SOL 1 MORGEN

»Touchdown.«

Es wurde zuerst auf Russisch ausgesprochen und dann sofort auf Englisch wiederholt.

Jamie Waterman spürte nicht, wann genau sie auf der Oberfläche des Mars aufsetzten. Das Abstiegsfahrzeug sank so langsam hinunter, daß Jamie und die anderen erst merkten, daß es endlich auf den Boden aufgesetzt hatte, als die Vibration der Bremsraketen erstarb. Neben allem anderen war Wosnesenski auch ein hervorragender Pilot.

Jedes Gefühl von Bewegung hörte auf. Es war völlig still.

Durch die dicke Isolation seines Druckanzugs konnte Jamie nur sein eigenes aufgeregtes Atmen hören.

Dann kam Joanna Brumados Stimme durch seinen Kopfhörer, gedämpft und ehrfürchtig: »Wir sind da.«

Vor elf Monaten waren sie noch auf der Erde gewesen, und vor einer halben Stunde noch im Orbit um den Planeten Mars.

Dann kam der fürchterliche Landeanflug, bei dem sie sich rüttelnd und mit heftigen Stößen ihren Weg durch die dünne Atmosphäre gebrannt hatten, ein künstlicher Meteor, der eine flammende Spur über den leeren Marshimmel zog. Nach einer Reise von mehr als hundert Millionen Kilometern hatten sie bei diesem Abenteuer, das bereits mehr als vier Jahre ihres Lebens in Anspruch nahm, endlich ihr Ziel erreicht.

Nun saßen sie in benommenem Schweigen da, auf dem Boden einer neuen Welt, vier Wissenschaftler in unförmigen, bunten Druckanzügen, in denen sie aussahen, als wären sie von überdimensionalen Robotern lebendig verschluckt worden.

Abrupt, ohne einen Befehl aus dem Cockpit über ihnen, begannen die vier Wissenschaftler ihre Gurte zu lösen und sich steif und ungelenk von ihnen Sitzen zu erheben. Jamie schob das Visier seines Helms hoch, während er sich zwischen Ilona Malater und Tony Reed durchzwängte, um zu der kleinen, runden Aussichtsluke zu kommen, dem einzigen Fenster in ihrem engen Abteil.

Er gelangte ans Fenster und schaute hinaus. Die anderen drei drängten sich um ihn. Ihre hartschaligen Druckanzüge prallten zusammen und glitten aneinander entlang, als wären sie ein Quartett unbeholfener Schildkröten, die ihre Schnäbel in ein und dieselbe winzige, lebensspendende Pfütze zu tauchen versuchten.

Draußen erstreckte sich eine rote, staubige Wüste, soweit das Auge reichte. Rostfarbene Felsblöcke lagen auf dem öden, leicht gewellten Land verstreut wie von einem unachtsamen Kind zurückgelassene Spielsachen. Der unregelmäßige Horizont schien viel zu nah zu sein. Der Himmel war von einem zarten Lachsrosa. Kleine, vom Wind geformte Dünen erhoben sich in präzisen Reihen, und an einigen der größeren Felsbrocken häufte sich der rötliche Sand auf.

Jamie katalogisierte die Szene professionell: Auswürflinge von Impakten, möglicherweise auch vulkanischen Eruptionen, aber wohl eher Meteoriteneinschlägen. Kein Grundgestein zu sehen. Die Dünen sehen stabil aus, sind wahrscheinlich seit dem letzten Staubsturm da, vielleicht noch länger.

»Der Mars«, hauchte Joanna Brumado. Ihr Helm lag praktisch an seinem, als sie durch das Fenster spähten.


»Der Mars«, pflichtete Jamie ihr bei.

»Es sieht so trostlos aus.« Ilona Malater klang enttäuscht, als hätte sie ein Empfangskomitee oder zumindest einen Grashalm erwartet.

»Genau wie auf den Fotos«, sagte Antony Reed.

Für Jamie sah die rote Wüstenwelt draußen vor dem Fenster genauso aus, wie er es erwartet hatte, nämlich wie daheim.

Das erste Mitglied des Teams, das die Landefähre verließ, war der stämmige Bauroboter. Jamie, der sich mit den drei anderen Wissenschaftlern an dem kleinen Beobachtungsfenster drängte, sah zu, wie das knollige Fahrzeug aus blaugrauem Metall auf seinen sechs weich gefederten Rädern über den staubigen roten Sand rollte und ungefähr fünfzig Meter vom Standort ihres Landers entfernt abrupt anhielt.

Während Jamie die eckige Maschine mit den unförmigen Flüssigsauerstofftanks darauf beobachtete, dachte er im stillen: russische Konstruktion, japanische Elektronik und amerikanische Software. Genau wie alles andere auf dieser Expedition.

Zwei glänzende Metallarme entfalteten sich wie die Beine einer aufstehenden Giraffe aus der Vorderseite des Fahrzeugs und entnahmen einen formlosen Plastikhaufen aus dem großen Transportbehälter an der Seite. Der Roboter legte das Kunststoffgebilde so präzise auf dem Sand aus wie eine Großmutter, die ein Picknick-Tischtuch ausbreitet. Dann schien er innezuhalten, als wollte er das glänzende, gummiartig aussehende Material inspizieren. Langsam begann sich der leblose Kunststoff zu regen, füllte sich mit Luft aus den großen Tanks auf der Oberseite des Roboters. Der Plastikhaufen wuchs und nahm Gestalt an: eine Blase, ein Ballon, schließlich eine steife, halbkugelförmige Kuppel, die den Roboter vollständig vor ihren Blicken verbarg.

Ilona Malater drängte sich dicht an Jamie und sagte leise:

»Unser Zuhause auf dem Mars.«

Tony Reed erwiderte: »Sofern es nicht leckt.«

Über eine Stunde lang sahen sie zu, wie der geschäftige kleine Roboter ihre aufblasbare Kuppel errichtete, den Rand fest im staubigen marsianischen Boden verankerte und durch eine mannshohe Klappe hinein und heraus rollte, um metallene Verstrebungen und eine komplette Luftschleusenanlage aus der Ladebucht des Landefahrzeugs zu holen und dann an der richtigen Stelle zu verschweißen.

Sie konnten es alle kaum erwarten, hinauszugehen und ihre gestiefelten Füße auf den rostroten Boden des Mars zu setzen, aber Wosnesenski bestand darauf, daß sie sich bis ins kleinste an den Missionsplan hielten. »Die Stützkonstruktion muß abkühlen«, rief er aus dem Cockpit zu ihnen herunter, um seine Entscheidung zu begründen. »Der Kuppelbau muß erst fertiggestellt und vollständig auf Normaldruck gebracht sein.«

Wosnesenski war natürlich zu beschäftigt, als daß er mit ihnen an der Aussichtsluke hätte stehen und zuschauen können.

Als Kommandant des Bodenteams war er oben im Cockpit und überprüfte sämtliche Systeme des Landers, während er dem Leiter der Mission in einem der Raumschiffe, die sich über ihnen in der Umlaufbahn befanden, und durch ihn den Flugkontrolleuren auf der über hundert Millionen Kilometer entfernten Erde Bericht erstattete.

Pete Connors, der amerikanische Astronaut und Copilot des Landers, saß neben Wosnesenski und überwachte den Bauroboter sowie die Sensoren, die Proben der dünnen Luft draußen nahmen. Nur die vier Wissenschaftler hatten Zeit, der Maschine dabei zuzusehen, wie sie das erste Wohngebäude für Menschen auf der Oberfläche des Mars errichtete.

»Wir sollten unsere Tornister umschnallen«, sagte Joanna Brumado.

»Dafür haben wir noch jede Menge Zeit«, sagte Tony Reed.

Ilona Malater gab ein boshaftes kleines Lachen von sich. »Du willst doch nicht, daß er wütend auf uns wird, nicht wahr, Tony?« Sie zeigte nach oben zum Cockpit.

Reed zog eine Augenbraue hoch und lächelte ihr zu. »Ich glaube, es wäre nicht ratsam, ihn gleich am ersten Tag zu verstimmen, oder?«

Jamie löste seinen Blick von dem hart arbeitenden Roboter, der jetzt eine zweite schwere Luftschleuse aus Metall in die gewölbte Kuppelkonstruktion einsetzte. Wortlos drängte er sich an den drei anderen vorbei und griff nach dem Tornistergerät seines Druckanzugs, das an seinem Gestell am gegenüberliegenden Schott hing. Wie die Anzüge waren auch die Tornister farbig codiert: Der von Jamie war himmelblau. Er trat rücklings davor und spürte, wie die Verschlüsse am Rücken seines Raumanzugs einrasteten. Der Anzug selbst fühlte sich steif an, wie eine neue Jeans, nur schlimmer. Es kostete echte Anstrengung, die Schultergelenke zu bewegen.

Im Jargon des Marsprojekts trug ihre Fähre die Bezeichnung L/AV: landing/ascent vehicle, Abstiegs- und Aufstiegsfahrzeug. Sie war unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität konstruiert, nicht unter dem der Bequemlichkeit. Sie war groß, aber der Platz wurde größtenteils von geräumigen Ladebuchten eingenommen, die Ausrüstungsgegenstände und Vorräte für die sechs Forscher beherbergten. Auf der Luftschleusen-Ebene oberhalb der Ladebuchten waren die Raumanzüge und die Tornistergeräte für die Arbeit draußen untergebracht. Auf dieser Ebene gab es vier Klappsitze, aber das Abteil war Jamie schrecklich eng vorgekommen, als er zusammen mit den drei anderen Wissenschaftler darin saß, erst recht, weil sie in ihren beschwerlichen hartschaligen Anzügen steckten. Über der Luftschleusen-Ebene befand sich das Cockpit mit dem Kosmonauten-Kommandanten und seinem Astronauten-Stellvertreter.

Wenn es sein mußte, konnten die sechs Männer und Frauen tagelang in diesem Landefahrzeug bleiben. Der Missionsplan sah zwar vor, daß sie ihre Basis in der aufblasbaren Kuppel einrichteten, die der Roboter gerade baute, aber falls es darauf ankam, konnten sie im Lander überleben.

Vielleicht. Wenn sie nur noch ein paar Stunden länger in diesem engen, klaustrophobischen Abteil eingesperrt blieben, dachte Jamie, würde jemand einen Mord begehen. Auf dem neunmonatigen Flug von der Erde in den viel geräumigeren Modulen der Mutterschiffe war es schon schlimm genug gewesen. Dieses kleine Landefahrzeug würde sich rasch in ein Irrenhaus verwandeln, wenn sie mehrere Tage darin verbringen mußten.

Sie legten die Tornister im Buddy-System an, wie man es ihnen beigebracht hatte, wobei ein Wissenschaftler dem anderen half, alle Verbindungen zu den Batterien, der Heizung und dem Luftaufbereiter des Anzugs zu prüfen. Erst einmal und dann noch ein zweites Mal. Die Tornistergeräte waren so konstruiert, daß sie sich automatisch mit Anschlußbuchsen am Druckanzug verbanden, aber schon ein einziger winziger Fehler konnte draußen auf der Marsoberfläche den sicheren Tod bedeuten.

Dann überprüften sie die Anzüge selbst, von den schweren Stiefeln bis zu den erstaunlich dünnen und flexiblen Handschuhen. Was dort draußen als Luft galt, war dünner als in den höchsten Stratosphärenschichten auf der Erde, eine nicht atembare Mixtur, die hauptsächlich aus Kohlendioxid bestand.

Ein ungeschützter Mensch würde bei solch einem niedrigen Druck geradezu explodieren; seine Lungen würden zerreißen, und sein Blut würde buchstäblich kochen.

»Was! Noch nicht fertig!«

Wosnesenskis tiefe Stimme knarrte. Der Russe versuchte, ihr einen halbwegs humorvollen Klang zu verleihen, aber es war klar, daß er keine Geduld mit seinen wissenschaftlichen Untergebenen hatte. Von Kopf bis Fuß von seinem flammend roten Anzug umhüllt, den Tornister wie einen Buckel hinter den Schultern, kam er mit schweren Schritten die Leiter aus dem Cockpit herunter, bereit, den Lander zu verlassen. Connors, der ihm dichtauf folgte, trug ebenfalls seinen sauberen weißen Raumanzug samt Tornister. Jamie fragte sich, welches Genie unter den Verwaltern und Psychologen daheim dem schwarzen Astronauten einen strahlend weißen Anzug zugeteilt hatte.

Jamie hatte Tony Reed geholfen, und nun wandte sich der Engländer von ihm ab und drehte sich zu ihrem Flugkommandanten um.

»Wir sind gleich fertig, Mikhail Andrejewitsch. Bitte haben Sie Geduld mit uns. Wir sind alle ein bißchen nervös, wissen Sie.«


Erst in diesem Moment kam Jamie die ungeheure Tragweite der ganzen Situation zu Bewußtsein. Sie waren im Begriff, dieses metallene Behältnis zu verlassen und ihre gestiefelten Füße auf den roten Boden des Mars zu setzen. Sie waren im Begriff, einen Traum wahrzumachen, der die Menschheit seit Anbeginn ihrer Existenz heimgesucht hatte.

Und ich bin daran beteiligt, sagte sich Jamie. Mag sein, daß es Zufall ist, aber ich bin trotzdem hier. Auf dem Mars!

»Willst du meine ehrliche Meinung hören? Es ist verrückt.«

Jamie und sein Großvater Al wanderten auf dem Kamm des bewaldeten Höhenzugs entlang, von dem aus man auf die frisch getünchte Missionskirche und die zusammengewürfelten Adobe-Häuser des Pueblos hinabschauen konnte. Der erste Schnee hatte die Berge bestäubt, und die weißen Touristen würden bald zur Skisaison eintrudeln. Al trug seinen unförmigen alten Schaffellmantel und den Hut mit der herabhängenden Krempe und dem Silbermünzenband. Jamie war es in der Morgensonne so warm, daß er bereits den Reißverschluß seiner dunkelblauen NASA-Windjacke aufgemacht hatte.

Al Waterman sah wie ein alter Totempfahl aus, groß und knochendürr. Sein kantiges Gesicht hatte die blaßbraune Farbe verwitterten Holzes. Jamie war kleiner und stämmiger, hatte ein breiteres Gesicht und eine Haut von fast kupferfarbenem Braun. Die beiden Männer hatten nur eins gemeinsam: Augen, die so schwarz und tief waren wie flüssige Tinte.

»Warum ist es verrückt?« fragte Jamie.

Al stieß eine Atemwolke aus, drehte sich um und sah seinen mit dem Rücken zur Sonne stehenden Enkel mit zusammengekniffenen Augen an.


»Die Russen schmeißen den Laden, stimmt’s?«

»Es ist eine internationale Mission, Al. Die Vereinigten Staaten sind dabei, die Russen, die Japaner und viele andere Länder.«

»Ja, aber die Russen haben weitgehend das Sagen. Sie versuchen schon seit zwanzig Jahren oder noch länger, zum Mars zu kommen.«

»Aber sie brauchen unsere Hilfe.«

»Und die der Japaner.«

Jamie nickte. »Aber ich verstehe nicht, was das damit zu tun hat.«

»Na ja, die Sache ist die, mein Sohn. Hier in den guten alten Staaten kannst du in die erste Mannschaft kommen, weil du Indianer bist – jetzt werd nicht sauer, Sonny. Ich weiß, du bist ein schlauer Geologe und so weiter. Aber daß du ein roter Mann bist, hat dir bei der NASA und den anderen Weißen von der Regierung nicht gerade geschadet, oder? Gleiche Chancen und das alles.«

Jamie merkte, daß er seinen Großvater angrinste. Al hatte einen Schmuckladen auf der Plaza in Santa Fe und nahm die Touristen schamlos aus. Er hatte nichts gegen die Anglos, hegte keine Feindseligkeit gegen sie, empfand nicht einmal Bitterkeit. Er benutzte einfach seinen Verstand und seinen Charme, um in der Welt zurechtzukommen, genau wie jeder Yankee-Händler oder Immobilienmakler in Florida.

»Okay«, gab Jamie zu, »es hat mir nicht geschadet, daß ich ein amerikanischer Ureinwohner bin. Trotzdem bin ich, verdammt noch mal, der beste Geologe, den sie haben!« Das stimmte nicht ganz, wie er wußte. Aber beinahe. Besonders für Familienangehörige.


»Klar bist du das«, stimmte sein Großvater zu, ohne eine Miene zu verziehen. »Aber die Russen werden dich in ihrem Schiff nicht bis zum Mars mitnehmen, nur weil du ein roter Mann bist. Sie werden sich einen von ihren eigenen Leuten aussuchen, und dann hast du zwei oder drei Jahre umsonst trainiert.«

Jamie rieb sich unbewußt die Nase. »Tja, kann sein. Möglich war’s. Eine Menge guter Geologen aus anderen Ländern bewerben sich für die Mission.«

»Wozu reißt du dir dann ein Bein aus? Warum schenkst du ihnen Jahre deines Lebens, wenn die Chancen hundert zu eins gegen dich stehen?«

Jamie schaute an den dunkelgrünen Goldkiefern vorbei zu den zerklüfteten, wettergefurchten Felsen hinüber, in denen seine Vorfahren vor tausend Jahren ihre Behausungen gebaut hatten. Als er sich wieder zu seinem Großvater umdrehte, stellte er fest, daß Als Gesicht ebenso verwittert und gefurcht war wie diese Klippen. Seine Haut hatte fast das gleiche gebleichte Braun.

»Weil er mich anzieht«, sagte er. Seine Stimme war leise, aber so fest wie die Berge selbst. »Der Mars zieht mich zu sich hin.«

Al warf ihm einen verwirrten Blick zu.

»Ich meine«, versuchte Jamie zu erklären, »wer bin ich, Al?

Was bin ich? Ein Wissenschaftler, ein weißer Mann, ein Navajo

– ich weiß eigentlich noch gar nicht, wer ich bin. Ich bin fast dreißig Jahre alt, und ich bin ein Niemand. Nur ein x-beliebiger Assistenzprofessor, der Steine ausbuddelt. Es gibt eine Million Typen wie mich.«

»Höllisch langer Weg bis zum Mars.«


Jamie nickte. »Ich muß aber hin. Ich muß rausfinden, ob ich was aus meinem Leben machen kann. Was Echtes. Was Wichtiges.«

Ein Lächeln kroch über das ledrige Gesicht seines Großvaters, ein Lächeln, das seine Augenwinkel fältelte und seine Wangen zerknitterte.

»Na ja, jeder muß seinen eigenen Weg im Leben finden. Man muß im Gleichgewicht mit der Welt um einen herum leben.

Vielleicht führt dich dein Weg bis zum Mars.«

»Ich glaube, so ist es, Großvater.«

Al legte seinem Enkel die Hand auf die Schulter. »Dann geh in Schönheit, mein Sohn.«

Jamie erwiderte sein Lächeln. Er wußte, daß sein Großvater ihn verstehen würde. Jetzt mußte er es noch seinen Eltern in Berkeley beibringen.

Wosnesenski überprüfte persönlich den Raumanzug und das Tornistergerät jedes Wissenschaftlers. Erst als er zufrieden war, schob er das transparente Visier seines eigenen Helms herunter und verriegelte es.

»Endlich ist es soweit«, sagte er in fast akzentfreiem Englisch. Es klang wie die Stimmsynthese eines Computers.

Die anderen verriegelten ihre Visiere ebenfalls. Connors, der an dem schweren metallenen Lukendeckel stand, legte einen behandschuhten Finger auf den Knopf, der die Luftpumpen aktivierte. Durch die dicken Sohlen seiner Stiefel spürte Jamie, wie sie zu arbeiten begannen, und er sah, wie das Lämpchen an der Kontrolltafel der Luftschleuse von Grün zu Bernstein wechselte.


Die Zeit schien stillzustehen. Die Pumpen liefen eine Ewigkeit, während die sechs Forscher reglos und stumm in ihren bunten Raumanzügen dastanden. Da sie die Visiere herabgelassen hatten, konnte Jamie die Gesichter der anderen nicht sehen, aber er erkannte alle seine Kollegen und Kolleginnen an der Farbe ihrer Anzüge: Joanna trug Neon-Orange, Ilona leuchtendes Grün, Tony Reed Kanariengelb.

Das Vibrieren der Pumpen verebbte, während die Luft aus dem Abteil gesaugt wurde, bis Jamie nichts mehr hören konnte, nicht einmal seinen eigenen Atem, weil er vor Spannung die Luft anhielt.

Die Pumpen hörten auf zu arbeiten. Das Anzeigelämpchen an der Tafel neben der Luke wurde rot. Connors zog an dem Hebel, und der Lukendeckel öffnete sich einen Spalt. Wosnesenski stieß ihn ganz auf.

Jamie war ein wenig benommen, als wäre er zu schnell auf einen Berg gestiegen oder in der dünnen Luft der Berge ein paar Meilen weit gelaufen. Er stieß den Atem aus und sog die Anzugluft tief ein. Sie schmeckte kalt und metallisch trocken.

Der Mars lag vor ihm, von der ovalen Luke umrahmt, leuchtend rosa, rot und kastanienbraun wie das trockene Hochland, in dem er die Sommer seiner Kindheit verbracht hatte.

Wosnesenski machte sich an den Abstieg auf der Leiter. Als nächster kam Connors, gefolgt von Joanna, dann Tony, Ilona und schließlich er selbst. Wie im Traum stieg Jamie langsam die Leiter hinunter, einen gestiefelten Fuß nach dem anderen; die behandschuhten Hände glitten an den glänzenden Metallgeländern entlang, die zwischen zwei aufgefaltete Blütenblätter der Aerobremse hinabführten. Deren mit Keramik überzogene Legierung hatte die Gluthitze ihres feurigen Eintritts in die Marsatmosphäre absorbiert. Das Metallgeflecht schien jetzt völlig erkaltet zu sein.

Jamie trat von der letzten Sprosse der leichten Leiter herunter. Er stand auf dem sandigen Boden des Mars.

Er fühlte sich total allein. Die fünf menschlichen Gestalten neben ihm konnten eigentlich keine Menschen sein; sie sahen wie seltsame fremde Totems aus. Dann erkannte er, daß sie Fremde waren, genauso wie er selbst. Hier auf dem Mars sind wir alle fremde Eindringlinge, sagte sich Jamie.

Er überlegte, ob Marsianer zwischen den Felsen versteckt lagen, unsichtbar für ihre Augen, und sie beobachteten, wie rote Männer die ersten Weißen beobachtet hatten, als diese vor Jahrhunderten in ihrem Reich an Land gegangen waren. Er fragte sich, was sie gegen diese Invasion aus dem All unternehmen würden, und was die Invasoren tun würden, falls sie einheimische Lebensformen fänden.

Im Helmkopfhörer hörte Jamie, wie der russische Teamleiter sich mit dem Kommandanten der Expedition oben in dem kreisenden Raumschiff unterhielt. Seine tiefe Stimme hatte noch nie so erregt geklungen. Connors überprüfte die vorn auf dem nunmehr reglosen Bauroboter montierte Fernsehkamera.

Schließlich wandte sich Wosnesenski an seine fünf Schutzbefohlenen, die in einem Halbkreis um ihn Aufstellung nahmen.

»Es ist alles bereit. Unsere nächsten Worte werden von sämtlichen Menschen auf der Erde gehört werden.«

Wie abgesprochen, standen sie mit dem Rücken zum Landefahrzeug, während sich die Kamera des Roboters auf sie richtete. Später würden sie die Kamera schwenken und die soeben errichtete Kuppel sowie die trostlose Marsebene zeigen, auf die sie den Fuß gesetzt hatten.


Wosnesenski hob eine behandschuhte Hand, fast wie ein Operndirigent, trat befangen einen halben Schritt vor und verkündete: »Im Namen von Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski, Sergei Pawlowitsch Koroljow, Juri Alexejewitsch Gagarin und aller anderen Pioniere und Helden der Raumfahrt kommen wir in Frieden und zum Nutzen aller Völker der Menschheit zum Mars.«

Er sagte es zunächst auf Russisch und dann auf Englisch.

Erst danach wurden die anderen gebeten, ihre kleinen, vorher niedergeschriebenen Ansprachen zu halten.

Pete Connors deklamierte mit dem leichten texanischen Akzent, den er sich während seiner Jahre in Houston erworben hatte: »Das ist der größte Tag in der Geschichte der menschlichen Forschung, ein stolzer Tag für alle Menschen in den Vereinigten Staaten, dem russischen Staatenbund und der ganzen Welt.«

Joanna Brumado sprach in brasilianischem Portugiesisch und danach auf englisch. »Mögen alle Völker der Erde durch das, was wir hier auf dem Mars lernen, klüger und weiser werden.«

Ilona Malater, auf Hebräisch und dann auf Englisch: »Wir kommen zum Mars, und den menschlichen Geist zu erweitern und zu preisen.«

Antony Reed, in seinem besten ruhigen, fast gelangweilten Oxford-Englisch: »An Seine Majestät, den König, an die Menschen des Vereinigten Königreichs und des britischen Commonwealth, an die Menschen der Europäischen Gemeinschaft und der ganzen Welt, der heutige Tag ist euer Triumph. Wir fühlen zutiefst, daß wir nur eure Stellvertreter auf dieser fernen Welt sind.«


Schließlich war Jamie an der Reihe. Er war auf einmal müde, der Posen und schwülstigen Phrasen überdrüssig, erschöpft von den Jahren der Anstrengung und der Opfer. Die Erregung, die er gerade eben noch gespürt hatte, war verflogen, verdunstet. Da waren sie nun hundert Millionen Kilometer von der Erde entfernt und trieben immer noch die alten Spielchen um Nationen und Bündnisse. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand eine ungeheure Last auf die Schultern gelegt.

Die anderen drehten sich alle zu ihm um, fünf gesichtslose Gestalten in Raumanzügen mit golden getönten Visieren. Jamie sah seinen eigenen gesichtslosen Helm, fünffach gespiegelt. Die Zeilen, die vor hundert Millionen Kilometern für ihn aufgeschrieben worden waren, hatte er bereits vergessen.

Er sagte einfach nur: »Ya’aa’tey.«


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