meine Beziehungen in diesem Städtchen ziemlich gemischt sind, zu dem einen so, zu dem anderen so.«

»Hast du Freunde?«

»Ohne die geht's nicht. Wir halten die Stellung.«

»Wollten sie mit dir gerade abrechnen, als Dawud dazwischenfuhr?«

»Dawud hat mir zweimal das Leben gerettet. Entweder hätten sie mir ein Messer zwischen die Rippen gejagt oder ich ihnen, so oder so wäre es aus gewesen mit mir.« Seine Augen verengen sich und gewinnen einen Ausdruck kalter Entschlossenheit. »Ich kann genausogut zustechen, ein Messer hab ich immer bei mir. Als Ausgleich für das Bein. Es ist steif, siehst du? Bei einer netten Unterhaltung haben sie es mir mit 'ner Eisenstange zerschmettert.«

»Erzähl.«

»Später. Und vergiß nicht«, warnt er mich streng. »Meinen Namen darfst du nirgends nennen. Wer weiß, wen du alles triffst.«

»Klar.«

»Komm morgen abend her. Vielleicht weiß ich dann schon was. Morgen früh muß einer bei mir aufkreuzen.«

»Schön.« Ich nicke und schaue auf die Uhr. »Es ist Zeit für mich.«

Ich stehe auf, auch der Lahme erhebt sich, und wir gehen durch die Werkstatt. An der Tür drücke ich ihm die Hand und trete auf die dunkle Straße. In der Nähe rauschen die unsichtbaren Wellen, rollen zurück und schlagen immer von neuem gegen die steinerne Brüstung. Noch ehe ich mir klar bin, in welche Richtung ich mich wenden muß, tauchen aus der Dunkelheit vier oder fünf Burschen auf und umringen mich.

»Warst du beim Lahmen?« fragt einer drohend.

»Ja«, antworte ich. »Er ist tatsächlich lahm.«

»Was wolltest du da?«

»Ihn fragen, ob er mir Schuhe macht. Aber er repariert bloß alte.«

»Du lügst, Hundesohn«, sagt ein Bursche hinter mir und lacht. »Schlauberger wie du gehn aus anderen Gründen zum Lahmen. Spuck's lieber aus, ehe wir dich mit dem Messer kitzeln. Weshalb hatte er die Tür abgeschlossen, hm? Um beim Maßnehmen nicht gestört zu werden?«

Die Burschen wiehern.

»Angeblich arbeitet er nur bis sechs«, antworte ich.

»Stimmt. Er arbeitet bis sechs«, bestätigt einer.

»Laßt es gut sein, Jungs«, sage ich gutmütig. »Ich bin den ersten Tag in der Stadt, und schon solche Gespräche.« Leider sind ihre Gesichter nicht richtig zu erkennen, aber dann sehen sie meins ebensowenig. Allenfalls können sie mich an meiner Größe wiedererkennen. Ein Kriminalist darf nicht auffallen. Doch ich.

»Zieh Leine, wenn's dein erster Tag ist! Aber komm uns nicht noch mal unter die Augen. Da schmeißen wir dich ins Meer, Hundesohn!«

Und schon hat sich die ganze Gesellschaft im Dunkel aufgelöst, als hätte es sie nie gegeben. Eine unangenehme Begegnung. Hoffentlich war's Zufall. Und wenn nicht? Dann führen sie wieder etwas im Schilde, und der Lahme muß gewarnt werden. Dieser Schuster gefällt mir. Und seine Mitteilungen sind sehr wichtig. Wahrscheinlich hatten Ljocha und Pest tatsächlich eine einträgliche Arbeit gefunden. Ich muß Genaueres darüber wissen.

In der Kriminalmiliz komme ich verspätet an. Dawud hat auf mich gewartet. Ich erzähle ihm, was der Lahme mir mitgeteilt hat, und schildere die unangenehme Begegnung in der Uferstraße. Wir beschließen, den Lahmen zu warnen. Doch er soll uns erklären, worum es hier geht. Den Rest des Abends verbringen Dawud und ich im Hotel. Wir essen zusammen Abendbrot und legen einen genauen Plan für morgen fest.

Am nächsten Morgen stellt sich heraus, daß der Plan geändert werden muß. Der dritte Jermakow, Iwan Spiridonowitsch, Direktor des Obst- und Gemüselagers, ist krank und liegt seit drei Tagen im Krankenhaus. Also müssen wir den Besuch bei ihm verschieben.

Deshalb begebe ich mich zu Ljochas Mutter und Schwester. Sie wohnen zusammen. Die Schwester, sie ist geschieden, arbeitet als Buchhalterin in dem Geschäft, wo Semanski Direktor war und jetzt ein gewisser Georgi Iwanowitsch Schprinz diesen Posten innehat. Beide Frauen, die Mutter wie die Schwester, haben kein Verlangen, Ljocha wiederzusehen. Sie wissen nichts über ihn, nichts über seine Angelegenheiten, nichts über seine Bekannten. Doch gerade das brauche ich. Vermutlich läßt sich hier nur prüfen, ob Ljocha und Semanski einander kannten, und falls das bestätigt wird - wie sie sich kennenlernten und welche Beziehungen sich zwischen ihnen entwickelten. Außerdem wäre es günstig, wenn ich von Ljochas Schwester - sie heißt Lidia Wassiljewna - etwas über Semanski selbst erfahren könnte, über seine Verbindungen und Machenschaften, von denen Okajomow gesprochen hat. In solche Machenschaften müßte eigentlich auch die Buchhalterin verwickelt sein.

All dies geht mir durch den Kopf, als ich zu der Straße unterwegs bin, wo die beiden Frauen wohnen. Schließlich stehe ich vor dem Haus mit der Nummer acht. Es ist ein zweistöckiges altes Gebäude mit offenen Galerien auf der Hofseite, von denen aus die Wohnungen zu betreten sind und wo Wäsche auf den Leinen flattert.

Im Halbdunkel steige ich die knarrende Holztreppe zur Galerie des ersten Stocks hinauf. Hier befindet sich die Wohnung der beiden Frauen. Mein Klingeln bleibt lange erfolglos. Indessen werde ich aus allen Fenstern, an denen ich vorbeigekommen bin, gemustert. Eine Unmenge neugieriger Frauen wohnt in diesem Haus.

Schließlich wird mir geöffnet. Auf der Schwelle steht eine kleine hagere Frau in warmen Hausschuhen und mit einem dunklen Tuch um die Schultern. Es ist einfach nicht zu glauben, daß sie einen so hünenhaften Sohn wie den Ljocha gehabt hat. In ihrem glatten rosigen Gesicht tränen die durch die dicken Brillengläser stark vergrößerten farblosen Augen. Das silbergraue weiche Haar ist im Nacken zu einem kleinen Knoten geschlungen.

»Guten Tag, Pelageja Jakowlewna«, sage ich und spüre, daß auch die beiden alten Frauen aus den beiden Nachbarwohnungen zuhören.

Anscheinend spürt das Pelageja Jakowlewna ebenfalls, denn sie antwortet hastig: »Guten Tag, mein Guter, komm herein, was gibt's?«

Sie hat eine schrille, ein wenig herrschsüchtig klingende Stimme, als habe sie oft geschrien und gezankt.

In dem dämmrigen Vorraum lege ich Mantel und Mütze ab und gelange in ein bescheidenes sauberes Zimmer, das Eßzimmer offenbar. Auf dem mit einer bunten Tischdecke bedeckten quadratischen Tisch in der Mitte prangt eine Vase ohne Blumen, an der einen Wand steht ein Büfett, an der anderen ein Sofa mit stark gemustertem Bezug, ein kleines Bild und ein paar gerahmte Fotos hängen darüber.

Die Alte bietet mir einen Stuhl an und läßt sich auf einem anderen nieder.

»Ihre Tochter ist wohl zur Arbeit?« frage ich.

»Lidka? Die ist krank. Nun drückt sie sich schon die vierte Stunde in der Poliklinik herum. Bei dem Andrang! Heim kommt sie kränker als sie war. Unsere Doktorin hat gekündigt. Da haben wir alle Geschenke umsonst gemacht. Nun muß man sich bei der Neuen einkratzen. Da kann man ihr Kittel schenken und sonst noch was.«

»Kittel?«

»Na Doktorkittel!« knärzt die Alte unzufrieden. »Die gibt's manchmal bei Lidka im Laden. Aber ist's denn heut mit Kitteln getan? Ich habe Lidka schon voriges Mal gesagt: >Laß dich nicht gesund schreiben. Bleib zu Haus, solang es geht.< Nein, sie ist losgerannt. Und nun hat sie sich's überlegt... Jetzt muß sie sich bei der Neuen krank machen. Ach, wenn sie doch auf einen hören wollten.« Die Alte verstummt und blickt mich unverwandt an, dann fragt sie plötzlich ärgerlich: »Und weshalb bist du gekommen, unverschämter Kerl? Was willst du?«

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Für alle Fälle senke ich schuldbewußt den Kopf und schweige. Die Alte deutet das auf ihre Weise und schimpft: »Hast du vergessen, was ich dir neulich gesagt habe? Ljocha kommt nicht hierher, klar? Seit er durch deine Schuld im Gefängnis gesessen hat, läßt er sich bei uns nicht mehr blicken. Und du Schamloser wagst mich noch anzugucken? Du hast mir den Sohn genommen, du Verderber! Seinetwegen hab ich mir die Augen rotgeweint. Und du.« Die Stimme versagt ihr.

Der Kummer der alten Frau schneidet mir ins Herz. Deshalb sage ich betont munter: »Sie verwechseln mich mit jemand, Pelageja Jakowlewna. Sollte Ihnen noch so ein langer Schlacks untergekommen sein? Das ist doch nicht möglich!«

»O Gott!« Sie winkt mit der Hand, als wünschte sie, daß ich verschwinde. »Hab ich mich geirrt? Na so ein Unglück. Aber ich sehe ja kaum etwas. Verzeih einer alten Frau. Kurzsichtig wie ich bin, hab ich dich nicht erkannt. Wer bist du eigentlich?«

»Ich bin wegen Ljocha gekommen«, antworte ich. »Ist er wirklich so ein Taugenichts.« Beinahe hätte ich gesagt >war<.

»Ist er das etwa nicht?« fragt Pelageja Jakowlewna hitzig. »Wenn er schon seit einem Jahr zurück ist, hier in der Stadt lebt, sich aber bei mir nicht blicken läßt, dann braucht er mich wohl nicht.«

»Vielleicht schämt er sich?«

»Wann hätte der sich jemals geschämt?«

»Oder hat er sich verliebt?« frage ich vorsichtig.

»Die Mutter ist für so eine Liebe kein Hindernis.«

»Er soll irgendeine Sina haben.«

»Ja, wenn er auf die gehört hätte! Ein gutes Mädchen. Arbeitet in der Fabrik für Obstsäfte. Sie ist bei mir gewesen. Wir haben zusammen geweint.«

»Was sagt sie denn?«

»Daß er sich schon zwei Wochen vor ihr versteckt. Als hätte ihn die Erde verschluckt. Sonst kam er immer zu ihr, brachte ihr allerlei teure Geschenke, Türkis-Ohrringe, einen Fingerring, ließ auch viel Geld da, sagt sie. Was ist das für Geld? frage ich. Unehrliches Geld ist das, laß dir das gesagt sein!«

»Meint das auch Sina?«

»Was soll man sonst meinen? Er hat bei Lidka im Geschäft als Transportarbeiter gearbeitet. Obwohl er acht Klassen beendet hat. Ohne diesen Missetäter war aus ihm was geworden!«

»Welcher Missetäter?«

»Na der Wodka! Von dem kommt alles Übel, alles Unglück. Überall wimmelt's von Alkoholikern, daß sie der Teufel hole. Na ja, und denen ist ein gesunder Mensch natürlich ein Dorn im Auge. Da verleiten sie ihn. Und Ljocha ist schwach in der Hinsicht. Die Fäulnis kommt von seinem toten Vater. Oh, unsere Sünden werden mit uns geboren.«

»Pelageja Jakowlewna, für wen haben Sie mich gehalten?« frage ich.

»Für Slawka. Daß er verrecke! Der ist auch so ein langer Lulatsch. Ach, dieses Ungeheuer!«

»Was macht er denn, der Slawka?«

»Slawka?« fragt Pelageja Jakowlewna irgendwie unsicher. »Mit Ljocha hat er gearbeitet, in dem Geschäft. Und dann ist auch er durch den Wodka auf Abwege geraten. Dabei war Slawka ein guter Mensch.«

Indessen klappt die Wohnungstür, im Vorraum poltert es, und gleich darauf tritt eine junge Frau ins Zimmer - schlank, hübsch, mit verwirrtem Lächeln auf den vollen Lippen und sympathischen Grübchen in den geröteten Wangen, Lidia.

»Nanu, wer ist denn das, Mama?« fragt sie eintretend und blickt mich neugierig, aber etwas verlegen an.

»Ein Besucher«, erklärt Pelageja Jakowlewna. »Er ist wegen Ljocha hier. Na, was meint die Ärztin?«

»Ach!« Lidia lächelt unbekümmert. »Sie hat mich gesund geschrieben.«

»Na bitte, Katerina Dmitrijewna hätte das nicht gemacht.«

»Schon gut, Mama.« Lidia blickt mich an. »Seid ihr fertig mit euerm Gespräch oder habe ich euch unterbrochen?«

»Fertig sind wir noch nicht, aber ich bin müde«, antwortet Pelageja Jakowlewna seufzend und wendet sich an mich: »Ich leg mich ein bißchen hin.«

»Selbstverständlich, Pelageja Jakowlewna. Ruhen Sie sich aus«, bestärke ich sie und sage zu Lidia: »Ich müßte auch mit Ihnen sprechen, Lidia Wassiljewna.«

»Woher sind Sie?« fragt Lidia streng.

»Aus Moskau«, antworte ich und reiche ihr meinen Ausweis.

Sie betrachtet ihn, blickt dann auf und fragt erstaunt: »Sie sind wegen Ljocha gekommen?«

»Nicht nur seinetwegen.«

»Gehen wir in mein Zimmer, dort stören wir Mama nicht«, schlägt sie vor und wendet sich an die Mutter: »Leg dich hin, Mama. In einer Stunde mache ich Mittag.«

Lidias Zimmer ist ebenso bescheiden und sauber wie das, in dem ich mich mit Pelageja Jakowlewna unterhalten habe. Es ist nur kleiner. Die Einrichtung besteht aus einem Kleiderschrank, einer niedrigen Liege mit bunten Kissen, über der ein bunter Teppich hängt, einem kleinen Schreibtisch am Fenster sowie einem Tischchen mit zwei Stühlen, auf die wir uns setzen. Die Titel der Bücher auf dem kleinen Regal sind mir seit meiner Kindheit vertraut. An den Wänden hängen ein Spiegel und ein paar Fotos.

»Sie sind älter als Ljocha oder jünger?« frage ich.

»Er ist dreiundzwanzig, ich bin vierundzwanzig.«

»Arbeiten Sie schon lange als Buchhalterin?«

»Bald vier Jahre, seit ich den Lehrgang beendet habe.«

»Und immer im selben Geschäft?«

»Nein. Im ersten Jahr hab ich in einem Atelier gearbeitet. Danach bin ich in das Großhandelsgeschäft übergewechselt. Hier hab ich's leichter. Bargeldloser Verkehr.«

»Haben Sie einen netten Direktor?«

»Georgi Iwanowitsch?« Lidia seufzt. »Seinetwegen werde ich dort wohl aufhören müssen. Er ist sehr zudringlich. Dabei ist seine Tochter älter als ich. Können Sie sich das vorstellen?«

»War der frühere Direktor nicht so?«

»Sie kennen Gwimar Iwanowitsch?« fragt Lidia lebhaft. »Oh, der war ein völlig anderer Mensch. Sehr kultiviert, sehr höflich. Allerdings hat er unseren Ljocha entlassen. Aber Ljocha war selbst schuld. Man darf eben nicht maßlos trinken. Ich habe ihm hundertmal gesagt: Mach eine Entziehungskur, wenn du es allein nicht schaffst. Und Sina sagt ihm das auch. Ihr verspricht er es wenigstens. Trotzdem macht er es nicht. Ich merke sogar, daß er angefangen hat, Sina zu verleiten.«

Ljocha braucht keine Entziehungskur mehr, und Sina droht keine Gefahr.

»Hören Sie, Lidia, kennen Sie unter Gwimar Iwanowitschs Bekannten einen Lew Ignatjewitsch?«

»Lew Ignatjewitsch?« fragt Lidia nachdenklich. »Wie sieht er aus, vielleicht erinnere ich mich.«

»Klein, stämmig, grauer gestutzter Schnurrbart, rotes Gesicht, Säcke unter den Augen. Schon älter.«

Während ich diese Merkmale mitteile, habe ich plötzlich das Moskauer Cafe und meinen dortigen Gesprächspartner vor Augen. Aber Kusmitsch hat natürlich recht - einen Einbruchsdiebstahl organisieren und sich andererseits über Ökonomik verbreiten, paßt nicht zusammen.

»Nein, so einen kenne ich nicht«, sagt Lidia.

»Hat Gwimar Iwanowitsch Sie nie zu irgendwelchen nicht ganz astreinen Buchführungen gezwungen?«

»Danach bin ich schon gefragt worden«, erwidert Lidia. »Und ich habe verneint. Er hat nie etwas Ungesetzliches von mir verlangt. Ich hätte das ohnehin nicht gemacht. Aber... manchmal hatte ich den Eindruck... Ihnen will ich es sagen. Es war lediglich mein Eindruck, und das bedeutet doch noch nichts, nicht wahr?«

»Selbstverständlich.«

»Nun ja. Aber denen braucht man nur etwas anzudeuten, da wollen sie gleich verhaften.«

»Aber, Lidia! Man kann nicht so einfach verhaften. Da sind Beweise vonnöten.«

»Ja, Sie wünschen Beweise. Aber die hier. Da Sie nicht von hier sind, wissen Sie das nicht. Ich dagegen hab's gesehen. Für ihn ist die Hauptsache - verhaften. Er sagte noch zu mir: Er wird dann selbst alles gestehen, wir brauchen ihn bloß ein bißchen unter Druck zu setzen. Schön, nicht?«

»Wer ist es denn?«

»Er hat mich zu sich bestellt. Den Namen hab ich vergessen. So ein Dicker, rasiert sich die Brauen.«

Lidia lächelt spöttisch, und die sympathischen Grübchen an ihren Wangen werden noch deutlicher. Doch mich packt die Wut. Ob sich Okajomow tatsächlich so aufgeführt hat?

»Das ist unzulässig«, sage ich scharf.

»Na bitte. Deshalb hab ich es ihm verschwiegen und erzähle es nun Ihnen«, sagt Lidia. »Noch unter Gwimar Iwanowitsch wurde uns von Zeit zu Zeit Kapron-Garn geliefert. Wir haben es verkauft, obwohl es dem Profil unseres Geschäfts nicht entspricht. Außerdem war es sehr teuer. Gwimar Iwanowitsch erklärte mir, er beschaffe es, um den Umsatzplan zu erfüllen. Das war natürlich völlig legal. Wir verbuchten es. Aber. Wie soll ich es Ihnen sagen. Wir haben es nie gesehen. Es ging als Transitware an den Käufer. Im Geschäft tauchte es nie auf.«

»Und wohin ging es als Transitware, zu wem?«

»An mehrere Stellen, ich kann mich nicht mehr an alle erinnern. Das letzte Mal, es ist noch nicht lange her, an unsere Trikotagenfabrik des Ministeriums für örtliche Industrie. Gleich der ganze Posten.«

»Und woher kam das Garn?«

»Aus verschiedenen Orten. Sogar aus Moskau.«

»Oho! Das ist ja der nächste Weg.«

»Das meiste aus Moskau. Jeweils acht bis zehn Tonnen. Aus anderen Orten gewöhnlich drei bis vier Tonnen.«

»Und dann haben Sie sofort den Plan erfüllt?«

»Sogar übererfüllt. Auch jetzt, unter Georgi Iwanowitsch, ist es so. Wir bekommen Prämien dafür. Bei unserem Gehalt ist das sehr wichtig. Es ist ja wie ein Spatz auf der Hand - eh man sich's versieht, ist es weg.«

»Und von Ljocha werden Sie nicht unterstützt?« Beinahe hätte ich >wurden< gesagt.

»Oh, früher wollte er mir oft Geld zustecken. Dann fragte ich ihn: >Woher hast du es?< - >Beim Kartenspiel gewonnen<, antwortete er. Nun, ich hab es nicht genommen. Es war unehrliches Geld.«

»Lidia, kennen Sie Ljochas Freund Nikolai Sowko?«

»Nikolai Sowko? Ich glaube, ich habe den Namen schon von Ljocha gehört.«

»Und Slawka?« frage ich ohne bestimmte Absicht. »Er hat mit Ljocha bei Ihnen im Geschäft als Transportarbeiter gearbeitet. Er ist so lang wie ich. Pelageja Jakowlewna hat mich zuerst mit ihm verwechselt.«

Lidia runzelt die Brauen und preßt die Lippen aufeinander. »Ja«, sagt sie. »Ich kenne ihn.«

»Arbeitet er immer noch bei Ihnen im Geschäft?«

»Meiner Ansicht nach arbeitet er nirgends. Mit allerlei Pack flaniert er auf der Uferstraße. Das ist die Arbeit dieses Dummkopfs.«

Plötzlich muß ich an die Burschen denken, die mich gestern in der abendlichen Uferstraße unverhofft umringten. Einer von ihnen hatte meine Größe. Ist das Slawka gewesen?

Lidia lächelt schwach. »Er ist tatsächlich so groß wie Sie. Allerdings ist er schwarzhaarig, während Sie blond sind. Und seine Augen sind jetzt zum Fürchten böse.«

»Sind er und Ljocha immer noch Freunde?«

»Keine Ahnung. Fragen Sie besser Sina. Mutter und ich haben Ljocha schon lange nicht gesehen. Ich werde Ihnen Sinas Telefonnummer geben. Sie ist meine Freundin. Durch mich hat Ljocha sie kennengelernt. Mutter und ich hatten so große Hoffnungen. Aber bisher ist aus einem gemeinsamen Leben der beiden nichts geworden.« Sie seufzt. Dabei hat sie selbst kein Glück gehabt. Sie ist geschieden. Wer hat sie verlassen, diese prächtige junge Frau? Oder hat sie sich von ihrem Mann getrennt? Aber sie hat ja noch alles vor sich. Vierundzwanzig Jahre ist sie erst alt. »Schreiben Sie«, sagt Lidia und diktiert mir die Telefonnummer.

Ich schreibe und bringe es nicht über mich, ihr Ljochas Tod mitzuteilen. Aber ich darf es ihr auch nicht verheimlichen.

Plötzlich sagt Lidia leise: »Slawka ist mein ehemaliger Mann.«

Ich starre sie überrascht an.

»Meinen Sie, er wäre immer so gewesen?« Lidia lächelt gequält. »Er war Meister für Fernsehapparate, in einer Werkstatt. Allerlei Freunde und Kunden verleiteten ihn zum Trinken. Niemand kam mit leeren Händen zu ihm. Niemand glaubte, daß er auch so gut arbeiten würde. Und er hatte Hände...« Sie beißt sich auf die Lippe und verstummt.

Und ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Trösten zu wollen wäre dumm, beizupflichten ebenfalls.

»Da habe ich mich von ihm getrennt.« Lidia blickt ins Leere, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Ich dachte: Wenn ich nun ein Kind kriege von dem Trinker? Ein geschädigtes, verkrüppeltes Kind. Man hat mir erzählt, daß so was passiert. Oh, wenn Sie wüßten, was ich durchgemacht habe, wie ich mir den Kopf zermartert habe. Wir weinten beide. Auch Slawka. Er versprach, sich kurieren zu lassen und dann zu mir zurückzukommen. Im April ist es zwei Jahre her. Nun brauche ich nicht mehr zu warten. Es ist zwecklos.« Lidia trocknet sich die Tränen. Ihre Gesichtszüge treten schärfer hervor, ihre Wangen sind weniger rot, und ihre Augen haben einen Ausdruck von Schmerz. »Er kommt nicht zurück, seine Kumpane sind ihm lieber. Ah, jetzt fällt es mir ein: Er hat mir von Nikolai Sowko erzählt, er war begeistert von ihm.«

»Begeistert?«

»Ja. Angeblich hat dieser Nikolai vor keinem Angst, und er macht, was er will. Aber alle anderen haben vor ihm Angst. Auch Slawka, wie er mir gestand. Nikolai soll bei der Miliz Bekannte haben. Deshalb kann er sich sicher fühlen. Und von alldem war Slawka begeistert.«

»Sie warten trotz allem noch auf ihn?« frage ich.

Lidia schaut zu Boden. »Die Frau ist immer treuer als der Mann«, sagt sie nachdenklich. »Und sie liebt stärker. Wenn ich Slawka bessern könnte, würde ich mein Blut hergeben, alles.«

»Sie sind stark, Lidia«, sage ich. »Und einen Schwachen zieht es unweigerlich zu Ihnen hin. Slawka ist so ein schwacher Mensch.«

Lidia winkt, ohne aufzusehen, müde ab. »Ich habe noch meine Mutter«, sagt sie halblaut. »Für sie brauche ich auch Kraft.«

Ich erinnere mich, daß Lidia in einer Stunde Mittag machen wollte. Es ist Zeit, daß ich gehe.

Im Vorraum verabschiede ich mich. Lidia drückt mir ein wenig verlegen die Hand. Ljochas Tod habe ich ihr nun doch nicht mitgeteilt. Sie wird es schon noch erfahren, aber nicht von mir und nicht jetzt.

»Kommen Sie ruhig wieder her, wenn Sie noch etwas wissen möchten«, sagt sie höflich.

»Und falls Sie irgendwann Hilfe brauchen«, sage ich, »rufen Sie meinen Freund an. Er ist Mitarbeiter der Kriminalmiliz Ihrer Stadt. Ich sage ihm Bescheid. Man weiß nie, was passieren kann. Er tut alles für Sie, ebenso wie für mich. Das garantiere ich Ihnen.«

»Danke«, sagt Lidia leise.

Ich schreibe ihr Dawud Mamedows Telefonnummer auf einen Zettel. Es ist gut, Freunde zu haben, für die man sich verbürgen kann.

Die Straße empfängt mich mit hellem Sonnenschein. Das erlebe ich zum erstenmal in diesen beiden Tagen. Der Himmel ist nicht mehr grau und schwer, sondern blau und wolkenlos. Weit unten, hinter den Häusern und den Bäumen sehe ich einen tiefblauen Streifen Meer. Nachdenklich gehe ich die steile Straße hinunter. Ringsum ist alles plötzlich hell und fröhlich. Die schmutzige Straße ist vergnügt, die Häuser, die eben noch düster und grämlich aussahen, blitzen mit den Fensterscheiben. Die Menschen wirken munter und fröhlich. Ich fühle mich beschwingt und möchte lächeln, obwohl ich eigentlich keinen Grund habe. Neue Verbindungen Ljochas habe ich nicht in Erfahrung gebracht, nur einen gewissen unsoliden Slawka, der mit der Sache offenbar nichts zu tun hat. Dann habe ich noch festgestellt, daß Ljocha von Semanski entlassen wurde und deshalb natürlich wütend auf ihn war. Doch deswegen bringt man keinen Menschen um. Wer hat Ljocha und Pest den Befehl gegeben, Semanski zu töten? Und weshalb wurde er getötet? Hatten sie das Diebesgut nicht geteilt? Ich zweifle immer mehr daran. Überhaupt »fügt« sich der Diebstahl nicht in die Sache, in die Beziehungen der Menschen. Und nach wie vor bleibt dieser Lew Ignatjewitsch unbekannt. Den Befehl hat höchstwahrscheinlich er gegeben. Wer ist er, wo kommt er her? Sicherlich ist er Moskauer, deshalb kennt ihn hier keiner. Keiner? Nun, wir werden sehen. Was haben mir die beiden Frauen noch mitgeteilt? Lidia hat mir von Semanskis Machenschaften erzählt. Irgendein Garn kommt aus Moskau und geht irgendwohin. Das ist schon Okajomows Ressort. Und er hat sich dafür interessiert. Allerdings ziemlich ungeschickt und tölpelhaft. Für mein Ressort gibt's nichts Neues. Ich setze meine Hoffnung auf den Lahmen. Über Pest, den es festzunageln gilt, habe ich bisher nichts erfahren. Doch - stop! Der Lahme sprach von ihm und nannte ihn seinen persönlichen Feind. Das ist wenig. Über Pest müssen wir alles wissen. Durch ihn können wir den Mord an Semanski und auch den Einbruchsdiebstahl aufdecken, obwohl wir den Diebstahl demnächst wahrscheinlich auch von einer anderen Seite klären können - mit Hilfe der beiden aus dem Moskwitsch. Der Weg zu dem geheimnisvollen Lew Ignatjewitsch führt ebenfalls über Pest. Die seltsamen Andeutungen des Typs im Cafe beunruhigen mich nicht mehr. All das habe ich in Moskau gelassen, während hier... Hier sind mir die Verbindungen Pests, des lebenden Pests, wichtig, nicht die des toten Ljocha. Sie hatten sich als Gorillas verdungen. Wen sollten sie beschützen? Mal sehen, was der Lahme heute zutage fördert. Einstweilen. Ich schaue auf die Uhr. Ich könnte Mittag essen. Mit Dawud treffe ich mich erst am Abend, er steckt bis über die Ohren in Arbeit. Nach dem Essen werde ich zu Pests Mutter gehen, bei der auch seine Frau und seine Tochter wohnen.

Der öde Platz, auf dem ich gerade bin, hat nur ein paar kümmerliche Läden und Kioske zu bieten, kein Restaurant. In der Sonne blinzelnd, schlendere ich weiter bergab, der Kurortzone der Stadt zu. Bald darauf spüre ich den Geruch des Meeres. Auf der Uferstraße bleibe ich begeistert stehen. Die grünen Wellen funkeln und spielen in der Sonne, schneeweiße Schaumkämme laufen über sie hin, die vom fernen Horizont kommen, wo Himmel und Meer zusammenstoßen, Nach einer Weile gehe ich weiter und finde schließlich eine Gaststätte, die geöffnet hat. Ich setze mich an eins der roten Plastetischchen und werfe den Mantel auf den Nachbarstuhl. Dann lese ich die zerknitterte Speisekarte. Unter anderem preist sie Rührei und irgendwelche gedünsteten Klopse an. Ich beschließe, beides zu bestellen. Das Warten beginnt. Zum Glück habe ich einiges, was ich mir durch den Kopf gehen lassen kann. In dem Haus, das ich nachher aufsuchen will, herrscht regelrechter Krieg, Pest-Koljas Mutter kämpft gegen ihre Schwiegertochter, die sich von Kolja scheiden lassen will. Ich verstehe die Schwiegertochter, an einem Mann wie Pest hat sie kaum Freude.

Nach einer Stunde verlasse ich halb satt das Lokal und biege von der Uferstraße ab. Pests Familie wohnt auf dem Gelände eines großen Sanatoriums, wo seine Frau als Köchin arbeitet.

Der Gitterzaun des Sanatoriums ist durchweg mit wildem Wein berankt. Aus dem Wächterhäuschen am großen Tor tritt, als ich mich nähere, der Wächter, ein noch nicht alter müder Mann in Mantel und Uniformmütze mit gelber Einfassung, das gedunsene Gesicht unausgeschlafen, die Augen verschwollen und böse.

Während ich an ihm vorbeigehe, sage ich lässig: »Inspektion.«

Der Wächter starrt mich verdattert an und salutiert.

Eine lange Zypressenallee führt mich zu dem großen hellen Sanatoriumsgebäude, vor einem kleineren Gebäude, dessen Fenster fast die ganze Front einnehmen, frage ich eine ältere Frau in weißem Kittel nach dem Weg. Am anderen Ende des schönen Parks finde ich dann das lange einstöckige Haus, das von der Straße jenseits des Sanatoriumszauns zugänglich ist. Ich trete in den vierten Eingang, steige in den ersten Stock hinauf und klingle an der Wohnung einunddreißig. Ich klingle ein paarmal, ehe mir von einer hageren alten Frau mit Brille geöffnet wird. Sie hat sich ein dunkles Tuch umgelegt. Stechend blickt sie mich an.

»Guten Tag, Olga Petrowna«, sage ich.

»Guten Tag, wenn du schon mal da bist«, antwortet die Alte und mustert mich mißtrauisch, bittet mich aber nicht in die Wohnung.

»Ich möchte mich mit Ihnen über Ihren Sohn unterhalten. Ich bin von der Miliz.«

»Mich geht das nichts an, was da mit ihm ist«, entgegnet die Alte feindselig. »Soll er sich selbst verantworten.«

»Das wird er auch. Aber wir müssen ihn besser kennenlernen. Und deshalb haben wir beschlossen, uns mit Ihnen zu unterhalten. Erlauben Sie?«

»Ich weiß nichts über ihn«, antwortet die Alte ärgerlich und versperrt mir nach wie vor den Eingang. »Und mit mir gibt's nichts zu reden. Ich bin krank.«

»Vielleicht ist er gar nicht Ihr Sohn?« frage ich. »Vielleicht liegt ein Fehler vor, und ich bin an die falsche Adresse geraten?«

»Mein Sohn ist er. Kann mich ja nicht von ihm lossagen. Aber seine Frau, die kann das.«

»Bestimmt tut sie es nicht grundlos.«

»Ob mit Grund oder ohne, das ist unsre Sache.«

»Völlig richtig«, sage ich. »Das ist Familiensache. Trotzdem müssen wir uns, um der Gerechtigkeit willen, über Ihren Sohn Klarheit verschaffen.«

»Von euch kann man doch keine Gerechtigkeit erwarten!«

»Offensichtlich wollen Sie gar keine.«

»Meine Sache, was ich will.«

»Nein«, entgegne ich schroff. »Koljas Sache ist das. Sie sind jetzt schlimmer als eine Fremde für ihn, während ich, wie's ausschaut, besser als die Mutter zu ihm bin.«

»Ach nein«, sagt die Alte spöttisch, »was sich da für einer gefunden hat. >Besser als die Mutter

»Zu Ihnen hereinkommen und reden.«

»Du läßt nicht locker«, sagt die Alte feindselig. »Na, komm rein, wenn's so ist.«

Sie tritt beiseite. In dem kleinen Vorraum hänge ich meinen Mantel an und folge der Alten ins Zimmer. Es ist weit besser als das eingerichtet, in dem ich am Vormittag gewesen bin. Neue Möbel, sicherlich ungarisch oder rumänisch, in den verglasten Fächern des langen Wohnzimmerschrankes Kristallvasen, ein schönes Teeservice und noch irgendwelches Geschirr, um den runden Tisch mit dem bunten Deckchen und der niedrigen breiten Vase schwere geschweifte Stühle, an der Wand ein riesiges Sofa, über dem Tisch ein großer tschechischer Kristallüster. Wohlstand herrscht in diesem Haus, als sitze das Oberhaupt der Familie, ein Bandit und Mörder, nicht schon zum dritten Mal im Gefängnis.

»Also, rede«, sagt die Alte immer noch feindselig. Steif, als hätte sie eine Elle verschluckt, hat sie sich auf die Sofakante gesetzt. Sie denkt gar nicht daran, mir einen Platz anzubieten.

Und ich sage das erste, was mir einfällt: »Kolja ist wieder hinter Gittern. Er braucht Sachen.«

»Gott wird ihm helfen...«

»Nein, nein«, entgegne ich heftig. »Er braucht Hilfe. Wenn Sie sich nicht kümmern, muß es Jermakow tun.«

»Wieso der?« fragt die Alte verwundert.

»Gerade der. Und er müßte, wenn er Gewissen hat, auch Ihnen helfen.«

»Gewissen. Das hat keiner. Hüten muß man sich vor den Menschen, Hilfe darf man von ihnen nicht erwarten. Jeder führt was im Schilde, will durch dich oder einen anderen etwas für sich herausschlagen. Ich habe Gott sei Dank genug gesehen.«

»Und diese Einstellung haben Sie Kolja beigebracht!«

»Warum nicht, wenn's doch stimmt!«

»Ein Verbrecher ist er geworden, ein Räuber, fast ein Mörder.«

Auf die Alte machen meine Worte keinen Eindruck.

»Ach was«, gleichgültig winkt sie mit der Hand. »Ob ich ihm das beibringe oder nicht, das kommt von selbst, von innen heraus.«

»Und Sie meinen, die Menschen ringsum können nichts mehr machen? Natürlich müßte man mit Mutter und Vater anfangen, aber dazu ist es zu spät.«

»Schön, schön. Behalt das alles für dich. Weshalb bist du gekommen?«

»Können Sie mir nicht doch erklären, wie Kolja auf die schiefe Bahn geraten ist?«

»Wer weiß? Ich hab ihm das Stehlen nicht beigebracht.«

»Wer dann? Seine Freunde?«

»Frag ihn doch selbst. Woher soll ich das wissen?«

»Ach, Olga Petrowna«, sage ich seufzend. »Wollen Sie denn nicht das Beste für Ihren Sohn? Möchten Sie denn nicht ein gutes Wort für ihn einlegen?«

»Frag lieber ihn, für wen er das Beste will. Die Mutter hat er an den Rand des Grabes gebracht, aus seiner Frau hat er ein altes Weib gemacht, und seine Tochter wächst ohne Vater auf. Soll er verrecken, er ist nicht mein Sohn. Ich hab ihn mir schon lange aus dem Herzen gerissen. Basta.« Sie preßt die dünnen Lippen aufeinander und wendet sich ab.

»Kennen Sie Gwimar Iwanowitsch Semanski?«

»Nein.«

»Und Lew Ignatjewitsch?«

»Auch nicht. Sollen sie alle mit ihm zusammen krepieren.«

»Kennen Sie Ljocha?«

»Ja.«

»Er ist tot.«

»Du lügst.«

»Ich sage die Wahrheit. Er ist überfahren worden. Er flüchtete mit einem gestohlenen Koffer, schaute nicht nach links und nicht nach rechts. Nun, und da geriet er unter die Räder eines Lastwagens. Er war auf der Stelle tot.«

»Gott sieht alles«, sagt Olga Petrowna gleichgültig.

»Einen Freund hat Kolja gehabt, und der ist nun tot.«

»Von der Sorte hat er viele, für all die Ungeheuer reichen die Räder nicht aus.«

»Woher wissen Sie, ob es viele oder wenig sind?«

Olga Petrowna schweigt, sie will nicht antworten, starr blickt sie an mir vorbei. Dann stößt sie zwischen den Zähnen hervor: »Gib dir keine Mühe. Keinen kenn ich. Keinen Jermakow. Von denen sind genug da.«

»Wo?«

Die Alte schweigt wieder. Nein, ich finde keinen Weg zu ihrem abgestorbenen, gefühllosen Herzen.

»Wie alt ist Ihre Enkelin?« frage ich.

»Sie wird acht.«

»Hat sie ihren Vater lieb?«

»Das ist ihre Sache.«

»Aber sie ist doch noch ein Kind!«

»Ich sage, es ist ihre Sache.«

Die Alte sitzt unverändert stocksteif auf dem Sofarand, die Hände auf den Knien gefaltet, und starrt ins Leere. Die hat Charakter!

»Ist Natalja Viktorowna zur Arbeit?« frage ich.

»Ja.«

»Wann kann ich sie sehen?«

»Laß sie in Ruhe«, stößt die Alte böse hervor. »Mach ihr um Christi willen das Leben nicht noch schwerer.« Ihr runzliges gelbliches Gesicht zeigt keine Regung.

Ich stehe auf. Es hat keinen Sinn, noch etwas zu sagen. Und wahrscheinlich hat es auch keinen Sinn, eine Begegnung mit Pest-Koljas Frau zu suchen. Ihr Groll auf Kolja ist sicherlich noch größer als der seiner Mutter. Und mit Recht. Er ist hier ein Fremder, ein Feind sogar.

»Alles Gute für Sie, Olga Petrowna«, sage ich und gehe in den Vorraum.

Stumm folgt sie mir. Und ich verlasse das Haus, ohne noch ein Wort von ihr gehört zu haben.

Ich beschließe, ein wenig zu bummeln. Bis zu meinem Besuch bei dem Lahmen habe ich noch Zeit. Die Sonne ist inzwischen verschwunden, der Himmel hat sich grau bezogen. Kalter, feuchter Wind weht vom Meer. Ringsum ist wieder alles düster und traurig. Und auch in mir sieht es so aus.

Während ich die Straße entlang schlendere, überlege ich, wohin ich gehen, wem ich einen kurzen Besuch abstatten könnte. Da kommt mir der Gedanke, daß es nicht schlecht wäre, einen Abstecher in d as Geschäft zu machen, wo der verstorbene Semanski Direktor war. Ich bin neugierig auf seinen flinken Nachfolger, der Lidia Soduchina, der Schwester des leider ebenfalls schon toten Ljocha, nachstellt.

Die Adresse ist mir bekannt, und gleich der erste Passant, den ich frage, zeigt mir den Weg. Nachdem ich zwei oder drei Straßen mit hellen schönen Häusern, Zäunen, Treppen und Grünanlagen, in denen im Sommer sicherlich duftende Blumen blühen, hinter mich gebracht habe, finde ich zwischen großen und kleinen Geschäften das, welches mich interessiert, ein bescheidenes Lädchen, das sich seiner Bestimmung zu schämen scheint. Es besitzt kein Aushängeschild, sondern nur ein neben der Tür befestigtes Täfelchen, das verkündet, daß dieses Großhandelsgeschäft zu einer Organisation mit unwahrscheinlich langem Namen gehört.

In dem dämmrigen, nicht sehr großen Raum mit drei Ladentischen langweilt sich eine einzige Verkäuferin. Hinter ihr hängt eine zerknitterte dunkle Kombination mit unmäßig langen Beinen an einem Kleiderständer, daneben, an einem anderen Ständer, ein schwarzer Satinkittel, ebenfalls unwahrscheinlich lang.

Die nicht mehr junge Verkäuferin, sie trägt genauso einen Kittel, beobachtet mich schläfrig.

Höflich erkundige ich mich: »Ist Georgi Iwanowitsch, der Genosse Schprinz, zu sprechen?«

Bei dieser etwas ungewöhnlichen Frage belebt sich die Verkäuferin ein wenig, ordnet sogar die Frisur, und nachdem sie sich umgedreht und geräuspert hat, ruft sie in eine Tür hinter dem Ladentisch: »Georgi Iwanowitsch, hier will jemand zu Ihnen!«

Gleich darauf erscheint ein kleiner schwächlicher Mann mit Glatze und abstehenden Ohren, er trägt eine große Brille mit starken Gläsern. Sein schmales Mausegesicht ist voller Runzeln, unter der spitzen Nase sträubt sich ein rötliches Schnurrbärtchen. Auch er hat einen schwarzen Satinkittel an, darunter ein gestreiftes Oberhemd mit einem andersfarbigen gestreiften Schlips.

»Sie wollen zu mir?« fragt Schprinz gespannt.

»Ja.«

»Bitte!« Er macht eine einladende Gebärde zur Tür hin. »Dort können wir besser reden.«

Durch einen kleinen dunklen Korridor gelangen wir in ein enges, bescheiden eingerichtetes Büro. Hinter dem Sessel des Direktors hängen eine mit Buntstiften geschriebene Wettbewerbsverpflichtung für das vergangene Quartal, ein langweiliger Monatskalender und irgendwelche mit Schreibmaschine getippten Listen. Neben der Tür ist ein Kleiderhaken. Ich ziehe mir den Mantel aus.

Schprinz bietet mir den vor seinem Schreibtisch stehenden Sessel an, schlüpft behend zwischen dem Tisch und der Wand zu seinem Platz durch und verschwindet gleichsam zwischen Papieren und Mappen, als er sich niederläßt, nur die Brille und die Ohren ragen hervor.

»Nun, womit kann ich dienen?« fragt er, wobei er den Kahlkopf seitwärts neigt und mich durch die Brillengläser ausdruckslos anblickt. Diese große Brille mit der schweren dunklen Fassung scheint ihn gegen seine Umgebung abzuschirmen.

»Ich bin von der Miliz«, sage ich in friedfertigem Ton. »Es ist ein Unglück geschehen.«

»Um Himmels willen, was denn?«

»Sie haben doch Gwimar Semanski gekannt?«

»Und ob! Ich habe ihn gekannt und kenne ihn noch. Der ehrlichste...«

»Er ist ums Leben gekommen.«

»Was?« Schprinz springt auf.

»Ja, leider!« sage ich traurig. »Er hatte Geschäfte in Moskau, wie Sie wissen.«

»Von seinen Geschäften habe ich keine Ahnung, glauben Sie mir.« Erschrocken drückt er die kleinen Hände an die Brust. »Aber wie ist das passiert, mein Gott?«

»Er wurde ermordet«, sage ich.

»Ermordet? Weshalb?«

»Eben diese Frage führt mich zu Ihnen.«

»Ich weiß doch nichts. Ich schwöre es Ihnen«, stammelt Schprinz. »Wenn ich gewußt hätte. Glauben Sie mir.«

»Ich glaube Ihnen. Woher sollten Sie das wissen? Jedenfalls haben Sie ihn gekannt. So wie er Sie, als er Sie für diese Stelle empfahl.«

»Nun, in gewissem Maße, objektiv gesehen, habe ich ihn gekannt.« Schprinz lehnt sich zurück. »Das ist Fakt.«

»Und einige seiner Bekannten in Moskau kennen Sie auch?«

»An wen denken Sie da?« fragt Schprinz vorsichtig.

»Sie kennen diese Leute doch besser als ich«, sage ich sanft. »Es wäre peinlich, würde ich sie Ihnen nennen. Wir haben ja ein inoffizielles Gespräch.«

»Sie haben tausendmal recht!« ruft Schprinz und drückt wieder die Hände an die Brust. »Bekannte hat er dort, das heißt, hatte er. Das ist Fakt. Aber mein Gott, weshalb ist er zu ihnen gefahren? Können Sie mir das erklären?« fragt er mit märtyrerhafter Grimasse.

»Ich nehme an, um sie zu besuchen«, sage ich.

»Ja, ja«, stimmt mir Schprinz zu. »Sie haben tausendmal recht! Er hat dort, Verzeihung, hatte dort einen Busenfreund, das ist Fakt!«

»Einen Geschäftsfreund«, korrigiere ich ihn.

»Ja, ja«, bestätigt er und verstummt, als habe er sich verschluckt.

»Stellen Sie sich vor, Georgi Iwanowitsch«, sage ich mitfühlend, »in dem Hof, wo dieser Freund wohnt, ist er ermordet worden.«

»Bei Viktor Kuprejtschik?« ruft Schprinz in Panik. »Das kann nicht sein. Du lieber Gott!«

»Warum nicht? Zank und Streit enden oft tragisch.«

»Ja, ja. Moralisch verkommene Menschen. Das ist Fakt.«, stammelt Schprinz verwirrt. »Ist doch meine Rede. Die wollen nur raffen. Nur für sich.«

»Und Lew Ignatjewitsch.«

»Gehen Sie mir mit dem.«, ruft Schprinz zornig. »Der ist ein Schakal, eine Hyäne. Den kann Kuprejtschik genausowenig leiden.«

»Aber er empfängt ihn«, sage ich für alle Fälle.

»Was bleibt ihm denn anderes übrig? Soll er nur sympathische Leute empfangen? Moralisch möchte er das natürlich. Faktisch jedoch.«

»Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?«

»Wen? Entschuldigen Sie.«

»Kuprejtschik.«

»Im vorigen Sommer. Er war mit seiner Frau zur Erholung hier. Ein sehr netter kultivierter Mann.«

»Geschäftsmann?«

»Oh! Ich verstehe Ihre Anspielung«, sagt Schprinz mit schlauem Lächeln »Aber vergessen Sie nicht, daß seine Lieferungen an uns völlig offiziell sind. Er führt nur die Anweisungen seiner Vorgesetzten aus, das ist Fakt!« Sein Finger beschreibt eine Kurve und erhebt sich bedeutungsvoll über seinem Kopf.

»Sie denken an das Garn?« frage ich.

Schprinz nickt. »Genau.«

»Hatte Semanski denn nach seinem Ausscheiden aus dem Geschäft damit zu tun?«

»Ich habe keine Ahnung«, ruft Schprinz aus und hält beide Hände vor sich, als wollte er jemanden abwehren. »Das versichere ich Ihnen! Die Papiere gehen den offiziellen Weg. Über die Verwaltung. Wegen der hohen Unterschrift. Das ist Fakt.«

»Sicherlich werden trotzdem Beschaffer gebraucht?« frage ich.

»Die werden überall gebraucht, das ist Fakt«, sagt Schprinz.

»Und Jermakow.«

»Du lieber Gott, was kümmert das Geli?« Mein Gesprächspartner gerät erneut in Panik. »Der hat doch gewissermaßen ein anderes System. Das ist Fakt, absolut!«

»Aber Lew Ignatjewitsch.«

Absichtlich werfe ich ihm die Namen hin. Soll er sich in aller Eile klarzuwerden versuchen, was ich weiß Und was nicht, wo ich ins Schwarze treffe und wo daneben. Soll er es versuchen und sich dabei verhaspeln. Wenn er sich verhaspelt und nervös wird, erfahre ich vielleicht etwas Nützliches.

»Glauben Sie Lew Ignatjewitsch nicht, ich flehe Sie an!« Schprinz ist außer sich vor Entrüstung, er schreit beinahe, und beschwörend streckt er die kurzen Arme aus. »Er ist ein Betrüger und Demagoge! Das ist Fakt, absolut! Der gibt Sachen zum besten, bringt so hochökonomische Begründungen, daß man ihn für einen Gelehrten halten könnte. Dabei würde er dem eigenen Vater die Kehle durchschneiden! Der verkauft jeden! Ach, mein Gott, Gwimar. Welch ein Unglück!«

Ich kann nicht so schnell auf den toten Gwimar Semanski umschalten. »Ökonomische Begründungen«, »Demagoge«? Das sieht sehr nach meinem Gesprächspartner im Cafe aus, nach Pawel Alexejewitsch. Aber bei Lew Ignatjewitsch handelt es sich um einen einfachen Einbruchsdiebstahl ohne irgendwelche Demagogie und ökonomische Begründungen. Ich begreife nichts! Und ich werfe Schprinz noch einen Namen hin. »Und Pawel Alexejewitsch?«

»Wer?« Schprinz schaut mich erstaunt an.

»Pawel Alexejewitsch«, wiederhole ich.

»Entschuldigen Sie, so einen kenne ich nicht«, erklärt er kategorisch und fragt mich wieder mit zitternder Stimme: »Wer hat ihn denn ermordet, ist das schon bekannt?«

»Ja. Stellen Sie sich vor - Kriminelle aus Ihrer Stadt. Und anschließend plünderten sie Kuprejtschiks Wohnung.«

»Oh, was alles passiert, du lieber Gott!« jammert Schprinz und greift sich an den Kopf. »Ich weigere mich, es zu glauben! Das mit Gwimar verstehe ich noch irgendwie. Lew schreckt vor nichts zurück, wenn. wenn er tüchtig verdienen kann. Aber die Hand gegen Viktor Kuprejtschik erheben, das goldene Huhn. Das begreife ich nicht.«

Demnach ist Kuprejtschik ein »goldenes Huhn«? Ein Huhn, das goldene Eier legt? In Gestalt dieses Garns? Oh, jetzt müßte ich meinen Freund Edik Albanjan hier haben, der in unserer Moskauer OBChSS arbeitet. Zu Okajomow, zu seiner Qualifikation und seinen Fähigkeiten, habe ich kein Zutrauen.

»Lew Ignatjewitsch hat es nicht selbst gemacht«, sage ich. »Er hat seine Leute in Kuprejtschiks Wohnung geschickt, verstehen Sie? Aber es ist möglich, daß er selbst von jemand geschickt wurde«, schließe ich vielsagend.

»Und ich erkläre Ihnen, Sie sind verrückt!« entgegnet Schprinz hitzig und fuchtelt mit den Armen, als wollte er mich aus dem Zimmer scheuchen. »Ja, ja! Mein Gott, da müßte man ja ein Idiot sein!«

»Lew Ignatjewitsch ist doch wohl kein Idiot?«

»Der frißt uns beide, ohne daß wir es merken. Wir wachen auf, wenn er uns schon verdaut. So ein Idiot ist er!«

»Ja, ein gefährlicher Mensch. Was hat er mit Semanski nicht geteilt, was meinen Sie? Die beiden haben sich fürchterlich gestritten. Weshalb?«

»Das ist doch klar!« Schprinz grinst sarkastisch und rückt die auf die Nasenspitze gerutschte Brille zurecht. »Einen kolossalen Braten, nichts anderes. Ich habe keine Ahnung, was für einen, das ist Fakt. Woher soll ich es auch wissen? Ich habe mich nie in ihre Sachen eingemischt. Und mische mich nicht ein. Ich kenne meinen Platz. Basta! Punktum!«

»Kann der Braten nicht die reiche Wohnung Kuprejtschiks gewesen sein, genauer, die seines Schwiegervaters, des verstorbenen Akademiemitglieds? Allein die Bilder.«

»Nein, nein! Das ist Fakt, absolut!« Schprinz schüttelt entschlossen den Kahlkopf und hält die Hände mit den gespreizten Fingern vor sich. »Aber beachten Sie, daß ich nichts weiß. Gar nichts! Ich wiederhole, ich mische mich nicht in ihre Angelegenheiten ein. Das ist Fakt, absolut. Und mehr weiß ich nicht. Ich will ruhig schlafen, entschuldigen Sie, so ist das!«

Schprinz ist offenbar endlich zur Besinnung gekommen und denkt an seine eigene Sicherheit. Das hätte er längst tun müssen.

»Sie fragen, wer ihn ermordet hat?« Ich lasse ihm keine Zeit, seine Gedanken auf die eigene Sicherheit zu konzentrieren.

»Ja, ja!« Ungeduldig beugt er sich vor.

»Die Namen werden Ihnen nichts sagen. Oder doch! Der eine hat ja in diesem Geschäft gearbeitet!«

»Krassikow, Ljocha, ja?« ruft Schprinz beinahe erfreut aus.

»Genau. Er hat bei Ihnen, aber nicht für Sie gearbeitet.«

»Das ist vor meiner Zeit gewesen, noch bei Gwimar.«

»Das spielt keine Rolle. Er hat auch nicht für Gwimar Semanski gearbeitet.«

»Für wen dann?« Schprinz gibt sich naiv.

»Überlegen Sie selbst.«

»Nun, für wen?« fragt Schprinz ungeduldig.

»Sie wissen es, Georgi Iwanowitsch, das ist Fakt, absolut!« sage ich spöttisch.

»Ich weiß es?« fragt er hitzig.

»Ja, Sie.«

»Ich habe Ihnen bloß zugestimmt, denn Sie haben ja gesagt, daß er für Lew Ignatjewitsch arbeitet. Einverstanden.«

»Und für wen arbeitet Lew Ignatjewitsch?«

»Das weiß ich nicht. Absolut. Ich versichere es Ihnen!«

»Wie Sie wollen, Georgi Iwanowitsch.« Ich zucke die Schultern. »Sie brauchen nicht zu reden. Ich zwinge Sie nicht. Aber Ljocha hat es nicht allein gemacht«, sage ich. »Da war noch einer.«

»Noch ein Mörder?« präzisiert Schprinz zitternd.

»Ja.«

»Entsetzlich. Armer Gwimar. Wer ist der zweite Bandit?«

»Den kennen Sie wahrscheinlich nicht.«

»Woher wissen Sie, wen ich kenne und wen nicht?« fragt Schprinz gereizt. »Ich kenne die halbe Stadt, ich...«

»Er heißt Sowko.«

»Sowko?« wiederholt Schprinz verdutzt und rückt erneut die Brille zurecht. »Wirklich. Den Namen habe ich noch nie gehört. Und wie lautet der Vorname dieses Lumpen?«

»Nikolai.«

»Tja. Ich hab keine Ahnung.«

»Sie waren beide als Gorillas zu jemand gegangen.«

»Was ist denn das nun wieder?« fragt Schprinz verwundert.

»Ich weiß es selbst nicht«, antworte ich. »Jemand hat es gesagt.« Ich neige mich vor und raune: »Jetzt verstehen Sie, wozu Ljocha fähig ist?«

»Was ist da nicht zu verstehen, mein Gott?« ruft Schprinz.

»Dann haben Sie folgendes im Auge: Wenn Lidia sich plötzlich bei ihm über Sie beschwert, dann, fürchte ich, können wir Sie auch nicht retten. Nun, hinterher werden wir ihn finden, das ist klar.«

Schprinz erbleicht. »Da. danke«, stottert er.

Ich muß gestehen, mir ist ein bißchen unbehaglich zumute, weil ich den toten Ljocha hier eingespannt habe, damit er wenigstens nach seinem Tod etwas Nützliches für seine Angehörigen tut.

Ich stehe auf und verabschiede mich. Schprinz ist nach unserem Gespräch wie benommen.

Draußen ist es bereits dunkel. Es ist ungefähr sechs, und ich muß mich beeilen. Ich ziehe mir den Mantel an und verlasse das kleine Büro.

Der Laden ist wie vorhin leer. Als ich zur Tür gehe, blickt die schläfrige Verkäuferin auf, und ich nicke ihr zum Abschied zu.

Ich wandere in Richtung Uferstraße, ohne die Passanten zu bemerken, und ich spüre, wie mir der Kopf zu schmerzen beginnt. Allzuviel Eindrücke hatte ich an diesem Tag, eine Menge wichtiger Mitteilungen muß ich im Gedächtnis behalten. Und nun steht mir noch die wichtige Begegnung mit dem Lahmen bevor. Er hat irgendwelche Rechnungen mit Pest zu begleichen, irgend etwas ist zwischen ihnen vorgefallen. Und zwar vor langer Zeit und weit von hier, in Sibirien, entweder in der Strafkolonie oder später, als der Lahme seine Strafe verbüßt hatte und in die Vaterstadt zurückgekehrt war. Ja, wahrscheinlich nach seiner Rückkehr. Wegen dieses Pest mußte er Nowosibirsk verlassen, von dort fliehen. Welche niederträchtige, schändliche Rolle hat Pest damals gespielt? In einem günstigen Augenblick muß

ich den Lahmen fragen. Von selbst wird er sicherlich nicht darüber sprechen. Aber ich muß unbedingt alles wissen, was Pest betrifft. Denn mit ihm werden wir noch unsere liebe Not haben. Dieser Mensch ist sehr gefährlich. Irgendwann wird er wieder in Freiheit sein. Wie wird er dann sein, noch genauso gefährlich? Was müssen wir tun, damit er als ein anderer herauskommt?

Ich biege einmal ab, ein zweites Mal, überquere einen kleinen Platz, dessen Springbrunnen jetzt im Winter stumm ist, und gelange wenig später auf die Uferstraße.

An der Steinbrüstung bleibe ich stehen, atme genießerisch die herbe salzige Luft und biete mein Gesicht dem Gischt dar. Mir wird wohler, und die Kopfschmerzen lassen nach. Unten rollen die unsichtbaren Wogen krachend gegen die Steine. Und ich spüre, wie meine Müdigkeit verfliegt. Ich bin mutterseelenallein hier.

Plötzlich höre ich ferne Stimmen, die sich allmählich nähern, ich unterscheide einzelne Ausrufe -hemmungslos, trunken, unflätig. Rowdys nähern sich der Stelle, wo ich stehe. Dort, wo sie gehen, ist die Uferstraße von den seltenen Laternen erhellt, rings um mich aber ist es stockfinster. Deshalb sehen sie mich nicht, während ich sie immer deutlicher erkenne. Sie nehmen die ganze Breite des Fahrdamms ein. Einer tänzelt, einer fängt an zu singen. Eine gefährliche Bande für einsame Passanten, Frauen zumal. Ein Bursche überragt die anderen um Haupteslänge. Sollte das Slawka sein? Er war begeistert von Pest, weinte, als Lidia ihn verließ. Natürlich, er ist es.

Und plötzlich, ohne mir Rechenschaft über mein Tun zu geben, gehe ich der betrunkenen Gesellschaft entschlossen entgegen. Ich wachse so unvermittelt aus der Dunkelheit vor ihnen auf, daß sie vor Überraschung verstummen und sogar ein bißchen erschrocken sind. Das entspricht nicht der Logik der Situation. Der einzelne Passant müßte vor ihnen erschrecken und weglaufen. Dann würde ihm die wilde Schar johlend nachjagen, berauscht von ihrer Kraft, von ihrer grausamen Macht über den verängstigten Menschen, vom süßen Vorgeschmack der rohen Abrechnung.

Schon haben sie sich vor mir aufgebaut. Grimmige, gespannte Gesichter. Sie warten. Gleich kann einer die Beherrschung verlieren, etwas schreien, die anderen fallen ein, grölen, und dann.

Diesem Ausbruch komme ich zuvor. Ich packe den großen zerzausten Burschen - er trägt ein zerknittertes Jackett, einen Pullover darunter -, ziehe ihn zu mir und frage schroff: »Slawka?«

»Ja«, sagt er mürrisch. »Was weiter?«

Mir scheint, er ist weniger betrunken als die anderen.

»Komm, ich muß dir zwei Worte sagen.«

»Das ist 'n Bulle!« brüllt ein Bursche plötzlich und macht einen Satz auf mich zu. »'n Bulle! Ich hab ihn gesehen. Macht ihn fertig!«

Er holt aus, und ich bin gezwungen, mit einem blitzschnellen Schwinger zu reagieren. Ein elementarer Schlag, und der Bursche fliegt wie von der Axt gefällt auf den Asphalt. Hoffentlich stürzen sich jetzt nicht die anderen auf mich, alle zugleich, von verschiedenen Seiten! Aber der Hieb hat Eindruck gemacht.

»Was bist du für einer?« fragt mich Slawka finster.

»Ein Zugereister. Pest läßt grüßen«, murmle ich.

»Oh! Moment, Jungs! Bin gleich wieder da!« ruft Slawka.

Wir treten beiseite. Die anderen drängen sich um den Niedergestreckten, helfen ihm auf und erörtern meinen Hieb. In der Diskussion überwiegen achtungsvolle Töne, wie mir scheint. Ob ich von der Miliz bin, bleibt ungeklärt.

Leise sage ich zu Slawka: »Pest haben sie in Moskau eingelocht. Für viele Jahre. Wegen Mord und versuchtem Mord an einem Mitarbeiter der Miliz.«

»Das bedeutet nicht viele Jahre, sondern Todesstrafe«, entgegnet Slawka dumpf.

»Jetzt weiß er weder aus noch ein. Es sieht schlecht aus für ihn. Doch auf dich, Slawka, wartet Lidia«, schließe ich überraschend.

»He!« Nun packt er mich am Mantel. »Rühr sie nicht an, klar?«

Als Antwort zucke ich die Schultern. »Paß selbst auf, daß du sie nicht verlierst. Wie lange kann man auf so einen Blödmann warten, was meinst du?« Und unvermittelt frage ich: »Wollt ihr zum Lahmen?«

»Hmhm«, antwortet Slawka zerstreut.

»Was wollt ihr von ihm?«

»Pest hat's befohlen. Der Lahme verpfeift alle.«

»Wen hat er denn verpfiffen?«

»Pest weiß es.«

»Klar. Demnach hat er beschlossen, auch hier andere die Dreckarbeit machen zu lassen. Wie in Moskau. Dort hat er Ljocha angestiftet, den Mord zu begehen.«

»Ljocha ist ein Einfaltspinsel!«

»Und du, bist du besser als Ljocha? Was hast du persönlich gegen den Lahmen?«

»Gar nichts. Aber wie's aussieht, singt er.«

»Wie's aussieht?« frage ich drohend. »Sieht's denn nicht so aus, als würdest du mir jetzt auch was singen? Wie willst du ihnen beweisen, daß es nicht so ist?« Ich deute auf die Burschen.

»Na, na«, wehrt Slawka ab. »Immer sachte.«

»Sag ihnen das. Da - wie sie uns anstarren!«

Tatsächlich. Die ganze Gesellschaft lauscht argwöhnisch und rückt langsam näher. Sie sind zu sechst. Meine letzten Worte haben sie bestimmt gehört. Und sie ärgern sich allmählich über ihre Befangenheit. Der Grund dafür bin ich, ein unverständlicher und ihnen irgendwie feindlich gesonnener Mensch, aber offenbar auch Slawka. Doch immer noch fühlen sie sich stark in ihrem Rausch, und sie wollen schlagen, johlen, fluchen und Blut sehen.

»He du! Hau ab! Sonst geht's dir dreckig, klar?« schreit mir einer von ihnen zu. »Dann hast du auf einmal 'n Messer zwischen den Rippen!«

Ach nein. Sie bitten mich, wegzugehen, sie haben nicht die Absicht, mich anzugreifen, sie kläffen nur von weitem wie böse und feige Hunde.

»Wir haben denselben Weg«, sage ich grinsend und füge, an Slawka gewandt, hinzu: »Na, was ist, besuchen wir den Lahmen? Oder hast du was anderes vor?« Und mit gesenkter Stimme sage ich: »Geh, Slawka. Geh zu ihr. Sie wartet auf dich. Ich habe sie heute gesehen. Du ahnst ja nicht, wie sie geweint hat!«

Slawka steht niedergeschlagen da, und er atmet schwer. Er weiß nicht, wie er sich entscheiden, was er tun soll. Und seine Nerven sind, ich spüre es, bis zum Äußersten gespannt. Ich drehe ihn um und gebe ihm einen leichten Stoß in den Rücken. »Geh!« befehle ich.

Und Slawka leistet keinen Widerstand.

»Schluß jetzt, Jungs«, sage ich, als hätte ich schon Macht über sie, »Schluß jetzt«, wiederhole ich entschlossen. »Weg mit dem Messer!« schreie ich plötzlich, die Gefahr mehr witternd als sehend.

Sofort steckt einer der Burschen ein Messer in die Tasche.

»Folgendes«, fahre ich fort und weise auf Slawka. »Er geht zu seiner Frau. Er hat eine Frau, klar? Und wir gehen zum Lahmen. Unterwegs erzähle ich euch was über ihn.« Und leise sage ich zu Slawka: »Geh, geh!«

Ich mache einen Schritt auf die Burschen zu. Noch einen und noch einen... Gespannt beobachten sie mich. Sie warten ab. Ich nähere mich ihnen ruhig, breite die Arme aus, um sie den beiden nächsten um die Schultern zu legen, wobei ich ziemlich riskant die Brust jedem Schlag darbiete.

»Kommt, ihr Gauner«, sage ich fröhlich. »Kommt, es ist Zeit.«

Widerstrebend gehorchen sie.

Slawka schaut uns nach. Ich kann mir vorstellen, was für ein Kampf jetzt in ihm tobt. Geht er?

»Halt!« brüllt Slawka und kommt uns nachgelaufen. »Halt, ihr Schufte!. Ich mach euch kalt!. Halt!. Ich mach euch kalt!«

Er zückt sein Messer und fuchtelt damit herum. Sein Gesicht ist wutverzerrt, weiße Schaumbläschen treten auf den Lippen hervor, er ist wie von Sinnen. Und unversehens versetzt er sich einen Stich und einen zweiten, bevor ich ihm das Messer aus der Hand schlagen kann.

Slawka schreit auf und bricht zusammen, die Burschen laufen zu ihm, versuchen ihm aufzuhelfen, doch er widersetzt sich, schlägt um sich und brüllt: »Ich bring euch um. Blut will ich sehen. Haut ab, haut ab.«

Einer der Burschen hebt plötzlich die feuchte Hand und schreit: »Da! Er blutet!«

Es ist, als hätte Slawka auf diesen Schrei gewartet. Er kippt nach hinten, röchelt und verliert das Bewußtsein.

Wir tragen ihn die Straße entlang. Als uns ein Auto entgegenkommt, stoppe ich es.

»Ins Krankenhaus!« rufe ich dem Fahrer zu. »Es ist äußerst dringend. Diese beiden begleiten Sie!«

Ich deute auf die beiden Burschen, die zufällig neben mir stehen. Widerspruchslos steigen sie ein. Mit den übrigen gehe ich in die Uferstraße zurück. Der Rausch scheint verflogen zu sein.

»Tja«, sage ich vorwurfsvoll. »Er hat durchgedreht.«

»Der hat eben nicht alle beisammen.«

»Er war immer völlig in Ordnung«, erwidert ein anderer, »es ist eben so über ihn gekommen.«

»Anscheinend liebt er seine Frau«, wirft der dritte Bursche ein.

Der vierte schweigt.

»Was ist, gehen wir zum Lahmen?« frage ich.

»Was sollen wir bei dem Halunken?« fragt der, der Slawka für verrückt erklärt hat. »Den nehmen wir aufs Messer. Tatsache.«

Ich kann ihre Gesichter immer noch nicht richtig erkennen. Dieser scheint älter als die übrigen zu sein.

»Höchste Zeit, meine Lieben, mit dem Gaunerleben Schluß zu machen«, sage ich. »Ihr seht ja selbst, was daraus entsteht. Kennt ihr Pest?«

»Kennen wir«, antwortet der ältere Bursche.

»Mit dem ist es aus«, sage ich hart. »Den seht ihr wieder, wenn ihr alte Männer seid. Vielleicht auch erst im Jenseits. Er sitzt in Moskau wegen Mord hinter Gittern. Und natürlich versucht er alles auf Ljocha abzuwälzen.«

Anscheinend ist ihnen immer noch nicht klar, wer ich bin, und sie verlieren sich in Vermutungen.

»Das kann er, alles auf andere abwälzen«, erklärt einer der Burschen. »Dein Kumpel, Käfer«, sagt er zu dem Älteren. »Bist ihm ja förmlich in den Hintern gekrochen.«

»Hör auf, Fuchs«, ruft der dritte, der bisher geschwiegen hatte, beschwichtigend.

»Na, warte, du Aas!« Käfer stürzt auf Fuchs zu, doch der Schweigsame stellt ihm ein Bein, und der strauchelnde Käfer hält sich an mir fest.

Ich richte ihn auf und sage: »Moment, Jungs, hört weiter zu. Das ist noch nicht alles. Über Pest wißt ihr also Bescheid?«

»Völlig«, antwortet Käfer. »Faselst du auch nicht?«

»Weshalb sollte ich. Nun zu Ljocha. Er ist tot. Es gibt ihn nicht mehr.«

»Wirklich?« fragt Käfer mißtrauisch.

»Er wurde überfahren«, sage ich. »Klaute einen Koffer im Zug, flitzte durch den Bahnhof auf den Vorplatz. Nun, und da kam gerade ein Auto. Und aus. Scheußlicher Tod.«

»Gott hat ihn gestraft«, spottet Fuchs. »Vergreif dich nicht an fremdem Gut.« Er ist hager, lebhaft und offenbar ein Witzbold.

»Wie ihr seht«, fahre ich fort, »ist nun auch Slawka aus dem Gleis gekippt! Ist so ein Leben verlockend?«

Wir haben den dunklen Teil der Uferstraße hinter uns, und jetzt leuchten matte Lampen in dem Dunst über uns. Endlich kann ich meine Weggefährten in Augenschein nehmen. Es sind ganz normale Burschen. Sie haben nichts ganovenhaftes an sich. Nüchtern wirken sie sogar irgendwie sympathisch. Besonders Fuchs und der Schweigsame, der Garik heißt. Auch Käfer scheint kein schlechter Kerl zu sein. Er ist es, der mich unvermutet fragt: »Wer bist du eigentlich?«

»Ein Zugereister«, antworte ich leichthin. »Aus Moskau.«

»Vielleicht ein Bulle?«

»Seh ich so aus?«

»Eigentlich nicht«, meint der schweigsame Garik.

»Was heißt hier aussehen«, sagt Käfer, als wolle er die anderen beruhigen, »die sehen jetzt alle so aus, daß du sie vom eigenen Vater nicht unterscheidest!«

»Bloß dann, wenn dir der Vater die Hose runterzieht und nach dem Riemen greift, kannst du ihn erkennen«, sagt Fuchs lachend. »Da verwechselst du ihn nicht mit einem Bullen.«

„Wir nähern uns der Werkstatt des lahmen Serjosha, und die Frage, wer ich bin, bleibt vorläufig ungelöst.

»Na, wer kommt mit rein?« frage ich.

»Wir warten hier auf dich«, antwortet Käfer. »Es ist noch zu früh für uns, den Lahmen zu besuchen.«

»Gut«, sage ich, »dann wartet, wir haben noch was zu besprechen.«

»Aber beeil dich«, ruft Käfer.

Ich nicke und öffne die Tür zur Werkstatt, die trotz der späten Stunde nicht abgeschlossen ist.

Verwaist brennt die Lampe über dem niedrigen Schemel hinter der Barriere, rings um ihn liegen, wie gestern, Werkzeuge, alte Schuhe und Lederstücke. Erstaunt schaue ich um mich und bemerke Serjosha hinter mir. Er hat sich an die dunkle Wand gepreßt, in der Hand hält er ein Messer.

Mit einer schnellen Bewegung klappt er es zusammen, steckt es in die Tasche und reicht mir die Hand.

»Du kommst spät«, sagt er lächelnd. »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.«

»Dafür bin ich nicht allein gekommen«, antworte ich bedeutsam.

Serjosha nickt. »Hab ich schon mitgekriegt. Deshalb hab ich mich ja gerüstet. Was willst du von denen?«

»Freundschaft und Verständnis - für dich und für mich.«

»Du erwartest Verständnis von Wölfen?«

»Ich hab es beinahe geschafft. Da, sie warten auf mich. Und morgen, so hoffe ich, gehen wir zusammen ins Krankenhaus.«

»Wieso das?« Serjosha verriegelt die Tür und führt mich ins Hinterzimmer. Wir setzen uns an den Tisch, und ich zünde mir eine Zigarette an.

»Wieso ins Krankenhaus?« wiederholt er.

»Slawka hat sich eben selbst niedergestochen.«

»Ach!« ruft Serjosha erstaunt aus. »Du spinnst.«

»Vor meinen Augen. Wahrscheinlich sogar meinetwegen.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Ich hab ihm die Seele aufgewühlt. Und dabei nicht bedacht, daß er mit den Nerven am Ende ist.«

»Slawka soll eine Seele haben?« fragt Serjosha ironisch. »Wo andere eine Seele haben, hat der einen Ast mit Aufkleber.«

»Oft dringen wir nicht bis zur Seele der Menschen vor, Serjosha, mitunter warten dort Überraschungen auf uns, Entdeckungen.«

»Und was hast du bei Slawka entdeckt?«

»Liebe. Er gedachte sie zu zerstampfen. Und ich habe versucht, sie wiederzuerwecken.«

»Schön gesprochen«, Serjosha lächelt traurig.

»Na und? Im Leben ist nicht alles schlecht«, entgegne ich. »Es gibt manches Gute, auch in Slawka. Bei näherer Betrachtung sind auch die anderen Burschen keine unverbesserlichen Taugenichtse.«

»Vorläufig vielleicht«, sagt Serjosha geringschätzig. »Du wirst sehen: Sobald sie einen Anführer in der Art von Pest gefunden haben, legen sie los.«

»Ihr Anführer sollst du werden, Serjosha.«

Er blickt mich mißtrauisch an.

»Ich meine es ernst«, antworte ich auf seine stumme Frage. »Jetzt sind sie noch unschlüssig. Aber morgen, nach dem Krankenhaus, akzeptieren sie dich. Und dann wird alles von dir abhängen. Diese Burschen müssen gerettet werden, Serjosha.«

»Das ist richtig«, stimmt er nachdenklich zu.

»Fang mit Käfer an«, rate ich.

Er nickt, immer noch nachdenklich, und plötzlich sagt er lachend: »Und du bist ein wahrer Meister!«

»Ich will erst einer werden... Na gut, Serjosha. Und nun erzähle, wenn du was zu erzählen hast.«

»Das hab ich. Jemand war heut morgen bei mir. Er sagte, Pest und Ljocha sind gedungen worden. Und vor kurzem wurden sie nach Moskau geschickt.«

»Wurden sie dafür gedungen?«

»Nein. Gedungen wurden sie schon vor längerer Zeit. Zur Bewachung. Und nach Moskau wurden sie auch zu dem Zweck geschickt.«

»Rechnungen zu begleichen?«

»Das weiß keiner genau.«

»Und die Wohnung?«

»Ist nicht ihre Arbeit gewesen.«

»Nein, da ist jeder Irrtum ausgeschlossen. In der Wohnung wurde Pests Handschuh gefunden. Er hat ihn dort verloren. Was für Beweise braucht man noch?«

»Das mußt du selbst herausfinden. Darin bist du ja Meister. Aber daß sie in Moskau den Mord begangen haben, das wissen sie hier schon.«

»Nicht alle.« Ich erinnere mich, wie Schprinz erschrak.

»Der, der es wissen muß, weiß es.«

»Und von wem weiß er es?«

»Du hast mir neulich einen Namen genannt.« Ärgerlich schnipst Serjosha mit den Fingern. »Wie war er doch gleich. Hilf mal!«

»Viktor Arsentjewitsch Kuprejtschik?«

»Nein.«

»Lew Igna.«

»Genau. Ignatjewitsch. Lew Ignatjewitsch.«

»Hat man dir zufällig etwas über ihn gesagt?«

»Er soll in Moskau wohnen, aber für die Hiesigen arbeiten.«

»Und wer ist bei dir gewesen?«

Serjosha wiegt den dunkelblonden Kopf. »Den möchte ich dir nicht nennen, Vitali. Ich hab mein Wort gegeben und bin gewohnt, es zu halten.«

»Selbstverständlich. Also lassen wir das. Demzufolge arbeitet Lew Ignatjewitsch für jemand, der Pest und Ljocha gedungen hat, ja?«

»So ungefähr.«

»Wer kann das sein, und womit beschäftigt er sich?«

»Sie machen irgendwelche Geschäfte«, erklärt Serjosha. »Kassieren einen Haufen Kies. Wer das ist, weiß ich nicht. Aber sie sitzen hier, bei uns. Einer soll einen blauen Wolga fahren. Angeblich salutieren ihm die Verkehrsregler.«

»Ein tolles Ding«, sage ich lächelnd.

Serjosha winkt herablassend ab. »Ist ja möglich, daß das mit dem Wolga Quatsch ist.«

»Und weshalb Semanski umgebracht wurde, ist dir auch unbekannt?«

»Dieser Lew scheint es befohlen zu haben. Irgendwie war der Mann ihm im Wege.«

»Tja. Die Bildchen passen nicht so recht zusammen«, sage ich, »etwas stört.«

»Streng mal schön dein Köpfchen an. Wofür kriegst du sonst dein Geld?« sagt Serjosha lachend. »Wenn's auch nicht üppig ist, wie ich gehört habe. Ich zum Beispiel strenge meins mitunter kostenlos an. Besonders dort mußte ich das tun, weit von hier.«

»Hast du entschieden, wie du weiterleben willst?«

»Hab ich. Auch, wo ich leben will.«

»Serjosha«, frage ich unvermittelt. »Wer waren deine Eltern?«

»Wieso?«

»Nur so. Du sprichst nicht wie die andern.«

»Mein Vater war Garagenverwalter, meine Mutter Lehrerin für russische Sprache und Literatur. Wir hatten viele Bücher zu Hause.«

»Und dann?«

»Dann starb mein Vater. Ein Unfall in der Garage. Mutter blieb allein zurück. Ich verbüßte gerade meine zweite Strafe. Nun, sie wurde krank und folgte dem Vater. Und alles in meiner Abwesenheit. Tja!« Er verstummt und starrt ins Leere, als sehe er etwas, wovon er den Blick nicht abwenden könne.

»Aber wie kam das, Serjosha?« frage ich wieder. »Für die Ganovenszene hast du doch nichts übrig, wie du sagst. Wie bist du straffällig geworden, einmal und noch einmal?«

Er runzelt die Brauen. »Brauchst du das für den Fall oder bloß so?« fragt er unwillig.

»Zum Nachdenken, glaub mir.«

»Ich glaube dir. Die erste Strafe - wegen einer Schlägerei. Nach Paragraph zweihundertsechs. Die zweite - wieder wegen Schlägerei. Diesmal handelte ich mir drei Jahre verschärften Arrest ein. Das erste Mal war ich für einen Freund eingetreten. Das zweite Mal für eine Frau. Da habe ich jemanden mit dem Messer verletzt. Bei der Gelegenheit bin ich zum erstenmal mit Pest zusammengerasselt.«

»Hast du ihn verletzt?«

»Ja.«

»Darf ich ihn gelegentlich daran erinnern?«

»Tu das. Und erinnere ihn an Vera. Das war mein Mädchen.« Serjosha schlägt mit der Faust auf den Tisch. »Er hat sie zum Krüppel geschlagen. Es konnte nur nicht bewiesen werden. Da hab ich selbst mit ihm abgerechnet. Ich hätte ihn umbringen sollen, aber die Hand zitterte mir.«

»Wo ist Vera jetzt?«

»Keine Ahnung«, antwortet er und läßt den Kopf sinken. »Nach dem Gefängnis hatte ich nicht den Mut, zu ihr zu gehen. Und dann wurde ich lahm.«

»Pest?«

»Nein. Er schickte seine Kumpane. Ich wurde meines Lebens nicht mehr froh in Sibirien. Und da bin ich hierher gezogen. Plötzlich kam auch er hierher, und wieder ging's los. Doch er hatte Angst, sich mit mir zu treffen, obwohl ich nur noch ein Krüppel bin. Er wußte, solange ich Hände habe, setze ich alles daran, ihm den Hals umzudrehen. Deshalb schickte er andere.«

»Jetzt ist Schluß damit, Serjosha«, sage ich.

Eine Weile sitzen wir schweigend. Ich rauche die Zigarette zu Ende und stehe auf. »Ich muß fort«, sage ich seufzend. »Erwarte uns morgen.«

Er nickt. »Einverstanden.«

Wieder durchqueren wir die Werkstatt. An der Tür drücke ich ihm fest die Hand. Er lächelt mühsam.

Auf der halbdunklen öden Uferstraße pfeift der Wind, die Wellen donnern. Das Wetter hat aufgeklart.

Ich halte Umschau und sehe die Burschen vor einem Hauseingang in der Nähe, sie rauchen und streiten sich hitzig. Als ich zu ihnen trete, verstummen sie.

Und dann gehen wir wieder die Uferstraße entlang, ruhig, alle zusammen. Die Burschen begleiten mich zum Hotel. Dort verabschieden wir uns.

Am Morgen begebe ich mich mit Dawud zum Gebäude der Kriminalmiliz. Er ist zu mir ins Hotel gekommen, und wir haben zusammen gefrühstückt. Ausführlich habe ich ihm von meinen gestrigen Begegnungen erzählt. Dabei sind mir die Unklarheiten und Lücken deutlich bewußt geworden. Der verfluchte Diebstahl bei Kuprejtschik! Weder Semanski noch Lew Ignatjewitsch können ihn begangen oder organisiert haben. Schprinz behauptet das kategorisch, und das hat seine Logik. Weiter. Es gibt Hinweise, daß Ljocha und Pest an dem Diebstahl nicht teilgenommen haben. Das behauptet der Informant des Lahmen, das belegen auch die in Moskau gesammelten Angaben -an dem Morgen waren beide angeblich ganz woanders. Pest bei Musa, Ljocha bei Polina Tichonowna. Andererseits hat Pest in Kuprejtschiks Wohnung seinen Handschuh verloren. Außerdem steht fest, daß die ganze Vierergruppe um die Wohnung kreiste. Genauer, die Sechsergruppe - da sind ja noch die beiden Moskauer Komplizen Gawrilow und Scherschen. Kurz und gut, in diesem Punkt stecken wir in einer Sackgasse, und wie wir da herauskommen sollen, ist mir schleierhaft.

Aber zunächst einmal muß ich hier ein Ergebnis erzielen. Und das ist nicht einfach. Ich spüre, daß ich in ein mir unbekanntes Gebiet »ökonomischer« Beziehungen hineingezogen werde, genauer, Verbrechen, die mit dem Geschäft von Schprinz zu tun haben, mit irgendwelchen Moskauer Garnlieferungen, an denen der uns immer noch fremde Lew Ignatjewitsch beteiligt ist. Außerdem hat Schprinz mir gegenüber Jermakow erwähnt, Geli Stanislawowitsch Jermakow. Somit ist von den drei Jermakows er interessant für uns. Ja, auf diesem Gebiet kenne ich mich nicht besonders aus, doch ich habe kein Verlangen, Okajomow zu konsultieren, ich traue ihm nicht. Es ist besser, seine Aktivität eine Zeitlang einzudämmen. All dies überlege ich, während ich mit Dawud durch die mir bereits vertrauten Straßen gehe.

Noch etwas: Nachdem ich gestern abend in mein Hotelzimmer zurückgekehrt war, rief ich den Diensthabenden der Stadt an und bat ihn, das Krankenhaus festzustellen, in das Slawka Soloduchin eingeliefert wurde, und die beiden Burschen, die ihn begleitet hatten, sofort freizulassen, falls man sie festgenommen haben sollte. Ich erfuhr dann, daß sich Slawka mit den Stichen, die er sich beibrachte, die Leber verletzt hat. Er wird lange im Krankenhaus liegen müssen, und man kann nur hoffen, daß alles gut endet. Früh am Morgen, noch bevor Dawud kam, rief ich Lidia zu Hause an. Die Arme, wie aufgeregt sie war. Natürlich lief sie sofort ins Krankenhaus, ich brauchte sie nicht darum zu bitten. Ich erzählte nur, daß Slawka sich die Trennung von ihr schwer zu Herzen nimmt.

Mit Dawud bespreche ich in dessen Dienstzimmer eine schwierige, heikle Operation. Es dreht sich darum, daß ich Geli Stanislawowitsch Jermakow kennenlernen möchte, den Direktor des Konfektionsgeschäfts. Schließlich denken wir uns etwas aus.

Oho! Bald zwölf! Zeit für mich, zu Slawka ins Krankenhaus zu gehen. Dort werden die Burschen auf mich warten, sofern sie mir nichts vorgemacht haben. Das haben sie sicherlich nicht getan. Slawkas Geschichte scheint sie mächtig beeindruckt zu haben, wie übrigens auch Pests und Ljochas Schicksal. Selbst der Abgebrühteste dieser Gesellschaft hat Grund zum Nachdenken.

Das Krankenhaus ist weit vom Milizgebäude entfernt, trotzdem gehe ich zu Fuß. Es ist warm, die Sonne scheint vom blauen Himmel, ein schmeichelnder Wind zaust die Haare. Der feuchte Asphalt dampft sogar ein bißchen. An den Schnee von neulich erinnert nur schwarzer Schlamm in den Höfen.

Es läuft sich leicht, sauber gewaschene Trolley- und Autobusse fahren fröhlich dahin. Die Passanten wirken verjüngt und froh belebt. Zwischen den Autos, die mich überholen, fällt mir ein hellblauer blitzender Wolga mit zusätzlichen Scheinwerfern und Spiegeln auf, und sofort erinnere ich mich, daß der Lahme einen Geschäftemacher erwähnte, der angeblich einen blauen Wolga fährt. Für alle Fälle merke ich mir die Nummer.

Schließlich gerate ich in einen Stadtteil, in dem ich noch nie gewesen bin. Ich muß Passanten nach dem Weg fragen.

Endlich kommt das Krankenhaus in Sicht. Genauer, der Krankenhauskomplex. In einem großen Park stehen teils alte, mit vorsintflutlichen Säulen geschmückte Gebäude, teils neue, helle, die sehr stolz und selbstsicher wirken. Auf den Kreuzungen der Parkalleen stehen Pfähle mit pfeilförmigen Hinweisschildern, auf denen die Nummern der Gebäude vermerkt sind. Ich muß ins Haus vierzehn. Das ist ein einstöckiger neuer, sehr langer Bau, der hinter einer Wand von Bäumen und ungewöhnlich dichten hohen Sträuchern versteckt liegt.

Neben dem Eingang sitzen Käfer und Fuchs auf einer weißen Bank. Ja, nur die beiden von sechs.

Ich trete zu ihnen. Sie stehen auf und drücken mir freundschaftlich die Hand.

»Wo sind die anderen?« frage ich.

»Ist ihre Sache«, antwortet Käfer finster.

Fuchs grinst. »Es gibt Meinungsverschiedenheiten. Was denen vorschwebt, schwebt uns nicht mehr vor. Weg mit dem ganzen Mist. Sie halten's mit Pest.«

»Hör mal, wie heißt du?« fragt mich der dunkelhäutige schwarzhaarige Käfer.

»Vitali. Mein Spitzname ist Bulle oder Polyp, wie ihr wollt.«

Beide lachen gutmütig. »Hab ich doch gesagt, daß er ein Bulle ist!« ruft Fuchs. »Aber so ein Bulle ist mir recht.«

»Ob er Arsik auch recht ist?« sagt Käfer grinsend.

»Wer ist denn das?« frage ich.

»Der, dem du gestern den neuen Griff gezeigt hast«, erklärt Käfer achtungsvoll. »Als er heut morgen aufwachte, konnte er sich nicht rühren.«

»Mit Kindern mußt du vorsichtiger umgehen, Vitali«, sagt Fuchs. »Wir haben gerade das Jahr des Kindes, hab ich gehört.«

»Da hatte ich es wohl mit einem unartigen Kind zu tun«, entgegne ich lächelnd, »das gern mit spitzen Gegenständen spielt.«

»Wie geht's Slawka?« fragt Käfer.

»Schlecht«, antworte ich. »Er hat sich die Leber verletzt. Weißt du, was das bedeutet?«

»Kann's mir vorstellen. Hoffentlich stirbt er nicht.«

»Jungs«, sage ich halblaut, als wir in dem geräumigen kühlen Vestibül sind. »Auf besondere Erlaubnis bekommen wir jetzt Kittel. Bitte seid leise. Und wir dürfen nur fünfzehn Minuten bei ihm bleiben. Sein Zustand ist ernst. Seine Frau ist bei ihm.«

»In Ordnung!« Käfer nickt beifällig. »Eigentlich müßten wir ein paar Blümchen haben!«

»Ich kann ja welche pflücken!« Fuchs zwinkert listig.

Wir lassen den Scherz unbeachtet.

Der Reihe nach erhalten wir Kittel an der Garderobe. Die Wärterin beäugt uns furchtsam und neugierig. Wer weiß, was man ihr über uns erzählt hat. Sie erkundigt sich nicht mal, zu wem wir wollen. Ihr ist offenbar alles bekannt.

Durch eine Glastür gelangen wir in einen endlosen Korridor. Bis zu Slawkas Zimmer ist es nicht weit. Anzuklopfen erübrigt sich wohl. Ich drücke die Klinke nieder, und die Tür geht auf.

Das Zimmer ist groß und hell. Zwei Reihen Betten stehen darin, dicht beieinander. Es ist stickig.

An einem Bett dicht an der Tür sitzt die verweinte Lidia. Sie hebt den Kopf und sieht uns ängstlich an. Wir treten zu ihr, und ich frage: »Erkennen Sie mich nicht?«

»Ach, Sie sind es!« ruft sie leise aus. »Ich hatte Sie tatsächlich nicht erkannt. Und wer ist das?«

»Das sind Slawkas Kameraden«, erkläre ich kurz.

Käfer reicht ihr unvermittelt die Hand. »Wolodja«, sagt er.

Slawka liegt mit geschlossenen Augen da und stöhnt. Hin und wieder zuckt sein blasses Gesicht. Eine Weile blicken wir ihn an, dann verabschieden wir uns stumm von Lidia und verlassen das Zimmer. In der Garderobe geben wir der Wärterin die Kittel zurück.

Erst im Park finden meine Begleiter die Sprache wieder. Und Käfer sagt gereizt: »Ja... Zum Teufel mit ihm... Mit diesem Pest und seinen Märchen.«

»Genau«, entgegnet Fuchs lächelnd. »An seiner Stelle hast du jetzt Vitali. Und an Stelle der Märchen -das Strafgesetzbuch.« Und mich fragt er: »Du hast uns doch alle aufgeschrieben, nicht wahr?« Doch er schaut durchaus freundlich drein.

»Wieso aufgeschrieben?« Ich zucke die Schultern. »Es reicht doch, daß wir uns verstehen und die augenblickliche Situation begreifen.«

»Wirklich, eine ernste Situation«, knurrt Fuchs.

»Und deshalb habe ich einen Vorschlag«, sage ich. »Heut abend treffen wir uns beim Lahmen. Er erwartet uns. Ich hab ihn informiert. Dieser Schuster hat Charakter, Gewissen und Köpfchen. Auf ihn kann man sich verlassen.«

»Wer kann sich auf ihn verlassen, die Miliz?« fragt Fuchs giftig.

»Halt 's Maul!« unterbricht ihn Käfer. »Willst dich wohl zu Slawka legen? Dann hau ab.« Und er fügt hinzu: »Vitali hat gesprochen, ich hab angenommen. Aus. Heut abend beim Lahmen.«

»Ich hab auch angenommen«, sagt Fuchs.

»Also abgemacht«, erklärt Käfer. »Ich gehe.« Er gibt mir die Hand.

Wir sind schon auf der Straße. Die Burschen schlagen verschiedene Richtungen ein - schweigsam und düster.

Ich begebe mich ins Zentrum, in die Straße, die ich mir gut gemerkt habe, wo sich zwischen zahllosen Handelseinrichtungen das mir wichtige Konfektionsgeschäft befindet, der Musterbetrieb mit den sympathischen Verkäuferinnen und dem hervorragenden jungen Direktor.

Ich finde den Laden ohne besondere Mühe, obwohl ich erst einmal da gewesen bin.

Wieder werde ich, kaum bin ich eingetreten, von Aufmerksamkeit umgeben. Ich sehe mir einen Anzug nach dem anderen an, mäklig, mit Sachkenntnis, erörtere mit der jungen Verkäuferin Fasson und Schnitt. Ich lasse mir Zeit. Sollte ich auch diesmal kein Glück haben? Doch. Es klappt. Im Laden erscheint ein ungefähr vierzigjähriger Mann, mittelgroß, schlank, mit langem, gepflegtem Gesicht, auf der dünnen Nase eine elegante Brille mit heller Fassung, die dunklen, wie bei einem Unterhaltungskünstler geschnittenen Haare sollen die Ohren verdecken. Diese großen schlaffen Ohren sind wohl das einzige Zeichen seiner entfernten Verwandtschaft mit dem Marktlulatsch Jermakow, der genau solche hat. Zu einem flotten dunkelblauen Sportsakko trägt Jermakow eine hellgraue Hose. Mir fallen seine Augen auf - sie blicken klug und scharfsichtig, ein wenig ironisch sogar. Ein sehr, sehr gescheiter Herr! Merkwürdigerweise steuert er, freundlich lächelnd, geradewegs auf mich zu.

»Guten Tag«, sagt er. »Sind Sie mit unserem Sortiment und der Bedienung zufrieden?«

Ich überschütte sein Geschäft mit Komplimenten. Während er beifällig zuhört, betrachtet er mich aufmerksam, dann fragt er in anderem Ton: »Nun, und welchen Wunsch haben Sie persönlich?«

»Ich möchte ein modernes Oberhemd in warmen Beigetönen. So eins haben Sie leider nicht anzubieten.«

»Wie wär's mit einem ausgezeichneten finnischen Anzug?«

»Einstweilen nicht.«

»Schade. Wir haben Ihre Größe am Lager. Sollten Sie es sich anders überlegen, kommen Sie her - gleich zu mir«, sagt Jermakow freundlich, doch seine Augen blicken kalt und wachsam.

Da werde ich plötzlich unruhig, mir ist, als hätte ich einen Fehler gemacht.

»Danke, danke«, antworte ich. »Wenn ich wieder einmal in Ihrer Stadt bin, suche ich Sie bestimmt auf.«

»Dachte ich mir's doch, daß Sie nicht von hier sind«, entgegnet er, immer noch lächelnd. »Sind Sie aus Moskau?«

»Ja. Aber in Moskau ist bei weitem nicht jedes Geschäft so gut wie Ihres.«

»Bleiben Sie noch lange in unserer Stadt?« erkundigt er sich höflich.

»Leider fliege ich morgen zurück. Eigentlich - Gott sei Dank. Ich habe das Hotel satt, das Matschwetter, das Restaurantessen, die Langeweile. Ich möchte heim.«

Jermakow nickt. »Hatten Sie dienstlich hier zu tun?« Er lächelt spöttisch, was mir gar nicht gefällt.

»Genau. Aber möglicherweise komme ich im Sommer mit meiner Frau zur Erholung her, dann sieht alles ganz anders aus«, sage ich. »Vielleicht kaufe ich mir dann einen Anzug bei Ihnen.«

»Bitte. Wir stehen immer zu Ihren Diensten.«

Er verabschiedet sich liebenswürdig von mir und schaut mir nachdenklich nach, wobei er sich das Kinn reibt.

Ich trete auf die Straße und sehe einen LKW mit der Aufschrift »Konfektion« vorsichtig in den Nachbarhof einschwenken, von wo offenbar die Diensträume des Geschäfts zu erreichen sind. Vom Tor aus beobachte ich, wie er rückwärts langsam zu einer offenen Tür fährt, wo ihn zwei Arbeiter in grauen Kitteln erwarten. Weiter hinten bemerke ich den mir bereits bekannten blanken blauen Wolga. Indessen kommt ein unrasierter Mann mit einem Beutel in der Hand durchs Tor, und ich frage ihn begeistert, wobei ich auf den Wolga weise: »Donnerwetter, wem gehört denn das Prachtstück?«

Der Mann kneift die Augen zusammen und schnalzt träumerisch. »Ist doch klar, dem Direktor. Das ist ein Direktor, Junge, ich kann dir flüstern... Bleib gesund und huste nicht! Verstehst du?«

»Und er lebt ruhig?«

»Warum soll er nicht ruhig leben, wenn er soviel Geld hat?« Mein Gesprächspartner grinst ironisch.

»Alles bis zu einer bestimmten Zeit«, sage ich.

»He, Bruder, wenn die Zeit kommt, sind wir beide längst begraben. Obwohl.« Er betrachtet mich und grinst wieder. »Na, du kannst das vielleicht noch erleben.«

»Ich werde mich bemühen«, antworte ich ernst.

Wir nicken einander zu und gehen auseinander. Der Mann, in dessen Beutel es wie von Glas klappert, eilt zum nahen Lebensmittelladen.

Ich schlendere die Straße entlang und versuche herauszufinden, was ich bei Geli Jermakow falsch gemacht habe. Den Zustand, in dem er sich während unseres Gesprächs befand, könnte ich sogar in einem Diagramm darstellen. Zunächst war da argwöhnische, fast feindselige Wachsamkeit, als hätte er diese für ihn unangenehme Begegnung erwartet. Dann beruhigte er sich. Und zum Schluß setzte er das spöttische, verächtliche Lächeln auf, das zu sagen schien: Vor dir hab ich keine Angst!

Da ist schon das Milizgebäude. Ich suche Dawud auf, und wir erörtern alles von Anfang an. Vielleicht hat uns jemand zusammen gesehen. Dawud wurde erkannt, und mein Äußeres hat man sich gemerkt. Und dann wurde Geli Jermakow wahrscheinlich sofort informiert. Oder aber Schprinz teilte ihm unsere Unterredung mit und gab ihm meine Personenbeschreibung. Und Jermakow identifizierte mich. Ach, wie ärgerlich!

Am Abend gehen Dawud und ich zum Lahmen. Nach uns erscheinen meine Burschen in der Werkstatt. Sie sind wieder zu zweit. Aber es ist anzunehmen, daß die gefährliche Gruppe in der Form, wie sie bestand, nicht mehr existiert. Jedenfalls ist sie nun weniger gefährlich. Sie haben eine gute Lehre erhalten. Dieser beiden, Fuchs und Käfer, bin ich mir sicher. Und ich sehe, daß auch Dawud Gefallen an ihnen findet.

Friedlich trinken wir ein Gläschen, essen wunderbaren Dörrfisch dazu, den Käfer mitgebracht hat, und rauchen einträchtig, alle, außer Serjosha. Kauend hört er zu und betrachtet die Burschen gutmütig.

Unser geruhsames Gespräch zieht sich lange hin. Es ist schon spät, als wir uns trennen. Und ich glaube, alle sind zufrieden miteinander. Für mich war dies gewissermaßen eine Kompensation für den Mißerfolg bei dem schlauen Jermakow.

Am nächsten Morgen fliege ich ab.

Dawud bringt mich zum Flugplatz. In diesen vier Tagen ist unsere Freundschaft noch fester geworden. Zur Erinnerung an unser Beisammensein habe ich zwei Flaschen großartigen Weins im Gepäck. Eine werde ich zu Hause mit meiner Familie trinken. Die zweite nehme ich mit zur Arbeit, und wenn uns spät am Abend, bevor wir heimfahren, der Kopf mächtig brummt, bitte ich Kusmitsch um Erlaubnis, allen ein Gläschen dieses köstlichen Getränks anzubieten. Es ist ja kein Verbrechen, zu später Stunde auf die Gesundheit eines fernen Freundes anzustoßen.

Einiges wird klar

An dem Morgen, als ich von Jushnomorsk nach Moskau flog, erlebte Valja Denissow endlich das, worauf wir alle schon eine ganze Woche ungeduldig gewartet hatten.

Am Abend vorher waren Valja und seine Gruppe an die Reihe gekommen, in der Datsche des Akademiemitglieds Brjuchanow Posten zu beziehen. Die Gruppe bestand aus vier Mitarbeitern; vom Einbruch der Dunkelheit bis zum Morgengrauen hatte abwechselnd jeder zwei Stunden am Tor zu wachen. Angetan mit Filzstiefeln und einem warmen Pelz, der über den Mantel gezogen wurde, verbarg sich der Wachhabende im dichten Gesträuch. Eine dünne Schnur führte von seinem Platz zu einem Glöckchen in der Datsche. So war es ausgeschlossen, daß Gawrilow und Scherschen sie überraschten.

Noch bevor ich meine Dienstreise antrat, hatten wir vom Staatsanwalt die Erlaubnis erhalten, die Datsche zu durchsuchen. Und die sorgfältige Durchsuchung hatte das erwartete Ergebnis gebracht. Unter dem Fußboden eines Zimmers wurde ein Geheimversteck mit Sachen und Bildern aus dem Diebstahl entdeckt. Wie wir vermutet hatten, waren nicht alle gestohlenen Dinge vorhanden. Offensichtlich hatten Scherschen und Gawrilow nur ihren Anteil an der Beute in der Datsche verstaut. Auf jeden Fall würden sie dort aufkreuzen, sobald sie einen zuverlässigen und lohnenden Käufer gefunden oder beschlossen hatten, ihre Beute woanders unterzubringen.

Und so traf am Donnerstagabend Valja Denissows Gruppe zur Ablösung der Genossen dort unauffällig ein.

Die Rollen waren rasch verteilt. Einer stieg sofort in die riesigen Filzstiefel, mummelte sich in den Pelz und begab sich zum Tor. Valja setzte sich im dunklen Zimmer, wo über der Tür das Glöckchen befestigt war, ans Fenster. Von dort aus waren auf der Schneefläche die Ganoven leicht auszumachen, falls sie das Auto irgendwo stehenließen und nicht von der Straßenseite das Grundstück betraten. Die beiden anderen Mitarbeiter hielten sich im fensterlosen Nebenzimmer auf, wo sie Licht anzünden und Schach spielen oder lesen konnten. In der Nacht durften sie sogar ein wenig schlafen.

Nach zwei Stunden wurden die Rollen getauscht. Nun spielte Valja Schach, und bevor er die Wache am Tor übernahm, legte er sich für zwei Stündchen aufs Ohr.

So verging die Nacht ohne besondere Vorkommnisse, wenn auch voller Spannung. Allerdings war das Wetter unangenehm. Es herrschte heftiges Schneetreiben, der Sturm jagte Wehen auf, schleuderte Schneebatzen an die Fenster und pfiff in allen Tonarten durch die Ritzen der alten Datsche. Außerdem war es bitter kalt. Es war nicht so einfach, zwei Stunden am Tor auszuhalten. Die eisige Luft drang sogar durch den dicken Pelz, in den sich Valja gewickelt hatte. Der aufgestellte Kragen schützte das Gesicht, durch einen Spalt beobachtete Valja.

Es war noch dunkel, als Valja seinen Dienst gegen sechs Uhr antrat. Dann stieg zaghaft die Dämmerung auf, und in dem Grau zeichneten sich nach und nach die Bäume, die Zaunlatten und dann auch die Konturen der beiden Datschen auf der anderen Straßenseite ab.

Die Zeit kroch. Endlich hatte Valja den Pelz so zurechtgezogen, daß keine Kälte mehr eindringen konnte. Er dachte an Nina. Gestern war er zum erstenmal bei ihr zu Hause gewesen und hatte ihre Mutter kennengelernt, eine sehr nette, noch junge Frau. Nina und sie sahen wie Freundinnen aus und betrugen sich auch so. Valja wurde mit einem schmackhaften Mittagessen bewirtet, und dann schlug Nina vor, irgendwo hinzugehen. »Vielleicht sind Sie tatsächlich ein Zauberer und können Karten für jede Veranstaltung beschaffen?« fragte sie lachend. Sie dachte dabei an die Schau, die er vor ihr und Musa abgezogen hatte, in deren Ergebnis es gelungen war, Pest dingfest zu machen. Aber Valja mußte gestehen, daß er nur noch eine Stunde Zeit hatte. Offenbar schwang etwas in seinem Ton, irgendeine Spannung, daß Nina erschrak und Valja stumm anschaute... Wohl noch nie hatte ihn jemand so besorgt und zärtlich angeschaut. Wenn ich sie jetzt in die Arme nehme, dachte er. Doch Nina wurde verlegen und begann von Musa zu sprechen. Nach dieser ganzen Geschichte war Musa tagelang verschüchtert und schweigsam umhergegangen und hatte die Freundin gemieden. Gestern war sie plötzlich zu Nina gekommen und hatte bekannt, daß sie Angst habe. Irgendein Mann hatte sie aufgesucht, dessen Namen sie nicht wußte, den sie aber ein paarmal mit Nikolai im Restaurant gesehen hatte. Warum er jetzt erschienen war, hatte Musa nicht gesagt, sie hatte geweint und sich über ihr unglückliches, verkorkstes Leben beklagt. Kaum habe sie jemanden kennengelernt, kaum liebe sie richtig, da stelle sich heraus. Vor Mitleid hatte Nina auch beinahe geweint. Wer mag der Mann gewesen sein? hatte sich Valja gefragt. Das fragte er sich auch jetzt, als er in den Frühdunst jenseits des Zauns starrte. Sobald sie abgelöst und in der Dienststelle waren, würde er Kusmitsch von dem Besuch des Unbekannten berichten.

In der Ferne begann ein Hund zu kläffen. Sofort fiel ein anderer mit Baßstimme ein, noch zwei oder drei Köter gesellten sich dazu, und vielstimmiges Gebell schallte durch die Siedlung. Um die Müdigkeit zu verscheuchen, beschloß Valja, die bellenden Hunde zu zählen. Da vernahm er schwaches Motorengeräusch. Irgendwo fuhr ein Auto.

Valja, der die Hunde sofort vergessen hatte, lauschte gespannt. Das Motorengeräusch wurde leiser und verstummte. Bald darauf erklang es erneut, doch auf der anderen Seite, und es wurde immer lauter.

Wenig später zuckte gelbes Scheinwerferlicht auf und verschwand sofort. Danach kam es Valja so vor, als sei die Dunkelheit wieder dichter geworden. Da zeigte sich am Ende der Straße der Lichtstreifen erneut und verschwand nicht mehr. Im Gegenteil, er wurde heller und breiter und erfaßte die ganze Straße. Der Schnee glänzte milchig. Es bestand kein Zweifel - das Auto näherte sich der Datsche der Brjuchanows.

Vor dem Nachbargrundstück stoppte der Wagen -der Silhouette nach war es ein Moskwitsch, die Scheinwerfer erloschen, und der Motor verstummte.

Valja regte sich nicht.

Nach einer Weile wurde die rechte Wagentür geöffnet, und ein Mann stieg aus. Er schaute sich um, trampelte im Schnee, sagte etwas zu dem am Lenkrad Sitzenden und ging zur Nachbardatsche. Geschickt sprang er über den zugewehten Graben und verschwand hinter den Bäumen.

Valja nahm an, die Besitzer der Nachbardatsche wären aus irgendeinem Grund so früh gekommen, und erwartete, daß die Pforte klappte oder das Tor aufgesperrt werde. Aber alles blieb still.

Plötzlich tauchte der Mann vor dem Zaun auf, wo Valja hinter einem Strauch hockte. Der Mann spähte zur Datsche hinüber, lauschte und ging, offenbar beruhigt, auf die Straße und winkte. Sofort heulte der Motor auf, und das Auto rollte mit abgeschalteten Scheinwerfern leise brummend heran. Der Mann bückte sich zu dem heruntergedrehten Seitenfenster, sprach mit dem Fahrer, und der stieg aus. Zu zweit machten sie sich daran, das Tor zu öffnen.

Valja gab das Alarmsignal, das den Genossen in der Datsche mitteilte, daß erwartungsgemäß zwei Mann gekommen waren. Der Plan zur Festnahme der Verbrecher - bei den Ankömmlingen handelte es sich zweifellos um Gawrilow und Scherschen - war genau ausgearbeitet. Der Posten am Tor hatte dafür zu sorgen, daß den Verbrechern der Rückweg abgeschnitten war. Die Festnahme selbst war Aufgabe der Männer im Haus. Sie sollten den Ankömmlingen vorher noch Gelegenheit geben, die gestohlenen Sachen aus dem Versteck zu holen. Vor allem mußte festgestellt werden, daß sich in der Datsche keine anderen, der Durchsuchung entgangenen Geheimverstecke befanden, wo die übrigen gestohlenen Sachen und Bilder lagern konnten.

Endlich war das Tor geöffnet, das Auto fuhr, immer noch mit ausgeschalteten Scheinwerfern, vorsichtig auf das Grundstück und hielt hinter der Datsche, so daß es von der Straße nicht zu bemerken war. Dann lief einer der Männer zum Tor zurück, schloß es und ging zu seinem Kumpan, der am Auto wartete.

Aus seinem Versteck sah Valja das Auto, die Treppe und die beiden Männer. Sie lauschten, versuchten durch ein Fenster zu blicken und umkreisten das Haus. Offenbar zögerten sie hineinzugehen, als hätten sie Angst. Besonders ängstlich wirkte der eine. Er zog seinen Kameraden sogar zurück, als der die Datschentür öffnen wollte, und zwang ihn, noch einmal das Haus zu umkreisen und zu lauschen. Dieser erste war hager, er trug einen dunklen Mantel und eine Schirmmütze, der zweite, kleinere, war mit Joppe und Pelzmütze bekleidet. Valja sah ihre Silhouetten, nicht aber die Gesichter, und er sagte sich, daß der in Mantel und Schirmmütze Gawrilow sei, der vorsichtiger und gefährlicher als der zweite war. Auf ihn galt es verstärkt aufzupassen.

Valja wurde nervös. Es konnte durchaus passieren, daß er überhaupt nicht einzugreifen brauchte, wie schwer es die Jungs im Haus auch haben mochten. Das Verhältnis drei zu zwei garantierte eigentlich den Erfolg, zumal die drei speziell ausgebildete Leute waren, gewohnt an Handgemenge und Risiko, während die zwei... Ja, wozu die fähig waren, wußte niemand. Ebensowenig, wie sie bewaffnet waren.

Von Zweifeln und Befürchtungen übermannt, schlich Valja, kaum waren die Ankömmlinge im Haus verschwunden, zum Auto. Wenn es einem der Ganoven trotz allem gelänge, aus dem Haus zu entwischen, würde er zum Auto laufen. Würde er das? Er müßte dann den Motor anlassen, den Wagen wenden, zum Tor fahren und es öffnen. Nein, das würde zu viel Zeit kosten. Wohin würde er rennen? Je nachdem, wo er das Haus verließ. Die Fenster waren, außer dem einen neben der Treppe, mit Läden fest verschlossen. Dieses eine besaß seltsamerweise keine. Also käme er durch keins der übrigen Fenster und auch nicht durch die Terrassentür, die zum Winter vernagelt worden war. Folglich.

Noch ehe Valja zu Ende gedacht hatte, hörte er Geschrei im Haus, Gepolter und. einen Schuß! Für einen Augenblick war er wie versteinert, dann warf er, ohne sich zu besinnen, den Pelz und die Filzstiefel ab und riß die Pistole heraus.

In diesem Moment krachte die Datschentür auf, ein Mann sprang die Treppe herunter und flitzte, ohne das Auto eines Blickes zu würdigen, um die Ecke. Valja setzte ihm nach.

Indessen erschien einer von Valjas Mitarbeitern auf der Treppe und lief, das war ein Fehler, zum Auto, schaute hinein, hastete ums Haus und folgte erst dann den Spuren im Schnee, die zu den Datschen hinter dem Grundstück führten.

Valja war ein guter Läufer, und der nicht sehr große Abstand zwischen ihm und dem Flüchtigen verringerte sich unablässig. Der Ganove schwang sich über Staketenzäune, schlüpfte durch Pforten, bog um schlafende oder fest vernagelte Datschen, lief eine vereiste Straße entlang und stürmte erneut auf ein Grundstück. Valja hatte ihn fast erreicht, da stolperte er und fiel hin, wobei er sich den Arm auskugelte. Er richtete sich halb auf, nahm die Pistole in die andere Hand und schrie: »Halt, oder ich schieße!«

Valja begriff, daß er keine Aussicht mehr hatte, den Mann einzuholen, der Arm hing ihm schlaff herab, heftiger werdender Schmerz durchzuckte den ganzen Körper. Er mußte befürchten, mit der Linken nicht schießen zu können. Vom schnellen Lauf und vor Schmerz keuchte er, das Herz hämmerte wie rasend, und die Hand, mit der er die Pistole umklammerte, zitterte widerlich.

Der Flüchtige, der einen Schuß erwartete, suchte hinter einem Baum Schutz.

»Ich schieße, noch einen Schritt, und ich schieße!« schrie Valja und kroch, den Schmerz überwindend, auf den Baum, zu.

Der Verbrecher gab auf. Er wußte, daß es keinen Fehlschuß geben würde, denn sein Verfolger war schon zu nah.

Valja, der bis auf wenige Schritte an den Baum herangerobbt war, schoß in die Luft. Der Knall zerriß die schläfrige Stille der verschneiten Siedlung, und zahllose wütende Hundestimmen antworteten.

Nach dem Schuß erhob sich Valja mühsam, wobei er sich mit der linken Hand, die nach wie vor die Pistole hielt, abstützte, und stellte sich auf die Beine, die wie aus Watte waren und ihm nicht zu gehören schienen. Der aus der Schultergegend kommende Schmerz schien alles in ihm zu zerreißen. Außerdem fror er in seinem leichten Mantel und den dünnen Schuhen, und die Zähne schlugen krampfhaft aufeinander. Sekundenlang stand er reglos da, dann schrie er dem Mann hinter dem Baum zu: »Komm her! Hände ins Genick! Beim nächsten Mal schieß ich nicht in die Luft! Komm lieber her!«

Der Mann tat es, die Hände im Nacken verschränkt.

»Umdrehen!«

Er kam dem Befehl rasch nach.

»Jetzt vorwärts!« befahl Valja. »Ich sag dir, wo du abbiegen mußt. Und wehe, du versuchst zu fliehen. Ich schieße ohne Warnung, klar?«

»Gehen wir, gehen wir«, sagte der Ganove kläglich, der auf der Stelle trampelte. »Ich bin schon ganz durchfroren.«

Sie gingen langsam und vorsichtig, denn der eine fürchtete einen Schuß in den Rücken, der andere - vor Schwäche umzufallen.

So überquerten sie einen Hof, erreichten eine Straße und bogen auf Valjas Befehl in eine andere ab. Doch bald sah Valja ein, daß er den Weg zurück nicht fände. Aber stehenbleiben durfte er nicht, und erst recht nicht seine Unsicherheit zeigen.

Eine Frau in Filzstiefeln und mit grauem, flauschigem Tuch kam um die Ecke. Sie schleppte zwei schwere Taschen. Als sie die mitten auf der Straße gehenden Männer und in der Hand des einen die Pistole sah, schrie sie auf, blieb vor Schreck stehen und ließ die Taschen in den Schnee fallen.

»Du lieber Himmel!« jammerte sie. »Was macht ihr da?«

»Wo ist die Datsche der Brjuchanows?« fragte Valja abgehackt, ohne stehenzubleiben und ohne die Pistole zu senken.

»Gleich rechts, bieg gleich nach rechts ab«, antwortete die Frau und erkundigte sich, schon mutig geworden: »Wen führst du da ab?«

»Einen Banditen«, versetzte Valja. »Der ist bloß jetzt so friedlich, weil ich auf ihn schießen kann.«

»Hättest längst schießen sollen«, sagte die Frau erbittert. »Neulich haben sie dort drüben eine Datsche niedergebrannt, und eine andere haben sie ausgeraubt und ganz verschandelt. Wir haben Angst, abends auf die Straße zu gehen.«

Valja erwiderte nichts. Sie bogen um die Ecke. Und gleich darauf sah er die bekannte Datsche. Sie schritten durchs Tor. Vom Haus kam jemand gelaufen.

Valja hatte, wie vermutet, Gawrilow festgenommen. Im Haus saß Scherschen in einer Ecke des großen Zimmers auf einem Stuhl und winselte: »Laßt mich frei, Jungs... Was hab ich euch denn getan?... Ehrenwort, so was mach ich nie mehr. Ihr könnt alles nehmen. Laßt mich frei.«

Beim Anblick der Eintretenden rief er halb erschreckt, halb freudig: »Sie haben ihn erwischt! Wahrhaftig, sie haben ihn erwischt!«

»Sei still, du Trottel«, murmelte Gawrilow böse.

Mehr vermochte er seinem Freund nicht zu sagen. Er wurde sofort ins andere Zimmer geführt, und nachdem man ihm Handschellen angelegt hatte, mußte er sich auf einen Stuhl setzen. Ein Mitarbeiter blieb als Wache bei ihm. Im dritten Zimmer, wo sie in der Nacht Schach gespielt hatten, ließ sich Valja erschöpft auf die Liege fallen. Ein Kollege brachte ihm ein Glas starken heißen Tee. Valja trank gierig, in kleinen Schlucken, und er spürte, wie sich eine heiße Welle im Körper ausbreitete. Vor Schwäche wurde ihm schwindlig. Als er das Glas ausgetrunken hatte, sagte er zu dem Kollegen, wobei er auf den hilflos herabhängenden Arm deutete: »Los, zieh! Ich hab mir die Schulter ausgerenkt, verstehst du!« Und als er die Unschlüssigkeit des anderen sah, schrie er: »Zieh schon, los!«

Und der Mann gehorchte.

Wilder Schmerz durchzuckte die Schulter. Valja schrie auf, biß sich auf die Lippe und verlor für eine Sekunde das Bewußtsein. Aber der Schmerz ließ sogleich nach. Bald darauf wagte Valja den rechten Arm zu bewegen. Und plötzlich merkte er, daß er die Hand wieder voll einsetzen konnte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, seufzte erleichtert und sagte zu dem Genossen: »In Ordnung. Folgendes, Gena: Geh anrufen. Sie sollen sofort Autos herschicken. Aber zuerst sprich mit Kusmitsch, und wenn er nicht da ist, mit dem Diensthabenden. Verstanden?«

»Klar«, antwortete Gena und ging hinaus. Valja lehnte sich an die Wand und schloß die Augen.

Die Autos kamen nach einer Stunde.

Valja glaubte in dieser Zeit nur ein wenig geduselt zu haben, doch er war in bleiernen traumlosen Schlaf gesunken.

Erst als Petja Schuchmin ihn an der kranken Schulter berührte, schrie er auf und erwachte.

Petja war erst tags zuvor aus dem Krankenhaus entlassen worden, und Valja hatte ihn noch nicht gesehen. Deshalb glaubte er im ersten Moment, er träume noch. Verwirrt starrte er den Freund an und fragte: »Bist du's, Petja?«

»In eigener Person«, antwortete der. »Oder bin ich mir nicht mehr ähnlich?«

»Doch, doch«, sagte Valja lachend und erwachte vollends. Er erhob sich von der Liege, schwenkte vorsichtig den rechten Arm und überzeugte sich von neuem, daß der Schmerz nachließ. Dann zog er sich den Mantel an, mit dem er sich zugedeckt hatte, und eilte hinaus.

Draußen brummten zwei Wolgas. Ihre Fahrer mühten sich mit dem roten Moskwitsch ab, der nicht anspringen wollte, obwohl er noch keine drei Stunden im Frost gestanden hatte. Schließlich wurde er doch bezwungen. Die Fahrer gingen zu ihren Autos, während sich einer der Mitarbeiter ans Lenkrad des Moskwitsch setzte. Die Verhafteten wurden herausgeführt. Wenig später fuhr die ganze Kolonne Richtung Moskau.

Ich erscheine im Dienst, kurz bevor Kusmitsch und Valja mit der Vernehmung Scherschens beginnen. Sie haben beschlossen, Gawrilow warten zu lassen und ihn mit den von Scherschen erhaltenen Angaben zu überführen, denn sie sind der Meinung, daß dieser verängstigte Bursche weit mehr auspacken wird als der schweigsame erbitterte Gawrilow. ,

Als ich bei Kusmitsch eintrete, kommt er mir erfreut entgegen, schüttelt mir die Hand und klopft mir sogar auf die Schulter. Diese Gefühlsbekundung nach meiner Dienstreise wundert mich, und ich ahne, daß inzwischen jemand aus Jushnomorsk angerufen und Kusmitsch etwas gesagt hat, was gar nicht notwendig gewesen wäre.

»Du kommst gerade richtig«, sagt Kusmitsch. »Nimm Gawrilow mit zu dir und unterhalte dich offenherzig mit ihm. Noch ist er nicht abgekühlt. Und gräm dich nicht, wenn er mit der Sprache nicht herausrücken will. Er hat einen ziemlich schroffen Charakter. Sobald wir Scherschen vernommen haben, befassen wir uns noch einmal mit ihm. Also nimm ihn einstweilen mit. Nachher berichtest du mir von deinen glänzenden Erfolgen in Jushnomorsk.«

Es muß ihn tatsächlich jemand angerufen haben.

»Und noch eins«, fährt Kusmitsch fort. »Gawrilow wäre unseren Männern beinahe entwischt. Er«, Kusmitsch deutet auf Valja, »hat ihn eingeholt und zurückgebracht. Gawrilow hatte Angst, daß auf ihn geschossen wird. Er hat sich wahrscheinlich immer noch nicht von seinen Erlebnissen erholt. Knöpf ihn dir vor.« Und zu Valja sagt er: »Also her mit diesem Scherschen. Wie ist eigentlich sein Vorname?«

Gawrilow kann sich nicht fassen, und ich bin einstweilen auch noch wie benommen. Mir ist, als hätte ich mich eben erst von Dawud verabschiedet, vom Meer, dessen salzigen Geschmack ich noch auf der Zunge habe. Eben erst habe ich Swetka und Anna Michailowna umarmt, bin zum Frühstück bei ihnen hereingeplatzt. Swetka hing glücklich an meinem Hals und wirbelte mit den Beinen in der Luft.

Und nun sitzt eine Stunde später der düstere, erbitterte Gawrilow in offenem Mantel vor mir, den grünen Schal um den Hals, und knetet die Schirmmütze. Und ich muß all das, womit ich mich in Jushnomorsk beschäftigt habe, unverzüglich aus meinem Kopf verjagen und mich an das erinnern, was wir über diesen wenig sympathischen Wunderschlosser und seinen Kumpan wissen.

Er sitzt vor meinem Schreibtisch und starrt zu Boden.

Ich zünde mir eine Zigarette an und sage: »Es wird Ihnen nicht gelingen, Gawrilow, den Diebstahl in der Wohnung der Brjuchanows abzustreiten. Sie sind gewissermaßen auf frischer Tat ertappt worden. Ihre Komplizen brauchen Sie natürlich nicht zu nennen. Aber ob Sie nun zu zweit waren oder zu fünft, gemeinschaftlicher Diebstahl ist es so und so. Das Strafgesetzbuch kennen Sie doch?«

Gawrilow schweigt und blickt nicht auf. Wahrscheinlich überlegt er, wie er sich verhalten soll, was für ihn jetzt am vorteilhaftesten ist. Soll er überlegen, ich werfe ihm dazu noch etwas hin.

»Den gemeinschaftlichen Diebstahl können Sie also als erwiesen betrachten«, fahre ich fort. »Eine andere Sache ist die Rolle des Anführers, des Anstifters. Hat man nur zwischen Ihnen beiden zu wählen, dann kommen für diese Rolle selbstverständlich Sie in Frage.«

Gawrilow wirft mir einen raschen Blick zu.

»Hätte man zwischen Ihnen beiden zu wählen«, wiederhole ich. »Aber Sie waren nicht zu zweit, sondern zu fünft, nicht wahr?«

Gawrilow knurrt, ohne den Kopf zu heben: »Und wenn wir zu fünft waren, was dann?«

»Dann kann ein anderer der Anführer und Anstifter gewesen sein. Das ist der erste Punkt, Gawrilow, über den es sich nachzudenken lohnt, einverstanden?«

»Nachzudenken lohnt immer, wenn man Ihnen in die Hände fällt«, antwortet Gawrilow schroff, immer noch mit gesenktem Blick.

»Richtig«, stimme ich zu. »Um so mehr, als es einen zweiten Punkt gibt, über den es sich nachzudenken lohnt, sogar mehr als über den ersten. Der zweite Punkt ist der Mord, Gawrilow.«

»Was, was?!« Wütend schaut er mich an.

»Mord«, wiederhole ich. »Am Tag vor dem Diebstahl. Im Hof.«

»Das fehlt mir gerade noch!« Gawrilow holt tief Luft und sagt spöttisch: »Hängen Sie das einem anderen an. Bei mir ist da nichts zu holen. Bestimmt müssen Sie die Sache schnellstens aufdecken und den Vorgesetzten Bericht erstatten?«

Er ist plötzlich redselig geworden, dieser schweigsame Typ, und merkwürdig schnell hat er sich gefaßt. Das gefällt mir überhaupt nicht. »Ja, wir müssen den Fall aufdecken und Bericht erstatten«, bestätige ich. »Was denn sonst? Das ist doch eine ernste Geschichte, Gawrilow.«

»Dann tun Sie das. Ich habe damit nichts zu schaffen.«

»Durchaus möglich. Aber eins steht fest: Sie sind mit den Mördern durch ein anderes, gemeinsam verübtes Verbrechen verbunden - den Einbruchsdiebstahl. Da haben wir...«

»Mit keinem sind wir verbunden«, unterbricht mich Gawrilow grob. »Wie oft soll ich das noch sagen?«

»Wir haben Beweise«, fahre ich gelassen fort. »Hieb- und stichfeste Beweise, Gawrilow.«

»Geschwafel, keine Beweise.«

»Urteilen Sie selbst«, sage ich. »Bei Ihnen wurde nur ein Teil der gestohlenen Sachen gefunden. Ungefähr ein Drittel. Wer hat das übrige?«

Gawrilow starrt wieder zu Boden. Wenn er die Zähne zusammenbeißt, als zwinge er sich zu schweigen, treten Beulen an den mageren Wangen hervor.

»Das ist das erste«, fahre ich fort. »Doch wir müssen nicht nur alles finden, bis zum letzten Stück, sondern auch alle, die es verstecken. Nun das zweite. Wir kennen die Mörder. Einer von ihnen ist bereits verhaftet. Wir haben seinen Handschuh in der Wohnung gefunden, in der auch Sie gewesen sind. Mithin ist er der dritte, der mit Ihnen den Diebstahl begangen hat. So ist es doch?«

Gawrilow hebt den Kopf und grinst höhnisch. »Du bist auf dem Holzweg, Chef«, sagt er mit unverständlicher Freude, »Du bist auf dem Holzweg. Hat der, den ihr verhaftet habt, den Diebstahl gestanden?«

»Bisher noch nicht.«

»Und das wird er auch nie«, sagt Gawrilow befriedigt.

»Warum nicht?«

»Weil ihr schlecht arbeitet«, entgegnet Gawrilow frech.

»So schlecht nun auch wieder nicht«, erwidere ich beinahe gleichgültig. »Zum Beispiel haben wir Sie erwischt. Dazu noch auf frischer Tat. Sie freuen sich also umsonst. Und den Mord klären wir auch noch auf. Und je eher, desto besser für Sie. Und nun, Gawrilow, frage ich Sie: Wieviel Leute sind an dem Diebstahl beteiligt gewesen, zusammen mit Ihnen, hm? Zählen Sie gut, irren Sie sich nicht.«

»Zählen Sie doch selbst«, antwortet Gawrilow spöttisch. »Bis fünf. Das lernt man in der ersten Klasse.«

»Ihre Tochter geht gerade in die erste Klasse?« frage ich. »Und der Papa, ein wahrer Tausendkünstler, hat beschlossen, sich erst einmal mit fremden Wohnungen zu befassen, nicht wahr? Und alle Einkünfte dem Schwiegervater, dem Grafen, zu überschreiben?«

Gawrilow runzelt die Brauen und blickt beiseite.

»Damit ist es vorbei, Iwan Stepanowitsch«, sage ich. »Wir werden überprüfen, ob Sie noch an anderen Wohnungsdiebstählen beteiligt waren. Sie haben sich ja als ein gewaltiger Spezialist erwiesen. Insbesondere als Spezialist für Schlösser. Da gibt es für Sie keine Geheimnisse, wie man hört. Und dann die Verbindungen, die Sie haben. Die Komplizen kommen sogar aus einer anderen Stadt angereist.«

»Hören Sie auf mit dem Gefasel, Chef!« Gawrilow sieht mich matt an.

»Wieso Gefasel?« entgegne ich. »Kolja, Ljocha und Lew Ignatjewitsch sind nicht von hier, das wissen Sie doch.«

»Gar nichts weiß ich.«

»Und Sie kennen sie auch nicht?«

»Genau.«

»Na, na, Gawrilow. Koljas Handschuh kettet Sie an ihn. Und dadurch an den Mord.«

Gawrilow schaut mich nach wie vor matt und nachdenklich an. »Da kannst du überprüfen, solange du willst«, sagt er schließlich. »Das ist unser erster Diebstahl. Oleg, der Teufel, hat mich verleitet.«

Offenbar kreisen seine Gedanken ständig um den Wohnungsdiebstahl. Und der Handschuh regt ihn nicht auf, ebensowenig wie der Mord. Seltsam.

»Oleg - wer ist das schon!« Ich winke geringschätzig ab. »Einem Trunkenbold glaubt man nicht. Aber Lew Ignatjewitsch - das ist eine andere Sache. Wenn er euch den Tip mit der Wohnung gegeben hat...«

»So einen kenne ich nicht«, unterbricht mich Gawrilow.

»Kolja kennen Sie auch nicht?«

»Nein.«

»Aber sein Handschuh.«

»Der Handschuh hat's dir wohl angetan!«

»Warum auch nicht? Der ist wie eine Visitenkarte.«

»Na gut«, sagt Gawrilow entschlossen, nachdem er tief Luft geholt hat. »Die Nummer hat also nicht geklappt. Genauer gesagt, den Handschuh hab ich im Hof aufgehoben und in die Wohnung mitgenommen. Dort hab ich ihn hingeworfen.«

»Weshalb?«

»Um euch was vorzumachen. Ich dachte, die befassen sich mit dem Mord, und da hängen sie den Diebstahl den Mördern auch gleich mit an. Aber offensichtlich ist es umgekehrt gekommen. Ihr wollt uns den Mord anhängen. Doch damit haben wir nichts zu schaffen. So ist das.«

Eine Weile schweige ich und versuche nach diesem verblüffenden Geständnis meine Gedanken zu sammeln. Wenn es so ist, dann hat alles Hand und Fuß. Pest und Ljocha sind an dem Diebstahl nicht beteiligt gewesen. An dem Morgen war der eine bei seiner Musa, der zweite bei Polina Tichonowna. Und den Handschuh nahm Gawrilow in die Wohnung mit. Das ist ein Ding! Und Lew Ignatjewitsch. Und Semanski. Aber das später, später. Nein, zum Staunen und zur Freude ist es noch zu früh. Hier muß ruhig untersucht werden.

»Also sind Sie zu zweit in der Wohnung gewesen?« frage ich.

»Ja.«

»Und den Handschuh haben Sie also im Hof gefunden. Wann?«

»Ich hab ihn aufgehoben, als sie wegrannten«, erklärt Gawrilow herablassend.

»Demnach haben Sie gesehen, was dort geschah?«

»Alles. Ich hatte diese Kerle schon lange bemerkt. Dachte sogar«, Gawrilow lächelt verhalten, »ob da nicht Konkurrenten aufgekreuzt sind.«

»Die kreisten auch um die Wohnung?«

»Ja.«

»Warum? Wie denken Sie jetzt darüber?«

»Wer weiß. Allerdings hab ich ein Gespräch von ihnen aufgeschnappt«, teilt Gawrilow nachdenklich mit. »Aber damals verstand ich nicht die Bohne.«

»Wer unterhielt sich da?«

»Na diese älteren Männer. Den einen machten sie dann kalt. Vor meinen Augen. Ich bin fast verrückt geworden.«

»Und worum ging es in dem Gespräch?«

»Der eine, der am Leben geblieben ist, sagte: >Mein Rat: Wir verschwinden und kommen ihm nie mehr unter die Augen.< - Und der andere entgegnete: >Er ist mein Freund, er wird dir nichts tun.< Und der erste: >Doch, da kannst du sicher sein.< Das war das ganze Gespräch.« Gawrilow gibt den Wortlaut geradezu erleichtert wieder. Als wäre er eine Last, die ihn bedrückte, losgeworden. Ja, der Mord scheint Gawrilow an die Nieren gegangen zu sein.

»Und dann wurde er ermordet.«, sage ich nachdenklich.

»Genau. Vor meinen Augen.«

»Hat er geschrien?«

»Dazu ist er nicht gekommen.«

»Hat das noch jemand gesehen?«

»Nein. Bloß ich.«

»Und Sie sind nicht weggerannt, um Hilfe zu holen, haben keinen gerufen?«

»Meine Zunge war wie gelähmt«, sagt Gawrilow kleinlaut. »Immerhin geschah es vor meinen Augen. Ich zitterte am ganzen Leib.«

»Konnten Sie die Kerle erkennen?«

»Weiß ich nicht«, Gawrilow wendet den Blick ab, als habe ihn meine Frage erschreckt. »Es war dunkel. Eine Frau hat sie gesehen, als sie vom Hof liefen, aber dann kamen sie zurück.«

»Hat sie auch den Toten gesehen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Woher kam die Frau?«

»Aus dem Haus. Nicht aus dem im Hof, wo die Wohnung ist, sondern aus dem anderen, das an der Straße steht. Sie trug einen roten Mantel und eine weiße Mütze.«

»War Scherschen an dem Abend mit Ihnen zusammen?«

»Nein. Ich war allein.«

»Könnten Sie die Kerle identifizieren?«

»Sie wollen mich als Zeugen haben?« fragt Gawrilow grinsend.

»Ja.«

»Das geht nicht, Chef. Ich muß selber vor Gericht.«

»Nach dem Gesetz können Sie in einem anderen Fall als Zeuge auftreten. Sie bleiben ja Bürger.«

»Was bin ich denn jetzt für ein Bürger!« Gawrilow winkt geringschätzig ab und fügt plötzlich hinzu: »Aber einem Menschen das Leben nehmen - das kann ich nicht.«

»Das können Sie nicht?« frage ich. »Aber Sie wollten doch einen Menschen totfahren, dort, in der Nähe der Datsche. Oder haben Sie das vergessen? Mit dem Auto wollten Sie ihn überfahren.«

»Das war Stepan!« ruft Gawrilow. »Der war halb blödsinnig vor Angst. Ich hab ihm eine gescheuert in dem Moment. Und das Lenkrad herumgerissen. Es ist ja sein Moskwitsch, er saß am Lenkrad.«

»Stimmt«, sage ich, »es ist sein Moskwitsch.«

»Ja«, greift Gawrilow auf, »ich hab nie jemanden umbringen wollen. Mal lange Finger machen - das ist eins, aber töten - das ist ganz was anderes, das ist schrecklich, das ist das Letzte.«

»Stimmt«, sage ich und nicke. »Das Allerletzte. Und Sie wollen solche Unmenschen decken, Iwan Stepanowitsch? Heute haben die einen Ihnen fremden Menschen umgebracht, morgen...«

»Hör auf, mir auf der Seele zu knien, Chef, die ist sowieso schon völlig zerfetzt«, unterbricht mich Gawrilow finster. »Morgen. Was bedeutet mir >morgen

»Möge Gott verhüten, wie man so sagt, daß sie solche Unmenschen trifft.« Ich zwinge Gawrilow, beim Thema zu bleiben. »Denn der, dem der Handschuh gehört, hat ein Mädchen aus Nowosibirsk zum Krüppel geschlagen, der Halunke. Kurzum, eine wahre Bestie. Aber äußerlich. Vor kurzem hat er hier noch einer den Kopf verdreht.«

»Wenn mir so einer in die Quere kommt«, stößt Gawrilow hervor, »erwürg ich ihn mit meinen eigenen Händen, den Hund!«

»Warum mit den eigenen Händen?« sage ich. »Mit den Händen des Gesetzes ist es sicherer. Alles muß seine Richtigkeit haben, Iwan Stepanowitsch. Sie, zum Beispiel, haben den Menschen viel Leid zugefügt. Und deswegen müssen Sie nach Recht und Gesetz bestraft werden. Doch diesen Kerl, sein Spitzname lautet übrigens Pest, und das paßt zu ihm, erwartet eine besondere Strafe. Er hat einen Menschen getötet.«

»Alles richtig«, sagt Gawrilow bekümmert.

»Aber damit das Gesetz auch ihn, diesen Mörder, gerecht bestraft«, fahre ich fort, »braucht es Beweise. Und Sie haben diese Beweise, Iwan Stepanowitsch. Die wichtigsten Beweise. Wenn Sie aussagen - wird die Strafe gerecht ausfallen. Wenn nicht, kann der Mord vielleicht gar nicht bewiesen werden. Das ist gefährlich, Iwan Stepanowitsch, für alle Menschen ist das gefährlich, wenn er ungeschoren freikommt.«

»Das verstehe ich schon, ich bin ja nicht von gestern.«

»Zumal Sie eine Tochter haben. Also, Sie helfen uns?«

»Mal sehen.«

»Sehen Sie zu, Iwan Stepanowitsch, überlegen Sie. Lassen wir es damit einstweilen bewenden. Der Untersuchungsführer wird Sie dann noch verhören.«

»Dem sage ich nichts«, warnt mich Gawrilow. »Ich warte auf Sie.«

Anscheinend habe ich doch etwas erreicht, habe ich eine geheime Saite in ihm berührt.

»Na, na«, sage ich begütigend. »Der hat auch Verständnis. Da können Sie ganz ruhig sein.«

»Das bin ich. Unruhig kann er sein - solange ich schweige.«

»Na schön«, sage ich. »Verbleiben wir so: Sie überlegen, und wir überlegen. In Ordnung?«

»Ihre Sache«, Gawrilow zuckt gespielt gleichgültig die Schultern. »Notfalls könnte ich ihn ja identifizieren.«

Vor Überraschung fehlen mir die Worte, und ich nicke nur.

Gawrilow wird abgeführt. Ich zünde mir eine Zigarette an und gehe eine Weile hin und her. Allmählich beruhige ich mich.

Dann schließe ich mein Zimmer ab und begebe mich zu Kusmitsch.

Als ich bei ihm eintrete, wird Scherschen immer noch vernommen. Scherschen ist ein rotblonder, rundgesichtiger Mann mit listigen Augen, die sonst wahrscheinlich immer lächeln. In dem hellen, karierten Anzug und mit dem übermäßig breiten Schlips wirkt er wie ein Geck; an der linken Hand trägt er einen goldenen Siegelring.

»Wie in der Beichte habe ich Ihnen alles gestanden, Bürger Leiter«, sagt er weinerlich. »Iwan hat mir befohlen: >Fahr ihn tot!< Ich wollte das nicht. Aber aus Schwäche hab ich nachgegeben. Ich bin ein schwacher Mensch, verstehn Sie? Ich wollte Iwan auch von diesem verfluchten Diebstahl abhalten. Aber kann man den von etwas abhalten? Ich habe eine alte Mutter zu versorgen, Bürger Leiter. Und dazu eine Schwester mit Kind, ihr Kerl hat sie sitzengelassen! Für alle muß ich aufkommen. Ich selbst leiste mir nichts. Versetzen Sie sich mal in meine Lage! Ich unterschreibe Ihnen, was Sie wollen, ich bestätige alles!«

»Schon gut, Stepan Iwanowitsch!« Kusmitsch schmunzelt. »Es langt. Sie haben uns schon mehr als notwendig erzählt. Es dauert drei Tage, ehe wir die Wahrheit von der Unwahrheit geschieden haben. Von beidem haben Sie uns eine Menge aufgetischt.«

»Es ist die Wahrheit! Alles! Die reine Wahrheit!« ruft Scherschen erschrocken und fuchtelt mit den kurzen dicken Armen. »Ich habe nichts verschwiegen und nichts hinzugefügt.«

»O doch«, unterbricht ihn Valja Denissow schroff, »zum Beispiel haben Sie uns nicht gesagt, wo die übrigen Sachen aus dem Diebstahl versteckt sind.«

»Ich weiß es nicht!« ruft Scherschen verzweifelt und preßt die mit rötlichem Flaum und Sommersprossen bedeckten Hände an die Brust. »Iwan hat sie versteckt. Wirklich, Iwan!«

Plötzlich läßt er sich auf die Knie fallen. Der sabbernde Mund ist verzerrt, über die dicken pickligen Wangen rollt je ein Tränchen.

»Stehn Sie auf, Scherschen«, sagt Kusmitsch verächtlich. »Sie sind nicht in der Kirche, hier wird nicht um Vergebung der Sünden gefleht.«

Scherschen erhebt sich. »Man darf mich nicht ins Gefängnis stecken, Genossen Leiter«, bettelt er. »Der Humanismus erlaubt es nicht. Ich muß meine alte Mutter ernähren! Und meine schwerkranke Schwester mit dem kleinen verlassenen Kind. Sie kämen sonst um! Bei Gott, sie kämen um! Ich bin ungefährlich! Wenn Iwan im Gefängnis ist, rühre ich nichts Fremdes mehr an! Fragen Sie, wen Sie wollen! Ich bringe Ihnen tausend Zeugen und alle möglichen Bürgen!«

»Schon gut, es langt!« erklärt Kusmitsch ärgerlich.

Er ruft den Begleitposten, und Scherschen wird abgeführt.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, setze ich mich. Wir tauschen die erhaltenen Informationen aus.

In den Hauptpunkten stimmen unsere Angaben überein. Den Diebstahl haben Gawrilow und Scherschen verübt, den »Tip« lieferte ihnen unabsichtlich der ewig betrunkene Oleg Brjuchanow, als er ihnen lang und breit von seinem Prozeß gegen die Schwester und von den in der Wohnung befindlichen Wertsachen und Bildern erzählte. Von dem Mord im Hof und von dem Handschuh weiß Scherschen nichts. Das dürfte die Wahrheit sein, Gawrilow plaudert nicht gern aus der Schule.

»Oh, dieser Gawrilow ist ein ganz Pfiffiger!« Kusmitsch wiegt den Kopf. »Der Einfall mit dem Handschuh... Das ist eine tolle Idee gewesen! Aber du bist auch tüchtig, Lossew«, sagt er zu mir. »Hast dich zu seinem Bewußtsein vorgetastet.«

Kusmitschs Lob freut mich.

Indessen kommt Petja Schuchmin herein, ihm folgt Viktor Anatoljewitsch, unser Untersuchungsführer. Valja Denissow erzählt, wie Gawrilow und Scherschen festgenommen wurden, ich - von meiner Dienstreise. Mein Bericht dauert ziemlich lange.

»Schprinz ist ein Erfolg in dieser Sache«, bemerkt Viktor Anatoljewitsch im Laufe meiner Erzählung.

Als ich geendet habe, seufzt Kusmitsch und sagt: »Nun, meine Lieben, den Diebstahl haben wir aufgeklärt. Was meinen Sie, Viktor Anatoljewitsch?«

»Ich meine, ja«, antwortet der lächelnd. »Wir müssen den Fall abschließen und dem Gericht übergeben. Zuvor aber müssen wir die übrigen Sachen und Bilder aufstöbern.« Nach einer kleinen Pause wendet er sich an mich: »Sie, Vitali, werden morgen Gawrilow offiziell vernehmen. In meinem Auftrag. Bringen Sie ihn so weit, daß er verrät, wo die fehlenden Sachen sind. Und wenn er in der Mordsache als Zeuge auftritt, so ist das ein großer Gewinn. Und natürlich müssen wir die Frau mit dem roten Mantel finden«, sagt er zu Kusmitsch.

»Machen wir«, antwortet er, »noch heute beginnen wir mit der Suche.«

»Und die Hauptsache«, sage ich, »jetzt steht fest, daß ich mich im Cafe mit Lew Ignatjewitsch alias Pawel Alexejewitsch getroffen habe. Er war unruhig geworden, als ich Kuprejtschik auf die Pelle rückte. Da habe ich gar keinen Zweifel. Und dieser Lew Ignatjewitsch ist in den Mord an Semanski verwickelt, er ist der Organisator.« All das sage ich hitzig, heftig sogar, als streite jemand mit mir.

Kusmitsch fügt nachdenklich hinzu: »Dieser Mord deutet auf ein Wirtschaftsverbrechen hin, meine Lieben.« Er sieht zunächst mich, dann Viktor Anatoljewitsch an.

»Ja«, bestätigt der. »Es ist wohl an der Zeit, die OBChSS einzuschalten. Einige interessante Figuren zeichnen sich bereits ab.« Viktor Anatoljewitsch nimmt ein Blatt Papier, nennt die Namen und notiert sie. »Also Semanski. Er ist ermordet. Dann Lew Ignatjewitsch. Weiter - Schprinz, Jermakow, die sind alle in Jushnomorsk. Ja! Hier in Moskau ist noch Kuprejtschik.« Viktor Anatoljewitsch schließt jeden Namen in ein Quadrat, verbindet sie mit punktierten Linien, malt ein Fragezeichen an jede Linie und erklärt: »Die funktionellen Verbindungen sind noch nicht genau festgestellt, einige Glieder kennen wir gar nicht.«

»Schreiben Sie auch den zweiten Jermakow auf«, sage ich. »Wassili Prokofjewitsch, ein Vetter von Geli

Stanislawowitsch, er leitet die Filiale auf dem Markt. Ein großer Gauner, schlimmer vielleicht als Geli.«

»Machen wir«, antwortet Viktor Anatoljewitsch, und nachdem er sich den Namen notiert hat, bemerkt er: »All dies muß ein Spezialist sorgfältig studieren. Ich denke da an Ihren Bekannten aus der OBChSS. Sie haben kürzlich mit ihm zusammengearbeitet. Wie heißt er doch?«

»Meinen Sie Albanjan?« frage ich.

»Richtig. Weihen Sie ihn in die Sache ein. Und dann berufen wir, wie immer, eine kleine Konferenz mit den anderen Abteilungen ein. Sind Sie einverstanden, Fjodor Kusmitsch?«

»Völlig«, sagt Kusmitsch. »Und dieser Kuprejtschik spielt nicht die letzte Rolle in der Geschichte, wenn seinetwegen solch ein Kampf entbrannt ist. Sie haben es ja sogar auf einen Mord ankommen lassen.«

»Das goldene Huhn«, versetze ich spöttisch.

»Ich möchte wissen, was es legt«, ergänzt Petja.

Valja hüllt sich wie immer in Schweigen, erst zum Schluß sagt er: »Vermutlich ist es Lew Ignatjewitsch gewesen, der Musa aufgesucht hat. Er wollte bestimmt erfahren, wo Pest steckt.«

»Sehr wahrscheinlich«, sagt Kusmitsch. »Demzufolge führen drei Wege zu ihm: über Kuprejtschik, über Sowko und über Musa. Einer von ihnen muß wissen, wie man an diesen Lew Ignatjewitsch herankommt.«

»Weder Kuprejtschik noch Sowko werden seine Adresse so mir nichts, dir nichts preisgeben«, sagt Petja. »Man muß sie zwingen.«

»Selbstverständlich«, stimmt Kusmitsch zu. »Da müssen wir uns was einfallen lassen, meine Lieben.«

»Berücksichtigt aber«, bemerkt Viktor Anatoljewitsch, »daß wir gegen diesen Lew Ignatjewitsch keinen einzigen Beweis haben. Verhaften können wir ihn also vorläufig nicht. Und deshalb empfiehlt es sich auch nicht, ihn zu beunruhigen.«

»Richtig«, sagt Kusmitsch nachdenklich. »Beunruhigen werden wir ihn nicht, aber wir werden uns in seinem Umfeld umtun. Dann bekommen wir auch die Beweise. Also, wir machen es so: Schuchmin, du holst Musa her. Du, Denissow, machst die Frau im roten Mantel ausfindig. Ohne sie kommst du nicht zurück. Nun, und Lossew geht zu den Kollegen der OBChSS. An die Arbeit, meine Lieben. Verliert keine Zeit. Ohnehin ist der halbe Tag schon um.«

Wir erheben uns von unseren Plätzen. Viktor Anatoljewitsch verabschiedet sich von jedem und vereinbart eine neue Zusammenkunft.

Ja, der Fall nimmt eine neue, unverhoffte Wendung. Und seine Konturen treten immer deutlicher hervor.

Ich gehe zu unseren Nachbarn in den vierten Stock.

Als erster von uns dreien erfüllte Petja seinen Auftrag. Schon nach einer Stunde kehrte er mit Musa in die Dienststelle zurück. Schokoladen-Musa sah blaß und abgemagert aus, und die wie sonst grell geschminkten Lippen und die grünlichen Lidschatten ließen sie nicht attraktiv, sondern eher geschmacklos und häßlich erscheinen. Musa fühlte sich offensichtlich schlecht, und ihre Stimmung war scheußlich. Manche Frauen werden in solchen Situationen bissig und giftig, andere weinerlich. Musa gehörte wohl zu den weinerlichen. Als sie Kusmitschs Zimmer betrat, standen ihr bereits Tränen in den Augen, und ihre Finger zupften nervös an dem feuchten Taschentuch.

»Guten Tag, Musa Wladimirowna«, sagte Kusmitsch, erhob sich und schob ihr einen Stuhl hin. »Nehmen Sie bitte Platz. Tut mir leid, daß wir Sie noch einmal behelligen mußten.«

»Macht nichts«, entgegnete Musa traurig und setzte sich. »Andere behelligen mich weit mehr.«

»Sie denken da an Sowko?«

»Der wird nun wahrscheinlich lange keinen mehr behelligen, nicht wahr?«

»Ja. Ich hoffe es.« Kusmitsch nickte und blickte Musa über den Tisch hinweg forschend an. »Aber Sie scheinen es zu bedauern, daß er Sie nicht mehr behelligt?«

»Stellen Sie sich vor, ja!« antwortete Musa unerwartet herausfordernd. »Was soll ich jetzt anfangen? Ich hab doch bloß ihn, und ich will nur ihn. Seinetwegen habe ich meinen Mann verlassen, der mir widerlich wurde.«

Kusmitsch zuckte die Schultern. »Ich fühle mit Ihnen.«

Musa betupfte die Augen, seufzte und sagte: »Ach, was habe ich von Ihrem Mitgefühl, wenn mein Leben verpfuscht ist.«

»Na, na«, sagte Kusmitsch lächelnd. »Geht alles vorbei. Vergessen Sie diesen Banditen. Er hätte Ihnen das Leben tatsächlich verpfuscht, das stimmt.«

»Ja, natürlich. Ich verstehe«, antwortete Musa leise und senkte den Kopf.

»Gut.« Kusmitsch seufzte seinerseits. »Lassen wir das. Aber wer behelligt Sie denn mehr als wir? Das sagten Sie doch?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe«, antwortete Musa und bemühte sich, nicht erneut in Tränen auszubrechen. »Ich bin so vergeßlich. Auch bei der Arbeit. Es ist furchtbar.«

»Dann will ich genauer fragen. Ist einer von Sowkos Bekannten bei Ihnen gewesen und hat sich nach ihm erkundigt?«

»O ja!« rief Musa und legte die Hände an die Wangen. »Ich hab so einen Schreck gekriegt, hab sogar geweint.«

»Und wer war das?«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Beschreiben Sie ihn mir!« ,

»Ziemlich klein, korpulent, schon älter. Grauer Schnurrbart. Tränensäcke. Ich hatte ihn früher schon gesehen. Er war mit Nikolai ein paarmal bei uns im Restaurant.«

»Wie heißt er?«

»Nikolai machte uns damals nicht bekannt. Doch als er jetzt kam, sagte er, er heiße Pawel Alexejewitsch. Nur...« Musa stockte.

»Was heißt >nur

»Er hat mich angelogen!« Sie lächelte schwach. »Ich kenne die Männer, weiß, wie sie sich vorstellen, und ich merke sofort, wenn sie lügen.«

Kusmitsch schmunzelte. »Von Sowko haben Sie den Namen nie gehört?«

»Nie.«

»Und den Namen Lew Ignatjewitsch haben Sie auch nie gehört?«

»Lew Ignatjewitsch? Den habe ich gehört, glaube ich.« Musa überlegte. »Nikolai hat mit Ljocha über diesen Mann gesprochen.«

»Erinnern Sie sich, was sie gesprochen haben?«

»Nein, ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich an gar nichts mehr.« Musa kamen erneut die Tränen, und sie winkte ärgerlich ab. »Mein Kopf ist völlig leer. Ich glaube, Nikolai wollte diesem Lew. Lew. irgend etwas nicht geben.«

»Lew Ignatjewitsch.«

»Ja, Lew Ignatjewitsch. Aber Ljocha sagte, der könne jemanden anrufen und sich beschweren. Ja, so war's wohl.«

»Und Nikolai?«

»Meiner Meinung nach hatte der vor niemandem auf der Welt Angst. Doch diesmal gab er klein bei. Ich wunderte mich darüber.«

Kusmitsch nickte nachdenklich. »Und haben Sie mitbekommen, wo dieser Lew Ignatjewitsch hätte anrufen können? Vielleicht in einer anderen Stadt?«

»Ja, ja, in einer anderen Stadt. Weit weg von hier.«

»Wen? Hat Ljocha keinen Namen genannt?«

»Doch. Einen komischen Namen. Ich dachte noch, daß wir ihn in der Schule durchgenommen haben, in Chemie, glaube ich.«

»In Chemie?« fragte Kusmitsch verdutzt.

»Ja, natürlich!« rief Musa freudig aus. »Geli*. Ein komischer Name, nicht? Geli Stanislawowitsch. Ja.«

»Und was sagte der Mann, der zu Ihnen kam? Erinnern Sie sich?«

»Selbstverständlich. Er fragte mich, ob ich wüßte, wo Nikolai ist. Und ich antwortete: >Ich weiß es nicht.< Das hatten Sie mir doch befohlen?«

»Richtig. Und was sagte er?«

»>Stimmt nicht<, sagte er. >Sie wissen es. Aber ich finde ihn auch unter der Erde. Der bleibt in meiner

* Helium Nähe. Er will ja essen.< Ich hatte große Lust, ihm zu verraten, wo Nikolai jetzt ißt.«

»Und weiter sagte er nichts?«

»Er fluchte auf die gemeinste Art. Und dabei sieht er so solide aus. Und dann sagte er noch: >Ich hätte nicht gedacht, daß er so ein Waschlappen ist.< Bei Ljocha wäre das was anderes, meinte er. Der türmt, wenn er Angst hat. Von Nikolai hätte er das nicht gedacht. Und zu mir sagte er: >Sie werden es noch hundertmal bedauern, daß Sie ihn verstecken.< Er drohte mir. Ich wär vor Schreck beinahe gestorben.«

»Hat er Ihnen eine Adresse oder Telefonnummer dagelassen?«

»Eine Telefonnummer. Nikolai soll ihn anrufen. Ich zeige sie Ihnen gleich. Er hat sie mir aufgeschrieben. Wo hab ich denn den Zettel?« Musa begann hastig in ihrer Handtasche zu kramen, nahm bald den einen, bald den anderen Zettel heraus, sah ihn sich an und steckte ihn ärgerlich zurück. Endlich fand sie den, den sie suchte. »Da!« Sie reichte Kusmitsch einen Fetzen Zeitungspapier. »Das hat er selbst geschrieben.«

Da standen die Telefonnummer und zwei Abkürzungen. Kusmitsch überlegte, dann nickte er. »Damit befassen wir uns. Darf ich das behalten?«

»Selbstverständlich.«

»Danke. Will der Mann wiederkommen?«

»Nein. Er sagte, er warte auf Nikolais Anruf. Er war überzeugt, daß ich ihm nur nicht verraten wollte, wo Nikolai ist.«

»Sehr schön. Und wann will er angerufen werden?«

»Abends. Dienstags und freitags. Er hat es aufgeschrieben.«

»Und wann ist er bei Ihnen gewesen?«

»Mein Gott, wann war das?... Ach ja! Vorgestern, am Donnerstag. Ich hatte Dienst. Und er setzte sich an einen meiner Tische.«

»Kennt er Ihre Privatadresse?«

»Wo denken Sie hin! Nikolai hätte sie ihm nie gegeben. Er hat sie keinem gegeben, nicht mal Ljocha.«

»Danke, Musa Wladimirowna«, sagte Kusmitsch. »Sie haben uns sehr geholfen. Und grämen Sie sich nicht. Alles, was geschehen ist, ist zu Ihrem Besten, glauben Sie mir. Sie werden sich jetzt mehr um Ihre Tochter kümmern und Ihrer Mutter helfen. Das lenkt Sie ein bißchen ab.«

»Wenn es seine Tochter wäre.«, antwortete Musa leise und biß sich auf die Lippe.

»Seine Tochter läuft in einer anderen Stadt herum«, erwiderte Kusmitsch gereizt.

Musa schaute ihn an. »Das hätten Sie sich sparen können!«

»Verzeihen Sie«, sagte Kusmitsch verlegen. »Es ist mir so herausgerutscht. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

»Unterschreiben Sie meinen Passierschein«, verlangte Musa kühl.

Als sie gegangen war, saß Kusmitsch eine Weile an seinem Tisch und rieb sich ärgerlich die grauen Stoppelhaare am Hinterkopf. Dann blickte er auf die Uhr, stand auf, verwahrte die Papiere vom Tisch im Safe, schloß sein Zimmer ab und ging essen. Auch diesen Sonnabend verbrachte er im Dienst.

Nach dem Mittagessen erschien Valja Denissow. Mit ihm kam eine große, nicht mehr junge Frau in rotem Mantel.

Als Kusmitsch wieder in seinem Zimmer war, ging Valja mit der Frau zu ihm.

»Rosa Grigorjewna«, stellte er sie Kusmitsch vor.

»Nehmen Sie Platz, Rosa Grigorjewna«, sagte Kusmitsch. »Ihnen ist sicherlich bekannt, warum wir Sie hergebeten haben?«

Die. Frau war älter, als man auf den ersten Blick annahm, wenn man sie nach ihrer schlanken Figur und ihrem elastischen Gang beurteilte. Ihr schmales Gesicht mit den großen strengen Augen war von einem Netz kleiner Fältchen überzogen, und sie hatte die derben knotigen Hände einer Arbeiterin. Die ein wenig schütteren hellen Haare, die an den Schläfen schon grau wurden, waren nachlässig zu einem Knoten geschlungen.

»Ja«, antwortete sie. »Er hat mir alles auseinandergesetzt.« Rosa Grigorjewna deutete auf Valja.

»Sie erinnern sich also an jenen Abend?«

»Natürlich erinnere ich mich.«

»Dann beschreiben Sie mir, was Sie beobachtet haben.«

»Das habe ich ihm doch schon beschrieben«, die Frau deutete erneut auf Valja, »und ihm war alles klar.«

»Nun beschreiben Sie es mir, damit auch mir alles klar wird«, sagte Kusmitsch lächelnd.

»Bitte. Also das war so um zehn. Genauer, schon nach zehn. Im Fernsehen war gerade der Film zu Ende. Und ich ging hinaus. Unser Hof ist schrecklich dunkel. Wieviel Eingaben wir schon gemacht haben! Da kann man ermorden und berauben, wen man will! Schon der selige Boris Kirillowitsch hat sich bemüht.

Versprochen wurde viel, aber diese verfluchte Finsternis blieb. Ist das denn richtig, frage ich Sie?« Rosa Grigorjewna geriet in Zorn. »Ich verrate Ihnen keine Silbe, wenn Sie nicht für eine Hofbeleuchtung sorgen!«

»Wir werden alles tun, was von uns abhängt, Rosa Grigorjewna«, sagte Kusmitsch ernst. »Das verspreche ich Ihnen.«

»Gut. Alle werden Ihnen dankbar sein«, entgegnete Rosa Grigorjewna und begann mit der Erzählung. »Ich ging also hinaus, und es war stockdunkel...«

»Weshalb gingen Sie auf den Hof?«

»Weshalb wohl? Um den Meinigen zu suchen.«

»Ihren Mann?«

»Wen denn sonst? Bei jeder Gelegenheit rückt er ins Kesselhaus aus. Da hat er seine dreimal verfluchten Kumpane. Mit mir vor dem Fernseher zu sitzen paßt ihm ja nicht. Ich komme also raus. Da sehe ich zwei zum Tor laufen, wo eine Lampe am Haus ist. Dort rief einer dem anderen etwas zu, und sie kehrten um. Mir war's, als hätte mir jemand einen Stoß versetzt. Bestimmt sind das Gauner, dachte ich, und die haben was angestellt, die Teufel. Ich schlich ihnen nach. Da sah ich sie aus einem Schuppen kommen. Wieder rannten sie zum Tor. Und der eine, es war so ein Großer, Schlanker, Lippen hatte er wie ein junges Mädchen.«

»Sie haben also sein Gesicht erkennen können?« fragte Kusmitsch.

»Gewiß. Er war ja unter der Lampe. Während sie liefen, fragte er den anderen, so einen Bären, sie kamen gerade an mir vorbei: >Hast du die Bretter richtig drübergelegt?< Und der sagte: >Hab ich, der kann da bis zum Frühjahr liegen, ohne zu verfaulen.< Die beiden Halunken lachten, und weg waren sie. Ich dachte noch, was kann da nicht verfaulen?«

»Und wohin gingen Sie?«

»Ins Kesselhaus natürlich, um den Meinigen zu holen.«

»Erzählen Sie Fjodor Kusmitsch, daß Sie das Akademiemitglied Brjuchanow gekannt haben«, forderte Valja sie auf, »daß Sie bei ihm saubergemacht haben.«

»Ja«, Rosa Grigorjewna nickte, »ich hab bei ihnen saubergemacht. Jahrelang! Und ich hab mich auch um ihre Kinder gekümmert. Und jetzt gehe ich zweimal die Woche zu Inna. Ebenfalls zum Saubermachen. Und manchmal koche ich ihnen was.«

»Sieh mal einer an«, rief Valja erstaunt, »das haben Sie mir ja gar nicht erzählt, daß Sie immer noch hingehen.«

»Du liebe Güte! Kann man denn alles auf einmal sagen?«

»Und an welchen Tagen machen Sie dort sauber?« fragte Kusmitsch.

»Wenn Inna anruft, lauf ich hin. Mir ist jeder Tag recht. Ich bin ja schon seit drei Jahren Rentnerin.«

»Wann waren Sie zum letzten Mal dort?«

Rosa Grigorjewna überlegte. »Heut haben wir Sonnabend. Ja, dann bin ich gestern dort gewesen, am Freitag. Da hatte sich wieder Staub angesammelt, du lieber Himmel.«

»Und um welche Zeit haben Sie gestern saubergemacht?« fragte Kusmitsch.

»Als ich vom Einkaufen kam, taten mir die Füße weh, ich konnte einfach nicht mehr. Hier muß man anstehen, dort. Man schafft es kaum noch nach Hause. Ich hab mich ein bißchen ausgeruht, mir etwas zu essen gemacht, dann bin ich hingegangen. Inna hatte mir morgens die Schlüssel gebracht, ehe sie in die Poliklinik ging. Ja, so um zwei oder drei hab ich mich aufgemacht.«

»Und wann sind Sie von dort weggegangen?« fragte Kusmitsch.

»Weggegangen? Wissen Sie, ich sehe nie auf die Uhr. Wenn alles sauber ist, dann gehe ich.«

»Ist in der Zwischenzeit Inna Borissowna oder Viktor Arsentjewitsch heimgekommen?« wollte Kusmitsch wissen.

»Viktor Arsentjewitsch kam, mit Lebensmitteln. Die kauft er immer selbst ein. Und nicht zu knapp. Das ist seine Aufgabe. Manchmal bewirtet Inna auch mich. Aber gestern brachte er einen Gast mit. Ich habe ihnen natürlich Tee gemacht. Doch mit dem Abendbrot wollten sie auf Inna warten.«

»Was war das für ein Gast?«

»Nun, wie soll ich sagen.« Rosa Grigorjewna überlegte kurz. »Mächtig ernst, nicht groß, sieht aus wie 'n Pilz. Graues Schnurrbärtchen. Und er machte ganz böse Augen und zischte wie ein Ganter.«

Kusmitsch blickte Valja an. »Der Gast hat große Ähnlichkeit mit Lew Ignatjewitsch, findest du nicht?«

»Doch«, antwortete Valja und fragte Rosa Grigorjewna: »Haben Sie zufällig gehört, wie Viktor Arsentjewitsch seinen Gast anredete? Lew Ignatjewitsch?«

»Weshalb hätte ich lauschen sollen?« entgegnete Rosa Grigorjewna unbekümmert. »Ich hab ihnen Tee gemacht und bin gegangen.«

Auf dem Tischchen neben Kusmitschs Sessel klingelte eins der Telefone. Kusmitsch nahm den Hörer ab und erkannte meine Stimme.

»Fjodor Kusmitsch«, sagte ich. »Genosse Albanjan und sein Chef, Genosse Gennadi Antonowitsch Uglow, möchten nach meiner ausführlichen Information einiges mit Ihnen besprechen. Sind Sie frei?«

»Wir beenden hier gerade eine Unterhaltung«, antwortete Kusmitsch. »In fünf Minuten rufe ich zurück. Übrigens müßte auch Viktor Anatoljewitsch dabeisein. Weißt du, ob er in seinem Zimmer ist?«

»Ja, er ist dort«, sagte ich, »eben habe ich mit ihm gesprochen.«

»Nun, das wär's einstweilen!« Kusmitsch hängte den Hörer auf und schaute Valja an. »Du mußt Viktor Anatoljewitsch abholen. Um Zeit zu sparen, berichtest du ihm unterwegs schon einiges. Nimm einen Wagen.«

»In welche Richtung fahren Sie?« erkundigte sich Rosa Grigorjewna. »Vielleicht könnten Sie mich bei der Gelegenheit nach Hause bringen? Der selige Boris Kirillowitsch hat mich immer mitgenommen. Aber Viktor Arsentjewitsch.«

»Verzeihen Sie, Rosa Grigorjewna«, unterbrach sie Kusmitsch, »Sie können ihm unterwegs alles schildern. Er nimmt Sie mit.« Und Kusmitsch zwinkerte Valja fröhlich zu.

Valja unterdrückte mit Mühe ein Lächeln und sagte zu Rosa Grigorjewna: »Kommen Sie. Im Auto erzählen Sie mir von Viktor Arsentjewitsch. Vielleicht fällt Ihnen noch etwas Neues ein.«

Als sie hinausgegangen waren und Valja die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm Kusmitsch den Hörer ab, wählte bedächtig eine kurze Nummer und sagte: »Bitte. Ich stehe Ihnen zur Verfügung.«

Im Ergebnis unserer sonnabendlichen Konferenz ist mir die schwierige Aufgabe zugefallen, durch Kuprejtschik diesen Lew Ignatjewitsch aufzuspüren.

Mit Kuprejtschiks möglichen oder durchaus wahrscheinlichen Machenschaften, für die er seine Dienststellung ausnutzt, wird sich Edik Albanjan intensiv befassen. Mich hingegen interessiert Lew Ignatjewitsch einstweilen lediglich als Anstifter und Organisator des Mordes an Semanski. Daß er das war, ergibt sich aus der Aussage von Schprinz und dem von Gawrilow belauschten Gespräch zwischen Semanski und Lew Ignatjewitsch, das sich zu einem ernsthaften Streit ausweitete, den wiederum Sofja Semjonowna beobachtete, als sie mit ihren Enkeln auf dem Spielplatz war. Kurzum, Lew Ignatjewitschs Beteiligung an dem Mord ist klar, doch leider fehlen uns noch die direkten oder indirekten Beweise. Den Weg zu Lew Ignatjewitsch soll uns nun Kuprejtschik zeigen, ob er das will oder nicht.

Es liegt auch auf der Hand, daß sich Lew Ignatjewitsch nur deshalb mit mir traf und ein erhebliches Bestechungsgeld versprach, weil ich auf Kuprejtschik gestoßen war und er fürchtete, daß dieser sich aus einem Opfer in einen Angeklagten verwandelte. Dann hätte das »goldene Huhn« nicht nur keinen »Gewinn« mehr gebracht, wie sich Schprinz ausdrückte, sondern die ganze »goldene Kette« mitgerissen, darunter auch ihn selbst, Lew Ignatjewitsch. Und offensichtlich beunruhigt Lew Ignatjewitsch nicht nur die Untersuchung des Diebstahls in Kuprejtschiks Wohnung, sondern auch die Untersuchung des Mordes an Semanski.

Vorläufig wissen wir nur eins über ihn - daß er Moskauer ist. Wäre uns sein Nachname bekannt, ließe sich leicht die Adresse ermitteln, wo er wohnt oder zumindest gemeldet ist. Eine schwache Hoffnung, diese Adresse zu finden, glomm in mir auf, als Kusmitsch mir den Zettel mit der Telefonnummer gab, den Lew Ignatjewitsch Musa dagelassen hatte. Aber es war Kuprejtschiks Nummer. Da faßten wir natürlich den Plan, Lew Ignatjewitsch heute, am Dienstag, zu verhaften oder unter Beobachtung zu nehmen, wenn er, wie auch am vorigen Freitag, zu Kuprejtschik kommen sollte, um auf Nikolais Anruf zu warten.

Das Haus wird seit Mittag überwacht. Drei Stunden später kommt Kuprejtschik von der Arbeit nach Hause, dann seine Frau. Lew Ignatjewitsch erscheint nicht. An diesem Abend erhält Kuprejtschik überhaupt keinen Besuch.

Nun dürfte es schwierig werden, Lew Ignatjewitsch zu verhaften oder, genauer, aufzuspüren. Einerseits kann es Zufall sein, daß er an dem von ihm selbst festgesetzten Tag nicht an dem genannten Telefonapparat erschien - Krankheit oder ein unvorhergesehener Zwischenfall -, andererseits kann er die Gefahr gewittert und sich der Falle geschickt entzogen haben. Nun weiß wahrscheinlich nicht einmal Kuprejtschik, wo sich dieser Typ versteckt. Trotzdem wollen wir mit Kuprejtschik reden.

Deshalb rufe ich Kuprejtschik am nächsten Tag, also am Mittwoch, an und vereinbare mit ihm, daß ich ihn nach seiner Rückkehr von der Arbeit zu Hause aufsuchen werde.

Vorher treffe ich mich mit Edik Albanjan, der, wie abgesprochen, genau um fünfzehn Uhr dreißig bei mir erscheint.

Edik setzt sich mit einer dicken Mappe neben mich an den Tisch, schlägt sie auf, und während er Seite für Seite überfliegt und umblättert, berichtet er: »Also erstens. Was dieses Garn betrifft. Erinnerst du dich, daß Schprinz sagte, er erhalte es aus Moskau?«

»Auch Lidia, die Buchhalterin von Schprinz, sprach davon«, füge ich hinzu. »Sie sagte, das Garn sei nicht ins Geschäft gekommen, sondern als Transitware irgendwohin gegangen. Vergiß das nicht.«

»Keine Angst«, entgegnet Edik, »wir merken uns alles. Also, dieses Garn wird Schprinz tatsächlich aus Moskau geliefert. Aus Kuprejtschiks Fabrik. Klar?«

»Völlig offiziell?«

»So ist es.« Edik lächelt schlau. »Aber da gibt es Probleme. Erstens: Wie ist dieses Garn in Kuprejtschiks Fabrik gelangt? Genauer, wie ist es über allen Bedarf und alle Limits hinaus in solcher Menge dorthin gelangt, verstehst du die Frage? Die Materialwirtschaftler schaffen gern Reserven, besonders an Rohprodukten, die Mangelware sind. Es könnte ja sein, daß plötzlich etwas dringend gebraucht wird. Oder es muß, weil etwas Notwendiges fehlt, getauscht werden. Kurzum, es ist nicht weiter verdächtig, solche Überschüsse, oder, wie man sagt, illiquiden Waren zu haben. Aber...« Edik hebt einen Finger. »Paß auf, was weiter geschieht. Zunächst erzielt Kuprejtschik diese Überschüsse. Ich habe die Papiere gesehen. Gestern hab ich den ganzen und heute den halben Tag bei ihnen in der Buchhaltung gesessen.«

»Wird Kuprejtschiks Abteilung nichts davon erfahren?«

»Na hör mal!« Edik lächelt herablassend. »Wofür hältst du mich? Keiner ahnt, von welcher Firma ich komme. Also, zunächst erzielt Kuprejtschik diese Überschüsse an Garn, dann stößt er sie fast umgehend wieder ab, indem er sie Schprinz schickt. Dieses Garn ist, nebenbei bemerkt, große. Mangelware und sehr teuer. Und er hat es in riesigen Mengen an Schprinz geliefert, ganz offiziell, ich habe mich selbst überzeugt. Es liegt eine Verfügung der übergeordneten Verwaltung für Versorgung und Absatz vor.«

»Und wer hat die hohe Unterschrift geleistet?« frage ich.

»Der stellvertretende Leiter der Verwaltung, wie es sich gehört. Er heißt Jermakow.«

»Jermakow?« frage ich ungläubig. »Ist das ein Namensvetter?«

»Keineswegs«, antwortet Edik. »Mit Vor- und Vatersnamen heißt er Dmitri Stanislawowitsch. Er ist also der Bruder des hervorragenden Direktors des Konfektionsgeschäfts. Und das ist der Anfang der Kette, verstehst du? Das sind die Moskauer Glieder. Das übrige ist dort!« Er schwenkt unbestimmt die Hand.

»Aber in Moskau ist noch Lew Ignatjewitsch«, erinnere ich. »Welche Rolle spielt er, was meinst du?«

»Das ist vorläufig unklar.«

»Und welche Rolle hat deiner Meinung nach Semanski gespielt?«

»Auch das ist vorläufig unklar.«

»Darf ich deine Angaben, vorsichtig natürlich, in dem Gespräch mit Kuprejtschik benutzen?« frage ich.

»Einem anderen würde ich es nicht erlauben. Dir vertraue ich. Aber vergiß nicht: Die Kette darf auf keinen Fall aufgestört werden. Wenn ein Alarmsignal nach Jushnomorsk geht, dann... Na, du weiß selbst, was dann ist. Das Signal kann abgehen, wenn du Kuprejtschik erschreckst. Er würde es geben.«

»Oder Lew Ignatjewitsch.«

»Ja, falls Kuprejtschik ihn informiert«, stimmt Edik zu und fragt: »Hat Schprinz dir erzählt, daß Kuprejtschik diesen Lew Ignatjewitsch nicht leiden kann?«

»Ja.«

»Und daß er mit Semanski befreundet war?«

»Das hat mir Kuprejtschik gesagt.«

»Oh! Hier kannst du doch einhaken, findest du nicht?« Edik sieht mich fragend an.

»Ja, du hast recht. Da ist was dran. Aber die Hauptsache ist, Kuprejtschik darf Lew Ignatjewitsch nicht informieren und kein Alarmsignal nach Jushnomorsk senden. Wir müssen erreichen, daß es unvorteilhaft für ihn ist.«

»Prachtkerl!« ruft Edik begeistert.

»Und was beabsichtigst du weiter zu tun?« frage ich.

»Ich unternehme eine Reise«, sagt Edik lachend. »Auf deinen Spuren. Gibst du mir Empfehlungsschreiben mit?«

»Wenn du sie dir verdienst.«

»Was? Habe ich sie mir etwa noch nicht verdient?« Edik rollt die Augen. »Du armer Kerl, du hast ja keine Ahnung. Was ist allein Dmitri Stanislawowitsch Jermakow wert?«

»Du legst dich doch nur für dich selbst ins Zeug!« foppe ich ihn.

»Für mich?« fragt er mit traurigem Vorwurf. »Und wer hat mich eben um Erlaubnis gebeten, meine Ausbeute zu benutzen?«

»Ich gebe mich geschlagen!« sage ich. »Du kriegst die Briefe.«

»Das will ich meinen!« Edik nickt zufrieden und schaut auf die Uhr. »Und jetzt gehe ich. In drei Minuten kommt jemand zu mir. Mach's gut!« Er steht auf, nimmt seine Mappe und läuft zur Tür.

Auch ich schaue auf die Uhr. Höchste Zeit für mich, aufzubrechen.

Die Tage werden schon merklich länger, und draußen ist es noch hell. Das ist angenehm, und es hebt die Stimmung. Der Frühling ist nah. Obwohl es noch kalt ist und auf den Höfen und in den Anlagen Schnee liegt, fühle ich mich beschwingt. Leider hat schon der Berufsverkehr eingesetzt, und nur mit großer Mühe gelingt es mir, mich in einen Trolleybus zu zwängen, nachdem ich eine Weile gewartet habe. Arg lädiert steige ich schließlich aus.

Und dann überquere ich den mir bereits vertrauten Hof, der sich jedoch verändert hat, seit ich zum letztenmal hier war. Da und dort schimmert Asphalt durch die dünn gewordene Schneedecke, der kleine vereiste Hügel sieht schmutzig aus, und er ist zusammengesackt.

Niemand begegnet mir. Im Haus trägt mich der alte Lift klappernd in den zweiten Stock.

Kuprejtschik empfängt mich wieder in der braunen bequemen Jacke und den pelzbesetzten Hausschuhen. Freudig lächelt er mir zu. Doch sein Aussehen gefällt mir nicht. Er ist abgemagert, die Lider sind wie von Schlaflosigkeit gerötet, und der Blick ist unstet.

Im Korridor lege ich ab. Am Kleiderhaken hängt nur Kuprejtschiks Mantel. Folglich ist Inna Borissowna noch nicht da. Meine Schirmmütze lege ich neben Kuprejtschiks Hut und eine flauschige Pelzmütze. Sie kommt mir bekannt vor.

Im Arbeitszimmer mache ich es mir in einem riesigen Ledersessel bequem. Der Bücher- und Zeitschriftenwust in den Regalen und auf den Tischen wirkt nach wie vor imposant. Wahrscheinlich liquidiert Kuprejtschik ihn deshalb nicht. Immer noch hängen die Bilder über dem Sofa. Allerdings ist mir, als hätte ihre Zahl zugenommen, als wären sie enger zusammengerückt. Vervollständigt Kuprejtschik die Sammlung seines Schwiegervaters?

Auf dem niedrigen Tischchen vor mir stehen eine kleine Schale mit Süßigkeiten und eine größere mit Äpfeln. Neben dem Aschenbecher aus tschechischem Glas, der einige Kippen enthält, liegen Zigaretten und ein Gasfeuerzeug.

»Nun, was führt Sie diesmal zu mir?« fragt Kuprejtschik gespielt treuherzig und langt nach einer Zigarette.

»Mein Vorschlag, den ich Ihnen neulich machte«, antworte ich. »Damals sagte ich ungefähr folgendes: Vertagen wir unser Gespräch und denken wir beide nach. Erinnern Sie sich?«

»Ich erinnere mich.« Kuprejtschik schiebt mir die Schale mit den Äpfeln zu. »Bedienen Sie sich!«

»Danke. Ich rauche lieber...« Ich ziehe eine Zigarette aus dem Päckchen und schnipse mit dem Feuerzeug. »Ja, ich wünschte sehr, daß Sie nachdenken. Denn Sie erklärten mir, Sie hätten Semanski gekannt, sie wären sogar Freunde gewesen, doch von einem Lew Ignatjewitsch hätten Sie nie gehört.«

»Völlig richtig.« Er nickt. »Und das behaupte ich auch heute.«

»Und noch kategorischer?«

»Ebenso kategorisch.«

»Gut. Dann möchte ich Ihnen noch etwas aus unserem vorigen Gespräch ins Gedächtnis zurückrufen.«

»Das ist nicht nötig«, unterbricht er mich. »Ich habe nichts vergessen.«

»Manchmal ist Erinnern nützlich«, entgegne ich. »Also wir folgerten, daß die Freundschaft mit Semanski einen Fleck auf Ihrer Reputation hinterlassen hat. Und ich setzte voraus, daß Sie Ihre Bekanntschaft mit Lew Ignatjewitsch leugnen, weil Sie keinen zweiten, schmutzigeren Fleck haben wollen. Ist es so?«

»Ja.« Kuprejtschik nickt. »Was die Genauigkeit Ihrer Erinnerungen betrifft. Aber einen zweiten Fleck brauche ich nicht zu fürchten, da ich einen Lew Ignatjewitsch nicht kenne. Das habe ich Ihnen damals gesagt, und heute wiederhole ich es.«

Diese unverhohlene Lüge ist mir seltsamerweise doppelt unangenehm. Wahrscheinlich deshalb, weil ich es gewohnt gewesen bin, in Kuprejtschik das Opfer zu sehen und ihn aus diesem Grund für meinen natürlichen Verbündeten zu halten. Unsere Unstimmigkeiten kamen mir wie Mißverständnisse oder Fehler vor. Doch jetzt hat Kuprejtschik mich unverfroren angelogen. Und das überzeugt mich, mehr als Ediks Enthüllungen, daß Kuprejtschik in irgendwelche Verbrechen verstrickt ist.

»Da wäre etwas, Viktor Arsentjewitsch, was ich Ihnen mitteilen muß«, sage ich entschlossen. »Seit unserer letzten Begegnung haben wir einiges getan. Wir haben den Diebstahl aufgeklärt und werden Ihnen die gestohlenen Sachen und Bilder bald zurückgeben.«

»Nicht möglich!« ruft er überrascht aus. »Sie haben den Fall tatsächlich aufgeklärt?«

»Ja. Stellen Sie sich das vor.«

»Nun, und... Wer sind die Täter?«

»Einbrecher. Sie kennen die Kerle nicht.«

»Aber. Sie sagten doch. Kurzum, sind die auch in den Mord verwickelt?«

»Nein. Das sind zwei verschiedene Verbrechen, die von verschiedenen Tätern, wenn auch gleichzeitig, verübt wurden.«

»Ach so ist das.«

»Im wesentlichen haben wir auch den Mord an Semanski aufgeklärt. Darin sind allerhand Leute verwickelt. Was die beiden betrifft, die den Mord unmittelbar begangen haben, so ist der eine verhaftet, der zweite. leider ums Leben gekommen.«

»Ums Leben gekommen?« ruft Kuprejtschik.

»Dieser Tod betrifft Sie nicht. Wie auch die Verhaftung des zweiten Sie nicht betrifft, hoffe ich. Das hoffe ich sehr.«

Er will etwas sagen, doch mit einer schroffen Geste hindere ich ihn und fahre fort: »Aber bei diesem schweren Verbrechen gibt es Mittäter. Und die sind noch auf freiem Fuß.«

»Und Sie kennen sie?« fragt Kuprejtschik nervös.

»Ja.«

Ich streife die Zigarettenasche im Aschenbecher ab, den ich zu mir herangezogen habe, und bemerke plötzlich zwei oder drei krumme, verkohlte Streichhölzer zwischen den Kippen. Offenbar hat sich jemand damit vergnügt, sie bis zum Schluß abbrennen zu lassen. Das ist ja eine Entdeckung! Sollte Lew Ignatjewitsch vor mir hier gewesen sein? Ja, er ist nicht gestern hier gewesen, sondern heute, kurz vor mir. Deshalb ist Kuprejtschik so aufgeregt.

»Ich kenne sie. Und sie sind noch auf freiem Fuß«, wiederhole ich, nachdem ich mich von meiner Überraschung erholt habe.

»Ist Ihnen etwas Unangenehmes eingefallen?« fragt Kuprejtschik teilnahmsvoll und sieht mich forschend an.

»Nein. Ich habe nur überlegt, wie ich mich möglichst klar ausdrücken könnte, damit Sie mich verstehen.«

»Oh, keine Sorge, ich verstehe Sie!« sagt er schnell.

»Das hoffe ich. Mord ist ein schreckliches Verbrechen. Wohl das schrecklichste. Warum hindern Sie uns, es endgültig aufzuklären?«

»Ich? Na hören Sie mal! Wissen Sie, was Sie da reden?« Kuprejtschik springt auf, sein Gesicht überzieht sich mit Röte.

»Ja, ich weiß es«, bestätige ich ruhig. »In diesem Fall gibt es nicht nur die Mörder. Es gibt auch einen Anstifter. Und Sie hindern mich, ihn zu finden und festzunehmen.«

»Ich? Ich hindere Sie? Quatsch!« murmelt Kuprejtschik und wendet den Blick ab.

»Sagen Sie«, frage ich unvermittelt. »Kennen Sie Georgi Iwanowitsch Schprinz?«

»Ich? Nein.«

»Aber er kennt Sie, stellen Sie sich das mal vor. Erst vor drei Tagen habe ich mich mit ihm unterhalten.«

»Mit Schprinz?« ruft Kuprejtschik verzweifelt. »Wozu brauchen Sie den Jämmerling, können Sie mir das verraten?«

Ich zucke die Schultern. »Ich muß den Mord an Semanski endgültig aufklären.«

»Wozu brauchen Sie da Schprinz?«

»Um Sie zu zwingen, die Wahrheit zu sagen.«

»Welche Wahrheit?«

»Augenblick. Rosa Grigorjewna kennen Sie auch nicht?«

»Rosa Grigorjewna? Was hat die mit alldem zu tun?«

»Sie hat mit Ihnen zu tun. Ebenso wie Schprinz.«

»Ich glaube, ich verliere den Verstand!« Er springt erneut auf und geht aufgeregt hin und her. Dann bleibt er abrupt vor mir stehen und fragt gequält: »Was wollen Sie von mir?«

»Die Wahrheit.«

»So... Die Wahrheit...« Plötzlich beugt er sich vor und flüstert: »Und wenn die Wahrheit weh tut?«

»Was können wir da machen, Viktor Arsentjewitsch? Sie hätten mit dieser Wahrheit eben nicht in Berührung kommen dürfen.«

»Ach, was verstehen Sie vom Leben!« Er winkt ärgerlich ab.

Es drängt mich, ihm etwas über das Leben zu erzählen, über das redliche und, das unredliche Leben, auch über das Gewissen und darüber, daß er nicht nur seinen Namen besudelt und daß er nicht nur sein Leben verhunzt hat. Und außerdem - daß man für alles im Leben bezahlen muß. Aber ich habe jetzt kein Recht, ihm all dies zu sagen. Deshalb frage ich nur streng: »Also, werden Sie mit der Wahrheit herausrücken?«

»Was denn? Was wollen Sie?« Kuprejtschik verzieht schmerzlich das Gesicht und sinkt aufs Sofa. »Was soll ich sagen?«

»Kennen Sie Lew Ignatjewitsch?«

»Nein, nein und nein!«

»Aber Schprinz behauptet, Sie kennen ihn. Und Rosa Grigorjewna hat ihn am vergangenen Freitag bei Ihnen gesehen. Und vor einer Stunde.«

Da durchzuckt mich eine Vermutung. Nein, nicht vor einer Stunde ist Lew Ignatjewitsch hier gewesen. Im Korridor liegt seine Mütze. Ich habe sie erkannt. Natürlich! Und Kuprejtschiks Nervosität, sein Flüstern: »Und wenn die Wahrheit weh tut?«, seine huschenden Blicke zur Tür zwischen den Bücherregalen. Wer ist in dem Nebenzimmer?

Entschlossen stehe ich auf und gehe wortlos in den Korridor.

»Was ist los, Vitali Semjonowitsch?« ruft Kuprejtschik erschrocken und stürzt mir nach.

»Nichts Besonderes.«

An der Wohnungstür drehe ich den in dem altertümlichen Schloß steckenden großen, mit Figuren verzierten Schlüssel herum, der mir schon bei meinem ersten Besuch aufgefallen ist. Wahrscheinlich wird er seit vielen Jahren nicht mehr benutzt. Zum Verschließen der Tür dienen zwei moderne Schlösser, dieses alte Schloß blieb sicherlich nur deshalb erhalten, weil die massive gediegene Tür nicht beschädigt werden sollte. Das kommt mir jetzt zustatten.

»Was machen Sie da?« fragt Kuprejtschik.

Ich stecke den Schlüssel in die Tasche. »Das erkläre ich Ihnen gleich.«

Als wir wieder im Arbeitszimmer sitzen, wende ich mich der Tür zum Nebenzimmer zu und spreche absichtlich laut, wobei ich den aufgeregten Kuprejtschik beobachte. »Ich sagte, >und vor einer Stunde...<, nicht wahr?«

»Ja, das sagten Sie. Und was bedeutet das?« Er langt wieder nach einer Zigarette.

»Das bedeutet, daß ich den Satz nicht beendet habe«, antworte ich spöttisch. »Der Schluß lautet so: Vor einer Stunde kam Lew Ignatjewitsch zu Ihnen, und jetzt lauscht er im Nebenzimmer. So ist es doch? Und er kann mir nicht entwischen. Bestellen Sie ihm das!«

»Woher. wissen Sie?« stammelt Kuprejtschik.

»Das spielt keine Rolle«, antworte ich und deute auf den Schreibtisch hinter Kuprejtschik. »Reichen Sie mir doch mal das Telefon herüber, wenn's Ihnen keine Mühe macht. Ich will einen Wagen anfordern. Und inzwischen«, ich spreche immer noch sehr laut, »bitten Sie Lew Ignatjewitsch herein. Es ist Zeit, daß ...«

Noch ehe ich ausgesprochen habe, knarrt hinter mir die Tür. Kuprejtschik springt wie von der Tarantel gestochen auf und ist verschwunden.

Ich schnelle herum. Wenige Schritte vor mir steht der mir bekannte mittelgroße, stämmige Mann mit dem grauen Schnurrbart in der Tür. Er hält eine Pistole in der Hand.

Ein Schuß kracht.

Ich lasse mich auf den Fußboden fallen, gehe hinter dem Sessel in Deckung und rufe: »Sind Sie verrückt geworden, Lew Ignatjewitsch? Werfen Sie die Waffe weg!«

»Nein!«

»Lew, ich beschwöre dich!« fleht Kuprejtschik mit zitternder Stimme.

Ich sehe ihn nicht. Da ich hinter dem Sessel auf dem Fußboden liege, sehe ich nur Lew Ignatjewitschs Beine. Er steht immer noch in der Tür. »Ich erschieße Sie jetzt, verehrter Vitali Semjonowitsch«, sagt er. »Sie haben nicht auf meinen guten Rat gehört. Sie sind ein zu gefährlicher Mensch.«

»Kommen Sie zur Besinnung, Lew Ignatjewitsch«, entgegne ich. »Wissen Sie, was Ihnen dann blüht?«

»Das weiß ich. Ich weiß alles. Ich kenne mich in der Ökonomik aus, in der Politik und sogar in der Sphäre der Dienstleistungen. Und ich erweise der Menschheit einen Dienst, indem ich Sie jetzt ins Jenseits befördere. Kommen Sie heraus!« befiehlt er. »Seien Sie endlich ein Mann.«

»Haben Sie sich nicht überlegt, daß ich auch schießen kann?« frage ich hinter dem Sessel. »Und sogar besser als Sie.«

»Das schaffen Sie nicht. Ich komme jetzt zu Ihnen.«

»Machen Sie keine Dummheiten, Lew Ignatjewitsch!« rufe ich.

Am Arm habe ich ständig die Pistolentasche unter der Jacke gespürt, jetzt ziehe ich die Pistole heraus, ohne Lew Ignatjewitschs Beine aus den Augen zu lassen, auf die ich notfalls schießen werde. Was ist, wenn. Kaum merklich bewege ich den Sessel. Ja, er hat kleine Rollen und läßt sich auf dem gebohnerten Fußboden leicht schieben. Ich habe einen Plan.

»Lew Ignatjewitsch, zählen Sie bis fünf, ich muß mich vorbereiten«, sage ich. »Aber achten Sie auf den Schurken Kuprejtschik. Sehen Sie ihn? Er führt etwas im Schilde.«

»Ich erschieße ihn wie einen Hund, zusammen mit Ihnen«, blafft Lew Ignatjewitsch. »Feigling, Verräter.«

Inzwischen schiebe ich mich vorsichtig vorwärts. Noch vier Schritt trennen mich von Lew Ignatjewitsch. Ich lehne mich mit dem Rücken an ein Sofabein und stoße den Sessel mit aller Kraft. Polternd saust er gegen Lew Ignatjewitsch und wirft ihn um. Im selben Augenblick schwinge ich mich über den umgekippten Sessel und lasse mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Gegner fallen. Mit einem gezielten Hieb schlage ich ihm die Pistole aus der Hand.

Alles Weitere ist Technik. Lew Ignatjewitschs verzweifelte Gegenwehr ist zwecklos. Wenig später liegt er mit gefesselten Armen und Beinen auf dem Sofa. Ich sitze bei ihm und rufe unsere Abteilung an. Das Telefon hat mir Kuprejtschik gebracht, der vor Angst halbtot ist.

Solange das Auto noch nicht da ist, nutze ich seinen Zustand für ein seelenrettendes Gespräch mit ihm. Das hat zur Folge, daß ich noch einmal telefoniere, mit Edik Albanjan jetzt. Ich teile ihm mit, daß ich den Bürger Kuprejtschik bringe, der ein freiwilliges Geständnis ablegen möchte. Albanjan stößt einen begeisterten Pfiff aus und verspricht auf uns zu warten.

Indessen klingelt es im Korridor. Kuprejtschik, dem ich den Schlüssel gegeben habe, läuft öffnen. Und dann tritt der überaus besorgte Petja Schuchmin ins Zimmer.

Es dauert nicht lange, und wir sind in unserer Abteilung. Obwohl es schon ziemlich spät ist, äußert Lew Ignatjewitsch Barsikow - eben hat er uns seinen Nachnamen genannt - den Wunsch, unverzüglich mit mir zu sprechen. Man erklärt ihm, daß es nicht statthaft ist, zu so später Stunde Vernehmungen durchzuführen. Doch Barsikow läßt unsere Einwände nicht gelten. Wir können seine Forderung nicht mißachten. Heute sagt Barsikow vielleicht mehr aus als morgen, jetzt ist er aufgeregt, wütend sogar, morgen ist er möglicherweise ruhig, berechnend und verschlossen.

Leider kann Albanjan an dem Gespräch nicht teilnehmen, bei ihm hockt der von Panik befallene Kuprejtschik. Wie sehr hat sich dieser Mann in kurzer Zeit verändert! Selbstsicher, ironisch-herablassend und spöttisch ist er eben noch aufgetreten, ekelhaft jämmerlich benimmt er sich nun.

Ganz anders dagegen Barsikow, das muß ich anerkennen. Obwohl er erst vor einer Stunde auf mich geschossen hat. Bei aller Gewissenlosigkeit und Frechheit zeigt er doch Haltung.

Er sitzt ungezwungen vor mir, hat ein Bein übers andere geschlagen und sich zurückgelehnt. Allerdings sieht er ziemlich mitgenommen aus: Am Hemdkragen fehlt der Knopf, der Schlips ist verrutscht, an der zerknitterten Jacke sind sogar zwei Knöpfe ab, einer ist mit dem Stoff herausgerissen. Unter einem Auge prangt ein gelb-violetter Fleck, die Lippen sind geschwollen. Dennoch sitzt er lässig da und raucht genießerisch. Er versucht sogar, wie es seine Gewohnheit ist, das Streichholz über meinem Aschenbecher bis zum Ende abbrennen zu lassen, aber seine Finger zittern, und diese Vorstellung mißlingt. Gereizt läßt er das vorzeitig erloschene Streichholz fallen. »Wenn man kein Glück hat, hat man es auf der ganzen Linie nicht. An diesem Streichholz wollte ich meine Zukunft ablesen. Das ist«, er winkt geringschätzig ab, »so ein psychologischer Atavismus, ein von der Zivilisation nicht abgeschaffter Aberglaube. Ich hoffe, Sie werden mir das nicht auch noch zur Last legen?« Es soll ironisch klingen.

»Nein, ich weiß auch so genug, womit ich Sie belasten kann.«

»Nun, und womit wollen Sie mich belasten, wenn's kein Geheimnis ist?« fragt Barsikow hintergründig.

»Ich habe keine Geheimnisse mehr vor Ihnen«, erwidere ich lächelnd. »Sie können uns nicht mehr stören. Und was Ihre Frage betrifft, so versichere ich Ihnen, daß jeder Staatsanwalt jetzt den Haftbefehl für Sie unterschreibt.«

»Und was berichten Sie dem Staatsanwalt?«

»Ich berichte ihm, daß Sie eine Schußwaffe besessen und versucht haben, einen Mitarbeiter der Miliz zu töten. Ist das wenig?«

»Das ist wenig«, erklärt Barsikow entschieden und streicht sich durchs zerzauste graue Haar. »Alles Kleinigkeiten. Lange nicht die Hauptsache.«

»Nette Kleinigkeiten«, sage ich. »Und wenn Sie mich getroffen hätten?«

»Ach, spielen Sie doch nicht den Feigling!« entgegnet er ärgerlich.

»Was ist denn dann die Hauptsache, Ihrer Meinung nach?«

»Die Hauptsache besteht darin, daß ich eins der Geheimnisse unserer Ökonomik enträtselt und mir zunutze gemacht habe. Eine Art Entdeckung, wissen Sie.« Er grinst sarkastisch und verhält sich so, als säßen wir beide wieder im Cafe. Barsikow benimmt sich erstaunlich unverschämt. Diese Arroganz!

»Sie halten mich sicherlich für einen Einfaltspinsel, dem man, weil er alles glaubt, jede Lüge auftischen kann«, sage ich. »Außerdem habe ich nicht gedacht, daß Sie so ein Aufschneider sind. Also lassen Sie mal hören, was für ein Geheimnis unserer Ökonomik Sie entdeckt haben.«

»Sie freuen sich umsonst, junger Freund«, Barsikow droht mir unangebracht schelmisch mit dem Finger. »Und Sie sind keineswegs dumm. Sie sind klug, aber Idealist. Und weil Sie klug sind, sind Sie gefährlich. Deshalb habe ich auf Sie geschossen.«

»Na, na, nun machen Sie aus diesem Schuß auch noch eine Philosophie, eine prinzipielle sogar«, sage ich spöttisch. »Angst hatten Sie, Angst um Ihre Haut. Das war alles.«

»Nein«, Barsikow schüttelt den Kopf. »Warum sollte ich Angst haben. Familie habe ich nicht. Diese Bürde wollte ich mir nicht aufladen. Und ich habe ein Leben geführt, wie Sie es sich nicht vorstellen können. Alles hatte ich. Geld spielt auch bei uns noch eine gewisse Rolle.«

»Meiner Ansicht nach ist Ihr Leben vor allem Angst gewesen und - Verlassensein. Sie sind doch immer in ein leeres Haus zurückgekommen«, sage ich und füge hinzu: »Aber schweifen Sie nicht ab. Sie wollten mir ein Geheimnis mitteilen.«

»Das Geheimnis besteht in einer gewissen Untugend der Ökonomik, die ich entdeckt habe«, sagt Barsikow.

»Schprinz hat recht - Sie sind nicht nur bereit, dem Nächsten die Gurgel durchzuschneiden, Sie lieben auch das Philosophieren!«

»Schprinz ist eine Null«, schnarrt Barsikow wutentbrannt. »Dem soll man nicht die Gurgel durchschneiden, den muß man zerquetschen wie eine Wanze.« Er beruhigt sich wieder und fährt gelassener fort: »Also zu der Untugend in der Ökonomik. Sie besteht in dem Versuch der allgemeinen, ich würde sagen, totalen Planung und gleichzeitigen Drohung mit dem Strafgesetzbuch. Das steht auf der einen Seite. Auf der anderen Seite aber gibt es alle Möglichkeiten für... wie soll ich das nennen... für außergesetzliche Tätigkeit. Und die erst ist gewinnbringend und interessant.«

Ich schüttle den Kopf. »Sie irren sich. Die außergesetzliche Tätigkeit ist, wie die Erfahrung zeigt, eine unsichere, gefährliche und völlig hoffnungslose Sache. Nur ein Beispiel: Wie lange haben Sie die letzte Sache durchhalten können? Seien Sie ehrlich.«

»Was heißt >durchhalten

»Wie lange ist es her, daß Sie sich einig geworden sind mit. Geli Stanislawowitsch?«

»Mit was für einem Geli Stanislawowitsch?« fragt Barsikow argwöhnisch.

»Warum tun Sie so, als kennten Sie ihn nicht?« entgegne ich lächelnd. »Sie sind ein kluger Mann. Den Namen habe ich nicht aus der Luft gegriffen. Geben Sie's zu!«

»In der Tat! Es ist dumm, etwas verschleiern zu wollen, wenn Viktor, dieser Feigling, jetzt irgendwo sitzt und alles ausplaudert. Was wollen Sie wissen?«

Ich wiederhole die Frage.

»Wir arbeiten seit zwei oder drei Jahren zusammen«, antwortet Barsikow.

»Na bitte. Lohnt es sich denn, wegen zwei, drei Jahren ein solch nervenaufreibendes, wenn auch materiell gesichertes Leben zu führen und dafür viel mehr Jahre zu riskieren, die Sie hinter Gittern verbringen werden?«

»Zufall«, schnarrt Barsikow. »Nur Zufall, unter Garantie!«

»Ist das Ihre erste Strafe?«

»Die dritte.«

»Na, sehen Sie. Und diesmal ist es keine Kleinigkeit, Lew Ignatjewitsch. Wir verfolgen die Kette bis zum Ende, das versichere ich Ihnen. Und zu Geli Stanislawowitsch mit seinem blauen Wolga kommen wir auch.«

»Elender Lackaffe«, stößt Barsikow ärgerlich hervor. »Übrigens ist das nicht das Ende der Kette.«

»Möglich. Ich bin da nicht Spezialist. Mit denen treffen Sie sich noch. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Lohnt es denn, so viele Jahre seines Lebens wegen zwei, drei >reicher< zu opfern? Diese Psychologie begreife ich nicht.«

Barsikow winkt ab. »Das werden Sie nie begreifen«, sagt er. »Ich kann nicht ruhig zusehen, wie ringsum alle geschäftlichen Möglichkeiten zum Teufel gehen. Schon gar nicht, wenn andere sie sich zunutze machen. Die Lücken der allgemeinen Planung müssen ausgefüllt werden, merken Sie sich das. Und solche Lücken entdecke ich immer oder ein anderer unternehmungslustiger Mensch. So eine freie Stelle, die die staatliche Produktion nicht wahrnehmen will oder kann, fordert uns einfach heraus. Und ich werde buchstäblich krank, wenn ich so etwas verpasse. Aber das passiert mir selten.« Barsikow lächelt selbstzufrieden. »Ich kann sogar ein Beispiel anführen. Da war dieses großartige Garn, von dem gerade der flennende Kuprejtschik erzählt, dieser Blödian und Feigling. Dieses Garn lag bei ihm im Lager, und niemand verlangte es zurück. In den Plänen war es jedenfalls nicht mehr vorhanden.«

»Aber er hat es doch offiziell zum Verkauf an das Geschäft von Schprinz geschickt«, entgegne ich. »Auf Anweisung der Leitung.«

»Richtig!« greift Barsikow meinen Gedanken auf, und seine Augen glänzen schlau. »Aber das alles, stellen Sie sich vor, habe ich gedeichselt. Das Garn fand seine Verwendung, während ich selbst, das verhehle ich nicht, ganz schön dabei verdiente. Und deshalb beiße ich jedem die Gurgel durch, der mich aus dem Geschäft drängen will. Darum mußte Semanski aus dem Weg geräumt werden«, schloß Barsikow unvermittelt. »Was soll man machen?«

»Der Organisator des Mordes sind also Sie?«

»Ja. Aber Sie werden keine Beweise finden.«

»Die finden wir. Also haben Sie den Konkurrenten beseitigt?«

»Das habe ich. Krieg ist eben Krieg.«

»Und hat Ihnen Geli Stanislawowitsch die beiden geschickt?«

»Sie wollen sehr schnell ans Ziel!« Barsikow zündet sich eine neue Zigarette an. Wieder versucht er, das Streichholz bis zum Ende abbrennen zu lassen, diesmal gelingt ihm der Trick, und er ist sichtlich zufrieden.

»Und Viktor Arsentjewitsch wollte mit Ihnen zusammenarbeiten, obwohl Sie seinen besten Freund getötet haben?«

»Hören Sie auf!« antwortet Barsikow geringschätzig. »Was kann es in unserer Zeit für Freunde geben? Das ist alles Gesabber, das denken sich die in den Zeitungen aus.«

»Wenn die Zeitungen von Freundschaft schreiben, ist doch nicht von Ihnen die Rede«, erwidere ich spöttisch. »Was ist das schon für eine Freundschaft! Kuprejtschik, zum Beispiel, packt jetzt Ihre Geheimnisse aus und gibt alle preis, weil er hofft, damit die eigene Haut zu retten. Solche Freunde haben Sie.«

»Was hat das mit Freundschaft zu tun? Das ist Feigheit und Verrat«, schreit Barsikow. »Von mir können Sie so etwas nicht erwarten. Ich bin aus anderem Holz. Klar?«

Ich zucke die Schultern. »Ich hoffe, Sie wollten nicht deshalb so spät noch mit mir sprechen, um mir eine Lektion über Ökonomik zu halten und mir zu versichern, daß Sie nichts aussagen werden?«

»Natürlich nicht.« Er nickt, ruhiger geworden. »Es geht um etwas anderes. Ich denke, daß ich nicht mehr mit Ihnen sprechen werde. Der Untersuchungsführer wird sich mit mir befassen. Zum Abschied will ich Ihnen folgendes sagen: Ich werde bald auf freiem Fuß sein. Ich kenne viele Wege, um das zu erreichen. Und Sie merke ich mir. Mit Ihnen begann der Zusammenbruch meines schönsten und einträglichsten Geschäfts. Das verzeihe ich Ihnen nie. Merken Sie sich das. Und ich werde Sie finden. Ich bin hartnäckig. Das ist es, was ich Ihnen sagen wollte.«

»Nun, wir werden sehen, Lew Ignatjewitsch, ob wir noch einmal miteinander sprechen. Aber solche Pläne, wie Sie sie haben, posaunt man besser nicht aus. Solide Leute tun das nicht. Das ist geschmacklos. Und obendrein dumm.«

»Abwarten, ob das geschmacklos ist!« schimpft er. »Und ob es dumm ist.«

Damit endet unser Gespräch.

Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende

Heute morgen findet bei uns noch eine Konferenz mit anderen Abteilungen statt. Aus der Staatsanwaltschaft ist Viktor Anatoljewitsch gekommen. Die OBChSS vertreten Edik Albanjan und sein Chef Gennadi Uglow. Und die Kriminalabteilung vertreten Kusmitsch, Valja Denissow, Petja Schuchmin und ich.

Als erster berichte ich von meinem Gespräch mit Kuprejtschik, dem überraschenden Erscheinen Barsikows, von seinem Fehlschuß und allem übrigen. Besonders interessiert sind alle an dem Gespräch, das ich später mit Barsikow hatte, natürlich nicht an seinen Drohungen, sondern an seinen gewollten und ungewollten Eingeständnissen.

»Und trotzdem«, sage ich zum Schluß, »ist mir Barsikows Rolle in dieser Kette unklar und folglich auch das Motiv für den Mord an Semanski. Barsikow sagte, er habe einen Konkurrenten beseitigt. Während ihres Streits auf dem Hof, den Gawrilow hörte, hat Semanski angeblich zu Barsikow über Kuprejtschik gesagt: >Er wird mit dir nicht arbeiten.< Aber was bedeutet das, was für eine Arbeit ist damit gemeint? Denn Barsikow hatte weder mit dem Empfang des Garns in der Fabrik noch mit seinem Versand an Schprinz zu tun. Demnach ist er überhaupt überflüssig, für ihn ist kein Platz in der Bande.«

»So ist es nicht ganz«, entgegnet Edik.

»Dann erklären Sie uns doch zunächst Barsikows Rolle«, bittet ihn Kusmitsch. »Und dann alles übrige.«

»Bitte«, sagt Edik. »Das Notizbuch dieses Barsikow enthüllt alles. Ich habe es überprüft. Dort gibt es unter den Telefonnummern verschiedener Leute, die wir uns noch genauer ansehen müssen, sehr merkwürdige Ziffern. Hier ist das Büchlein!« Er nimmt aus der Mappe ein abgegriffenes schwarzes Notizbuch mit einem Alphabet an der Seite und zeigt es uns. »Beachten Sie folgende Telefonnummern.« Er beginnt zu blättern. »Hier, Kuprejtschik zum Beispiel. Neben seinem Namen steht die Zahl neunhundertelf, acht, neun, sieben. Aber eine sechsstellige Telefonnummer gibt es in Moskau überhaupt nicht. Kuprejtschik hat eine völlig andere Privat- und Dienstnummer.«

»Warum sprechen Sie die ersten drei Ziffern zusammen aus, neunhundertelf?« fragt Kusmitsch, der aufmerksam zugehört hat. »Während Sie die folgenden einzeln nennen?«

»Entschuldigung«, antwortet Edik rasch. »Die ersten drei Ziffern habe ich falsch gelesen. Man muß sie so lesen: neun, elf. Zwischen ihnen steht ein Punkt. Und nach jeder folgenden Ziffer steht ebenfalls ein Punkt. Vorläufig habe ich noch fünf Namen mit solch seltsamen Chiffren entdeckt. Genauer, schon fünf, ich bin erst bis >M< gekommen.«

»Ein Schlüssel«, bemerkt Uglow ruhig.

»Genau«, sagt Edik. »Eine Chiffre. Aber die Ziffern sind zu verschiedenen Zeiten geschrieben. Und was Kuprejtschik betrifft, so stimmen diese Ziffern mit der Tonnagemenge an Garn überein, das er zu verschiedenen Zeiten an Schprinz gesandt hat. Wieviel Garn hat Schprinz insgesamt erhalten? Das zu überprüfen wird sehr interessant sein. Ich bin überzeugt, daß es mehr ist, als Kuprejtschik ihm geschickt hat.«

»Du meinst, da hat noch jemand geliefert?« frage ich. »Diese fünf Leute, zum Beispiel?«

»Ja. Zumindest diese fünf. Es kommen aber sicherlich noch mehr zusammen. Da haben Sie wahrscheinlich Barsikows Rolle.«

»Buchhalter?« fragt Petja lachend.

»Höher.« Edik stößt einen Finger mehrmals in die Höhe. »Er sucht und findet Betriebe, wo es außerplanmäßige Bestände gibt, die dort keine Verwendung finden, besonders Garn. Und dort nimmt er Kontakt mit den entsprechenden Leuten auf. Denn diese Bestände sind sozusagen fertiges und auf den ersten Blick völlig ungefährliches Geld, großes Geld zudem. Sie werden verwaltet und müssen abgeführt werden. Der stellvertretende Leiter der Verwaltung für Versorgung und Absatz braucht eine Information über das Vorhandensein von derartigen Waren, um die Anweisung geben zu können, sie zum Verkauf an das Geschäft von Schprinz zu schicken. Kuprejtschik war offenbar der größte Lieferant dieses Garns und deshalb der gewinnbringendste. Die Ziffern bei den übrigen fünf sind bedeutend niedriger. Das ist die Rolle, die Barsikow in dieser Kette gespielt hat«, sagt Edik zu Kusmitsch.

»Nun weiter mit deinen Überlegungen«, schlägt Uglow vor. »Das ist doch noch nicht alles.«

»Augenblick«, mischt sich Kusmitsch ein. »Erledigen wir zunächst unsere Fragen, um später nicht noch mal anfangen zu müssen. Hast du noch was?« Er wendet sich an mich.

»Ja«, antworte ich, »obwohl Barsikows Rolle nun klarer wird. Man kann vermuten, was das Motiv für den Mord war. Barsikow hatte beschlossen, sich Kuprejtschik gefügig zu machen. Eine Prügelei um das >goldene Huhn<, wie sich Schprinz ausdrückte. Aber es bleibt noch eine ungeklärte Frage. Erinnern Sie sich, Fjodor Kusmitsch, Musa Lesnowa berichtete von einem interessanten Gespräch, das Ljocha mit seinem lieben Sowko führte. Daraus geht hervor, daß dieser Geli Jermakow, Direktor des Konfektionsgeschäfts, Ljocha, das heißt Krassikow, und Sowko von Jushnomorsk nach Moskau zu Barsikow schickte und ihm zur Verfügung stellte. Ich habe über ihn schon berichtet. Dieses Paar hatte wahrscheinlich einen speziellen Auftrag. Barsikow weigerte sich, mit mir über dieses Thema zu sprechen. Aber dieser Jermakow kann an dem Mord beteiligt gewesen sein.«

»Durchaus möglich«, sagt Edik. »Hast du noch was? Wenn nicht, dann erlauben Sie mir, meine Überlegungen zu dem Fall darzulegen.«

»Bitte«, sagt Kusmitsch.

Edik öffnet seine Mappe. »Wir haben einstweilen nur die Moskauer Verdächtigen dieser Bande erfaßt. Leider weiß Kuprejtschik weniger als Barsikow. Seine Aufgabe beschränkte sich darauf, das Garn an das Geschäft von Schprinz zu senden. Dafür erhielt er Anweisungen. Das Geld bekam er von Barsikow, vorher von Semanski. Und nicht wenig. Die genaue Summe werden wir später feststellen. Aber bisher wissen wir nicht, welchen Weg das Garn von Schprinz aus genommen hat. Das ist der Schwerpunkt unserer Ermittlungen. Die Erfahrung lehrt, daß das Garn irgendwo zur Herstellung von Schwarzmarktware benutzt wird.«

»Das hat mir Barsikow schon in der ersten Sitzung mitgeteilt.«

»Jetzt muß festgestellt werden«, fährt Edik fort, »wo diese Ware hergestellt und abgesetzt wird.«

»Das kann nur an Ort und Stelle erkundet werden«, bemerkt Uglow. »Wir müssen nach Jushnomorsk.«

»Ja, wir müssen dorthin«, bestätigt Edik.

»Und welche Beziehung kann der Direktor des Konfektionsgeschäfts zu diesen Leuten haben?« fragt Petja.

»Ja, bisher ist uns seine Rolle noch nicht bekannt«, hakt Viktor Anatoljewitsch ein. »Und wenn wir sie kennen, so heißt das nicht, daß wir ihn überführt haben. Die Rolle Dmitri Jermakows, des stellvertretenden Leiters, ist uns klar. Aber es wird nicht einfach sein, ihn zu überführen. Äußerlich ist jede seiner Handlungen völlig rechtmäßig. Er hat einen offiziellen Bericht über das Vorhandensein von Garn bekommen, das keine Verwendung findet, und völlig korrekt Anweisung gegeben, dieses Garn zwecks Weiterverarbeitung in sein Handelsnetz zu schicken, zudem im bargeldlosen Zahlungsverkehr.«

»Er ist bestochen worden«, sage ich. »Weshalb sonst sollte er das Garn aus drei Betrieben, wie wir bis jetzt wissen, ausgerechnet an Schprinz schicken? Und dann noch ans Ende der Welt, nach Jushnomorsk?«

»Er wird Ihnen einen herzzerreißenden Brief von Schprinz vorlegen, daß das Geschäft den Umsatzplan nicht erfüllen könne. Und dann steht es ihm, dem stellvertretenden Leiter, frei, dieses Garn Schprinz zu schicken oder auch nicht. Diese Entscheidung kann richtig oder falsch sein, ein Verbrechen liegt in keinem Fall vor. Er hat das Garn ja nicht in die eigene Tasche gewirtschaftet. Und es dürfte nicht einfach sein, nachzuweisen, daß er bestochen worden ist.«

»In diesem verteufelten Fall ist bisher gar nichts einfach«, sagt Uglow ärgerlich. »Weil wir erst eingeschaltet wurden, als die Kriminalmiliz bereits das Wasser trübe gemacht und die gesamte Bande in Unruhe versetzt hatte. Ich verstehe«, er wendet sich an Kusmitsch, »Sie hatten eine völlig andere Aufgabe. Bei Ihnen war der Mord mit dem Wohnungsdiebstahl zusammengefallen und ein schöner Wirrwarr entstanden. Aber wir haben's auch nicht leichter.«

»Bei einer schweren Arbeit hat es niemand leicht«, sagt Kusmitsch schmunzelnd. »Natürlich haben wir euch keine einfache Arbeit zugeschoben. Aber bedenke, wären wir nicht gewesen, wer weiß, wann ihr überhaupt auf diese Banditen aufmerksam geworden wärt.«

»Ich sage ja gar nichts.« Uglow breitet die Arme aus. »Für euren Hinweis sind wir euch zu Dank verpflichtet. Ich beklage mich ja nur über das Schicksal, daß wir uns nicht mehr unauffällig an die Burschen heranpirschen können.«

»Und berücksichtige noch eins«, fährt Kusmitsch fort. »Bisher ist keineswegs die ganze Kette aufgestört, sondern nur die Moskauer Gruppe, und dies ausschließlich in Verbindung mit dem Mord an Semanski.«

»Aber euer Lossew ist doch schon in Jushnomorsk gewesen. Er hat mit Schprinz gesprochen. Sogar bei Geli Jermakow hat er sich blicken lassen und ihn in Unruhe versetzt«, entgegnet Uglow. »Das sind, entschuldigen Sie, keine Moskauer.«

»Ich bin ausschließlich in der Mordsache Semanski dort gewesen«, schalte ich mich ein. »Nur so hat es Schprinz weitergemeldet, da bin ich sicher. So hat er...«

Und da erinnere ich mich an alles. Natürlich!

Schprinz hat mich beschrieben, und als ich bei Geli Jermakow im Geschäft auftauchte, erkannte der mich sofort. Und natürlich war er auf der Hut. Doch dann hielt er mich für einen Idioten. Außerdem hat er keine Angst vor der Kriminalmiliz. Mit Mord hat er nichts zu tun, dafür hat er gesorgt. All dies berichte ich jetzt.

Edik, mein treuer Freund, ergänzt autoritär; »Lossew hat noch nie eine Sache vermasselt.«

»Hat man solche Freunde schon gesehen?« sagt Uglow lachend. »Wenn was ist, muß man sie zusammenarbeiten lassen.«

Unsere Sitzung ist zu Ende. Es wurde beschlossen, Albanjan unverzüglich nach Jushnomorsk zu schicken. Inzwischen werden wir die Untersuchung des Mordes an Semanski abschließen. Erneut werden wir uns deshalb mit Pest-Kolja und Barsikow befassen. Sollten wir neue Angaben in bezug auf Jushnomorsk erhalten, werden wir sie sofort Edik übermitteln. Ebenso wird Edik verfahren, falls er etwas für uns herausfindet.

»Besprecht noch einmal die Einzelheiten«, sagt Kusmitsch zum Schluß, wobei er mich und Edik ansieht.

Diese Besprechung dauert den ganzen Nachmittag. Nach dem Essen schließen wir uns in meinem Zimmer ein, nehmen die Unterlagen vor und rufen uns ausführlich, Schritt für Schritt, ins Gedächtnis zurück, wie diese verworrene Sache begann und sich entwickelte. Gewissenhaft schildere ich meine Dienstreise nach Jushnomorsk, beschreibe jeden Menschen, den ich dort getroffen habe, erwähne sogar die Verkäuferin in Geli Jermakows Geschäft, seinen dicken grauhaarigen Stellvertreter sowie auch die traurige Verkäuferin in Schprinzens Geschäft, ganz zu schweigen von den Leuten, die ich gründlicher kennenlernen konnte. Ich charakterisiere jeden, beschreibe sein Äußeres, seine Manieren, seine Kleidung. Edik hört aufmerksam zu, notiert sich manches, fragt, manchmal streiten wir, manchmal überlegen wir und stellen Mutmaßungen an. Wir verstehen uns schon bei Andeutungen. Ich arbeite gut mit ihm zusammen. Er ist ein fröhlicher und kluger Mensch, erfahren und tapfer. Es ist nicht nur angenehm, sondern auch nützlich für mich.

Kurz gesagt, wir besprechen alles, was besprochen werden muß. Wir entwerfen sogar einen Plan seines Vorgehens in Jushnomorsk, genauer: für den Beginn seines Vorgehens, denn wie sich die Ereignisse entwickeln werden, kann man nicht voraussehen. Ich teile ihm auch meinen schlechten Eindruck mit, den ich von Okajomow habe. Doch Edik ist mit mir nicht einverstanden, er hält Okajomow für einen tüchtigen Mitarbeiter. Nun, er weiß es möglicherweise besser. Dafür empfehle ich ihm wärmstens Dawud, und hier streitet Edik nicht, sondern zeigt sich dankbar.

Was den Plan betrifft, so sind wir uns einig, daß Edik bei Schprinz beginnen muß, dies ist der erste reale und klar sichtbare Anknüpfungspunkt in Jushnomorsk. Was Geli Jermakows Rolle betrifft und die seines Vetters aus der Marktfiliale, so ist bisher alles verschwommen und unklar. Doch Schprinz hat Verbindungen, er kennt den weiteren Weg des Garns; wohin, zu wem? Das wird leicht festzustellen sein, denn Schprinz hat Unterlagen, die entweder irgendwohin führen oder jemanden entlarven.

»Nun, und wir helfen dir hier«, sage ich.

Edik wird morgen früh fliegen, vor dem Dienstgebäude umarmen wir uns noch einmal, dann trennen wir uns. Hoffentlich geht bei Edik alles in Ordnung.

Bei mir steht morgen eine neue Vernehmung Sowkos auf dem Plan. Viktor Anatoljewitsch hat mir den Auftrag erteilt.

Unsere Begegnung am nächsten Tag beginnt nicht sehr ermutigend. Seitdem ich Sowko das letzte Mal gesehen habe, ist er merklich abgemagert, blaß geworden, die blonde Haarmähne wirkt dunkel, verfilzt, die hellen, leeren Augen blicken schwermütig. Offenbar plagen ihn trübe Gedanken. Immerhin hat er sich für einen Mord sowie einen Mordversuch an einem Mitarbeiter der Miliz zu verantworten. Natürlich weiß er, was ihm dafür »blüht«. Und sicherlich hat er auch Sehnsucht nach seinem Schokoladchen. Macht nichts, Schurke, quäl dich ruhig. Andere haben sich deinetwegen mehr gequält.

»Guten Tag, Nikolai«, sage ich, und es fällt mir schwer, ruhig zu bleiben. »Ich habe dir etwas zu erzählen. Und hast du dir überlegt, was du mir erzählen kannst?«

»Dir erzähl ich gar nichts, merk dir das«, braust Sowko auf. »Mit dir wünsche ich nicht zu sprechen.«

Offenbar hat er Kusmitsch erwartet.

»Dein Untersuchungsführer hat mich beauftragt, dich zu vernehmen«, sage ich versöhnlich. »Ist dir nicht egal, wer das tut? Ich bin da sogar besser dran, wenn du es wissen willst. Ich kenne deinen Fall in- und auswendig.« Und ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen, füge ich nach einem Seufzer hinzu: »Also erstens: Ljocha ist tot.«

»Du lügst!« Sowko hebt ruckartig den Kopf.

»Ich lüge nicht. Leider ist es so.«

»Du und dein Mitleid!« Sowko verzieht die vollen Lippen. »Wenn's nach dir ginge, würden wir alle verrecken.«

»Nein«, sage ich, »Ljocha tut mir wirklich leid. Ich habe ihm damals auch leid getan. Er hätte mich töten können, aber er hat mich nicht getötet. Die Hand hat ihm gezittert.«

»Er war ein Trottel.«

»Über Tote nichts Schlechtes, Nikolai. Außerdem ist er wohl dein Freund gewesen.«

»Wie ist er denn ums Leben gekommen?« fragt Sowko finster und wendet den Blick ab.

Ich erzähle ihm, wie Ljocha gestorben ist.

Sowko hört schweigend zu. Ljochas Tod wirkt offensichtlich niederschmetternd auf ihn.

»Nun weiter«, sage ich. »Den Diebstahl haben wir aufgedeckt. Du hast damit nichts zu tun. Obwohl wir einen eindeutigen Beweis gegen dich hatten.«

»Was für einen Beweis?« fragt Sowko gespannt.

»Erinnerst du dich, daß du einen Handschuh verloren hast?«

»Hmhm.«

»Den haben wir in der Wohnung gefunden. Nach dem Diebstahl. Stell dir das vor.«

»Na und? Es geschehen eben noch Wunder!«

»Alle Wunder werden von Menschen gemacht. So war es auch in diesem Fall. Einer der Kerle, die den Diebstahl verübten, hat deinen Handschuh gefunden und ihn absichtlich in der Wohnung zurückgelassen. Um uns von der Spur abzubringen. Jetzt hat er es gestanden. Und weißt du, wo er ihn aufgehoben hat?

Im Hof. Du hast ihn fallen gelassen, als du mit Ljocha Semanski getötet hast. Dieser Kerl hat alles beobachtet. Mit eigenen Augen. Und er kann dich gleich identifizieren.«

Sowko schweigt. Er widerspricht mir nicht. Die Nachricht von Ljochas Tod scheint ihm mächtig an die Nieren gegangen zu sein. Das hätte ich nicht erwartet. Sollte sich doch noch etwas Menschliches in ihm regen? Sekundenlang empfinde ich sogar ein gewisses Mitgefühl für ihn.

»Und außerdem hat euch an jenem Abend eine Frau im Hof gesehen. Sie trug einen roten Mantel. Hast du sie nicht bemerkt?«

»In einem roten Mantel?« wiederholt Sowko mechanisch.

»Ja. Auch sie kann dich identifizieren.«

Sowko schweigt wieder, den Blick gesenkt.

»Und dann haben wir noch Lew Ignatjewitsch Barsikow verhaftet«, fahre ich fort. »Ich hoffe, den hast du nicht vergessen?«

»Den und vergessen!« antwortet Sowko dumpf.

»Er hat dich auch nicht vergessen. Und stell dir vor, er hat sogar gestanden. >Ja, den Mord an Semanski habe ich organisiert, ich habe es befohlene, hat er gesagt. >Die beiden waren nur die Vollstreckern Damit meint er dich und Ljocha. >Und warum gaben Sie den Befehl?< habe ich gefragt. >Um einen Konkurrenten zu beseitigen^ hat er geantwortet. >Krieg ist eben Krieg. Nur werden Sie mir meine Schuld nie beweisen.< Verstehst du, worauf er zielt?«

»Klar. Ich bin ja nicht von gestern«, brummt Sowko. »Aber das wird ihm kaum gelingen.«

»Da mußt du aufpassen. Aber das ist noch nicht alles«, fahre ich fort. »Es gibt noch einen Mann, der möglicherweise für diesen Mord verantwortlich ist. Dadurch vermindert sich deine Schuld noch etwas. Dieser Mann heißt Geli Stanislawowitsch Jermakow. Du kennst ihn.«

Sowko blickt jäh auf und starrt mir in die Augen, als wolle er prüfen, ob er sich nicht verhört habe. »Habt ihr ihn erwischt?« fragt er heiser.

»Er ist noch auf freiem Fuß«, antworte ich. »Aber wir haben ihn so gut wie sicher. Vorläufig fährt er noch in seinem blauen Wolga spazieren.«

»Der entwischt euch.« Sowko lächelt schief. »Der entwischt euch bestimmt mit seinem Wolga.«

»Mit so einem Prachtstück kommt man nicht weit«, entgegne ich.

»Er braucht ja gar nicht weit zu fahren«, sagt Sowko. »Nur bis zum Gussinoje-See. Und dann -gehabt euch wohl!«

»Hat er dort einen geheimen Flugplatz?«

»Er hat dort Onkel Ossip. Der ist besser als jeder Flugplatz. Der läßt ihn so verschwinden, daß man ihn nie wieder findet. Das steht fest.«

Ich wiege den Kopf. »Geli Jermakow ist nicht der Mann, der sich für ewig versteckt. Wieso soll er sich auch verstecken? Rings um ihn ist alles ruhig. Von dem Mord weiß er natürlich. Aber was kümmert's ihn? Selbst du ahnst ja nicht mal, daß er an der Sache beteiligt war.«

»Was heißt hier ahnen?« fragt Sowko schroff. »Ich weiß es genau. Er hat es mir selbst gesagt.«

»Als er euch nach Moskau schickte?«

»Ja.«

»Wie hat er es euch gesagt?«

»Er hat es mir gesagt. Ljocha wußte nichts.«

»Also wie hat er es dir gesagt?« wiederhole ich meine Frage.

»Einfach so. Da muß einer umgelegt werden, sagte er. Lew zeigt ihn euch. Wenn du das machst, wirst du in Geld schwimmen.«

Sowko hat sich verplappert, er gibt den Mord an Semanski zu. Folglich habe ich die Vernehmung richtig aufgebaut. Ich habe ihn erschüttert, seine Gedanken abgelenkt, und zwar in die für mich erforderliche Richtung. Jetzt muß ich ihn weiterführen, er darf nicht zur Besinnung kommen. Tempo und Spannung - das ist jetzt das wichtigste. Irgendeinen Gussinoje-See hat er genannt, einen Onkel Ossip...

»Wieso hat er euch geschickt?« frage ich. »Er brauchte euch doch dort!«

»Ein Mann ist bei ihm geblieben«, sagt Sowko schroff und wendet den Blick wieder ab. »Da brauchst du keine Angst zu haben.«

»Slawka?«

»Nein.«

»Käfer, Fuchs?«

»Woher kennst du die?«

»Wir haben uns kennengelernt.«

»Habt ihr die auch eingelocht? Das ist ein Spaß!«

»Wieso sollten wir die einlochen? Die laufen frei herum. Also wer ist bei Geli geblieben? Käfer, Fuchs?«

»Das sind kleine Fische.«

»Wer dann?«

»Wen du nicht kennst, den kenne ich auch nicht, klar?« Spöttisch sieht er mich an.

Natürlich gibt er nur das zu, was für ihn vorteilhaft ist oder was er nicht mehr abstreiten kann. Zum Beispiel ist es für ihn vorteilhaft, seinen ehemaligen Chef zu verraten.

»Und du fürchtest dich nicht, das alles Geli ins Gesicht zu sagen?«

»Wieso sollte ich mich jetzt vor dem fürchten?« Sowko lächelt spöttisch, und unter der vollen Oberlippe werden kleine dreieckige Wolfszähne sichtbar. »Wenn Sie den richtig packen, rasselt der so rein, daß ich ihm bis zu meiner Rente nicht mehr begegne.«

»Schön. Dann nehme ich zu Protokoll, was du über deinen Auftrag in Moskau gesagt hast. Unterschreibst du das?«

»Klarer Fall.«.

»Ich fürchte bloß, Barsikow unterschreibt nicht«, sage ich seufzend, gleichsam aus Mitgefühl für Sowko.

»Der unterschreibt!« sagt er drohend und wird wieder wütend. »Der unterschreibt, der Hund! Sonst. Denkt der, ich nehme den Mord allein auf meine Kappe? Nein, daraus wird nichts. Ich ziehe alle mit rein!«

Da klingelt das Haustelefon auf meinem Tisch. Ich nehme den Hörer ab. Kusmitsch meldet sich.

»Beende die Vernehmung und komm zu mir!« befiehlt er und legt den Hörer auf.

»Also, Nikolai«, sage ich. »Das wär's einstweilen. Du hast recht. Jeder soll nur für sich die Verantwortung tragen.« Und ich wiederhole: »Das wär's einstweilen.«

Sowko wird abgeführt, und ich laufe zu Kusmitsch. Bei ihm treffe ich Uglow. Beide blicken ernst und beunruhigt.

»Schlechte Nachrichten«, sagt Kusmitsch zu mir. »Eben hat Albanjan angerufen. Schprinz ist verschwunden.«

»Mit allen Geschäftsunterlagen über das Garn«, fügt Uglow hinzu.

»Verschwunden?« frage ich erstaunt. Kusmitsch nickt. »Die Kette ist zerrissen. Die Enden hängen im Wasser.«

»Was nun?«

»Du fliegst unverzüglich hin«, sagt Kusmitsch. »Du leitest die Suche. Das Flugzeug startet in zwei Stunden, siebzehn Minuten. Das schaffst du.«

Es ist erst eine Woche her, seit ich aus Jushnomorsk zurück bin. Nun fliege ich wieder hin. Ich habe die Aufgabe, den verschwundenen Georgi Iwanowitsch Schprinz zu finden. Während des Flugs sehe ich Schprinz ständig vor mir: klein, schmächtig, zappelig, mit großer glänzender Glatze, schlauem Fuchsgesicht, spitzer Nase, unter der ein rotblondes Schnurrbärtchen prangt. Wohin mag dieser arme Teufel verschwunden sein? Vielleicht ist er sogar gezwungen worden. Und nun. Offenbar haben sie Wind bekommen. Wurde aus Moskau Alarm gegeben? Aber worüber? Über den Mord an Semanski? Geli Jermakow wußte das doch längst und zog Schprinz nicht aus dem Verkehr. Die Verhaftung von Sowko und Ljocha? Sie wissen ja nicht, daß Ljocha tot ist. Von wem konnte dieses Signal kommen? Nehmen wir an, von Barsikow. Doch nein, er wartete ja auf einen Anruf von Sowko. Dessen Verhaftung war ihm unbekannt. Über Ljocha wußte er auch nichts. Von Schprinz? Ja, Schprinz kann das Signal gegeben haben. Schprinz gegenüber habe ich Ljocha und Sowko erwähnt. Ich habe sie erwähnt, nicht aber gesagt, daß Sowko verhaftet und Ljocha tot ist. Und das hat, wie mir scheint, Geli Jermakow kein bißchen erschreckt. Ebensowenig wie ihn meine Anwesenheit erschreckte, die ihm Schprinz zweifellos gemeldet hatte. Und den Grund meines Besuchs in Jushnomorsk hatte er ebenfalls gemeldet. Na und? Das hat sie überhaupt nicht beunruhigt. Geli Jermakow ist davon überzeugt, daß sich von dem Mord an Semanski kein einziger Faden zu ihm hinzieht. Und da verschwindet Schprinz plötzlich!

Was ist nach meiner Abreise aus Jushnomorsk geschehen? Barsikow wurde verhaftet. Vor zwei Tagen. Folglich blieb ihnen nur ein Tag, der gestrige, um im Zusammenhang mit dieser Verhaftung eine Entscheidung zu treffen. Weil ich Barsikow am Mittwochabend festgenommen habe. In Jushnomorsk konnte man nur davon erfahren, wenn Barsikow sich zum Beispiel noch am selben Abend mit jemandem treffen wollte, aber nicht kam. Doch wenn er ausblieb, so bedeutete das ja nicht gleich, daß er verhaftet worden war. Um von seiner Festnahme zu erfahren, mußte jemand in Kuprejtschiks Haus gewesen sein. Dort hätte einer der Mieter von dem Schuß erzählen können, den man sicherlich in allen Etagen gehört hatte. Es hätte aber auch jemand beobachten können, wie Kuprejtschik und mit ihm noch ein Mann in Handschellen abgeführt wurden, ein mittelgroßer, korpulenter, älterer Mann. An der Beschreibung wäre leicht zu erraten gewesen, daß es sich bei dem Verhafteten um Barsikow handelte. Ja, leider konnten viele dies beobachten. Leider? Wie man's nimmt. Denn wenn wir jetzt in dem Haus nachforschen, dann erfahren wir vielleicht von denselben Mietern, wer sich bei ihnen nach diesem Vorfall erkundigt hat, wie dieser Mensch aussah, und wir vergleichen die Angaben mit... Ja, mit wem? Da heißt es natürlich überlegen, nachprüfen, kombinieren. Mit alldem mögen sie sich in Moskau befassen, ich muß darüber mit Kusmitsch telefonieren.

Also hat jemand Barsikows Verhaftung signalisiert. Das war schon gefährlich. Obendrein war auch Kuprejtschik festgenommen worden. Aber was sollte Edik mit ihm machen, nachdem der alles gestanden hatte? Nach Hause gehen lassen? Ein Geständnis bedeutet nicht Erlaß der Schuld. Und vor allem, Kuprejtschik hätte, nachdem er heimgekehrt war, auch selbst Alarm schlagen können. Oder jemand hätte sich mit ihm getroffen und alles von ihm erfahren. Vielleicht wäre Kuprejtschik auch gezwungen worden, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, um die Spuren zu verwischen. Oder er hätte versuchen können, sich aus dem Staube zu machen.

Kurzum, Kuprejtschiks und Barsikows Verhaftung ist nach Jushnomorsk signalisiert worden, davon bin ich überzeugt. Geschehen war das entweder am späten Mittwochabend oder am Donnerstagmorgen, das heißt gestern. Und dieses Signal hatte jemanden, wahrscheinlich Geli Jermakow, veranlaßt, schnell etwas zu unternehmen. Und das Wichtigste war, Schprinz mit allen Geschäftsunterlagen verschwinden zu lassen. Dabei sind tatsächlich alle Enden unserer Kette ins Wasser gefallen, und wir haben nichts mehr in der Hand. Es dürfte interessant sein, die Einzelheiten dieses Verschwindens zu erfahren.

Ich bin tief in Gedanken versunken, das dramatische Geschehen und die Kompliziertheit der bevorstehenden Ermittlung nehmen mich so gefangen, daß ich nicht bemerke, wie die zwei Flugstunden vergehen, und ich komme erst zu mir, als die Stewardeß die bevorstehende Landung ankündigt und mitteilt, wie das Wetter in Jushnomorsk ist.

Und wieder werde ich von Dawud umarmt. Mit ihm ist Edik auf den Flugplatz gekommen. Auch wir umarmen uns, obwohl wir uns erst gestern abend verabschiedet haben.

Während der Fahrt in die Stadt erzählen sie mir, einander unterbrechend, alles, was hier passiert ist. Erstens: Schprinz ist verschwunden. Das weiß ich schon. Aber außer ihm ist von den mir bekannten Personen nicht etwa Geli Stanislawowitsch Jermakow untergetaucht, sondern sein Vetter Wassili Prokofjewitsch, der in der Filiale auf dem Markt arbeitete.

»In der Filiale heißt es, er wäre krank, doch zu Hause sagen sie, er wäre zu seinem Vetter nach Moskau gefahren«, berichtet Edik.

»Na so was!« Scherzhaft wiege ich den Kopf. »Wie könnten wir uns verfehlen?«

»Ihr habt euch nicht verfehlt«, sagt Edik und blinzelt, schlau. »Wir haben Angaben, daß er nicht nach Moskau gefahren ist.«

»Wohin dann?«

»Jemand ist heute bei ihm in der Wohnung gewesen«, teilt Dawud mit. »Ein Nachbar. Ein ehrlicher Mensch. Er hat gesehen, daß der neue Koffer, ohne den Wassili Prokofjewitsch niemals nach Moskau gefahren wäre, an seinem Platz steht. Auch der gute Anzug ist da. Aber die Jagdstiefel fehlen.«

»Einen sehr aufmerksamen Nachbarn habt ihr da«, sage ich lachend, dann füge ich nachdenklich hinzu: »Interessant. Weshalb mußte er überhaupt verschwinden? Was hat er mit dieser Sache zu tun? Was meinst du?« frage ich Edik.

»Ich meine, er setzt die illegal produzierten Erzeugnisse ab«, antwortet er. »Die aus diesem Garn. Sehr bequem. Auf dem Markt. Die meisten Käufer sind Fremde. Er bekommt Bargeld...«

Dann setzen wir unser Gespräch in Dawuds Zimmer fort. Mit Behagen trinke ich aromatischen Tee.

»Und wie ist Schprinz verschwunden?« frage ich.

»Gestern morgen ist er wie immer ins Geschäft gekommen«, teilt Edik mit. »Jemand rief ihn an. Er lief sofort in die Buchhaltung. Sagte zu Lidia: >Geben Sie mir mal alle Unterlagen über das Garn.< Lidia gab sie ihm natürlich.«

»Verließ er das Geschäft?«

»Nein, Lidia sagt, er ging erst noch in sein Zimmer und telefonierte.«

»Wie war seine Stimmung?«

»Normal. Keinerlei Erschrecken, keine Panik«, antwortet Edik. »Er machte sogar Witze, sagt Lidia. Komisch. Ein ängstlicher Mensch. Beabsichtigt zu fliehen. Sich zu verstecken. Und macht Witze.«

»Demnach hatte er nicht die Absicht zu fliehen«, sage ich. »Möglicherweise wollte man ihn nicht erschrecken, damit niemand Verdacht schöpfen konnte. Also er ging in sein Zimmer, rief irgendwen an. Und weiter?«

»Er zog sich den Mantel an und ging.«

»Ging er zu Fuß oder fuhr er? Hat die Verkäuferin das nicht bemerkt?«

»Sie sagt, auf der Straße wartete ein Auto auf ihn. Aber sie hat nicht darauf geachtet, was für ein Wagen das war.«

»Gleich neben dem Geschäft ist eine Werkstatt«, sage ich. »Bist du mal reingegangen? Vielleicht haben sie das Auto gesehen?«

»Da bin ich nicht gewesen«, sagt Edik. »Ich war da«, teilt Dawud mit. »Ein Taxi war es. Die Nummer hat sich natürlich keiner gemerkt. Aber es fiel auf, daß schon ein Fahrgast in dem Auto saß. Schprinz wurde offenbar erwartet. Ein sehr großer Mann mit Schirmmütze. Möglicherweise dieser Jermakow, der vom Markt.«

»Nicht unbedingt.«, sage ich nachdenklich. »Also das war gestern. Um welche Zeit?«

»Ungefähr um elf Uhr.«

»Klar. Also morgen fährst du in aller Frühe zum Taxistand«, sage ich zu Dawud. »Ihr habt doch hoffentlich nur einen?«

»Wieso einen? Drei!«

»Dann bildest du drei Gruppen. Und morgen früh -hin zu allen dreien. Da wird wieder die gestrige Schicht arbeiten. Jeder Fahrer wird befragt, wir müssen den finden, der gestern Schprinz gefahren hat. Abgemacht?«

»Klar.« Dawud blickt auf die Uhr und steht auf. »Die Genossen sind noch alle hier. Also drei Gruppen. Gegen sechs müssen sie bei den Taxis sein. Richtig? Ich bin gleich wieder da.«

Dawud geht hinaus, und Edik und ich beraten weiter.

»Ist Geli Jermakow heute in seinem Laden?« frage ich.

»Den ganzen Tag. Der Wolga steht im Hof.«

»Hast du diesen Geli mal gesehen?«

»Ja.«

»Wen hast du noch gesehen?«

»Ich habe mich mit Lidia unterhalten.«

»Mit ihren Gedanken ist sie wohl ständig im Krankenhaus. Wie geht es Slawka?«

»Noch nicht besser. Trotzdem hat Lidia mir einiges mitgeteilt.«

»Interessantes?«

»Sie hat sich erinnert, wohin das Garn unter Umgehung ihres Geschäfts gegangen ist. Da ist eine Tuchfabrik. Aber synthetisches Garn braucht die überhaupt nicht. So daß, wenn Lidia sich nicht irrt, irgendeine Manipulation durchgeführt wird. Morgen früh fahre ich in die Fabrik, während Okajomow sich in die Bank begibt. Wir führen die Überprüfung von zwei Seiten durch. Wenn das Geschäft das Garn offiziell an diese Fabrik verkauft hat, wird ihr durch die Bank eine Zahlungsforderung zugestellt. Und die Fabrik muß über die Bank die Rechnung begleichen.«

»Und wenn sie das Garn bezahlt hat, hat sie es dann auch bekommen?«

»Sie kann mit diesem Garn nichts anfangen. Ich habe mich schon danach erkundigt. Das Garn ist weitergegangen.«

»Aber die Fabrik hat es doch bezahlt«, sage ich zweifelnd. »Wie ist es dann mit dem Geld?«

»Wenn die Fabrik mit drinsteckt, dann handelt es sich um irgendeinen Strohmann. Wir müssen nur enträtseln, um was für einen. Deshalb brauchen wir äußerst dringend die Unterlagen aus Schprinzens Geschäft. Dann decken wir den Schwindel nicht nur auf, sondern beweisen ihn auch.«

»Tja«, ich wiege den Kopf, »keine einfache Aufgabe.«

»Wir essen unser Brot nicht umsonst.« Edik lächelt herablassend. »Hilf mir nur, die Unterlagen zu finden. Da muß es eine Vollmacht der Fabrik oder einer Organisation zum Empfang des Garns geben. Und auf der Vollmacht steht ein Name. Und dieser Mann hat dann die Frachtscheine unterschrieben, als er dieses Garn erhielt. Diese Frachtscheine müssen ebenfalls in der Buchhaltung des Geschäfts sein. Man braucht sie zur Rechnungsführung.«

»Und die Fabrik hat kein Exemplar der Frachtscheine?«

»Da ist kein Garn, also auch keine Frachtscheine!«

»Aber wie haben sie in der Fabrik das Geld verbucht, mit dem das Garn bezahlt wurde?«

»Wenn ich das wüßte!« Edik verzieht gequält das Gesicht. »Finde mir diese Unterlagen, mein Lieber. Finde Schprinz. Ein halbes Königreich für Schprinz!«

Dawud kommt zurück, und wir gehen zu ihm nach Hause, um dort Abendbrot zu essen.

Vorher frage ich Dawud noch: »Überwacht ihr Schprinzens Wohnung?«

»Selbstverständlich.«

»Wer wohnt da alles?«

»Die Frau, die Tochter und das Enkelkind. Einen Mann hat die Tochter nicht. Eine Tragödie!«

»Und auf Jermakows Haus gebt ihr auch acht? Ich meine den Markt-Jermakow«, frage ich.

»Und ob. Wie denn sonst? Na, gehen wir. Mutter wartet.«

»Gehen wir, gehen wir. Und auf Geli paßt ihr auch auf?«

»Wie die Schießhunde!« Dawud lacht. »Der ist sehr schnell mit seinem Wolga.«

Auch unterwegs setze ich Dawud mit Fragen zu. »Habt ihr die Stadtausgänge kontrolliert?«

»Natürlich.« Er nickt. »Anderthalb Stunden nach Schprinzens Verschwinden aus dem Geschäft haben wir für ihn den Flugplatz und den Bahnhof gesperrt.«

»Aber nach anderthalb Stunden...«

»Wir haben alle Züge kontrolliert, die in dieser Zeit. Gott sei Dank ist kein Flugzeug gestartet. Das Wetter, verstehst du.«

Wir gehen dunkle, leere Straßen entlang, die vom Zentrum wegführen. Niemand stört unsere Unterhaltung.

»Und du meinst, er ist noch hier?« frage ich.

»Das meine ich.«

»Wie verhalten sich seine Frau und seine Tochter?«

»Ruhig, ganz ruhig.«

»Und was sagen sie, wo er ist?«

»Ich habe sie heute gefragt. Sie wissen es nicht. Es ist möglich, sagen sie, daß er bei einem seiner Freunde übernachtet hat. Er spielt Karten.«

»Er ist doch heute nicht zur Arbeit gekommen?«

»Sie regen sich trotzdem nicht auf. Das kommt vor, sagen sie.«

»Haben sie die Freunde genannt, wo er spielt?«

»Ja. Zwei. Wir haben sie überprüft. Bei ihnen ist er nicht. Es ist klar, daß ihn jemand versteckt hat. Mitsamt seiner Buchhaltung.«

»Aber wo?« murmle ich nachdenklich. »Wo?«

»Da mußt du Geli fragen«, sagt Dawud lachend. »Du kennst ihn ja.«

»Nein«, sage ich, »ich werde wohl einen anderen fragen.«

Schließlich erreichen wir das Haus, in dem Dawud wohnt.

Mein Gott, welch ein Essen erwartet uns! Ich bin außerstande, es zu beschreiben. Ganz zu schweigen davon, daß wir einen wunderbaren hausgemachten Wein trinken.

Am nächsten Morgen begibt sich Edik vor Tau und Tag in seine Tuchfabrik, genauer, in ihre Buchhaltung, während spezielle Gruppen zu den Taxiständen fahren. Dawud bleibt in seinem Arbeitszimmer. Bei ihm werden die Meldungen von allen Gruppen einlaufen, die mit Beobachtung und Suche beschäftigt sind. Jeden Augenblick kann ja ein Alarmsignal eintreffen, und Dawud muß die erforderlichen Maßnahmen ergreifen.

Ich selbst gehe in die Stadt. Ich will den Lahmen aufsuchen und mich mit ihm beraten. Er ist nicht nur ein kluger und aufmerksamer Bursche, er verfügt auch über zahlreiche verschiedenartige, sogar überraschende Beziehungen.

Ich gehe und erkenne die mir bereits bekannten Straßen, Plätze und Grünanlagen wieder, sogar einzelne Häuser und Aushängeschilder. Schließlich bin ich auf der Uferstraße.

Das Meer ist so wie vor einer Woche - geräuschvoll, zottig, bleifarben unter dem niedrigen grauen Himmel. Die Wolken ballen sich, kriechen aufeinander, schwer wie Berge, und es kommt mir vor, als würden sie jeden Moment ins Meer stürzen. Ich trete an die Brüstung und biete mein Gesicht genußvoll den salzigen Spritzern dar, die von unten herauffliegen. Eine Weile schaue ich auf die tosenden Wellen, dann gehe ich auf der Uferstraße weiter. Ich erreiche die Werkstatt des Lahmen und öffne die Tür.

Serjosha sitzt, wie immer, hinter der Barriere auf seinem niedrigen Schemel, das steife Bein unnatürlich ausgestreckt, unter der tief hängenden Lampe mit dem Blechschirm, beklopft mit dem Hammer die Sohle eines Stiefels. Und neben ihm, auf einem normalen Stuhl, sitzt und raucht... Käfer-Wolodja.

Als ich eintrete, blicken sie beide gleichzeitig auf, und Käfer ruft erstaunt: »Vitali?! Wo kommst du her?« Er springt auf mich zu.

Serjosha bleibt sitzen und lächelt schweigend vor sich hin.

Ich gehe hinter die Barriere, drücke beiden die Hände, ziehe mir einen Stuhl heran und zünde mir ebenfalls eine Zigarette ah. Ich fühle mich so wohl bei ihnen, als wären wir schon lange Freunde.

»Willkommen«, sagt Serjosha. »Welcher Wind weht dich hierher?«

»Ach!« Ich winke ärgerlich ab. »Später. Aber wie geht's euch, was macht Slawka?«

Eine Weile unterhalten wir uns über alles mögliche, dann frage ich plötzlich: »Jungs, wo ist der Gussinoje-See, wißt ihr das?«

»Dreißig Kilometer von der Stadt entfernt, in den Bergen«, antwortet Käfer.

»Bist du schon mal dort gewesen?«

»Ich fahre immer Getränke hin. Wir haben da unseren Stützpunkt.« Wolodja ist Lastwagenfahrer und arbeitet im Kombinat für Kantinen und Restaurants.

»Was ist da noch, außer deinem Stützpunkt?«

»Der See«, sagt Käfer lächelnd. »Ein schöner See. Und außerdem alle möglichen Sanatorien, Erholungsheime, Touristenherbergen, Jagdwirtschaften. Warst du schon dort?« fragt er Serjosha.

Der nickt. Zwischen den Lippen hält er Nägel. Energisch pocht er mit dem Hammer.

»Sind dort auch Datschen?« frage ich.

»Nein«, antwortet Käfer. »Höchstens ein paar besondere. Für die Obrigkeit. Wieso?«

»Gibt's da einen Onkel Ossip? Hast du schon von dem gehört?«

»Nein.« Käfer schüttelt den Kopf. »Kenne ich nicht. Du vielleicht?« Er wendet sich wieder an Serjosha.

Der nickt, dann nimmt er die Nägel aus dem Mund und sagt: »Ein Jäger. Ein Lump.«

»Warum ein Lump?« fragt Käfer sofort.

»Für viel Zaster erlaubt er dir zu schießen, was du willst, ohne jede Lizenz. Da ist ihm nichts zu schade.«

»Und wenn du keinen Zaster hast?« fragt Käfer lächelnd.

»Da kann er dich selbst erschießen. Ich sage dir, keiner und nichts tut ihm leid. Und später erklärt er: >Ein Wilderer, er hat auf mich geschossen.< So was gab's schon. Ein andermal brachte ihm ein Bursche aus der Stadt seine letzten Groschen, um sich loszukaufen. Er hatte ein falsches Protokoll über ihn aufgesetzt.«

»Hast recht, ein Lump«, sagt Käfer.

»Wohnt er dort auch, am See?« frage ich.

»Hmhm.« Serjosha nickt. »Heute ist er in die Stadt gekommen.«

»Weshalb?«

»Um einzukaufen. Sicherlich Lebensmittel. Die Stiefel da hat er hiergelassen. Er wird bald kommen, um sie abzuholen.«

»Wann kommt er?«

Serjosha schaut auf die Uhr. »Er müßte gleich hier sein.«

»Und dann fährt er nach Hause?«

»Ja.«

»Wie denn?«

»Na, wie sich's grade ergibt. Vielleicht mit dem Bus. Bloß muß er dann noch vier Kilometer laufen. Meist fährt er per Anhalter. Heute muß er schnell zurück. Angeblich hat er Gäste.«

Ich überlege, ziehe an der Zigarette, dann frage ich Käfer: »Wolodja, wo ist dein Wagen?«

»Im Betrieb«, antwortet er. »Wieso?«

»Hol ihn und sag diesem Halunken, daß du ihn bis zum See fährst. Du mußt sowieso hin, um Leergut zu holen, erklärst du ihm. Wir beide. Du bist der Fahrer, und ich bin der Beifahrer. In Ordnung?«

»Na hör mal!« ruft Käfer verwundert aus. »Und wer gibt mir den Wagen, denkst du auch daran?«

»Den kriegst du. Laß mich nur machen«, antworte ich. »Sobald du mit ihm einig bist, holst du den Wagen. Ich warte im Betrieb. Klar?«

»Immer mutig voran«, sagt Serjosha. »Was sein muß, muß sein.«

Käfer kratzt sich den Hinterkopf. »Das kommt ein bißchen überraschend. Aber wieso soll ich nicht fahren? Geh, laß dir den Wagen geben.«

»Und mit wem muß ich sprechen?«

Käfer diktiert mir die Anschrift seines Betriebes, die Telefonnummer des Dispatchers und die Namen der Vorgesetzten.

Serjosha sagt ernst zu mir: »Sieh dich vor bei diesem Halunken. Weißt du, wie der schießt? Den kannst du auf den Kopf stellen, er trifft trotzdem eine Fliege.«

»Schön«, antworte ich. »Hoffentlich kommt er.«

»Der kommt«, versichert Serjosha.

»Was willst du von ihm?« fragt Käfer neugierig.

»Ich will mir mal unauffällig ansehen, wo er wohnt und mit wem. Verstehst du?«

»Er wohnt allein«, bemerkt Serjosha. Er legt den Hammer beiseite und beginnt die Sohle mit Schusterzwirn zu nähen, wobei er zunächst mit der Ahle kleine Löcher sticht.

»Also abgemacht, Wolodja«, sage ich und stehe auf. »Ich regele alles bei dir im Betrieb. Und wenn er kommt, machst du ihm den Vorschlag. Serjosha wird dich unterstützen. Informiere ihn aber der Ordnung halber, daß ein Beifahrer mitkommt. Und der ist okay, sagst du. Ja?«

»Geh schon, geh!« Serjosha nickt mir zu. »Wird schon klappen. Mich mag er. Hält mich quasi für seinen besten Freund.«

»Und warum ist das so?« frage ich interessiert.

»Er hat meine Biographie erfahren. Und wittert eine verwandte Seele«, sagt Serjosha grimmig.

»Na schön«, erwidere ich lächelnd. »Bis dann.«

Ich gehe die Uferstraße entlang und halte nach einer Telefonzelle Ausschau, doch dann beschließe ich, in eine andere Straße abzubiegen, um nicht zufällig diesem Onkel unter die Augen zu kommen. Ich gelange in eine mir unbekannte Straße. Doch eine Telefonzelle ist nirgends zu sehen. Da gehe ich in das erstbeste Geschäft, sehe mir aufmerksam die Käufer an, die sich vor dem Ladentisch drängen, und da ich nichts Verdächtiges bemerke, begebe ich mich in das Zimmer des Direktors. Er wirft einen Blick auf meinen Ausweis, schiebt mir sofort das Telefon zu und verläßt taktvoll den Raum.

Dawud versteht mich auf Anhieb, und das, was ich ihm in dem zwar leeren, aber dennoch fremden Arbeitszimmer nicht sagen kann, sagt er selbst, als lese er meine Gedanken. In wenigen Minuten haben wir den Aktionsplan fertig, und nachdem ich Dawud die Namen und Telefonnummern diktiert habe, lege ich beruhigt den Hörer auf. Beruhigt verlasse ich auch das Geschäft. Kann man in solch einem Moment alle Überraschungen voraussehen, die auf einen warten?

Ich muß den Plan ändern. Wolodjas Betrieb ist weit von hier entfernt, wie sich herausstellt, und ich habe keine Zeit, ihn zu suchen. Seit ich Serjoshas Werkstatt verlassen habe, sind zwanzig Minuten vergangen, und Käfer ist sicherlich noch dort. Ich werde warten, bis er herauskommt, und dann werden wir gemeinsam das Auto holen. Ich schaue auf die Uhr. Es ist halb eins, ich habe beinahe noch den ganzen Tag vor mir.

Ich schwenke in die Uferstraße ein und... erstarre vor Überraschung. Vor Serjoshas Werkstatt steht der blaue Wolga. Wie kann sich Geli Jermakow solch eine Dummheit erlauben, Onkel Ossip in seinem Wolga zu fahren? Das hätte ich nicht geglaubt. In die Werkstatt darf ich jetzt nicht gehen. Hol's der Teufel, fährt Jermakow Onkel Ossip etwa selbst zum See? Das fehlte gerade noch. Übrigens hat Jermakows Erscheinen einiges zu bedeuten. Ich darf hier nicht gesehen werden, muß dabei aber die Werkstatt im Auge behalten. Ich schaue mich um. In der Nähe, dicht am Gehsteig, steht ein ramponierter Kiosk, hier wird im Sommer wahrscheinlich Eis oder Obst verkauft. Ich gehe um ihn herum, entdecke eine Brettertür. Sie ist nicht verschlossen. Ich trete ein und stelle mich an das kleine Seitenfenster. Der Eingang zur Werkstatt ist von hier aus gut zu beobachten. Doch mich quält der Gedanke, daß ich Käfer vielleicht verpaßt haben könnte und er schon in seinen Betrieb gegangen ist.

Nach wenigen Minuten gespannten Wartens sehe ich, wie Käfer die Werkstatt verläßt. Er blickt sich um und kommt zum Glück in meine Richtung.

Als er am Kiosk ist, rufe ich ihn halblaut. Er zuckt zusammen, bleibt stehen und mustert den Kiosk. Da bemerkt er mich.

»Geh um die Ecke«, sage ich. »Ich komme gleich nach.«

»Vielleicht lädst du mich erst mal zu einem Eis ein?« provoziert er mich fröhlich.

Wenig später gehen wir gemeinsam die Straße entlang, und Käfer berichtet: »Also zuerst erschien dieser Onkel Ossip. Du warst gerade weg. Ein häßlicher Kerl, die Visage ganz und gar behaart, bloß die riesige Nase ragt hervor. Ein richtiger Rauschebart. Tückische Augen. Einen Rucksack hat er bei sich, mindestens drei Pud schwer. Er ist fast darunter verschwunden. Nun, ein Wort gab das andere, und ich bot ihm an, ihn zu fahren. Da fragt er den Lahmen: >Ist er aus unserer Branche? Kann man ihm trauen?< Der Lahme sagte: >Mehr als dir.< Zum Lachen. Kurz und gut, wir einigten uns auf einen Zehner. In dem Moment kam dieser Lackaffe mit seinem Wolga. Soweit ich verstanden habe, wollten sie sich beim Lahmen treffen. Er gab diesem Onkel Ossip ein kleines Päckchen, was gerade in die Jackentasche paßte.« Mit den Händen zeigt Käfer das Format. »Onkel Ossip erzählt ihm von mir. Der Lackaffe begafft mich, fragt mich aus, wer ich bin, woher ich komme, und warum ich zum See fahre. Dann sagt er: >Also gut, hol deinen Wagen. Kriegst von mir noch einen Zehner, wenn du meinen Freund gut hinbringst.< Dann bin ich losgesockt. Nicht jeden Tag fallen zwei Zehner vom Himmel.« Käfer zwinkert mir zu und fragt: »Muß ich mit dir teilen oder nicht?«

»Mal sehen«, antworte ich, »wie du dich benimmst. Möglicherweise, nehme ich dir alles weg. Nun, und der mit dem Wolga, will er auch auf dich warten?«

»Ich weiß nicht, er hat nichts gesagt.«

»Hm... Ich werde mich besser nicht dort blicken lassen. Ich werde im Betrieb auf dich warten. Lad diesen Onkel ein und hol mich dann ab. Vielleicht hängt sich dieser Typ in seinem Wolga an dich. Und noch eins. Nimm Onkel Ossip unbedingt zu dir ins Fahrerhaus. Seinen Rucksack kriegt er ja da nicht rein. Also wirf ihn auf die Ladefläche. Klar?«

Wir nähern uns Wolodjas Betrieb. Das große Eisentor ist spaltbreit geöffnet, dahinter befindet sich ein großer schmutziger Hof, ein langes niedriges Garagengebäude, alle Türen stehen offen. Neben der Garage parken drei alte Autobusse und irgendwelche Autos. Ich bemerke auch unseren Milizwolga. Er steht abseits, am Zaun. In ihm sitzen Leute, wer, kann ich nicht erkennen.

»Nimm deinen Wagen und fahr los«, sage ich zu Käfer. »Wir haben ja alles besprochen.«

Er läuft zur Garage. Ich gehe zum Wolga. Schon wird die hintere Tür für mich geöffnet. Im Auto sitzen Dawud, noch ein Mitarbeiter und Edik.

»Wieso fährst du mit?« frage ich ihn. »Es ist doch nicht deine Aufgabe, Banditen zu schnappen.«

»Wen willst du denn schnappen?«

»Keine Ahnung. Ich lasse mich von meiner Nase leiten.«

»Und ich mich von meiner.«

Indessen fährt brummend ein LKW aus der Garage, überquert den Hof und verschwindet hinter dem Tor. Das war Käfer.

»Merk dir den Laster«, sage ich zu Dawud. »Du folgst ihm.« Und an Edik gewandt: »Na, warst du in der Fabrik?«

»Ja«, antwortet er. »Aber noch wichtiger ist, daß Okajomow in der Bank war. Wir haben unsere Ermittlungen verglichen. Demnach löst sich das Garn auf dem Weg zur Fabrik auf, verschwindet. Um dieselbe Summe erhöhen sich auf anderen Frachtscheinen die Preise für Farbstoffe und Zwirne. Und offenbar steigt ihr Verbrauch in der Produktion ebenfalls. Auf den Frachtscheinen, wo die erhöhten Preise aufgeführt sind, steht der Name ihres Empfängers. Auf diese Weise taucht ein neuer Name in dem Fall auf, verstehst du? Ein gewisser Prochladny.«

»Aha. Und wo bleibt das Garn?«

»Das Garn schwimmt vorbei. In irgendeinen illegalen Betrieb«, antwortet Edik.

»Schwarzmarktproduktion. Dieser Betrieb muß noch gesucht werden.«

»Notfalls sagt es uns Schprinz«, witzle ich.

»Unsere Jungs haben den Taxifahrer gefunden«, mischt sich Dawud ins Gespräch. »Selbstverständlich erinnert er sich an die Fahrt. Schprinz fuhr direkt auf den Hof des Konfektionsgeschäfts. Dort stand der blaue Wolga.«

»Na bitte«, sage ich. »Ihr seht selbst, alles endet bei unserem verehrten Geli Jermakow. Und jetzt begleitet er Onkel Ossip. Er hat ihm ein Päckchen ausgehändigt. Onkel Ossip hat Gäste zu Hause...« Hastig erzähle ich, was ich in der Werkstatt des Lahmen gehört habe, und zum Schluß sage ich: »Ich muß aussteigen. Käfer wird gleich kommen.« Ich wende mich an Dawud: »Also alles, wie besprochen, ja?«

»Wie besprochen, mein Lieber«, antwortet er.

»Vergiß nicht, dort kann auch der zweite Jermakow sein«, warne ich. »Dieser Büffel kann ein Haus umschmeißen!«

»Den kenne ich besser als du«, sagt Dawud lachend. »Wessen Nachbar ist er, deiner oder meiner?«

Ich steige aus und schlendere zum Dispatcherhäuschen neben dem Tor.

In diesem Augenblick wird auf der Straße ungeduldig gehupt. Wahrscheinlich Käfer. Ich winke meinen Leuten zu und laufe vors Tor. Da steht Wolodjas Auto.

Ich trete ans Fahrerhaus, werfe dem neben ihm sitzenden bärtigen Mann mit den bösen Augen einen vernichtenden Blick zu und sage gereizt zu Käfer: »Du verdienst dir was nebenbei, und ich kann warten, was?«

»Na ja, der Mann hat mich gebeten«, stammelt Käfer verwirrt, und zwinkernd fügt er hinzu: »Für dich 'n Zehner, für mich 'n Zehner. Ist das schlecht?«

»Na gut, fahren wir«, entgegne ich versöhnlich. Ich will auf die Ladefläche klettern.

»Nein, nein, ich gehe nach hinten«, ruft der Bärtige unruhig.

»Bleib sitzen«, befiehlt Käfer. »Wir achten unsere Gäste, klar? Und unserem Beifahrer macht's nichts aus, lang wie er ist.«

Kaum bin ich oben, fährt Käfer los. Er spielt seine Rolle gut. Sicherlich hat er verstanden, warum ich hinten fahren will.

Die Ladefläche ist mit leeren Flaschenkisten vollgestellt. An der Wand des Fahrerhäuschens bemerke ich einen großen abgeschabten Rucksack. Von der Seite pirsche ich mich heran, löse die Schnur und schaue hinein. Oho! Der Sack ist mit Brot, Konserven und irgendwelchen eingepackten Lebensmitteln gefüllt. Es sieht nicht aus, als wäre das nur für einen Menschen gekauft. Und für einen Tag. Nebenbei bemerkt, diese Konserven sind Mangelware und nicht so ohne weiteres zu bekommen. Ich reiße ein Päckchen auf. Na bitte. Die Wurst hat sich dieser Schurke auch irgendwo unter dem Ladentisch besorgt. Für seine Gäste. Ich mustere die Büchsen und Päckchen und entdecke auf einem Päckchen Ziffern, die mit Bleistift gekritzelt sind. Aha, wahrscheinlich der Preis. Ziemlich teuer. Für sich und seine Gäste würde der Alte bestimmt nicht soviel ausgeben.

Höchstwahrscheinlich hat Geli Jermakow alles beschafft. Warum? Weil das seine Leute sind? Weil er sie zu Onkel Ossip geschickt hat? Das kleine Päckchen

ist sicherlich auch für sie bestimmt. Ich mache es mir zwischen den Kisten bequem, wickele mich in den Mantel, ziehe die Mütze bis zu den Ohren herunter und beobachte die Straße, die wir entlangfahren. Niemand folgt uns. In der Stadt hat es keinen Sinn, uns zu beschatten. Es ist ja bekannt, wohin wir fahren. Der LKW rumpelt, die Kisten klappern. Die Fahrbahn ist hier, weit vom Zentrum, nicht besonders gut.

Meine Gedanken kreisen immer um ein und dasselbe. Wenn sich im Haus von Onkel Ossip Schprinz oder Jermakow verbergen oder beide zusammen, was kann das bedeuten? Sie können sich doch nicht zeitlebens dort verstecken? Denn wenn die Untersuchung begonnen hat, wenn man Schprinz auf die Spur gekommen ist, so wird er früher oder später doch verhaftet. Was beabsichtigt Geli Jermakow, wenn er Schprinz bei Onkel Ossip versteckt? Jermakow ist doch kein Dummkopf. Und warum hat er beschlossen, außer Schprinz auch seinen Vetter Wassili untertauchen zu lassen? Mißtraut er ihm? Ist sein Vetter feig, obwohl er so gewalttätig aussieht? Aber vielleicht geht es auch um etwas ganz anderes. Edik sagt, daß Wassili Jermakow für den Absatz sorgt. Also ist er das letzte Glied in der Kette. Und Schprinz das erste, hier, in Jushnomorsk. Man kann nun auch nicht mehr das Ende dieser Kette packen, um die Bande von hinten aufzurollen. Geschickt ausgedacht.

Ach, wenn ich nur wüßte, was in dem Päckchen ist, das Geli Jermakow Onkel Ossip zugesteckt hat. Im Rucksack finde ich dieses Päckchen natürlich nicht. Es ist flach, klein, Ossip konnte es sich in die Tasche stecken. Vielleicht sollte man Ossip gleich nach unserer Ankunft festnehmen? Doch das geht nicht. Er muß uns zu seinem Haus führen. Vielleicht auch nicht. Sein Haus ist dort, wo sich der Hof der Jagdwirtschaft befindet. Man muß am Sanatorium »Bergsonne«, am Kinderheim »Roter Storch« und an der Siedlung Otok vorbeifahren. So hat es Serjosha beschrieben, er ist einmal bei Onkel Ossip zu Besuch gewesen.

Indessen hat unser Auto die Stadt verlassen und fährt durch ein Tal, die Straße windet sich zwischen dunklen Äckern und Reihen von Weinstöcken. In der Ferne türmen sich bizarre Berge, über ihnen fahlblauer Himmel mit flachen, spärlichen Wölkchen. Durch den Dunst scheint blasse Sonne, sie überflutet das Tal und wärmt schon. Wäre nicht der Wind, so wäre es schon richtig warm. Wir sind eben im Süden.

Es beginnt der Anstieg. Die Berge rücken näher, sie werden düsterer, strenger und kälter. Ich beachte sie kaum, denn ich blicke ins Tal. In der Ferne sind das Meer und die Stadt zu sehen.

Weit hinter uns bemerke ich einen dunklen Wolga. Das sind unsere Leute. Sie beeilen sich nicht, halten Abstand.

Das Auto holpert über Steine. Felswände drängen dicht an die Straße, engen sie ein, versperren den Blick auf die Berge. Immer höher, immer steiler windet sich die Straße empor. In einer Kurve sehe ich unser Tal plötzlich tief unten, Meer und Stadt sind überhaupt nicht mehr zu erkennen.

Die Felsen verschwinden zeitweise, dann schlängelt sich die Straße an bewaldeten steilen Hängen entlang, hier und da führt sie an Abgründen vorbei. An diesen Stellen gähnt auf der einen Seite Leere, und von meinem Platz aus scheint es, als hinge der Wagen mit zwei Rädern in der Luft, während er mit der anderen Seite, wo ich sitze, die Felswand schrammt. Vor jeder Kurve hupt Wolodja gellend. Was geschieht, wenn uns ein Fahrzeug entgegenkommt? Bei diesem Gedanken wird mir unbehaglich. Ringsum sind jetzt Berge, ihre Gipfel sind schneebedeckt. Der Wind wird rauher, kälter.

Hinter einer Kurve weicht die Felswand plötzlich zurück. Ein kleines Gebirgstal tut sich auf. Zu beiden Seiten der Straße ziehen sich niedrige, aus flachen Steinen errichtete Gartenmauern hin. Wenig später fahren wir an einem hölzernen Tor mit dem Schild »Sanatorium Bergsonne« vorbei. Hier ist tatsächlich viel Sonne, und sogar in dieser Höhe brennt sie ganz ordentlich. Unser Auto holpert weiter, an steinernen Einfriedungen und endlosen Gärten vorbei, dann biegt es seitwärts ab, und wieder dringen wir in die Berge ein. Wo ist das Kinderheim? Vorläufig ist es nicht zu sehen, ebensowenig die Siedlung Otok. Ringsum erheben sich wieder nur rötliche Felsen und bewaldete Hänge.

Bald darauf taucht eine Siedlung auf, aber sie heißt anders. Ich kann ihren Namen auf dem Schild nicht so rasch entziffern. Wohin fahren wir? Ist dies eine andere Straße und kommt gleich die Jagdwirtschaft in Sicht? Die Siedlung bleibt hinter uns, und wieder sind wir auf einer serpentinenreichen Gebirgsstraße. Dann erreichen wir eine andere Siedlung. Auf einem kleinen Platz stoppt unser LKW plötzlich.

Die Türen klappen, Käfer steigt aus und ruft fröhlich: »Da wären wir. Nun rück mit den Scheinen raus, Onkel.«

Auch Onkel Ossip steigt aus. Ein muskulöser, elastischer Mann, wenn auch klein von Wuchs. Er hat böse, unstete Augen, die mir irgendwie bekannt vorkommen.

»Wo hast du uns hingelotst, Onkel?« frage ich, während Onkel Ossip ächzend eine zerknitterte Brieftasche aus der Innentasche seiner Jacke zieht.

»Hier ist der See - da drüben, zwei Schritt von hier.« Onkel Ossip weist die Richtung und grient. »Da ist auch euer Restaurant. Wir sind nur ein bißchen anders gefahren.«

»Wohnen Sie hier?« frage ich.

»Nein. Ich will hier nur mit einem Freund die Lebensmittel teilen.«

»Und wo wohnen Sie?«

Ich ziehe das Gespräch absichtlich hin und überlege, wie ich vorgehen soll. Ich kann Ossip gleich festnehmen und ihn zwingen, mich zu dem gesuchten Haus zu bringen. Aber womöglich zeigt er sich halsstarrig und führt mich sonstwohin. Wir können ihn natürlich auch verfolgen, obwohl das gar nicht so einfach ist in der unbekannten Gegend. Ich brauche Dawuds Rat. Folglich muß ich Zeit gewinnen und darf diesen flinken Alten nicht fortlassen. Unauffällig halte ich Umschau.

Hinter einer Steinmauer hervor beobachten uns neugierig schwarzäugige sonnenverbrannte Kinder in bunten Hemden und Pullovern. Langsam wandern zwei Männer in dunklen festen Jacken vorüber.

Onkel Ossip öffnet bedachtsam seine alte Brieftasche, kramt mit finsterer Miene darin herum, nimmt schließlich einen Zehner heraus, faltet ihn behutsam auseinander, glättet ihn, biegt die umgeknickten Ecken gerade. Offensichtlich fällt es ihm schwer, sich von dem Schein zu trennen. Schließlich reicht er ihn Wolodja und holt den zweiten Zehner hervor. Das geschieht noch langsamer.

Plötzlich nähert sich Dawud und geht mit gleichgültiger Miene an uns vorbei. Unsere Blicke treffen sich. Onkel Ossip merkt nichts, sein Geld nimmt ihn voll und ganz in Anspruch. Ich gebe Dawud ein Zeichen, was bedeutet, daß dieser Mann hier nicht aus unserem Gesichtsfeld verschwinden darf. Dawud blinzelt mir kurz zu. Er hat meinen Wink verstanden. Beraten kann ich mich nicht mit ihm, deshalb treffe ich die Entscheidung selbst. Soll Onkel Ossip zunächst in Frieden gehen.

Als Dawud an uns vorbei ist, bleibt er plötzlich stehen und ruft etwas mit kehliger Stimme. Aber niemand beachtet seinen Ruf, weder die Kinder hinter der Mauer noch Onkel Ossip. Doch wenig später kommt Dawuds Mitarbeiter gelaufen, der mit ihm im Auto gefahren ist, er kommt aber aus der entgegengesetzten Richtung. Laut und lebhaft beginnen sie sich in einer mir unbekannten Sprache zu unterhalten.

Endlich ist Onkel Ossip mit der Abrechnung fertig, wirft sich ächzend den Rucksack auf den Rücken und wandert, ohne ein Wort zu verlieren, los. Er ist noch nicht unseren Blicken entschwunden, da folgt ihm Dawuds Mitarbeiter. Dawud, der ebenfalls die Verfolgung aufzunehmen gedenkt, gibt mir ein Zeichen.

Indessen kommt auch Edik, und wir folgen Dawud. Vorher fordere ich Käfer auf, hier zu warten.

Wir gehen hinter Dawud her, bleiben stehen, wenn er stehenbleibt, oder verbergen uns an der endlosen, nach wie vor aus flachen Steinen errichteten Mauer, ohne Dawuds geschmeidige Gestalt aus den Augen zu lassen. Er führt uns immer weiter, immer höher in die Berge. Die Häuschen der Siedlung sind nicht mehr zu sehen, die Mauer wird niedriger, die Steine sind nachlässig übereinandergeschichtet, wir gehen durch Gesträuch und hohes welkes Gras.

Edik geht neben mir, und in seinen Augen sehe ich Erregung und Neugierde. Dawud winkt uns zu und verschwindet. Das bedeutet, er tauscht mit dem Genossen vor ihm die Plätze. Jetzt verfolgt Dawud Onkel Ossip. Sein Mitarbeiter führt uns. Er heißt Achmet, wie Edik mir sagt. Der Weg wird immer schwieriger. Wir biegen seitwärts ab und kraxeln zwischen riesigen Felsbrocken einen grasbewachsenen Hang hinauf. Es scheint, daß wir einen Bogen um die Siedlung schlagen. Sie liegt weit unter uns, eine Ansammlung von grauen Mauern und Häusern. Ich erkenne sogar den kleinen Platz mit unserem LKW. Wir sind schon ziemlich hoch.

Warum mag Onkel Ossip diesen schwierigen Umweg gewählt haben? Hat er Angst? Aber dann hätte er ja nicht in unser Auto zu steigen brauchen. Vielleicht haben sich Dawud oder Achmet irgendwie verraten? Und nun versucht Onkel Ossip sie von seiner Spur abzubringen? Gelänge ihm das, so wäre es sehr ärgerlich.

Da gibt uns Achmet ein Zeichen und verschwindet. Wir warten, an die Steinmauer gelehnt. Dawud erscheint nicht. Wir werden ungeduldig. Edik blickt unruhig um sich, er will Achmet folgen, doch ich halte ihn zurück. Wir sind aufs äußerste gespannt. Ich knöpfe den Mantel auf, fahre mit der Hand unter die Jacke und ertaste die vertraute flache Pistole. Das beruhigt mich etwas.

In diesem Augenblick kracht plötzlich ganz in der Nähe ein Schuß. Das Echo rollt in den Bergen. Nach dem ersten Schuß dröhnt ein zweiter, dritter. Dawud ist immer noch nicht zu sehen, Achmet ebenfalls nicht.

Wir laufen in die Richtung, aus der geschossen wurde. Ich ziehe die Pistole und entsichere sie. Edik macht das gleiche. Wir pirschen uns zwischen den Steinen vor, benutzen sie als Deckung. Mir fällt ein, was Serjosha über Onkel Ossips Schießkunst gesagt hat. Ob er geschossen hat?

Plötzlich sehe ich vorn, neben einem großen Stein, eine lang ausgestreckte Gestalt. Dawud. Er hebt den Kopf und winkt uns zu sich. Wir kriechen hin.

»Sie sind dort drüben«, flüstert Dawud. »Hinter der Mauer. Da ist ein Haus.«

»Entwischen sie nicht?«

»Achmet ist auf der anderen Seite.«

»Wer hat geschossen?«

»Zweimal Ossip. Auf mich. Einmal jemand anders. Wahrscheinlich auf Achmet. Auch daneben. Achmet hat mir ein Zeichen gegeben.«

»Wieviel sind es?«

»Weiß ich nicht«, antwortet Dawud.

»Warum haben sie geschossen?«

»Sie haben uns bemerkt. Sie belauern uns, die Hunde.«

Ich schiebe mich ein Stück hinter dem Stein vor. Sie passen schlecht auf. Kein Schuß. Ich mustere die Mauer. Sie ist ziemlich hoch, dahinter ist nichts zu sehen, nur die Wipfel von ein paar Bäumen und Gesträuch.

»Edik«, sage ich, »wir kriechen an der Mauer lang, du von der einen Seite, ich von der anderen. Bis wir uns treffen. Finde eine Lücke in der Mauer, einen Spalt, schau dir das Grundstück an, das Haus und alles, was du kannst. Und du gib uns Feuerschutz, Dawud.«

»Mach ich, mein Lieber, mach ich.«

Edik und ich kriechen in verschiedene Richtungen davon.

Ich bin allein. Die flachen Steine der Mauer sind so fest gefügt, daß ich keine einzige Ritze finde. Sollte sie in ihrer ganzen Länge so dicht sein? Über sie hinwegzusehen ist zu gefährlich. Und wenn ich's doch versuche? Ich nehme einen Ast, stülpe meine Mütze darüber und hebe sie vorsichtig über die Kante. Nichts. Niemand schießt auf die Mütze. Also kann ich einen Blick riskieren? Lieber doch nicht. Es kann eine Falle sein. Ich krieche weiter, betaste alle Vertiefungen und Unebenheiten. Endlich habe ich Glück. Zwischen den Steinen entdecke ich einen Spalt.

Überraschend nahe erblicke ich das Haus, ein kleines Blockhaus auf hohem Steinfundament, mit Veranda, das Dach mit Dachpappe gedeckt, gewöhnliche Fensterläden, als wäre eine bescheidene Datsche aus der Moskauer Gegend in diese Berge geraten. Alles wirkt harmlos, friedlich. Man möchte hineingehen und fragen, ob das Haus zu vermieten sei. Aber dort warten Kugeln... Vor dem Haus weder Baum noch Strauch. Menschen sind nicht zu sehen. Die Läden aller drei Fenster sind geöffnet, doch die Fenster sind geschlossen, auch die Terrassentür. Von wo haben die beiden geschossen, und in zwei verschiedene Richtungen zugleich? Vielleicht haben sie sich außerhalb des Hauses verkrochen? Wo kann man sich hier verstecken? Hinter dem Haus? Vielleicht sind dort Bäume und Sträucher und auch irgendwelche Nebengebäude. Also muß ich weiterkriechen, vielleicht gelingt es mir, den anderen Teil des Grundstücks einzusehen.

Und wieder robbe ich über das feuchte welke Gras und betaste jeden Vorsprung.

Welchen Plan mögen sie haben? Da sie es riskiert haben, das Feuer zu eröffnen, wollen sie den Kampf aufnehmen. Sie sind in die Enge getrieben. Was weiter? Die Dunkelheit abwarten und fliehen? Onkel Ossip kennt hier jeden Pfad, und es dürfte ihnen nicht schwerfallen, ihre Verfolger abzuschütteln. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß ihr Plan so aussieht. Obwohl sie unsere Kräfte nicht kennen und ein großes Risiko eingehen. Aber einen anderen Ausweg haben sie nicht. Und es gibt natürlich genug, wovor sie Angst haben müssen. Ach, wenn ich doch wüßte, wer sich in diesem Haus verbirgt. Bestimmt wollen sie die Dunkelheit abwarten und fliehen. Folglich dürfen wir nicht warten, bis es dunkel wird. Jetzt haben sie zumindest zwei Vorteile. Sie verteidigen sich, und wir sind gezwungen, anzugreifen. Sie können in Deckung bleiben, während wir uns zeigen müssen. Außerdem brauchen sie uns nicht lebend, während wir sie nur lebend brauchen. Also müssen wir uns etwas ausdenken..

Ich krieche weiter die Mauer entlang und prüfe jeden Stein. Plötzlich streift mich etwas von oben. Ich hebe den Kopf. Über die Mauer biegen sich Zweige eines Strauches, sie haben harte, glänzende Blättchen. Ich stehe auf und schiebe die Zweige vorsichtig auseinander. Jetzt sehe ich das Haus von der anderen Seite. Nur ist es weiter entfernt. Auf dieser Seite besitzt es kein einziges Fenster. Seltsam. Aber auch hier weder Baum noch Strauch. Es ist unmöglich, sich unbemerkt zu nähern.

Wahrscheinlich sind drei Mann im Haus - Schprinz, Jermakow und Onkel Ossip. Das hoffe ich jedenfalls. Natürlich haben Jermakow und Onkel Ossip geschossen. Schprinz stirbt eher vor Angst, als daß er eine Waffe anfaßt. Wie Onkel Ossip schießt, weiß ich. Ich muß mich mit Edik treffen und hören, ob er was entdeckt hat.

Aber noch bevor ich mich hinter der Mauer versteckt habe, um weiterzukriechen, kracht plötzlich ein Schuß. Ich höre einen kurzen verzweifelten Schrei in der Nähe und sehe Onkel Ossip mit einem Gewehr in der Hand, er rennt auf das Haus zu. Ohne zu überlegen, von Wut erfaßt, reiße ich die Pistole hoch und schieße durch den Strauch...

Onkel Ossip fällt, wie hingemäht, rücklings nieder. Wäre ja auch gelacht, wenn ich ihn auf fünfundzwanzig Schritt Entfernung verfehlt hätte! Ossip stürzt, das Gewehr schlägt auf den Boden und fliegt beiseite. Sekundenlang stehe ich starr. Wer wird ihm zu Hilfe eilen, wer.?

Und wer hat eben geschrien? Das ist die Hauptsache - wer hat geschrien? Edik, Dawud, Achmet, wer? Ich muß dorthin, wo geschrien wurde, und ich muß Ossip bewachen. Da hebt er den Kopf, als lausche er, scharrt mit der Hand rings um sich, tastet nach dem Gewehr. Erschöpft sinkt er zurück. Dann kriecht er langsam auf das Haus zu.

»Liegenbleiben!« schreie ich. »Liegenbleiben, sage ich! Sonst verpaß ich dir den Rest! Jermakow, komm raus!«

Und sofort laufe ich an der Mauer entlang. Weiter, wo der Schrei ertönte. Nein, da ist kein Schrei mehr. Ich höre qualvolles Stöhnen. Ich höre es immer deutlicher. Und plötzlich stockt mir der Atem. Edik liegt dort und stöhnt. So stöhnt man, wenn man stirbt. Wenn man am Blut erstickt.

Plötzlich sehe ich einen Mann, der auf mich zukommt. Es ist Dawud. In seinem Gesicht lese ich Wut, Erregung, Kummer. Fast gleichzeitig sind wir bei Edik. Er liegt ausgestreckt auf den Steinen. Der Mantel ist aufgeknöpft, die Pistole ist ihm aus der Hand gefallen. Seine Augen sind geschlossen, das Gesicht ist weiß, blutleer, aus dem Mund mit den trockenen Lippen dringt glucksendes Röcheln.

Ich richte mich mit einem Ruck auf, blicke über die Mauer und sehe, daß neben dem liegenden Ossip Jermakow steht. Die Hände erhoben und um sich schauend, wie ein dressierter Bär.

»Ruf Achmet«, sage ich zu Dawud. »Bringt Edik zum Auto und schickt es in die Stadt, unverzüglich! Dann kommst du zurück. Die transportieren wir mit dem LKW ab. Schnell!«

Noch bevor Dawud antworten kann, schwinge ich mich über die Mauer und gehe, die Pistole in der Hand, auf Jermakow zu. Gehetzt sieht er mich an. Er hat einen nervösen Schluckauf und wirkt jämmerlich.

Ich trete zu ihm und rufe, ohne die Pistole zu senken: »Schprinz, kommen Sie raus!«

Ich werfe schnell einen Blick auf Ossip, der sich auf dem welken Gras zusammengekrümmt, das Gesicht verdeckt und die Beine angezogen hat. Er lebt, der Lump.

»Nicht schießen!« ruft Schprinz, während er um die Hausecke kommt, und als er Jermakow sieht, hebt er ebenfalls die Hände. »Um Gottes willen, nicht schießen! Du lieber Himmel, wie furchtbar!« jammert er, außerstande, den Blick von Ossip zu lösen. »Wie furchtbar. Es ist aus. Das steht fest! Nehmen Sie alle Unterlagen, sperren Sie mich ein. Ich sage alles! Aber schießen Sie nicht! Nicht schießen! Ich sage alles, ich weiß alles. Ich kann Ihnen nützlich sein. Nicht schießen!«

In diesem Augenblick macht Jermakow eine ungeduldige Bewegung, versucht, die Hände herunterzunehmen.

»Hände hoch!« sage ich drohend und richte die Pistole auf ihn. Plötzlich habe ich das brennende, geradezu unerträgliche Verlangen, zu schießen. Und offenbar hat Jermakow in meinem Blick etwas gelesen, denn er läßt sich sofort auf die Knie fallen, schluchzt und blickt mich ergeben an.

Schprinz aber hört nicht auf zu winseln und zu jammern. Er hält die Hände hoch und stirbt fast vor Angst. »Ich sage alles. Ich weiß alles! Alles, alles! Man darf mich nicht töten!« schreit er hysterisch.

Offenbar halten seine Nerven nicht stand. Seine Augen weiten sich, unentwegt starrt er auf den reglos daliegenden Ossip. Wie furchtbar, anscheinend habe ich ihn getötet. Aber da denke ich an Ediks blasses, schmerzverzerrtes Gesicht, seine verkrusteten Lippen.

Und ich sehe Dawud über die Mauer springen. Ihm folgen Wolodja-Käfer und noch ein Mann.

Wenig später gehen wir schon den steilen, steinigen Weg hinunter, dorthin, wo der LKW auf uns wartet. Voran Jermakow, ihm sind die Hände auf dem Rücken gefesselt. Ich hinter ihm, die Pistole in der Hand. In meiner Tasche steckt das Päckchen, das Ossip gebracht hat. Es enthält zwei Pässe, viel Geld und einen Zettel, auf den Geli Jermakow zwei Adressen in zwei verschiedenen Städten geschrieben hat. Dawud führt Schprinz ab, Ossip muß getragen werden.

Das ist alles. Wir von der Kriminalmiliz haben das Unsrige getan. Jetzt gilt es, das Spinngewebe restlos zu entwirren, das Geli Jermakow so schlau gewebt hat. Mit der Untersuchung seiner Verbrechen befassen sich unsere Kollegen der OBChSS. Das ist eine schwierige Aufgabe, ich bin da nicht spezialisiert. Und ich versuche mich auch nicht auf diesem Gebiet. Edik war nicht Spezialist auf unserem Gebiet. Warum nur ist er mit uns gefahren.

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