MARSORBIT

Es war verdammt anstrengend, ein Weiser zu sein.

Li Chengdu starrte auf den leeren Bildschirm und sah immer noch James Watermans störrisches Gesicht. Ein ehrliches Gesicht, ein bißchen eckig, mit breiten Wangenknochen und einem Hauch ferner asiatischer Vorfahren in der Form seiner Augen. Durchdringende schwarze Augen, die ein freier Pfad zur Seele des jungen Mannes waren.

Ich hätte nicht die Geduld mit ihm verlieren dürfen, tadelte sich Li. Ich war wütend, weil er dort unten auf dem Planeten ist und ich in dieser himmlischen Blechdose hocken muß, ohne jemals einen Fuß auf den Mars setzen zu können.

Das war es aber nicht allein, wie er wußte. Russen, Amerikaner, Japaner — neunzehn verschiedene Nationalitäten leben hundert Millionen Kilometer von der Erde entfernt auf allerengstem Raum. Wenn niemand einen Nervenzusammenbruch bekommt, bevor wir nach Hause zurückkehren, wäre ich geradezu sprachlos vor Überraschung. Nicht einmal die Japaner sind dazu geschaffen, so eng zusammenzuleben.

Die Ingenieure hatten sämtliche physischen Probleme der Marsmission vorausgesehen, die Bedenken der Psychologen jedoch bewußt ignoriert. Nein, sie waren vielmehr über all diese Bedenken hinweggegangen, indem sie den Psychologen befahlen, ›ausgeglichene‹ Personen auszuwählen, die selbst unter den Druckkochtopfbedingungen dieser Mission stabil blieben. Li wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Unter diesen Bedingungen stabil bleiben! Wie soll man stabil bleiben, wenn man nahezu zwei Jahre lang auf Sex verzichten muß? Die Mission hätte von Polynesiern geplant werden sollen statt von Russen und Amerikanern, den beiden prüdesten Völkern der Welt.

Und jetzt hat dieser Indianer mit seinen törichten Worten seine Regierung aufgebracht. Damit hat keiner von uns gerechnet.

Zumindest war das Schiff jetzt nicht mehr ganz so überfüllt, nachdem die Hälfte der Besatzung zum Mars abgestiegen war. Li lehnte sich in seinen weichen, nachgiebigen Stuhl zurück. Aus dem Augenwinkel sah er die rötliche Rundung des Mars vor dem runden Fenster seiner Kabine vorbeiziehen. Die Mars 2 war in ihrer Umlaufbahn nach wie vor durch ein Raumseil mit ihrem Zwillingsschiff verbunden, der fünf Kilometer entfernten Mars 1, und die beiden Schiffe rotierten immer noch um ihr gemeinsames Zentrum, um eine annähernde Marsschwerkraft aufrechtzuerhalten. Falls es notwendig sein sollte, einen Ersatzmann oder eine Ersatzfrau zur Oberfläche hinunterzuschicken, konnte er oder sie sofort gehen. Sie waren alle an die Marsschwerkraft akklimatisiert.

Li war froh, daß sie auf ihrer langen Reise nicht für längere Zeit in der Schwerelosigkeit leben mußten. Ihm wurde dabei immer schlecht; allein schon beim Gedanken an endlose Monate in der Schwerelosigkeit wurde ihm flau im Magen.

Mit einem schweren Seufzer schob er seinen Stuhl von der Kommunikationskonsole zurück und stand auf, fast zwei Meter groß, dünn wie ein Besenstiel. Der fest zugeknöpfte Kragen seines Overalls stieß gegen die alte Narbe an seinem Hals, eine Erinnerung an die Unruhen während seiner Studentenzeit in Shanghai. Der einzige Schmuck an dem olivbraunen Kleidungsstück waren sein Namenszug auf der linken Brustseite und die Schulterklappe der ersten Marsexpedition.

Wie albern, daß sich die Amerikaner über ein paar Worte aufregen, dachte er. Aber sie haben ihre Probleme mit den Indianern niemals ganz gelöst. Li runzelte die Stirn. Nein, sie nennen sie nicht mehr Indianer’. Amerikanische Ureinwohner? Amerinds? Worte sind wichtig, erkannte er, erst recht bei einem Volk, das von seinen Medien regiert wird.

Als Kommandant der ersten Marsexpedition hatte Li Chengdu uneingeschränkte Macht und zugleich auch uneingeschränkte Verantwortung. Zwei Dutzend Menschen waren ihm anvertraut, ihr Leben lag in seinen Händen. Die Hälfte von ihnen — jene Hälfte, die er beneidete — war unten auf dem Boden des Mars. Waterman war nicht die erste Wahl unter den Geologen gewesen, nicht einmal die zweite. Aber der junge Mann ist dort unten auf der Oberfläche des Mars; sein Tao ist so mächtig, daß es die Wege aller anderen formt und verwandelt, die mit ihm in Berührung kommen, selbst den meinen.

Wir alle, die wir hier oben im Orbit geblieben sind, wir halten uns insgeheim für zweitklassig. Wir haben hier oben wichtige Aufgaben zu erfüllen, aber mit Ausnahme der wenigen, die die winzigen Monde erkunden werden, würden die Wissenschaftler hier mit Freuden Morde begehen, wenn sie dadurch die Chance bekämen, einen der Männer oder eine der Frauen unten auf dem Planeten zu ersetzen.

Ich bin melodramatisch, seufzte er in sich hinein. Das sind alles erwachsene Menschen, die gesündesten und stabilsten Männer und Frauen aus den Tausenden, die bei dieser Expedition dabeisein wollten. Die Besten der Besten. Natürlich haben sie ihre Probleme. Wir alle sind mit Belastungen und emotionalen Spannungen konfrontiert. Es wäre töricht, etwas anderes zu erwarten. Meine Aufgabe besteht darin, diese Probleme beizulegen und dafür zu sorgen, daß sie uns bei der Erfüllung unserer Mission nicht in die Quere kommen.

Aber wie gesund und stabil war es, daß dieser Amerikaner in Navajo zu den Medien der Welt gesprochen hat? Wie gesund und stabil ist es, wenn jemand zu einer anderen Welt fliegen, sein Leben für den Nervenkitzel riskieren will, den Fuß dorthin zu setzen, wo vor ihm noch niemand gewesen ist?

Ach, sagte sich Li, vielleicht ist das eine Form von göttlichem Wahnsinn. Das Menschentier ist und war stets ein Forscher, ein Wanderer. Die Vorfahren des jungen Waterman wären niemals von Asien nach Amerika gekommen, wenn es nicht so wäre.

Mit zwei Dutzend solchen wandernden Seelen fertigzuwerden und gleichzeitig ihre Aufseher auf der Erde zu besänftigen — das erfordert die Geduld eines Konfuzius, die Intelligenz eines Einstein und die List eines Machiavelli. Ich bin keiner von ihnen.

Doch was diese jungen Männer und Frauen angeht, was die Flugkontrolle in Kaliningrad und Houston angeht, bin ich all das und mehr. Und diesen Eindruck muß ich auch weiterhin bei ihnen erwecken — wenn auch aus keinem anderen Grund, als um sie vor ihren Politikern auf der Erde zu beschützen. Selbst wenn ich mich wirklich gern an diese schlanke junge Blondine heranmachen würde, die für die Kartographie-Kameras zuständig ist. Was für ein verführerisches Lächeln sie hat!

Li seufzte schwer. Verdammt anstrengend, ein Weiser zu sein.

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