Sechs

Arnie Kott besaß das einzige Cembalo auf dem Mars. Aber es war verstimmt, und er konnte niemanden finden, der sich darum kümmerte. Wie man es auch drehte und wendete, es gab einfach keinen Cembalostimmer auf dem Mars.

Seit einem Monat versuchte er seinem zahmen Bleichmann jetzt schon beizubringen, daß er sich der Sache annehmen sollte; Bleichmänner hatten ein gutes Ohr für Musik, und besonders dieser schien genau zu begreifen, was Arnie wollte. Heliogabalus hatte die Übersetzung eines Handbuchs zur Wartung von Tasteninstrumenten in die Sprache der Bleichmänner erhalten, und nun erwartete Arnie täglich Ergebnisse. Aber inzwischen konnte man auf dem Cembalo einfach nicht spielen.

Arnie Kott war mürrisch von seinem Besuch bei Anne Esterhazy in Lewistown zurückgekehrt. Der Tod des Schwarzmarkthändlers Norbert Steiner war ein harter Schlag unter die Gürtellinie gewesen, und Arnie wußte, daß er etwas unternehmen mußte, wahrscheinlich etwas Drastisches und noch nicht Dagewesenes, um das wettzumachen. Es war jetzt drei Uhr nachmittags. Was hatte ihm der Ausflug nach Neu-Israel gebracht? Bloß eine schlechte Nachricht. Mit Anne war wie üblich nicht zu reden gewesen; sie wollte mit ihren laienhaften Kampagnen und Klagen weiterwursteln, und wenn sie sich dabei auf dem ganzen Mars lächerlich machte - es kümmerte sie nicht.

»Zum Teufel mit dir, Heliogabalus«, sagte Arnie wutentbrannt, »du bringst dieses gottverdammte Instrument jetzt zum Klingen, oder ich schmeiße dich aus Lewistown raus. Dann kannst du wieder mit deinen restlichen Artgenossen in der Wüste Käfer und Wurzeln fressen.«

Der Bleichmann, der neben dem Cembalo auf dem Boden saß, zuckte zusammen, warf Arnie Kott einen scharfen Blick zu und vertiefte sich wieder in das Handbuch.

»Hier wird aber auch nie was repariert«, maulte Arnie.

Der ganze Mars, fand er, war ein einziges Tohuwabohu; der ursprüngliche Zustand hatte an Perfektion gegrenzt, und von da an war alles, sie und ihr Eigentum, in rostige Teile und nutzlose Trümmer zerfallen. Manchmal kam es ihm vor, als leite er eine riesige Müllhalde. Und dann fiel ihm wieder der Reparaturhubschrauber der Yee Company ein, dem er in der Wüste begegnet war, und der Kasper, der ihn geflogen hatte. Parteilose Bastarde, sagte sich Arnie. Denen sollte man mal einen Dämpfer verpassen. Aber sie wissen, was sie wert sind. Lebenswichtig für die Wirtschaft des Planeten; es stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Wir beugen uns keinem und so weiter. Mit finsterer Miene, die Hände in den Hosentaschen, lief Arnie im großen Vorzimmer des Lewistown-Hauses auf und ab, seinem zweiten Wohnsitz neben dem Apartment im Gildehaus.

Man stelle sich vor: Wagt doch der Knilch mir zu widersprechen, überlegte Arnie. Bei soviel Selbstvertrauen muß er schon ein verflucht guter Mechaniker sein.

Und weiter dachte Arnie: Den Burschen knöpf ich mir vor, und wenn es meine letzte Tat wäre. Wer so mit mir redet, kommt nicht ungeschoren davon.

Aber von den beiden Gedanken über den blasierten Mechaniker der Yee Company behielt der erste die Oberhand, denn Arnie war Praktiker und wußte, daß man die Dinge in Gang halten mußte. Guter Benimm war zweitrangig. Wir leiten hier ja keine mittelalterliche Gesellschaft, sagte sich Arnie. Wenn der Kerl wirklich gut ist, kann er zu mir sagen, was er will; für mich zählen nur Resultate.

Mit dieser Einsicht rief er die Yee Company in Bunchewood Park an und hatte bald Mr. Yee persönlich am Apparat.

»Hören Sie«, sagte Arnie, »ich hab hier draußen einen kaputten Chiffrierer, und wenn ihr Jungs ihn wieder hinbekommt, würde ich vielleicht einen ständigen Vertrag mit euch abschließen; können Sie mir folgen?«

Daran bestand kein Zweifel; Mr. Yee konnte ihm sehr wohl folgen. Er sah das große Ganze. »Unser bester Mann, Sir. Sofort. Und ich bin sicher, daß wir Sie rundum zufriedenstellen werden, jederzeit, Tag und Nacht.«

»Ich will eine bestimmte Person haben«, sagte Arnie und beschrieb danach den Mechaniker, dem er in der Wüste begegnet war.

»Jung, dunkelhaarig, schlank«, wiederholte Mr. Yee. »Brille und nervöses Gehabe. Das dürfte Mr. Jack Bohlen sein. Unser bester Mann.«

»Sie sollten wissen«, sagte Arnie, »daß dieser Bohlen in einer Weise mit mir geredet hat, wie ich es sonst keinem erlaube, aber als ich drüber nachdachte, wurde mir klar, daß er recht hatte, und wenn ich ihn sehe, sage ich ihm das glatt ins Gesicht.« Doch in Wahrheit wußte Arnie Kott schon gar nicht mehr, worum es überhaupt gegangen war. »Dieser Bohlen scheint ein kluger Kopf zu sein«, schloß er. »Kann er heute noch kommen?«

Ohne zu zögern, versprach Mr. Yee den Kundendienst für fünf Uhr.

»Das weiß ich wirklich zu schätzen«, sagte Arnie. »Und sagen Sie ihm bitte auf jeden Fall, daß Arnie nicht nachtragend ist. Klar, vorhin war ich fassungslos, aber das ist vorbei. Sagen Sie ihm ...« - er überlegte - »sagen Sie Bohlen, daß er sich, was mich angeht, keine Sorgen zu machen braucht.« Dann legte er auf und lehnte sich mit dem Gefühl zurück, seine Sache unnachgiebig und offen vorgebracht zu haben.

War der Tag also doch nicht vergeudet gewesen. Und außerdem hatte er von Anne drüben in Neu-Israel einen interessanten Hinweis bekommen. Er hatte das Gerücht über die Vorgänge in den FDR-Bergen zur Sprache gebracht, und wie üblich hatte Anne einige Insiderinformationen gehabt, die von Zuhause durchgesickert waren, Berichte, die in der Kette mündlicher Weitergabe ohne Zweifel verstümmelt worden waren ... aber etwas Wahres war sicher dran. Die UN daheim beabsichtigten, einen ihrer regelmäßigen Coups zu landen. Sie wollten in einigen Wochen über den FDR-Bergen niedergehen und Anspruch auf sie erheben, weil es sich um öffentliches Land handele, das keinem gehöre - was nachweislich zutraf. Aber wozu wollten die UN ein großes Stück wertloses Gelände haben? An dieser Stelle wurde Annes Geschichte verworren. Eine Version, die im heimischen Genf kursierte, besagte, die UN hätten die Absicht, einen riesigen Supernationalpark anzulegen, eine Art Garten Eden, um Auswanderer von der Erde anzulocken. Eine andere lautete, die UN-Ingenieure wollten einen letzten großen Versuch machen, das Problem der Nutzung von Energiequellen auf dem Mars zu lösen; sie hätten vor, ein riesiges Wasserstoffkraftwerk zu errichten, einzigartig an Größe und Leistungsvermögen. Man wollte das Wassersystem wieder aufleben lassen. Und bei hinreichend starken Energiequellen könnte endlich auch die Schwerindustrie auf den Mars übersiedeln und den Vorteil freien Landes, niedriger Schwerkraft und geringer Steuern nutzen.

Und dann gab es da noch das Gerücht, die UN hätten vor, einen Militärstützpunkt in den FDR-Bergen einzurichten, um entsprechenden Plänen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zuvorzukommen.

Welches Gerücht auch immer der Wahrheit entsprach, eines stand außer Frage: Einige Parzellen in den FDR-Bergen würden schon bald erheblich im Wert steigen. Die ganze Gegend stand momentan zum Verkauf, in Stücken von einem halben bis hunderttausend Morgen Land, und das zu einem phantastisch niedrigen Preis. Wenn die Spekulanten von den Plänen der UN Wind bekämen, würde sich das ändern ... zweifellos waren die Spekulanten bereits drauf und dran, zu handeln. Um auf dem Mars Anspruch auf Land zu erheben, mußten sie vor Ort sein; von zu Hause aus ließ sich das nicht machen -so lautete das Gesetz. Wenn Annes Gerüchte zutrafen, konnte man also damit rechnen, daß jeden Augenblick Spekulanten einzutrudeln begannen. Es wäre wie im ersten Jahr der Kolonisierung, als die Spekulanten auch überall aktiv waren.

Arnie setzte sich vor sein verstimmtes Cembalo, schlug ein Album mit Scarlatti-Sonaten auf und begann eines seiner Lieblingsstücke zu spielen, eines für überkreuzte Hände, das er jetzt schon seit Monaten übte. Es war eine intensive, kraftvolle, rhythmische Musik, und begeistert hämmerte er auf die Tasten ein, ohne auf den verzerrten Klang zu achten. Heliogabalus rückte etwas ab, um sein Handbuch zu studieren; der Klang tat ihm in den Ohren weh.

»Ich habe hiervon eine Schallplatte«, sagte er beim Spielen zu Heliogabalus. »So gottverdammt alt und wertvoll, daß ich mich gar nicht traue, sie abzuspielen.«

»Was ist eine Schallplatte?« fragte der Bleichmann.

»Du würdest es nicht verstehen, wenn ich's dir erklärte. Glenn Gould spielt darauf. Sie ist vierzig Jahre alt; meine Familie hat sie an mich weitergegeben. Sie gehörte meiner Mutter. Der Kerl konnte diese Sonate zu gekreuzten Händen wirklich herunterdonnern.« Sein eigenes Spiel entmutigte ihn, und er gab auf. Ich werde es nie besonders weit bringen, sagte er sich, selbst wenn sich dieses Instrument in dem Spitzenzustand befände, in dem es war, als ich es von zu Hause hierher verschiffen ließ.

Ohne zu spielen, saß Arnie auf der Klavierbank und grübelte noch einmal über die goldenen Möglichkeiten nach, die das Land in den FDR-Bergen verhieß. Ich könnte jederzeit kaufen, dachte er, mit Gildegeldern. Aber wo? Es ist ein großes Gebiet; ich kann nicht alles kaufen.

Wer kennt diese Gegend? fragte er sich. Steiner wahrscheinlich; soweit ich weiß, hat - oder vielmehr hatte - er irgendwo in der Nähe seinen Versorgungsstützpunkt. Und die Prospektoren kommen und gehen dort. Und Bleichmänner leben da auch.

»Helio«, sagte er, »kennst du die FDR-Berge?«

»Und ob ich die kenne, Herr«, sagte der Bleichmann. »Ich meide sie. Dort ist es kalt und öde und ohne Leben.«

»Trifft es zu«, sagte Arnie, »daß ihr Bleichmänner einen Orakelfelsen habt, zu dem ihr geht, wenn ihr die Zukunft erfahren wollt?«

»Ja, Herr. Die unzivilisierten Bleichmänner tun das. Aber das ist törichter Aberglaube. Der Felsen wird Schmutziger Knorren genannt.«

»Du selbst fragst dort nie um Rat?«

»Nein, Herr.«

»Könntest du den Felsen notfalls finden?«

»Ja, Herr.«

»Ich gebe dir einen Dollar«, sagte Arnie, »wenn du deinen gottverdammten Felsen für mich etwas fragst.«

»Danke, Herr, aber das kann ich nicht.«

»Warum nicht, Helio?«

»Bei einer solchen Betrügerei nachzufragen, würde doch überall verkünden, wie dumm ich bin.«

»Herrje«, sagte Arnie genervt. »Nur als Spiel - kannst du das nicht tun? Aus Spaß.«

Der Bleichmann sagte nichts, aber sein dunkles Gesicht war vor Unmut gespannt. Er tat so, als lese er weiter im Handbuch.

»Es war dumm von deinen Leuten, ihre Eingeborenenreligion aufzugeben«, sagte Arnie. »Damit habt ihr gezeigt, wie schwach ihr seid. Ich hätte das nicht getan. Sag mir, wie man den Schmutzigen Knorren findet, und ich befrage ihn selbst. Ich weiß verdammt gut, daß eure Religion lehrt, ihr könntet in die Zukunft sehen, aber was ist schon so Besonderes daran? Wir haben Zuhause auch ein paar Außersinnliche, und manche verfügen über Präkognition, können die Zukunft vorhersagen. Natürlich müssen wir sie zusammen mit den anderen Verrückten einsperren, weil das ein Symptom für Schizophrenie ist, wenn du weißt, was das heißt.«

»Ja, Herr«, sagte Heliogabalus. »Ich kenne Schizophrenie; das ist das Wilde im Menschen.«

»Klar, es ist die Rückkehr zu primitiver Denkweise, aber was soll's, wenn man die Zukunft vorhersagen kann? Zu Hause in den Camps für geistige Hygiene muß es Hunderte von Präkogs geben ...« Und plötzlich kam Arnie Kott ein Gedanke. Vielleicht gibt es hier auf dem Mars ja auch welche, in Camp B-G.

Dann zum Teufel mit dem Schmutzigen Knorren, dachte Arnie. Ich schau einfach einen Tag, bevor sie es schließen, im B-G vorbei und greif mir einen dieser irren Präkogs; ich hole ihn aus dem Camp und setze ihn auf meine Lohnliste, hier in Lewistown.

Er ging zum Telefon und rief den Gildekämmerer Edward L. Goggins an. »Eddy«, sagte er, als er den Kämmerer an der Strippe hatte, »trab rüber in unsere psychiatrische Klinik und schnapp dir einen Doc und bring mir eine Beschreibung mit, wie ein irrer Präkog aussieht, ich meine, welche Symptome er hat, und ob sie in Camp B-G einen haben, den wir uns klemmen können.«

»Okay, Arnie. Mach ich.«

»Wer ist der beste Psychiater auf dem Mars, Eddy?«

»Liebe Güte, Arnie, das müßte ich nachprüfen. Die Trucker haben einen guten, Milton Glaub. Ich weiß es, weil der Bruder meiner Frau Trucker ist und letztes Jahr bei Glaub in Analyse war, und erfolgreich vertreten hat er ihn auch.«

»Schätze, dieser Glaub kennt B-G recht gut.«

»O ja, Arnie; er ist einmal die Woche drüben, sie wechseln sich alle ab. Die Juden löhnen ziemlich gut, die haben reichlich Kohle zum Verprassen. Sie kriegen die Kohle von Israel auf der Erde, weißt du.«

»Also, schnapp dir diesen Glaub und sag ihm, er soll mir so schnell wie möglich einen schizophrenen Präkog besorgen. Setz Glaub auf die Lohnliste, aber nur, wenn du mußt; die meisten dieser Psychiater sind ganz versessen auf regelmäßiges Geld, sie sehen ja auch so wenig davon. Verstanden, Eddy?«

»Klar, Arnie.« Der Kämmerer legte auf.

»Hast du dich jemals einer Psychoanalyse unterzogen, Helio?« sagte Arnie, jetzt gut gelaunt.

»Nein, Herr. Die ganze Psychoanalyse ist eine einzige ausgemachte Dummheit.«

»Wieso das, Helio?«

»Die Frage, der sie niemals nachgeht, ist doch, was eine kranke Person eigentlich zu verändern versucht. Es fehlt dieses Was, Herr.«

»Kapiere ich nicht, Helio.«

»Der Zweck des Lebens ist unbekannt und der Seinsgrund folglich den Blicken der Lebewesen entzogen. Wer kann sagen, ob die Schizos nicht das Wahre sind? Herr, sie unternehmen eine tapfere Reise. Sie wenden sich von den bloßen Dingen, die greifbar sind und sich praktischem Nutzen zuführen lassen, ab; sie wenden sich nach innen, dem Sinn zu. Dort liegt die Schwarze-Bodenlose-Nacht, die Grube. Wer kann sagen, ob sie zurückkommen werden? Und falls ja, wie sie sein werden, nachdem sie den Sinn erfahren haben? Ich bewundere sie.«

»Allmächtiger«, sagte Arnie spöttisch, »du halbgebildeter Quatschkopf - ich wette, wenn die menschliche Zivilisation vom Mars verschwände, wärst du keine zehn Sekunden später wieder unter den Wilden und würdest die Gottheiten und all das anbeten. Warum tust du so, als wolltest du uns ähnlich sein? Warum liest du dieses Handbuch?«

Heliogabalus sagte: »Die menschliche Zivilisation wird den Mars niemals verlassen, Herr; darum studiere ich dieses Buch.«

»Wenn du's durch hast«, sagte Arnie, »solltest du besser mein gottverdammtes Cembalo stimmen können, sonst wirst du dich in der Wüste wiederfinden, ob die menschliche Zivilisation nun auf dem Mars bleibt oder nicht.«

»Ja, Sir«, sagte sein zahmer Bleichmann.

*

Seit er seinen Mitgliedsausweis der Gilde verloren hatte und seinem Job nicht mehr legal nachgehen konnte, war Otto Zittes Leben ein einziges Chaos. Mit Ausweis wäre er schon lange Mechaniker erster Klasse. Er behielt es für sich, daß er einmal so einen Ausweis besessen und es dann fertiggebracht hatte, ihn zu verlieren; nicht mal sein Arbeitgeber Norb Steiner wußte davon. Aus Gründen, die er selber nicht recht verstand, zog Otto es vor, andere in dem Glauben zu lassen, er habe einfach die Eignungstests nicht bestanden. Vielleicht fiel es ihm leichter, wenn man ihn für einen Versager hielt; immerhin war es fast unmöglich, in die Mechanikergilde aufgenommen zu werden ... und rausgeworfen zu werden, wenn man es geschafft hatte ...

Er hatte es sich selbst eingebrockt. Noch vor drei Jahren war er ein angesehenes Mitglied der Gilde gewesen, das immer pünktlich seine Beiträge bezahlte, mit anderen Worten: das Musterbeispiel eines Gildebruders. Die ganze Welt hatte ihm offengestanden; er war jung gewesen, hatte eine Freundin und einen eigenen Hubschrauber gehabt - letzteren geleast; erstere, obwohl er das damals noch nicht wußte, nur anteilig -, und was hätte ihn aufhalten können? Nichts - außer vielleicht seine eigene Dummheit.

Er hatte eine Gildevorschrift übertreten, die zu den Grundregeln gehörte. Seiner Ansicht nach war es eine dämliche Vorschrift, aber nichtsdestotrotz ... die Rache ist mein, sagt die Gilde der Extraterrestrischen Mechaniker, Zweigstelle Mars. O Mann, wie er diese Bastarde haßte; sein Haß hatte sein Leben zerstört, er wußte es - doch er unternahm nichts dagegen: Er wollte es so. Er wollte sie weiterhin hassen, diese gewaltige monolithische Organisation, wo immer er auf sie stieß.

Sie hatten ihn dabei erwischt, wie er Reparaturen aus sozialen Beweggründen durchführte.

Und das Teuflische daran war, daß es sich gar nicht um soziale Beweggründe gehandelt hatte, denn er wollte damit Gewinn erzielen. Es war lediglich eine neue Art gewesen, seinen Kunden die Rechnung zu stellen, und so neu eigentlich auch wieder nicht. Im Grunde handelte es sich um die älteste Methode der Welt, um Tauschhandel. Aber diese Einkünfte konnte man nicht so aufteilen, daß die Gilde einen Anteil daran erhielt. Er war mit einigen Hausfrauen, die draußen in abgelegenen Gegenden wohnten, ins Geschäft gekommen, sehr einsamen Frauen, deren Männer fünf Tage die Woche in der Stadt waren und erst am Wochenende nach Hause kamen. Otto, der (wenigstens seiner Meinung nach) gut aussah, schlank, mit langem, zurückgekämmtem schwarzem Haar, hatte sich mit einer Frau nach der anderen getroffen; und als ein wütender Ehemann das herausfand, war er, statt Otto zu erschießen, zur Arbeitsvermittlung im Gildehaus gegangen und hatte eine formelle Klage eingereicht: Reparatur ohne angemessene Bezahlung.

Gut, angemessen war sie nicht gewesen; das mußte er zugeben.

Und nun hatte er also diesen Job bei Norb Steiner, was bedeutete, daß er praktisch in der Einöde der FDR-Berge leben mußte, auf Wochen hinaus der Gesellschaft entfremdet, während er die ganze Zeit immer einsamer und verbitterter wurde. Sein Bedürfnis nach engem persönlichem Kontakt hatte ihn überhaupt erst in diese Lage gebracht, und da saß er nun und hielt Rückschau auf sein Leben. Wie er so in der Lagerhalle auf das Erscheinen der nächsten Rakete wartete, ging ihm durch den Sinn, daß nicht einmal die Bleichmänner willens oder imstande wären, so zu leben wie er, so von allem abgeschnitten. Wenn wenigstens seine eigenen Schwarzmarktgeschäfte Erfolg gehabt hätten! Er hatte sich wie Norb Steiner jeden Tag um den Planeten geschwungen und eine Person nach der anderen besucht.

War es seine Schuld, daß die Waren, die er für die Einfuhr auswählte, so gut gingen, daß sogar die großen Tiere sich dafür interessierten? Er hatte einen zu guten Riecher bewiesen; sein Warenangebot hatte sich zu gut verkauft.

Auf die großen Schieber war er genauso wütend, und auch auf die großen Gilden. Er haßte Größe an sich; Größe hatte das amerikanische System des freien Unternehmertums zerstört und den Kleinunternehmer ruiniert - tatsächlich war er selbst vielleicht der letzte wahre Kleinunternehmer im Sonnensystem. Das war sein eigentliches Verbrechen: Er hatte versucht, den American way of life zu leben, statt immer nur davon zu reden.

»Zum Teufel mit denen«, sagte er sich. Er saß auf einer Kiste, umgeben von Kanistern, Kartons und Paketen und den Bestandteilen mehrerer auseinandergenommener Raketen, die er wieder auf Vordermann bringen sollte. Vor dem Fenster des Blechschuppens ... soweit das Auge reichte, nur stumme, trostlose Felsanhöhen mit einigen wenigen Sträuchern, verdorrt und abgestorben.

Und wo steckte Norb Steiner in diesem Augenblick? Zweifellos ließ er es sich gerade in einer Bar oder einem Restaurant oder im feudalen Wohnzimmer einer Frau gutgehen, pries seine Waren an, überreichte Dosen mit geräuchertem Lachs und bekam dafür ...

»Zum Teufel mit allen«, murmelte Otto, erhob sich und ging auf und ab. »Wenn sie es so wollen, sollen sie doch. Diese Tiere.«

Bei den kleinen Israelinnen ... dort steckte Steiner jetzt, in einem Kibbutz voll heißer, schwarzäugiger, vollippiger, großbusiger sexy Weiber, die braungebrannt waren von der Arbeit auf den Feldern, bei der sie nichts als Shorts und Baumwollblusen trugen, die sich der Figur anschmiegten, ohne BHs, nur diese festen, großen Brüste - man konnte sogar die Brustwarzen sehen, weil der Stoff ihnen feucht an der Haut klebte.

Darum wollte er auch nicht, daß ich ihn begleite, sagte sich Otto.

Die einzigen Frauen, die er hier draußen in den FDR-Bergen jemals zu Gesicht bekam, waren diese verschrumpelten, schwarzen, ausgedorrten Bleichmannfrauen, die nicht einmal menschlich waren, jedenfalls nicht in seinen Augen. Er glaubte den Anthropologen nicht, die behaupteten, daß Bleichmänner und Homo sapiens dieselben Ahnen hatten und daß wahrscheinlich beide Planeten vor einer Million Jahren von derselben interplanetaren Rasse kolonisiert worden waren. Diese Kröten - Menschen? Mit einer von denen schlafen? Himmel, lieber hackte er ihn sich ab.

In der Tat tauchte gerade eine Bleichmanngruppe auf, stieg vorsichtig auf nackten Sohlen die unwegsame Felsoberfläche eines Hügels im Norden hinab. Hierher unterwegs, stellte Otto fest. Wie gewöhnlich.

Er öffnete die Tür der Lagerhalle und wartete, bis sie ihn erreicht hatten. Vier Nigger, zwei davon schon älter, eine ältere Frau, mehrere magere Kinder, die die Bögen, Hackbretter und Paka-Eierschalen trugen.

Sie blieben stehen und musterten ihn schweigend, dann sagte einer der Nigger: »Regen fällt von mir auf deine ehrenwerte Person herab.«

»Gleichfalls«, sagte Otto. Er lehnte sich gegen den Schuppen und fühlte, wie ihn die dumpfe Last der Hoffnungslosigkeit niederdrückte. »Was wollt ihr?«

Der bleiche Nigger hielt ihm einen kleinen Papierfetzen hin, und als Otto ihn nahm, sah er, daß es der Aufkleber von einer Dose Schildkrötensuppe war. Der Bleichmann hatte die Suppe gegessen und das Etikett für diesen Zweck aufgehoben; sie konnten ihm nicht sagen, was sie wollten, weil sie nicht wußten, wie man es nannte.

»In Ordnung«, sagte er. »Wie viele?« Er klappte einen Finger nach dem anderen hoch. Bei fünf nickten sie. Fünf Dosen. »Was kriege ich dafür?« fragte Otto, ohne sich zu rühren.

Eine der jungen Bleichmannfrauen trat vor und deutete auf die Stelle an ihr, die Otto in Gedanken schon seit langer Zeit beschäftigte.

»O Gott«, sagte Otto verzweifelt. »Nein, geht weiter. Haut ab! Schluß jetzt; ich mag nicht mehr.« Er wandte ihnen den Rücken zu, kehrte in die Lagerhalle zurück und schlug so laut die Tür zu, daß die Wände wackelten; er ließ sich auf eine Kiste fallen und stützte den Kopf in die Hände. »Ich werde noch verrückt«, sagte er sich, während sich seine Kiefer verkrampften und die Zunge anschwoll, so daß er kaum sprechen konnte. Die Brust tat ihm weh. Und dann begann er zu seiner Verblüffung zu weinen. Herrje, dachte er erschrocken, ich werde wahrhaftig verrückt; ich breche zusammen. Warum? Tränen liefen ihm über die Wangen. Er hatte seit Jahren nicht mehr geweint. Was soll das alles? fragte er sich. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen; sein Körper flennte einfach los, und ihm blieb nichts weiter übrig, als es geschehen zu lassen.

Aber es erleichterte ihn. Er wischte sich mit dem Taschentuch die Augen, das Gesicht und fluchte, als er merkte, daß seine Hände steif waren, gekrümmt wie Klauen.

Vor dem Fenster der Lagerhalle standen nach wie vor die Bleichmänner herum und sahen ihn vielleicht sogar; er war sich nicht sicher. Ihre Mienen waren ausdruckslos, aber zweifellos hatten sie es mitbekommen, und bestimmt waren sie genauso perplex wie er. Es ist schon ein Wunder, dachte er. Da habt ihr recht.

Die Bleichmänner drängten sich zusammen und berieten, und dann löste sich einer von der Gruppe und näherte sich dem Schuppen. Otto hörte es an der Tür klopfen. Er ging und öffnete und stellte fest, daß draußen ein Bleichmann stand, der ihm etwas entgegenstreckte.

»Dann das hier«, sagte der junge Bleichmann.

Otto nahm es, hätte aber beim besten Willen nicht sagen können, was es war. Es bestand aus Glas und Metall und hatte Eichstriche. Und dann wurde ihm klar, daß es sich um ein Instrument handelte, das bei der Landvermessung benutzt wurde. Auf einer Seite war ein Stempel: EIGENTUM der un.

»Das will ich nicht«, sagte er verwirrt und drehte es hin und her. Die Bleichmänner mußten es gestohlen haben, wurde ihm klar. Er gab es zurück; der junge Bleichmann nahm es mit stoischem Gleichmut entgegen und kehrte zu seiner Gruppe zurück. Otto schloß die Tür.

Diesmal gingen sie; er sah ihnen durchs Fenster nach, als sie die Hügelflanke hinaufzogen. Klaut euch doch dumm und dämlich, sagte er sich. Trotzdem, was machte ein Landvermessungstrupp der UN in den FDR-Bergen?

Um sich aufzumuntern, stöberte er herum, bis er eine Dose geräucherte Froschschenkel fand; er machte sie auf, setzte sich und verzehrte den Inhalt schlecht gelaunt; er hatte nichts von den Leckerbissen, aß die Dose aber methodisch leer.

*

Jack Bohlen sagte ins Mikrofon: »Schicken Sie einen anderen, Mr. Yee - ich bin Kott heute schon begegnet und habe ihn beleidigt.« Müdigkeit überfiel ihn. Natürlich bin ich Kott über den Weg gelaufen, zum ersten Mal in meinem Leben, und natürlich habe ich ihn prompt angepöbelt, dachte er bei sich. Und genauso natürlich -so ist das nun mal in meinem Leben - muß Arnie Kott am selben Tag beschließen, die Yee Company anzurufen und meine Dienste anzufordern. Das ist typisch für das Spielchen, das ich mit den mächtigen, seelenlosen Kräften des Lebens spiele.

»Mr. Kott erwähnte, daß er Sie in der Wüste getroffen hat«, sagte Mr. Yee. »Sein Entschluß, uns anzurufen, beruht sogar auf diesem Treffen.«

»Das gibt's doch nicht.« Er war sprachlos.

»Ich weiß nicht, worum es bei der Sache ging, Jack, aber es ist nicht weiter schlimm. Fliegen Sie nach Lewistown. Wenn es länger dauert als fünf Uhr, bezahle ich Ihnen das Anderthalbfache. Und Mr. Kott, der ja für seine Großzügigkeit bekannt ist, ist so versessen darauf, seinen Chiffrierer wieder in Ordnung zu bekommen, daß er versprochen hat, Sie fürstlich zu bewirten.«

»Also gut«, sagte Jack. Er brachte es beim besten Willen nicht auf die Reihe. Ihm war schleierhaft, was in Arnie Kott vor sich ging.

Kurz darauf ließ er seinen Hubschrauber auf dem Dachlandeplatz des Gildehauses der Kanalarbeiter von Lewistown niedergehen.

Ein Hausdiener schlenderte herbei und musterte ihn mißtrauisch.

»Mechaniker der Yee Company«, sagte Jack. »Arnie Kott hat mich bestellt.«

»Okay, mein Junge«, sagte der Hausdiener und führte ihn zum Fahrstuhl.

Er fand Arnie Kott in einem gut eingerichteten Wohnzimmer, wie man es auf der Erde hatte; der große, kahlköpfige Mann saß am Telefon und nickte nur, als Jack eintrat. Das Kopfnicken wies zu einem Schreibtisch, auf dem ein tragbares Chiffrierdiktaphon stand. Jack ging hinüber, nahm den Deckel ab und schaltete es an. Währenddessen setzte Arnie Kott sein Telefonat fort.

»Klar weiß ich, daß das ein kniffliges Talent ist. Sicher, es hat seinen guten Grund, daß noch keiner Nutzen daraus ziehen konnte - aber was soll ich machen, aufgeben und so tun, als existierte es nicht, nur weil die Leute fünfzigtausend Jahre lang zu bekloppt waren, um die Sache ernstzunehmen? Ich riskier's.« Eine lange Pause. »Okay, Doktor. Danke.« Arnie legte auf. Zu Jack sagte er: »Waren Sie schon mal in Camp B-G?«

»Nein«, sagte Jack. Er war damit beschäftigt, den Chiffrierer zu öffnen.

Arnie kam herbeigeschlendert und stellte sich neben ihn. Jack spürte seinen scharfen Blick, während er arbeitete; das machte ihn nervös, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als den Mann zu ignorieren und weiterzuwerkeln. Ein bißchen wie der Rektorschaltkreis, dachte er bei sich. Und dann fragte er sich wie schon so oft, ob er wieder einen Anfall bekäme; sicher, es war lange her, aber jetzt stand wieder eine einflußreiche Person in seiner Nähe und schaute ihn prüfend an, und es war ihm ein wenig so zumute wie damals beim Vorstellungsgespräch mit dem Personalchef von Corona.

»Das eben am Apparat war Glaub«, sagte Arnie Kott. »Der Psychiater. Schon von ihm gehört?«

»Nein«, sagte Jack.

»Was treiben Sie so? Verbringen Sie Ihr ganzes Leben mit dem Kopf unter der Abdeckplatte von Maschinen?«

Jack sah auf und begegnete dem starren Blick des Mannes. »Ich habe Frau und Kind. Das ist mein Leben. Mit dem, was ich hier mache, halte ich meine Familie über Wasser.« Er sprach ruhig. Arnie schien ihm das nicht übelzunehmen; er lächelte sogar.

»Was zu trinken?« fragte Arnie.

»Kaffee, wenn Sie haben.«

»Ich habe echten Heimatkaffee«, sagte Arnie. »Schwarz?«

»Schwarz.«

»Ja, Sie sehen aus wie ein Schwarzer-Kaffee-Typ. Meinen Sie, Sie kriegen die Maschine hier und jetzt wieder hin, oder müssen Sie sie mitnehmen?«

»Ich kriege sie hier wieder hin.«

Arnie strahlte. »Das ist ja großartig! Ohne diese Maschine bin ich nämlich aufgeschmissen.«

»Wo bleibt der Kaffee?«

Arnie wandte sich um und ging pflichtschuldig davon; er hantierte in einem anderen Zimmer und kehrte dann mit einem Keramik-Kaffeebecher zurück, den er auf dem Tisch in Jacks Nähe abstellte. »Hören Sie, Bohlen. Ich bekomme jede Minute Besuch. Ein Mädchen. Das stört Sie doch nicht bei der Arbeit, oder?«

Jack sah flüchtig auf, weil er annahm, daß das sarkastisch gemeint war. Aber anscheinend war es nicht so; Arnie schaute erst ihn und dann die teilweise auseinandergenommene Maschine an, sichtlich besorgt, ob die Arbeit auch Fortschritte machte. Er ist wirklich auf das Ding angewiesen, wurde Jack klar. Merkwürdig, wie die Menschen an ihren Besitztümern hängen, als wären es Verlängerungen ihrer Körper, eine Art maschinelle Hypochondrie. Man sollte meinen, ein Mann wie Arnie Kott könnte den Chiffrierer einfach verschrotten und das Geld für einen neuen lockermachen.

Da ertönte ein Klopfen an der Tür, und Arnie beeilte sich mit dem Öffnen. »Oh, hey.« Seine Stimme drang zu Jack herüber. »Komm rein. He, ich kriege gerade mein Dingsda repariert.«

Eine Mädchenstimme sagte: »Arnie, dein Dingsda wirst du nie repariert kriegen.«

Arnie lachte nervös. »He, darf ich vorstellen? Mein neuer Mechaniker Jack Bohlen. Bohlen, das ist Doreen Anderton, unsere Gildeschatzmeisterin.«

»Hey«, sagte Jack. Aus den Augenwinkeln - er unterbrach seine Arbeit nicht - konnte er sehen, daß sie rotes Haar hatte, extrem weiße Haut und wunderschöne große Augen. Alle stehen bei ihm auf der Lohnliste, dachte er säuerlich. Was für eine tolle Welt. Was für eine tolle Gilde du hier doch am Laufen hast, Arnie.

»Fleißig, wie?« sagte das Mädchen.

»O ja«, stimmte Arnie zu, »diesen Mechanikerfritzen liegt echt was daran, gute Arbeit zu leisten, ich meine, denen von außerhalb, nicht unseren eigenen - unsere sind bloß ein Haufen Schlappschwänze, die herumsitzen und sich auf unsere Kosten amüsieren. Von denen habe ich die Nase voll, Dor. Ich meine, dieser Bohlen hier ist der reinste Zauberer; er ist mit dem Chiffrierer jetzt jeden Moment fertig, nicht wahr, Jack?«

»Ja«, sagte Jack.

Das Mädchen sagte: »Sagen Sie nicht mal Hallo, Jack?«

Er unterbrach seine Arbeit und wandte sich ihr zu; er sah sie offen an. Ihr Gesichtsausdruck war kühl und intelligent, mit einem leicht spöttischen Zug, der seltsam wohltuend und zugleich ärgerlich war. »Hallo«, sagte Jack.

»Ich habe Ihren Hubschrauber auf dem Dach gesehen«, sagte das Mädchen.

»Laß ihn arbeiten«, sagte Arnie mürrisch. »Gib mir deinen Mantel.« Er stellte sich hinter sie und half ihr heraus. Das Mädchen trug ein dunkles Wollkostüm, offenbar ein Import von der Erde und deshalb horrend teuer. Ich wette, das hat die Rentenkasse der Gilde eine ganze Stange gekostet, dachte Jack.

Er betrachtete das Mädchen und fand, daß sie der lebende Beweis für eine alte Weisheit war. Hübsche Augen, Haare und Haut machten eine Frau schön, aber erst eine wirklich schöne Nase ergab eine bezaubernde Frau. Dieses Mädchen hatte so eine Nase: Ausgeprägt und gerade beherrschte sie ihr Gesicht und bildete die Grundlage für alle übrigen Züge. Frauen aus dem Mittelmeerraum kamen dem gängigen Schönheitsideal viel eher entgegen als zum Beispiel Irinnen oder Engländerinnen, wurde ihm klar, weil genetisch gesprochen die mediterrane Nase, ob spanisch, hebräisch, türkisch oder italienisch, naturgemäß eine viel größere Rolle für die Anordnung der Gesichtszüge spielt. Seine Frau Silvia hatte eine freche Stupsnase; sie war nach jedermanns einhelligem Urteil einfach schön. Aber - da gab es doch einen Unterschied.

Er schätzte Doreen auf Anfang Dreißig. Dennoch hatte sie eine Frische, die ihr den Eindruck von Ausgeglichenheit gab. So rosige Farben hatte er bisher nur bei High-School-Mädchen gesehen, die ins heiratsfähige Alter kamen, und gelegentlich sah man sie auch bei fünfzigjährigen Frauen mit voll ergrautem Haar und großen, liebevollen Augen. Dieses Mädchen würde in zwanzig Jahren noch attraktiv sein und war es vermutlich immer gewesen; anders konnte er sie sich gar nicht vorstellen. Arnie tat gut daran, die ihm anvertrauten Gelder in sie zu investieren; sie würde nicht nachlassen. Er sah diesen Ausdruck von Reife in ihrem Gesicht, und das war bei Frauen eine Seltenheit.

Arnie sagte zu ihm: »Wir gehen aus, einen trinken. Wenn Sie die Maschine rechtzeitig hinkriegen ...«

»Sie funktioniert wieder.« Er hatte den zerrissenen Treibriemen gefunden und ihn durch einen aus seinem Werkzeugkasten ersetzt.

»Sehr gut«, sagte Arnie und grinste wie ein fröhliches Kind. »Dann begleiten Sie uns doch.« Dem Mädchen erklärte er: »Wir treffen uns mit Milton Glaub, dem berühmten Psychiater; sicher hast du schon von ihm gehört. Er hat versprochen, einen mit uns zu trinken. Gerade habe ich mit ihm telefoniert, und der Bursche klingt, als wäre er schwer in Ordnung.« Er schlug Jack lautstark auf die Schulter. »Ich wette, als Sie mit Ihrem Hubschrauber auf dem Dach landeten, haben Sie nicht im Traum daran gedacht, daß Sie bald mit einem der bekanntesten Psychoanalytiker des Sonnensystems einen heben würden, was?«

Soll ich mitgehen, überlegte Jack. Aber warum eigentlich nicht? Er sagte: »Okay, Arnie.«

Arnie sagte: »Doc Glaub will einen Schizophrenen für mich auftreiben; ich brauche einen, ich brauche seine Berufserfahrung.« Er lachte und zwinkerte, fand seine Bemerkung ungeheuer komisch.

»So?« sagte Jack. »Ich bin schizophren.«

Arnie hörte auf zu lachen. »Machen Sie keine Witze. Das hätte ich nie gedacht; ich meine, Sie sehen doch ganz normal aus.«

Während er den Chiffrierer wieder zusammensetzte, sagte Jack: »Ich bin auch normal. Ich bin geheilt.«

Doreen sagte: »Schizophrenie ist nicht heilbar.« Ihr Ton war leidenschaftslos; sie sprach eine simple Tatsache aus.

»Doch«, sagte Jack, »wenn es sich um situationsbedingte Schizophrenie handelt.«

Arnie musterte ihn mit großem Interesse, sogar mit Argwohn. »Sie nehmen mich auf den Arm. Sie versuchen nur mein Vertrauen zu erschleichen.«

Jack zuckte die Achseln und fühlte, wie er errötete. Er widmete sich wieder voll und ganz der Arbeit.

»Ich wollte Sie nicht kränken«, sagte Arnie. »Sie sind wirklich einer, kein Scheiß? Hören Sie, Jack, ich hätte da eine Frage; haben Sie auch nur ansatzweise die Fähigkeit oder Macht, die Zukunft vorherzusagen?«

Nach einer langen Pause sagte Jack: »Nein.«

»Sind Sie sicher?« sagte Arnie mißtrauisch.

»Ich bin sicher.« Er wünschte jetzt, er hätte die Einladung mitzukommen vorhin gleich abgelehnt. Die gezielten Fragen gaben ihm das Gefühl, schutzlos zu sein; Arnie kam ihm zu nahe, überschritt die Grenze des Anstands - das Atmen fiel ihm schwer, und Jack ging auf die andere Seite des Schreibtischs, um eine größere Entfernung zwischen sich und den Klempner zu bringen.

»Was ist?« fragte Arnie scharf.

»Nichts.« Jack arbeitete weiter, ohne Arnie oder das Mädchen anzusehen. Beide beobachteten ihn, und seine Hände zitterten.

Schließlich sagte Arnie: »Jack, ich will Ihnen sagen, wie ich es bis hierher geschafft habe. Eine Begabung hat mich so weit gebracht. Ich kann Leute beurteilen und sagen, wie es in ihrem Innern aussieht, wie sie wirklich sind, unabhängig davon, was sie tun oder sagen. Ich glaube Ihnen nicht; ich wette, daß Sie mich, was Ihre Präkognition angeht, belügen. Stimmt's? Sie brauchen nicht einmal zu antworten.« An das Mädchen gewandt, sagte Arnie: »Machen wir einen drauf; ich bin ganz heiß auf diesen Drink.« Er winkte Jack, ihnen zu folgen.

Jack legte seine Werkzeuge beiseite und ging widerwillig mit.

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