«Keins der Kinder, Fräulein Knüppelkuh», antwortete Fräulein Honig. «Ich kann beschwören, daß sich keiner von seinem Platz entfernt hat, seitdem Sie die Klasse betreten haben, außer Nigel, und der hat sich in seiner Ecke nicht gerührt.»

Fräulein Knüppelkuh glotzte Fräulein Honig an. Fräulein Honig hielt dem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. «Ich sage die Wahrheit, Frau Rektorin», fuhr sie fort. «Sie müssen es umgestoßen haben, ohne daß Sie es gemerkt haben. So etwas kann einem leicht passieren.»

«Ich hab die Nase voll von dieser Horde von Nichtsnutzen!» brüllte die Knüppelkuh. «Ich denke gar nicht daran, meine kostbare Zeit hier weiter zu verplempern!» Damit marschierte sie aus dem Klassenzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

In dem betäubten Schweigen, das ihrem Abgang folgte, schritt Fräulein Honig vor die Klasse und stellte sich hinter ihren Tisch. «Puh», sagte sie, «ich glaube, für heute haben wir genug gelernt, findet ihr nicht auch? Der Unterricht ist zu Ende. Ihr könnt alle hinaus auf den Schulhof laufen und dort warten, bis euch eure Eltern abholen.»



Das zweite Wunder

Matilda schloß sich nicht ihren Mitschülern an, die losstürmten und sich aus dem Klassenzimmer drängelten. Auch nachdem die anderen Kinder verschwunden waren, blieb sie noch ganz ruhig und in sich versunken vor ihrem Pult sitzen. Sie wußte, daß sie jemandem von dem erzählen mußte, was mit dem Glas geschehen war. Es war ihr unmöglich, so ein riesenhaftes Geheimnis in sich zu verschließen. Sie brauchte nur einen einzigen Menschen, einen klugen und mitfühlenden Erwachsenen, der ihr helfen konnte, die Bedeutung dieser außergewöhnlichen Vorgänge zu begreifen.

Weder ihre Mutter noch ihr Vater wären in diesem Fall von Nutzen. Selbst wenn sie ihr diese Geschichte glaubten, und daran zweifelte sie sehr stark, würde ihnen ganz bestimmt entgehen, was für ein erstaunliches Ereignis an diesem Nachmittag in der Klasse stattgefunden hatte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, erkannte Matilda, daß der einzige Mensch, dem sie sich gern anvertrauen würde, Fräulein Honig war.

Matilda und Fräulein Honig waren nun die einzigen, die sich noch im Klassenzimmer befanden. Fräulein Honig hatte sich an ihren Tisch gesetzt und blätterte einige Unterlagen durch. Sie blickte auf und sagte: «Nanu, Matilda, willst du nicht mit den anderen hinaus?»

Matilda erwiderte: «Darf ich mich bitte einen Augenblick mit Ihnen unterhalten?»

«Selbstverständlich. Was bedrückt dich denn?»

«Es ist etwas ganz Merkwürdiges mit mir passiert, Fräulein Honig.»

Fräulein Honig spitzte sofort die Ohren. Seit den beiden unglückseligen Zusammenkünften, die sie kürzlich wegen Matilda gehabt hatte – zuerst mit der Schulleiterin und dann mit dem grauenhaften Ehepaar Wurmwald –, hatte Fräulein Honig ununterbrochen über dieses Kind nachdenken müssen und sich gefragt, wie sie ihm wohl helfen könnte. Und jetzt saß Matilda mit einer sonderbar entrückten Miene vor ihr und bat um eine private Unterredung. Fräulein Honig hatte sie noch nie so überdreht und mit so weit aufgerissenen Augen erlebt.

«Also gut, Matilda», sagte sie, «erzähl mir, was dir Merkwürdiges zugestoßen ist.»

«Fräulein Knüppelkuh wird mich doch nicht von der Schule werfen, nicht wahr?» fragte Matilda. «Denn ich hab ihr dieses Tier wirklich nicht in den Wasserkrug getan. Ich schwöre, daß ich’s nicht gewesen bin.»

«Ich weiß, daß du es nicht warst», sagte Fräulein Honig.

«Werd ich also rausgeschmissen?»

«Ich glaube nicht», antwortete Fräulein Honig. «Die Frau Rektorin hat sich nur ein bißchen aufgeregt, das war alles.»

«Gut», fuhr Matilda fort, «aber darüber wollte ich nicht mit Ihnen reden.»

«Worüber willst du denn mit mir reden?»

«Ich möchte mit Ihnen über das Wasserglas reden, in dem das Tier war», sagte Matilda. «Sie haben doch gesehen, wie es auf Fräulein Knüppelkuh kippte, nicht wahr?»

«Und ob ich das gesehen habe.»

«Also, Fräulein Honig, ich habe es nicht angerührt. Ich bin nicht einmal in seine Nähe gekommen.»

«Das weiß ich», sagte Fräulein Honig. «Du hast ja gehört, wie ich der Frau Rektorin gesagt habe, daß du es keineswegs gewesen sein kannst.»

«Ja, aber ich bin es gewesen, Fräulein Honig», sagte Matilda. «Genau darüber möchte ich mich mit Ihnen unterhalten.»

Fräulein Honig hielt inne und musterte das Kind gedankenvoll.

«Ich glaube, ich kann dir nicht folgen», sagte sie.

«Ich bin so wütend gewesen, weil sie mir was in die Schuhe schieben wollte, wofür ich nichts kann, daß ich es habe passieren lassen.»

«Du hast was passieren lassen, Matilda?»

«Ich hab das Glas umkippen lassen.»

«Ich begreife immer noch nicht ganz, was du damit sagen willst», bemerkte Fräulein Honig mit sanfter Stimme.

«Ich hab’s mit meinen Augen gemacht», sagte Matilda. «Ich hab es angestarrt und hab mir gewünscht, daß es umkippt, und dann sind meine Augen ganz heiß und komisch geworden, und so was wie eine Kraft ist aus ihnen hervorgebrochen, und dann ist das Glas einfach umgefallen.»

Fräulein Honig betrachtete Matilda unverwandt durch ihre Stahlbrille, und Matilda erwiderte ihren Blick ebenso fest und unverwandt.

«Ich kann dir immer noch nicht folgen», sagte Fräulein Honig. «Meinst du wirklich, daß du das Glas mit deinen Augen dazu gebracht hast umzustürzen?»

«Ja», erwiderte Matilda, «mit meinen Augen.»

Fräulein Honig schwieg einen Augenblick. Sie glaubte nicht, daß ihr Matilda einen Bären aufband. Es kam ihr wahrscheinlicher vor, daß Matildas lebhafte Einbildungskraft mit ihr durchging. «Willst du damit sagen, daß du so wie jetzt an deinem Platz gesessen und dem Glas gesagt hast, es solle umkippen, und es ist wirklich umgekippt?»



«Ja, Fräulein Honig, irgendwie so.»

«Wenn du das getan hast, dann ist das ungefähr das größte Wunder, das ein Mensch seit Christi Zeiten bewirkt hat.»

«Ich hab’s aber gemacht, Fräulein Honig.»

Es ist wirklich erstaunlich, dachte Fräulein Honig, wie oft kleine Kinder solche Anfälle von Phantasie haben. Sie entschied, die Angelegenheit so leichthin wie möglich zu beenden. «Könntest du das wohl wiederholen?» fragte sie, nicht unfreundlich.

«Ich weiß nicht», antwortete Matilda, «aber ich glaube, ich könnte es schaffen.»

Fräulein Honig schob das jetzt leere Glas mitten auf den Tisch. «Soll ich Wasser hineingießen?» fragte sie mit einem kleinen Lächeln.



«Ich glaube, das spielt keine Rolle», erwiderte Matilda.

«Na gut. Fang an und kipp es um.»

«Vielleicht dauert es aber etwas.»

«Laß dir soviel Zeit, wie du brauchst», entgegnete Fräulein Honig, «ich bin nicht in Eile.»

Matilda, die in ihrer zweiten Reihe ungefähr drei Meter von Fräulein Honig entfernt war, stemmte die Ellbogen auf das Pult und legte das Gesicht in ihre Hände. Diesmal gab sie gleich zu Beginn den Befehl: «Kippe, Glas, kippe!», wobei sie ihre Lippen jedoch nicht bewegte und keinen Laut von sich gab. Sie rief die Wörter einfach innen in ihrem Kopf. Und dann konzentrierte sie all ihre Gedanken und ihren Verstand und ihren Willen auf ihre Augen, und abermals, aber viel rascher als zuvor, spürte sie, wie sich die Elektrizität zusammenballte, wie die Kraft anschwoll und die Hitze ihr in die Augäpfel stieg, und dann schossen die Millionen winziger unsichtbarer Arme, an denen Hände saßen, aus ihnen heraus und auf das Glas zu, und ohne einen Laut von sich zu geben, schrie sie das Glas an, es solle umkippen. Sie sah, wie es schwankte, sich dann zur Seite neigte und schließlich einfach umkippte und mit einem leisen Klirren auf die Tischplatte fiel, keine Handbreit von Fräulein Honigs verschränkten Armen entfernt.



Fräulein Honigs Mund klappte auf, und sie riß ihre Augen so weit auf, daß man das Weiße ringsum sehen konnte. Sie sagte kein einziges Wort. Sie konnte es einfach nicht. Der Schock, die Zeugin eines Wunders zu sein, hatte ihr die Sprache geraubt. Sie starrte das Glas an und wich zurück, als ob es etwas Gefährliches wäre. Dann hob sie langsam den Kopf und schaute Matilda an. Sie sah das Kind, sah sein weißes Gesicht, weiß wie ein Leintuch, sah, wie es am ganzen Leib bebte und mit starren Augen geradeaus ins Leere schaute und nichts wahrnahm. Sein ganzes Gesicht hatte sich verändert, die Augen waren kugelrund und strahlten, und es saß sprachlos da, richtig schön, in einem Glanz aus Schweigen.

Fräulein Honig wartete geduldig, sie zitterte und bebte selbst etwas, und sie ließ das Kind nicht aus den Augen, während es sich langsam ins Bewußtsein zurückbewegte. Und dann plötzlich, klick, erstrahlte eine fast himmlische Ruhe auf seinem Gesicht. «Mir geht’s gut», sagte Matilda und lächelte, «mir geht’s wirklich gut, Fräulein Honig. Sie brauchen sich nicht zu erschrecken.»

«Es kam mir so vor, als wärst du ganz weit weg gewesen», flüsterte Fräulein Honig ehrfürchtig.

«Ach, das war ich auch. Ich bin auf silbernen Schwingen weit hinter den Sternen geflogen», sagte Matilda, «es war wunderbar.»

Fräulein Honig starrte das Kind immer noch in tiefem Staunen an, als ob es die Schöpfung wäre, der Anfang der Welt, der erste Morgen.

«Diesmal ging’s viel schneller», bemerkte Matilda ruhig.

«Das ist doch nicht möglich!» keuchte Fräulein Honig. «Ich kann es nicht glauben! Ich kann es einfach nicht glauben!» Sie kniff die Augen zu und hielt sie ziemlich lange geschlossen, und als sie sie wieder aufschlug, schien sie ihre Fassung zurückgewonnen zu haben. «Würdest du wohl gerne Tee mit mir in meinem kleinen Häuschen trinken?» fragte sie.

«O ja, furchtbar gern», antwortete Matilda.

«Gut. Dann räum deine Sachen zusammen. In ein paar Minuten treffen wir uns draußen.»

«Aber Sie werden doch keinem davon erzählen... Von dem, was ich gemacht hab, nicht wahr, Fräulein Honig?»

«Ich denke nicht im Traum daran», antwortete Fräulein Honig.


Fräulein Honigs Häuschen

Fräulein Honig gesellte sich draußen vor den Schultoren zu Matilda, und die beiden schritten schweigend die Hauptstraße des Ortes entlang. Sie gingen am Obst- und Gemüseladen mit seiner Auslage voll Orangen und Äpfeln vorbei, am Fleischer mit seinem Angebot von blutigen Fleischstücken und aufgehängten gerupften Hühnern, an der kleinen Bank, am Lebensmittelladen und am Elektriker, und dann kamen sie am anderen Ende der Stadt bei der schmalen Landstraße heraus, wo kein Mensch mehr zu sehen war und auch kaum Verkehr herrschte.

Und jetzt, wo sie vollkommen allein waren, wurde Matilda plötzlich wild und ausgelassen. Sie führte sich auf, als ob in ihrem Innersten ein Damm gebrochen wäre und einen gewaltigen Schwall von Lebenskraft freigegeben hätte. Sie hüpfte und hopste wie toll neben Fräulein Honig her, ihre Finger flatterten in der Luft, als ob sie sie in alle vier Himmelsrichtungen schnicken wollte, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, so geschwind wie davonzischende Feuerwerksraketen. Es war Fräulein Honig dies und Fräulein Honig das – «Fräulein Honig, ich glaub ganz bestimmt, daß ich fast alles auf der Welt in Bewegung setzen könnte, nicht nur Wassergläser und solchen anderen Kleinkram... Ich hab das Gefühl, daß ich Tische und Stühle umstürzen könnte, Fräulein Honig... Selbst wenn noch wer auf den Stühlen säße, selbst dann glaub ich sicher, daß ich sie umstoßen könnte, und größere Sachen auch, viel größere Sachen als Tische und Stühle... Ich brauch nur einen Augenblick, um meine Augen stark zu machen, und dann kann ich damit zustoßen, mit dieser Stärke, gegen einfach alles, ich muß es nur lange genug ganz fest anschauen... Ich muß es regelrecht anstarren, Fräulein Honig, ganz, ganz fest, und dann merke ich, was da alles hinter meinen Augen passiert, und meine Augen werden so heiß, als ob sie glühten, aber das macht mir nichts aus, nicht im geringsten, und, Fräulein Honig...»



«Beruhig dich doch, Kind, beruhige dich», sagte Fräulein Honig, «wir wollen uns nicht jetzt schon gleich so aufregen.»

«Aber Sie finden das doch interessant, nicht wahr, Fräulein Honig?»

«O ja, interessant ist es schon», antwortete Fräulein Honig, «es ist mehr als interessant. Aber wir müssen von jetzt an Vorsicht walten lassen, Matilda.»

«Warum müssen wir Vorsicht walten lassen, Fräulein Honig?»

«Weil wir mit geheimnisvollen Kräften spielen, mein Kind, von denen wir nicht das geringste wissen. Ich halte sie nicht für schlecht, sie können sogar gut sein. Vielleicht sind sie sogar göttlich. Aber ganz egal, wie sie sind, vorsichtig müssen wir auf jeden Fall damit umgehen.»

Das waren weise Worte von einer klugen alten Eule, aber Matilda war viel zu aufgekratzt, um die Sache so zu betrachten. «Ich begreif nicht, warum wir so vorsichtig sein müssen», sagte sie und hüpfte immer weiter herum.

«Ich versuche dir ja gerade zu erklären», antwortete Fräulein Honig geduldig, «daß wir uns mit etwas Unbekanntem befassen. Es ist etwas Unerklärliches. Die richtige Bezeichnung dafür lautet: es ist ein Phänomen.»

«Bin ich auch ein Phänomen?» fragte Matilda.

«Es könnte durchaus möglich sein, daß du eins bist», sagte Fräulein Honig. «Aber es wäre mir sehr viel angenehmer, wenn du dir in dieser Situation nicht als etwas Besonderes vorkämst. Ich hatte mir gedacht, daß wir dieses Phänomen etwas genauer untersuchen könnten, nur wir beide, aber wir müssen uns darauf einigen, daß wir die Sache mit äußerster Vorsicht anpacken.»

«Wollen Sie, daß ich noch so was mache, Fräulein Honig?»

«Das hatte ich im Sinn, dir vorzuschlagen», erwiderte Fräulein Honig zurückhaltend.

«Toll», sagte Matilda.

«Ich selber», fuhr Fräulein Honig fort, «bin wahrscheinlich über das, was du getan hast, sehr viel mehr aus der Fassung geraten als du, und ich versuche eine vernünftige Erklärung zu finden.»

«Wie zum Beispiel?» fragte Matilda.

«Ob das zum Beispiel damit zusammenhängt oder nicht, daß du ganz außergewöhnlich frühreif bist.»

«Und was heißt das genau?» fragte Matilda weiter.

«Ein frühreifes Kind», erklärte Fräulein Honig, «läßt schon verhältnismäßig früh erstaunlich viel Intelligenz erkennen. Du bist ein unglaublich frühreifes Kind.»

«Wirklich?» fragte Matilda.

«Aber natürlich. Du mußt das doch merken. Denk doch nur an dein Lesen. Oder an dein Rechnen.»

«Wahrscheinlich haben Sie recht», sagte Matilda.

Fräulein Honig wunderte sich wieder über Matildas Mangel an Selbstbewußtsein und Eitelkeit.

«Ich muß immer darüber nachdenken», sagte sie, «ob diese plötzliche Gabe, die du nun besitzt, nicht etwas mit deiner Geisteskraft, deinem besonderen Gehirn, zu tun hat.»

«Wollen Sie damit sagen, daß es dem Hirn in meinem Schädel zu eng ist und daß es sich deshalb rausdrängelt?»

«So hab ich’s eigentlich nicht gemeint», sagte Fräulein Honig und lächelte. «Aber was auch passiert, ich muß das noch einmal wiederholen, wir müssen von nun an sehr vorsichtig damit umgehen. Ich habe nicht vergessen, wie fremd und fern dein Gesicht geschimmert hat, nachdem du das Wasserglas umgekippt hattest.»

«Glauben Sie, daß es mir schadet? Glauben Sie das, Fräulein Honig?»

«Du hast dich ziemlich merkwürdig dabei gefühlt, nicht wahr?»

«Ich hab mich herrlich gefühlt», antwortete Matilda. «Ein oder zwei Augenblicke lang bin ich auf Silberschwingen an den Sternen vorbeigeflogen. Das hab ich Ihnen ja erzählt. Und soll ich Ihnen noch etwas verraten, Fräulein Honig? Das zweite Mal ging es leichter, viel, viel leichter. Ich glaube, es ist wie bei allem anderen, je mehr man übt, desto leichter flutscht es.»

Fräulein Honig ging langsam, so daß das kleine Kind mit ihr Schritt halten konnte, ohne zu schnell traben zu müssen, und jetzt, wo sie den Ort hinter sich gelassen hatten, war es hier draußen auf der Landstraße friedlich und ruhig. Es war einer dieser goldenen Herbsttage, in den Hecken wuchsen Brombeeren und Ziegenbart, und die Früchte des Schlehdorns begannen rot und reif zu werden für die Vögel, die sie sich im kalten Winter holen würden. Auf beiden Seiten der Straße standen hohe Bäume, Eichen und Bergahorn und Eschen und hie und da eine echte Kastanie. Fräulein Honig, die für den Augenblick das Gesprächsthema wechseln wollte, nannte Matilda alle Namen und erklärte ihr, wie man sie an der Form ihrer Blätter und am Borkenmuster erkennen konnte. Matilda nahm das alles in sich auf und legte die Kenntnisse im Geiste sorgfältig ab.



Schließlich stießen sie an der linken Straßenseite auf eine Lücke in der Hecke, die mit einem Gattertor aus fünf Querbrettern versperrt war. «Hier entlang», sagte Fräulein Honig, wobei sie das Tor öffnete, Matilda durchließ und es hinter ihr wieder verschloß. Sie gingen jetzt einen schmalen Gartenpfad entlang, der nicht viel mehr als ein ausgefahrener Karrenweg war. Auf beiden Seiten wuchsen hohe Haselnußhecken, und man konnte ganze Büschel von reifen braunen Nüssen in ihren grünen Hüllen sehen. Die Eichhörnchen würden sich bald ans Einsammeln machen, sagte Fräulein Honig, und sie sorgsam verstecken für die kargen Monate, die vor ihnen lagen.

«Heißt das, daß Sie hier wohnen?» fragte Matilda.

«Ja», antwortete Fräulein Honig, ohne jedoch mehr dazu zu bemerken.

Matilda hatte noch nie einen Gedanken darauf verschwendet, wo Fräulein Honig wohnen mochte. Sie hatte sie immer nur als Lehrerin betrachtet, als eine Person, die aus dem Nichts auftaucht, in der Schule Unterricht gibt und dann wieder verschwindet. Hält sich irgendeins von uns Kindern damit auf, überlegte sie, darüber nachzudenken, wo unsere Lehrer nach dem Schulschluß bleiben? Denken wir darüber nach, ob sie alleine wohnen oder ob zu Hause eine Mutter auf sie wartet, eine Schwester oder ein Mann oder eine Frau? «Wohnen Sie ganz alleine, Fräulein Honig?» fragte sie.



«Ja», antwortete Fräulein Honig, «ganz alleine.»

Der Weg führte an den Karrenspuren im Lehm entlang, die von der Sonne fest und hart gebacken waren, und wenn man sich nicht den Knöchel verknacksen wollte, mußte man gut aufpassen, wohin man die Füße setzte. In den Haselnußzweigen hüpften ein paar kleine Vögel herum, und das war alles.

«Es ist nur eine Kate, die Hütte eines Landarbeiters», erklärte Fräulein Honig, «du darfst dir nicht zuviel erwarten. Wir sind auch gleich da.»

Sie kamen an eine kleine grüne Pforte, die rechts halb von der Hecke überwuchert war und sich hinter den überhängenden Haselnußzweigen fast versteckte. Fräulein Honig blieb stehen, die eine Hand auf der Pforte, und sagte: «Hier wären wir. Hier wohne ich.»

Matilda erkannte einen schmalen ungepflasterten Pfad, der zu einem Häuschen aus roten Backsteinen führte. Es war so klein, daß es mehr wie ein Puppenhaus als wie eine menschliche Behausung wirkte. Die Backsteine, aus denen es gemauert war, sahen alt und brüchig aus, und ihr Rot war schon sehr verblaßt. Die Hütte hatte ein graues Schieferdach, einen kleinen Schornstein und vorn zwei kleine Fenster. Jedes Fenster war nicht sehr viel größer als eine zusammengefaltete Zeitung, und es war klar zu erkennen, daß es in diesem Haus keinen ersten Stock gab. Zu beiden Seiten des Gartenwegs wucherten Nesseln und Brombeerranken und hohes braunes Gras wild durcheinander. Eine gewaltige Eiche überschattete die Hütte. Ihre kräftigen, knorrigen Äste schienen das winzige Häuschen zu umarmen und zu behüten, vielleicht auch vor dem Rest der Welt zu verbergen.

Fräulein Honig, deren Hand immer noch auf der Pforte lag, die sie noch nicht geöffnet hatte, wandte sich zu Matilda und sagte: «Ein Dichter namens Dylan Thomas hat einmal einige Zeilen geschrieben, an die ich immer denken muß, wenn ich diesen Weg entlanggehe.»

Matilda wartete, und Fräulein Honig begann mit wunderbar langsamer Stimme das Gedicht aufzusagen:


«Nie und nimmer, mein Mädchen, herangereist

aus dem Lande der Sagen, im Schlaf fast gesprochen,

darfst du denken und fürchten, der Wolf im schneeweißen Schafspelz,

der heult und herumtobt wie toll, könnte springen, mein Lieb,

meine Liebste,

aus dem Lager aus lockigem Laub, aus dem taufeuchten Jahr,

um dein Herz zu verzehren im Hause aus rosigem Holz.»


Einen Augenblick herrschte Schweigen, und Matilda, die noch niemals große romantische Poesie laut gesprochen gehört hatte, war tief bewegt. «Das ist wie Musik», flüsterte sie.

«Das ist wirklich Musik», antwortete Fräulein Honig. Und dann, als sei sie erschrocken, einen geheimen Teil ihres Wesens enthüllt zu haben, stieß sie rasch die Pforte auf und ging den Pfad entlang. Matilda blieb zurück. Dieser Ort jagte ihr jetzt doch ein bißchen Angst ein. Er schien so unwirklich zu sein, so abgelegen und phantastisch und so endlos weit vom Alltag entfernt. Er wirkte wie eine Illustration zu den Märchen der Brüder Grimm oder Hans Christian Andersens. Das war die Hütte, in der der arme Holzfäller mit Hänsel und Gretel lebte, wo Rotkäppchens Großmutter wohnte, und es war auch das Haus der sieben Zwerge und drei Bären und aller anderen. Es stammte direkt aus einem Märchenbuch.

«Komm, mein Liebes», rief Fräulein Honig, und Matilda folgte ihr den Pfad entlang.

Die Haustür war mit grüner Farbe gestrichen, die abplatzte, und es gab kein Schlüsselloch. Fräulein Honig hob einfach den Riegel, stieß die Tür auf und trat ein. Obgleich sie keine großgewachsene Frau war, mußte sie sich bücken, und Matilda lief hinter ihr her und fand sich in einer Art finsterem, engem Tunnel wieder.

«Du kannst gleich mit in die Küche durchkommen und mir beim Tee helfen», sagte Fräulein Honig und führte Matilda durch den Tunnel in die Küche, wenn man so etwas Küche nennen mochte. Sie war nicht viel größer als ein anständiger Kleiderschrank und hatte nur ein einziges kleines Fenster nach hinten hinaus mit einem Spülstein darunter, über dem sich jedoch keine Hähne befanden. An der anderen Wand war ein Brett, auf dem vermutlich das Essen vorbereitet wurde, und darüber hing ein einsamer Schrank. Auf dem Brett stand ein Primuskocher, ein Stieltopf und eine halbvolle Flasche Milch. Ein Primuskocher ist ein kleiner Campingherd, den man mit Paraffin füllt, oben anzündet, und dann muß man pumpen, um für die Flamme genug Druck zu bekommen.



«Du kannst mir etwas Wasser holen, während ich den Primus anzünde», sagte Fräulein Honig. «Der Brunnen ist draußen hinterm Haus. Nimm den Eimer hier. Am Brunnen findest du ein Seil. Du brauchst den Eimer nur am Ende des Seils einzuhaken und runterzulassen, aber fall nicht selber rein.»

Matilda war jetzt mehr denn je verwirrt, ergriff aber den Eimer und trug ihn in den Hintergarten hinaus. Der Brunnen hatte ein kleines hölzernes Dach, eine einfache Kurbel und ein Seil, das in einem dunklen, bodenlosen Loch verschwand. Matilda zog das Seil heraus und hakte den Eimergriff am Seilende fest. Dann ließ sie ihn hinab, bis sie es planschen hörte und das Seil locker wurde. Sie kurbelte es wieder hoch, und wahrhaftig, im Eimer war Wasser.



«Ist das genug?» fragte sie, nachdem sie es hineingetragen hatte.

«Gerade ausreichend», antwortete Fräulein Honig. «So etwas hast du wohl noch nie gemacht?»

«Nie in meinem ganzen Leben», antwortete Matilda. «Es macht Spaß. Wie kriegen Sie genug Wasser für Ihr Bad?»

«Ich bade gar nicht», sagte Fräulein Honig, «ich wasche mich im Stehen. Ich hole mir einen Eimer Wasser, und das mache ich mir hier auf diesem kleinen Herd heiß, und dann ziehe ich mich aus und wasche mich von Kopf bis zu den Füßen.»

«Ehrlich, das tun Sie?» fragte Matilda.

«Natürlich», sagte Fräulein Honig, «es ist noch gar nicht lange her, da haben sich alle armen Leute in England so gewaschen. Und sie hatten noch nicht einmal einen Primuskocher. Sie mußten sich das Wasser auf dem Herdfeuer warm machen.»

«Sind Sie arm, Fräulein Honig?»

«Ja», antwortet Fräulein Honig, «ziemlich. Das ist ein guter kleiner Herd, nicht wahr?» Der Primuskocher ließ eine starke blaue Flamme röhren, und im Wasser im Topf begannen schon Blasen aufzusteigen. Fräulein Honig nahm einen Teetopf aus dem Hängeschrank und schüttete etwas Tee hinein. Sie entdeckte auch noch einen kleinen Laib Schwarzbrot. Sie schnitt zwei dünne Scheiben ab und strich etwas Margarine aus einer Plastikdose auf das Brot.

Margarine, dachte Matilda, sie muß wirklich arm sein.

Fräulein Honig nahm ein Tablett und stellte die beiden Becher, den Teetopf, die halbe Flasche Milch und einen Teller mit den beiden Brotscheiben darauf. «Es tut mir leid, aber ich habe keinen Zucker», sagte sie, «ich nehme niemals welchen.»

«Ich auch nicht», sagte Matilda. Sie schien sich in ihrer Weisheit vollkommen der heiklen Lage bewußt zu sein und gab sich große Mühe, nichts zu sagen, was ihre Gefährtin in Verlegenheit bringen könnte.

«Wir wollen den Tee im Wohnzimmer trinken», schlug Fräulein Honig vor, nahm das Tablett und ging vor, aus der Küche heraus durch den dunklen kleinen Tunnel hinüber in das Vorderzimmer. Matilda folgte ihr, aber in der Tür des sogenannten Wohnzimmers blieb sie wie festgenagelt stehen und schaute sich starr vor Staunen um. Der Raum war so klein, rechteckig und kahl wie eine Gefängniszelle. Das schwache Tageslicht, das hereinschien, kam durch ein winziges Fenster an der Vorderfront, vor dem keine Vorhänge hingen. Die einzigen Gegenstände in dem ganzen Raum waren zwei umgedrehte Holzkisten, die als Stühle dienten, und dazwischen eine dritte Kiste als Tisch. Das war alles. An den Wänden hingen keine Bilder, auf dem Boden lag kein Teppich, man sah nur die rohen Dielenbretter, und in den Ritzen dazwischen hatten sich Staubflocken und Dreckkrümel angesammelt. Die Decke war so niedrig, daß Matilda nur hätte hochzuspringen brauchen, schon hätte sie sie mit den Fingerspitzen berührt. Die Wände waren weiß, aber es sah nicht wie Farbe aus. Matilda rieb mit der flachen Hand darüber, und ein weißer Staub blieb daran haften. Es war Tünche, die einfache Kalkmilch, die man zum Weißen von Scheunen, Kuh- und Hühnerställen benutzt.

Matilda war verstört. Wohnte ihre ordentliche und immer so adrett gekleidete Lehrerin wirklich hier? Mußte sie nach ihrer Tagesarbeit immer hierher zurückkehren? Das war unglaublich. Und was konnte es für einen Grund dafür geben? Dahinter mußte etwas ganz Merkwürdiges stecken.

Fräulein Honig stellte das Tablett auf eine der hochkant gestellten Kisten. «Setz dich, mein Liebes, setz dich doch», sagte sie, «und dann wollen wir eine schöne Tasse Tee trinken. Nimm dir ein Stück Brot. Die beiden Scheiben sind für dich. Ich nehme nie etwas zu mir, wenn ich nach Hause komme. Ich greife mittags in der Schule tüchtig zu, und das reicht mir dann bis zum nächsten Morgen.»

Matilda ließ sich vorsichtig auf einer umgekippten Kiste nieder, griff mehr aus Höflichkeit nach einem Stück Margarinebrot und fing an, es zu essen. Zu Hause hätte sie Toast mit Butter und Erdbeermarmelade bekommen und zum Abschluß wahrscheinlich noch ein Stück Biskuittorte. Trotzdem machte ihr dies hier sehr viel mehr Spaß. Es gab ein Geheimnis in diesem Haus. Ein großes Geheimnis, das stand außer Zweifel, und Matilda platzte geradezu vor Neugier. Sie wollte herausfinden, was das für ein Geheimnis war.

Fräulein Honig schenkte den Tee ein und goß in jede Tasse ein wenig Milch. Es schien ihr nicht das geringste auszumachen, in einem kahlen Raum auf einer umgekehrten Kiste zu sitzen und Tee aus einem Becher zu trinken, den sie auf ihren Knien balancierte.

«Weißt du», sagte sie, «ich habe über das, was du mit dem Glas gemacht hast, sehr gründlich nachgedacht. Du weißt sicher, mein Kind, daß dir eine große Macht verliehen worden ist.»

«Ja, Fräulein Honig, das weiß ich», antwortete Matilda und kaute ihr Margarinebrot.

«Soviel ich weiß», fuhr Fräulein Honig fort, «hat bis jetzt noch keiner in der Weltgeschichte einen Gegenstand bewegen können, ohne daß er ihn berührt oder dagegengepustet oder irgendeine andere fremde Hilfe in Anspruch genommen hätte.»

Matilda nickte schweigend.

«Es wäre faszinierend», sagte Fräulein Honig, «wenn man die wirkliche Grenze deiner Kraft herausbekommen könnte. Ja, ja, ich weiß, du bildest dir ein, du könntest einfach alles in Bewegung setzen, was es gibt, aber gerade da habe ich meine Zweifel.»



«Ich würde wahnsinnig gerne irgend etwas Riesiges versuchen», sagte Matilda.

«Wie ist es mit der Entfernung?» fragte Fräulein Honig. «Mußt du immer dicht bei dem Gegenstand sein, den du bewegst?»

«Das weiß ich einfach nicht», antwortete Matilda, «aber es würde mir Spaß machen, das auszuprobieren.»


Fräulein Honigs Geschichte

«Wir sollten das nicht übereilen», sagte Fräulein Honig, «laß uns lieber noch eine Tasse Tee trinken. Und iß die zweite Scheibe Brot. Du mußt doch hungrig sein.»

Matilda nahm sich die zweite Schnitte und fing an, sie langsam und bedächtig zu kauen. Die Margarine schmeckte gar nicht so schlecht. Sie bezweifelte, ob sie den Unterschied gemerkt hätte, wenn sie’s nicht gewußt hätte. «Fräulein Honig», sagte sie plötzlich, «werden Sie in unserer Schule so schlecht bezahlt?»

Fräulein Honig warf ihr einen wachsamen Blick zu. «Es geht», sagte sie, «ich bekomme ungefähr genausoviel wie die anderen.»

«Aber wenn Sie so schrecklich arm sind, muß das doch ziemlich wenig sein», sagte Matilda. «Leben alle Lehrer so wie Sie, ohne Möbel und Kochherd und Badezimmer?»

«Nein, das nicht», antwortete Fräulein Honig ziemlich steif, «ich bin nur zufällig eine Ausnahme.»

«Wahrscheinlich mögen Sie gerne ganz einfach leben», sagte Matilda, indem sie sich noch weiter vorwagte. «Es muß den Hausputz sehr viel einfacher machen, und Sie brauchen keine Möbel abzuledern und sich nicht um diese albernen kleinen Nippsachen zu kümmern, die überall rumstehen und die man jeden Tag abstauben muß. Und wenn man keinen Kühlschrank hat, dann muß man wahrscheinlich auch gar nicht aus dem Haus gehen und all dieses Zeug kaufen, Eier und Mayonnaise und Eiscreme, um den Kühlschrank vollzukriegen. Ja, man kann sich diese ganze Einkauferei sparen.»

An dieser Stelle merkte Matilda, wie sich Fräulein Honigs Gesicht verkrampfte und einen sonderbaren Ausdruck annahm. Ihr ganzer Körper war angespannt, die Schultern hochgezogen, die Lippen zusammengepreßt, so saß sie da, umklammerte mit beiden Händen den Teebecher und starrte so verbissen hinein, als ob sie dort eine Antwort auf diese gar nicht so unschuldigen Fragen suchte.



Es folgte ein ziemlich langes und bedrückendes Schweigen. Innerhalb von einer halben Minute hatte sich die Atmosphäre in dem kleinen Raum vollkommen verändert und vibrierte jetzt vor Verlegenheit und Geheimnissen. Matilda sagte: «Bitte verzeihen Sie mir, daß ich Sie all das gefragt habe, Fräulein Honig. Es geht mich ja nichts an.»

Daraufhin riß sich Fräulein Honig zusammen. Sie straffte die Schultern und stellte den Becher sehr umständlich und behutsam auf das Tablett.

«Warum hättest du nicht fragen sollen?» sagte sie. «Irgendwann hättest du es ohnehin getan. Du bist viel zu aufgeweckt, um dir keine Gedanken zu machen. Vielleicht wollte ich sogar, daß du fragst. Vielleicht habe ich dich nur aus diesem Grund hierher eingeladen. Du bist nämlich der allererste Besucher, seit ich vor zwei Jahren in dieses Häuschen eingezogen bin.»

Matilda schwieg. Sie konnte spüren, wie die Spannung im Raum immer stärker wurde.

«Du bist für deine Jahre so einsichtsvoll, mein Liebes», fuhr Fräulein Honig fort. «Das bringt mich immer wieder durcheinander. Du siehst wie ein Kind aus, aber in Wirklichkeit bist du überhaupt kein Kind, weil dein Verstand und deine Geisteskräfte ganz erwachsen zu sein scheinen. Ich glaube, wir sollten dich als ein erwachsenes Kind bezeichnen, wenn du weißt, was ich meine.»

Matilda schwieg noch immer. Sie wartete auf das, was als nächstes kommen mußte.

«Bis jetzt», fuhr Fräulein Honig fort, «war es mir unmöglich, mit einem anderen Menschen über meine Probleme zu sprechen. Ich hatte Angst vor den Aufregungen, und mir hat immer der Mut gefehlt. Was ich an Mut besessen hatte, das ist mir schon ausgetrieben worden, als ich noch ganz klein war. Aber jetzt habe ich plötzlich so etwas wie den verzweifelten Wunsch, jemandem alles zu erzählen. Ich weiß, du bist nur ein Kind, ein kleines Mädchen, aber irgendwo steckt ein Zauber in dir. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.»

Matilda wurde plötzlich sehr aufmerksam. Die Stimme, die sie hörte, rief ganz unverhüllt nach Hilfe. Ja, bestimmt. Es konnte gar nicht anders sein.

Dann erhob sich die Stimme wieder. «Willst du noch einen Schluck Tee?» sagte sie. «Ich glaube, es ist noch etwas da.»

Matilda nickte.

Fräulein Honig schenkte den Tee in die beiden Becher und gab etwas Milch hinzu. Wieder umschloß sie ihren Becher mit beiden Händen und trank mit kleinen Schlucken. Ein ziemlich langes Schweigen entstand, bis sie fragte: «Darf ich dir eine Geschichte erzählen?»

«Natürlich», antwortete Matilda.

«Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt», sagte Fräulein Honig, «und als ich geboren wurde, war mein Vater hier am Ort der Arzt. Wir hatten ein hübsches altes Haus, ziemlich groß, aus rotem Backstein. Es liegt ganz verborgen im Wald, hinter den Hügeln. Ich glaube, du kennst es gar nicht.»

Matilda schwieg.

«Dort bin ich geboren worden», fuhr Fräulein Honig fort, «und dann ereignete sich die erste Tragödie. Meine Mutter starb, als ich zwei Jahre alt war. Mein Vater hatte viel zu tun und brauchte jemanden, der das Haus führte und sich um mich kümmerte. Er lud also die unverheiratete Schwester meiner Mutter, meine Tante, ein, zu uns zu ziehen. Sie war einverstanden und kam zu uns.»

Matilda hörte gespannt zu. «Wie alt war die Tante, als sie bei Ihnen einzog?» fragte sie.

«Noch nicht sehr alt», antwortete Fräulein Honig, «ich würde sagen, so um die Dreißig. Aber ich hab sie von Anfang an gehaßt. Ich vermißte meine Mutter entsetzlich, und die Tante war nicht sehr freundlich. Mein Vater wußte das nicht, weil er nur selten da war, aber wenn er auftauchte, führte sich meine Tante ganz anders auf.»

Fräulein Honig hielt inne und trank einen Schluck Tee. «Ich weiß wirklich nicht, warum ich dir das alles erzähle», sagte sie verlegen.

«Weiter», sagte Matilda, «bitte.»

«Na gut», sagte Fräulein Honig. «Dann ereignete sich die zweite Tragödie. Als ich fünf Jahre alt war, starb mein Vater ganz plötzlich. Von einem Tag auf den anderen. Und ich blieb allein mit meiner Tante zurück. Das Gericht bestimmte sie zu meinem Vormund. Sie hatte also das Sorgerecht für mich, konnte wie Eltern über mich bestimmen, und irgendwie wurde sie auch die eigentliche Besitzerin des Hauses.»

«Wie ist Ihr Vater denn gestorben?» fragte Matilda.

«Es ist interessant, daß du dich danach erkundigst», sagte Fräulein Honig. «Ich selbst war damals viel zu klein, um danach zu fragen, aber später habe ich festgestellt, daß es beträchtliche Unklarheiten um diesen Tod gegeben hat.»

«Hat man nicht gewußt, woran er gestorben ist?» fragte Matilda.

«Nein, nicht genau», erwiderte Fräulein Honig zögernd. «Weißt du, es wollte einfach niemand glauben, daß er so etwas getan hatte. Er war ein durch und durch gesunder und vernünftiger Mann.»

«Was getan hatte?» fragte Matilda.

«Sich das Leben genommen.»

Das verblüffte Matilda. «Hat er das wirklich getan?» stieß sie hervor.

«So hat es ausgesehen», sagte Fräulein Honig, «aber wer weiß?» Sie zuckte die Schultern und wandte sich ab und starrte zu dem winzigen Fenster hinaus.

«Ich weiß, was Sie denken», sagte Matilda, «Sie glauben, daß ihn die Tante getötet hat und daß sie es so eingerichtet hat, daß man denken mußte, er hätte es selber getan.»

«Ich denke gar nichts», erwiderte Fräulein Honig. «Wenn es keinen Beweis gibt, darf man so etwas nicht denken.»

In der kleinen Stube wurde es totenstill. Matilda merkte, daß die Hände, die den Becher umklammerten, leise bebten. «Und was ist danach passiert?» fragte sie. «Was ist mit Ihnen passiert, als Sie mit der Tante alleine waren? War sie nicht nett zu Ihnen?»

«Nett?» sagte Fräulein Honig. «Sie war ein Teufel. Sobald mein Vater aus dem Wege war, wurde sie ein wahres Schreckgespenst. Mein Leben wurde ein Angsttraum.»

«Was hat sie Ihnen denn angetan?» erkundigte sich Matilda.

«Darüber möchte ich nicht sprechen», sagte Fräulein Honig, «es ist zu schrecklich. Aber schließlich bekam ich solche Angst vor ihr, daß ich schon zu zittern anfing, wenn sie nur den Raum betrat. Ich bin niemals so ein starker Charakter wie du gewesen, verstehst du? Ich war immer schüchtern und scheu.»

«Haben Sie denn gar keine anderen Verwandten gehabt?» fragte Matilda. «Irgendwelche Onkel oder Tanten oder Omas, die Sie hätten besuchen können?»

«Soweit ich weiß, nicht», antwortete Fräulein Honig. «Sie waren alle entweder tot oder nach Australien ausgewandert. Und ich fürchte, daran hat sich bis heute nichts geändert.»

«Sie sind also alleine mit Ihrer Tante in dem Haus aufgewachsen», sagte Matilda, «aber Sie müssen doch in die Schule gegangen sein.»

«Natürlich», erwiderte Fräulein Honig, «ich bin in dieselbe Schule gegangen, die du jetzt besuchst. Aber gewohnt habe ich eben zu Hause.» Fräulein Honig hielt inne und starrte in ihren leeren Teebecher. «Also, was ich dir gerade zu erklären versuche», fuhr sie fort, «ist wohl, wie ich im Lauf der Jahre von diesem Tantenungetüm so vollständig geduckt und beherrscht wurde, daß ich auf der Stelle gehorchte, gleichgültig, was sie befahl. So etwas kann passieren, verstehst du. Und als ich glücklich zehn geworden war, hatte sie mich ganz und gar zu ihrer Sklavin gemacht. Ich erledigte die ganze Hausarbeit. Ich machte ihr Bett. Ich wusch und bügelte für sie. Ich bereitete alle Mahlzeiten zu. Ich hatte einfach alles gelernt.»

«Aber Sie hätten doch sicherlich irgend jemandem Ihr Herz ausschütten können?» fragte Matilda.

«Wem denn?» fragte Fräulein Honig. «Und außerdem, ich war viel zu verschreckt, um mich zu beschweren. Ich hab dir doch gesagt, ich war eine Sklavin.»

«Hat sie Sie geschlagen?»

«Wir wollen bitte nicht in die Einzelheiten gehen», sagte Fräulein Honig.

«Das ist ja einfach grauenhaft», sagte Matilda. «Haben Sie nicht die ganze Zeit geheult?»

«Nur wenn ich alleine war», antwortete Fräulein Honig. «Vor ihr durfte ich nicht weinen. Aber ich lebte in Angst und Schrecken.»

«Und was ist passiert, als Sie mit der Schule fertig waren?» fragte Matilda.

«Ich war eine gute Schülerin», sagte Fräulein Honig, «ich hätte leicht studieren können. Aber das kam gar nicht in Frage.»

«Warum nicht, Fräulein Honig?»

«Weil ich zu Hause benötigt wurde, für die ganze Arbeit.»

«Wie sind Sie denn dann Lehrerin geworden?» fragte Matilda.

«In Reading gibt es ein Lehrerinnenkolleg», sagte Fräulein Honig. «Dahin fährt man mit dem Bus nur vierzig Minuten. Ich bekam die Erlaubnis, dorthin zu fahren, allerdings nur unter der Bedingung, daß ich jeden Nachmittag geradewegs wieder nach Hause kam, um zu waschen und zu bügeln und das Haus zu putzen und das Essen zu kochen.»

«Wie alt sind Sie denn da gewesen?» fragte Matilda.

«Als ich in das Lehrerinnenkolleg ging, war ich achtzehn», antwortete Fräulein Honig.

«Sie hätten doch einfach packen und weggehen können», sagte Matilda.

«Nicht ohne eine Anstellung», sagte Fräulein Honig, «und du darfst nicht vergessen, da hatte mich meine Tante noch so unter der Fuchtel, daß ich mich gar nicht getraut hätte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man von einer sehr starken Persönlichkeit so voll und ganz beherrscht wird. Da wirst du wie ein Wackelpudding. Tja, so ist das. Nun kennst du meine trübselige Lebensgeschichte. Und jetzt hab ich genug geredet.»

«Bitte, hören Sie nicht auf», sagte Matilda, «Sie sind ja noch nicht fertig. Wie haben Sie es schließlich doch geschafft, ihr zu entkommen und in diese komische kleine Hütte zu ziehen?»

«Ah, das war vielleicht was!» sagte Fräulein Honig. «Darauf bin ich richtig stolz.»

«Erzählen!» bat Matilda.

«Nun gut», fuhr Fräulein Honig fort, «als ich also eine Stelle als Lehrerin bekam, teilte mir die Tante mit, daß ich ihr ziemlich viel Geld schuldete. Ich fragte sie warum. Sie sagte: ‹Weil ich dich jahrelang ernährt habe und weil ich dir die Schuhe und die Kleider gekauft habe!› Sie sagte mir, das sei in die Tausende gegangen, und ich müßte ihr das alles zurückzahlen, indem ich ihr in den nächsten zehn Jahren mein Gehalt gäbe. ‹Ein Pfund pro Woche gebe ich dir als Taschengeld›, sagte sie, ‹aber darüber hinaus kriegst du nichts.› Dann hat sie mit der Schulbehörde abgemacht, daß mein Geld direkt auf ihr Bankkonto überwiesen wird. Sie zwang mich, diese Erklärung zu unterschreiben.»



«Das hätten Sie aber nicht tun sollen», sagte Matilda, «das Gehalt war Ihr Schlüssel zur Freiheit.»

«Ich weiß, ich weiß», sagte Fräulein Honig, «aber ich war fast mein ganzes Leben lang von ihr abhängig gewesen, und ich hatte nicht den Mut oder den Verstand, einfach nein zu sagen. Ich hatte immer noch eine Heidenangst vor ihr. Sie konnte mir immer noch viel Böses antun!»

«Und wie haben Sie’s dann doch geschafft, ihr zu entkommen?» fragte Matilda.

«Ah», sagte Fräulein Honig und lächelte zum erstenmal, «das war vor zwei Jahren. Und es war mein größter Triumph.»

«Ach bitte, erzählen Sie», bat Matilda.

«Ich stand immer sehr früh auf und machte einen Spaziergang, während meine Tante noch schlief», sagte Fräulein Honig, «und da bin ich eines Tages auf diese Hütte gestoßen. Sie stand leer. Ich kriegte heraus, wem sie gehörte. Das war ein Bauer. Ich suchte ihn auf. Bauern stehen auch ziemlich früh auf. Er melkte gerade seine Kühe. Ich fragte ihn, ob ich dieses Häuschen mieten könnte. ‹In dieser Kate kann doch keiner leben!› rief er. ‹Die hat ja keinen Wasseranschluß und kein gar nichts!› – ‹Ich will da wohnen›, sagte ich, ‹ich bin eine Romantikerin. Ich hab mich in die Kate verliebt. Bitte vermieten Sie sie mir.› – ‹Bei Ihnen piept’s wohl›, sagte er, ‹aber wenn Sie drauf beharren, na, dann bitte schön. Die Miete beträgt zehn Pence pro Woche.› – ‹Hier haben Sie eine Monatsmiete im voraus›, sagte ich und gab ihm vierzig Pence, ‹und auch herzlichen Dank!›»

«Das ist ja super!» rief Matilda. «Da haben Sie ganz plötzlich ein Häuschen für sich gehabt! Aber woher haben Sie den Mut genommen, es Ihrer Tante beizubringen?»

«Das war ein harter Brocken», sagte Fräulein Honig, «aber ich habe mich dafür gerüstet. Eines Abends habe ich ihr zuerst das Essen gekocht, und dann bin ich hinaufgegangen und hab die paar Sachen, die mir gehörten, in einen Karton gepackt und bin wieder nach unten gegangen und hab verkündet, daß ich sie verlasse. ‹Ich habe ein Haus gemietet›, hab ich gesagt. Meine Tante ist explodiert. ‹Ein Haus gemietet!› hat sie geschrien. ‹Wie kannst du ein Haus mieten, wenn du nur ein Pfund in der Woche zur Verfügung hast?› – ‹Ich hab’s getan›, hab ich gesagt. ‹Und wovon willst du dir das Essen kaufen?› – ‹Das schaff ich schon›, hab ich gemurmelt, und dann bin ich aus der Haustür gestürzt.»

«Das war aber tüchtig!» rief Matilda. «So sind Sie schließlich doch frei gekommen!»

«Ja, schließlich war ich frei», sagte Fräulein Honig. «Ich kann dir nicht sagen, wie wunderbar das war.»

«Und Sie haben es wirklich geschafft, hier zwei Jahre lang nur mit einem Pfund pro Woche auszukommen?» fragte Matilda.

«Und ob ich das geschafft habe», sagte Fräulein Honig. «Zehn Pence zahle ich als Miete, und der Rest reicht gerade aus, für meinen Kocher und für meine Lampe Paraffin zu kaufen und dann noch ein bißchen Milch und Tee, Brot und Margarine. Mehr brauche ich wirklich nicht. Und wie ich dir schon gesagt habe, mittags in der Schule lang ich tüchtig zu.»

Matilda starrte sie an. Wie war Fräulein Honig doch tapfer gewesen. Sie wurde in Matildas Augen plötzlich zur Heldin. «Ist es hier im Winter nicht schrecklich kalt?» fragte sie.

«Ich hab ja meinen kleinen Paraffin-Ofen», sagte Fräulein Honig. «Du wärst ganz erstaunt, wie mollig ich es mir hier drinnen machen kann.»

«Haben Sie denn ein Bett, Fräulein Honig?»

«Genaugenommen eigentlich nein», erwiderte Fräulein Honig und lächelte wieder, «aber man sagt ja, es sei gesund, hart zu schlafen.»

Plötzlich war Matilda imstande, die ganze Situation in absoluter Klarheit zu erkennen. Fräulein Honig brauchte Hilfe. Sie konnte so nicht weiter existieren, nicht unbegrenzt lange. «Sie würden viel besser zurechtkommen, Fräulein Honig», sagte sie, «wenn Sie Ihre Stelle aufgeben und Arbeitslosengeld beziehen.»

«Ich denke gar nicht daran», sagte Fräulein Honig, «ich unterrichte für mein Leben gern.»

«Und diese gräßliche Tante», sagte Matilda, «wohnt sie immer noch in Ihrem schönen alten Haus?»

«Das kann man wohl sagen», entgegnete Fräulein Honig. «Sie ist erst gerade über Fünfzig. Sie hat wohl noch eine ziemlich lange Zeit vor sich.»

«Und glauben Sie wirklich, daß Ihr Vater ihr das Haus zugedacht hat?»

«Ich bin fest davon überzeugt, daß er das nicht getan hat», antwortete Fräulein Honig. «Eltern räumen einem Vormund oft das Recht ein, das Haus für eine bestimmte Zeit zu bewohnen, aber der kann es immer nur für das Kind verwalten. Wenn dieses Kind volljährig wird, geht es in seinen oder ihren Besitz über.»

«Dann muß es doch noch Ihr Haus sein?» fragte Matilda.

«Das Testament meines Vaters ist nie gefunden worden», sagte Fräulein Honig. «Es sieht so aus, als ob es jemand vernichtet hätte.»

«Dreimal darf ich raten wer», sagte Matilda.

«Einmal reicht», meinte Fräulein Honig.



«Aber wenn es kein Testament gibt, Fräulein Honig, dann müßte das Haus doch automatisch an Sie fallen. Sie sind doch die nächste Verwandte.»

«Das weiß ich», sagte Fräulein Honig, «aber meine Tante konnte einen Zettel vorweisen, der vermutlich von meinem Vater stammte. Auf dem stand, er wolle das Haus seiner Schwägerin vererben zum Dank dafür, daß sie sich so freundlich um mich gekümmert hätte. Ich bin sicher, das war eine Fälschung. Aber beweisen kann es keiner.»

«Könnten Sie es nicht versuchen?» fragte Matilda. «Könnten Sie nicht einen guten Rechtsanwalt nehmen und darum kämpfen?»

«Dafür habe ich kein Geld», sagte Fräulein Honig, «und du darfst auch nicht vergessen, daß diese Tante von mir eine hochgeachtete Persönlichkeit in der Stadt ist. Sie besitzt einen beträchtlichen Einfluß.»

«Wer ist sie denn?» fragte Matilda.

Fräulein Honig zögerte einen Augenblick. Dann sagte sie leise: «Fräulein Knüppelkuh.»



Die Namen

«Fräulein Knüppelkuh!» schrie Matilda und hüpfte auf einem Fuß im Kreise. «Wollen Sie behaupten, das wär Ihre Tante? Die hat Sie aufgezogen?»

«Ja», sagte Fräulein Honig.

«Kein Wunder, daß Sie soviel Angst hatten!» rief Matilda. «Gestern hab ich gesehen, wie sie ein Mädchen bei den Zöpfen packte und über den Zaun vom Schulhof schleuderte!»

«Da hast du noch gar nichts gesehen», sagte Fräulein Honig. «Nach dem Tod meines Vaters, als ich fünfeinhalb Jahre alt war, befahl sie mir meistens, alleine zu baden. Und wenn sie heraufkam und dachte, ich hätte mich nicht ordentlich gewaschen, dann drückte sie mir den Kopf unter Wasser und hielt mich so fest. Aber ich will gar nicht damit anfangen, was sie noch für Gewohnheiten hatte. Das wird uns überhaupt nicht weiterhelfen.»

«Nein», sagte Matilda, «das hilft nichts.»

«Wir sind hierhergekommen», sagte Fräulein Honig, «um über dich zu sprechen, und jetzt hab ich die ganze Zeit nur über mich geredet. Ich komme mir ganz albern vor. Ich möchte wirklich viel lieber wissen, was du alles mit deinen erstaunlichen Augen ausrichten kannst.»

«Ich kann Gegenstände bewegen», antwortete Matilda, «das weiß ich bestimmt. Und ich kann Gegenstände umkippen.»

«Was würdest du denn davon halten», sagte Fräulein Honig, «wenn wir in aller Vorsicht ein paar Experimente durchführten, einfach um festzustellen, wieviel du in Bewegung setzen und umkippen kannst?»

Zu ihrer Überraschung erwiderte Matilda: «Wenn Sie nichts dagegen haben, Fräulein Honig, würde ich das, glaube ich, lieber nicht tun. Ich möchte jetzt nach Hause gehen und nachdenken, über alles nachdenken, was ich heute nachmittag gehört habe.»

Fräulein Honig stand sofort auf. «Natürlich», sagte sie, «ich habe dich viel zu lange hier bei mir behalten. Deine Mutter wird schon anfangen, sich Sorgen zu machen.»

«Das macht sie nie», erwiderte Matilda und lächelte, «aber ich würde jetzt trotzdem gern nach Hause gehen, wenn’s Ihnen recht ist.»

«Also dann komm», sagte Fräulein Honig. «Es tut mir leid, daß du nur so einen erbärmlichen Tee bekommen hast.»

«Überhaupt nicht», sagte Matilda, «ich fand es schön.»

Die beiden legten die ganze Strecke bis zu Matildas Haus in tiefem Schweigen zurück. Fräulein Honig spürte, daß es Matilda so am liebsten hatte. Das Kind schien so in Gedanken versunken zu sein, daß es kaum darauf achtete, wohin es ging, und als sie die Gartentür von Matildas Haus erreicht hatten, sagte Fräulein Honig: «Du vergißt am besten alles, was ich dir heute nachmittag erzählt habe.»

«Das kann ich nicht versprechen», sagte Matilda, «aber ich verspreche, daß ich mit keinem darüber reden werde, nicht einmal mit Ihnen.»

«Das wäre, glaube ich, sehr klug», sagte Fräulein Honig.

«Ich kann aber nicht versprechen, daß ich aufhöre, darüber nachzudenken, Fräulein Honig», fuhr Matilda fort. «Ich habe auf dem ganzen Rückweg von Ihrem Häuschen darüber nachgedacht, und ich glaube, ich habe einen allerersten, winzigen Anfang von einer Idee.»

«Das sollst du nicht», sagte Fräulein Honig, «bitte streich das alles aus deinem Gedächtnis.»

«Ich würde Ihnen gerne noch drei allerletzte Fragen stellen, ehe ich nicht mehr davon rede», sagte Matilda. «Ob Sie mir die bitte beantworten, Fräulein Honig?»

Fräulein Honig lächelte. Es war schon etwas ganz Besonderes, sagte sie sich, wie dieses winzige Wesen sich plötzlich ihrer Probleme annahm, und noch dazu mit einer solchen Autorität. «Also», antwortete sie, «das hängt davon ab, was das für Fragen sind.»



«Die erste Frage lautet», sagte Matilda, «wie nannte Fräulein Knüppelkuh Ihren Vater, wenn sie bei sich zu Hause waren?»

«Ich bin sicher, daß sie Magnus zu ihm sagte», antwortete Fräulein Honig, «das war sein Rufname.»

«Und wie nannte Ihr Vater Fräulein Knüppelkuh?»

«Sie heißt Agatha», sagte Fräulein Honig, «und so wird er sie wohl auch genannt haben.»

«Und als letztes», sagte Matilda, «wie sind Sie von Ihrem Vater und von Fräulein Knüppelkuh zu Hause genannt worden?»

«Sie sagten Florentine zu mir», antwortete Fräulein Honig.

Matilda dachte konzentriert über diese Antworten nach. «Ich möchte sicher sein, daß ich alles richtig behalten habe», sagte sie, «bei Ihnen daheim war Ihr Vater Magnus, Fräulein Knüppelkuh Agatha und Sie selber Florentine. Ist das richtig?»

«Das stimmt», sagte Fräulein Honig.

«Danke schön», sagte Matilda, «und jetzt werde ich dieses Thema nie mehr anschneiden.»

Fräulein Honig hätte zu gern gewußt, was im Kopf dieses Kindes vorgehen mochte. «Tu aber nichts Unbedachtes», sagte sie.

Matilda lachte, wandte sich ab, rannte den Weg zu ihrer Haustür entlang und rief dabei: «Auf Wiedersehen, Fräulein Honig! Und vielen Dank für den Tee.»


Die praktische Übung

Matilda fand das Haus wie üblich leer und verlassen vor. Ihr Vater war noch nicht von der Arbeit zurück, ihre Mutter noch nicht vom Bingo, und wo sich ihr Bruder herumtrieb, mochte der Himmel wissen. Sie ging geradewegs ins Wohnzimmer und zog die Schublade der Anrichte auf, in der, wie sie wußte, ihr Vater eine Kiste Zigarren aufhob. Sie nahm sich eine heraus, trug sie in ihr Schlafzimmer hinauf und schloß die Tür hinter sich zu. Jetzt also die praktische Übung, sagte sie sich. Es wird ganz schön haarig sein, aber ich bin fest entschlossen, es muß klappen.

Ihr Hilfsplan für Fräulein Honig begann in ihrer Vorstellung die schönsten Formen anzunehmen. Sie hatte ihn schon fast in allen Einzelheiten fertig, aber am Ende hing alles davon ab, ob sie imstande sein würde, eine einzige spezielle Sache mit ihrer Augenkraft zu schaffen. Sie wußte genau, daß sie es nicht auf Anhieb zustande brächte, aber sie vertraute fest darauf, daß es ihr mit der erforderlichen Übung und Hartnäckigkeit am Ende schon gelingen würde. Die Zigarre spielte dabei eine wesentliche Rolle. Sie war vielleicht etwas dicker, als sie sie gern gehabt hätte, aber das Gewicht war genau richtig. Sie würde gut mit ihr üben können.

In Matildas Schlafzimmer stand ein kleiner Frisiertisch, auf dem ihr Kamm und ihre Bürste lagen und zwei Bücher aus der Bibliothek. Sie räumte diese Gegenstände beiseite und legte statt dessen die Zigarre mitten auf den Frisiertisch. Dann ging sie ein paar Schritte weg und ließ sich am Fußende ihres Betts nieder. Sie war jetzt etwa drei Meter von der Zigarre entfernt.

Sie setzte sich zurecht und begann sich zu konzentrieren, und diesmal spürte sie sehr rasch, wie die Elektrizität in ihrem Kopf zu strömen begann, sich hinter den Augen zusammenballte, wie die Augen heiß wurden und wie Millionen von unsichtbaren winzigen Händen wie Funken gegen die Zigarre zu stieben und zu stoßen begannen. «Beweg dich!» flüsterte sie, und zu ihrer namenlosen Verblüffung rollte die Zigarre mit ihrer kleinen rotgoldenen Bauchbinde aus Papier fast sofort quer über den Frisiertisch und kullerte auf den Teppich.



Das machte Matilda Spaß. Sie genoß diese Übung. Sie hatte das Gefühl gehabt, als ob ihr im Kopf Funken im Kreise herumgejagt und aus den Augen geschossen wären. Das hatte ihr ein Gefühl der Macht verliehen, das fast unirdisch war. Und wie schnell es diesmal geklappt hatte! Wie einfach es gewesen war!

Sie durchquerte das Schlafzimmer, hob die Zigarre auf und legte sie wieder auf den Tisch.

So, jetzt also zum schwierigen Teil, dachte sie. Denn wenn ich die Kraft zum Schieben habe, muß ich doch auch sicher die zum Heben haben. Das Allerwichtigste ist, daß ich lerne, wie man hebt. Ich muß unter allen Umständen lernen, wie sie sich in die Luft heben und dort halten läßt. Es ist ja nichts sehr Schweres, so eine Zigarre.



Sie setzte sich wieder aufs Fußende des Betts und fing von vorn an. Es fiel ihr jetzt leicht, die Kraft hinter den Augen zu sammeln.

Es war, als drückte man auf einen Auslöser im Gehirn. «Heb dich in die Höhe!» flüsterte sie. «Hoch! Hoch!»

Zuerst fing die Zigarre wieder an herumzukullern. Doch dann, weil sich Matilda wie verrückt konzentrierte, hob sich das eine Ende der Zigarre ganz langsam vom Tisch, vielleicht zwei oder drei Zentimeter hoch. Mit einer kolossalen Kraftanstrengung schaffte sie es, sie so etwa zehn Sekunden zu halten. Dann fiel sie wieder zurück.



«Puh!» keuchte sie. «Aber ich hab’s! Ich fang an, es zu schaffen!»

In der nächsten Stunde übte Matilda ununterbrochen, und schließlich gelang es ihr, die ganze Zigarre nur durch die Kraft ihrer Augen etwa zwanzig Zentimeter vom Tisch hoch in die Luft zu heben und sie dort fast eine Minute lang in der Schwebe zu halten. Danach war sie plötzlich so erschöpft, daß sie rückwärts aufs Bett fiel und sofort einschlief.



So fand sie ihre Mutter später am Abend.

«Was ist denn los mit dir?» sagte sie und weckte sie auf. «Bist du krank?»

«Ach, Quatsch», sagte Matilda, richtete sich auf und schaute sich um. «Nein, mir geht’s gut. Ich war ein bißchen müde, das ist alles.»



Von da an schloß sich Matilda jeden Tag nach der Schule in ihrem Zimmer ein und übte mit der Zigarre. Und bald entwickelte sich alles aufs beste. Sechs Tage später, also am folgenden Mittwochnachmittag, war sie nicht nur imstande, die Zigarre in die Luft zu heben, sondern konnte sie auch ganz nach Belieben hin und her bewegen. Es war wunderbar. «Ich kann’s!» schrie Matilda. «Ich kann es wirklich! Ich kann die Zigarre mit meiner Augenkraft einfach aufheben und so durch die Luft stoßen und schieben, wie ich will!»

Jetzt mußte sie ihren großen Plan nur noch in Gang setzen.


Das dritte Wunder

Der folgende Tag war Donnerstag, also der Tag, wie die ganze Klasse von Fräulein Honig wußte, an dem die Schulleiterin die erste Unterrichtsstunde nach der Mittagspause zu übernehmen pflegte.

Am Morgen hatte Fräulein Honig zu ihnen gesagt: «Einigen von euch hat es neulich nicht besonders gefallen, als die Frau Rektorin die Klasse übernommen hatte. Deshalb wollen wir heute alle versuchen, uns besonders vorsichtig und vernünftig zu betragen. Was machen denn deine Ohren, Erich, nach diesem letzten Zusammentreffen mit Fräulein Knüppelkuh?»

«Sie hat sie ausgeleiert», antwortete Erich. «Meine Mutter hat gesagt, sie sind ganz bestimmt länger als vorher.»

«Und Rupert?» sagte Fräulein Honig. «Ich bin sehr erleichtert, weil ich sehe, daß du seit dem letzten Donnerstag keine Haare mehr gelassen hast.»

«Mein Kopf hat aber danach ganz schön gebrannt», antwortete Rupert.

«Und du, Nigel», fuhr Fräulein Honig fort, «versuch heute bitte nicht wieder, der Frau Rektorin so schlau zu kommen. Du bist in der vergangenen Woche ganz schön frech gewesen.»

«Ich kann sie nicht ausstehen», antwortete Nigel.

«Zeig das lieber nicht so deutlich», sagte Fräulein Honig, «es zahlt sich nicht aus. Sie ist eine sehr kräftige Frau. Sie hat Muskeln wie Stahltrossen.»

«Ich wünschte, ich wäre schon groß», sagte Nigel, «dann würde ich sie umhauen.»

«Ich möchte bezweifeln, daß dir das gelänge», sagte Fräulein Honig, «bis jetzt hat sie noch keiner bezwungen.»

«Was wird sie uns denn heute nachmittag fragen?» erkundigte sich ein kleines Mädchen.

«Wohl sicherlich das Einmaldrei», antwortete Fräulein Honig. «Das habt ihr ja alle seit voriger Woche lernen sollen. Sorgt also dafür, daß ihr es könnt.»

Die Mittagspause kam und ging vorüber.

Nach dem Essen versammelte sich die Klasse wieder. Fräulein Honig stellte sich seitlich auf, die Kinder nahmen schweigend die Plätze ein und begannen voll Angst zu warten. Und dann brach die gewaltige Knüppelkuh in ihren grünen Hosen und dem Baumwollkittel wie ein Riesenweib aus der Urwelt in die Klasse ein. Sie marschierte geradewegs zu ihrem Wasserkrug, packte ihn am Griff, hob ihn auf und spähte mißtrauisch hinein.

«Ich bin entzückt», sagte sie, «daß diesmal keine schleimigen Geschöpfe in meinem Trinkwasser schwimmen. Hätten sie es getan, so wäre jedem einzelnen Kind in dieser Klasse etwas besonders Unangenehmes zugestoßen. Und das hätte Sie mit eingeschlossen, Fräulein Honig.»

Die Klasse verhielt sich mucksmäuschenstill, alle saßen angespannt da. Sie hatten diese Tigerin unterdessen ein wenig kennengelernt, und keiner wollte sie reizen. «Also gut», dröhnte die Knüppelkuh, «wollen wir mal sehen, wie gut ihr euer Einmaldrei beherrscht. Oder andersherum, wollen mal sehen, wie miserabel euch Fräulein Honig das Einmaldrei beigebracht hat.» Die Knüppelkuh stand vor der Klasse, Beine breit, Hände auf den Hüften, und warf einen finsteren Blick auf Fräulein Honig, die schweigend an der Seite stand.

Matilda, die vollkommen reglos auf ihrem Platz in der zweiten Reihe saß, verfolgte alles sehr genau.

«Du!» schrie die Knüppelkuh und deutete mit einem Finger von der Größe einer Nudelrolle auf einen Jungen namens Wilfred. Wilfred saß ganz vorn an der äußersten rechten Seite der Bankreihe.

«Steh auf, du!» schrie sie ihn an.

Wilfred stand auf.

«Sag das Einmaldrei rückwärts auf!» bellte die Knüppelkuh.

«Rückwärts?» stammelte Wilfred. «Aber rückwärts hab ich’s nicht geübt.»

«Seht ihr!» schrie die Knüppelkuh triumphierend. «Nichts hat sie euch beigebracht! Fräulein Honig, warum haben Sie ihnen in der letzten Woche nichts, überhaupt nichts beigebracht?»

«Das ist nicht wahr, Frau Rektorin», sagte Fräulein Honig, «sie haben ihr Einmaldrei gelernt. Aber ich sehe keinen Sinn darin, es ihnen rückwärts beizubringen. Es hat überhaupt keinen Sinn, jemandem etwas verkehrt herum beizubringen. Das ganze Leben, Frau Rektorin, ist darauf gerichtet vorwärtszuschreiten. Ich wage auch zu bezweifeln, ob selbst Sie ein so einfaches Wort wie zum Beispiel Kreuzworträtsel so ohne weiteres rückwärts buchstabieren könnten. Das möchte ich wirklich bezweifeln.»

«Werden Sie mir nicht frech, Fräulein Honig!» fauchte sie die Knüppelkuh an und wandte sich dann wieder dem unglückseligen Wilfred zu. «Also gut, Junge», sagte sie, «dann antworte mir auf diese Frage: Ich habe sieben Äpfel, sieben Apfelsinen und sieben Bananen. Wie viele Früchte habe ich dann insgesamt? Und jetzt hopp, hopp, schieß los! Raus mit der Antwort!»

«Aber das ist Zusammenzählen!» schrie Wilfred. «Das ist nicht das Einmaldrei!»

«Du hirnrissiger Idiot!» schrie die Knüppelkuh. «Du verschimmelter Pilz! Du stinkender Gummifurz! Und ob das das Einmaldrei ist! Du hast drei Mengen von Früchten, und jede Menge besteht aus sieben Stück. Drei mal sieben ist einundzwanzig. Kannst du das nicht kapieren, du modriger Moormops? Ich werde dir noch eine allerletzte Chance geben. Ich habe acht Kokosnüsse, acht Erdnüsse und acht so taube Nüsse, wie du eine bist. Wie viele Nüsse habe ich insgesamt? Also – her mit der Antwort, flink, flink.»

Der arme Wilfred war vollkommen durcheinander. «Moment!» winselte er. «Bitte warten Sie! Ich muß also acht Kokosnüsse und acht Erdnüsse zusammenzählen...» Er fing an, das an seinen Fingern abzuzählen.

«Du picklige Pestbeule», schrie die Knüppelkuh mit gellender Stimme, «du mottenzerfressener Murks! Hier wird nicht zusammengezählt! Hier wird multipliziert! Also drei mal acht! Oder vielleicht acht mal drei? Was ist der Unterschied zwischen drei mal acht und acht mal drei? Antworte mir, du spilleriger Wurzelzwerg, aber paß bloß auf!»

Unterdessen war Wilfred so verschreckt und verstört, daß er kein Wort mehr herausbrachte.

In zwei gewaltigen Schritten war die Knüppelkuh neben ihm, und mit einem einzigen fabelhaften Turnertrick – es konnte genausogut Judo wie Karate gewesen sein – kickte sie mit einem Fuß so gegen Wilfreds Waden, daß der Junge steil in die Höhe schoß und in der Luft einen Salto schlug. Aber mitten in diesem Schwung erwischte sie ihn am Fußgelenk und hielt ihn so fest, daß er wie ein gerupftes Huhn in der Auslage eines Wild- und Geflügelladens mit dem Kopf nach unten baumelte.



«Acht mal drei», rief die Knüppelkuh und ließ Wilfred am Fußgelenk hin und her pendeln, «acht mal drei ist dasselbe wie drei mal acht, und drei mal acht ist vierundzwanzig! Wiederhole mir das!»

Genau in diesem Augenblick sprang Nigel am anderen Ende des Klassenzimmers auf die Füße, fing an, wie verrückt auf die Tafel zu deuten, und schrie: «Die Kreide! Die Kreide! Schaut euch doch die Kreide an! Sie bewegt sich von ganz alleine!»

Nigels Geschrei klang so hysterisch und schrill, daß alle, selbst die Knüppelkuh, zur Tafel blickten. Und wahrhaftig, dort schwebte ein funkelnagelneues Stück Kreide dicht vor der grauschwarzen Schreibfläche der Tafel.

«Sie schreibt was!» kreischte Nigel. «Die Kreide schreibt was!»

Und wirklich, sie schrieb etwas.

«Was zum Donnerwetter soll denn das?» heulte die Knüppelkuh.



Sie hatte einen Schreck gekriegt, weil sie sah, wie ihr eigener Vorname von einer unsichtbaren Hand an die Tafel geschrieben wurde. Sie ließ Wilfred einfach fallen und schrie, ohne jemand besonderen zu meinen: «Wer macht das denn? Wer schreibt denn da?»

Die Kreide fuhr fort zu schreiben:



Alle Kinder in der Klasse hörten das Keuchen, das aus der Kehle der Knüppelkuh drang. «Nein!» schrie sie. «Das kann nicht sein! Das kann nicht Magnus sein!»



Fräulein Honig warf von ihrer Seite aus einen raschen Blick auf Matilda. Das Kind saß kerzengerade an seinem Pult, den Kopf hochgereckt, den Mund zusammengekniffen, die Augen so funkelnd wie zwei Sterne.



Aus irgendeinem Grund schauten alle die Knüppelkuh an. Das Gesicht der Frau war weiß wie Schnee geworden. Ihr Mund klappte auf, sie schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft und keuchte unablässig, als ob sie erstickte.




Die Kreide hörte auf zu schreiben. Sie schwebte noch ein paar Augenblicke in der Luft, dann fiel sie plötzlich auf den Boden, klirrte und brach in zwei Stücke.



Wilfred, der es unterdessen geschafft hatte, sich wieder auf seinen Platz in der ersten Reihe zu setzen, schrie auf: «Fräulein Knüppelkuh ist umgefallen! Fräulein Knüppelkuh liegt auf dem Boden!»

Das war die sensationellste Neuigkeit überhaupt, und die ganze Klasse sprang auf, um diesen Anblick voll und ganz zu genießen. Denn da lag sie, die gewaltige Gestalt der Schulleiterin, in voller Länge rücklings auf den Fußboden gestreckt, erledigt und kampfunfähig.

Fräulein Honig stürzte nach vorn und ließ sich neben der gefällten Riesin auf die Knie nieder. «Sie hat das Bewußtsein verloren!» rief sie. «Sie ist hinüber! Einer von euch muß sofort loslaufen und die Hausmutter holen.»

Drei Kinder auf einmal stürzten aus der Klasse.

Nigel, der immer etwas zu tun haben mußte, sprang auf und packte den großen Wasserkrug. «Mein Vater sagt, kaltes Wasser ist das beste, wenn man wen wieder aufwecken will, der umgekippt ist», sagte er und goß bei diesen Worten den gesamten Inhalt des Wasserkrugs der Knüppelkuh auf den Kopf. Niemand protestierte, nicht einmal Fräulein Honig.



Was Matilda anbelangte, sie blieb reglos an ihrem Pult sitzen. Sie fühlte sich merkwürdig leicht. Ihr kam vor, als hätte sie etwas berührt, was nicht ganz von dieser Welt war, den höchsten Punkt des Himmels, den fernsten Stern. Sie hatte fast wie ein Wunder gespürt, wie sich die Kraft hinter ihren Augen sammelte, wie sie ihr wie ein warmer Strom durch den Kopf floß, ihre Augen waren glühendheiß geworden, heißer denn je, und es war aus ihren Augenhöhlen herausgeschossen, daß sich die Schulkreide ganz von allein gehoben und angefangen hatte zu schreiben. Ihr war so, als hätte sie selber kaum etwas getan, alles war ganz einfach gewesen.

Die Hausmutter kam mit einem Gefolge aus fünf Lehrern, drei Frauen und zwei Männern, in das Klassenzimmer gestürzt.

«Donnerwetter, hat sie endlich doch einer zu Boden gestreckt!» rief einer der Männer und grinste. «Ich gratuliere, Fräulein Honig!»

«Wer hat das Wasser auf sie gegossen?» fragte die Hausmutter.

«Ich», antwortete Nigel stolz.

«Ausgezeichnet», sagte ein zweiter Lehrer, «sollen wir noch mehr holen?»

«Schluß damit», befahl die Hausmutter, «wir können sie ins Krankenzimmer transportieren.»

Alle fünf Lehrer und die Hausmutter mußten anpacken, um das gewaltige Weib in die Höhe zu wuchten und sie, unter ihrem Gewicht schwankend, aus dem Klassenzimmer zu tragen.

Fräulein Honig sagte zu den Kindern: «Ich glaube, ihr lauft jetzt am besten auf den Hof hinaus und spielt bis zur nächsten Unterrichtsstunde.» Dann drehte sie sich um, ging zur Tafel und wischte die Kreidebuchstaben sorgfältig ab.

Die Kinder fingen an, nacheinander aus der Klasse zu laufen. Matilda wollte sich ihnen anschließen, aber als sie an Fräulein Honig vorbeikam, blieb sie stehen und zwinkerte ihrer Lehrerin zu. Da rannte Fräulein Honig auf sie zu, schloß das kleine Mädchen heftig in die Arme und gab ihr einen Kuß.


Ein neues Zuhause

Im Laufe des Tages verbreitete sich die Nachricht, daß Fräulein Knüppelkuh wieder zu sich gekommen und mit verkniffenem Mund und schneeweißem Gesicht aus der Schule marschiert sei.

Am nächsten Morgen ließ sie sich dort nicht blicken. In der Mittagspause rief Herr Trilby, der stellvertretende Schulleiter, bei ihr zu Hause an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Es nahm jedoch niemand den Hörer ab.

Als die Schule zu Ende war, beschloß Herr Trilby, etwas gründlicher nachzuforschen, und machte sich auf den Weg zu dem Haus, in dem Fräulein Knüppelkuh am Rande der Ortschaft lebte. Ein hübsches kleines altes Haus aus rotem Backstein, das deshalb als das Rote Haus bekannt war. Es lag hinter den Hügeln ganz versteckt im Wald.

Er zog an der Glocke. Keine Antwort.

Er klopfte kräftig. Keine Antwort.

Er rief laut: «Ist jemand zu Hause?» Keine Antwort.

Er rüttelte versuchsweise an der Klinke und stellte zu seinem Erstaunen fest, daß die Tür nicht verschlossen war. Er trat ein.

Das Haus lag in tiefem Schweigen und war vollkommen verlassen. Alle Möbel standen jedoch an ihrem Platz. Herr Trilby ging hinauf und schaute in das große Schlafzimmer. Auch hier schien alles ganz normal zu sein, bis er anfing, Schubladen aufzuziehen und in Schränke zu blicken. Nirgends mehr fanden sich Kleider oder Unterwäsche oder Schuhe. Sie waren samt und sonders verschwunden.

Sie ist verduftet, sagte sich Herr Trilby und machte kehrt, um die Schulverwaltung davon zu informieren, daß die Rektorin ganz offensichtlich verschwunden war.

Am übernächsten Morgen erhielt Fräulein Honig einen eingeschriebenen Brief von einer Rechtsanwaltsfirma. Darin wurde sie davon unterrichtet, daß das Testament, der Letzte Wille ihres verblichenen Vaters Dr. Honig, plötzlich und unter geheimnisvollen Umständen wiederaufgetaucht sei. Dieses Dokument enthüllte nun, daß in Wirklichkeit Fräulein Honig seit dem Tod ihres Vaters die rechtmäßige Besitzerin des Anwesens am Stadtrand war, als das Rote Haus bekannt, in dem bis vor kurzem ein gewisses Fräulein Agatha Knüppelkuh gewohnt hatte. Dieses Dokument bewies weiterhin, daß die Ersparnisse ihres Vaters, die glücklicherweise immer noch unangetastet und sicher in der Bank ruhten, ihr ebenfalls vermacht worden waren. Der Rechtsanwalt schloß seinen Brief mit der Bitte, Fräulein Honig möge ihn doch so bald wie möglich in seiner Kanzlei aufsuchen. Dann könne er nämlich das Anwesen und das Geld in kürzester Zeit auf ihren Namen umschreiben.

Genauso machte es Fräulein Honig, und innerhalb von ein paar Wochen war sie in das Rote Haus gezogen, genau an den Ort, an dem sie aufgewachsen war und wo sie glücklicherweise all die Familienmöbel und Bilder noch vorfand.

Von da an war Matilda an jedem Nachmittag nach der Schule ein stets willkommener Gast im Roten Haus, und zwischen der Lehrerin und dem kleinen Mädchen begann sich eine innige Freundschaft zu entwickeln.

Auch in der Schule fanden große Veränderungen statt. Sobald es klar wurde, daß Fräulein Knüppelkuh vollkommen von der Bildfläche verschwunden war, wurde der verdienstvolle Herr Trilby an ihrer Stelle zum Schulleiter ernannt. Und bald danach wurde Matilda in die oberste Klasse versetzt, wo Fräulein Plimbim ziemlich rasch entdeckte, daß dieses erstaunliche Kind in jeder Hinsicht so aufgeweckt war, wie es Fräulein Honig behauptet hatte.

Ein paar Wochen später trank Matilda eines Nachmittags ihren Tee bei Fräulein Honig in der Küche vom Roten Haus, so wie sie es immer nach der Schule zu tun pflegten, als Matilda plötzlich sagte: «Mir ist etwas Komisches zugestoßen, Fräulein Honig.»

«Na, dann erzähl’s mir», sagte Fräulein Honig.

«Heute früh», sagte Matilda, «hab ich einfach aus Spaß probiert, irgend etwas mit meinen Augen in Bewegung zu setzen, und das hab ich nicht geschafft. Nichts hat sich geregt. Ich hab nicht einmal diese Hitze gespürt, die immer hinter meinen Augäpfeln entsteht. Die Kraft ist weg. ich glaube, ich hab sie ganz und gar verloren.»

Fräulein Honig bestrich sorgfältig eine Scheibe Graubrot mit Butter und kleckste etwas Erdbeermarmelade darauf. «Mit so etwas Ähnlichem hab ich schon gerechnet», sagte sie.

«Ach wirklich? Warum denn?» fragte Matilda.

«Na ja», antwortete Fräulein Honig, «es ist nur eine Vermutung, aber ich will dir sagen, was ich mir gedacht habe. Solange du in meiner Klasse warst, hast du nichts zu tun gehabt, hast um nichts kämpfen müssen. Dein Verstand ist dabei vor lauter Langeweile geradezu verrückt geworden. Es muß in deinem Kopf wie wild geblubbert und gekocht haben, und es haben sich einfach unermeßliche Kräfte angesammelt, die kein Ziel und keinen Sinn gehabt haben. Aber irgendwie muß es dir gelungen sein, diese Kraft durch deine Augen zu schießen und sie Gegenstände bewegen zu lassen. Aber jetzt hat sich die Lage geändert. Du bist in der obersten Klasse, und du hast es mit Kindern zu tun, die mehr als doppelt so alt sind wie du. Du brauchst also all deine Geisteskräfte für die Schule. Dein Verstand ist zum erstenmal richtig gefordert, muß sich anstrengen und wird in Bewegung gehalten, und das ist großartig. Freilich, das ist nur eine Theorie, vielleicht sogar eine ziemlich dummerhafte, aber mir kommt es doch so vor, als ob sie ziemlich die Wahrheit träfe.»



«Ich bin froh, daß das passiert ist», sagte Matilda, «ich wäre nicht gern als Wundertäter durchs Leben gewandert.»

«Du hast auch genug bewirkt», sagte Fräulein Honig. «Ich kann immer noch nicht richtig glauben, was du alles für mich getan hast.»

Matilda, die auf einem hohen Hocker am Küchentisch saß, kaute bedächtig ihr Marmeladenbrot. Sie genoß diese Nachmittage mit Fräulein Honig aus ganzem Herzen. Sie fühlte sich in ihrer Gegenwart vollkommen entspannt und glücklich, und die beiden unterhielten sich so miteinander, als ob sie mehr oder weniger gleichgestellt wären.

«Wissen Sie eigentlich», sagte Matilda, «daß ein Mäuseherz sechshundertfünfzigmal in der Minute schlägt?»

«Nein», erwiderte Fräulein Honig und lächelte, «das ist ja faszinierend. Wo hast du das gelesen?»

«In einem Buch aus der Bücherei», antwortete Matilda, «und das bedeutet, es schlägt so schnell, daß man die einzelnen Schläge gar nicht hören kann. Es muß einfach wie ein Summen klingen.»

«Wahrscheinlich», entgegnete Fräulein Honig.

«Und wie schnell schlägt Ihrer Meinung nach das Herz eines Igels?» fragte Matilda.

«Verrat es mir», sagte Fräulein Honig und lächelte wieder.

«Längst nicht so schnell wie bei einer Maus», erklärte Matilda, «nur dreihundertmal pro Minute. Aber trotzdem, hätten Sie gedacht, daß es so schnell schlägt bei einem Tier, das sich so langsam bewegt, hätten Sie das vermutet, Fräulein Honig?»

«Ganz gewiß nicht», antwortete Fräulein Honig, «erzähl mir weiter davon.»

«Beim Pferd», sagte Matilda, «da pocht es richtig langsam. Nur vierzigmal in einer Minute.»

Dieses Kind, sagte sich Fräulein Honig, scheint an allem interessiert zu sein. Wenn man mit ihm zusammen ist, dann kann man sich unmöglich langweilen. Wie ich das liebe!

Die beiden blieben noch eine Stunde oder länger in der Küche sitzen und unterhielten sich, und dann, so gegen sechs, sagte Matilda guten Abend und machte sich auf den Heimweg zu ihrem Elternhaus, das etwa acht Minuten entfernt lag.

Als sie vor ihrem Gartentor ankam, sah sie, daß ein großer schwarzer Mercedes davor parkte. Sie kümmerte sich nicht sonderlich darum. Vor dem Haus ihres Vaters standen oft die merkwürdigsten Autos. Als sie jedoch das Haus betrat, platzte sie in eine vollkommen chaotische Szene. Ihre Mutter und ihr Vater waren beide in der Halle und stopften wie die Wilden Kleider und alle möglichen Sachen in Koffer und Taschen.

«Was ist denn um Himmels willen hier los?» rief sie. «Was ist denn passiert, Vati?»

«Wir hauen ab», sagte Herr Wurmwald, ohne aufzuschauen. «In einer halben Stunde geht’s los, zum Flughafen, also fang lieber an zu packen. Dein Bruder ist oben, schon reisefertig. So setz dich doch in Bewegung, Mädchen! Mach los!»

«Wegfliegen?» schrie Matilda auf. «Wohin denn?»

«Spanien», sagte ihr Vater. «Hat ein besseres Klima als dieses lausige Land hier.»

«Spanien!» rief Matilda. «Ich will aber nicht nach Spanien! Ich bin gerne hier! Und ich liebe meine Schule!»

«Mach, was ich dir sage, und Schluß mit den Widerworten!» fuhr sie ihr Vater an. «Ich hab schon genug am Hals, da will ich mich nicht auch noch mit dir rumärgern müssen.»

«Aber Vati...» begann Matilda.



«Halt’s Maul», schrie der Vater, «in dreißig Minuten brechen wir auf. Ich will mein Flugzeug nicht verpassen!»

«Aber für wie lange denn, Vati?» rief Matilda. «Wann kommen wir denn zurück?»

«Überhaupt nicht», fauchte der Vater, «und jetzt zisch ab! Ich hab zu tun!»

Matilda drehte sich um und ging durch die offene Haustür wieder hinaus. Sobald sie auf der Straße war, fing sie an zu rennen. Sie sauste geradewegs zu Fräulein Honigs Haus zurück und erreichte es in weniger als vier Minuten. Sie flog den Gartenweg entlang, und dann sah sie plötzlich Fräulein Honig im Vordergarten, wie sie mitten in einem Rosenbeet stand und irgend etwas mit einer Heckenschere machte. Fräulein Honig hatte Matildas schnelle Schritte auf dem Kies knirschen hören, und während das Kind auf sie zustürzte, richtete sie sich auf, drehte sich um und trat aus dem Rosenbeet.

«Du meine Güte», sagte sie, «was ist denn um Himmels willen nur los?»

Matilda stand keuchend vor ihr, ganz außer Atem, das kleine Gesicht rot wie eine Pfingstrose.

«Sie gehen weg!» schrie sie. «Sie haben alle den Verstand verloren und stopfen ihre Koffer voll, und in einer halben Stunde brechen sie auf, nach Spanien!»

«Wer denn?» fragte Fräulein Honig ruhig.

«Mami und Vati und mein Bruder Michael, und sie sagen, ich muß mit ihnen kommen!»

«Du meinst in die Ferien?» fragte Fräulein Honig.

«Für immer!» schrie Matilda. «Vati sagt, wir kommen nie und nimmer zurück!»

Nach einer kurzen Pause bemerkte Fräulein Honig: «Ehrlich gesagt, das überrascht mich nicht.»

«Wollen Sie sagen, Sie hätten gewußt, daß sie weggehen?» schluchzte Matilda. «Warum haben Sie mir denn nichts davon gesagt?»

«Nein, Liebes», sagte Fräulein Honig, «ich habe nicht gewußt, daß sie weggehen. Aber die Nachricht verblüfft mich trotzdem nicht.»

«Wieso denn?» rief Matilda. «Sagen Sie mir doch, warum.» Sie war immer noch vollkommen außer Atem von der Rennerei und vor allem vor Schreck.

«Weil dein Vater», sagte Fräulein Honig, «mit einem Haufen Gauner im Bunde ist. Das weiß jeder hier im Ort. Ich vermute, daß er gestohlene Autos aus dem ganzen Land abgenommen hat. Er steckt bis über die Ohren drin.»

Matilda starrte sie mit offenem Mund an.

Fräulein Honig fuhr fort: «Die Leute haben deinem Vater gestohlene Autos in die Werkstatt gebracht, und er hat dort die Nummernschilder ausgewechselt und die Karosserie mit einer anderen Farbe gespritzt und so weiter. Und jetzt hat ihn wahrscheinlich jemand verpfiffen, und die Polizei sitzt ihm auf den Fersen, und da macht er das, was sie alle machen: er haut ab nach Spanien, wo sie ihn nicht erwischen können. Er wird sicher schon seit Jahren sein ganzes Geld dorthin geschafft haben, und jetzt kann er sich ins gemachte Nest setzen.»

Sie standen auf dem Rasen vor dem schönen roten Backsteinhaus mit seinen verwitterten alten roten Dachschindeln und den hohen Schornsteinen, und Fräulein Honig hatte immer noch die Gartenschere in der Hand.

Es war ein milder, goldener Abend, und irgendwo in der Nähe schlug eine Amsel.

«Ich will nicht mit denen weggehen!» rief Matilda plötzlich. «Ich will nicht weg mit ihnen.»

«Ich fürchte, du mußt», sagte Fräulein Honig.

«Ich möchte hier bei Ihnen wohnen», rief Matilda aus. «Ach bitte, erlauben Sie mir doch, bei Ihnen zu wohnen.»

«Ich wünschte wirklich, das ginge», entgegnete Fräulein Honig, «aber das ist leider nicht möglich. Du kannst deine Eltern nicht einfach so verlassen. Sie haben ein Recht darauf, dich mitzu­nehmen.»

«Aber wenn sie damit einverstanden sind?» rief Matilda aufgeregt. «Wenn sie vielleicht ja sagen, ich könnte bei Ihnen bleiben? Würden Sie mich dann nehmen?»



Fräulein Honig sagte leise: «Ach, das wäre himmlisch.»

«Also, ich glaube, daß sie einverstanden sind!» rief Matilda. «Ehrlich, das glaub ich! Sie kümmern sich in Wirklichkeit keinen Pfifferling um mich!»

«Nicht so schnell!» sagte Fräulein Honig.

«Aber wir müssen schnell machen!» rief Matilda. «Sie können jeden Augenblick losfahren! Kommen Sie schon!» rief sie und griff nach Fräulein Honigs Hand.

«Bitte kommen Sie mit mir mit und fragen Sie sie! Aber wir müssen uns beeilen! Wir müssen rennen!»

Im nächsten Augenblick rasten die beiden den Gartenweg ent­lang und dann auf die Straße hinaus, Matilda immer voraus, wo­bei sie Fräulein Honig am Handgelenk hinter sich herzerrte, und es war eine wilde und wunderbare Jagd über die Landstraße und durch den Ort bis zu dem Haus, in dem Matildas Eltern lebten. Der große schwarze Mercedes wartete immer noch davor, der Kofferraum und alle Türen standen jetzt sperrangelweit offen, und Herr und Frau Wurmwald und der Bruder wimmelten wie die Ameisen drumherum, als Matilda und Fräulein Honig angestürzt kamen, und stapelten Koffer hinein.

«Vati und Mami!» platzte Matilda heraus und rang keuchend nach Atem. «Ich will nicht mit euch gehen! Ich möchte hierbleiben und bei Fräulein Honig wohnen, und sie sagt, ich kann, wenn ihr mir die Erlaubnis gebt! Ach bitte, sagt ja! Los, Vati, sag ja! Sag ja, Mami!»

Der Vater drehte sich um und glotzte Fräulein Honig an. «Sie sind die Lehrerin, die mal hergekommen ist, was?» fragte er. Dann fuhr er fort, die Koffer in das Auto zu packen.



Seine Frau sagte zu ihm: «Der muß auf den Rücksitz. Im Koffer­raum ist kein Platz mehr.»

«Ich würde Matilda sehr gerne zu mir nehmen», sagte Fräulein Honig, «ich würde mit Liebe und Umsicht für sie sorgen, Herr Wurmwald, und ich würde für alles zahlen. Sie würde Sie keinen Penny kosten. Aber es ist nicht meine Idee gewesen. Es ist Matildas Wunsch. Und ohne Ihre volle und freiwillige Zustimmung kann ich mich nicht einverstanden erklären, sie zu mir zu neh­men.»

«Komm schon, Harry», sagte die Mutter und stopfte noch einen Koffer auf den Rücksitz, «warum lassen wir sie nicht hier, wenn sie das will. Eine weniger, um die wir uns kümmern müs­sen.»

«Ich hab’s eilig», sagte der Vater, «ich muß ein bestimmtes Flugzeug erwischen. Wenn sie hierbleiben will, dann soll sie doch. Ich hab nichts dagegen.»

Matilda sprang Fräulein Honig in die Arme und umarmte sie, und Fräulein Honig gab die Umarmung zurück, und dann saßen die Mutter, der Vater und der Bruder im Auto, und das Auto raste mit quietschenden Reifen davon. Der Bruder winkte ihr noch durchs Rückfenster zu, aber die anderen beiden schauten sich nicht einmal um. Fräulein Honig hatte das kleine Mädchen immer noch auf dem Arm, und keine von ihnen sagte etwas, während sie dastanden und dem großen schwarzen Auto nachschauten, das am Ende der Straße um die Ecke bog und für immer und ewig in der Ferne entschwand.


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