6

6. September 2375

Higby V


Mirrik hat das Glück eines Narren. Normalerweise hätten die Kapriolen des gestrigen Nachmittags sein Schicksal besiegelt. Statt dessen ist er dadurch auf verrückte Art und Weise zu einem Helden geworden, denn jetzt vergeben ihm alle seine vergangenen Sünden.

Es sah nach einer Katastrophe aus, als er ins Laboratorium geschneit kam. Beim Laboratorium handelt es sich zunächst einmal um eine kleinere Aufblashütte, die als Arbeitsplatz eingerichtet ist, und sie bietet nicht die räumlichen Voraussetzungen für das Herumtollen eines betrunkenen Dinamonianers. Als ich hinzukam, versuchte Mirrik gerade, sich auf die Hinterbeine aufzurichten, was für ein Geschöpf mit der Statur eines Rhinozeros ein hoffnungsloses Unterfangen ist. Mit jedem plumpen Satz wischte er Gegenstände von Tischen und zerschmetterte sie. Dr. Horkkk war an die Decke der Blashütte gekrabbelt und klammerte sich dort erschrocken fest. 408b saß oben auf dem Computer. Dr. Schein hatte einen der kleinen Laser gepackt und hielt ihn wie eine tödliche Waffe in der Hand. Und Pilazinool schraubte hastig seine Beine wieder an und bereitete sich zur Selbstverteidigung vor. Mirrik versuchte lautstark zu erklären, daß er im Mexiko-Stern-Wäldchen eine tiefgründige, geistige Erfahrung gemacht hatte. „Ich habe Einblick gehabt in wirkliche Weisheit!“ brüllte er. „Ich habe die Offenbarung gesehen!“

Er wirbelte herum, und sein Schwanz schleuderte meine Erhabenen-Kugel zu Boden.

Sie prallte zurück. Sie gab ein protestierendes, durchdringendes Knirschen von sich.

Und sie schaltete sich ein. Mirrik hatte einen festgeklemmten Schalter gelöst.

Zunächst wußten wir das nicht. Wir konnten nicht verstehen, was geschah. Mirriks gewaltiges Hinterteil war plötzlich grün anstatt so blau wie sonst, und auf seiner Haut begannen Bilder zu erscheinen und sich zu bewegen. Das war völlig rätselhaft. Doch einen Augenblick später begann ich zu begreifen, daß er als Leinwand für projizierte Abbildungen diente und daß die Bilder aus der Kugel stammten.

Dann erweiterte sich der Projektionsbereich und umfaßte das ganze Laboratorium. Seltsame und bizarre Gestalten glitten über die Wände, flossen auseinander und wieder zusammen. Beängstigende Szenerien schimmerten in der Luft.

„Raus hier!“ befahl Dr. Schein. „Alle raus! Schnell!“

Durch die Art und Weise, wie er dies sagte, gewann ich den Eindruck, irgend etwas drohe zu explodieren. Mirrik muß das ebenfalls angenommen haben, denn er wandte sich um und floh in vollem Galopp. Wir anderen folgten ihm, bis auf Dr. Schein, Dr. Horkkk und Pilazinool, der die Tür des Laboratoriums hinter uns zuknallte und verriegelte. Draußen bildeten wir wie benommen eine kleine Gruppe und versuchten zu verstehen, was passiert war. Mirrik war dadurch sogar wieder nüchtern geworden. Er schwankte umher, ließ sich zu Boden fallen, schüttelte den Kopf und klopfte mit den Stoßzähnen.

Eine Stunde später durften wir wieder ins Laboratorium hinein.

„Hier ist er!“ rief Dr. Schein aus, als ich eintrat. „Der Entdecker höchstpersönlich!“ Dann kam Mirrik herein und sah sich ein wenig schüchtern um. „Und dort ist derjenige, der sie eingeschaltet hat!“

So wurde mir schließlich doch noch ein wenig Anerkennung zuteil. Und ich vermute, man verzieh mir auch die überstürzte Hast, mit der ich die Kugel aus dem Boden geholt hatte. Auch Mirrik wurde für sein berserkerartiges Betragen amnestiert. Wer wollte jemandem noch etwas nachtragen, in einem solchen Augenblick?

Die Kugel lag auf einer Werkbank, in jenem Teil des Laboratoriums, wo man die Inschriftsknoten aufgestapelt hatte. Sie war ganz rund und sah mehr nach einer Art Skulptur als einer Maschine aus… bis auf die Kontrollapparaturen auf der einen Seite. In den glatten Bereichen zwischen den herausragenden Hebeln und Tasten und Knöpfen konnte ich mein eigenes Spiegelbild sehen, verzerrt und in die Länge gezogen, als betrachtete ich mich in einem Zerrspiegelkabinett.

Dr. Schein hatte alle zur Vorführung bestellt. In seinem Gesicht lag dieser Dies-ist-eine-GROSSE-Sache-Ausdruck. Der nervöse kleine Dr. Horkkk schien ganz aus dem Häuschen zu sein. Pilazinool hatte sich nicht nur demontiert, wie es in aufregenden Augenblicken seine Angewohnheit war, sondern er hatte sich auch verkehrt wieder zusammengesetzt, mit der linken Hand am rechten Arm und so weiter. Ich brauchte eine Weile, um herauszufinden, warum er so seltsam aussah.

Auf ein Zeichen von Dr. Schein hin trat 408b lässig vor. Seine Augen zwinkerten in rascher Folge, jeweils drei auf einmal, und das bedeutete, daß es im Innern des bellatrixanischen Gehirns wirklich auf Hochtouren arbeitete. Es nickte ruckartig, öffnete und schloß seinen Schnabel einige Male und sagte dann schließlich: „Ich kann nur sehr wenig erklären, da ich nur sehr wenig verstehe. Das Gerät, das Sie vor sich sehen, funktioniert als ein Projektor, verfügt aber über keine sichtbaren Linsen oder Objektive, und ein Bildschirm oder eine Leinwand als Projektionsfläche für die Bilder ist ebenfalls nicht notwendig. Auch über die Energiequelle können wir nur Mutmaßungen anstellen. Eingeschaltet wird die Kugel mit diesem Hebel…“ — es berührte einen kleinen Knauf — „… den wir nur durch Zufall entdeckten. Verdunkeln Sie den Raum, bitte.“ 408b ergriff eine Filmkamera und benutzte einige seiner Tentakel dazu, sie einzustellen und in Betrieb zu setzen. „Da wir weder wissen, wie lange die Kugel in Funktion bleiben wird, noch, ob wir sie dazu veranlassen können, eine der uns gezeigten Szenen zu wiederholen, werden wir eine komplette Filmaufzeichnung anfertigen — jedesmal, wenn wir sie benutzen.“

Es betätigte den Knauf.

Grünlicher Schein drang aus der Kugel hervor. Die Lichtzone dehnte sich aus, bis sie eine zwanzig Meter durchmessende Sphäre umfaßte und damit praktisch den ganzen Bereich des Laboratoriums ausfüllte, in dem wir uns befanden. Plötzlich sahen wir Gestalten, die sich auf der Oberfläche der Lichtsphäre bewegten.

Erhabene.

Was wir nun zu sehen bekamen, war ein 360-Grad-Film, und wir saßen im Innern des Projektionsbereiches. Die Kugel zeigte uns fünf oder sechs verschiedene Sequenzen, wobei jede einzelne sich ein wenig mit der Nachbarszene überlappte. Während wir uns umdrehten, verschwanden einige Sequenzen und wurden durch andere ersetzt. Einige aber blieben stabil. Es war wirklich mühsam, alles in sich aufzunehmen, denn es geschah so viel zugleich. In den ersten fünf Minuten drehte und drehte ich mich auf meinem Platz und wollte alles auf einmal betrachten. Ich war verzweifelt darüber, daß eine Szene verschwand, während ich noch versuchte herauszufinden, was es mit einer anderen auf sich hatte. Ich beneidete die Wissenschaftler nicht, die aus all diesem schlau werden müssen. Aber wenigstens würde die Kamera mit dem Weitwinkelobjektiv, die direkt neben der Kugel angebracht war, das ganze Durcheinander rundherum festhalten. Weißt du, die einzige Möglichkeit, mit einer Informationsschwemme fertig zu werden, besteht darin, eine Aufzeichnung aller eintreffenden Daten anzufertigen und die einzelnen Posten dann Stück für Stück unter die Lupe zu nehmen, mit deiner dir eigenen Datenverarbeitungs-Geschwindigkeit.

Nach kurzer Zeit hörte ich auf, mich zu drehen und konzentrierte mich auf das Betrachten jeder einzelnen Sequenz — trotz der Frustration darüber, alles andere, was vor sich ging, zu verpassen. Ich werde versuchen, einige der Bilder zu beschreiben, die ich gesehen habe.

Eine Szene war in einer Stadt der Erhabenen aufgenommen. Das nehme ich jedenfalls an. Ich sah umherstreifende Gestalten, jene sechsgliedrigen Humanoiden mit den kuppelförmigen Köpfen, die uns von den Plakettendarstellungen her so vertraut sind. Ihre Haut war von satter, dunkelgrüner Farbe und von sich überlappenden, glänzenden Schuppen bedeckt, was vielleicht auf reptilartige Vorfahren hindeutet. Sie gingen nicht, sie glitten eher dahin, schienen fast zu schweben; ich kann nicht erklären, warum sie so anmutig wirkten.

Ihre Stadt bestand aus weit in den Himmel ragenden Pfeilern, die jeweils vielleicht fünfzig Meter voneinander entfernt waren — ich besaß keinen Vergleichsmaßstab. Weit oben war eine Art Netzwerk gespannt, das die Gipfel aller Pfeiler miteinander verband. Wie Spinnen von einem Spinnennetz baumelten Bauwerke von diesem Geflecht: Jedes schwang am Ende eines langen Kabels sanft hin und her, und jedes hing hoch über dem Boden und war unterschiedlich weit vom Netz darüber entfernt. Diese Schwebhäuser waren größtenteils tränenförmig, aber es gab auch sphärische und kubische und achteckige. Kleinere Kabel stellten die Verkehrsverbindungen zwischen den herabhängenden Gebäuden dar. Die Luft war voller Erhabener, die hinauf- oder hinunterglitten oder horizontal dahinschwebten, und sie hielten sich dabei an Kabeln fest, die sich von ganz allein zu bewegen schienen. Goldgrünes Sonnenlicht sickerte durch die obersten Schichten des Netzes, und es erweckte den Eindruck, als befände sich alles unterhalb des Meeresspiegels. Während ich zusah, brach die Nacht an, und plötzlich glänzte das Licht Tausender Sterne herunter. Jetzt begannen sich die Gebäude selbst zu bewegen: An ihren Kabeln glitten sie in die Höhe oder Tiefe, während Erhabenein großer Zahl von einem zum anderen wechselten. Ich habe fremdartige Bilder gesehen, Lorie, aber nichts so Fremdartiges wie dies hier. Jene großen und anmutigen Geschöpfe (irgendwie stelle ich sie mir viel größer als Menschen vor), jene herabhängenden Häuser, das gespenstische Tageslicht und der überwältigende Glanz der Sterne… all das vermischte sich zu etwas vollkommen Fremdartigem.

Der Aufnahmewinkel förderte diesen Eindruck noch. Ich hätte angenommen, daß in den rund vier Jahrhunderten, seit Edison seine erste Filmkamera montierte, alle Arten, eine bestimmte Szene zu filmen, ausprobiert worden sind. Aber wer auch immer diesen eine Milliarde Jahre alten Schnappschuß aufgenommen hat, er hat die Dinge auch nicht annähernd auf die Weise betrachtet wie ein moderner Kameramann von heute. Und deshalb hatten wir es mit sich ständig verändernden Blickwinkeln zu tun: einmal von oben, dann von unten, dann aus dem Zentrum der Stadt. Die Kamera glitt so frei durch jene seltsame Stadt, daß ich mich an der Laboratoriumsbank festklammern mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Wie in einem Traum gefangen, sah ich eine ganze Zeitlang zu, wie diese Geschöpfe ihren rätselhaften Beschäftigungen nachgingen, wie sie an ihren Kabeln hinauf- und hinunterglitten, sich voreinander verneigten, sich anmutig die Hände reichten und Geschenke austauschten (ich erkannte einige Inschriftsknoten, die den Besitzer wechselten), wie sie in Gespräche verwickelt waren, denen ich nicht zuhören konnte, da die Projektion ohne akustische Untermalung war. Dann drehte ich mich um und wandte mich der nächsten Sequenz zu.

Sie zeigte eine Szene im Innern eines der Schwebhäuser: ein großer, von rötlichem Licht erhellter Raum, dessen Wände mit einer lebendigen Substanz bedeckt zu sein schienen, mit etwas Weichem und Vibrierendem, das in unregelmäßigen Abständen anschwoll und zusammenschrumpfte, sich einmal aufblähte und spannte wie ein Trommelfell, sich dann kräuselte und wie ein Hautlappen wand.

Neun Erhabene befanden sich in diesem Raum. Zwei von ihnen hatten sich an in der Decke befestigten Kabeln festgeklammert und waren, soweit ich das feststellen konnte, wie in Trance erstarrt — oder vielleicht tot und ausgestopft. (Die Begräbnissitten von fremden Rassen entziehen sich jedem Verständnis. Ebenso wie die Begräbnissitten von Völkern, die gar nicht so fremdartig sind. Kannst du dir den Sinn erklären, warum man Tote in einen Kasten legt und diesen Kasten in die Erde eingräbt?) Drei der Erhabenen standen in einer dem Aufnahmepunkt gegenüberliegenden Ecke und waren mit etwas beschäftigt, bei dem es sich um einen seltsam anmutenden Volkstanz handeln konnte oder um eine Art Sex: Sie hatten sich mit dem Gesicht nach innen und gegenseitig eingehakten Armen im Kreis aufgestellt, preßten die Wangen aneinander und glitten mit langsamen und genau abgestimmten Bewegungen herum und herum und herum. Werde du daraus schlau. Ein anderer Erhabener beugte sich über eine Miniaturausführung einer Kugel, die derjenigen sehr ähnlich war, die uns unterhielt. Sie projizierte ein winziges Bild, aber wir konnten es nicht deutlich erkennen. Die anderen drei Erhabenen saßen in einer Bodenmulde, reichten einen flaschenartigen Behälter mit einer farbigen Flüssigkeit herum und tauchten dann und wann die Fingerspitzen hinein.

Die angrenzende Sequenz zeigte die Konstruktion eines der Schwebhäuser. Zunächst wurde vom Netz aus ein Kabel heruntergelassen. Dann spuckten Maschinen am Boden Strahlen aus — Kunststoff? — in die Luft. In der Mitte zwischen Netz und Boden hefteten sich die hochgestrahlten Materialien an das Kabel, als würden sie durch ein Magnetfeld davon angezogen, und dann nahm die Masse von ganz allein die Form eines eleganten, achteckigen Gebildes an. Alles geschah vollkommen automatisch, und es dauerte nur etwa sechs Minuten.

Bei der vierten Sequenz handelte es sich nur um ein abstraktes Muster, ein Auf- und Abspulen grüner und roter Formen, das so wechselhaft und verwirrend war, daß ich mich nicht näher darüber auslassen möchte.

Die fünfte Sequenz zeigte eine öde Landschaft: keine Bäume, kein Gras, verstreute, eisbedeckte Felsbrocken, kupferroter Himmel, eisengrauer Boden, die Sonne blaß und kraftlos. In mittlerer Entfernung befand sich eine weitere Dreiergruppe von Erhabenen, die Gesichter nach innen, die Arme ineinander gehakt, die Wangen aneinandergepreßt… der gleiche langsame Tanz.

Die sechste Sequenz präsentierte das Innere einer Art Höhle, deren Wände von großen, rohen Edelsteinen überkrustet waren, von funkelnden Kristallen Hunderter verschiedener Arten. Die Kamera spähte durch den Boden der Höhle, der offenbar aus Glas bestand, und enthüllte in einer unterirdischen Kammer gewaltige, pochende und hämmernde Maschinen: riesige, grüne, unaufhörlich pumpende Kolben, glänzende, schwarze Fließbänder, rotierende Turbinen. Erhabene mit gelben Gürteln (die einzige Bekleidung, die sie überhaupt zu tragen schienen) schritten durch die Gänge zwischen diesen Aggregaten und blieben gelegentlich stehen, um Kontrollpulte zu überprüfen.

Ich hatte eine volle Drehung ausgeführt, denn bei der angrenzenden Sequenz handelte es sich wieder um das Bild der Stadt, das sich nicht sonderlich verändert hatte. Der Raum mit den neun Erhabenen aber war verschwunden, und dafür sah ich nun die Nahaufnahme eines einzelnen Erhabenen, der einen Inschriftsknoten in Händen hielt. Die Kamera holte den Ausschnitt mit der Inschrift näher heran, und eine ganze Zeitlang veränderte sich dieses Bild nicht, so daß man erkennen konnte, wie sich die Inschrift mehrmals veränderte.

Die Sequenz daneben zeigte nicht mehr den Bau des Schwebhauses. Sie präsentierte nun…

Aber warum damit fortfahren? Eine volle Stunde lang betrachtete ich diese Szenen, und alle waren faszinierend, alle verwirrend. Ich könnte mit der Multiplizierung der Rätsel weitermachen, indem ich alles aufliste, aber inzwischen hast du sicher eine Vorstellung davon, wie fremdartig und seltsam dieses Volk ist, wie hochentwickelt seine Zivilisation und wie wenig wir davon verstehen.

Eine seltsame Sache. Für gewöhnlich entdeckt man durch die Archäologie Verwandtschaften mit uralten Vorfahren. „Wie sehr uns die alten Ägypter doch ähnelten!“ würde ein Ägyptologe sagen. „Sie logen und betrogen, sie gingen fremd und frisierten ihre Steuern. Alle unsere eigenen speziellen kleinen Sünden gab es auch bei ihnen! Selbst die Untertanen des Pharao hatten ihre Schwächen und Ambitionen, ihre Hoffnungen und Träume.“ Und so weiter und so fort. Setz die Sumerer an die Stelle der Ägypter oder die Cro-Magnon-Höhlenmaler an die der Sumerer, und die Experten werden es dir weiter vorbeten: Je mehr wir über sie herausfinden, desto deutlicher wird, daß jene Menschen aus fernster Vergangenheit nur einfache und schlichte Leute waren.

Ha! Was bei den Erhabenen ganz und gar nicht der Fall ist! Diese Kugel, die ich gefunden habe, hat uns eine Million mal mehr über sie erzählt, als wir vorher wußten: darüber, wie sie aussahen und sich bewegten, über die Art ihrer Städte, ein wenig von ihren Gebräuchen. Und es scheint sich bei ihnen ganz und gar nicht um einfache und schlichte Leute gehandelt zu haben. Sie machen einen vollkommen fremdartigen Eindruck; sie scheinen noch weitaus fremdartiger zu sein als die Shilamakka oder Dinamonianer oder Thhhianer oder irgendeines der anderen fremden Völker, denen wir heute begegnen können. Es mag schwierig für uns sein, die dinamonianische Theologie oder die Marotte der Shilamakka zu begreifen, völlig gesunde Körperglieder mit Maschinenteilen zu ersetzen, aber dennoch können wir uns mit diesen Aliens auf einer allgemeinen Basis verständigen. Ich glaube, mit den Erhabenen hätten wir uns niemals verständigen können. Auch dann nicht, wenn sie nicht durch eine Kluft von einer Milliarde Jahre von uns getrennt wären. Der Grund dafür ist nicht allein ihre gewaltige technologische Überlegenheit. Ihre Denkweise bliebe uns immer unverständlich.

Erinnere dich nur mal an die verschiedenen Kulturen auf der Erde, bevor Kommunikationssatelliten und Raketenfähren dafür sorgten, daß sich die Lebensweise jedes einzelnen an die aller anderen anglich. Denk an die Weltanschauungen der Eskimos, Polynesier und Beduinen, an die der amerikanischen Präsidenten und Pueblo-Indianer und Tibeter. Sie haben nicht sonderlich viel miteinander gemeinsam. Tatsächlich sind sie sogar ziemlich unterschiedlich, und doch sind das alles Bewohner des gleichen Planeten. In Ordnung, letztendlich starben sie alle aus oder vermischten sich und wurden zu „Terranern“, doch jetzt waren wir Teil einer Galaxis voller anderer intelligenter Völker, und jedes von ihnen hat eine andere Kultur und unterscheidet sich sehr von uns… und so weiter. Breite Kluften zwischen den Bewohnern des gleichen Planeten und noch breitere zwischen denen von verschiedenen Welten… doch all diese Abrunde sind überbrückbar.

Aber der größte Abgrund von allen scheint zwischen den Erhabenen und uns zu bestehen. Vergiß meine romantischen Vorstellungen darüber, daß sie noch irgendwo leben und wir sie finden. Ich möchte sie überhaupt nicht mehr finden. Ich glaube, es wäre ziemlich erschreckend, käme es zu einer Begegnung.

Nachdem wir die Bilder der Kugel eine Stunde lang betrachtet hatten, schaltete 408b den Projektor ab, und wir diskutierten. Das bedeutet, daß wir elf uns alle zusammensetzten und zu interpretieren versuchten, was wir gerade gesehen hatten. Jan suchte sich sorgfältig einen Platz, der möglichst weit von Leroy Chang entfernt war, doch Leroy schien sich größte Mühe damit zu geben, sie nicht einmal anzublicken. Offenbar fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut und war noch nervöser als sonst. Ich vermute, er fürchtete, Jan könnte aufstehen und ihn als Vergewaltiger brandmarken. Und als stümperhaften Vergewaltiger obendrein. (Frage: Wann ist ein Mann abscheulicher: Wenn er einer Frau gegenüber erfolgreicher seinen Willen durchsetzt, oder wenn er ein so farbloser Nichtsnutz ist, daß er die Sache verpfuscht? Mach dir nicht die Mühe, eine Antwort zu finden.) Dr. Schein fungierte als Vorsitzender. „Es ist offensichtlich“, sagte er, „daß sich der ganze Bereich der Erhabenen-Archäologie von einem Augenblick zum anderen verändert hat. Zum ersten Mal wissen wir nun etwas darüber, wie ihre Lebensweise beschaffen war. Als Resultat von Tom Rices hervorragender Entdeckung.“

Ich errötete artig und nickte, um den Beifall einer Vielzahl von Bewunderern anzuerkennen.

Dr. Horkkk löschte das Feuer meines Stolzes zum Teil, indem er sagte: „Lassen Sie mich hinzufügen, daß dieses großartige Artefakt als Resultat einer rücksichtslosen Ausgrabungstechnik beinahe zerstört worden wäre.“

Ich blickte beschämt zu Boden, und aus Mangel an einer sinnvolleren Beschäftigung zählte ich meine Zehen. In seiner eleganten und vernichtenden Art und Weise führte Dr. Horkkk einige weitere Kritikpunkte an, und ich versuchte unterdessen, im Boden zu versinken. Jan, die direkt neben mir saß, flüsterte: „Laß dich von ihm nicht ins Bockshorn jagen. Du hast sie gefunden. Und du hast sie nicht zerstört.“ Ich sollte noch hinzufügen, daß sich Jan dazu entschlossen hatte, neben mir zu sitzen anstatt neben Saul Shahmoon. Interessant. Versucht sie, seine schlummernde Eifersucht zu wecken, oder beginnt sich zwischen Jan und mir etwas abzuspielen?

Als Dr. Horkkk damit fertig war, mir das Fell über die Ohren zu ziehen, sagte 408b: „Es ist fraglich, ob dieses Gerät tatsächlich Bilder von der Lebensweise jener Geschöpfe zeigt. Vielleicht stellt die Kugel ein Unterhaltungsinstrument dar und projiziert nur Phantasieszenen.“

„Ein guter Hinweis“, sagte Dr. Schein. „Aber ich kann mich dieser Auffassung nicht anschließen.“

Pilazinool nahm eine Hand ab und winkte damit, um das Wort zugeteilt zu bekommen. „Auf der Grundlage einer raschen Analyse“, sagte das Maschinenwesen, „bezweifle ich, daß 408b recht hat. Ich habe den Eindruck, wir haben es hier mit einer authentischen Darstellung des Lebens der Erhabenen zu tun. Ich kann nicht sagen, welchen Zweck diese Kugel einst erfüllt hat, aber ich bin davon überzeugt, bei jenen Bildern handelt es sich um echte Szenen des Alltagslebens, wie Dr. Schein zum Ausdruck brachte.“

Dr. Schein strahlte. 408b faltete verärgert seine Tentakel zusammen. Mirrik, Saul Shahmoon und Kelly trugen ihre Auffassungen mehr oder weniger gleichzeitig vor. Nach all den Dingen, die Dr. Horkkk über mich gesagt hat, hatte ich nicht den Schneid, meine Klappe aufzureißen, aber insgeheim stimme ich Pilazinool und Dr. Schein zu.

„Es stellt sich nun folgende Frage“, sagte Dr. Schein. „Sollen wir die Kugel zu einer detaillierten Analyse der in ihr enthaltenen Bilder an Zentralgalaxis schicken, oder sollen wir sie hierbehalten, damit sie uns während der noch verbleibenden Zeitspanne unserer Ausgrabungsarbeiten anleiten kann?“

„Hierbehalten“, sagte Pilazinool.

„An Zentralgalaxis schicken“, sagte Dr. Horkkk.

Eine ganze Zeitlang beratschlagten wir darüber. Und es stellte sich folgendes heraus: Dr. Horkkk war so von der Kugel gefesselt, daß er vorschlug, die Expedition an diesem Punkt abzubrechen, zur Zivilisation zurückzukehren und fort alle Anstrengungen auf den Versuch zu konzentrieren, aus den projizierten Bildern neue Erkenntnisse zu gewinnen. Leroy Chang unterstützte diese Anregung. Ich glaube, Leroy sucht nach irgendeinem Vorwand, Higby V nach dem Fiasko mit Jan verlassen zu können.

„Das erscheint mir zu überstürzt“, sagte Steen Steen. „Warum sollten wir die Fundstelle jetzt verlassen, obwohl wir dicht vor noch erstaunlicheren Entdeckungen stehen könnten?“

Die erste vernünftige Bemerkung, die ich überhaupt von ihm/ihr gehört habe.

„Solange wir und die Kugel hierbleiben“, gab Dr. Horkkk zurück, „riskieren wir, daß sie verloren gehen oder zerstört werden könnte. Es ist unsere Pflicht, sie sicher zu einem zivilisierten Planeten zu bringen.“

Dr. Schein, der in seiner sanften Art mörderisch sein kann, lächelte seinem thhhianischen Rivalen freundlich zu und sagte: „Dr. Horkkk, vielleicht sind Sie und Professor Chang geneigt, diese Expedition zu verlassen und die Kugel zu einer sicheren Welt zu transportieren, während wir anderen die Arbeit weiterführen?“

Dr. Horkkk gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Dieser Schachzug gefiel ihm gar nicht.

Als die verbale Schlacht schließlich zu Ende ging, kam eine vernünftige Entscheidung heraus. Wir alle — und die Kugel — bleiben so lange auf Higby V, bis die geplante Dauer der Ausgrabungsarbeiten vorüber ist. Aber um der Sicherheit willen werden wir jeweils einige Kopien von den Filmaufnahmen der Kugelprojektionen anfertigen und sie an Bord des monatlichen Transporters zur Zivilisation schicken. Jan und mir wurde der Auftrag erteilt, eine Pressemitteilung über die Kugel zu schreiben, die dann so schnell wie möglich via TP-Kommunikationsnetz weitergegeben werden soll. Wir werden die Mitteilung heute abend zu Papier bringen.

Der Arbeitsplan wird ein wenig abgeändert. Pilazinool, 408b und Dr. Horkkk werden von allen Aufsichtspflichten bei der Ausgrabungsstelle befreit und befassen sich statt dessen praktisch die ganze Zeit über damit, die von der Kugel projizierten Szenen zu betrachten und über die Bedeutung der Bilder zu rätseln. Wir hoffen, wir erhalten dadurch einige Hinweise, die uns zu anderen bedeutenden Entdeckungen führen. Das bedeutet, die Verantwortung, die Grabarbeiten zu überwachen, wird Dr. Schein und Leroy Chang zufallen, denn Saul ist vollauf damit beschäftigt, die Artefakte im Laboratorium zu datieren. Und daß der größte Teil der tatsächlichen Ausgrabungsarbeiten in der Grube von unseren beiden Spezialgräbern, Mirrik und Kelly, und den drei Lehrlingen ausgeführt werden muß: Steen, Jan und deinem lieben Brüderchen.

Essenszeit jetzt. Das Wetter draußen ist scheußlich: Es regnet mal wieder.

Ich fühle mich noch immer wie benommen von den Bildern, die von der Kugel projiziert worden sind. Jene herabhängenden Häuser… die seltsamen Gebräuche… vor allem aber, die Gesichter von Erhabenen gesehen zu haben. Habe ich ihre Augen erwähnt? Drei sind es, und sie stehen dicht beisammen. Kalt. Funkelnd. Sie betrachten einen aus diesen Projektionsszenen, und man möchte sich am liebsten irgendwo verkriechen. Dieser Ausdruck kühler Intelligenz… das Gefühl, einem Wesen ins Gesicht zu sehen, das hunderttausend Jahre alt ist. Es ist schrecklich, dem Blick eines Erhabenen zu begegnen, der einen über eine so breite Zeitkluft hinweg trifft. Was war es für eine Rasse? Wo erwarben sie die Fähigkeiten, die sie so groß werden ließen, noch bevor sich die anderen Völker der Galaxis zu entwickeln begonnen hatten? Wie gelang es ihnen, ihre Zivilisation über all die Hunderte von Millionen Jahren funktionsfähig zu erhalten? (Hunderte von Millionen Jahren! Jene uralten Ägypter und Cro-Magnons lebten in einer Zeit, die nur ein Augenzwinkern zurückliegt — mit solchen Maßstäben haben wir es zu tun!)

Und damit genug der tiefschürfenden philosophischen Betrachtungen. Dein aufgeweckter und tiefsinniger Bruder hat Hunger. Bis später, Ende.


Schlafenszeit, fünf Stunden später, am gleichen Abend.

Nach dem Essen haben Jan und ich einige Stunden damit verbracht, die Pressemitteilung zu formulieren. Eigentlich hat sie das alles geschrieben, obwohl man mir nachsagt, ich könnte gut mit Worten umgehen und so weiter. Ich habe die Zeit damit vertrödelt, indem ich einige Skizzen entwarf und sie dann wieder zerknüllte. Dann klemmte sie sich dahinter und schrieb ohne die geringste Schwierigkeit ein professionell klingendes Statement herunter. Dieses Mädchen ist mächtig auf Zack. Morgen fahren wir in die Stadt und geben die Mitteilung den TP-Leuten, und ich hoffe, diese Kuh von Marge Hotchkiss hat dienstfrei.

Alle anderen haben den Abend im Laboratorium verbracht. Als wir fertig waren, sind Jan und ich hinübergegangen. Schach ist hier jetzt altmodisch geworden. Wie heute besteht die allabendliche Unterhaltung darin, die von der Kugel projizierten Bilder zu betrachten. Heute abend waren einige neue zu sehen, ebenso verblüffend wie die anderen. Offenbar hat das Ding in seinem Innern eine unbegrenzte Anzahl von Filmrollen oder was auch immer. Ich hoffe, wir lassen es nicht heißlaufen.

Загрузка...