VI «Es ist doch nicht zu schildern…»

Hendrik Höfgen litt, wenn er im H. K. die Berliner Zeitungen las; sein Herz zog sich zusammen und schmerzte vor Neid und Eifersucht. Triumphaler Erfolg der Martin! Neuinszenierung des «Hamlet» am Staatstheater, sensationelle literarische Premiere am Schiffbauerdamm… Und er saß in der Provinz! Die Hauptstadt kam ohne ihn aus! Die Filmgesellschaften, die großen Theater - sie bedurften nicht seiner. Ihn rief man nicht. Seinen Namen kannte man nicht in Berlin. Wurde er einmal erwähnt, von dem Hamburger Korrespondenten eines Berliner Blattes, dann war er gewiß falsch geschrieben: «In der Rolle des unheimlichen Intriganten fiel ein Herr Henrik Höpfgen auf…» Ein Herr Henrik Höpfgen! Ihm sank die Stirne nach vorn. Die Sucht nach dem Ruhm - dem großen, eigentlichen Ruhm, dem Ruhm in der Kapitale - nagte an ihm wie ein physischer Schmerz. Hendrik griff sich an die Wange, als hätte er Zahnweh. «Erster zu sein in Hamburg - das ist schon was Rechtes!» beklagte er sich bei Frau von Herzfeld, die sich nach dem Grund seines üblen Aussehens teilnahmsvoll erkundigt hatte und nun versuchte, ihn zu beruhigen mittels kluger Schmeicheleien. «Liebling eines provinziellen Publikums zu sein - ich bedanke mich schön. Lieber fange ich in Berlin noch mal von vorne an, als daß ich diesen Betrieb hier länger mitmache.»

Frau von Herzfeld erschrak. «Sie wollen doch nicht wirklich weg von hier, Hendrik?» Dabei öffnete sie klagend die goldbraunen, sanften Augen, und über die große Fläche ihres weichen, flaumig gepuderten Gesichtes lief ein Zucken.

«Es ist alles ganz unentschieden.» Hendrik blickte streng an Frau von Herzfeld vorbei und rückte enerviert die Schulter. «Zunächst gastiere ich einmal in Wien.» Er sagte es nachlässig, als erwähnte er eine Tatsache, welche Hedcia längst bekannt sein mußte. Indessen hatte sie - sowenig wie irgend jemand sonst im Theater: sowenig wie Kroge, Ulrichs oder selbst Barbara - eine Ahnung davon gehabt, daß Hendrik in Wien gastieren wollte.

«Der Professor hat mich aufgefordert», sagte er und putzte sein Monokel mit dem Seidentuch. «Eine ganz nette Rolle. Eigentlich wollte ich ablehnen, wegen der schlechten Saison: wer ist schon in Wien, jetzt im Juni? Aber schließlich habe ich mich doch entschlossen, anzunehmen. Man weiß ja nie, was für Folgen so ein Gastspiel heim Professor haben kann… Übrigens wird die Martin meine Partnerin sein», bemerkte er noch, während er sich das Monokel wieder vors Auge klemmte.

«Der Professor» war jener Regisseur und Theaterleiter von legendärem Ruhm und ungeheurem internationalem Ansehen, der mehrere Theater in Berlin und Wien beherrschte. Wirklich hatte sein Sekretariat dem Schauspieler Höfgen eine mittlere Rolle in der Altwiener Posse angeboten, die der Professor während der Sommermonate mit Dora Martin in einem seiner Wiener Häuser spielen lassen wollte. Jedoch war diese Einladung keineswegs von selbst und ungefähr zustande gekommen; vielmehr hatte Höfgen einen Protektor gefunden, und zwar in der Person des Dramatikers Theophil Marder.

Dieser war zwar mit dem Professor, wie mit aller Welt, bitterböse; der berühmte Regisseur aber bewahrte dem Satiriker, dessen Stücke er früher mit erheblichem. Erfolg herausgebracht hatte, ein Wohlwollen, in dem Ironie und Respekt sich vermischten.

Niemandem, auch Barbara nicht, gestand Hendrik, daß er des Professors ehrenvolles Angebot Theophil zu verdanken habe; niemand wußte, daß er mit dem Gatten Nicolettas in Beziehung stand. Hendrik behandelte die Angelegenheit seines Wiener Gastspiels - das er doch mit so viel Energie und List arrangiert und vorbereitet hatte - mit einer blasierten Nachlässigkeit. «Ich muß geschwind mal nach Wien reisen, beim Professor gastieren», erklärte er nebenbei; lächelte aasig und bestellte sich beim besten Schneider einen Sommeranzug: Da er schon so viele Schulden hatte - bei Frau Konsul Mönkeberg, bei Väterchen Hansemann, beim Kolonialwaren - und beim Weinhändler -, kam es auf vierhundert Mark mehr oder weniger nicht mehr an.

Hendrik hinterließ, bei seiner plötzlichen Abreise, manche bestürzten Gesichter in der guten Stadt Hamburg, wo sein Charme ihm so viele Herzen erobert hatte. Vielleicht bestürzter noch als die Damen Siebert und Herzfeld war der Direktor Schmilz: denn Höfgen hatte sich, unter allerlei koketten Ausflüchten, geweigert, seinen Vertrag mit dem Künstlertheater für die nächste Spielzeit zu erneuern.

Hendrik reiste nach Wien; Barbara inzwischen fuhr zu ihrem Vater und zur Generalin aufs Gut. Höfgen hatte es verstanden, aus dem Abschied von seiner jungen Frau eine schöne, wirkungsvolle Szene zu machen. «Wir werden uns im Herbst wiedersehen, mein Liebling», sprach er und stand in einer Haltung, die zugleich Stolz und Demut ausdrückte, gesenkten Hauptes vor Barbara. «Wir werden uns wiedersehen, und dann bin ich vielleicht schon ein anderer als heute. Ich muß mich durchsetzen, ich muß… Und du weißt ja, mein Liebling, für wen ich ehrgeizig bin; du weißt es ja, vor wem ich mich bewähren möchte…» Seine Stimme, die sowohl sieghafte als auch klagende Töne hatte, verklang. Hendrik neigte sein ergriffenes, fahles Gesicht über Barbaras bräunliche Hand.

War diese Szene nur Komödie gewesen, oder hatte sie auch Echtes enthalten? Barbara sann darüber nach: auf den Spazierritten am Morgen, und nachmittags, im Garten, wenn ihr das schwere Buch auf die Knie sank. Wo begann bei diesem Menschen das Falsche, und wo hörte es auf? So grübelte Barbara, und sie sprach darüber mit ihrem Vater, mit der Generalin, mit ihrem klugen und ergebenen Freund Sebastian. «Ich glaube ihn zu kennen», sagte Sebastian. «Er lügt immer, und er lügt nie. Seine Falschheit ist seine Echtheit - es klingt kompliziert, aber es ist völlig einfach. Er glaubt alles, und er glaubt nichts. Er ist ein Schauspieler. Aber du bist noch nicht fertig mit ihm. Er beschäftigt dich noch. Noch immer bist du neugierig auf ihn. Du mußt noch bei ihm bleiben, Barbara.» -

Das Wiener Publikum war begeistert von Dora Martin, die in der berühmten Posse abwechselnd als zartes Mädchen und als Schusterbub auf die Bühne kam. Ihr Erfolg war so groß, daß kein anderer neben ihr aufkommen konnte. Die Zeitungskritiken - lange Hymnen auf ihr Genie - erwähnten ihre Partner nur flüchtig. Hendrik aber, der einen geckenhaft grotesken Kavalier zu geben hatte, wurde sogar getadelt. Man warf ihm Übertreibungen und Manieriertheit vor.

«Sie sind reingefallen, mein Lieber!» girrte die Martin und winkte ihm tückisch mit den Zeitungsausschnitten. «Das ist ein richtiger Mißerfolg. Und was das Schlimmste ist: Sie werden überall Henrik genannt - das ärgert Sie doch besonders. Tut mir so leid!» Sie versuchte, ein betrübtes Gesicht zu machen; aber ihre schönen Augen 'ächelten unter der hohen Stirn, die sie in ernste Falten legte. «Tut mir so leid, wirklich. Aber Sie sind ja auch miserabel in der Rolle», sagte sie beinah zärtlich. «Vor lauter Nervosität zappeln Sie auf der Bühne wie ein Harlekin - tut mir ja so furchtbar leid. Natürlich merke ich trotzdem, daß Sie enorm yiel Talent haben. Ich werde dem Professor sagen, daß er Sie in Berlin spielen lassen muß.» Schon am nächsten läge wurde Höfgen zum Professor befohlen. Der große Mann betrachtete ihn aus seinen nahe beieinanderliegenden, versonnenen und dabei scharfen Augen; ließ die Zunge in den Backen spielen; machte, die Arme auf dem Rücken verschränkt, große Schritte durchs Zimmer; brachte ein paar knarrende Laute hervor, die etwa wie: «Na - aha - das ist also dieser Höfgen…» klangen, und sagte schließlich -wobei er, den Kopf gesenkt, in napoleonischer Haltung vor seinem Schreibtisch stehenblieb -: «Sie haben Freunde, Herr Höfgen. Einige Leute, die etwas vom Theater verstehen, weisen mich auf Sie hin. Dieser Marder zum Beispiel…» Dabei hatte er ein kurzes, knarrendes Lachen. «Ja, dieser Marder», wiederholte er, schon wieder ernst; um dann, mit respektvoll hochgezogenen Brauen, hinzuzufügen: «Auch Ihr Herr Schwiegervater, der Geheimrat, hat mir von Ihnen gesprochen, als ich ihn neulich beim Kultusminister getroffen habe. Und nun auch noch Dora Martin…» Der Professor versank wieder in Schweigen, das er einige Minuten lang nur ab und zu durch einen knarrenden Laut unterbrach. Höfgen wurde abwechselnd bleich und rot; das Lächeln auf seiner Miene verzerrte sich. Der nachdenkliche und kalte, zugleich verhangene und durchdringende Blick dieses fleischigen, untersetzten Herrn war nicht leicht zu ertragen. Hendrik begriff plötzlich, warum der Professor, der so gewaltig zu schauen verstand, von seinen Verehrern «der Magier» genannt wurde.

Schließlich unterbrach Höfgen das peinlich-stumme Examen, indem er mit seiner singenden Schmeichelstimme bemerkte: «Im Leben bin ich unscheinbar, Herr Professor. Aber auf der Bühne…» Hier richtete er sich auf, breitete überraschend die Arme und ließ die Stimme im Metallton leuchten. «Auf der Bühne kann ich ganz drollig wirken.» Diese Worte begleitete er mit dem aasigen Lächeln. Nicht ohne Feierlichkeit fügte er hinzu: «Für diese Wandlungsfähigkeit hat mein Schwiegervater einmal sehr hübsch charakterisierende Worte gefunden.» Bei der Erwähnung des alten Bruckner zog der Professor respektvoll die Brauen hoch. Aber seine Stim-klang kalt, als er nach mehreren Sekunden bedeutungsvollen Schweigens sagte: «Na - man könnte es ja mal mit Ihnen versuchen…»

Höfgen war freudig aufgefahren; der Professor winkte ernüchternd ab. «Erwarten Sie sich nicht zuviel», sagte er ernst und prüfte Hendrik immer noch kalt mit den Augen. «Es ist kein großes Engagement, was ich Ihnen anbieten will. - In der Rolle, die Sie hier spielen, wirken Sie gar nicht drollig, sondern ziemlich miserabel.» Hendrik zuckte zusammen. Der Professor lächelte ihm freundlich zu. «Ziemlich miserabel», wiederholte er grausam. «Aber das schadet ja nichts. Man kann es trotzdem versuchen. Was die Gage betrifft…» Hier wurde des Professors Lächeln beinahe schelmisch, und seine Zunge spielte besonders eifrig im Munde. «Wahrscheinlich sind Sie, von Hamburg her, ein relativ anständiges Einkommen gewohnt. Sie werden sich bei uns zunächst mit weniger zufriedengeben müssen. - Sind Sie anspruchsvoll?» Der Professor erkundigte sich in einem Ton, als geschähe es nur aus theoretischem Interesse. Hendrik beeilte sich, zu versichern: «Mir liegt gar nichts am Geld. - Wirklich nicht», sagte er mit der glaubwürdigsten Betonung; denn er sah den Professor eine skeptische Grimasse schneiden. «Ich bin nicht verwöhnt. Was ich brauche, das ist ein frisches Hemd und eine Flasche Eau de Cologne1 auf dem Nachttisch.» Der Professor lachte noch einmal kurz. Dann sagte er: «Die Details können Sie mit Katz besprechen. Ich werde ihn instruieren.»

Die Audienz war beendet. Höfgen wurde mit einer Handbewegung entlassen. «Grüßen Sie bitte Ihren Herrn Schwiegervater von mir», sagte der Professor, während er schon wieder, die Hände auf dem Rücken verschränkt, klein und gedrungen, in napoleonischer Haltung über den dicken Teppich seines Zimmers schritt.

Herr Kat/. war der Generalsekretär des Professors; er leitete alles Geschäftliche in den Theatern des Meisters, sprach schon ebenso knarrend wie dieser und spielte, wie dieser, mit der Zunge in seinen Backen. Die Unterredung /wischen ihm und dem Schauspieler Höfgen fand noch im Lauf desselben Tages statt. Hendrik akzeptierte anstandslos einen Vertrag, den er dem Direktor Schmitz um die Ohren geschlagen haben würde: denn er war miserabel. 700 Mark Monatsgage - wovon noch die Steuern abgingen -, und bestimmte Rollen waren ihm nicht garantiert. Mußte er sich dergleichen bieten lasssen? Er mußte wohl, da er nach Berlin wollte und in Berlin unbekannt war. Noch einmal Anfänger sein! Es war nicht leicht und mußte ausgehalten werden. Opfer waren zu bringen, wenn man unbedingt nach oben wollte.

Hendrik schickte einen großen Strauß gelber Rosen an Dora Martin; den schönen Blumen - die er vom Hotelportier hatte bezahlen lassen - legte er einen Zettel bei, auf den er in großen, pathetisch eckigen Buchstaben das Wort «Danke» schrieb. Gleichzeitig verfaßte er einen Brief an die Direktoren Schmitz und Kroge: kurz und trocken setzte er den beiden Männern, denen er so vieles schuldig war, auseinander, daß er, zu seinem Bedauern, den Vertrag mit dem Künstlertheater nicht erneuern könne, da der Professor ihm ein glänzendes Angebot gemacht habe. Während er den Brief ins Kuvert steckte, stellte er sich einige Sekunden lang die bestürzten Mienen in dem Hamburger Büro vor. Beim Gedanken an den tränenfeuchten Blick der Frau von Herzfeld mußte er kichern. In sehr animierter Stimmung fuhr er ins Theater.

Er ließ sich in Dora Martins Garderobe melden, abe die Kammerfrau bedeutete ihn, daß ihre Herrin die site des Professors habe.

«Ich habe Ihnen also diesen sonderbaren Gefallen getan», sagte der Professor und schaute sinnend auf Dora Martins Schultern, deren Magerkeit der Frisiermantel bedeckte. «Dieser Bursche ist engagiert - dieser - wie heißt er noch?»

«Höfgen», lachte die Martin, «Hendrik Höfgen. Sie werden sich den Namen schon noch merken, mein Lieber.» Der Professor zuckte hochmütig die Achseln, spielte mit der Zunge in den Backen und brachte knarrende Laute hen'or. «Er gefällt mir nicht», sagte er schließlich. «Ein Komödiant.»

«Seit wann haben Sie etwas gegen Komödianten?» Die Martin zeigte lächelnd ihre Zähne.

«Nur gegen schlechte Komödianten habe ich etwas.» Der Professor schien ärgerlich. «Gegen Provinzkomödianten», sagte er böse.

Die Martin war plötzlich ernst geworden; ihr Blick verdunkelte sich unter der hohen Stirn. «Er interessiert mich», sagte sie leise. «Er ist ganz gewissenlos», sie lächelte zärtlich, «ein ganz schlechter Mensch.» Sie dehnte sich, beinah wollüstig; dabei ließ sie das kindliche, gescheite Haupt in den Nacken sinken. «Wir könnten Überraschungen mit ihm erleben», sagte sie schwärmerisch zur Decke hinauf.

Einige Sekunden später erhob sie sich hastig und scheuchte den Professor mit flatternden kleinen Gebärden zur Tür. «Es ist höchste Zeit!» machte sie lachend. «Hinaus! Schnell hinaus mit Ihnen! Ich muß mir meine Perücke aufsetzen!»

Der Professor, schon zum Ausgang gedrängt, fragte noch: «Darf man denn das nicht sehen - wie Sie Ihre Perücke aufsetzen? Nicht einmal das?!» fragte er und bekam gierige Augen.

«Nein, nein - ausgeschlossen!» Die Martin schüttelte sich vor Entsetzen. «Das kommt gar nicht in Frage! Mein i'nsiermantel könnte mir von den Schultern rutschen…» Uabei hüllte sie sich enger in das bunte Tuch.

Die Stimme des Professors klang sehr gepreßt, als er «Schade!» sagte. Während der berühmte Hexenmeister - den fast alle Frauen seiner Umgebung durch ein gar zu eifriges Entgegenkommen langweilten - die Garderobe verließ, hatte er ein Gefühl, als würde sich Dora Martin, kaum allein gelassen, hinter seinem Rücken in eine Nixe verwandeln, in einen Kobold oder in ein anderes Geschöpf, welches so fremdartig war, daß niemand auch nur seinen Namen wußte.

Die raffinierte und wunderliche Keuschheit der großen Schauspielerin hatte den Professor so nachdenklich gestimmt, daß er den kostümierten Gesellen zunächst gar nicht erkannte, der lächelnd einen bunten Federhut vor ihm zog. Erst nachträglich fiel ihm ein, daß es «dieser Höfgen» gewesen war, der ihn da mit einer so devoten Koketterie begrüßt hatte.

Die neue überraschende Situation verjüngt Hendrik Höfgen. Hinter ihm liegt der provinzielle Ruhm, der bequem gemacht hat. Er ist wieder Anfänger, muß sich noch einmal bewähren. Um hinauf zu kommen - diesmal ganz hinauf-, muß er alle seine Kräfte anspannen. Mit Genugtuung darf er feststellen: sie sind unverbraucht, seine Kräfte; sie sind einsatzbereit. Sein Körper strafft sich, beinah gänzlich ist das Fett verschwunden; die Bewegungen sind tänzerisch und kampfeslustig zugleich. Wer so zu lächeln versteht, wer so die Augen schillern lassen kann, der muß Erfolg haben. Schon enthält seine Stimme Jubel über Triumphe, die in Wirklichkeit noch gar nicht eingetroffen sind, jedoch nicht lange auf: sich warten lassen können.

Mit einem sinnenden Interesse, in dem sich eine echte Anteilnahme mit einer kühlen und fremden Neugier-de mischt, beobachtet Barbara diesen neuen Elan ihres Gatten. Halb spöttisch, halb bewundernd sieht sie Hendrik zu, der im wehenden Ledermantel und auf beschwingten Sandalen sich immer unterwegs, stets in Aktion und in der Nähe großer Entscheidungen zu befinden scheint. Barbara ist zu Hendrik zurückgekehrt, wie es ihr von ihrem Freund Sebastian prophezeit worden ist. Sie bereut es nicht. Der verwandelte, höchst gespannte Hendrik, mit dem sie nun zwei billige möblierte Zimmer bewohnt, gefällt ihr besser als der provinzielle Liebling, der schon Fett ansetzte, im H. K. Cercle hielt und in der gemütlichen Wohnung der Frau Konsul Mönkeberg den bürgerlichen Ehemann zuspielen versuchte. Barbara fühlt sicli gar nicht so schlecht in den beiden finsteren Stuben, die sie jetzt mit ihrem Hendrik teilt. Sie liebt es, sich abends, nach der Vorstellung, mit ihm in einem trüben kleinen Café zu treffen, wo ein elektrisches Klavier durch das Halbdunkel klagt, wo die Kuchen aussehen wie aus Leim und Pappe und wo es keine Bekannten gibt.

Es fasziniert Barbara, Hendriks bebenden, gehetzten Berichten über den Fortgang seiner Karriere zu lauschen. In solchen Augenblicken weiß sie: er ist echt.

Voll fieberhaftem Eifer setzt Hendrik seine Hoffnungen, Pläne, Berechnungen auseinander; daß Barbara an ihnen Anteil nimmt, sich ihnen nicht mehr hochmutsvoll verschließt, steigert sein Lebensgefühl, erhöht seinen Ehrgeiz. Ja, Barbara macht sich auf aktive Weise verdient um seine Laufbahn. Nicht umsonst hat sie ein so durchtriebenes Madonnengesiclit. Sie ist schlau, zieht ihr schwarzes Seidenkleid an und besucht den Professor, dem sie Grüße von ihrem Vater, dem Geheimrat, bringt. Der große Herr über alle Theater am Kurfürstendamm- empfängt die Gattin seines jungen Schauspielers gnädig, weil sie die Tochter des Geheimrats ist, dessen Namen man so oft in den Zeitungen liest und den er neulich beim Minister getroffen hat. Das Palais des Professors könnte das eines regierenden Fürsten sein. Wohlgefällig schaut der Besitzer all dieser Barockmöbel, Gobelins und alten Meisterbilder auf die bräunlichen Arme und auf das pfiffig-nielandiolische Gesicht seiner Besucherin. «Na, und Sie sind also verheiratet mit - diesem Höfgen», sagt er knarrend, als Abschluß der langen Musterung, wobei er besonders ausführlich mit der Zunge in den Backen spielt. «Irgend etwas muß ja wohl an ihm sein…»

Dies alles gereicht natürlich Hendrik zu großem Vorteil: mit den übrigen Machthaber!! an den Kurfürstendamm-Bühnen, mit Herrn Katz und mit Fräulein Bernhard, steht er ohnedies ausgezeichnet.

Schöner Anfang für eine Berliner Karriere - flüstern die Kollegen sich zu. Seine hübsche Frau besucht denn Professor, mit Katz spielt er Karten, und Fräulein Bernhard kitzelt er am Kinn. Aus dem kann was werden! Aus dem wird etwas: es ist bald soweit. Erst ist es nur eine kleine Rolle, in welcher man ihn bemerkt; aber man bemerkt ihn, die Zeitungen erwähnen schon den «begabten Herrn Henrik Höfgen», und er hat in dem russischen Stück doch nur einen betrunkenen jungen Bauern spielen dürfen, der auf die Bühne taumelt, um zunächst zu lallen, dann jedoch zu tanzen. Aber wie er lallt und, vor allem, wie er tanzt! Das Berliner Publikum ist hingerissen von dem gelehrigen Schüler der Prinzessin Tebab: es bricht in Beifall aus, da er geendigt hat. Mit welcher Besessenheit dieser Bursche die Glieder wirft! Alle Welt ist des Lobes voll über den ekstatischen Ausdruck, den man auf seiner Miene bemerkt haben will während des Tanzes. Rose Bernhard, die am Büfett Herren von der Presse und Damen aus der Gesellschaft um sich versammelt, konstatiert: «Es ist etwas Bacchantisches an diesem Menschen.»

Das Publikum, abgelenkt durch tausend Sorgen und Vergnügungen, vergißt wieder den Namen des frenetischen Tänzers. Aber die Eingeweihten - die, auf welche es ankommt - merken sich Hendriks ersten Berliner Erfolg. Und von seinem zweiten spricht die Hauptstadt.

In einem sensationellen Stück, in einer aufsehenerregenden Inszenierung, gelingt es dem Schauspieler Höfgen, vom Interesse des Publikums und der Presse auf sich den größten Teil zu versammeln. Über seine Leistung wird noch mehr gerodet als über den Autor des erregenden Dramas «Die Schuld» - jenen geheimnisvollen Unbekannten, dessen rätselhafte Person in den Cafés und Theaterkanzleien, in den Salons und Redaktionsbüros das beliebteste Diskussionsthema ausmacht. Wer ist der Dichter, der sich hinter dem Pseudonym Richard Loser verbirgt und der in seiner Tragödie eine so erschütternde Menge von sündigem Elend, Not und Verirrung gestaltet? Wo findet man ihn, diesen Begnadeten, der uns durch ein Labyrinth tragischer und schmutziger Komplikationen führt, der soviel Entartung, verderbte Leidenschaft, soviel Qual und Jammer kennt und zeigt? Keine Frage: der Autor dieses schaurig-spannenden Dramas, das die verschiedenartigsten stilistischen Elemente - symbolische wie naturalistische - auf wirkungsvolle und kühne Art in sich vereinigt, muß ein Abseitiger sein; ein Einsamer, der sich fernhält vom Betrieb des Marktes. Die Literaten - immer von Mißtrauen erfüllt gegen ihren eigenen Beruf- schwören: Dieser ist kein Literat. Er hat keine Routine, alles an ihm ist geniale Ursprünglichkeit. Niemals hat er eine Zeile geschrieben bis zu diesem läge. Ein junger Nervenarzt - wollen einige besonders Eingeweihte wissen, und er lebt in Spanien. Auf Briefe antwortet er nicht, die Verhandlungen mit ihm sind durch mehrere Mittelsleute zu führen: alles dies wird ungeheuer interessant gefunden, man bespricht es fieberhaft in den Kreisen, die auf sich halten.

Ein junger Nervenarzt, und er lebt in Spanien: die Version hat viel Wahrscheinlichkeit, man glaubt sie, sie setzt sich durch. Nur ein Nervenarzt kann so bewandert sein in jenen Entartungen der Menschenseele, die zu grausigen Verbrechen führen. Wie der sich auskennt! In seinem Drama kommen alle Sünden vor. Es ist eine Gesellschaft von Verfluchten, die hier handelt und leidet. Jede Person, die auftritt, scheint ein finsteres Zeichen auf der Stirn zu tragen: darüber sind die Damen aus dem Grunewald und vom Kurfürstendamm ganz entzückt.

Von allen Verkommenen der Verkommenste aber ist Hendrik Höfgen, weshalb er auch den stärksten Beifall hat. Seiner fahlen, teuflischen Miene, seiner belegten und matten Stimme ist es anzumerken, daß er mit allen Lastern vertraut ist und sogar noch finanziellen Vorteil aus ihnen zieht. Augenscheinlich ist er ein Erpresser großen Stils; aasig lächelnd, bringt er junge Menschen skrupellos ins Unglück, einer von ihnen begeht Selbstmord auf offener Bühne, Hendrik, die Hände in den Hosentaschen, die Zigarette im Mund, das Monokel vorm Auge, schlendert an der Leiche vorbei. Unter Schauern empfindet das Publikum: Dieser ist die Inkarnation des Bösen. Er ist so durchaus, so vollkommen böse, wie es nur ganz selten vorkommt. Manchmal scheint er selber zu erschrecken über seine absolute Schlechtigkeit; dann bekommt er ein starres, weißes Gesicht, die fischigen Edelsteinaugen haben ein trostloses Schielen, und an den empfindlichen Schläfen vertieft sich der Leidenszug.

Höfgen spielt dem wohlhabenden Publikum des Berliner Westens die äußerste Entartung vor, und er macht Sensation. Die Verworfenheit als Delikatesse für reiche Leute: damit schafft es Höfgen. Wie er es schafft! Sein zugleich müdes und gespanntes Mienenspiel wird be-\vundert, sehr bewundert werden seine nachlässig weichen, anmutig tückischen Gebärden. «Er bewegt sich wie eine Katze!» schwärmt Fräulein Bernhard, die sich von ihm «Rose» nennen läßt. «Eine böse Katze! oh, wie himmlisch böse er ist!» Seine Sprechweise - ein heiseres Flüstern, aus dem zuweilen ein bezauberndes Singen wird - kopieren schon die Kollegen von den kleineren Bühnen. - «Habe ich nun nicht recht gehabt? Es ist etwas los mit ihm», sagt Dora Martin zum Professor, der nicht länger widersprechen kann. «Na ja…», bringt er knarrend hervor, bewegt die Zunge im Munde und blickt grüblerisch. Im Grunde nimmt er «diesen Höfgen» noch immer nicht ernst; so wenig ernst, wie Oskar H. Kroge es je getan hat.,Ein Komödiant', denkt der Professor, wie Kroge.

Ein faszinierender Komödiant: die Kritiker finden es, die reichen Damen finden es, Fräulein Bernhard findet es, die Kollegen können es nicht mehr leugnen. Das Stück «Die Schuld» verdankt seine außergewöhnliche Zugkraft zu großen Teilen der Leistung Höfgens. Es kann hundertmal hintereinander gespielt werden, der Professor verdient schweres Geld: Das Unglaubliche geschieht: er erhöht Hendriks Gage noch während der Saison, wozu kein Vertrag ihn verpflichtet - Fräulein Bernhard, und Herr Katz haben dies durchgesetzt bei ihrem illustren Chef.

Vielleicht hätte das Stück selbst hundertfünfzig- oder zvveihundertmal gegeben werden können; aller allmählich dringen Gerüchte über den Autor durch, die ernüchternd wirken. Er ist gar kein sonderbarer Nervenarzt in Spanien, heißt es plötzlich. Er ist kein Außenseiter, der nur mit den Abgründen der menschlichen Seele vertraut ist, unschuldig, unwissend aber in den banalen Mysterien des «Betriebs». Er ist überhaupt kein edler Unbekannter, sondern einfach Herr Katz, über den jeder sich schon mal geärgert hat. Die Enttäuschung ist allgemein.. Herr Katz, der routinierte Geschäftsmann, hat das Drama «Die Schuld» geschrieben! Plötzlich finden alle, das Stück sei nur eine Häufung von vulgären Greueln, so geschmacklos wie unbedeutend. Man fühlt sich hereingelegt und ist der Ansicht, das Ganze sei eine große Frechheit von Herrn Katz. Ist Herr Katz Dostojewski? Seit wann denn? fragt man sich gereizt in den Kreisen, die den Ton angeben. Herr Kat/. ist der geschäftliche Berater des Professors - was übrigens als beneidenswerte Stellung gilt. Niemand billigt ihm das Recht zu, sich als spanischen Nervenarzt auszugeben und in Abgründe zu steigen. Das Drama «Die Schuld» muß abgesetzt werden.

Eine launische Öffentlichkeit läßt Katz fallen; Höfgen aber hat sich durchgesetzt und mittels seiner erstaunlichen Bösheit definitiv alle Herzen erobert. Beim Ende seiner ersten Berliner Saison kann er zufrieden und guter Dinge sein: Man erklärt ihn allgemein als die Größe von morgen, als den aufsteigenden Stern, als die bedeutende Hoffnung. Sein Vertrag für die nächste Spielzeit, 1929/30, sieht schon ganz anders aus als der abgelaufene: die Gage ist ihm fast verdreifacht worden, der Professor mußte es knurrend und knarrend geschehen lassen, denn die Konkurrenz ist hinter Höfgen her. «Na, nun können Sie sich reichlich frische Hemden und Lavendelwasser leisten», sagt der Professor zu seinem neuen Star. Dieser erwidert, gewinnend lächelnd: «Kau de Cologne, Herr Professor! Ich benutze nur Eau de Cologne!» -

Der Sommer ist da, Hendrik gibt die zwei trüben Stuben auf, mietet sich eine helle Wohnung im Neuen Westen, am Reichskanzlerplatz, kauft sich zahlreiche Hemden, gelbe Schuhe und zartfarbene Anzüge, nimmt Unterricht in der Kunst des Chauffierens1 und verhandelt mit mehreren Firmen wegen des Ankaufs eines schicken Kabrioletts2, welches er zum Reklamepreis beansprucht… - Barbara fahrt zur Generalin aufs Gut. Der erfolgreiche Gatte interessiert sie weniger, als der kämpfende, der von unbefriedigtem Ehrgeiz bebende sie interessiert hat. Frau von Herzfeld kommt zu Besuch, um Hendrik bei der Einrichtung seiner neuen Wohnung zu helfen: Sie wählt Stahlmöbel aus, und als Schmuck für die Wände Reproduktionen nach van Gogh und Picasso. Die Räume behalten eine Kahlheit von elegantem, anspruchsvollem Gepräge. - Hendrik genießt Frau von Herzfelds Bewunderung, nimmt ihre Liebe, die noch gewachsen zu sein scheint, entgegen wie einen wohlverdienten Tribut. Heclda hat nun auf jede ironische Maske ihm gegenüber verzichtet. Mit einer wehmütigen Gier, einer resignierten Süchtigkeit hängen ihre sanften, goldbraunen Augen an dem grausamen Angebeteten. «Die arme Siebert sieht ganz blaß aus vor lauter Sehnsucht nach Ihnen», berichtet sie und verschweigt, daß sie ihrerseits sich einmal so weit hat gehenlassen, mit Angelika zusammen zu weinen - bitterlich und lange zu weinen um den Verlorenen, den sie niemals besessen hat.

Frau von Herzfeld darf Höfgen zu den Filmateliers begleiten; denn in diesem Sommer filmt er zum erstenmal. In dem Kriminalfilm «Haltet den Dieb!» hat er die führende Rolle des großen Unbekannten und geheimnisvollen Übeltäters, der meist mit einer schwarzen Maske vorm Gesicht erscheint. Schwarz ist alles an ihm, selbst «das Hemd: die Farbe der Kleidung läßt auf die Finsternis der Seele schließen. Er wird «der Schwarze Satan» genannt und ist der Ghef einer Bande, die Falschgeld fabriziert, Rauschgifte schmuggelt, gelegentlich Bankeinbrüche verübt und auch schon mehrere Morde auf dem Gewissen hat. Soviel Untaten verübt der Schwarze Satan nicht nur aus Habgier oder Spaß am Abenteuer, sondern auch aus prinzipiellen Gründen. Düstere Erfahrungen, die er einst mit einem jungen Mädchen gemacht, haben ihn zu einem Feind der Menschheit werden lassen. Es ist ihm ein Herzensbedürfnis, Schaden und Unheil zu stiften, er ist Übeltäter aus Überzeugung: dieses gesteht er, kurz vor seiner Verhaftung, dem Kreis der Kumpane, die sich wundern und fürchten; denn sie ihrerseits haben aus weniger komplizierten Gründen gestohlen. Sie murmeln ehrfurchtsvoll und betroffen, da sie erfahren, wie seltsam es um ihren Chef, den Schwarzen Satan, steht, und daß. er keineswegs immer Verbrecher, vielmehr Husarenoffizier gewesen ist. Im Verlaufe dieser dramatischen Szene nimmt der Bösewicht seine Maske ab: sein Gesicht, zwischen dem steifen schwarzen Hut und dem hochgeschlossenen dunklen Hemd, ist von schauriger Blässe, übrigens immer noch aristokratisch bei aller Verkommenheit und nicht ohne tragischen Zug.

Die maßgebenden Herren der großen Filmgesellschaft sind höchst beeindruckt von dieser grausamen und leidvollen Miene. Höfgen bringt Überraschungen, er ist eigenartig und wird gute Kassen machen, sowohl in der Hauptstadt als auch in der Provinz; so sagen sich die maßgebenden Herren, und die Angebote, die Hendrik von ihnen empfängt, übertreffen all seine Hoffnungen. Ei" muß sie teilweise ablehnen; sein Vertrag mit dem Professor bindet ihn. Da er sich rar macht, werden die Film-gewaltigen erst recht wild auf ihn. Sie setzen sich mit Herrn Katz und Fräulein Bernhard in Verbindung und bieten erhebliche Abstandssummen, wenn man ihnen den Schauspieler Höfgen für einige Wochen in der Saison überläßt. Fs wird viel telefoniert, korrespondiert und verhandelt. Bernhard und Katz sind anspruchsvoll; selbst für schweres Geld wollen sie nicht auf ihren Liebling verzichten. Höfgen ist der Umworbene. Alle wollen ihn haben. Er sitzt in seiner kahlen und feinen Wohnung mit den Stahlmöbeln, lächelt aasig und glossiert mit spöttisch überlegenen Worten den Kampf zwischen Bühne und Film um seine kostbare Person.

Dieses ist die Karriere! Der große Traum verwandelt sich in Wirklichkeit. Man muß nur innig genug träumen können - denkt Hendrik -, und aus dem kühnen Wunschbild wird die Realität. Ach, sie ist herrlicher, als man es jemals zu träumen gewagt! In jeder Zeitung, die er aufmacht, findet er nun seinen Namen - die erfahrene Bernhard sorgt für solche Publizität -, und jetzt wird er immer richtig geschrieben, in schon beinah ebenso fetten Lettern wie die Namen jener altbewährten Stars, deren Ruhm man einst, in der Kantine des Provinztheaters, neidisch verfolgt hat. Auf der Titelseite bringt eine wichtige Illustrierte Hendriks Bild. Was für ein Gesicht wird Kroge machen, wenn er es sieht! Und Frau Konsul Mönkeberg? Und der Geheimrat Bruckner? Alle, die sich Höfgen gegenüber skeptisch und ein wenig hochmütig verhalten haben, werden ehrfurchtsvoll zusammenschauern angesichts seiner Karriere, die nun in schwindelerregend steiler Kurve nach oben führt.

Am Ende der Spielzeit 1929/30 steht Hendrik Höfgen unvergleichlich größer da als an ihrem Beginn. Alles ist ihm geglückt, aus jedem Unternehmen wurde der Triumph. In den Theatern des Professors hat er schon beinahe mehr zu sagen als der Chef selber - der sich übrigens selten in Berlin aufhält, sondern meist in London, Hollywood oder Wien. Höfgen beherrscht Herrn Katz und die Dame Bernhard; längst kann er es sich leisten, mit beiden ebenso ungeniert umzuspringen, wie er mit Schmitz und Frau von Heizfeld umzuspringen pflegte. Höfgen bestimmt, welche Stücke angenommen, welche abgelehnt werden, und mit der Bernhard zusammen teilt er den Schauspielern ihre Rollen zu. Die Dichter, die aufgeführt weiden wollen, umschmeicheln ihn; die Schauspieler, die auftreten wollen, umschmeicheln ihn; die Gesellschaft - oder der Klüngel von reichen Snobs, der sich so nennt - umschmeichelt ihn: denn er ist der Mann des Tages.

Alles ist wieder, wie es in Hamburg war, nur in größerem Stil, nur in anderen Dimensionen. Sechzehn Stunden Arbeit am lag, und dazwischen interessante Ner-venkrisen. In dem eleganten Nachtlokal «Zum Wilden Reiter», wo Hendrik zuweilen von ein Uhr bis drei Uhr morgens Bewunderer um sich versammelt, sinkt er, das Cocktailglas in der Hand, seufzend vom hohen Barstuhl: Es ist eine kleine Ohnmacht, nichts Schlimmes, aber doch schlimm genug, um alle anwesenden Damen kreischen zu lassen; Fräulein Bernhard ist mit stärkenden Wohlgerüchen zur Hand - immer ist eine ergebene Frauensperson in der Nähe, wenn der Schauspieler Höfgen seine Zustände hat. Er gönnt sie sich nun wieder recht häufig, die hysterischen kleinen Zusammenbrüche, die sich vom sanften Schüttelfrost oder der stillen Ohnmacht bis zum Schreikrampf mit konvulsivischen Zuckungen steigern können - und sie bekommen ihm gut: erfrischt wie aus heilsamen Bädern geht er aus ihnen hervor, voll neuer Kräfte für seine anspruchsvolle, angreifende und genußreiche Existenz.

Übrigens muß er seltener zu den erholsamen Krisen seine Zuflucht nehmen, seitdem er die Prinzessin Tebab wieder in der Nähe hat. Während des ersten Berliner Winters ließ er die drohenden Briefe der schwarzen Königstochter, die in einem wunderlichen, von orthographischen Fehlern wimmelnden Stil abgefaßt waren, unbeantwortet. Nun aber hat Barbara sich beinah ganz von ihm zurückgezogen: sie erträgt den Betrieh um ihren smarten Gatten nicht; immer seltener kommt sie nach Berlin, ihr Zimmer in dem feinen Appartement am Reichskanzlerplatz bleibt meistens unbewohnt; sie zieht die stilleren Räume im Hause des Geheimrats oder in der Villa der Generalin vor. Da entschließt sich Hendrik, seiner Juliette das Reisegeld zu schicken - das Leben ohne sie entbehrt der Würze, die grimmig blickenden Damen, die mit ihren hohen Stiefeln über die Tauent-zienstraße stolzieren, sind kein Ersatz. Prinzessin Tebab läßt sich nicht lange bitten. Sie trifft ein.

Hendrik mietet ihr ein Zimmer in entlegener Gegend, wo er ihr wöchentlich mindestens einmal Visite macht; wie ein Verbrecher an den Ort seiner Übeltat - den Schal bis über das Kinn gewickelt und den Hut tief in die Stirne gedrückt - schleicht er sich zu seiner Geliebten. «Wenn mich irgend jemand ertappen würde - in diesem Aufzug!» flüstert er, während er ins Trainingsshöschen schlüpft. «Ich wäre verloren! Alles wäre aus!» Prinzessin Tebab amüsiert sich über seine schlotternde Angst; sie lacht rauh und herzlich. Aus Vergnügen daran, ihn zittern zu sehen, und auch, um noch mehr Geld aus ihm herauszukriegen, verheißt sie ihm zum hundertsten Male, sie werde ins Theater kommen und wie eine wilde Katze schreien, wenn er die Bühne betritt. «Paß nur auf, Bubi!» neckt sie ihn grausam. «Einmal tu ich es wirklich - zum Beispiel bei der großen Premiere nächste Woche. Ich ziehe mir mein buntes Seidenkleid an und setze mich in die erste Reihe. Das gibt einen Skandal!» Animiert reibt sich das dunkle Fräulein die Hände. Dann verlangt sie hundertfünfzig Mark von ihm, ehe er den neuen Tanzschritt üben darf. Mit seinem Aufstieg ist auch sie anspruchsvoller geworden. Nun benutzt sie kostspielige Parfüms, kauft sich in erheblichen Mengen bunte Seidentücher, klirrende Armbänder und kandierte Früchte, die sie aus großen Tüten mit ihren rauhen und gewandten Fingern zu naschen liebt. Wenn sie grinsend kaut und sich dazwischen behaglich am Hinterkopf kratzt, sieht sie einem großen Affen zum Verwechseln ähnlich. Hendrik muß zahlen, und er zahlt gerne. Es bereitet ihm Lust, auf so plumpe Art ausgenutzt zu werden von der Schwarzen Venus. «Denn ich liebe dich wie am ersten lag!» sagt er ihr. «Ich liebe dich sogar mehr als am ersten 'läge. Wenn du weg bist, begreife ich erst ganz, was du mir bedeutest. Die strengen Damen von der Tauentzienstraße sind unerträglich langweilig.»

«Und deine Frau?» erkundigt sich das Urwald-mädchen mit einem grollenden Kichern. «Und deine Barbara?»

«Ach die…», macht Hendrik, sowohl kummervoll als verächtlich, und wendet das fahle Gesicht dem Schatten zu.

Barbara kommt immer seltener nach Berlin; auch der Geheimrat zeigt sich beinah nie mehr in der Hauptstadt, wo er früher, mehrmals im Winter, Vorträge zu halten und an der repräsentativen Geselligkeit teilzunehmen pflegte. Der Geheimrat sagt: «Ich bin nicht mehr gern in Berlin. Ja, ich fange an, mich vor Berlin zu fürchten. Es bereiten sich hier Dinge vor, die mich entsetzen - und das schaurigste ist, daß die Menschen, mit denen ich Umgang habe, die Gefahren nicht zu bemerken scheinen. Man ist geschlagen mit Blindheit. Man amüsiert sich, streitet sich, nimmt sich ernst; inzwischen verfinstert sich der Himmel, aber man hat keinen Blick für das Ungewitter, das näher kommt - das schon beinahe da ist. Nein, ich bin nicht mehr gern in Berlin. Vielleicht meide ich es, um es nicht verachten zu müssen…»

Er kommt doch noch einmal; aber nicht mehr, um an repräsentativer Geselligkeit teilzunehmen oder in der Universität zu dozieren; vielmehr um eine große kulturpolitische und tagespolitische Rede zu halten. Die Rede trägt den Titel: «Die drohende Barbarei»; mit ihr will der ('eheimrat den geistigen Teil des Bürgertums noch einmal - zum letztenmal - warnen vor dem, was heraufkommt und was Verfinsterung und Rückschlag bedeutet, wahrend es sich selber frech «Erwachen» und «nationale Revolution» zu nennen wagt. - Der alte Herr spricht anderthalb Stunden lang vor einem Publikum, welches tobt - teils vor Beifall, teils zum Widerspruch.

Während seines letzten Aufenthalts in der Kapitale hat der bürgerliche Gelehrte, der durch seinen Besuch in der Sowjetunion der Rechten verhaßt und den Demokraten schon ein wenig verdächtig ist, Besprechungen mit vielen seiner Freunde, mit Politikern, Schriftstellern, Professoren. All diese Unterredungen endigen mit der heftigsten Meinungsverschiedenheit.

Manches muß Bruckner sich anhören über die «gesunden und aufbauwilligen Kräfte», die «trotz allem» im Nationalsozialismus stecken; manches über das edle nationale Pathos einer Jugend, der gegenüber «wir Älteren» eben nicht länger verständnislos ablehnend bleiben dürfen; über den «politischen Instinkt des deutschen Volkes», seinen «gesunden Menschenverstand», der stets das Schlimmste verhüten werde - («Deutschland ist nicht Italien») -: ehe er, erbittert und enttäuscht, abreist, im Herzen entschlossen, nie wiederzukehren. Der Geheimrat Bruckner entzieht sich einer Gesellschaft - in welcher Hendrik Höfgen Triumphe feiert. -

In den Berliner Salons ist jeder willkommen, der Geld hat oder dessen Namen häufig genannt wird von der Boulevardpresse. Auf dem Parkett der Tiergarten- und Grune-waldvillen treffen sich die Schieber mit den Rennfahrern, Boxern und berühmten Schauspielern. Der große Bankier ist stolz darauf, Hendrik Höfgen bei sich zu empfangen; noch lieber freilich hätte er Dora Martin in seinem Hause gesehen, aber Dora Martin kommt nicht, sie sagt ab oder zeigt sich höchstens für zehn Minuten.

Natürlich erscheint auch Höfgen nicht vor Mitternacht. Nach der Abendvorstellung tritt er noch in einer Music-HalF' auf, wo er für dreihundert Mark ein Chanson singt, welches sieben Minuten dauert. Die schicke Gesellschaft, die er mit seiner Gegenwart beehrt, trällert ihm den Refrain' des Songs entgegen, den er berühmt gemacht hat:

«Es is doch nicht zu schildern -

Soll ich denn ganz verwildern?!

Mein Gott, was ist denn nur mit mir geschehn!»

Wie schön und fein Hendrik ist - es ist docli nicht zu schildern! Grüßend und lächelnd, hinter sich Herrn Katz und Fräulein Bernhard als seine treuen Trabanten, bewegt er sich durch diese Gesellschaft von versnobten jüdischen Finanziers, von politisch radikalen und künstlerisch impotenten Literaten und von Sportsleuten, die noch nie ein Buch gelesen haben und, gerade deshalb, von den Literaten angehimmelt werden. «Sieht er nicht aus wie ein Lord?» flüstern reich geschmückte Damen orientalischen Typs. «Er hat einen so lasterhaften Zug um den Mund - und diese herrlich blasierten Augen! Sein Frack ist von Knize, er hat zwölfhundert Mark gekostet.» - In einer Ecke des Salons wird behauptet, Höfgen habe ein Verhältnis mit Dora Martin. «Aber nein - er schläft doch mit Fräulein Bernhard!» wollen noch Eingeweihtere wissen. «Und seine Frau?» erkundigt sich ein etwas naiver junger Herr, der noch nicht lange in der Berliner Gesellschaft verkehrt. Er bekommt nur ein verächtliches Lachen zur Antwort. Die Familie Bruckner ist nicht mehr ernst zu nehmen, seitdem sich der alte Geheimrat politisch auf eine so anstößige und übrigens sinnlose Art exponiert hat. Gelehrte sollten sich nicht in Dinge mischen, von denen sie nichts verstehen - darüber sind alle sich einig -, und außerdem empfindet man es als albernen Eigensinn, gegen den Strom zu schwimmen. Für die zukunftsträchtige Bewegung des Nationalsozialismus, die soviel positive Elemente enthält und ihre störenden kleinen Fehler, zum Beispiel diesen lästigen Antisemitismus, schon noch ablegen wird, bringt man als moderner Mensch Verständnis auf. «Daß der Liberalismus etwas Überwundenes ist und keine Zukunft mehr hat, ist doch wohl eine Tatsache, über die wir nicht mehr zu diskutieren brauchen», sagen die Literaten, und weder die Boxer noch die Bankiers widersprechen ihnen.

«Wie reizend, daß Sie eine Stunde Zeit für uns gefunden haben, Herr Höfgen!» flötet die Hausfrau ihrem attraktiven Gast entgegen und hält ihm ein Tellerchen mit Kaviar hin. «Man weiß doch, wie beschäftigt Sie sind! Darf ich Sie mit zwei Ihrer glühendsten Verehrer bekannt machen? Dieses ist Herr Müller-Andrea, der Ihnen durch seine bezaubernden Plaudereien im Jniteressan-ten Journal' gewiß bekannt ist. Und dieses ist unser Freund, der berühmte französische Schriftsteller Pierre Larue…»

Herr Müller-Andrea ist ein eleganter, grauhaariger Mann mit stark hervortretenden wasserblauen Augen in einem roten Gesicht. Jedermann weiß, daß er von den guten Beziehungen seiner schönen Frau lebt, die aus aristokratischer Familie stammt. Durch sie erfährt er den ganzen Klatsch der Berliner Gesellschaft, aus dem er seine kleinen Artikel für das «Interessante Journal» zusammenstellt. In diesem verrufenen Skandalblatt plaudert Herr Müller-Andrea wöchentlich unter dem Titel: «Hatten Sie davon eine Ahnung?» Gerade diesen amüsanten Artikeln verdankt das «Interessante Journal» seine Beliebtheit; denn in ihnen wird mitgeteilt, daß die Gattin des Industriellen X mit dem lyrischen Tenor Y eine kleine Reise nach Biarritz unternommen hat, und daß die Gräfin Z jeden Nachmittag im Adlon zum Tanztee erscheint, und dieses nicht der guten Kapelle, sondern eines gewissen Gigolos wegen… Durch solche Eröffnungen versteht es Herr Müller-Andrea, die Leser zu fesseln und zu belehren. Seine ziemlich luxuriöse Lebenshaltung bestreitet er übrigens keineswegs mit seinen Einnahmen aus veröffentlichten Artikeln; vielmehr mit jenen Summen, die er sich für die Nichtveröffentlichung von «Plaudereien» bezahlen läßt. So manche Dame hat schon schweres Geld an Herrn Müller-Andrea überwiesen, damit ihr Name nicht in die Rubrik «Hatten Sie davon eine Ahnung?» komme. Herr Müller-Andrea ist ein gemeiner Erpresser, niemand bestreitet es - auch er selber nicht -; niemand macht besonderes Auflieben davon.

Der andere «glühende Verehrer» des Schauspielers Höfgen, Monsieur Pierre Lame, ist ein kleines Männchen. Er reicht Hendrik eine bleiche, spitze Hand und spricht mit einer klagenden Sopranstimme: «Sehr interessant, lieber Herr Höfgen! Darf ich mir Ihre Adresse notieren?» Dabei hat er schon, mit geübtem Griff, ein dickes Notizbuch hervorgeholt. «Ich hoffe, Sie werden nächstens im Esplanade bei mir speisen», ruft er noch mit seinem jammernden und dabei sirenenhaft lockenden Stimmchen. - Monsieur Larue hat in seinem altjüngferlich spitzen, von unzähligen Fältchen durchzogenen Gesicht merkwürdig scharfe und durchdringende Augen; aus ihnen leuchtet, beinah ekstatisch, eine ungeheure Neugierde; sie funkeln von jener Sucht nach Menschen, Namen und Adressen, die der eigentlich herrschende Impuls und der einzige echte Inhalt seines Lebens ist. Monsieur Larue würde sterben, traurig eingehen wie ein Fischlein, dem man das Wasser entzieht, an dem Tage, der ihn keine neuen Bekanntschaften machen ließe. Jedoch wird diese Situation, die so beklagenswert wäre, dem kleinen Menschensammler erspart bleiben, mindestens solange er sich in Berlin aufhält. Denn Ausländer haben es leicht in Berliner Salons: ein Gast, der mit schlechtem Akzent deutsch spricht, gereicht einer Gesellschaft fast ebenso zur Ehre wie ein Boxer, eine Gräfin oder ein Filmschauspieler - und nun gar noch ein Ausländer, der Geld hat, interessante Diners im Hotel ksplanade arrangiert, mehreren Königen vorgestellt ist und sogar den Prince of Wales' kennt. Keine Tür bleibt verschlossen vor Monsieur Larue, sogar der ehrwürdige alte Herr Reichspräsident hat ihn empfangen. Er genießt den Umgang der reaktionärsten und exklusivsten Familien von Potsdam; andererseits sieht man ihn in Gesellschaft linksradikaler junger Leute, die er als «nres jeunes camarades communistes»2 in den Häusern der Bankdirektoren einzuführen liebt.

«Gestern habe ich Sie im Wintergarten bewundert», sagt Pierre Larue, nachdem er sich Höfgens Telefonnummer notiert hat. Und er wiederholt scherzhaft, aber klagenden Tones, den populären Refrain: «Es ist doch nicht zu schildern…» Danach hat er ein kleines Lachen, das klingt wie das Rascheln von Herbstwind in trockenem Laub. «Hahaha», lacht Monsieur Larue; reibt die bleichen Knochenhändchen über der Brust gegeneinander und steckt sein Gesicht tief in den dicken schwarzen Wollschal, den er, trotz der warmen Temperatur in diesen Räumen, über dem Smoking um den Hals geschlungen trägt.

Es ist doch nicht zu schildern - das hat die Welt noch nicht gesehen - das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder! In Deutschland steht alles glänzend, besser könnte es gar nicht stehen, man darf sorglos und guter Dinge sein. Gibt es eine Krise? Gibt es Arbeitslose, gibt es politische Kämpfe? Gibt es eine Republik, der es nicht nur an Selbstachtung, sondern sogar am Selbsterhaltungstrieb fehlt und die sich vor der ganzen Welt verhöhnen läßt von ihrem frechsten und rohesten Feinde? Dieser wird ausgehalten und begünstigt von den reichen Leuten, die nur eine Angst kennen: Eine Regierung könnte es sich einfallen lassen, ihnen etwas Geld wegzunehmen. Gibt es Saalschlachten in Berlin und nächtliche Straßenkämpfe? Gibt es schon den Bürgerkrieg, der beinah täglich seine Opfer fordert? Wird schon Arbeitern von Burschen in brauner Uniform das Gesicht zertreten und der Kehlkopf durchgeschnitten, der große Volksverführer aber - Chef der «auftauwilligen Elemente», Liebling der Schwerindustriellen und der Generale - publiziert schamlos sein Glückwunschtelegramm an die viehischen Mörder? Schwört derselbe Hetzer, der die Nacht der langen Messer fordert und öffentlich gelobt, es würden Köpfe rollen, er wolle «nur auf legalem Wege» zur Macht kommen? Darf er es sich herausnehmen., darf er es wagen, täglich soviel Drohungen und Infamien in die Welt zu schreien mit seiner bellenden Stimme?

Es ist doch nicht zu schildern! Ministerien stürzen, werden neu gebildet und sind nicht klüger als vorher. Soll man denn ganz verwildern? Im Palais des ehrwürdigen Generalfeldmarschalls intrigieren die Großgrundbesitzer gegen eine zitternde Republik. Die Demokraten schwören, der Feind steht links. Polizeipräsidenten, die sich sozialistisch nennen, lassen auf Arbeiter schießen. Die bellende Stimme aber darf täglich ungestört dem «System» Strafgericht und blutigen Untergang verheißen.

Das hat die Welt noch nicht gesehen! Sieht es denn nicht der hochbezahlte Spaßmacher eben jenes Systems, gegen das die infame Kettenhundstimme ihre Verwünschungen schleudert? Fällt es denn dem Schauspieler Höfgen nicht auf, daß die Veranstaltungen, deren fragwürdiger Held er ist, im Grund makabren Charakters sind, und daß der Tanz, zu dessen beliebtesten Anführern er gehört, die grausige Tendenz zum Abgrund hat? Hendrik Höfgen - Spezialist für elegante Schurken, Mörder im Frack, historische Intriganten - sieht nichts, hört nichts, merkt nichts. Er lebt gar nicht in der Stadt Berlin - so wenig, wie er jemals in der Stadt Hamburg gelebt hat -; er kennt nichts als Bühnen, Filmateliers, Garderoben, ein paar Nachtlokale, ein paar Festsäle und versnobte Salons. Spürt er, daß die Jahreszeiten wechseln? Wird es ihm bewußt, daß die Jahre vergehen - die letzten Jahre dieser mit soviel Hoffnung begrüßten, nun s° jammervoll verscheidenden Weimarer Republik: die Jahre 1930, 1931, 1932? Der Schauspieler Höfgen lebt von einer Premiere zur nächsten, von einem Film zum andern; er zählt «Aufnahmetage», «Probentage», aber er weiß kaum davon, daß der Schnee schmilzt, daß die Bäume und Gebüsche Knospen tragen oder Blätter, daß ein Wind die Düfte mit sich trägt, daß es Blumen gibt und Erde und fließendes Wasser. Eingesperrt in seinen Ehrgeiz wie in ein Gefängnis; unersättlich und unermüdlich; immer im Zustand höchster hysterischer Spannung, genießt und erleidet der Schauspieler Höfgen ein Schicksal, das ihm außerordentlich scheint und das doch nichts ist als die vulgäre, schillernde Arabeske am Rande eines todgeweihten, dem Geist entfremdeten, der Katastrophe entgegentreibenden Betriebes.

Es ist doch nicht zu schildern - es ist doch überhaupt nicht aufzuzählen, was er alles treibt, durch wieviel verschiedenartige Einfalle und Überraschungen er das öffentliche Interesse auf sich lenkt. - Den Vertrag mit den Bühnen des Professors hat er, zum fassungslosen Kummer des Fräulein Bernhard, gelöst, um frei zu sein für all die verlockenden Chancen, die sich ihm bieten. Nun spielt und inszeniert er einmal hier, einmal dort - wenn die einträgliche Filmtätigkeit ihm Zeit für die Bühne übrigläßt. In der großen Operette singt er Albernheiten auf so klug pointierte Manier, daß die Dummen sie für geistreich halten; in klassischen Dramen bewegt er sich mit so eleganter Nachlässigkeit, daß die Werke Schillers oder Shakespeares wie amüsante Konversationsstücke wirken; aus mondänen Farcen, die in Budapest oder Paris nach billigen Rezepten hergestellt sind, zaubert er raffinierte kleine Effekte, die des Machwerks Nichtigkeit vergessen lassen. - Dieser Höfgen kann alles! Seine brillante, vor keiner Zumutung versagende Wandlungsfähigkeit scheint genialen Einschlag zu haben. Wollte man jede seiner Leistungen einzeln betrachten, so käme man wohl zu dem Resultat, daß keine von ihnen allerersten Ranges ist: als Regisseur wird Höfgen niemals den «Professor» erreichen; als Schauspieler kann er es mit seiner großen Konkurrentin Dora Martin nicht aufnehmen, die der erste Stern an einem Himmel bleibt, über den er sich als ein schillernder Komet bewegt. Es ist die Vielfalt seiner Leistungen, die seinen Ruhm ausmacht und immer wieder erneuert. Da gibt es nur eine Stimme im Publikum: Fabelhaft, was er alles fertigbringt! Und in gewählteren Ausdrücken wiederholt die Presse die gleiche Meinung.

Er ist der Liebling der links-bürgerlichen und linken Blätter - wie er der Favorit der großen jüdischen Salons ist und bleibt. Gerade der Umstand, daß er kein Jude ist, läßt ihn diesen Kreisen besonders schätzenswert erscheinen; denn die jüdische Berliner Elite «trägt blond». - Die Zeitungen der radikalen Rechten, die täglich die Erneuerung deutscher Kultur durch die Rückkehr zum volkhaft Echten, zu Blut und Boden zornig propagieren, verhalten sich mißtrauisch und ablehnend gegen den Schauspieler Höfgen; er gilt ihnen als «Kulturbolschewist». Daß die jüdischen Feuilletonredakteure ihn schätzen, macht ihn ebenso verdächtig wie seine Vorliebe für französische Stücke und die exzentrisch-volksfremde Mondänität seiner Erscheinung. Außerdem verfolgen ihn die nationalistischen Dramatiker mit ihrem Haß, \veil ihre Stücke von ihm abgelehnt werden. Cäsar von Muck zum Beispiel, repräsentativer Dichter der aufstrebenden nationalsozialistischen Bewegung, in dessen Dramen erwürgte Juden und erschossene Franzosen die Pointen des Dialogs ersetzen - Cäsar von Muck, höchste Kapazität für kulturelle Fragen im Lager der dezidierten Kulturfeindlichkeit, schreibt über die Neuinszenierung einer Wagner-Oper, mit der Höfgen eben Sensation gemacht hat: Dies sei übelste Asphaltkunst, zersetzendes Experiment, durchaus jüdisch beeinflußt und freche Schändung deutschen Kulturgutes. «Der Zynismus des Herrn Höfgen kennt keine Grenzen», schreibt Cäsar von Muck; «Um dem Kurfürstendammpublikum eine neue Unterhaltung zu bieten, wagt er sich an den ehrwürdigsten, größten der deutschen Meister - an Richard Wagner.» - Recht herzlich amüsiert sich Hendrik, gemeinsam mit ein paar radikalen Literaten, über diese Redensarten des Blut-und-Boden-Skribenten.

Höfgen hat seine Beziehungen zu kommunistischen oder halbkommunistischen Kreisen keineswegs aufgegeben; zuweilen bewirtet er in seiner Wohnung am Reichskanzlerplatz junge Schriftsteller oder Parteifunktionäre, denen er in immer neuen und immer effektvollen Redewendungen seinen unversöhnlichen Haß gegen den Kapitalismus und seine glühende Hoffnung auf die Weltrevolution versichert. Umgang mit den Revolutionären pflegt er nicht nur, weil er meint, diese könnten doch vielleicht einmal an die Macht kommen, und dann würden alle Diners sich reichlich bezahlt machen; sondern auch zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Man ist anspruchsvoll und möchte doch mehr sein als nur ein gut verdienender Komödiant; man will nicht ganz aufgehen in einem Betrieb, den man im Grunde zu verachten behauptet, während man doch ganz in seinem Banne steht. Hendrik schmeichelt sich, daß sein Leben Inhalte und Probleme habe, deren sich die Kollegen kaum rühmen können. Dora Martin zum Beispiel, diese großartige Dora Martin, die immer noch um eine entscheidende Nuance berühmter ist als er selbst: Was mag schon vorgehen in ihrem Innern? Sie schläft ein mit dem Gedanken an ihre Gagen und erwacht mit Hoffnungen auf neue Filmverträge: So sagt sich Hendrik, der von Dora Martin nichts weiß. In seinem Inneren aber begeben sich die originellsten Dinge.

Die Bindung an Juliette, das grausame Naturkind - sie ist mehr als nur sexuelle Angelegenheit, sondern kompliziert und geheimnisvoll -: Hendrik legt Wert auf diesen interessanten Umstand. Manchmal glaubt er auch, daß seine Beziehung zu Barbara - Barbara, die eisernen guten Engel genannt hat - durchaus nicht abgeschlossen und zu Ende sei, sondern noch Wunder, Rätsel und Überraschungen bringen könne. Wenn er vor sich selber die bedeutenden Faktoren seines Innenlebens Revue passieren läßt1, vergißt er niemals, Barbara - zu der er in Wahrheit den Kontakt mehr und mehr verliert - mit zu nennen.

Die wichtigste Nummer auf dieser Liste seiner außerordentlichen inneren Vorgänge bleibt jedoch die revolutionäre Gesinnung. Auf diese Rarität und Kostbarkeit, die ihn so vorteilhaft von den übrigen «Prominenten» des Berliner Theaterlebens unterscheidet, möchte er um keinen Preis verzichten. Deshalb pflegt er, eifrig und geschickt, die Freundschaft mit Otto Ulrichs, der seine Stellung am Hamburger Künstlertheater aufgegeben hat und im Norden Berlins ein politisches Kabarett leitet. «Jetzt müssen all unsere Kräfte der politischen Arbeit zur Verfügung gestellt werden», erklärt Otto Ulrichs. «Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Der Tag der Entscheidung ist nahe.»

In seinem Kabarett, welches «Der Sturmvogel» heißt und durch die Schärfe wie durch die Qualität seiner Darbietungen Aufsehen nicht nur in den Proletariervierteln erregt, produzieren sich junge Arbeiter neben berühmten Schriftstellern und Schauspielern.

Hendrik glaubt es sich leisten zu können, in eigener Person auf der engen Bühne des «Sturmvogels» zu erscheinen. Anläßlich einer Feier, die Ulrichs zu Ehren eines Besuches von russischen Autoren veranstaltet, wird dem Publikum als besondere Attraktion der berühmte Höfgen vom Staatstheater angekündigt. Ehe Ulrichs aber ausreden kann, springt Hendrik, der seinen schlichtesten grauen Anzug angelegt hat und übrigens nicht im eigenen Mercedeswagen, sondern im Taxi vorgefahren ist, elastisch hinter der Kulisse hervor..Nichts von Berühmtheit, nichts von Staatstheater!» ruft er mit der metallisch leuchtenden Stimme und reckt mit schöner Geste die Arme. «Ich bin euer Genösse Höfgen!» Ihm antwortet Jubel. Arn nächsten Tag erklärt der streng marxistische Kritiker Doktor Radig im «Neuen Börsenblatt», der Schauspieler Höfgen habe sich die Herzen der Berliner Arbeiterschaft mit einem Schlag erobert.

So bewegende Erlebnisse in den proletarischen Außenbezirken beschwichtigen ein Gewissen, das sonst dagegen rebellieren könnte, daß man im Westen nur mondäne Albernheiten inszeniert und spielt. Man gehört doch zur Avantgarde: nicht nur das eigene Bewußtsein sagte es einem; vielmehr bestätigen es auch die Literaten, die es wissen müssen - zum Beispiel Radig -, und die Angriffe, mit denen so lächerliche Figuren wie Cäsar von Muck einen bedenken. Man gehört doch zur geistigen Vorhut! Die Neuinszenierungen der Wagner-Opern sind kühne Experimente - sehr verständlich, daß sie die ewig Rückständigen in Harnisch bringen. Auch von einem literarischen «Studio», einer Serie modernster Kammerspiel-Aufführungen ist wieder die Rede; zwar realisiert Hendrik den schönen Plan ebensowenig, wie er das Revolutionäre Theater in Hamburg realisiert hat; aber er spricht doch häufig und verlockend von ihm, so daß viele junge Schauspieler und Dichter sich jahrelang auf das Unternehmen herzlich freuen dürfen. - Man gehört zur revolutionären Elite, und man läßt es sich etwas kosten: Durch Vermittlung des Otto Ulrichs leitet Höfgen Summen, die nicht erheblich sind, aber doch freudig akzeptiert werden, an gewisse Organisationen der Kommunistischen Partei.

Wer wagt zu behaupten, er lebe ahnungslos und eitel in den lag hinein? Seine intensive Anteilnahme an den großen Zielen und Problemen der Zeit ist bewiesen. Sehr mit Recht schaut Hendrik, seiner tadellos radikalen Gesinnung sich froh bewußt, verächtlich auf so unentschiedene Naturen, wie etwa Barbara eine ist - Barbara, die im Hause des Geheimrats oder auf dem Gute der Generalin ein müßiges und egoistisches Leben führt, eingesponnen in ihre abseitigen intellektuellen Spiele und Sorgen.

Was weiß Hendrik von den Sorgen oder Spielen Barbaras? Was weiß Hendrik überhaupt von Menschen? Ist er, was ihre Schicksale angeht, nicht ebenso ahnungslos wie in den Dingen öffentlichen Lebens? Hat er sich mit denen, die er so gern das «Zentrum seines Lebens» nennt, gründlicher und liebevoller beschäftigt als etwa mit dem kleinen Bock, der nun wirklich sein Diener ist, oder mit Monsieur Pierre Lame, der im Hotel Esplanade feine Abendessen für «mes jeunes camarades communistes» veranstaltet?

Kümmert Hendrik sich etwa um das innere Leben seiner Freundin Juliette? Er envartet von ihr, daß sie immer grausam und guter Dinge sei. Sie bekommt reichlich Geld und darf die Peitsche schwingen: hat sie nicht allen Anlaß zur Zufriedenheit? Niemals denkt Höfgen darüber nach, was die dunklen Blicke meinen könnten, die das schwarze Mädchen jetzt so oft auf ihn richtet. Hat das fremde Kind vielleicht Heimweh nach den Küsten, aus deren schönerer Landschaft ein launisches Schicksal sie in eine fragwürdige Zivilisation verschlug? Beginnt sie vielleicht, in ihrem rätselvollen Herzen den fahlen, leidenssüchtigen Freund zu lieben, oder fängt sie an, ihn zu hassen? Hendrik weiß nichts davon. Für ihn ist Prinzessin Tebab die verführerische Barbarin, die schöne Wilde, an deren ungebrochener Kraft er sich erfrischt, indem er sich vor ihr erniedrigt.

Er ahnt von Juliette so wenig, wie er von Barbara weiß oder von seiner Mutter Bella. Nur flüchtig liest er die Briefe der armen Mama, der ihr Gatte Köbes und ihre Tochter Josy - zwei muntere und bedenklich leichtsinn-nige Geschöpfe - viel Sorgen bereiten. Vater Köbes ist geschäftlich nun total ruiniert: «Die Krise!» jammert brieflich Frau Bella. «Dein guter Vater gehört zu den zahlreichen Opfern der Krise.» All sein Hab und Gut wäre verpfändet worden, und bittere Schande hätte die Familie heimgesucht, wäre nicht Hendrik gewesen, der in allerletzter Stunde eine größere Summe telegrafisch überwiesen hat. Schwester Josy verlobt sich mindestens einmal jedes halbe Jahr; Frau Bella atmet erleichtert auf, wenn die Verbindungen, die stets irgendwie unglückseligen Charakters sind, wieder gelöst werden.

Einmal erscheint Nicoletta in Berlin; aber sie reist bald wieder ab, zurückgerufen von einem drohenden und klagenden Telegramm ihres Gatten Marder. «Ich bin sehr glücklich mit ihm», erklärt Nicoletta und bemüht sich, die schönen Augen funkeln zu lassen wie einst. Aber dann stellt sich heraus, daß Marder seit zwei Jahren in einem Sanatorium lebt; Nicoletta hat ihre Zeit damit verbracht, ihn zu pflegen - sie lächelt sanft und innig, wenn sie von der kindlichen Dankbarkeit spricht, die der geniale Mann für sie hat. «Nun geht es ihm schon viel besser», sagt sie hoffnungsvoll. «Wir können bald in den Süden ziehen, er braucht Sonne…»

Das «Lebenszentrum», mit dem Hendrik prahlt: Nicoletta, die Liebende, besitzt es. Auch andere dürfen es ihr eigen nennen; so Ulrichs, der, kämpferisch und geduldig, auf «den Tag» wartet. «Er wird kommen!» verspricht der Gläubige sich und seinen gläubigen Freunden. - «Er wird kommen, der Tag!» verheißt auch dem jungen Hans Miklas die innere Stimme freudiger Gewißheit. Er meint den schönen Tag, da «der Führer» endlich an der Herrschaft sein wird: seine Feinde aber sind dann alle vernichtet. Vernichtet ist dann vor allem der ärgste und abscheulichste Feind - Höfgen. Der Sturz des Verhaßten, dessen Laufbahn Miklas aus der Ferne mit machtlosem Ingrimm verfolgt, soll das beglückendste Ereignis des «großen Tages» sein und ein Teil seines Sinnes.

Hans Miklas ist - wie Otto Ulrichs, sein politischer Feind - Schauspieler nur noch im Dienste der «großen Sache», des umfassenden Ziels. Er arbeitet längst nicht mehr an Theatern, sondern nur noch mit den Jugendorganisationen der nationalsozialistischen Bewegung; seine Tätigkeit ist es, für Freilichtbühnen und Versamm-hmgssäle Fest- und Werbespiele mit dem «Jungvolk» seines «Führers» einzustudieren: solche Beschäftigung befriedigt sein unwissendes und enthusiastisches Herz. Im Sprechchor brüllen die Burschen, daß sie siegreich die Franzosen schlagen und ihrem Führer stets die Treue | wahren wollen: Dies haben sie eingeübt unter der Regie des jungen Miklas, der jetzt viel gesünder und frischer aussieht als in der Hamburger Zeit - die schwarzen Löcher in seinen Wangen sind fast verschwunden.

Der Tag ist nahe: schwärmerischer Gedanke, der Hans Miklas und Otto Ulrichs beherrscht, ausfüllt, begeistert wie Millionen anderer junger Menschen. Aul welchen Tag aber wartet Hendrik Höfgen? Er wartet immer nur auf die neue Rolle.

Seine große Rolle in der Saison 1932/33 wird der Mephisto sein: Hendrik spielt ihn in der neuen «Faust»-Inszenierung, die das Staatstheater zu Goethes 100. Todestag herausbringt.

Mephistopheles, «des Chaos wunderlicher Sohn»: große Rolle des Schauspielers Höfgen - für keine andere hat er jemals so viel Eifer aufgebracht. Der Mephisto soll sein Meisterstück werden. Schon die Maske ist sensationell: Hendrik macht aus dem Höllenfürsten den «Schalk» - eben jenen Schalk, als den der Herr der Himmel in Seiner unermeßlichen Güte den Bösen begreift und ab und zu Seines Umgangs würdigt, da er Ihm am wenigsten zur Last ist von allen Geistern, die verneinen. Er spielt ihn als den tragischen Clown, als den diabolischen Pierrot. Der kahlgeschorene Schädel ist weiß gepudert wie das Gesicht; die Augenbrauen sind grotesk in die Höhe gezogen, der blutrote Mund zu einem starren Lächeln verlängert. Die breite Partie zwischen den Augen und den künstlich erhöhten Brauen schillert in hundert verschiedenen Farben; hier haben Fachleute die Gelegenheit, eine kosmetische Leistung von außergewöhnlichem Rang zu bewundern. Alle Töne des Regenbogens vermischen sich auf den Augenlidern Mephistos und auf den Bögen unter seinen Brauen: das Schwarz spielt ins Rot, das Rot ins Orangefarbene, ins Violette und Blaue; silberne Punkte leuchten dazwischen, ein wenig Gold ist klug und sinnig verteilt.

Was für eine bewegte Farbenlandschaft über den verlockenden Edelsteinaugen dieses Satans!

Mit der Anmut des Tänzers gleitet Hendrik-Mephisto im eng anliegenden Kostüm aus schwarzer Seide über die Szene; mit einer spielerischen Akkuratesse1, die verwirrt und verführt, kommen die verfänglichen Weisheiten, die dialektischen Scherze von seinem blutig gefärbten Munde, der immer lächelt. Wer zweifelt daran, daß der schaurig elegante Spaßmacher sich in einen Pudel zu verwandeln vermag, Wein aus dem Holz des Tisches zaubern kann und auf seinem gespreiteten Mantel durch die Lüfte fährt, wenn er irgend Lust dazu spürt? Diesem Mephisto wäre das Äußerste zuzutrauen. Alle im Saale fühlen: Er ist stark - stärker selbst als Gott der Herr, den er von Zeit zu Zeit gerne sieht und mit einer gewissen verächtlichen Courtoisie2 behandelt. Hat er nicht Grund genug, ein wenig auf Ihn herabzusehen? Er ist viel witziger, viel wissender, jedenfalls ist er sehr viel unglücklicher als Jener - und vielleicht ist er stärker eben darum: weil er unglücklicher ist. Der riesenhafte Optimismus des erhabenen Alten, der von den Engeln Sich Selbst und die Schönheit Seiner Schöpfung im deklamatorischen «Wettgesang» lobpreisen läßt - die euphorische Gutmütigkeit des Allvaters wirkt beinahe naiv und ehrwürdig-senil neben der furchtbaren Melancholie, der eisigen Traurigkeit, in welche der satanisch gewordene Lieblingsengel, der Verfluchte und zum Abgrund Gefahrene zuweilen, zwischen all seinen fragwürdigen Munterkeiten, plötzlich verfällt. Welch ein Schauer geht durch das Auditorium des Berliner Staatstheaters, da Höfgen-Mephistopheles mit seinen grellen Lippen, die Worte formt:

«…Denn alles, was entsteht,

Ist wert, daß es zugrunde geht;

Drum hesser war's, daß nichts entstünde.»

Nun bewegt er sich nicht mehr, der gar zu gewandte Harlekin. Nun steht er regungslos. Ist er vor Jammer erstarrt? Unter der bunten Landschaft aus Schminke haben seine Augen jetzt den tiefen Blick der Verzweiflung. Mögen die Engel frohlocken um Gottes Thron - sie wisssen nichts von den Menschen. Der 'Teufel weiß von den Menschen, er ist eingeweiht in ihre argen Geheimnisse, ach, und der Schmerz über sie lahmt seine Glieder und läßt seine Miene versteinern zur Maske der Trostlosigkeit -

Nach der «Faust»-Premiere, die mit Ovationen endet, verschließt sich der Schauspieler Höfgen in seine Garderobe: er will niemanden sehen. Eine Besucherin aber wagt der kleine Bock nicht abzuweisen. Es kommt selten vor, daß Dora Martin sich Vorstellungen ansieht, in denen sie selbst nicht beschäftigt ist. Ihre Anwesenheit heute abend hat Aufsehen gemacht. Der kleine Bock verneigt sich tief vor ihr und öffnet die Tür zum Heiligtum: zu Hendrik Höfgens Garberobe.

Beide sehen überanstrengt aus, sowohl Höfgen als auch seine Kollegin und Konkurrentin: Er ist mitgenommen und erschöpft von den Ekstasen des Spiels, die hinter ihm liegen; sie von Sorgen, die ihm unbekannt sind.

«Es war gut», sagt die Martin leise und sachlich; sie hat sich sofort auf einen Stuhl gesetzt, ehe er ihn ihr noch anbieten konnte. Auf dem schmalen Sessel kauert sie sich zusammen, ihr Gesicht, mit der hohen Stirn, den weiten, kindlich sinnenden Augen, steckt tief im Kragen des braunen Pelzes. «Es war gut, Hendrik. Ich wußte, daß Sie das können. Der Mephisto ist Ihre große Rolle.»

Höfgen, der am Schminktisch sitzend ihr den Rücken wendet, lächelt ihr durch den Spiegel zu. «Sie sagen das nicht ohne Bosheit, Dora Martin.»

Sie erwidert, immer noch mit dem ruhigen, sachlichen Ton: «Sie irren sich, Hendrik. Ich nehme es niemandem übel, daß er ist, wie er ist.»

Nun wendet Hendrik ihr sein Gesicht zu, von dem er die Teufelsbrauen und die Farbenpracht auf den Lidern entfernt hat. «Danke, daß Sie heute abend gekommen sind», sagt er weich und läßt die Augen schimmern.

Aber sie winkt ab, fast verächtlich, als wolle sie sagen: Lassen wir doch nun diese Scherze! - Er scheint ihre Geste zu übersehen und erkundigt sich zärtlich: «Was sind Ihre nächsten Pläne, Dora Martin?»

«Ich halse englisch gelernt», antwortet sie.

Er macht ein erstauntes Gesicht. «Englisch? Wieso das? Warum grade englisch?»

«Weil ich in Amerika Theater spielen werde», sagt Dora Martin, ohne den ruhigen, prüfenden Blick von ihm zu wenden.

Da er immer noch den Verständnislosen spielt und wissen will: Wieso? und: Warum gerade in Amerika? - spricht sie mit einer gewissen Ungeduld: «Weil hier Schluß ist, mein Lieber. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?»

Da ereifert er sich. «Aber was reden Sie, Dora Martin! Für Sie wird sich doch nichts verändern! Ihre Position ist doch unerschütterlich! Sie werden doch geliebt - wirklich geliebt von so vielen Tausenden! Keiner von uns - Sie wissen es doch -, keiner von uns empfängt so viel liebe wie Sie!»

Hier wird ihr Lächeln so traurig und höhnisch, daß er verstummt. «Die Liebe von vielen Tausenden!» macht sie, beinah tonlos vor Verachtung. Dann zuckt sie die Achseln. Und, nach einem Schweigen, an Hendrik vorbei, ins Leere: «Man wird andere Lieblinge finden.»

Er schwatzt aufgeregt weiter. «Aber die Theater machen doch Geschäfte! Das Theater wird die Leute immer interessieren, was sonst auch in Deutschland geschieht.»

«Was sonst auch in Deutschland geschieht», wiederholt Dora Martin leise und, steht plötzlich auf. «Ja, dann wünsche ich Ihnen also alles Gute, Hendrik», sagt sie schnell. «Man wird sich lange nicht sehen. Ich reise schon dieser Tage.»

«Schon dieser Tage?» erkundigt er sich verwirrt; und sie erwidert, den dunklen Blick in die Ferne gerichtet:

«Es hat keinen Sinn, noch zu warten. Ich habe hier nichts mehr zu suchen.» Nach einer Pause fügt sie hinzu: «Aber Ihnen wird es schon gut gehen, Hendrik Höfgen - was sonst auch in Deutschland geschieht.»

Ihr Gesicht unter der rötlichen Fülle des Haares - ein etwas zu großes Gesicht für. den schmalen und kleinen Körper - hat Züge von Stolz und Gram, während sie langsam auf die Türe zugeht und Hendrik Höfgens Garderobe verläßt.

Wehe, der Himmel über diesem Lande ist finster geworden. Gott hat sein Antlitz weggewendet von diesem Lande, ein Strom von Blut und Tränen ergießt sich durch die Straßen aller seiner Städte.

Wehe, dieses Land ist beschmutzt, und niemand weiß, wann es wieder rein werden darf - durch welche Buße und durch welch gewaltigen Beitrag zum Glück der Menschheit wird es sich entsühnen können von so riesiger Schande? Mit dem Blut und den Tränen spritzt der Dreck von allen Straßen aller seiner Städte. Was schön gewesen ist, wurde besudelt, was wahr gewesen ist, wurde niedergeschrien von der Lüge.

Die dreckige Luft maßt sich die Macht an in diesem Lande. Sie brüllt in den Versammlungssälen, aus den Lautsprechern, aus den Spalten der Zeitungen, von der Filmleinwand. Sie reißt das Maul auf, und aus ihrem Rachen kommt ein Gestank wie von Eiter und Pestilenz: der vertreibt viele Menschen aus diesem Lande, wenn sie aber gezwungen sind zu bleiben, dann ist das Land ein Gefängnis für sie geworden - ein Kerker, in dem es stinkt.

Der Schauspieler Hendrik Höfgen befand sich in Spanien, als, dank den Intrigen im Palais des ehrwürdigen Reichspräsidenten und Generalfeldmarschalls, jener mit der bellenden Stimme, den Hans Miklas und ihm eine große Anzahl unwissender und verzweifelter Menschen ihren «Führer» nannten, Reichskanzler wurde. Der Schauspieler Hendrik Höfgen spielte den eleganten Hochstapler in einem Detektivfilm, zu dem die Außenaufnahmen in der Nähe von Madrid gedreht wurden. Nach einem anstrengenden 'läge kam er abends müde ins Hotel zurück, kaufte sich beim Concierge Zeitungen, und erschrak. Wie - der großsprecherische Geselle, über den man sich so häufig lustig gemacht hatte im Kreise geistvoller und fortschrittlich gesinnter Genossen - er sollte nun plötzlich der mächtigste Mann im Staate sein?!,Das ist ja scheußlich', dachte der Schauspieler Höfgen..Eine scheußliche Überraschung! Und ich war fest davon überzeugt gewesen, diese Nazis brauchte man nicht ernst zu nehmen! So ein Reinfall!'

Er stand in seinem schönen, beigefarbenen Frühlingsanzug in der Halle des Hotel Ritz, wo ein internationales Publikum die unheilschwangeren deutschen Vorkommnisse und die Reaktion der Börse auf sie besprach. Dem armen Hendrik wurde es heiß und kalt, wenn er bedachte, was ihm nun bevorstehen mochte. Zahlreiche Personen, denen er immer nur Böses angetan, würden jetzt vielleicht die Möglichkeit haben, sich an ihm zu rächen.

Mit wankenden Knien betritt Hendrik den Lift. Eine Verabredung, die er für den Abend mit einigen Kollegen getroffen hatte, sagte er ab. Er ließ sich das Diner auf seinem Zimmer servieren. Nachdem er eine halbe Flasche Champagner getrunken hatte, wurde seine Stimmung etwas zuversichtlicher.

Man mußte kühl und gefaßt bleiben, sich vor Panikstimmungen hüten. Dieser sogenannte «Führer» war also Reichskanzler - schlimm genug. Immerhin war er noch nicht Diktator und würde es aller Wahrscheinlichkeit nach niemals werden.,Die Leute, die ihn an die Macht geholt haben, diese Deutschnationalen, werden schon dafür sorgen, daß er ihnen nicht gar zu sehr über den Kopf wächst', dachte Hendrik. Dann fielen auch die großen Oppositionsparteien ihm ein, die doch schließlich noch existierten. Die Sozialdemokraten und die Kommunisten würden Widerstand leisten - vielleicht bewaffneten Widerstand -: so beschloß Hendrik Höfgen in seinem Hotelzimmer und bei seiner halben Flasche Sekt, nicht ohne lustvolles Gruseln. Nein, bis zur nationalsozialistischen Diktatur war es noch weit! Vielleicht würde die Situation sogar überraschend schnell umschlagen: der Versuch, das deutsche Volk dem Faschismus auszuliefern, konnte enden mit der sozialistischen Revolution. Dergleichen war sehr wohl möglich, und dann würde sich herausstellen, daß der Schauspieler Höfgen ungemein schlau und weitblickend spekuliert hatte. - Angenommen aber sogar, die Nazis blieben an der Regierung: was hatte er, Höfgen, schließlich von ihnen zu fürchten? Er gehörte keiner Partei an, er war kein Jude. Vor allem dieser Umstand - daß er kein Jude war - erschien Hendrik mit einemmal ungeheuer tröstlich und bedeutungsvoll. Was für ein unverhoffter und bedeutender Vorteil, man hatte es früher gar nicht so recht bedacht! Er war kein Jude, also konnte ihm alles verziehen werden, selbst die Tatsache, daß er sich im Kabarett «Sturmvogel» als «Genösse» hatte feiern lassen. Er war ein blonder Rheinländer. Auch sein Vater Köbes war ein blonder Rheinländer gewesen, ehe die finanziellen Sorgen ihn grau werden ließen. Und seine Mutter Bella wie seine Schwester Josy waren einwandfrei blonde Rheinländerinnen.

«Ich bin ein blonder Rheinländer», trällerte Hendrik Höfgen, vom Sektgenuß wie vom Resultat seiner Überlegungen erheitert, und er ging guter Dinge zu Bett.

Schlechtes Wetter hinderte die deutsche Schauspielertruppe mehrere Tage lang, Aufnahmen im Freien zu machen; man war genötigt, bis zum Ende des Februar in Madrid zu bleiben. Die Nachrichten, die aus der Heimat kamen, waren widerspruchsvoll und erregend. Außer jedem Zweifel schien zu sein, daß Berlin sich in einem wahren Delirium der Begeisterung für den nationalsozialistischen Reichskanzler befand. Ganz anders standen die Dinge- wenn man den Berichten der Zeitungen und den privaten Informationen glauben durfte - in Süddeutschland und besonders in München. Man wollte wissen, daß die Lostrennung Bayerns vom Reich und die Ausrufung der Wittelsbacher-Monarchie zu erwarten sei. Vielleicht waren aber das nur hohle Gerüchte oder doch Übertreibungen tendenziöser Natur. Jedenfalls tat man besser daran, sich auf sie nicht gar zu fest zu verlassen und die Sympathie mit der neuen Macht demonstrativ zu betonen. So hielten es denn auch die deutschen Schauspieler, die in Madrid versammelt waren, um einen Detektivfilm zu drehen. Der jugendliche Liebhaber - ein schöner Mann mit einem langen, slawisch lautenden Namen - prahlte plötzlich damit, daß er schon seit Jahren Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei sei, was er bis dahin konsequent verschwiegen hatte; seine Partnerin, deren weiche, dunkle Augen und sanft gebogene Nase zu Zweifeln an ihrer germanischen Reinrassigkeit berechtigten, gab zu verstehen, daß sie mit einem hohen Funktionär derselben Partei so gut wie verlobt sei; den jüdischen Komiker aber sah man immer bedrückter werden.

Höfgen seinerseits hatte sich zu der einfachsten und wirkungsvollsten Taktik entschlossen: er hüllte sich in ein geheimnisvolles Schweigen. Niemand sollte ahnen, wieviel Sorgen er zu verbergen hatte. Denn die Mitteilungen, die er von Fräulein Bernhard und anderen Ergebenen aus Berlin erhielt, waren niederschmetternd. Rose schrieb, man müsse auf das Schlimmste gefaßt sein. Sie erging sich in finsteren Andeutungen über «schwarze Listen», die von den Nazis schon seit Jahren geführt wurden und auf denen weder Geheimrat Bruckner noch der Professor, noch Hendrik Höfgen fehlten. Der Professor befand sich in London und gedachte, vorläufig nicht nach Berlin zurückzukehren. Fräulein Bernhard legte ihrem Hendrik nahe, sich auch seinerseits zunächst fernzuhalten von der deutschen Hauptstadt - ihm lief es eiskalt über den Rücken, als er es las. Gerade noch war er einer der Feinsten gewesen, und nun sollte er plötzlich ein Verbannter sein! Es fiel ihm nicht leicht, vor den argwöhnischen Kollegen eine kühle Miene zu wahren und bei den Aufnahmen so Hott und «aasig» zu sein, wie man es von ihm erwartete.

Als die Truppe sich zur Heimreise anschickte und selbst der jüdische Komiker mit besorger Miene seine Koffer packte, behauptete Hendrik, wichtige Besprechungen in Filmangelegenheiten riefen ihn nach Paris. Sein Gedanke war: Ich muß Zeit gewinnen. Es dürfte kaum ratsam sein, sich gerade jetzt in Berlin zu zeigen. In einigen Wochen hat man sich wahrscheinlich beruhigt…

Hingegen standen die fulminanten1 Überraschungen erst bevor. Als Höfgen in Paris eintraf, war das erste, was er erfuhr, die Nachricht vom Brande des deutschen Reichstags. Hendrik, durch seine langjährige Tätigkeit als Schurkenspieler geübt im Erraten krimineller Zusammenhänge und nicht ohne natürlichen Instinkt für die niedrigen Kombinationen der Untenveit, begriff sofort, wer diese provokatorische Untat ersonnen und ausgeführt hatte: die ruchlose und dabei infantile Schlauheit der Nazis hatte sich ja eben an jenen Filmen und Theaterstücken geübt und entzündet, in denen Hendrik die Hauptrollen zu spielen pflegte. Höfgen konnte sich nicht verbergen, daß sich in den Schauer, den er über den rohen Trick dieser Brandstiftung empfand, ein anderes Gefühl mischte, welches Behagen und beinahe Wollust war. Die verderbte Phantasie von Abenteurern entschloß sich zu dem frechen, leicht durchschaubaren Betrug, der nur deshalb Erfolg haben konnte, weil in Deutschland selber niemand mehr wagen durfte, die Stimme gegen ihn zu erheben, und weil die übrige Welt, auf ihre eigene Ruhe mehr bedacht als auf die Sittlichkeit europäischen Lebens, nicht geneigt schien, sich in die unheimlichen Affären dieses tief verdächtigen Reiches zu mischen.

,Wie stark das Böse ist!' dachte der Schauspieler Höfgen unter ehrfürchtigen Schauern.,Was es sich alles leisten und ungestraft herausnehmen darf! - Es geht in der Welt wirklich zu wie in den Filmen und Stücken, deren Held ich so häufig gewesen hin.' Dies war für den Augenblick das Kühnste, was er zu denken wagte. Aher ahnungsweise und ohne es sich noch eingestehen zu wollen, empfand er?.um ersten Male einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem eigenen Wesen und jener anrüchigen, verderbten Sphäre, in der vulgäre Schurkenstreiche, wie diese Brandstiftung, ersonnen und ausgeführt wurden.

Zunächst freilich war Hendrik kaum geneigt, über die Psychologie der deutschen Missetäter und über das, was ihn etwa mit diesen Untenveit-Typen verbinden mochte, lange nachzugrübeln; er hatte Anlaß, sich über die nächste Zukunft ernste Sorgen zu machen. Nach dem Reichstagsbrand waren in Berlin mehrere Personen verhaftet worden, mit denen er auf vertrautem Fuße gestanden hatte, darunter auch Otto Ulrichs. Rose Bernhard hatte ihren Posten an den Kurfürstendamm-Bühnen verlassen und war überstürzt nach Wien abgereist. Von dort aus beschwor sie brieflich ihren Freund Höfgen, er solle unter keinen Umständen deutschen Boden betreten. «Dein Leben wäre gefährdet!» So alarmierend schrieb Rose aus dem Hotel Bristol in Wien.

Hendrik meinte, dies dürfe er für romantische Übertreibung halten. Trotzdem war er beunruhigt. Von Tag zu Tag verschob er seine Abreise. Unbeschäftigt und nervös schlenderte er durch die Pariser Straßen. Er kannte die Stadt nicht, war aber keineswegs in der Stimmung, sich jetzt an ihrem Zauber zu erfreuen oder ihn auch nur zu bemerken.

Das waren bittere Wochen, die bittersten vielleicht, die er jemals durchgemacht hatte. Er sah keinen Menschen. Zwar wußte er, daß einige seiner Bekannten in Paris eingetroffen waren, aber er wagte es nicht, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Was gab es zu sprechen zwischen ihm und jenen? Sie würden ihn enervieren mit pathetischen Ausbrüchen des Entsetzens über die deutschen Geschehnisse - die in der Tat immer toller, immer grauenerregender wurden. Gewiß hatten diese Leute schon alle Brücken abgebrochen zu einer Heimat, deren Tyrannen sie so unversöhnlich haßten. Sie waren schon Emigranten.,Bin auch ich einer?' - mußte Hendrik Höfgen sich angstvoll fragen. Aber alles in ihm wehrte sich dagegen, dies zuzugeben.

Andererseits begann in den vielen einsamen Stunden, die er in seinem Hotelzimmer, auf den Brücken, Straßen, in den Cafés der Stadt Paris verbrachte, ein dunkler Trotz in ihm zu wachsen - ein guter Trotz, das beste Gefühl, das er jemals aufgebracht hatte.,Habe ich es nötig, das Mordgesinclel um Verzeihung anzubetteln?' dachte er dann.,Bin ich denn auf sie angewiesen? Hat mein Name nicht schon internationalen Klang? Ich könnte mich überall durchbringen - es würde wohl nicht ganz leicht sein, aber es müßte gehen. Welche Erleichterung, ja, welche Erlösung würde es bedeuten: stolz und freiwillig sich zurückzuziehen von einem Lande, wo die Luft verpestet ist; mit lauter Stimme die Solidarität zu erklären mit jenen, die kämpfen wollen gegen das blutbefleckte Regime! Wie rein würde ich mich fühlen dürfen, könnte ich mich durchringen zu solchem Entschluß! Was für einen neuen Sinn, welch neue Würde bekäme mein Leben!'

Mit diesen Stimmungen, die sehr heftig und auf eine düstere Art genußreich waren, aber nie lange standhielten, stellte sich regelmäßig das Bedürfnis ein, Barbara wiederzusehen und lange mit ihr zu sprechen - Barbara, die er seinen guten Engel genannt hatte: Wie dringend brauchte er sie gerade jetzt! Aber er war seit Monaten ohne Nachricht von ihr, er wußte gar nicht, wo sie sich befand..Wahrscheinlich sitzt sie auf dem Gut der Generalin und kümmert sich um nichts!' dachte er bitter.

,Ich habe es ihr ja vorausgesagt, sie werde noch dem faschistischen Terror interessante Seiten abgewinnen. So mußte es kommen: Ich bin der Märtyrer, ich irre durch die Straßen dieser fremden Stadt; sie aller plaudert vielleicht gerade mit einem von diesen Mördern und Folterknechten, wie sie mit Hans Miklas zu plaudern pflegte…' Da seine Einsamkeit anfing, ihm unerträglich zu werden, spielte er mit dem Gedanken, Prinzessin Tebab aus Berlin nach Paris kommen zu lassen. Welche Erfrischung und Kräftigung würde es sein, ihr grollendes Lachen wieder zu hören, ihre starke Hand, deren Haut sich rauh anfühlte wie die Rinde eines Baumes, wieder zu berühren! Deutschland den Rücken kehren und ein neues, wildes Leben mit Prinzessin Tebab beginnen: ach, wie schön und richtig wäre dies! Konnte es denn nicht sein? War es nicht im Bereich des Möglichen? Man brauchte nur nach Berlin zu telegrafieren, und am nächsten Tage würde die Schwarze Venus eintreffen, mit ihren grünen Schaftstiefeln und der roten, geflochtenen Peitsche im Koffer. Hendrik hatte süße und rebellische Träume, in deren Mittelpunkt Prinzessin Tebab stand. In krassen und erregenden Farben malte er sich das Leben aus, das er gemeinsam mit ihr führen würde. Man könnte damit beginnen, als Tanzpaar in Paris, London oder New York sein Brot zu verdienen: Hendrik und Juliette, die zwei besten Step-Tänzer der Welt. Beim Tanzen jedoch würde es wahrscheinlich nicht bleiben. Hendrik erwog kühnere Möglichkeiten. Aus dem Tanzpaar könnte ein Hochstaplerpaar werden - wie lustig würde es sein, die Rolle des mondänen Kriminellen, die man so oft in Filmen oder Theaterstücken verkörpert hatte, auch einmal in der Wirklichkeit zu spielen, mit allen Gefahren, allen Konsequenzen! Seite an Seite mit dieser herrlichen Wilden, eine verhaßte Gesellschaft, die nun im Faschismus ihr wahres, greuliches Gesicht enthüllte, zu betrügen und zu brüskieren - was für eine bezaubernde Vorstellung! Mehrere Tage lang war Hendrik ganz besessen von ihr. Vielleicht hätte er wirklich den ersten Schritt zu ihrer Realisierung getan und der dunklen Fürstentochter depeschiert - wenn nicht eine Nachricht bei ihm eingetroffen wäre, durch die seine Situation mit einem Schlage verändert wurde.

Der bedeutungsvolle Brief Avar von der kleinen Angelika Siebert - wer hätte gedacht, daß gerade sie, die von Hendrik stets grausam-hochmütig übersehen worden Avar, noch einmal eine so entscheidende Funktion in seinem Leben haben sollte!

Angelika berichtete in ihrem Brief, daß sie in Berlin sei, ein bißchen filmen dürfe, und daß es ihr leidlich gut gehe. Ein erfolgreicher junger Regisseur habe es sich in den Kopf gesetzt, sie zu heiraten. «Aber natürlich denke ich nicht daran», schrieb sie, und Hendrik mußte lächeln, als er es las: Ja, so war sie - spröde und ablehnend gegen Werbungen und Angebote, mochten sie noch so verlockend sein; eigensinnig versessen auf das Unerreichbare, und ihr Gefühl immer dorthin verschwendend, wo es übersehen und mißachtet wurde. - Bei den Aufnahmen zu einem großen Biedermeier*-Lustspiel hatte sie die Bekanntschaft der Aktrice Lindenthal gemacht - ebenjener Dame, die in Jena Erste Sentimentale, gleichzeitig aber die Freundin eines nationalsozialistischen Fliegeroffiziers geAvesen war. Hendrik, der die deutschen Ereignisse mit Gier und Haß in den Zeitungen verfolgte, Avußte, daß der Fliegeroffizier zu den Mächtigsten des neuen Reiches gehörte. Also Avar auch Lotte Lindenthal eine einflußreiche Person geworden. Bei ihr hatte sich Angelika Siebert mit Erfolg für Hendrik verwendet.

In schwärmerischen Tönen schilderte der Brief den überlegenen Charme, die Klugheit, Sanftmut und Würde der Lindenthal. Man durfte - nach Angelikas Meinung - sicher sein, daß diese herzensgute und liebliche Dame ihren mächtigen Freund in jeder Hinsicht auf das günstigste beeinflussen Averde. Sie tat es jetzt schon, besonders in allen Dingen, die das Theater betrafen. Der große Mann hatte ein huldvolles Interesse für Schauspiel, Operette und Oper. Seine Geliebten - oder die Damen, denen seine besondere Verehrung galt - waren meist Bühnenkünstlerinnen vom üppigen und sentimentalen Typ. Ihnen tat er gerne jeglichen Gefallen, solange es sich um nichts Ernsthaftes handelte, sondern nur um heitere Nebensächlichkeiten, wie etwa um die Karriere eines Schauspielers. - Lotte Lindenthal war von der kleinen Siebert darauf aufmerksam gemacht worden, daß Hendrik Höfgen in Paris sitze und sich nicht nach Deutschland traue. Hierüber hatte die Favoritin des Gewaltigen gutmütig lachen müssen. Was fürchtete dieser Mensch? - wollte sie wissen und machte naive Augen. Höfgen war doch kein Jude, vielmehr ein blonder Rheinländer, und einer Partei hatte er niemals angehört. Übrigens war er ein bedeutender Künstler - Fräulein Lindenthal hatte ihn als Mephisto gesehen. «Leute wie ihn können wir gar nicht entbehren», sagte die kostbare Frau, und sie versprach, noch am gleichen Tage mit ihrem mächtigen Freund über den Fall zu reden. «Manne1 ist doch durch und durch liberal», versicherte die Erste Sentimentale aus Jena, die es wissen mußte - und alle Anwesenden spürten einen ehrfürchtigen Schauer, weil sie sich dazu herbeiließ, von dem gefürchteten Riesen auf so traulich-intime Alt zu reden. «Er ist auch gar nicht nachträgerisch. Mag dieser Höfgen sich früher allerlei Extravaganzen und kleine Torheiten geleistet haben - für so was bringt Manne Verständnis auf, wenn es sich um einen Künstler von Qualitäten handelt. Hauptsache ist schließlich der gute Kern», sprach Lotte ein wenig sinnlos, aber mit herzhafter Betonung. Und sie tat, wie sie verheißen hatte. Als der Mächtige seine Abendvisite machte, bettelte sie: «Manne, sei lieb!» Sie habe sich's nun mal in den Kopf gesetzt: in dem Lustspiel, mit dem sie am Berliner Staatstheater debütieren solle, müsse Hendrik Höfgen ihr Partner sein. «Keiner eignet sich so für die Rolle wie er», schwatzte die Sentimentale.

«Schließlich liegt doch auch dir daran, daß ich einen netten Partner habe, wenn ich das erstemal hintrete vor die Berliner Volksgenossen!» Der General erkundigte sich, ob Höfgen ein Jude sei. Da er erfuhr, daß es sich, ganz im Gegenteil, um einen garantiert blonden Rheinländer handelte, versprach er, «diesem Burschen» solle nichts geschehen, was immer er auch früher angestellt haben mochte.

Vom freundlichen Verlauf ihrer Unterredung mit Manne machte die Lindenthal ihrer kleinen Kollegin, der Siebert, sofort Mitteilung, und diese wieder konnte es kaum erwarten, Hendrik von der schönen Wendung der Dinge zu unterrichten.

So war die trübe Leidenszeit in Paris beendet! Keine einsamen Spaziergänge mehr, den Boulevard St. Michel hinunter, am Seine-Ufer oder durch die Champs-Elysées, für deren Schönheit man so blind gewesen war. Hatte Hendrik Höfgen jemals kühnen und rebellischen Träumen in einem öden Hotelzimmer nachgehangen? Hatte er irgendwann das heftige und auf eine düstere Art genußvolle Bedürfnis gespürt, sich zu reinigen, sich zu befreien, aufzubrechen zu einem neuen und wilden Leben? Er wußte es schon nicht mehr; während er die Koffer packte, war es vergessen. Trällernd vor Vergnügen und sehr in Versuchung, jähe Luftsprünge zu machen, eilte er zum Reisebüro Thos. Cook and Son bei der Madeleine, um sich die Schlafwagenkarte für den Zug nach Berlin zu bestellen.

Beim Rückweg zu seinem Hotel, das in der Nähe des Boulevard Montparnasse lag, kam Hendrik am Café du Dôme vorüber. Das Wetter war milde, viele Leute saßen im Freien, die Tische und Stühle waren, unter einem leichten Zeltdach, bis weit auf das Trottoir hinausgerückt. Hendrik, dem vom Gehen warm geworden war, hatte Lust, sich hier für eine Viertelstunde niederzulassen und ein Glas Orangensaft zu trinken. Er blieb stehen; aber während er einen hochmütigen Blick über die schwatzende Menge gleiten ließ, überlegte er es sich anders. Sein Gedanke war:,Wer weiß, was für Leute man hier treffen könnte. Vielleicht sind alte Bekannte darunter, die ich lieber vermeide. Ist dieses Café du Dome nicht ein Treffpunkt der Emigranten? Nein, nein, es ist wohl besser, weiterzugehen.' Er war schon im Begriff, sich abzuwenden, als sein Blick an einer Gruppe von Personen hängenblieb, die schweigend an einem der runden kleinen Tische saß. Hendrik fuhr zusammen. Er erschrak so sehr, daß er einen Stich in der Magengegend empfand und sich einige Sekunden lang nicht bewegen konnte.

Zuerst erkannte er Frau von Herzfeld; dann erst bemerkte er, daß neben ihr Barbara saß. Barbara war in Paris, sie war die ganze Zeit in seiner Nähe gewesen, er hatte Sehnsucht nach ihr gehabt, er hatte sie gebraucht wie noch nie, und sie hatte in derselben Stadt, im selben Viertel wie er, vielleicht nur ein paar Häuser entfernt von ihm, gewohnt! Barbara hatte Deutschland verlassen, und da saß sie auf der Terrasse des Café du Dome, da saß sie neben Heclda von Herzfeld, mit der sie doch in Hamburg keineswegs befreundet gewesen war. Nun aber hatten besondere und harte Umstände diese beiden zueinander geführt… Sie saßen an einem Tisch. Beide schweigend, beide mit dem gleichen schwermütig sinnenden und tiefen Blick, der an den Gegenständen vorbei ins Ferne zu gehen schien.

,Wie blaß Barbara aussieht!' dachte Hendrik, dem zumute war, als säßen die Personen ihm gegenüber gar nicht in Wirklichkeit hier, sondern wären das Produkt seines erregten Hirnes, existierten nur in seiner Vorstellung und als seine Vision. Wenn sie lebten, warum bewegten sie sich dann nicht? Warum saßen sie so stumm und regungslos und hatten so traurige Augen?

Barbara hielt ihr schmales und bleiches Gesicht in die Hand gestützt. Zwischen ihren dunklen, zusammengezogenen Brauen trat ein Zug hervor, den Hendrik früher nicht an ihr bemerkt hatte: er mochte vom angestrengten, erbitterten Nachdenken kommen und gab ihrem Gesicht einen grüblerischen, beinah zornigen Ausdruck. Sie trug einen grauen Regenmantel, zwischen dessen hochgeschlagenem Kragen ein grellroter Schal sichtbar wurde. Durch diese Tracht wie durch die leidvoll gespannte Miene bekam ihre Erscheinung etwas Wildes und beinahe Fürchterliches.

Bleich war auch Frau von Herzfeld; aber auf der breiten und weichen Fläche ihres Gesichtes fehlte der drohende Zug, es zeigte nur sanfte Betrübtheit. Außer Barbara und Hedda gab es an dem Tisch noch ein Mädchen, das Hendrik nie gesehen hatte, und zwei junge Männer, von denen der eine Sebastian war: Höfgen erkannte ihn an der vorgestreckten Haltung des Kopfes, an den verschleierten, weich und nachdenklich schauenden Augen und an der Strähne aschblonden Haars, das ihm auf die gesenkte Stirn fiel.

Hendrik wollte etwas rufen, wollte grüßen, sein spontanes Bedürfnis war, Barbara zu umarmen, mit ihr zu sprechen - über alles mit ihr zu sprechen, wie er es sich so oft gewünscht und vorgestellt hatte in all den einsamen Tagen. In seinem Kopf aber jagten sich die Überlegungen.,Wie werden sie mich empfangen? Man wird Fragen an mich richten - wie könnte ich sie beantworten? Hier, in meiner Brusttasche, habe ich die Schlafwaagenkarte nach Berlin, durch die Vermittlung von zwei blonden, freundlichen Damen bin ich schon so gut wie ausgesöhnt mit dem Regime, das diese Menschen da vertrieben hat und dem ich, Barbara gegenüber, so oft unversöhnliche Feindschaft geschworen habe. Was für ein verächtliches Lächeln würde dieser Sebastian mir zeigen1. Und wie könnte ich Barbaras Blick ertragen, ihren dunklen, spöttischen, unbarmherzigen Blick?… Ich muß fliehen - keiner von ihnen scheint mich noch bemerkt zu haben, sie schauen ja alle auf eine so sonderbare Art ins Leere. Ich muß machen, daß ich davonkomme, diese Begegnung ginge über meine Kräfte…'

Die am Tisch rührten sich immer noch nicht, sie schienen durch Hendrik Höfgen hindurchzuschauen wie durch Luft. Sie saßen unbeweglich, als hätte ein großer Schmerz sie versteinert, während Hendrik davoneilte mit kleinen und steifen Schritten, so wie jemand geht, der sich in großer Angst von einer Gefahr entfernen, aber doch verbergen möchte, daß er flieht.

Nach der ersten Probe sagte Lotte Lindenthal zu Höfgen: «Es ist ein Jammer, daß der General jetzt gerade so ungeheuer beschäftigt ist. Wenn er es irgend einrichten könnte, würde er sicher einmal auf die Probe kommen und uns ein bißchen bei der Arbeit zuschauen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für glänzende Ratschläge er uns Schauspielern manchmal gibt. Ich glaube, er versteht vom Theater ebensoviel wie von seinen Flugzeugen - und das will etwas heißen!»

Hendrik konnte es sich vorstellen, und er nickte respektvoll. Dann fragte er Fräulein Lindenthal, ob er sie in seinem Wagen nach Hause bringen dürfe. Sie gestattete es mit einem huldvollen Lächeln. Während er ihr den Arm bot, sagte er leise: «Es bedeutet eine so große, große Freude für mich, mit Ihnen spielen zu dürfen. In den letzten Jahren habe ich gar zu viel unter den Manieriertheiten meiner Partnerinnen zu leiden gehabt. Dora Martin hat die deutschen Schauspielerinnen durch das schlechte Beispiel ihres krampfhaften Stils verdorben - das war ja kein Theaterspielen mehr, sondern hysterisches Gemauschel. Und nun höre ich von Ihnen wieder einen klaren, einfachen, seelenvollen und warmen Ton!»

Sie schaute ihn dankbar an aus ihren etwas hervortretenden, veilchenblauen und dummen Augen. «Ich bin so froh, daß Sie mir das sagen», flüsterte sie und drückte seinen Arm ein wenig fester an ihren. «Denn ich weiß, daß Sie mir nicht schmeicheln. Ein Mensch, der seinen Beruf so heilig ernst nimmt wie Sie, schmeichelt nicht in künstlerischen Dingen.» Hendrik seinerseits entsetzte sich geradezu bei dem Gedanken, daß er geschmeichelt habe könnte. «Aber ich bitte Sie!» Er legte die Hand aufs Herz. «Ich - und schmeicheln! Meine Freunde pflegen mir vorzuwerfen, daß ich den Menschen gar zu gerne unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sage.» Die Lindenthal freute sich, dies zu hören. «Ich mag aufrichtige Menschen gut leiden», erklärte sie schlicht. - «Schade, daß wir schon da sind», sagte Hendrik, der seinen Wagen vor einem stillen, eleganten Haus in der Tiergartenstraße halten ließ; denn hier wohnte Lotte Lindenthal. Er beugte sich über ihre Hand, um sie zu küssen, wobei er den grauledernen Handschuh ein wenig zurückstreifte, auf daß er mit seinen Lippen ihre milchig weiße Haut berühren könne. Sie schien diese kleine Keckheit zu übersehen oder doch jedenfalls nicht zu mißbilligen, ihr Lächeln blieb strahlend. «lausend Dank dafür, daß ich Sie begleiten durfte!» sprach er, über ihre Hand geneigt. Während sie auf die Füre ihres Hauses zuging, dachte er:,Wenn sie sich noch einmal umdreht, dann wird alles gut. Wenn sie aber gar winkt, dann ist es ein Triumph, und ich kann es weit bringen.' - Sie überrquerte in aufrechter Haltung die Straße. Als sie vor der Haustür angekommen war, wendete sie den Kopf, zeigte eine verklärte Miene, und - welche Wonne! - sie hob winkend die Hand. Hendrik spürte einen Glücksschauer; denn Lotte Lindenthal rief schalkhaft: «Ta, ta!» Das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Mit einem großen Seufzer der Erleichterung lehnte er sich zurück in die Lederpolster seines Mercedes-Wagens. -

Hendrik hatte es gewußt, ehe er noch in Berlin angekommen war: Ohne die Protektion der Lindenthal war er verloren. Die kleine Angelika, die ihn an der Bahn abholte, hätte ihn nicht noch eigens darauf hinweisen müssen, ihm war die Situation ohnedies klar. Er hatte furchtbare Feinde, unter ihnen so einflußreiche wie den Dichter Gäsar von Muck, den der Propagandaminister zum Intendanten des Staatstheaters gemacht hatte. Der Dramatiker hatte Höfgen, von dem seine Stücke immer abgelehnt waren, einen eisigen Empfang bereitet. Sein Gesicht mit den Stahlaugen und dem verkniffenen Mund hatte den Ausdruck unnahbarer Strenge und Würde gehabt, während er sagte: «Ich weiß nicht, ob Sie sich wieder bei uns einleben werden, Herr Höfgen. Hier herrscht nun ein anderer Geist als der, den Sie in diesem Hause gewöhnt waren. Mit dem Kulturbolschewismus ist Schluß.» Hierbei reckte der Dichter des «Tannenberg»-Dramas sich drohend. «In den Stücken Ihres Freundes Marder oder in den bei Ihnen so beliebten französischen Farcen werden Sie nicht mehr Gelegenheit haben aufzutreten. Jetzt wird hier weder semitische noch gallische, sondern deutsche Kunst gemacht. Sie werden zu beweisen haben, Herr Höfgen, ob Sie dazu imstande sind, uns bei so erhabener Arbeit behilflich zu sein. Mir schien, offen gesagt, kein besonderer Anlaß zu bestehen. Sie aus Paris wieder hierherzurufen.» Bei dem Wort «Paris» ließ Gäsar von Muck die Augen erschreckend blitzen. «Aber Fräulein Linclenthal wünscht Sie als Partner in dem kleinen Lustspiel, mit dem sie hier debütiert.» Dies sagte Muck etwas wegwerfend. «Ich wollte nicht ungefällig gegen die Dame sein», fuhr er mit einer falschen Biederkeit fort und schloß hochmütig: «Übrigens bin ich davon überzeugt, daß Ihnen die Rolle des eleganten Hausfreundes und Verführers keinerlei Schwierigkeiten bereiten wird.» Mit einer militärisch knappen Geste schloß der Intendant die Unterredung.

Dies war ein beängstigender Anfang - um so beängstigender für Hendrik, wenn er bedachte, daß hinter dem rachsüchtigen und arrivierten Poeten die Person des Propagandaministers stand. Dieser war in kulturellen Dingen beinah allmächtig, und er wäre es ganz gewesen, hätte es sich der zum Preußischen Ministerpräsidenten avancierte Fliegeroffizier nicht in den Kopf gesetzt, auch sein Wörtchen mitzureden, was die Staatstheater betraf. An diesen war der Dicke, schon Lottens wegen, stark interessiert. So kam es zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen den zwei Gewaltigen - dem Herrn der Propaganda und dem Herrn der Flugzeuge. Hendrik hatte noch keinen von den beiden Halbgöttern mit Augen gesehen; aber er wußte, daß er die Feindschaft des einen nur dann eine Zeitlang würde aushaken können, wenn er der Protektion des anderen sicher war. Der Weg zum Ministerpräsidenten ging über die Schauspielerin. Hendrik mußte Lotte Lindenthal gewinnen.

In den ersten Wochen seines neuen Berliner Aufenthalts hatte er keinen anderen Gedanken im Kopf als nur diesen: Lotte Lindenthal muß mich lieben. Juwelenaugen und aasigem Lächeln hat noch keine widerstehen können, und schließlich ist auch sie nur ein Mensch. Diesmal geht es ums Ganze, ich muß alle meine Künste spielen lassen - Lotte soll erobert werden wie eine Festung. Mag sie hochbusig und kuhäugig sein, mag sie noch so provinziell und hausbacken aussehen mit ihrem Doppelkinn und ihren blonden Dauerwellen: für mich ist sie begehrenswerter als eine Göttin.

Und Hendrik kämpfte. Er war blind und taub für alles, was um ihn herum geschah, sein Wille, seine Intelligenz waren konzentriert auf das eine Ziel: die Kaptivie-rung der blonden Lotte. Nur für sie hatte er Augen, alle anderen übersah er. Die kleine Angelika war gründlich im Irrtum gewesen, wenn sie geglaubt hatte. Höfgen würde sie nun, aus Dankbarkeit, einer gewissen Aufmerksamkeit würdigen. Nur in den ersten Stunden nach seiner Ankunft war er nett zu ihr. Kaum aber, daß sie ihn der Linclenthal vorgestellt hatte, schien Angelika nicht mehr für ihn zu existieren. Sie mußte sich ausweinen bei ihrem Filmregisseur, Hendrik aber ging aufsein Ziel los, es hieß Lotte.

Bemerkte er, wie die Straßen von Berlin sich verändert hatten? Sah er die braunen und die schwarzen Uniformen, die Hakenkreuzfahnen, die marschierende Jugend? Hörte er die kriegerischen Lieder, die auf den Straßen, aus den Radioapparaten, von der Filmleinwand klangen? Achtete er auf die Führerreden mit ihren Drohungen und Prahlereien? Las er die Zeitungen, die beschönigten, verschwiegen, logen und doch noch genug des Entsetzlichen verrieten? Kümmerte er sich um das Schicksal der Menschen, die er früher seine Freunde genannt hatte? Er wußte nicht einmal, wo sie sich befanden. Vielleicht saßen sie an irgendeinem Caféhaustisch in Prag, Zürich oder Paris, vielleicht wurden sie in einem Konzentrationslager geschunden, vielleicht hielten sie sich in einer Berliner Dachkammer oder in einem Keller versteckt. Hendrik legte keinen Wert darauf, über diese düsteren Einzelheiten unterrichtet zu sein.,Ich kann ihnen doch nicht helfen' - dies war die Formel, mit der er jeden Gedanken an die Leidenden von sich wies.,Ich bin selbst in ständiger Gefahr - wer weiß, ob nicht Cäsar von Muck morgen schon meine Verhaftung durchsetzen wird. Erst wenn ich meinerseits definitiv gerettet bin, werde ich anderen vielleicht nützlich sein können!'

Nur widerwillig und mit einem Ohr hörte Hendrik zu, als man ihm von den Gerüchten Mitteilung machte, die über das Schicksal Otto Ulrichs' im Umlauf waren. Der kommunistische Schauspieler und Agitator, der sofort nach dem Reichstagsbrand verhaftet worden war, habe mehrere jener grauenhaften Prozeduren, die man «Verhöre» nannte und die in Wahrheit unbarmherzige Folterungenwaren, auszustehen gehabt: «Das hat mir jemand erzählt, der im Columbiahaus in der Zelle neben Ulrichs untergebracht war.» So berichtete, mit angstvoll gedämpfter Stimme, der Theaterkritiker Radig, der bis zum 30. Januar 1933 zur radikalen Linken gehört hatte und aggressiver Vorkämpfer einer streng marxistischen, nur dem Klassenkampf dienenden Literatur gewesen war. Nun stand er im Begriff, seinen Frieden mit dem neuen Regime zu machen.

«Scheußlich, diese Geschichte mit Otto», sagte der wackere Doktor Radig und sah kummervoll aus. Er hatte das revolutionäre Kabarett «Sturmvogel» in vielen Artikeln als das einzige theatralische Unternehmen der Hauptstadt, das Zukunft habe und überhaupt der Beachtung wert sei, bezeichnet. Ulrichs hatte zum intimsten Kreise des berühmten Kritikers gehört. «Scheußlich, scheußlich», murmelte der Doktor und nahm nervös seine Hornbrille ab, um ihre Gläser zu putzen.

Auch Höfgen war der Ansicht, daß es scheußlich sei. Sonst hatten sich die beiden Herren nicht viel zu sagen. Sie fühlten sich nicht recht wohl, der eine in der Gesellschaft des andern. Als Ort ihres Zusammentreffens hatten sie ein abgelegenes, wenig besuchtes Café gewählt. Sie waren beide kompromittiert durch ihre Vergangenheit, beide standen vielleicht immer noch im Verdacht einer oppositionellen Gesinnung, und es könnte fast wie eine Verschwörung wirken, sähe man sie zusammen.

Sie schwiegen und schauten sinnend ins Leere, der eine durch seine Hornbrille, der andere durch sein Monokel. «Ich kann natürlich im Augenblick gar nichts für den armen Kerl tun», ließ Hof gen sich endlich vernehmen. Radig, der dasselbe hatte sagen wollen, nickte. Dann schwiegen sie wieder. Höfgen spielte mit seiner Zigarettenspitze. Radig räusperte sich. Vielleicht schämten sie sich voreinander. Der eine wußte, was der andere dachte. Höfgen dachte von Radig wie Radig von Höfgen: Jaja, mein Lieber, du bist ein genauso großer Schuft wie ich selber.' Diesen Gedanken errieten sie, einer aus den Augen des andern. Deshalb schämten sie sich.

Da das Schweigen unerträglich wurde, stand Höfgen auf. «Man muß Geduld haben», sagte er leise und zeigte dem revolutionären Kritiker sein fahles Gouvernantengesicht. «Es ist nicht leicht, aber man muß Geduld haben. Leben Sie wohl, lieber Freund.»

Hendrik hatte allen Grund zur Zufriedenheit: Lotte Lindenthals Lächeln wurde immer süßer, immer vielversprechender. Wenn sie eine intime Szene miteinander probierten - und die Komödie «Das Herz» bestand fast nur aus intimen Szenen zwischen der Gattin eines großen Geschäftsmannes, die Lottens Rolle war, und dem galanten Hausfreund, den Hendrik darstellte -, dann geschah es wohl, daß sie ihren Busen seufzend an den Partner drückte und feuchte Blicke warf. Höfgen seinerseits blieb von einer Zurückhaltung, die melancholisch-disziplinierten Charakter hatte und hinter der sich fiebernde Begehrlichkeit zu verbergen schien. Er behandelte Fräulein Lindenthal mit fein akzentuierter Reserviertheit, meistens nannte er sie «Gnädige Frau», in seltenen Augenblicken «Frau Lotte», und nur während der Arbeit, im Eifer des gemeinsamen Probierens ließ er sich einmal zum vertraulich-kollegialen Du hinreißen. Seine Augen aber schienen immer sagen zu wollen: Ach, wenn ich nur könnte, wie ich möchte! Wie würde ich dich umfangen, du Süße! Wie würde ich dich pressen, du Holde! Zu meinem Leidwesen muß ich mich bezwingen, aus Loyalität gegen einen deutschen Helden, der dich die Seine nennt… Solche zugleich brünstigen und männlich-gefaßten Gedanken verrieten die schönen Augen des Schauspielers Höfgen. In Wirklichkeit dachte er nur:,Warum - um Gottes willen, warum hat sich der Ministerpräsident, der doch jede haben könnte, gerade die ausgesucht?! Sie mag ja eine ganz brave Person und eine vortreffliche Hausfrau sein, aber sie ist doch schrecklich dick und dabei so lächerlich affektiert. Eine schlechte Schauspielerin ist sie übrigens auch…'

Auf den Proben hatte er zuweilen große Lust, die Lin-clenthal anzuschreien, jeder anderen Kollegin hätte er ins Gesicht gesagt: Was Sie da machen, meine Gute, ist schlimmstes Provinztheater. Daß Sie eine feine Dame spielen, ist kein Anlaß, mit einer so hohen, verstellten Stimme zu sprechen und auf so groteske Art ständig den kleinen Finger wegzustrecken, wie Sie das zu tun belieben. Feine Damen haben längst nicht immer diese Gewohnheit. Und wo steht geschrieben, daß die Gattin eines großen Geschäftsmannes, wenn sie mit ihrem Hausfreund flirtet, die Ellenbogen vom Körper entfernt halten muß, als habe sie sich die Bluse mit einer stinkenden Flüssigkeit beschmiert und fürchte sich nun, die Ärmel mit ihr in Berührung zu bringen? Lassen Sie doch bitte diese Albernheiten!

Natürlich hütete sich Hendrik sehr wohl, dergleichen Lotten gegenüber auszusprechen. Auch ohne daß sie die verdienten Grobheiten gesagt bekam, schien sie aber zu spüren, daß sie sich auf den Proben blamierte. «Ich fühle mich noch so unsicher», klagte sie und machte ihr naives Kleinmädchengesicht. «Es ist das Berliner Milieu - das bringt mich ganz durcheinander. Ach, gewiß werde ich schrecklich durchfallen und miserable Presse bekommen!» Sie tat, als wäre sie irgendeine kleine Debütantin, die ernsthaft Angst vor den Berliner Kritikern haben müßte. «Oh, bitte, bitte, Hendrik, sagen Sie mir» - dabei patschte sie babyhaft in die erhobenen Händchen -, «wird man mich recht grausam behandeln? Wird man mich zerzausen und verreißen?» Hendrik konnte mit dem Brustton echter Überzeugtheit erklären, daß er dies für gänzlich ausgeschlossen halte.

Während Höfgen und die Lindenthal noch die Komödie «Das Herz» probierten, wurde bekannt,» daß der «Faust» wieder ins Repertoire des Staatstheaters aufgenommen werden sollte. Zu seinem Entsetzen mußte Hendrik erfahren, daß Cäsar von Muck - sicherlich im Einverständnis mit dem Propagandaminister - beschlossen hatte, die Rolle des Mephisto mit einem Schauspieler zu besetzen, der schon seit langen Jahren der Nationalsozialistischen Partei angehörte und den man, vor einigen Wochen, aus der Provinz nach Berlin berufen hatte. Dieses war die Rache des «Tannenberg»-Dichters an Höfgen, der seine Stücke abgelehnt hatte. Hendrik spürte: Ich hin erledigt, wenn Muck durchkommt mit seinem scheußlichen Plan. Der Mephisto ist meine große Rolle. Darf ich ihn nicht spielen, dann ist es erwiesen, daß ich in Ungnade bin. Dann ist es deutlich, daß die Lindenthal ihren Einfluß beim Ministerpräsidenten nicht für mich geltend macht oder daß sie den großen Einfluß gar nicht besitzt, den man ihr zuschreibt. Mir bliebe dann nichts mehr übrig, als meine Koffer zu packen und nach Paris zurückzureisen - wo ich vielleicht überhaupt hätte bleiben sollen; denn hier ist es eigentlich scheußlich. Meine Stellung ist traurig, besonders wenn man sie mit der vergleicht, die ich früher hatte. Alle sehen mich mißtrauisch an. Man weiß, daß der Intendant und der Propagandaminister mich hassen, und man hat noch nicht den kleinsten Beweis dafür, daß ich beim Fliegergeneral wirklich in Gunst stehe. Eine feine Situation, in die ich da geraten bin! Der Mephisto könnte alles retten, von ihm hängt jetzt alles ab…

Vor Beginn einer Probe trat Höfgen mit festen Schritten auf Lotte Lindenthal zu, und das Beben seiner Stimme war ausnahmsweise keineswegs künstlich, als er sagte: «Frau Lotte - ich habe eine große, große Bitte an Sie.» Sie lächelte etwas angstvoll: «Ich bin meinen Kollegen und Freunden immer gerne behilflich - wenn ich kann.» Da sprach er mit tiefem, hypnotisierendem Blick in ihre Augen hinein: «Ich muß den Mephisto spielen. Verstehen Sie mich, Lotte? Ich muß.»

Sein großer, dringlicher Ernst erschreckte sie, und übrigens fühlte sie sich erregt durch die andrängende Nähe seines Körpers, der ihr längst nicht mehr gleichgültig war. Sanft errötend, die Augen niedergeschlagen - wie ein junges Mädchen, dem man den Antrag macht und das verheißt, sie werde sich mit den Eltern beraten -, flüsterte sie: «Ich will versuchen, was ich machen kann. Ich spreche noch heute mit ihm.»

Hendrik hatte ein tiefes Aufatmen der Erleichterung.

Am nächsten Morgen rief das Sekretariat der Staatstheater-Intendanz ihn an, um mitzuteilen, er werde am Nachmittag zur Arrangierprobe der neuen «Faust»-Ein-studierung erwartet. Das war der Sieg. Der Ministerpräsident hätte sich für ihn verwendet.,Ich bin gerettet', dachte Hendrik Höfgen. - Er schickte einen großen Strauß gelber Rosen an Lotte Lindenthal; den schönen Blumen legte er einen Zettel bei, auf den er in großen, pathetisch eckigen Buchstaben das Wort «Danke» schrieb.

Es erschien ihm beinahe schon selbstverständlich, daß der Intendant Cäsar von Muck ihn, vor Beginn der Probe, in sein Büro bitten ließ. Der nationale Dichter zeigte die einfachste Herzlichkeit - die eine viel beachtenswertere schauspielerische Leistung war als die feine Zurückhaltung, die Hendrik an den Tag legte.

«Ich freue mich darauf, Sie als Mephisto zu sehen», sprach der Dramatiker, ließ die stahlblauen Augen warm aufblitzen und ergriff mit männlicher Innigkeit die Hände des Menschen, den er hatte vernichten wollen. «Wie ein Kind freue ich mich darauf, Sie in dieser ewigen, tief deutschen Rolle zu sehen.» - Es war deutlich: der Intendant hatte sich entschlossen, sein Verhalten Höfgen gegenüber mit einem Schlage und total zu ändern, seitdem der Ministerpräsident sich für diesen Schauspieler eingesetzt hatte. Natürlich hatte Cäsar von Muck, nach wie vor, die unerbittliche Absicht, den fatalen Burschen nicht gar zu groß werden zu lassen und ihn, wenn irgend möglich, recht bald vom Staatstheater zu entfernen. Es schien ihm aber geraten, seinen Kampf gegen den alten Feind von jetzt ab auf eine heimlichere und schlauere Art zu führen. Herr von Muck war durchaus nicht geneigt, sich Höfgens wegen mit dem mächtigen Ministerpräsidenten oder mit der Lindenthal zu überwerfen. Als Intendant der Preußischen Staatstheater hatte man allen Grund, sich mit dem Ministerpräsidenten ebenso gut zu stellen wie mit dem Propagandaminister…

«Unter uns gesagt», fuhr der Intendant mit der Miene kameradschaftlicher Vertraulichkeit fort, «Sie haben es mir zu verdanken, daß Sie den Mephisto wieder spielen werden.» In seiner Aussprache machte sich der sächsische Akzent, mit dem er vielleicht seine markige Biederkeit betonen wollte, heute stark bemerkbar. «Es gab da gewisse Bedenken», er dämpfte die Stimme und schnitt eine Grimasse des Bedauerns, «gewisse Bedenken in ministeriellen Kreisen - Sie verstehen, mein lieber Höfgen… Man fürchtete, Sie könnten den Geist der vorigen «Faust»-Inszenierung - einen etwas kulturbolschewistischen Geist, wie man sich ausdrückte - in unsere neue Einstudierung tragen. Nun, es ist mir gelungen, diese Befürchtungen zu widerlegen und zu überwinden!» schloß der Intendant fröhlich; und er schlug dem Schauspieler herzhaft auf die Schulter. -

Einen argen Schrecken hatte Höfgen an diesem sonst erfolgreichen Tage noch auszustehen. Als er die Probebühne betrat, stieß er mit einem jungen Menschen zusammen, es war Hans Miklas. Hendrik hatte seit Wochen nicht mehr an ihn gedacht. Natürlich, Miklas lebte, er war sogar am Staatstheater engagiert, und er sollte in der neuen «Faust»-Inszenierung den Schüler spielen. Auf dieses Zusammentreffen war Hendrik nicht vorbereitet; um die Besetzung der kleineren Rollen hatte er sich, bei all den Aufregungen, die es auszustehen gab, noch nicht gekümmert. Nun überlegte er sich blitzschnell: Wie verhalte ich mich? Dieser renitente Bursche haßt mich noch - wenn es nicht selbstverständlich wäre: der bleiche und böse Blick, den er mir gerade zugeworfen hat, müßte es mir verraten. Er haßt mich, er hat nichts vergessen, und er kann mir schaden; wenn er Lust dazu hat. Was hindert, ihn, Lotte Lindenthal zu erzählen, warum es damals zu dem Auftritt zwischen uns im H. K. gekommen ist. Ich wäre verloren, wenn er sich das einfallen ließe. Aber er wagt es nicht, so weit wird er wahrscheinlich nicht gehen. Hendrik beschloß: Ich werde ihn fast übersehen und ihn mit meinem Hochmut einschüchtern. Dann denkt er, ich sei schon wieder ganz obenauf, habe alle Trümpfe in der Hand und man könne nichts gegen mich ausrichten. - Er klemmte sich das Monokel vors Auge, machte ein spöttisches Gesicht und sprach durch die Nase: «Herr Miklas - sieh cla! Daß es Sie auch noch gibt!» Dabei betrachtete er seine Fingernägel, lächelte aasig, hüstelte und schlenderte weiter.

Hans Miklas hatte die Zähne aufeinandergebissen und geschwiegen. Sein Gesicht war unbewegt geblieben, aber da Hendrik es nicht mehr beobachten konnte, verzerrte es sich vor Haß und vor Schmerz. Niemand kümmerte sich um den Knaben, der trotzig und einsam an einer Kulisse lehnte. Niemand sah, daß er die Fäuste ballte und daß seine hellen Augen sich mit Tränen füllten. Hans Miklas zitterte an seinem schmalen, mageren Körper, der an den Körper eines unterernährten Gassenbuben, zugleich an den eines übertrainierten Akrobaten erinnerte. Warum zitterte denn Hans Miklas? Und warum weinte er denn? Begann er einzusehen, daß er betrogen worden war - betrogen in einem fürchterlichen, riesenhaften und nie mehr gutzumachenden Ausmaß? Ach, er war noch nicht an dem Punkte, dies zu begreifen. Indessen stellten vielleicht doch die ersten Ahnungen sich ein. Schon diese Ahnungen waren von der Art, daß seine Hände sich zusammenkrampften und seine Augen sich mit Tränen füllten.

Die ersten Wochen nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten und ihren «Führer» hatte dieser junge Mensch sich gefühlt wie im Himmel. Der schöne und große Tag, der Tag der Erfüllung, auf den man so lange und mit so viel Sehnsucht gewartet hatte, nun war er da! Was für ein Jubel! Der junge Miklas hatte vor Seligkeit geschluchzt und getanzt. Damals hatte sein Gesicht gestrahlt im Licht der echten Begeisterung: auf seiner Stirne war Glanz gewesen, und Glanz in seinen Augen. Als man den Reichskanzler, den Führer, den Erlöser mit dem Fackelzug feierte - wie hatte er da auf der Straße gebrüllt und gleich einem Besessenen die Glieder geworfen, mitergi iffen von dem Taumel, in den eine Millionenstadt, in den ein ganzes Volk sich schleuderte. Nun würden alle Versprechungen umgesetzt werden in die Tat. Ohne Frage: ein goldenes Zeitalter war im Begriff anzubrechen. Deutschland hatte seine Ehre wieder, und bald würde auch seine Gesellschaft sich verwandeln und sich zur wahren Volksgemeinschaft wunderbar erneuern: denn so hatte es der Führer hundertmal versprochen, und die Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung hatten sein Versprechen besiegelt mit ihrem Blut.

Die vierzehn Jahre der Schmach waren vorüber. Alles bis dahin war nur Kampf und Vorbereitung gewesen, jetzt fing das Leben erst an. Nun durfte man endlich arbeiten - mitarbeiten am Wiederaufbau eines geeinigten, machtvollen Vaterlands. Hans Miklas bekam ein schlecht bezahltes Engagement am Staatstheater: ein höherer Parteifunktionär hatte es ihm verschafft. Höfgen saß in Paris, Höfgen war Emigrant - und Miklas hatte eine Stellung an der Preußischen Staatsbühne: der Zauber dieser Situation war so mächtig, daß er den jungen Menschen manches übersehen ließ, was er sonst vielleicht als enttäuschend empfunden hätte.

War es wirklich eine neue, eine bessere Welt, in der er sich jetzt bewegte? Hatte sie nicht viele Gebrechen der alten, die man so bitter gehaßt hatte, und noch manch anderen Fehler dazu, der bis dahin unbekannt gewesen war? Dergleichen wagte Hans Miklas noch nicht sich einzugestehen. Aber zuweilen bekam sein junges, angegriffenes, bleiches Antlitz, mit den zu roten Lippen und den dunklen Rändern um die hellen Augen, doch schon wieder jenen verschlossenen, leidvollen Ausdruck des Trotzes, der ihm früher eigentümlich gewesen war. Hochmütig und böse wandte der widerspenstige Knabe den Kopf, wenn er beobachten mußte, wie man jetzt den Intendanten Cäsar von Muck umschmeichelte, auf eine noch viel schamlosere Manier, als die es gewesen war, auf die man früher den «Professor» umschmeichelt hatte. Und wie Cäsar von Muck seinerseits zusammenknickte und in demutsvoller Liebedienerei zerfließen zu wollen schien, wenn der Propagandaminister das Theater betrat! Das war äußerst peinlich anzusehen. Der Zustand, den die nationalistischen Agitatoren als «Bonzenwirtschaft» zu bezeichnen liebten, hatte also nicht aufgehört, sondern nur noch schlimmere und ausschweifendere Formen angenommen. Auch unter den Schauspielern gab es noch die «Prominenten», die herabsahen auf die Kleineren, in schweren Limousinen am Bühneneingang vorfuhren und kostbare Pelzmäntel trugen. Die große Diva hieß nicht mehr Dora Martin, sondern Lotte Lindenthal; sie war keine gute Schauspielerin mehr, sondern eine schlechte, dafür aber die Favoritin eines mächtigen Mannes. Miklas hätte sich, um ihrer Ehre willen, einmal fast geprügelt - wie lang war das her? -, und er hatte seine Stellung für sie verloren. Aber das wußte sie nicht, und er war zu stolz, um darauf anzuspielen. Er schob trotzig die Lippen vor, machte sein abweisendes Gesicht und ließ sich übersehen von der großen Dame.

Deutschland hatte seine Ehre wieder, da die Kommunisten und Pazifisten nun in den Konzentrationslagern saßen, teilweise auch schon getötet waren, und die Welt anfing, sich sehr zu ängstigen vor einem Volk, das einen so besorgniserregenden «Führer» sein eigen nannte. Die Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens hingegen ließ auf sich warten: vom Sozialismus war noch nichts zu merken.,Alles kann nicht auf einmal geschafft werden', dachte ein junger Mensch wie Hans Miklas, der zu innig geglaubt hatte, als daß er sich jetzt schon zur Enttäuschung hätte entschließen mögen.,Nicht einmal mein Führer bringt es fertig. Wir sollen Geduld haben. Erst muß Deutschland sich einmal erholen von den langen Jahren der Schmach.'

So vertrauensvoll war dieser Knabe noch immer. Den entscheidenden Schock aber empfing er, als er auf dem Probezettel las, daß Hendrik Höfgen den Mephisto spielen würde. Der alte Feind, der höchst Geschickte, ganz Gewissenlose - da war er wieder, der Zyniker, der überall durchkommt, sich bei allen beliebt macht: Höfgen, der ewige Widersacher! Die Frau, um derentwillen man sich fast mit ihm geprügelt hätte, sie hatte ihn selber herbeigeholt, weil sie ihn in der mondänen Komödie als Partner brauchte. Und nun hatte sie ihm auch noch die klassische Rolle verschafft, und mit ihr die große Erfolgschance… Konnte er, Miklas, nicht hingehen und dieser Lotte Lindenthal erzählen, was Höfgen damals, in der Kantine, über sie geäußert hatte?! Wer hinderte ihn daran? - Aber war es der Mühe wert? Würde man ihm denn glauben? Konnte er sich nicht auch noch lächerlich machen? Und hatte schließlich Höfgen so ganz unrecht gehabt, als er diese Lindenthal eine blöde Kuh nannte? War sie nicht eine?

Miklas schwieg, ballte die Fäuste und wandte den Kopf der Dunkelheit zu, damit niemand die Tränen sähe in seinen Augen.

Eine Stunde später mußte er seine Szene mit Höfgen-Mephistopheles probieren. In demütiger Haltung hatte er sich dem Schriftgelehrten, der eigentlich der Teufel war, zu nahen und vorzubringen:

«Ich bin allhier erst kurze Zeit

Und komme voll Ergebenheit,

Einen Mann zu sprechen und zu kennen,

Den alle mir mit Ehrfurcht nennen.»

Die Stimme des Schülers klang rauh, und sie wurde zu einem Stöhnen, als der Jüngling auf all die verwirrenden Weisheiten, die höhnischen Sophismen des maskierten Satans zu erwidern hatte:

«Mir wird von alle dem so dumm,

Als ging' mir ein Mühlrad im Kopf herum.»

Der «Faust»-Aufführung des Staatstheaters wohnte der Ministerpräsident und Fliegergeneral in Begleitung seiner Freundin Lotte Lindenthal bei. Die Vorstellung begann mit einer Viertelstunde Verspätung, weil der große Herr auf sich warten ließ. Aus seinem Palais wurde telefoniert, er sei festgehalten durch eine Besprechung mit dem Reichswehrminister. Die Schauspieler in ihren Garderoben aber flüsterten sich spöttisch zu, daß er einfach wieder einmal nicht rechtzeitig fertig werde mit seiner Toilette. «Er braucht doch immer eine Stunde, um sich umzuziehen», kicherte die Darstellerin des Gretchens, die so blond war, daß sie sich kleine Aufsässigkeiten leisten durfte. Übrigens vollzog sich der Eintritt des hohen Paares dann mit betonter Dezenz. Der Ministerpräsident hielt sich im Hintergrund seiner Loge, solange Licht im Saal war. Nur die Leute in den ersten Parkettreihen bemerkten ihn und schauten ehrfurchtsvoll auf seine geschmückte Uniform, die einen purpurnen Kragen und breite silberne Manschetten zeigte, und auf das blitzende Brillantendiadem seiner hochbusigen, ährenblonden Freundin. Erst als der Vorhang sich hob, setzte sich der Minister, wobei er ein leises Ächzen hören ließ, denn es bereitete Mühe, die Fettmassen seines Leibes auf dem relativ schmalen Fauteuil' in Ordnung zu bringen.

Während des Prologs im Himmel machte der illustre Zuschauer ein pflichtgemäß ergriffenes Gesicht. Die folgenden Szenen der Tragödie, ihr Ablauf bis zu jenem Moment, da Mephistopheles als Pudel sich in Faustens Studierzimmer geschlichen hat, schienen ihn etwas zu langweilen; während des ersten großen Faust-Monologs konnte man ihn mehrfach gähnen sehen, und auch der «Osterspaziergang» unterhielt ihn nicht: er flüsterte der Lindenthal etwas zu, was wahrscheinlich unfreundlichen Sinn hatte.

Hingegen wurde der Gewaltige animiert, sowie Höfgen-Mephistopheles die Szene betrat. Als der Doktor Faust ausrief: «Das also war des Pudels Kern! Ein fahrender Scholast? Der Kasus macht mich lachen», da lachte auch der hohe Würdenträger, und zwar so laut und herzlich, daß niemand es überhören konnte. Lachend neigte sich der schwere Mann nach vorne, indem er seine beiden Arme auf die rotsamtene Brüstung der Loge stützte, und von nun ab verfolgte er mit amüsierter Aufmerksamkeit die Handlung - genauer gesagt: das tänzerisch gewandte, durchtrieben anmutige, ruchlos charmante Spiel Hendrik Höfgens.

Lotte Lindenthal, die ihren Manne kannte, begriff sofort: Dies ist Liebe auf den ersten Blick. Höfgen hat es meinem Dicken angetan - was ich nur zu gut hegreife. Denn der Bursche ist ja auch zauberhaft, und in seinein schwarzen Kostüm, mit der diabolischen Pierrotmaske, wirkt er unwiderstehlicher als je. Ja, er ist sowohl drollig als bedeutend, er macht die reizendsten Sprünge wie ein Tänzer, zuweilen aber bekommt er drohende, tiefe und erschreckend flammende Augen, zum Beispiel nun, da er ausspricht:

«So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches Element.»

An dieser Stelle nickte der Ministerpräsident bedeutungsvoll. Später, bei der Schüler-Szene - in der Hans Miklas übrigens eine auffallend steife und befangene Figur machte -, schien der große Mann sich zu unterhalten wie in der drolligsten Posse. Seine gute Laune steigerte sich noch während der burlesken Vorgänge in Auerbachs Keller zu Leipzig, als Höfgen mit bösartigem Übermut das Lied vom König und dem Floh zum besten gab und schließlich den süßen Tokaierwein, den moussierenden Champagner aus dem Tisch für die besoffenen Rüpel bohrte - und ganz außer sich vor Vergnügen geriet der Dicke, als in der Finsternis der Hexenküche Höfgen die scharfe, klirrende Stimme des Höllenfürsten vernehmen ließ:

«Erkennst du mich? Gerippe! Scheusal du! Erkennst du deinen Herrn und Meister? Was hält mich ab, so schlag ich zu, Zerschmettre dich und deine Katzengeister! Hast du vorm roten Wams nicht mehr Respekt? Kannst du die Hahnenfeder nicht erkennen? Hab ich dies Angesicht versteckt? Soll ich mich etwa selber nennen?»

Dies galt der Hexe, dem Schauenveib, die denn auch entsetzt in sich zusammenknickte. Der Fliegergeneral aber schlug sich vor Vergnügen die Schenkel: das blitzende Selbstbewußtsein des Bösen, der Stolz des Satans auf seinen gräßlichen Rang amüsierten ihn gar zu sehr. Sein fettes, grunzendes Gelächter wurde begleitet vom silbrigen Lachen der Lindenthal. - Nach der Hexenküchen-Szene war die Pause. Der Ministerpräsident ließ den Schauspieler Höfgen zu sich in die Loge bitten.

Hendrik wurde ganz weiß und mußte mehrere Sekunden lang die Augen schließen, als der kleine Bock ihm die bedeutsame Bestellung ausrichtete. Der große Augenblick war gekommen. Er würde dem Halbgott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehn… Angelika, die sich bei ihm in der Garderobe befand, brachte ihm ein Glas Wasser. Nachdem er es hastig geleert hatte, war er wieder dazu imstande, halbwegs aasig zu lächeln. Er konnte sogar sagen: «Das geht ja alles wunschgemäß und nach dem Programm!» - als machte er sich lustig über den entscheidenden Vorgang; aber seine Lippen waren blaß, da er dies spöttisch vorbrachte.

Als Hendrik die Loge der hohen Herrschaften betrat, saß der Dicke vorne an der Brüstung, seine fleischigen Finger spielten auf dem roten Samt. Hendrik blieb an der Türe stehen.,Wie lächerlich, daß mein Herz so stark klopft!', dachte er und verhielt sich einige Sekunden lang stille. Dann hatte Lotte Lindenthal ihn bemerkt. Sie flötete: «Manne - du erlaubst, daß ich dir meinen hervorragenden Kollegen Hendrik Höfgen vorstelle», und der Riese wandte sich um. Hendrik hörte seine fette, dabei scharfe Stimme: «Aha, unser Mephistopheles…» Dieser Feststellung folgte ein Lachen.

Noch niemals in seinem Leben war Hendrik derartig verwirrt gewesen, und daß er sich seiner Aufregung schämte, steigerte sie vielleicht noch. Seinem getrübten Blick erschien auch die Kollegin Lindenthal phantastisch verändert. War es nur das blitzende Geschmeide, das ihr ein einschüchternd fürstliches Aussehen verlieh, oder war es der Umstand, daß sie sich in so vertrauter Nähe mit ihrem kolossalen Herrn und Beschützer zeigte? Jedenfalls wirkte sie auf Hendrik plötzlich wie eine Fee, und zwar wie eine üppig-liebliche, aber durchaus nicht ganz ungefährliche. Ihr Lächeln, das ihm sonst immer nur gutmütig und etwas blöde vorgekommen war, schien ihm nun auch rätselhafte Tücke zu enthalten.

Von dem fetten Riesen in der bunten Uniform aber, von dem pompösen Halbgott sah Hendrik in seiner Angst und zitternden Ciespanntheit so gut wie nichts. Vor der ausladenden Gestalt des Gewaltigen schien ein Schleier zu hängen - jener mystische Nebel, der seit eh und je das Bild der Mächtigen, der Schicksalsbestimmenden, der Götter dem bangen Blick der Sterblichen verbirgt. Nur ein Ordensstern blitzte durch den Dunst, die beängstigende Kontur eines wulstigen Nackens ward sichtbar, und dann ließ wieder die zugleich scharfe und fette Kommandostimme sich vernehmen: «Treten Sie doch ein bißchen näher, Herr Höfgen.»

Die Leute, die plaudernd im Parkett geblieben waren, begannen aufmerksam zu werden auf die Gruppe in der Loge des Ministerpräsidenten. Man tuschelte, man drehte die Hälse. Keine Bewegung, die der Gewaltige machte, entging den Gaffenden, die sich zwischen den Stuhlreihen drängten. Man stellte fest, daß der Gesichtsausdruck des Fliegergenerals immer wohlwollender, immer vergnügter wurde. Nun lachte er, mit Rührung und Ehrfurcht konstatierte es das Volk im Parkett - der große Mann lachte laut, herzlich und mit weit geöffnetem Mund. Auch Lotte Lindenthal ließ ein perlendes Koloraturgelächter hören, und der Schauspieler Höfgen - höchst dekorativ in sein schwarzes Cape gewickelt - zeigte ein Lächeln, das auf seiner Mephisto-Maske wie ein triumphales und dabei schmerzliches Grinsen schien.

Die Unterhaltung zwischen dem Mächtigen und dem Komödianten wurde immer angeregter. Ohne Frage: der Ministerpräsident amüsierte sich. Was für wunderbare Anekdoten erzählte Höfgen, der es erreichte, daß der Fliegergeneral geradezu trunken schien vor Wohlgelauntheit? Alle im Parkett suchten von den Worten, die Hendriks blutrot gefärbte und künstlich verlängerte Lippen sprachen, einige zu erhäschen. Aber Mephisto sprach leise, nur der Mächtige vernahm seine erlesenen Scherze. Mit schöner Gebärde breitete Höfgen die Arme unter dem Cape, so daß es wirkte, als wüchsen ihm schwarze Flügel. Der Mächtige klopfte ihm auf die Schulter: niemandem im Parkett entging es, und das respektvolle Murmeln schwoll an. Jedoch verstummte es, wie die Musik im Zirkus vor der gefährlichsten Nummer, angesichts des Außerordentlichen, was nun geschah.

Der Ministerpräsident hatte sich erhoben: da stand er in all seiner Größe und funkelnden Fülle, und er streckte dem Komödianten die Hand hin. Gratulierte er ihm zu seiner schönen Leistung? Es sah aus, als wollte der Mächtige einen Bund schließen mit dem Komödianten. Im Parkett riß man Mund und Augen auf. Man verschlang die Gesten der drei Menschen dort oben in der Loge als das außerordentliche Schauspiel, als die zauberhafte Pantomime, deren Titel lautet: Der Schauspieler verführt die Macht. Noch nie war Hendrik so heftig beneidet worden. Wie glücklich mußte er sein!

Ahnte irgend jemand von den Neugierigen, was wirklich - vorging in Hendriks Brust, während er sich tief über die fleischige und behaarte Hand des Mächtigen neigte? Waren es Glück und Stolz allein, die ihn erschauern ließen? Oder spürte er auch noch etwas anderes - zur eigenen Überraschung? Und was war dieses andere? War es Angst? Es war heinah Ekel… Jetzt habe ich mich beschmutzt', war Hendriks bestürztes Gefühl. Jetzt habe ich einen Flecken auf meiner Hand, den bekomme ich nie mehr weg… Jetzt habe ich mich verkauft… Jetzt bin ich gezeichnet!'

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