Obwohl Danjin Speer schon mehrfach im Tempel des Jarime gewesen war, hatte er heute zum ersten Mal das Gefühl, wirklich dort angekommen zu sein. In der Vergangenheit war er auf Geheiß anderer hier gewesen oder um mindere Dienste als Übersetzer zu leisten. Diesmal war es anders; diesmal war er hier, um, wie er hoffte, die bedeutendste Stellung seiner Laufbahn anzutreten.
Wohin auch immer ihn dies führen würde, und selbst wenn er versagte oder seine Pflichten sich als lästig oder unerfreulich erweisen sollten, diesen Tag würde er nie wieder vergessen. Er nahm seine Umgebung viel deutlicher wahr als sonst – vielleicht um sie sich für spätere Betrachtung einzuprägen. Vielleicht liegt es nur an meiner Nervosität, dachte er, dass diese Reise mir so vorkommt, als dauere sie eine Ewigkeit.
Man hatte ihn von einem Plattan abholen lassen. Der kleine, zweirädrige Wagen schaukelte sacht hin und her, den Bewegungen des Arem folgend, der ihn zog. Langsam kamen sie an anderen Wagen vorbei, an Dienstboten und Soldaten und an reichen Männern und Frauen, die umherschlenderten. Danjin biss sich auf die Unterlippe und widerstand der Versuchung, den Mann, der auf dem schmalen Kutschbock hockte, das sanftmütige Geschöpf zu einer schnelleren Gangart antreiben zu lassen. Alle Diener des Tempels besaßen eine stille Würde, die die meisten Menschen davon abhielt, sie herumzukommandieren. Vielleicht lag das daran, dass ihr Verhalten an das der Priester und Priesterinnen erinnerte, und sie kommandierte man gewiss nicht herum.
Sie näherten sich dem Ende einer langen, breiten Straße. Zu beiden Seiten reihten sich große, zwei- und dreistöckige Häuser – ein deutlicher Gegensatz zu dem Gewirr von Wohngebäuden, Läden und Lagerhäusern, die den größten Teil der Stadt bildeten. Die Häuser auf der Tempelstraße waren so teuer, dass nur die Reichsten sie sich leisten konnten. Obwohl Danjin einer der wohlhabendsten Familien in Jarime angehörte, wohnte nicht ein einziger seiner Verwandten hier. Die Mitglieder seiner Familie waren Kaufleute und interessierten sich für den Tempel und die Religion geradeso, wie sie sich für den Markt und ihr Abendessen interessierten: Sie waren eine grundlegende Notwendigkeit, um die großen Wirbel zu machen sich nicht lohnte, es sei denn, es ließe sich damit Wohlstand erwerben.
Danjin dachte anders und hatte es getan, solange sein Gedächtnis zurückreichte. Nicht alle Werte, so glaubte er, wurden in Gold bemessen. Hingebung an eine gute Sache, das Gesetz, zivilisiertes Verhalten, Kunst und der Erwerb von Wissen waren Werte an sich – allesamt Dinge, von denen sein Vater glaubte, man könne sie kaufen oder ignorieren. Der Plattan erreichte den Weißen Bogen, der sich über den Eingang des Tempels spannte, und Reliefschnitzereien der fünf Götter ragten über Danjin auf. Mit Gold gefüllte Rillen gaben auf überzeugende Weise das strahlende Licht wieder, das die Götter verströmten, wenn sie ihre sichtbare Gestalt annahmen. Ich weiß, was Vater dazu sagen würde: Wenn Geld den Göttern nichts bedeutet, warum ist ihr Tempel dann nicht aus Stöcken und Lehm gebaut?
Der Plattan fuhr unter dem Bogen durch, und die volle Pracht des Tempels wurde sichtbar. Danjin seufzte anerkennend. Er war, wie er zugeben musste, recht froh, dass der Tempel nicht aus Stöcken und Lehm gebaut war. Zu seiner Linken sah er die Kuppel, eine gewaltige Halbkugel, unter der Zeremorden abgehalten wurden. Hohe Bogengänge im Sockel des Gebäudes gewährten Zutritt ins Innere und vermittelten den Eindruck, die Kuppel schwebe unmittelbar über dem Boden. Unter der Kuppel stand auch der Altar, an dem die Weißen mit den Göttern in Verbindung traten. Danjin hatte ihn noch nie gesehen, aber vielleicht würde er durch seine neue Tätigkeit eine Gelegenheit dazu finden.
Neben der Kuppel ragte der Weiße Turm auf. Das höchste Gebäude, das je existiert hatte, schien sich bis in die Wolken zu erheben. Aber so war es natürlich nicht. Danjin war in den höchstgelegenen Räumen gewesen und wusste, dass die Wolken unerreichbar weit entfernt darüber lagen. Die Illusion musste auf Besucher jedoch einen starken Eindruck machen. Er konnte durchaus erkennen, wie vorteilhaft es war, sowohl das gemeine Volk als auch fremdländische Herrscher zu beeindrucken und ihnen ein Gefühl der Demut zu vermitteln.
Rechter Hand schlossen sich an den Turm die Fünf Häuser an, ein großes, achteckiges Gebäude, das die Priesterschaft beherbergte. Danjin hatte es nie betreten und würde es wahrscheinlich auch niemals tun. Obwohl er die Götter und ihre Anhänger respektierte, verspürte er keinerlei Drang, selbst Priester zu werden. Mit seinen einundfünfzig Jahren war er zu alt, um einige seiner schlechten Angewohnheiten aufzugeben. Und seine Frau hätte ein solches Tun niemals gutgeheißen.
Andererseits könnte ihr der Gedanke durchaus gefallen. Er lächelte vor sich hin. Sie beklagt sich stets über die Unordnung, die ich in ihr Haus und ihre Pläne bringe, wenn ich daheim bin.
Konzentrische Ringe von gepflasterten Wegen und Gartenbeeten umgaben die Tempelbauten in beträchtlicher Breite. Der Kreis war das heilige Symbol des Zirkels der Götter, und einige der Methoden, mit denen dieser Umstand im Tempel versinnbildlicht wurde, weckten in Danjin die Frage, ob es sich bei den ersten Architekten und Gestaltern der Gebäude vielleicht um schwachsinnige Fanatiker gehandelt haben mochte. War es wirklich nötig gewesen, zum Beispiel die Gemeinschaftstoiletten mit kreisförmigen Entwürfen zu schmücken?
Der Plattan rollte immer näher an den Turm heran. Danjins Herz schlug jetzt ein wenig zu schnell. Weiß gekleidete Priester und Priesterinnen schritten auf den Wegen einher; einige von ihnen bemerkten seine Ankunft und nickten ihm höflich zu, wie sie es wahrscheinlich bei jedem taten, der so reich gekleidet war wie er. Schließlich blieb der Plattan neben dem Turm stehen, und Danjin stieg aus. Er dankte dem Fahrer, der mit einem knappen Nicken antwortete, bevor er dem Arem das Zeichen gab, sich wieder in Bewegung zu setzen.
Danjin holte tief Luft und wandte sich dem Eingang des Turms zu. Schwere Säulen trugen einen breiten Bogen. Er trat ein. Magische Lichter ließen offenbar werden, dass das gesamte Erdgeschoss des Turms aus einer von vielen Säulen getragenen Halle bestand. Hier wurden Versammlungen abgehalten und wichtige Besucher empfangen. Da die Weißen nicht nur über Hania herrschten, sondern auch der Zirklerreligion als Oberhäupter vorstanden, war der Tempel ebenso sehr Palast wie religiöses Zentrum. Hier versammelten sich bei wichtigen Gelegenheiten Herrscher anderer Länder, ihre Botschafter und andere bedeutende Persönlichkeiten, um über politische Angelegenheiten zu verhandeln. Dies war eine einzigartige Situation; in allen anderen Ländern war die Priesterschaft der herrschenden Macht untergeordnet.
Die Halle war voller Menschen, und ein Summen von vielen Stimmen lag in der Luft. Priester und Priesterinnen eilten umher oder mischten sich unter die Besucher, Männer und Frauen in Tuniken aus luxuriösen Stoffen, die trotz der Hitze üppige Kapas trugen und glitzernden Juwelenschmuck zur Schau stellten. Danjin, der die Gesichter der Umstehenden betrachtete, verspürte etwas, das an Ehrfurcht grenzte. Beinahe jeder Herrscher und fast alle berühmten, wohlhabenden und einflussreichen Männer und Frauen von Nordithania waren zugegen.
Ich kann nicht glauben, was ich hier sehe.
All diese Menschen waren nur aus einem Grund in den Tempel von Hania geströmt: Sie wollten miterleben, wie die Götter den fünften und letzten Weißen auswählten. Jetzt, da die Zeremonie beendet war, wollten sie die neue Auserwählte kennenlernen.
Danjin zwang sich, seinen Weg zwischen zwei Säulenreihen hindurch fortzusetzen. Die Säulen bewegten sich strahlenförmig auf das Zentrum des Gebäudes zu und zogen ihn immer tiefer in eine massive, kreisförmige Mauer hinein. Diese Mauer umschloss eine Wendeltreppe, die sich bis zum höchsten Stockwerk schlängelte. Der Aufstieg in die oberen Bereiche des Turms war kräftezehrend, und die Schöpfer dieses Gebäudes hatten sich eine verblüffende Lösung für das Problem einfallen lassen. Im Treppenhaus hing eine schwere Kette, die in ein Loch im Boden mündete. Am Fuß der Treppe stand ein Priester. Danjin trat auf den Mann zu und schlug das offizielle Zeichen des Zirkels:
Er bildete mit Zeigefinger und Daumen beider Hände einen Kreis.
»Danjin Speer«, sagte er. »Dyara von den Weißen hat mich hergerufen.«
Der Priester nickte. »Willkommen, Danjin Speer«, antwortete er mit tiefer Stimme. Danjin wartete auf irgendein Anzeichen dafür, dass der Priester seine Ankunft durch Gedankenrede weitergab, aber der Mann zuckte nicht einmal mit der Wimper. Die Kette im Treppenhaus setzte sich in Bewegung. Danjin hielt den Atem an. Er fürchtete sich noch immer ein wenig vor dieser Vorrichtung im Zentrum des Weißen Turms. Als er aufblickte, sah er eine große Metallscheibe zu ihnen herabschweben.
Die Scheibe war der Boden eines Metallzylinders von der Breite des Treppenhauses. Diese Vorrichtung wurde allgemein »der Käfig« genannt, und die Gründe dafür lagen auf der Hand. Sie sah genauso aus wie die aus gebogenen Weidenzweigen geformten Käfige, in denen Tiere auf den Markt gebracht wurden – und wahrscheinlich weckte sie in jenen, die sie benutzten, ein ähnliches Gefühl von Verletzbarkeit. Danjin war dankbar dafür, dass dies nicht seine erste Fahrt im »Käfig« war. Obwohl er nicht glaubte, dass er diese Vorrichtung jemals ohne Unbehagen würde benutzen können, fürchtete er sich nicht mehr so sehr davor wie früher. Er war bereits nervös genug beim Gedanken daran, eine wichtige Stellung anzutreten, da konnte er auf zusätzliche Angst gut verzichten.
Als der Käfig unten angekommen war, öffnete der Priester die Tür und ließ Danjin ein. Der Käfig erhob sich, und Danjin verlor den Mann schnell aus den Augen. Auf dem Weg nach oben sah er in den Gängen Männer und Frauen in Zirks, uniformierte Diener und die Reichen und Wichtigen in ihren üppigen Gewändern. In den unteren Stockwerken lagen die Quartiere und Versammlungsräume für Würdenträger, die im Tempel zu Gast waren. Aber je höher der Käfig stieg, umso weniger Menschen konnte Danjin entdecken. Zu guter Letzt erreichte er die höchsten Ebenen, auf denen die Weißen lebten. Der Käfig verlangsamte seine Fahrt und blieb schließlich stehen. Danjin öffnete die Tür und trat hinaus. In der gegenüberliegenden Wand, zwei Schritte von ihm entfernt, befand sich eine Tür. Er zögerte, bevor er darauf zuging. Obwohl er inzwischen mehrmals mit Dyara, der zweitmächtigsten Weißen, gesprochen hatte, empfand er in ihrer Gegenwart noch immer ein wenig Scheu. Er wischte sich die verschwitzten Finger an seinem Gewand ab, holte tief Luft und hob die Hand, um anzuklopfen.
Seine Knöchel trafen ins Leere, da die Tür bereits aufgeschwungen war. Eine hochgewachsene Frau in mittleren Jahren lächelte ihn an.
»Genau zur vereinbarten Zeit, wie gewöhnlich, Danjin Speer. Tritt ein.«
»Dyara von den Weißen«, sagte er respektvoll und machte das Zeichen des Zirkels.
»Wie könnte ich mich verspäten, nachdem du mir freundlicherweise einen Plattan geschickt hast?«
Sie hob die Augenbrauen. »Wenn ein Plattan allein Garantie für Pünktlichkeit wäre, müssten mir eine Menge Leute, die ich in der Vergangenheit hergerufen habe, einiges erklären. Komm herein und nimm Platz.«
Sie drehte sich um und ging zurück in den Raum. Ihre Größe, zusammen mit der Gewandung einer Zirklerpriesterin, hätte sie selbst dann zu einer beeindruckenden Gestalt gemacht, wäre sie nicht eine der unsterblichen Weißen gewesen. Als er ihr in den Raum folgte, sah er, dass eine weitere Weiße zugegen war. Wieder machte er das Zeichen des Zirkels. »Mairae von den Weißen.«
Die Frau lächelte, und Danjin wurde leichter ums Herz. Mairaes Schönheit war in ganz Nordithania berühmt. In Tributgesängen wurde ihr Haar als Sonnenlicht auf Gold beschrieben, und ihre Augen wurden mit Saphiren verglichen. Es hieß, sie könne mit einem Lächeln einen König dazu bringen, ihr sein Reich zu schenken. Danjin bezweifelte, dass auch nur einer der gegenwärtigen Könige durch ein bloßes Lächeln gefügig gemacht werden konnte, aber das reizvolle Funkeln in Mairaes Augen und die Herzlichkeit ihres Wesens hatten ihm bisher noch jedes Mal seine Befangenheit genommen.
Sie war nicht so groß wie Dyara und verströmte auch nicht das strenge Selbstbewusstsein, das die ältere Frau ausstrahlte. Von den fünf Weißen war Dyara als Zweite auserwählt worden. Ihre Erwählung hatte vor fünfundsiebzig Jahren stattgefunden, als sie zweiundvierzig Jahre alt gewesen war, daher verfügte sie über ein Wissen von der Welt, das mehr als ein Jahrhundert umspannte. Mairae, die erst vor einem Vierteljahrhundert im Alter von dreiundzwanzig auserwählt worden war, besaß nur einen Bruchteil der Erfahrung der Älteren.
»Lass nicht zu, dass König Berro heute deine ganze Zeit für sich beansprucht«, sagte Dyara zu Mairae.
»Ich werde etwas finden, womit ich ihn ablenken kann«, erwiderte Mairae. »Brauchst du Hilfe bei den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten heute Abend?«
»Noch nicht. Es liegt jedoch noch ein ganzer Tag vor uns, an dem sich alle möglichen Katastrophen anbahnen könnten.« Sie hielt inne, als sei ihr soeben ein Gedanke gekommen, dann sah sie Danjin an. »Mairae, würdest du Danjin Speer Gesellschaft leisten, während ich etwas überprüfe?«
Mairae lächelte. »Natürlich.«
Als sich die Tür hinter Dyara schloss, wandte sich Mairae mit freundlicher Miene zu Danjin um. »Unsere neueste Rekrutin findet das alles hier noch ein wenig überwältigend«, sagte sie. »Ich erinnere mich noch gut daran, wie das für mich damals war. Dyara hat mir so viel zu tun gegeben, dass ich keine Zeit zum Nachdenken hatte.«
Ein leiser Stich der Furcht durchzuckte Danjin. Was würde er tun, wenn sich die neueste Weiße als unfähig erwies, ihren Pflichten nachzukommen?
»Kein Grund zur Sorge, Danjin Speer.« Mairae lächelte, und ihm fiel wieder ein, dass alle Weißen Gedanken lesen konnten. »Sie wird es schon schaffen. Der Gang der Ereignisse hat sie nur ein wenig überrascht.«
Danjin nickte erleichtert und betrachtete Mairae. Dies könnte eine Möglichkeit sein, ein wenig mehr über die neueste Weiße in Erfahrung zu bringen.
»Wie ist sie denn so?«, fragte er.
Mairae schürzte die Lippen und erwog ihre Antwort. »Klug. Mächtig. Den Göttern treu ergeben. Mitfühlend.«
»Ich meine, inwiefern unterscheidet sie sich von den übrigen Weißen?«, erläuterte er seine Frage.
Sie lachte. »Ah! Dyara hat mir nicht erzählt, dass du ein Schmeichler bist. Das gefällt mir bei einem Mann. Hmm.« Ihre Augen wurden schmal. »Sie versucht, alle Seiten einer Angelegenheit zu betrachten und herauszufinden, was Menschen brauchen oder wollen. Ich denke, sie wird eine gute Friedensstifterin sein.«
»Oder eine gute Verhandlungsführerin? Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie etwas mit dem Zwischenfall mit den Dunwegern vor zehn Jahren zu tun gehabt haben soll.«
»Ja. Es war ihr Dorf, das die Dunweger als Geisel genommen haben.«
»Ah.« Interessant.
Mairae richtete sich abrupt auf und blickte zu der Wand hinter ihm. Nein, verbesserte er sich, sie betrachtet nicht die Wand. Ihre Aufmerksamkeit ist anderswo. Langsam erkannte er die kleinen Zeichen, die auf Gedankenrede unter den Weißen schließen ließen. Nach einer Weile richtete sie den Blick wieder auf ihn.
»Du hast recht, Danjin Speer. Mir ist soeben übermittelt worden, dass König Berro den Wunsch geäußert hat, mich zu sehen. Ich fürchte, ich muss dich allein lassen. Wirst du auch ohne mich zurechtkommen?«
»Ja, natürlich«, antwortete er.
Mairae erhob sich. »Wir werden uns gewiss noch viele Male begegnen, Danjin Speer. Und ich bin davon überzeugt, dass du einen guten Ratgeber abgeben wirst.«
»Vielen Dank, Mairae von den Weißen.«
Nachdem sie gegangen war, war die Stille ungewöhnlich greifbar. Das liegt daran, dass kein Laut von draußen in diesen Raum dringen kann, dachte er. Er sah zum Fenster hinüber. Es war groß und rund und gab den Blick auf den Himmel frei. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Er stand auf und zwang sich, näher an das Fenster heranzutreten. Obwohl er das Bild, das sich ihm vom Weißen Turm darbot, schon oft gesehen hatte, brachte es ihn noch immer aus der Ruhe. Das Meer wurde sichtbar. Noch einige Schritte, und er konnte die Stadt unter sich erkennen – eine Spielzeugstadt voller winziger Häuser und noch winzigerer Menschen. Danjin machte einen weiteren Schritt, und sein Herz begann zu rasen, als die Kuppel in Sicht kam, wie ein gewaltiges Ei, das halb vergraben im Boden lag.
Der Boden. Der Boden, der weit, weit unter ihm lag.
Die Welt neigte sich und begann sich zu drehen. Danjin wich einige Schritte zurück, bis er nur noch das Meer und den Himmel sehen konnte. Sofort legte sich der Schwindel. Einige tiefe Atemzüge später verlangsamte sich auch sein Pulsschlag.
Dann hörte er, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Er drehte sich um und sah Dyara hereinkommen. Eine Priesterin begleitete sie. Als ihm klar wurde, wer dies sein musste, trat Neugier an die Stelle seiner Furcht. Die neue Weiße war ebenso groß wie ihre Begleiterin, aber ihre Arme waren dünner, und ihr Gesicht war schmal und kantig. Ihr Haar war um eine Schattierung heller als das von Dyara, das einen erdhaften Braunton aufwies. Die großen, an den äußeren Winkeln schräg stehenden Augen verliehen ihr ein vogelähnliches Aussehen. Diese Augen betrachteten ihn mit einem scharfen, klugen Ausdruck, dann spielte ein erheitertes Lächeln um ihre Lippen. Wahrscheinlich beobachtete sie ihn, wie er sie abschätzte, und las jeden einzelnen seiner Gedanken.
Gewohnheiten ließen sich nur schwer durchbrechen. Er hatte im Laufe der Jahre gelernt, den Charakter eines Menschen auf den ersten Blick einzuschätzen, und konnte jetzt nicht damit aufhören. Als sie und Dyara auf ihn zukamen, fiel ihm auf, dass die Starrheit, mit der die neue Weiße ihre Schultern hielt, Nervosität verriet. Ihr gerader Blick und der starke Mund legten jedoch die Vermutung nahe, dass ein angeborenes Selbstbewusstsein diese Nervosität schon bald verdrängen würde. Man hatte ihm erzählt, sie sei sechsundzwanzig Jahre alt, und seine Augen bestätigten dieses Wissen, aber die Reife, die in ihren Zügen lag, sprach eine andere Sprache: Diese junge Priesterin verfügte über größeres Wissen und mehr Erfahrung in den Dingen der Welt, als sie die meisten Edelfrauen in diesem Alter besaßen.
Sie muss hart gearbeitet und schnell gelernt haben, um so früh schon Hohepriesterin zu werden, dachte er. Auch ihre Gaben müssen stark sein. Wenn sie diejenige ist, die aus diesem kleinen Dorf kommt, das die Dunweger als Geisel genommen haben, hat sie es weit gebracht.
Dyara lächelte. »Auraya, das ist Danjin Speer«, sagte sie. »Er wird dein Ratgeber sein.«
Danjin machte das formelle Zeichen des Zirkels. Auraya hatte bereits die Hände erhoben, um die Geste zu erwidern, hielt dann jedoch inne und ließ sie wieder sinken.
»Sei mir gegrüßt, Danjin Speer«, sagte sie.
»Sei mir gegrüßt, Auraya von den Weißen«, erwiderte er.
Sie klingt selbstbewusst, ging es ihm durch den Kopf. Zumindest gelingt es ihr, keine Nervosität aus ihrer Stimme klingen zu lassen. Sie braucht nur noch an ihrer Haltung zu arbeiten. Sie straffte sich und hob das Kinn. So ist es schon besser, dachte er. Dann wurde ihm klar, dass sie seine Gedanken gelesen und ihre Körperhaltung daraufhin verändert hatte. Ich werde wohl einige Zeit brauchen, um mich daran zu gewöhnen, dass jemand meine Gedanken lesen kann, überlegte er.
»Ich sehe schon, dass ihr beiden gut miteinander zurechtkommen werdet«, bemerkte Dyara und schob sie dann zu den Stühlen hinüber. »Danjin war uns in der Vergangenheit sehr nützlich. Seine Einschätzung der Situation in Toren war ausnehmend scharfsichtig und hat es uns ermöglicht, eine Allianz mit dem König zuwege zu bringen.«
Auraya musterte ihn mit echtem Interesse. »Ist das wahr?«
Er zuckte die Achseln. »Ich habe eine Weile in Toren gelebt und lediglich übermittelt, was ich in dieser Zeit erfahren habe.«
Dyara kicherte leise. »Außerdem ist er erfrischend bescheiden. Seine Kenntnisse fremder Völker werden dir von großem Nutzen sein. Er beherrscht alle Sprachen Ithanias.«
»Bis auf die der Völker von Siyee und Elai«, ergänzte er.
»Er ist ein guter Menschenkenner. Er weiß, wie man mächtigen Männern und Frauen taktvoll und ohne Anstoß zu erregen einen Rat erteilt.«
Aurayas Aufmerksamkeit galt inzwischen weniger Dyara als Danjin. Bei Dyaras letzter Bemerkung zuckten ihre Lippen.
»Wahrhaftig, eine sehr nützliche Fähigkeit«, sagte sie.
»Er wird dich begleiten, wann immer du eine Audienz abhältst. Achte auf seine Gedanken. Sie werden dich bei deinen Antworten leiten.«
Auraya nickte und warf Danjin dann einen entschuldigenden Blick zu.
»Es gehört zu Danjins Rolle als Ratgeber, dass du ständig seine Gedanken liest; dessen ist er sich vollauf bewusst«, versicherte Dyara ihr. Sie drehte sich um und lächelte Danjin an, während sie weiterhin zu Auraya sprach. »Obwohl das nicht bedeutet, dass du die Regeln des guten Benehmens ignorieren solltest, die ich dich gelehrt habe.«
»Natürlich nicht.«
»Jetzt, da ich euch miteinander bekannt gemacht habe, müssen wir uns wieder in die unteren Ebenen begeben. Der torenische König wartet darauf, dir vorgestellt zu werden.«
»Ich treffe jetzt schon Könige?«, fragte Auraya.
»Ja«, sagte Dyara entschieden. »Sie sind nach Jarime gekommen, um die Erwählung mitzuerleben. Jetzt möchten sie die Auserwählte kennenlernen. Ich wünschte, ich könnte dir mehr Zeit geben, aber das ist nicht möglich.«
»Schon gut«, sagte Auraya achselzuckend. »Ich hatte nur gehofft, mir bliebe ein wenig Zeit, mich mit meinem neuen Ratgeber vertraut zu machen, bevor ich von ihm verlange, dass er arbeitet.«
»Ihr werdet euch während der Arbeit miteinander vertraut machen.«
Auraya nickte. »Nun gut.« Sie lächelte Danjin an. »Aber ich hoffe doch, dich ein wenig besser kennenlernen zu können, wenn ich die Gelegenheit dazu habe.«
Er neigte den Kopf. »Auch ich freue mich darauf, deine Bekanntschaft zu machen, Auraya von den Weißen.«
Als die beiden Weißen sich erhoben und zur Tür gingen, folgte Danjin ihnen. Er hatte die Frau kennengelernt, für die er arbeiten würde, und nichts an ihr legte die Vermutung nahe, dass seine Rolle schwierig oder unerfreulich sein würde. Seine erste Aufgabe war jedoch eine ganz andere Angelegenheit.
Ich werde ihr bei dem Gespräch mit dem torenischen König helfen, dachte er. Nun, das wird eine Herausforderung sein.
Tryss rutschte ein wenig zur Seite, bog die Zehen um die grobe Borke des Zweigs und lockerte sie wieder. Durch das Blätterwerk des Baums nahm er eine weitere Bewegung im Unterholz wahr und blickte erwartungsvoll hinab. Aber sosehr er sich danach sehnte, sich vorzubeugen, die Flügel auszustrecken und in die Tiefe zu tauchen, verharrte er doch vollkommen reglos auf seinem Platz.
Ihn juckte die Haut, der Schweiß rann ihm über den Körper und durchnässte den aus Rohrschilf gewobenen Stoff seines Wamses und seiner Hosen. Die Membranen seiner Flügel kribbelten. Die Riemen, die er um Hüften und Hals trug, waren unbequem und beengend, und die Eisenspitzen, die an seinem Bauch hingen, fühlten sich schwer an. Zu schwer. Sie würden ihn zu Boden ziehen, sobald er zu fliegen versuchte.
Nein, sagte er sich. Kämpfe gegen deine Instinkte. Das Abwurfgeschirr wird dich nicht behindern. Es wird dich nicht hinunterziehen. Von den Eisenspitzen geht viel größere Gefahr aus. Wenn er sich damit kratzte... Seine Überlebenschancen, wenn er auf einem dünnen Zweig viele Mannshöhen über dem Boden einer Schlafdroge erlag, gefielen ihm nicht besonders.
Er versteifte sich, denn er hatte abermals eine Bewegung am Boden bemerkt. Als drei Yern auf die Lichtung unter ihm traten, hielt er den Atem an. Von oben sahen sie aus wie schmale Fässer aus braunem Fell; ihre scharfen Hörner waren zu bloßen Stummeln verkürzt. Langsam näherten sich die Tiere dem funkelnden Bach, wobei sie auf dem Weg dorthin immer wieder kurz innehielten, um Gräser abzuweiden. Tryss ließ die Hände über die Riemen und die hölzernen Stellgriffe des Geschirrs gleiten und überzeugte sich davon, dass alles richtig eingestellt war. Dann holte er ein paar Mal tief Luft und ließ sich fallen. Yern waren pflanzenfressende Herdentiere mit scharfen Sinnen, die es ihnen ermöglichten, die Position und Stimmung eines jeden Mitglieds ihrer Herde zu erspüren. Mit diesen Sinnen konnten sie auch die Gedanken anderer Tiere in der Nähe wahrnehmen und erkennen, wenn ein Angriff bevorstand. Yern waren schnelle Läufer. Die einzigen Raubtiere, denen es gelang, ein Yern zu fangen, waren jene, die den Vorteil der Überraschung nutzten oder selbst über ausgefeilte Gaben der Sinnestäuschung verfügten – wie zum Beispiel die gefürchteten Leramer -, und selbst sie konnten nur die alten und kranken Tiere der Herde fangen.
Während Tryss zu Boden fiel, sah er, wie die Yern, die das Näherkommen eines auf Angriff bedachten Geistes spürten, sich strafften. Die Tiere hielten verwirrt Ausschau und waren sich nicht sicher, in welche Richtung sie fliehen sollten. Sie verstanden nicht, dass ein Räuber auch von oben angreifen konnte. Auf halbem Weg nach unten, breitete Tryss die Arme aus und spürte, dass die Membranen seiner Flügel der Luft Widerstand boten. Er schoss aus dem Baum heraus und stieß auf seine Beute hinab.
Als die Tiere seine unmittelbare Nähe spürten, brachen sie in Panik aus. Mit lautem Heulen sprengten sie in alle Richtungen davon. Im Schutz der Zweige anderer Bäume verfolgte Tryss eins der Yern. Er jagte es auf die ungeschützte Lichtung hinaus, und als er sich in der richtigen Position über dem Tier befand, zog er an dem Riemen, den er sich um den rechten Daumen geschlungen hatte. Einer der Eisenbolzen an seiner Hüfte fiel hinab.
Zur gleichen Zeit schlug das Yern abrupt einen Haken. Die Eisenspitze verfehlte ihr Ziel und verschwand im Gras. Mit einem unterdrückten Fluch flog Tryss eine Kurve und folgte dem Tier. Diesmal versuchte er, nicht an den unmittelbar bevorstehenden Angriff zu denken. Er verbannte alle Gedanken aus seinem Geist und konzentrierte sich einzig darauf, seine Flugrichtung den Bewegungen des Yern anzupassen, dann riss er den linken Daumen hoch und spürte, wie das Gewicht der Eisenspitze in die Tiefe glitt. Sie traf das Tier direkt hinter dem Widerrist. Tryss triumphierte. Das Yern rannte weiter, und die Eisenspitze wackelte im Fell hin und her. Tryss verfolgte das Geschehen mit ängstlichen Blicken, denn er fürchtete, dass seine Waffe sich nicht tief genug durch das Fell des Yern gegraben hatte, um die Droge in den Blutkreislauf zu bringen. Eine andere Gefahr war die, dass der Eisendorn wieder herausfallen könnte.
Die Eisenspitze blieb jedoch im Rücken des Yern stecken. Das Tier verlangsamte seinen Lauf, bis es nur noch taumelte und schließlich stehen blieb. Jetzt kreiste Tryss über ihm wie ein Aasvogel. Bedächtig suchte er die unmittelbare Umgebung auf Leramer oder andere große Raubtiere ab. Wenn er nicht aufpasste, würden sie ihm seine Beute stehlen.
Das Yern unter ihm schwankte, dann stürzte es auf die Seite. Nach Tryss’ Einschätzung konnte er nun gefahrlos landen, und im nächsten Moment ließ er sich nur wenige Schritte von dem Tier entfernt leichtfüßig zu Boden fallen. Bevor er näher an das Yern heranging, wartete er, bis er sah, dass die Augen des Geschöpfs glasig wurden. Seine scharfen Hörner konnten die Flügel eines Siyee mühelos zerfetzen.
Aus der Nähe betrachtet wirkte das Tier riesig. Tryss bezweifelte, dass sein Kopf auch nur bis an die Schultern des Yern herangereicht hätte, hätte es aufrecht gestanden. Er strich mit der Hand über das Fell seiner Beute. Es war warm und verströmte einen starken, tierischen Geruch. Ihm wurde bewusst, dass er vor Erregung breit grinste.
Ich habe es geschafft! Ich habe ganz allein eins der großen Tiere des Waldes erlegt!
Die Siyee machten niemals Jagd auf die großen Tiere. Sie selbst waren eine kleine Rasse, leicht an Gewicht, zerbrechlich und mit nur wenigen magischen Gaben ausgestattet. Ihre Knochen waren zierlich und brachen leicht. Ihre Beine waren nicht dazu geeignet, lange Strecken zu laufen, und die Bewegungsmöglichkeiten ihrer Arme – ihrer Flügel – waren eingeschränkt. Selbst wenn sie einen Speer oder ein Schwert hätten ergreifen können, wäre es ihnen schwergefallen, die Waffe festzuhalten. Außer Daumen und Zeigefinger waren all ihre Finger Teil der Flügelstruktur; ihre Hände waren nutzlos für Verrichtungen, die Kraft erforderten. Wann immer Tryss seinen Körper betrachtete, dachte er an die Göttin, die sein Volk vor so vielen Jahrhunderten aus Landgehern erschaffen hatte – den Menschen, die den Rest der Welt bewohnten. Immer wieder grübelte er darüber nach, ob die Göttin damals vergessen hatte, die Frage zu bedenken, wie sie sich verteidigen oder ernähren sollten.
Da die Siyee im Flug keine Waffe benutzen konnten, gingen sie allgemein davon aus, dass Huan nie die Absicht gehabt hatte, sie zu einem Volk von Jägern oder Kämpfern zu machen. Stattdessen mussten sie Getreide, Gemüse, Früchte und Nüsse sammeln oder anbauen. Sie mussten kleine Tiere fangen und züchten, und sie mussten dort leben, wo die Landgeher sie nicht erreichen konnten: in den schroffen, unpassierbaren Bergen von Si.
In den Bergen gab es nur einige wenige kleine Flecken kultivierbaren Landes, und viele der Tiere, die sie aßen, ließen sich immer schwerer fangen. Tryss war davon überzeugt, dass Huan nicht gewollt hatte, dass das Volk, das sie geschaffen hatte, hungerte. Das war seiner Meinung nach der Grund, warum einige von ihnen über eine große Erfindungsgabe verfügten. Er blickte auf das Gerät hinab, das er an seinen Körper geschnallt hatte. Es war ein einfacher Entwurf. Die Herausforderung hatte darin bestanden, etwas zu schaffen, das seinem Benutzer die Bewegungsfreiheit verschaffte, die beim Fliegen notwendig war, und ihm gleichzeitig eine simple Möglichkeit gab, die Eisenspitzen abzuwerfen.
Damit können wir jagen! Wir könnten sogar in der Lage sein, uns zu verteidigen – und uns vielleicht einige der Gebiete zurückholen, die die Landgeher uns gestohlen haben. Er wusste, dass sie auf diese Weise nicht gegen große Gruppen von Eindringlingen würden kämpfen können, aber mit den vereinzelten Banden von gesetzlosen Landgehern, die sich nach Si hineinwagten, würden sie jetzt mühelos fertigwerden.
Nur dass zwei Eisenspitzen nicht annähernd genug sein würden, überlegte er. Ich könnte sicher auch vier davon tragen. Sie wiegen nicht allzu viel. Aber wie soll ich sie abwerfen? Ich habe nur zwei Daumen.
Das war eine Frage, die es später zu bedenken galt. Während er nun das schlafende Yern betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er ein Problem hatte. Er hatte ein Seil mitgenommen, in der Absicht, das Tier auf einen Baum zu ziehen, so dass es für die meisten Räuber des Waldes unerreichbar wäre. Anschließend hatte er nach Hause fliegen wollen, um mit einigen Gefährten zurückzukehren, die seine Leistung bewundern und ihm helfen sollten, das Yern zu schlachten. Jetzt bezweifelte er, dass er auch nur die Kraft haben würde, seine Beute bis zum nächsten Baumstamm zu schleifen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Yern liegen zu lassen und zu hoffen, dass kein Raubtier es fand. Das bedeutete, dass er schnell Hilfe holen musste. Ohne das Geschirr konnte er schneller fliegen. Er schnallte es ab, schlüpfte aus den Riemen und hängte es in einen nahen Baum. Dann zog er sein Messer hervor, schnitt dem Yern eine Handvoll Haar von seiner Mähne ab und verstaute es in einer Tasche. Nachdem er die Windrichtung ermittelt hatte, begann er zu rennen.
Es kostete eine Menge Energie, vom Boden aus in die Luft aufzusteigen. Tryss sprang ab und schlug mit den Flügeln, und bis er die Höhe erreicht hatte, in der die Winde stärker waren und es ihm erlaubten, zu schweben und zu gleiten, keuchte er vor Anstrengung. Sobald er wieder zu Atem gekommen war, folgte er den günstigsten Luftströmen und nahm mit starken Flügelschlägen Geschwindigkeit auf.
Dies waren die Augenblicke, in denen er der Göttin Huan die Härten und die Mühsal, die seinem Volk auferlegt waren, verzeihen konnte. Er liebte das Fliegen. Anscheinend benutzten auch die Landgeher gern ihre Beine. Sie erfreuten sich an einer Unterhaltung, die sich »Tanzen« nannte und bei der sie in bestimmten Mustern gingen oder liefen, allein oder in Gruppen von zwei oder mehr Menschen. Dieses Verhalten ließ sich noch am ehesten mit dem Trei-Trei der Siyee vergleichen, das Teil der Werbung sein konnte oder ein Sport, bei dem Geschicklichkeit und Behändigkeit erprobt wurden. Tryss’ Überlegungen endeten, als er vor sich eine Fläche nackten Felsens sah, die den Baumpelz des Berges wie eine lange, schmale Narbe teilte und sich in drei deutlich abgesetzten Höhenstufen den Berghang hinab zog. Dies war das Offene Dorf, die größte Siedlung in Si. Auf dieser steilen Lichtung herrschte jeden Tag ein reges Kommen und Gehen von Siyee. Tryss stieg langsam hinab und hielt Ausschau nach vertrauten Gesichtern. Er hatte die Laube seiner Eltern fast erreicht, als er seine Vettern entdeckte. Die Zwillinge saßen auf dem warmen Felsen des unteren Hangs links und rechts neben einem Mädchen.
Tryss’ Brust verkrampfte sich, als er das feinknochige Mädchen mit dem glänzenden Haar erkannte: Es war Drilli, deren Familie vor kurzem hergezogen war. Er kreiste über den dreien und spielte mit dem Gedanken, weiterzufliegen. In der Vergangenheit war er gut mit seinen Vettern ausgekommen -sofern er bereit war, sich wegen seiner seltsamen Art aufziehen zu lassen.
Dann war Drillis Familie in das Offene Dorf gezogen. Jetzt wetteiferten seine Vettern um ihre Aufmerksamkeit, häufig auf Tryss’ Kosten. Er hatte inzwischen gelernt, den beiden auszuweichen, wenn Drilli in der Nähe war.
Früher hatten die beiden einigen Respekt vor seinem erfinderischen Geist gehabt, und er verspürte noch immer den Wunsch, seine Siege mit ihnen zu teilen, aber solange Drilli da war, konnte er ihnen nichts von seiner erfolgreichen Jagd erzählen. Sie würden im Handumdrehen einen Grund finden, ihn deswegen zu verhöhnen. Außerdem hatte er immer einen Knoten in der Zunge, wenn das Mädchen in der Nähe war. Nein, er sollte sich jemand anderen suchen.
Dann bemerkte er, dass der Schnitt ihres Wamses von oben einen Blick auf jene faszinierende kleine Kuhle zwischen ihren Brüsten freigab, und wieder begann er zu kreisen. Sein Schatten glitt über sie hinweg, und sie sah auf. Prickelnde Erregung machte sich in ihm breit, als sie ihm ein Lächeln schenkte.
»Tryss! Komm herunter und setz dich zu uns. Ziss und Trinn haben mir gerade einen unglaublich komischen Witz erzählt.«
Die beiden Jungen blickten mit finsterer Miene auf; offensichtlich wollten sie Drillis Aufmerksamkeit für sich allein haben. Hm, Pech gehabt, dachte Tryss. Ich habe soeben ein Yern erlegt. Ich möchte, dass Drilli es sieht. Er glitt zu Boden, legte seine Flügel an und landete leichtfüßig vor Drilli und den Zwillingen. Drilli zog die Augenbrauen in die Höhe. Sofort war seine Kehle wie zugeschnürt und er brachte keinen Laut heraus. Er starrte sie nur an und spürte, dass sein Gesieht zu brennen begann, wie es das immer tat, wenn es rot wurde.
»Wo bist du gewesen?«, verlangte Ziss zu erfahren. »Tante Trill hat dich gesucht.«
»Du gehst besser nachsehen, was sie will«, sagte Trinn warnend. »Du weißt ja, wie sie ist.«
Drilli lachte. »Oh, einen allzu besorgten Eindruck hat sie auf mich nicht gemacht. Ich glaube nicht, dass du sofort zu ihr gehen musst, Tryss.« Sie lächelte wieder. »Also, wo hast du den ganzen Morgen gesteckt?«
Tryss schluckte und holte tief Luft. Ein einziges Wort würde er doch gewiss über die Lippen bringen können.
»Jagen«, stieß er mit erstickter Stimme hervor.
»Was hast du denn gejagt?«, höhnte Ziss.
»Yern.«
Die beiden Jungen schnaubten ungläubig und begannen zu lachen. Trinn wandte sich zu Drilli um und beugte sich zu ihr vor, als wolle er ein Geheimnis mit ihr teilen, aber er sprach dabei so laut, dass Tryss ihn hören konnte.
»Tryss hat da so komische Ideen. Er denkt, er könne große Tiere fangen, indem er sich Steine an die Arme bindet und sie dann auf seine Beute fallen lässt.«
»Steine?«, wiederholte sie stirnrunzelnd. »Aber wie...?«
»Eisenspitzen«, platzte Tryss heraus. »Dornen, deren Spitzen ich zuvor in Florrim-Saft getaucht habe.« Er spürte, wie ihm die Wärme ins Gesicht schoss, aber als er an das bewusstlose Yern dachte, überkam ihn eine Woge kühlen Stolzes. »Und ich habe tatsächlich eins gefangen.« Er schob die Hand in die Tasche und zog die Strähne Yern-Haar hervor.
Die drei Siyee betrachteten das Haar voller Interesse. Ziss blickte mit schmalen Augen zu Tryss empor. »Du nimmst uns auf den Arm«, beschuldigte er ihn. »Die Haare hast du von einem toten Yern.«
»Nein. Der Florrim-Saft hat es betäubt. Ich werde es euch zeigen.« Tryss sah Drilli an, erstaunt und erleichtert darüber, dass es ihm endlich gelang, in ihrer Nähe ganze Sätze zu bilden. »Nehmt eure Messer mit, dann werden wir heute Abend ein Festmahl bekommen. Aber wenn ihr noch lange wartet, wird ein Leramer das Yern finden, und wir werden leer ausgehen.«
Die beiden Jungen tauschten einen Blick. Tryss erriet, dass sie zwei verschiedene Möglichkeiten abwogen: Es konnte ein Scherz sein oder aber die Chance auf Fleisch zum Abendessen.
»Also schön«, sagte Ziss, dann stand er auf und streckte sich. »Wir werden dieses Yern selbst in Augenschein nehmen.«
Trinn erhob sich und straffte die Flügel. Als Drilli ebenfalls aufstand, um sich ihnen anzuschließen, setzte Tryss’ Herz einen Schlag aus. Sie würde sehr beeindruckt sein, wenn sie das Yern sah. Er grinste, rannte los und sprang in den Himmel.
In der Luft trat ein verärgerter Ausdruck in seine Züge, denn die Zwillinge flogen zu einer Gruppe älterer Jungen hinüber, die sich am unteren Ende des Offenen Dorfes befanden. Tryss erkannte Sreil, den kräftigen Sohn von Sprecherin Sirri, der Anführerin seines Stammes. Als die Gruppe unter schrillem Pfeifen auf ihn zukam, wurde sein Mund trocken.
»Du hast dir ein Yern geholt, ja?«, rief Sreil, als er vorüber-flog.
»Könnte sein«, antwortete Tryss.
Es folgten weitere Fragen, aber Tryss weigerte sich, zu erklären, wie er das Tier erlegt hatte. Es war ihm bisher nicht gelungen, viele Siyee dazu zu bewegen, einen Blick auf sein Geschirr zu werfen. Wenn er jetzt begann, es zu beschreiben, würden sie das Interesse verlieren. Sobald sie jedoch das Yern sahen, würden sie wissen wollen, wie er es gefangen hatte. Dann würde er das Geschirr vorführen, und sie würden endlich anfangen, seine Ideen ernst zu nehmen. Nach einigen Minuten blickte er hinter sich. Zu seiner Bestürzung hatte sich die Gruppe derer, die ihm folgten, inzwischen verdoppelt. Erste Zweifel nagten an seiner Zuversicht, aber er schob sie beiseite. Stattdessen ließ er seiner Fantasie freien Lauf und malte sich die Zukunft aus. Sreil würde das Fleisch zu Sprecherin Sirri bringen. Die Anführerin der Siyee würde Tryss’ Erfindung sehen wollen. Sie würde Tryss bitten, weitere Geschirre anzufertigen und die anderen Siyee in ihrer Benutzung zu unterweisen.
Ich werde ein Held sein. Die Zwillinge werden sich nie wieder über mich lustig machen.
Als sie sich der Stelle näherten, an der er das Yern zurückgelassen hatte, riss er sich aus seinem Tagtraum los. Kreisend suchte er das Gebiet ab, konnte aber nichts entdecken. Unter den neugierigen Blicken seiner Begleiter ließ er sich zu Boden sinken und schritt die Stelle ab. Im Gras war eine Vertiefung von der Größe eines gewaltigen Tieres zu sehen, aber kein Yern.
Enttäuscht starrte er die Kuhle an, dann krampfte sich sein Magen zusammen, als die Siyee um ihn herum zu Boden glitten.
»Also, wo ist dieses Yern denn nun?«, fragte Ziss.
Tryss zuckte die Achseln. »Weg. Ich habe euch doch gesagt, wenn wir zu lange warten, würde ein Leramer es finden.«
»Ich sehe kein Blut.« Diese Bemerkung kam von einem der älteren Jungen. »Wenn ein Leramer es geholt hätte, wäre Blut auf dem Boden.«
»Und es weist auch nichts darauf hin, dass irgendetwas weggeschleift worden wäre«, fügte ein anderer Junge hinzu.
»Wenn der Leramer es hier gefressen hätte, wäre ein Kadaver zurückgeblieben.«
Er hatte recht, das wusste Tryss. Also, wo war das Yern geblieben?
Sreil trat vor und untersuchte nachdenklich den Boden. »Aber hier hat tatsächlich vor nicht allzu langer Zeit etwas Großes gelegen.«
»Wahrscheinlich ein Yern, das ein Nickerchen gehalten hat«, meinte ein anderer. Einige der Zuschauer kicherten.
»Also, Tryss«, sagte Ziss, »hast du ein schlafendes Yern gefunden und gedacht, du könntest uns einreden, du hättest es getötet?«
Tryss sah zuerst seinen Vetter an, dann blickte er in die erheiterten Gesichter der übrigen Siyee. Seine Wangen brannten. »Nein.«
»Ich habe noch etwas zu tun«, meinte jemand. Die Siyee rüsteten sich zum Aufbruch. Kurz darauf lag das Summen ihrer schlagenden Flügel in der Luft. Tryss hielt den Blick auf den Boden gesenkt. Er hörte Schritte herankommen, dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Als er aufblickte, stand Sreil neben ihm, in der Hand die Eisenspitze, die das Yern getroffen hatte.
»Guter Versuch«, sagte er. Tryss zuckte zusammen. Er nahm die Eisenspitze von Sreil entgegen, dann sah er zu, wie der ältere Junge zu rennen begann und in die Luft sprang.
»Du hast Florrim benutzt, nicht wahr?«
Tryss fuhr herum. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass Drilli noch da war.
»Ja.«
Sie betrachtete die Eisenspitze. »Um ein großes Tier zu betäuben, braucht man erheblich mehr Florrim als für einen Menschen, und außerdem würde der Saft nicht tief genug in das Fell eines Yern eindringen. Vielleicht solltest du es mit etwas Stärkerem oder Tödlicherem versuchen. Oder sorg dafür, dass das Yern nicht wieder aufwachen kann, wenn es erst eingeschlafen ist.« Sie klopfte vielsagend auf das in seiner Scheide steckende Messer, das sie um ihren Oberschenkel geschnallt trug.
Sie hat nicht unrecht, dachte er.
Drilli grinste, dann wandte sie sich ab. Als sie in den Himmel hinaufsprang, verfolgte Tryss sie mit bewundernden Blicken.
Manchmal fragte er sich, wie er so dumm sein konnte.
Auraya saß vor dem blankpolierten Silberspiegel, sah jedoch nicht ihr eigenes Gesicht. Stattdessen beschäftigte sie eine Erinnerung aus jüngster Zeit. Vor ihrem inneren Auge sah sie tausende weiß gewandeter Männer und Frauen, die sich vor der Kuppel versammelt hatten. Noch nie zuvor hatte sie so viele Priester und Priesterinnen zusammen gesehen. Sie waren aus allen Ländern Nordithanias zum Tempel gereist, um an der Auserwählungszeremonie teilzunehmen. Alle Priester und Priesterinnen, die in den Fünf Häusern lebten, hatten ihre Räume mit jenen geteilt, die von außerhalb der Stadt gekommen waren.
Eine erste Vorstellung von der Größe der Menge hatte sie sich machen können, als sie den Turm verlassen hatte und mit den anderen Hohepriestern und Hohepriesterinnen zur Kuppel geschritten war. Jenseits des Meeres weißer Gestalten war eine noch größere Menge gewöhnlicher Männer, Frauen und Kinder erschienen, die das Ereignis miterleben wollten.
Einzig Hohepriester und Hohepriesterinnen kamen als Kandidaten für die letzte Position unter den Auserwählten der Götter infrage. Auraya war die Jüngste dieser Männer und Frauen gewesen. Manch einer hatte die Auffassung vertreten, sie sei nur wegen ihrer starken Gaben so schnell aufgestiegen. Bei der Erinnerung daran krampfte sich noch immer ihr Magen vor Ärger zusammen.
Sie sind ungerecht. Sie wissen, dass es mich zehn Jahre harter Arbeit und Hingabe gekostet hat, so schnell diese Position zu erreichen.
Was mochten sie jetzt denken, da sie eine der Weißen war? Bedauerten sie ihr Urteil über sie? Sie verspürte eine Mischung aus Mitgefühl und Triumph. Sie sind ihrem eigenen Ehrgeiz zum Opfer gefallen. Wenn sie geglaubt haben, die Götter würden ihre Lügen beachten, dann waren sie Narren. Stattdessen hat ihr Verhalten sie wahrscheinlich als unwürdig gekennzeichnet. Ein Weißer sollte nicht die Gewohnheit haben, unwahre Gerüchte zu verbreiten. In Gedanken durchlebte sie noch einmal ihren Gang vom Turm zur Kuppel. Die Hohepriester und Hohepriesterinnen hatten einen Ring um das Podest darin gebildet. In der Mitte stand der Altar, der heiligste Ort innerhalb des Tempels. Es war ein großes fünfseitiges Gebilde und dreimal so hoch wie ein Mensch. Die Seiten waren große, einander an den Spitzen zugeneigte Dreiecke. Damit die Weißen den Altar betreten konnten, klappten die fünf Wände um ihre Basis nach außen, bis sie flach auf dem Boden lagen und einen Tisch und fünf Stühle in ihrem Innern freigaben. Wollten die Weißen sich ungestört beraten, schwangen die Wände wieder nach oben und schufen somit einen Raum, aus dem kein Laut zu dringen vermochte.
Als die vier Weißen die Stufen des Podests erklommen und sich der Menge zuwandten, hatte der Altar sich wie eine Blume entfaltet. Auraya schloss die Augen und versuchte, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, den Juran benutzt hatte.
»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru. Wir laden euch ein, unsere göttlichen Beschützer und Führer, heute zu uns zu stoßen, denn die Zeit ist gekommen, da ihr euren fünften und letzten Vertreter erwählen werdet. Hier stehen jene, die sich als eure würdigen, tüchtigen und hingebungsvollen Gefolgsleute erwiesen haben: unsere Hohepriester und Hohepriesterinnen. Ein jeder von ihnen ist bereit, euch sein Leben zu widmen.«
Kurz hatte es so ausgesehen, als schimmere die Luft. Bei der Erinnerung überlief Auraya ein Schauer. Fünf Gestalten waren auf dem Podest erschienen, eine jede ein Wesen aus Licht, eine jede eine durchscheinende Illusion eines menschlichen Wesens. Ein Raunen war durch die Reihen der Priester und Priesterinnen im Tempel gegangen. Aus der Ferne hatte sie leise Rufe gehört: »Die Götter sind erschienen!«
Und was für einen Anblick sie geboten haben, dachte sie lächelnd.
Die Götter existierten in der Magie, die alles auf der Welt durchdrang, jeden Stein, jeden Wassertropfen, jede Pflanze, jedes Tier, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Diese Magie blieb ungesehen und unfühlbar, es sei denn, die Götter wünschten die Welt zu beeinflussen. Wenn sie sich zeigen wollten, taten sie es, indem sie Magie zu Licht werden ließen und zu menschlichen Gestalten von unvorstellbarer Schönheit formten. Chaia war groß gewesen und gekleidet wie ein Staatsmann. Sein Gesicht war von edlem Schnitt und ausnehmend attraktiv, wie die Züge eines Königs, die aus poliertem Marmor gehauen waren. In seinem Haar hatte ein wohlwollender Wind gespielt. Und seine Augen... Auraya seufzte. Seine Augen waren so klar und sein Blick so unerträglich direkt, aber gleichzeitig auf seltsame Weise warm und... voller Zuneigung. Es ist wahr, er liebt unsalle.
Huan dagegen war von einschüchterndem, strengem Aussehen gewesen – schön, aber grimmig. Die Arme vor der Brust gekreuzt, hatte ihr ganzes Wesen Macht verströmt. Sie hatte den Blick über die Menge wandern lassen, als halte sie Ausschau nach etwas, das sie bestrafen konnte.
Lore hatte sich in lässiger Haltung präsentiert, auch wenn er von schwererem Körperbau war als die übrigen Götter. Außerdem hatte er eine glitzernde Rüstung getragen. Vor dem Krieg der Götter hatten die Soldaten ihm gehuldigt.
Yranna war, wie Auraya sich erinnerte, mit einem Lächeln aufgetreten. Ihre Schönheit war weiblicher und jugendlicher als die Huans. Sie war die Göttin, die sich unter den jüngeren Priesterinnen der größten Beliebtheit erfreute; sie galt noch immer als Fürsprecherin der Frauen, obwohl sie, als sie sich den anderen Göttern beigesellte, die Rolle der Göttin der Liebe abgelegt hatte.
Der letzte Gott, dem Auraya ihre Beachtung geschenkt hatte, war Saru, dem besonders die Kaufleute huldigten. Es hieß, er sei einst der Gott der Diebe und Glücksspieler gewesen, aber Auraya war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Saru hatte eine schlankere Gestalt angenommen, wie sie unter Höflingen und Gelehrten als besonders erstrebenswert galt.
Beim Erscheinen der Götter hatten sich alle Priester und Priesterinnen zu Boden geworfen. Auraya konnte sich noch gut an die Glätte des steinernen Bodens unter ihrer Stirn und ihren Händen erinnern. Stille war eingekehrt, bis eine tiefe, melodische Stimme die Kuppel erfüllt hatte.
»Erhebt euch, Männer und Frauen von Ithania«, hatte die wunderschöne Stimme sie aufgefordert.
Als Auraya sich mit den übrigen Anwesenden im Tempel erhoben hatte, hatte sie vor Ehrfurcht und Erregung gezittert. Seit ihrem ersten Besuch des Tempels vor zehn Jahren war sie nicht mehr so überwältigt gewesen. Es hatte etwas eigenartig Wunderbares, wieder solche Ergriffenheit zu verspüren. Nachdem sie nun so viele Jahre im Tempel gelebt hatte, konnte kaum etwas darin noch solches Feuer in ihr wecken.
Die Stimme begann von neuem zu sprechen, und Auraya begriff, dass sie Chaia gehörte.
»Vor einigen wenigen kurzen Jahrhunderten kämpften Götter gegen Götter und Menschen gegen Menschen, und große Trauer und Verderben waren die Folge. Dies hat uns fünf sehr bekümmert, und wir haben eine gewaltige Aufgabe auf uns genommen. Wir wollten aus dem Chaos Ordnung schaffen. Wir wollten der Welt Frieden und Wohlstand bringen. Wir wollten die Menschen von Grausamkeit, Sklaverei und Verrat erlösen.
Also fochten wir eine große Schlacht aus und gaben der Welt eine neue Gestalt. Aber wir können den Herzen von Männern und Frauen keine Gestalt geben. Wir können euch nur raten und euch Kraft schenken. Um euch zu helfen, haben wir Stellvertreter unter euch ausgewählt. Ihre Pflicht ist es, euch zu schützen und euer Bindeglied zu uns zu sein, euren Göttern. Heute werden wir unter jenen, die ihr als die Würdigsten unter euch erachtet, einen fünften Stellvertreter erwählen. Demjenigen, für den wir uns entscheiden, verleihen wir Unsterblichkeit und große Stärke. Wenn unser Geschenk angenommen wird, wird eine weitere Etappe unserer gewaltigen Aufgabe erfüllt sein.«
Nach diesen Worten hatte er eine kurze Pause eingelegt. Auraya hatte eine längere Ansprache erwartet. Ein so vollständiges Schweigen hatte daraufhin die Halle erfüllt, dass sie davon überzeugt gewesen war, dass jeder Mann und jede Frau den Atem angehalten haben musste. Ich habe ganz gewiss den Atem angehalten, erinnerte sie sich. Dann war der Augenblick gekommen, den sie nie vergessen würde.
»Wir bieten dieses Geschenk der Hohepriesterin Auraya von der Familie Färber an«, hatte Chaia gesagt und sich ihr zugewandt. »Tritt vor, Auraya von den Weißen.«
Auraya schöpfte bebend Atem, als das Glück jenes Geschehens noch einmal durch ihre Adern floss. In dem Augenblick selbst war es von schierem Entsetzen durchtränkt gewesen. Sie hatte sich einem Gott nähern müssen. Sie hatte im Zentrum der Aufmerksamkeit – und wahrscheinlich auch der Eifersucht – mehrerer tausend Menschen gestanden.
Jetzt war es die Realität ihrer Zukunft, die das Glücksgefühl abschwächte. Von dem Augenblick ihrer Erwählung an hatte sie kaum einen Moment Zeit für sich gehabt. Ihre Tage waren angefüllt mit Begegnungen mit Herrschern und anderen wichtigen Persönlichkeiten – und den Schwierigkeiten, die von Sprachbarrieren bis hin zu der Notwendigkeit reichten, Versprechen zu vermeiden, die zu geben die anderen Weißen noch nicht bereit waren. Die einzige Zeit, die sie für sich allein hatte, waren die Nachtstunden, in denen sie eigentlich schlafen sollte. Bisher hatte sie jede Nacht wach gelegen und versucht, Ordnung in all die Dinge zu bringen, die ihr widerfahren waren. Heute Abend war sie in ihrem Quartier auf und ab gegangen und hatte sich schließlich vor den Spiegel gesetzt.
Es ist ein Wunder, dass ich nicht wie ein Wrack aussehe, dachte sie und zwang sich, ihr Spiegelbild noch einmal zu betrachten. Ich sollte nicht so gut aussehen. Ist das ein weiteres Geschenk der Götter?
Sie blickte auf ihre Hand hinab. Der weiße Ring an ihrem Mittelfinger schien beinahe zu glühen. Durch ihn verliehen die Götter ihr die Gabe der Unsterblichkeit, und irgendwie verstärkte der Ring ihre eigenen Gaben. Die Götter hatten sie zu einer der mächtigsten Zauberinnen der Welt gemacht.
Als Gegenleistung stellte sie ihren Willen und ihr nunmehr unbegrenztes Leben in ihren Dienst. Sie waren magische Wesen. Um Einfluss auf die Welt der Dinge zu nehmen, mussten sie durch Menschen wirken. Meistenteils geschah dies durch Unterweisung, aber wenn ein Mensch seinen Willen den Göttern überantwortete, konnten diese seinen Körper übernehmen. Letzteres geschah nur selten, da es, wenn dieser Zustand zu lange aufrechterhalten wurde, den Geist des betreffenden schädigen konnte. Manchmal geriet dann das Bewusstsein seines Selbst in Unordnung, und er glaubte, er selbst sei der Gott. Manchmal vergaß er einfach, wer er war.
Das Beste ist wohl, nicht darüber nachzudenken, ging es ihr durch den Kopf. Die Götter würden ohnehin nicht den Geist eines ihrer Auserwählten zerstören. Es sei denn, sie wollten ihn bestrafen...
Ihr Blick fiel auf einen alten Schrankkoffer an der Wand. Die Diener hatten ihre Anweisung, ihn ungeöffnet zu lassen, befolgt, und bisher hatte sie weder die Zeit noch den Mut gefunden, den Koffer selbst zu öffnen. Darin befanden sich die wenigen Dinge, die sie besaß. Sie war davon überzeugt, dass die hübschen, billigen Kleinigkeiten, die sie im Laufe der Jahre gekauft hatte, in den strengen Quartieren der Weißen schäbig wirkten mussten, aber sie wollte sie dennoch nicht wegwerfen. Sie erinnerten sie an Zeiten in ihrem Leben und an Menschen, die sie liebte oder die sie im Gedächtnis behalten wollte: ihre Eltern, ihre Freunde in der Priesterschaft und ihren ersten Geliebten – wie lange all das jetzt zurückzuliegen schien!
Ganz unten in dem Koffer befand sich allerdings etwas, von dem größere Gefahr ausging. Dort lagen in einem Geheimfach mehrere Briefe, die sie vernichten sollte. Doch sie wollte sie nicht vernichten, ebenso wenig wie die hübschen, nutzlosen Kleinigkeiten in dem Koffer. Doch im Gegensatz zu Letzteren konnten die Briefe, sollten sie entdeckt werden, durchaus einen Skandal verursachen. Jetzt, da ich ein wenig Zeit für mich habe, kann ich mich ebenso gut mit ihnen befassen. Sie stand auf, ging zu dem Koffer hinüber und ließ sich davor auf die Knie nieder. Das Schloss klickte auf, und der Deckel knarrte leise, als sie ihn anhob. Genau wie sie vermutet hatte, wirkte der Inhalt des Koffers allzu ländlich und bescheiden. Die kleine, getöpferte Vase, die ihr erster Geliebter – ein junger Priester – ihr geschenkt hatte, erschien ihr überaus kunstlos. Die Decke, ein Geschenk ihrer Mutter, war warm, sah jedoch langweilig und alt aus. Sie nahm diese Dinge heraus, und darunter wurde ein großes, weißes, rundes Tuch sichtbar – ihr alter Priesterinnenzirk.
Seit ihrer Weihe hatte sie jeden Tag einen Zirk getragen. Alle Priester und Priesterinnen trugen sie, einschließlich der Weißen. Gewöhnliche Priester und Priesterinnen trugen einen blau gesäumten Zirk. Der Zirk eines Hohepriesters oder einer Hohepriesterin war mit Gold gesäumt. Die Weißen trugen keinerlei Schmuck, um zu zeigen, dass sie Eigennutz und Wohlstand entsagt hatten, um den Göttern zu dienen. Das war auch der Grund, warum man die Auserwählten der Götter die »Weißen« nannte.
Auraya blickte über die Schulter und betrachtete kurz ihren neuen Zirk, der an einem eigens zu diesem Zweck geschaffenen Ständer hing. Die beiden goldenen Schließen, die an den Rand geheftet waren, dienten dazu, den um die Schultern getragenen Zirk vorn zu schließen.
Der Zirk in ihren Händen war leichter und gröber als der an dem Ständer. Die Weißen mögen ihre Zirks nicht schmücken, überlegte sie, aber sie lassen sie aus dem besten Tuch schneidern. Die weicheren, weißen Gewänder, die sie jetzt unter ihrem neuen Zirk trug, waren ebenfalls von besserer Qualität. Genau wie die geringeren Priester und Priesterinnen konnten die Weißen ihre Kleidung dem Wetter und ihrem Geschlecht gemäß verändern, aber alle Dinge waren sehr fein gearbeitet. Auraya trug jetzt Sandalen aus gebleichtem Leder mit kleinen Verschlüssen aus Gold.
Sie legte den Zirk beiseite. Sie hatte ihn seit über zwei Jahren nicht mehr getragen – nicht mehr, seit sie eine Hohepriesterin war und einen Zirk mit einem goldenen Saum empfangen hatte. Dieser Zirk war an dem Tag ihrer Erwählung verschwunden, fortgeschafft von Dienern. Würden die Diener auch ihren alten Zirk mitnehmen, wenn sie ihn fanden? War was wichtig für sie? Sie hatte ihn lediglich aus einem Gefühl on Sentimentalität heraus aufbewahrt. Auraya wandte sich wieder dem großen Koffer zu. Sie nahm die restlichen Gegenstände heraus und legte sie auf einen Stuhl. Dann öffnete sie das Geheimfach, in dem kleine Pergamentrollen lagen.
Warum habe ich die überhaupt aufbewahrt!, fragte sie sich. Es wäre nicht nötig gewesen.
Wahrscheinlich konnte ich mich einfach nicht dazu überwinden, irgendetwas wegzuwerfen, das meine Eiern mir geschickt hatten.
Sie nahm eine Schriftrolle heraus, rollte sie auf und begann zu lesen.
Meine liebe Auraya. Die Ernte war gut in diesem Jahr. Wor hat letzte Woche Dynia geheiratet. Die alte Mulyna hat uns verlassen, m sich zu den Göttern zu gesellen. Unser Freund hat meinem Vorschlag zugestimmt. Schicke deine Briefe an den Priester.
Nächsten Brief hieß es:
Liebste Auraya. Wir sind froh zu hören, dass du glücklich bist und schnell lernst. Das Leben hier ist, wie es immer war. Deiner Mutter geht es erheblich besser, seit wir deinen Rat beherzigt haben.
Die Briefe ihres Vaters waren zwangsläufig kurz. Pergament rar teuer. Gleichzeitig wachsam und erleichtert las sie noch weitere Briefe. Wir waren vorsichtig, dachte sie. Wir haben nicht genau geschrieben, was wir taten. Mit Ausnahme jenes ersten Briefes, in dem ich deutlich machen musste, was Vater tun sollte. Hoffentlich hat er dieses Schreiben verbrannt.
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Wie vorsichtig sie und ihr Vater auch gewesen sein mochten, die Götter mussten wissen, was sie getan hatten.
Und dennoch haben sie mich auserwählt, ging es ihr durch den Kopf. Von allen Hohepriestern und Hohepriesterinnen haben sie jemanden auserwählt, der das Gesetz gebrochen und die Dienste eines Traumwebers beansprucht hat.
Mairae hatte zu ihrem Versprechen, das sie zehn Jahre zuvor gegeben hatte, gestanden. Ein Heilerpriester war nach Oralyn gereist, um sich um Aurayas Mutter zu kümmern. Leiard konnte die Behandlung von Ma-Färber kaum fortsetzen, daher hatte Auraya ihm einen Brief geschickt, in dem sie ihm für seine Hilfe dankte und ihm erklärte, dass er nicht länger gebraucht werde.
Trotz der Bemühungen des Heilerpriesters war Aurayas Mutter immer kränker geworden. Zur gleichen Zeit hatte Auraya im Zuge ihrer Studien erfahren, dass Heilerpriestern nicht einmal die Hälfte der Fähigkeiten und des Wissens zur Verfügung stand, über die die Traumweber verfügten. Indem sie veranlasst hatte, dass Leiards Behandlung durch die eines Heilerpriesters ersetzt worden war, hatte sie ihre Mutter, wie ihr damals bewusst wurde, zu einem früheren und schmerzhafteren Tod verurteilt. Außerdem hatte ihre Zeit in Jarime ihr klargemacht, wie tief die Verachtung und das Misstrauen der Zirkler für die Traumweber wirklich reichten. Sie hatte ihren Lehrern und den anderen Priestern vorsichtige Fragen gestellt und war schon bald zu einer klaren Erkenntnis gekommen: Sie konnte unmöglich offen dafür sorgen, dass Leiard oder ein anderer Traumweber ihre Mutter wieder behandelte. Sie wäre auf den Widerstand ihres Vorgesetzten gestoßen, hätte sie es dennoch getan, und außerdem hatte es nicht in ihrer Macht gestanden, dem Heilerpriester seine Rückkehr nach Hause zu befehlen.
Also hatte sie die notwendigen Vorkehrungen in aller Heimlichkeit treffen müssen. In einem Brief an ihren Vater hatte sie den Vorschlag gemacht, dass ihre Mutter ihre Beschwerden übertreiben solle, um ihre Umgebung davon zu überzeugen, dass sie dem Tode nahe war. In der Zwischenzeit war ihr Vater in den Wald gegangen, um Leiard zu fragen, ob er seine frühere Behandlung wieder aufnehmen könne. Der Traumweber hatte zugestimmt. Als Auraya die Nachricht erhalten hatte, dass ihre Mutter im Sterben liege, hatte sie dem Heilerpriester vorgeschlagen, nach Jarime zurückzukehren. Er hatte alles getan, was in seinen Kräften stand.
Durch Leiards Behandlung war ihre Mutter tatsächlich, wie Auraya es gehofft hatte, wieder zu Kräften gekommen. Ihre Mutter hatte ihre wundersame Genesung heruntergespielt, war im Haus geblieben und hatte nur wenige Besucher empfangen – was ohnehin ihren Neigungen entsprach.
Ich war mir so sicher, dass mein damaliges Verhalten gegen meine Erwählung sprechen würde.
Obwohl ich mir so sehr gewünscht habe, eine Weiße zu sein, konnte ich mir nicht einreden, dass die Traumweberschlecht seien oder ich ein Unrecht begangen hätte. Das Gesetz, das uns verbietet, die Dienste eines Traumwebers in Anspruch zu nehmen, ist lächerlich. Die Pflanzen und die anderen Heilmittel, die Leiard verwendet, sind nicht deshalb gut oder schlecht, weil ein Heide oder ein Gläubiger sie benutzt. Ich habe nichts erlebt, was mich davon überzeugen könnte, dass Traumweber im Allgemeinen Hass oder Misstrauen verdienen.
Und dennoch haben die Götter mich auserwählt. Was soll ich davon halten? Bedeutet das, dass sie jetzt bereit sind, die Traumweber zu dulden? Hoffnung stieg in ihr auf. Wollen sie, dass von nun an auch die Zirkler die Traumweber akzeptieren? Ist es meine Aufgabe, das zu bewerkstelligen?
Das Gefühl verebbte, und sie schüttelte den Kopf. Warum sollten sie das tun? Warum sollten sie Menschentolerieren, die ihnen nicht Gefolgschaft leisten und andere ebenfalls davon abhalten wollen? Viel wahrscheinlicher ist es, dass man mir aufträgt, meine Neigung zu den Traumwebern für mich zu behalten und meine Arbeit zu tun.
Warum bekümmerte sie das? Warum fühlte sie sich den Mitgliedern eines Kults verbunden, dem sie nicht angehörte? Lag es nur daran, dass sie noch immer das Gefühl hatte, Leiard für all das Dank zu schulden, was er sie gelehrt hatte, und für seine Hilfe, was ihre Mutter betraf? Wenn das so war, ergab es durchaus einen Sinn, dass sie sich um sein Wohlergehen sorgte. Unverständlich blieb indes die Tatsache, dass sie sich um Traumweber sorgte, denen sie nie begegnet war.
Es ist der Gedanke an all das Heilerwissen, das verloren gehen würde, wenn die Traumweber zu existieren aufhörten, sagte sie sich. Ich habe Leiard seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Wenn ich mich um ihn sorge, liegt es wahrscheinlich nur daran, dass das Leben meiner Mutter von ihm abhängt.
Sie nahm sämtliche Briefe aus dem Geheimfach und legte sie in eine silberne Schale. Dann hielt sie einen davon in die Höhe, zog Magie in sich hinein und sandte sie als kleinen Funken wieder aus. Eine Flamme erwachte zischend zum Leben und fraß sich durch das Pergament. Als das Feuer beinahe ihre Finger erreichte, ließ sie den Brief wieder in die Schale fallen und griff nach dem nächsten.
Einer nach dem anderen verbrannten die Briefe. Während sie damit beschäftigt war, fragte Auraya sich, ob die Götter sie wohl beobachteten. Ich habe veranlasst, dass ein Traumweber meine Mutter behandelt. Dieses Arrangement werde ich nicht aus freien Stücken lösen. Ebenso wenig werde ich es öffentlich bekannt machen. Wenn die Götter es missbilligen, werden sie es mich wissen lassen.
Nachdem sie die letzte brennende Ecke des Pergaments in die Schale hatte fallen lassen, trat sie zurück und beobachtete, wie der Brief zu Asche wurde. Sie fühlte sich besser. Mit diesem Gefühl, das sie nicht loslassen mochte, kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück und legte sich nieder. Jetzt werde ich vielleicht endlich ein wenig Schlaf finden können.
Die Klippen von Toren waren hoch, schwarz und gefährlich. Bei Stürmen warf sich das Meer gegen die Felswand, als wolle es sie zerschmettern. Selbst in stillen Nächten schien das Wasser die Existenz der natürlichen Barriere zu missbilligen und schäumte, wo immer es auf Felsen traf. Aber falls dieser Krieg zwischen Land und Wasser zu einem Sieg führte, geschah dies zu langsam, als dass sterbliche Augen den Gewinner hätten erahnen können.
In ferner Vergangenheit waren viele Boote dieser Schlacht zum Opfer gefallen. Die schwarzen Klippen waren in den meisten Nächten schwer zu erkennen und stellten eine verborgene Gefahr dar, wann immer der Mond hinter Wolken verschwand. Als vor mehr als tausend Jahren der Leuchtturm erbaut worden war, hatte die Zerstörung von Schiffen ein Ende gefunden.
Aus demselben Felsen geschaffen wie das Kliff, auf dem der Turm stand, trotzten die steinernen Mauern des Leuchtturms Zeit und Wetter. Das hölzerne Innere dagegen war schon vor langer Zeit Fäulnis und Vernachlässigung zum Opfer gefallen, und nur eine schmale, steinerne Treppe wand sich an der Innenseite der Mauer empor. In der Spitze des Turms lag ein Raum, dessen Boden aus einer riesigen, runden Steinscheibe bestand, durch die ein Loch gemeißelt worden war. Die Mauern, die auf dieser Scheibe ruhten, hatten schlimmen Schaden genommen; nur die Bogen waren noch geblieben. Das Dach war vor Jahren eingestürzt.
Früher einmal hatte sich in der Mitte des Raums eine schwebende Lichtkugel befunden, die so hell leuchtete, dass sie jeden blendete, der töricht genug war, sie länger als einige wenige Augenblicke anzusehen. Zauberer hatten diese Lichtkugel am Leben erhalten und jahrelang für die Sicherheit auf dem Meer gesorgt.
Emerahl, weise Frau und Zauberin, war heutzutage die einzige menschliche Besucherin, die in diesen Raum kam. Als sie vor Jahren den Schutt beiseite geschafft hatte, der sich im Lauf der Zeiten in dem Turm angesammelt hatte, war darunter eine der Masken zum Vorschein gekommen, wie sie die Zauberer früherer Jahrhunderte getragen hatten. In den Augenlöchern steckten dunkle Edelsteine zur Filterung des grellen Lichts, das sie mit ihrer Magie genährt hatten.
Jetzt stand der Leuchtturm ungenutzt und verfallen da, und die Schiffe mussten ohne seine Hilfe an den schwarzen Klippen vorbeikommen. Als Emerahl nun den höchstgelegenen Raum erreichte, hielt sie inne, um Atem zu schöpfen. Sie legte eine runzelige Hand auf die Säule eines Bogens und schaute aufs Meer hinaus. Winzige Lichtflecken zogen ihren Blick auf sich. Die Schiffe warteten noch immer auf Tageslicht, bevor sie die Passage zwischen den Klippen und den Inseln durchfuhren.
Wissen sie von der Existenz dieses Turms?, fragte sich Emerahl. Erzählen die Menschen sich noch immer Geschichten von dem Licht, das hier brannte? Sie schnaubte leise. Wenn sie es tun, bezweifle ich, dass sie wissen, dass ein Zaubererden Turm auf Geheiß von Tempre, dem Feuergott, erbaut hat. Wahrscheinlich erinnern sie sich nicht einmal an Tempres Namen. Sein Tod liegt erst wenige Jahrhunderte zurück, aber für Sterbliche ist das reichlich Zeit, um zu vergessen, wie das Leben vor dem Krieg der Götter gewesen ist.
Kannte heutzutage überhaupt noch jemand die Namen der toten Götter? Gab es Gelehrte, die das Thema studierten? Vielleicht in den Städten. Gewöhnliche Männer und Frauen, die sich mühten, das Beste aus ihrem kurzen Leben zu machen, scherten sich nicht um dergleichen Dinge.
Emerahl blickte hinab auf die Ansammlung von Häusern weiter unten am Ufer. Plötzlich erregte eine Bewegung in unmittelbarer Nähe des Leuchtturms ihre Aufmerksamkeit. Sie stieß ein leises, unwilliges Stöhnen aus. Es waren etliche Wochen vergangen, seit das letzte Mal jemand gewagt hatte, sie zu besuchen. Jetzt kam ein mageres, mit einer zerlumpten Tunika bekleidetes Mädchen den Hang heraufgeklettert.
Mit einem langgezogenen Seufzer wandte sich Emerahl wieder zu den Häusern um und dachte an die Zeit zurück, da die ersten Menschen hier gelandet waren. Einige Männer, die von einem einzigen Boot gekommen waren, hatten den Weg die Klippen hinauf gefunden und dort ein Lager aufgeschlagen. Schmuggler, hatte sie angenommen. Sie hatten provisorische Hütten errichtet und sie im Laufe der ersten Monate mehrmals abgerissen und neu erbaut, bis sie eine Stelle fanden, die einigermaßen geschützt vor den regelmäßigen Stürmen lag, so dass die Hütten stehen blieben. Damals waren die Männer sofort zu ihr gekommen, weil sie glaubten, sie könnten sie ausrauben, und sie hatte sie gelehrt, ihren Wunsch nach Ungestörtheit zu respektieren.
Die Männer waren in regelmäßigen Abständen fortgefahren und wieder zurückgekehrt, und schon bald brachte ihr Boot ein zweites mit und schließlich noch weitere. Eines Tages kam ein Fischerboot mit voller Ladung und etlichen Frauen an. Schon bald konnte man nächtens das leise Weinen eines Säuglings hören, und es blieb nicht bei diesem einen. Aus Säuglingen wurden Kinder, und einige erlebten das Erwachsenenalter. Die Mädchen wurden allzu jung Mütter, und viele überlebten diese Erfahrung nicht. Alle Dorfbewohner konnten von Glück sagen, wenn sie ihr vierzigstes Jahr erreichten.
Es waren zähe, hässliche Menschen.
Ihre groben Sitten mäßigten sich mit jeder nachwachsenden Generation und durch den Einfluss Fremder. Einige Neuankömmlinge errichteten einen Handelsposten am Ufer, und manche von ihnen blieben. An die Stelle der windschiefen Hütten traten Häuser aus Stein, der in der Nähe abgebaut werden konnte. Das Dorf wuchs. Haustiere streiften über die Klippen und fraßen die groben Gräser. Kleine, sorgsam gepflegte Gemüsebeete trotzten Salzluft, Stürmen und schlechtem Boden.
Bisweilen nahm einer der Dorfbewohner den langen Marsch zum Leuchtturm hinauf auf sich, um von der weisen Frau, die dort lebte, Heilmittel oder Rat zu erbitten. Emerahl duldete das, da sie Geschenke mitbrachten: Essen, Tuch, kleine Kinkerlitzchen, Neuigkeiten aus der Welt. Sie hatte nichts gegen ein wenig Handel, wenn er eine gewisse Abwechslung in ihre Tage und ihre Kost mit sich brachte.
Allerdings nutzten die Dorfbewohner Emerahls Heilmittel nicht immer zum Guten. Eine Frau ließ sich Wellkraut gegen ihre Hämorrhoiden geben, setzte es dann aber ein, um ihren Mann zu vergiften. Eine andere Frau schickte ihren Mann zu Emerahl, damit sie seine eheliche Unfähigkeit kuriere, und nach seiner nächsten Fahrt übers Meer kam er zurück, um ein Heilmittel für Hodenwarzen zu erbitten. Hätte Emerahl gewusst, dass der mit Gaben gesegnete Junge, der lernen wollte, wie man Fische betäubte und Feuer machte, diese Fähigkeiten nutzen würde, um den Dorftrottel zu quälen, hätte sie ihn gewiss nicht unterrichtet.
Aber sie traf keine Schuld an alledem. Was die Menschen mit dem taten, was sie von ihr kauften, war ihr Problem. Wenn keine Zauberin in der Nähe gewesen wäre, hätte die Frau eine andere Möglichkeit gefunden, um ihren Mann zu töten, der treulose Ehemann wäre ohnehin in fremden Betten gelandet – wenn auch vielleicht mit weniger Vergnügen -, und der mit Gaben gesegnete Raufbold hätte statt Magie Steine und Fäuste benutzt.
Das Mädchen aus dem Dorf kam langsam näher. Was würde sie erbitten? Was würde sie als Gegenleistung anbieten? Emerahl lächelte. Menschen faszinierten sie und stießen sie gleichzeitig ab. Sie konnten erstaunlich gütig, aber auch grausam und bösartig sein. Das Lächeln in Emerahls Zügen verzerrte sich. Die Dorfbewohner gehörten ihrer Meinung nach eher auf die grausamere Seite der menschlichen Rasse.
Sie ging zur Treppe hinüber und stieg langsam nach unten. Als das Mädchen keuchend und mit weit aufgerissenen Augen in dem türlosen Eingang des Leuchtturms erschien, war Emerahl bereits fast auf der untersten Stufe angelangt. Sie blieb stehen, griff nach ihrer Macht und ließ ein kleines Häufchen Stöcke und Zweige in der Mitte des Raums in Flammen ausbrechen. Das Mädchen starrte zuerst das Feuer an, dann blickte sie angstvoll zu Emerahl auf.
Sie sieht so mager und ausgelaugt aus. Aber andererseits tue ich das auch.
»Was willst du, Mädchen?«, fragte Emerahl.
»Man sagt... man sagt, du hilfst Menschen.«
Die Stimme klang leise und gepresst. Emerahl vermutete, dass dieses Mädchen nicht gern Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie schaute näher hin und erkannte die Anzeichen körperlicher Entwicklung bei dem Kind. Sie würde zu einer attraktiven Frau heranwachsen, wenn auch auf eine magere, knochige Weise.
»Du willst einen Mann bezaubern?«
Das Mädchen zuckte zusammen. »Nein.«
»Dann willst du einen Mann loswerden?«
»Ja. Nicht nur einen Mann«, fügte das Mädchen hinzu. »Alle Männer.«
Emerahl kicherte leise und ging die letzten Stufen hinunter. »Alle Männer, wie? Eines Tages wirst du vielleicht eine Ausnahme machen.«
»Das glaube ich nicht. Ich hasse sie.«
»Was ist mit deinem Vater?«
»Den hasse ich am meisten.«
Ah, diesem Mädchen erging es also wie allen Heranwachsenden. Aber als Emerahl am Fuß der Treppe angelangt war, sah sie eine wilde Verzweiflung in den Augen ihrer jungen Besucherin und wurde schlagartig ernst. Dies war kein verdrossenes, rebellisches Kind. Welchen unerwünschten Aufmerksamkeiten das junge Mädchen auch ausgesetzt sein mochte, sie machten ihm große Angst.
»Komm hierher zum Feuer.«
Emerahl deutete auf eine alte Bank, die sie lange vor der Ansiedlung der Menschen nach einem Schiffsunglück auf dem Strand unter den Klippen gefunden hatte.
»Setz dich.«
Das Mädchen kam ihrer Aufforderung nach. Emerahl ließ sich mit knirschenden Knien auf einen Stapel Decken sinken, die sie als Bett benutzte.
»Ich kann dir Tränke brauen, die einem Mann den Wind aus den Segeln nehmen, wenn du weißt, wovon ich spreche«, erklärte sie dem Mädchen. »Aber es ist gefährlich, einem Mann etwas davon zu verabreichen, und die Wirkung ist nicht von Dauer. Tränke dieser Art sind nutzlos, wenn du nicht weißt, was bevorsteht, und dir entsprechende Pläne zurechtlegen kannst.«
»Ich dachte, du könntest mich vielleicht hässlich machen«, erwiderte das Mädchen schnell. »So dass die Männer gar nicht erst in meine Nähe kommen wollen.«
Emerahl musterte das Mädchen eingehend, und ihre Besucherin senkte errötend den Blick.
»Hässlichkeit ist kein Schutz, wenn ein Mann betrunken und imstande ist, die Augen zu schließen«, erklärte sie mit leiser Stimme. »Und wie ich bereits sagte, eines Tages wirst du vielleicht eine Ausnahme machen wollen.«
Das Mädchen runzelte die Stirn, schwieg jedoch.
»Ich nehme an, dort unten findet sich niemand, der bereit wäre, deine Tugend zu verteidigen, sonst wärst du nicht zu mir gekommen«, fuhr Emerahl fort. »Also werde ich dich lehren, es selbst zu tun.«
Sie griff nach einer Kette um ihren Hals und zog sie sich über den Kopf. Das Mädchen hielt den Atem an, als sie den Anhänger daran baumeln sah. Es war ein schlichter, gehärteter Tropfen Saft von einem Dembar-Baum. Im Licht des Feuers schimmerte er in einem dunklen Orangeton. Emerahl hielt die Kette auf Armeslänge von sich weg.
»Schau genau hin.«
Mit weit aufgerissenen Augen gehorchte das Mädchen.
»Lausche meiner Stimme. Ich möchte, dass du den Blick auf diesen Tropfen gerichtet hältst. Schau hinein. Sieh dir die Farbe an. Und sei dir gleichzeitig der Wärme des Feuers neben dir bewusst.« Emerahl sprach weiter, wobei sie das Gesicht des Mädchens sorgfältig beobachtete. Als die Abstände, in denen ihre Besucherin blinzelte, länger wurden, bewegte sie einen Fuß. Die Augen, die auf den Anhänger blickten, bewegten sich nicht. Emerahl nickte leicht und befahl dem Mädchen, nach dem Tropfen zu greifen. Langsam streckte das Mädchen die Hand aus.
»Jetzt halte inne, genau dort, nahe dem Tropfen, aber ohne ihn zu berühren. Spüre die Wärme des Feuers. Kannst du die Wärme spüren?«
Das Mädchen nickte langsam.
»Gut. Jetzt stell dir vor, du würdest Wärme aus dem Feuer ziehen. Stell dir vor, dein Körper sei erfüllt von seiner sanften Wärme. Kannst du Wärme spüren? Ja. Jetzt sende diese Wärme in den Tropfen.«
Sofort begann der Saft zu leuchten. Das Mädchen blinzelte, dann starrte es voller Staunen auf den Anhänger. Das Leuchten verebbte wieder.
»Was ist passiert?«
»Du hast soeben ein wenig Magie benutzt«, erklärte Emerahl. Sie ließ den Anhänger sinken und legte sich die Kette wieder um.
»Ich habe Gaben?«
»Natürlich hast du die. Jeder Mann und jede Frau haben Gaben. Die meisten haben nicht mehr, als man braucht, um eine Kerze zu entzünden. Du jedoch verfügst über stärkere Gaben.«
Die Augen des Mädchens leuchteten vor Erregung. Emerahl kicherte. Sie hatte diesen Ausdruck schon viele Male gesehen. »Aber glaub ja nicht, du würdest deshalb eine große Zauberin werden, Mädchen. So sind deine Gaben nun auch wieder nicht.«
Diese Worte hatten die gewünschte, ernüchternde Wirkung. »Was kann ich tun?«
»Du kannst andere dazu bringen, es sich gut zu überlegen, bevor sie dir mehr Aufmerksamkeit schenken, als du es möchtest. Ein simpler, kurzer Schmerz als Warnung und ein betäubender Schmerz für jene, die diese Warnung nicht annehmen oder die zu betrunken sind, um sie zu spüren. Ich werde dich beides lehren – und dir obendrein noch einen Rat mit auf den Weg geben. Lerne die Kunst des Schmeichelns oder der humorvollen Zurückweisung. Du magst den Wunsch haben, den Männern ihre Würde zu rauben, aber ein verletzter Stolz wird auf Rache sinnen. Ich habe keine Zeit, dich etwas so Kompliziertes zu lehren wie die Fähigkeit, eine Tür zu entriegeln oder ein Messer aufzuhalten.«
Das Mädchen nickte ernst. »Ich werde es versuchen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es bei meinem Vater funktionieren wird.«
Emerahl zögerte. So war das also. »Nun denn. Ich werde dir heute Abend diese Tricks beibringen, aber du musst sie später weiter üben. Es ist wie das Spiel auf einer Knochenpfeife. Du magst dich daran erinnern, wie eine Melodie lautet, aber wenn du sie nicht übst, verlieren deine Finger ihre Geschicklichkeit.«
Das Mädchen nickte erneut, diesmal mit erkennbarem Eifer. Emerahl hielt inne, um ihre Schülerin voller Wehmut zu betrachten. Obwohl ihr Leben hart gewesen war, war sie noch immer so wunderbar unschuldig, was die Dinge der Welt betraf, noch immer voller Hoffnung. Sie blickte auf ihre eigenen runzeligen Hände hinab. Bin ich denn so viel anders, trotz all der Jahre, die ich ihr voraushabe? Meine Zeit ist lange abgelaufen, und die Welt hat sich weiterentwickelt, aber ich klammere mich noch immer ans Leben. Warum mache ich, die Letzte meiner Art, immer so weiter?
Weil ich es kann, gab sie sich selbst die Antwort.
Mit einem schiefen Lächeln machte sie sich daran, einem weiteren jungen Mädchen beizubringen, wie es sich verteidigen konnte.
Der Tempel postierte keine Wachen an seinem Eingang. Im Prinzip stand es allen frei, einzutreten. Sobald man jedoch im Innern war, mussten Besucher zu jenen geleitet werden, die ihren Bedürfnissen am besten gerecht werden konnten, daher verbrachten alle angehenden Priester und Priesterinnen, die Akolythen, wie man sie nannte, einen Teil ihrer Zeit als Führer durch den Tempel.
Dem Akolythen Rimo machte dieser Teil seiner Pflichten nichts aus. Meistens musste man nur über die Gehwege des Tempelbezirks schlendern, konnte sich am Sonnenschein erfreuen und den Leuten erklären, wo sie hingehen mussten, was weitaus einfacher und befriedigender war als Unterrichtsstunden über das Gesetz oder die Heilkunst. Während fast jedes Dienstes geschah irgendetwas Komisches, und anschließend kamen er und die anderen Akolythen zusammen und erzählten einander von den Dingen, die sie erlebt hatten.
Nachdem sie etliche Tage damit verbracht hatten, zu Besuch angereiste Monarchen, Edelleute und andere Würdenträger zu begrüßen, ließ sich keiner der Akolythen mehr besonders beeindrucken von Geschichten, die sich um die Begegnung mit wichtigen Persönlichkeiten rankten. Auch Berichte über die seltsamen Mätzchen der gewöhnlichen Besucher hatten ihren Reiz noch nicht wiedergewonnen. Rimo wusste, dass einzig ein außergewöhnliches Erlebnis wie die Begegnung mit Auraya von den Weißen ihm in dieser Situation noch Bewunderung eintragen würde, und was das betraf, standen seine Chancen schlecht, bis...
Rimo blieb stehen und riss ungläubig die Augen auf, als ein hochgewachsener, bärtiger Mann durch den Weißen Bogen trat. Ein Traumweber? Hier? Er hatte noch nie zuvor einen der Heiden im Tempel gesehen. Sie wagten es nicht, zu dem heiligsten Ort der Zirkler vorzudringen.
Rimo blickte sich um, in Erwartung, jemanden hinter dem Traumweber hereilen zu sehen. Als ihm klar wurde, dass er der einzige Tempelführer war, der sich in der Nähe aufhielt, krampfte sich sein Magen zusammen. Einen Moment lang erwog er die Möglichkeit, vorzugeben, er habe den Heiden nicht bemerkt, aber ein solches Verhalten war womöglich ebenso schlecht angesehen wie die Idee, den Mann in die geheiligten Gebäude zu bitten. Mit einem Seufzer zwang sich Rimo, dem Besucher zu folgen. Als er näher kam, blieb der Traumweber stehen und drehte sich um, um ihn anzusehen.
Ich muss nur herausfinden, was er will, sagte Rimo sich. Und ihn dann fortschicken. Aber was ist, wenn er nicht gehen will? Was ist, wenn er versucht, sich einen Weg hinein zu erzwingen?
Nun, sollte es tatsächlich so weit kommen,sind genug Priester im Tempel, um mir zu Hilfe zu eilen.
»Kann ich dir weiterhelfen?«, fragte Rimo steif.
Der Blick des Traumwebers war auf eine Stelle über Rimos Kopf gerichtet. Oder vielleicht blickte der Mann ja auch in seinen Kopf.
»Ich habe eine Botschaft zu überbringen.«
Der Heide zog ein Röhrchen unter seinen Roben hervor. Rimo runzelte die Stirn. Eine Botschaft? Das würde bedeuten, dass er dem Heiden gestatten musste, weiter in den Tempelbezirk vorzudringen, vielleicht sogar die Gebäude zu betreten. Das konnte er nicht zulassen.
»Gib sie mir«, verlangte er. »Ich werde dafür sorgen, dass die Botschaft überbracht wird.«
Zu Rimos Erleichterung händigte der Traumweber ihm die Schriftrolle aus. »Vielen Dank«, sagte er, dann wandte er sich um und ging zurück zum Tor.
Rimo besah sich das Röhrchen genauer. Es war ein schlichter, hölzerner Briefbehälter. Als er den Namen der Empfängerin las, der mit Tinte darauf geschrieben war, sog er erstaunt den Atem ein. Er starrte dem Traumweber nach. Das war einfach zu eigenartig. Die Empfängerin war »die Hohepriesterin Auraya«. Warum überbrachte ein Heide Auraya der Weißen eine Botschaft?
Vielleicht hatte der Mann sie gestohlen, um ihren Inhalt zu lesen. Rimo unterzog das Röhrchen einer sorgfältigen Musterung, aber das Siegel war unversehrt, und nichts wies darauf hin, dass jemand sich daran zu schaffen gemacht hatte. Trotzdem blieb es eigenartig. Andere Priester würden vielleicht Fragen stellen. Er schaute abermals in die Richtung, in die der Mann langsam verschwand, dann zwang er sich, ihm mit weit ausgreifenden Schritten zu folgen.
»Traumweber.«
Der Mann blieb stehen und drehte sich um. Ein fragender Ausdruck trat in seine Züge.
»Wie kommt es, dass man dich mit der Auslieferung dieser Botschaft betraut hat?«, verlangte Rimo zu erfahren.
Die Lippen des Mannes wurden schmal. »Man hat mich nicht damit betraut. Ich bin vor einigen Tagen einem Kurier begegnet, der trunken und bewusstlos am Straßenrand lag. Da ich mit der Empfängerin der Nachricht bekannt bin und ohnehin in diese Richtung wollte, habe ich beschlossen, sie selbst zu überbringen.«
Rimo schaute noch einmal auf den Namen auf der Schriftrolle. Mit der Empfängerin bekannt? Wohl kaum. Dennoch war es besser, vorsichtig zu sein.
»Dann werde ich dafür Sorge tragen, dass diese Nachricht sie sofort erreicht«, sagte er. Rimo wandte sich hastig um und ging auf den Weißen Turm zu. Nach einigen Schritten blickte er noch einmal zurück und sah zu seiner Erleichterung, dass der Traumweber durch den Toreingang des Tempels getreten war und auf das westliche Viertel der Stadt zuging. Abermals schaute er auf den Namen der Empfängerin und lächelte. Wenn er Glück hatte, würde er diese Schriftrolle persönlich abliefern dürfen. Und das wäre eine Geschichte, die zu erzählen sich lohnen würde.
Mit wachsender Erregung beschleunigte er seine Schritte und eilte dem Eingang des Weißen Turms entgegen.
Der Botschafter von Sennon begann mit einem weiteren langen Exkurs über die Geschichte seines Landes – etwas, wozu die Vertreter seines Volkes neigten, wenn sie einen bestimmten Punkt besonders hervorheben wollten. Aurayas Mienenspiel veränderte sich leicht. Jeder, der diese Begegnung beobachtet hätte, wäre davon überzeugt gewesen, dass sie sich vollauf auf die Bemerkungen des Mannes konzentrierte. Danjin kannte sie langsam ein wenig besser und hatte gelernt, die Zeichen erzwungener Geduld zu deuten. Wie die meisten Hanianer, die geradeheraus ihre Meinung zu sagen pflegten, fand sie die endlos ausgeschmückten Ausführungen des Sennoners ermüdend.
»Wir wären geehrt, nein, über jedes Entzücken hinaus erfreut, wenn du die Stadt der Sterne einmal besuchen würdest. Seit die Götter den großen Juran vor einem Jahrhundert erwählt haben, waren uns nur neun Gelegenheiten vergönnt, den Auserwählten der Götter empfangen und beherbergen zu dürfen. Es wäre wunderbar, würdest du mir da nicht recht geben, wenn die neueste der Stellvertreter der Götter als Nächste durch die Straßen von Karienne wandeln und die Dünen von Hemmed erklimmen würde?«
Das ist alles? Danjin unterdrückte einen Seufzer. Die kunstvolle Ansprache des Botschafters hatte zu nichts mehr geführt als einer Einladung, sein Land zu besuchen.
Obwohl er gleichzeitig darauf hinweist, dass die Weißen nur selten nach Sennonkommen. Es wäre keine Überraschung, wenn die Sennoner sich ein wenig vernachlässigt fühlten.
Das Problem war, dass ein Gebirgszug und eine Wüste Sennon von Hania trennten, und die Straße nach Karienne war lang und schwierig. Auch Dunwegen lag auf der anderen Seite der Berge, konnte aber zumindest übers Meer erreicht werden. Der wichtigste Hafen Sermons befand sich am anderen Ende des Kontinents. Bei gutem Wetter konnte die Seereise Monate in Anspruch nehmen. Unter schlechten Verhältnissen dauerte sie womöglich länger als der Weg über Land. Sollte sich Sennon irgendwann der Allianz anschließen, würden die Weißen diese Reise häufiger unternehmen müssen.
Danjin argwöhnte, dass es noch einen anderen Grund gab, warum es den Weißen widerstrebte, Zeit in ein solches Unternehmen zu stecken: Es gab eine große Anzahl von Sennonern, die noch immer den toten Göttern huldigten. Sowohl die früheren als auch die gegenwärtigen Kaiser von Sennon hatten stets die Meinung vertreten, dass es ihren Untertanen freistehen sollte, anzubeten, wen oder was sie wollten, und die Frage, ob die Götter, denen diese Menschen huldigten, real waren oder nicht, mussten sie selbst entscheiden, nicht ihre Herrscher. Wahrscheinlich würde es so weitergehen, solange die sennonische »Religionssteuer« den Wohlstand der Herrscher mehrte. Nur ein einziger Kult protestierte gegen diese Situation so lautstark wie die Zirkler. Sie nannten sich die Pentadrianer. Wie die Zirkler hingen sie fünf Göttern an, aber damit endeten auch schon die Ähnlichkeiten. Ihre Götter existierten nicht, daher täuschten sie ihre Anhänger mit Tricks und Zaubereien. Es hieß, die Pentadrianer opferten diesen Göttern Sklaven und schwelgten in orgiastischen Fruchtbarkeitsritualen. Zweifellos sorgten diese Taten dafür, dass ihre Anhänger es nicht wagten, an der Existenz ihrer Götter zu zweifeln, damit sie sich nicht der Frage stellen mussten, ob es vielleicht gar keine Rechtfertigkeit für ihre Schlechtigkeiten gab.
Auraya blickte zu Danjin hinüber, und er spürte, wie sich sein Gesicht vor Verlegenheit rötete. Eigentlich sollte er seine Aufmerksamkeit dem fortgesetzten Gefasel des Botschafters widmen, um ihr jederzeit einen Quell von Erkenntnissen zur Verfügung zu stellen. Wahrscheinlich habe ich ihr auch Erkenntnisse zur Verfügung gestellt – wenn auch nicht von der Art, die ihr in diesem Moment von Nutzen sein kann.
Die Tür zu dem Raum wurde geöffnet, und Dyara trat ein. Danjin beobachtete mit einiger Erheiterung, dass die ältere Frau Auraya einer kritischen Musterung unterzog, wie eine Mutter nach Fehlern im Benehmen ihres Kindes suchen mochte. Er unterdrückte ein Lächeln. Es würde einige Zeit dauern, bis Auraya mit der gleichen Selbstsicherheit auftrat wie Dyara. Auraya befand sich in einer interessanten Position; noch vor kurzem hatte sie eine der höchsten Stellungen bekleidet, die eine sterbliche Priesterin erreichen konnte, und nun nahm sie, was Alter und Erfahrung betraf, die niedrigste Stellung unter den Unsterblichen ein.
»Es ist eine Nachricht für dich gekommen. Aus deiner Heimat, Auraya«, sagte Dyara.
»Möchtest du sie gleich jetzt entgegennehmen? «
Aurayas Augen leuchteten auf. »Ja. Vielen Dank.«
Dyara trat beiseite und ließ einen Priesternovizen eintreten, der ihr zögernd einen Nachrichtenbehälter darbot.
Auraya lächelte den jungen Mann an, dann blinzelte sie überrascht. Während Dyara den Boten aus dem Raum geleitete, brach Auraya das Siegel und kippte ein Pergament heraus. Danjin konnte sehen, dass nur wenige Zeichen auf dem Dokument geschrieben standen. Er hörte Auraya scharf die Luft einsaugen und betrachtete sie forschend. Sie war bleich geworden.
Auraya blickte zu Dyara hinüber, die die Stirn runzelte und sich an den Botschafter wandte. »Ich hoffe, du genießt deinen Besuch im Tempel, Botschafter Shemeli. Darf ich dich auf dem Weg hinaus begleiten?«
Der Mann zögerte, dann verneigte er sich leicht. »Es wäre mir eine große Ehre, Dyara von den Weißen.« Er formte mit beiden Händen einen Zirkel und neigte den Kopf vor Auraya. »Es war mir eine Freude, mit dir zu sprechen, Auraya von den Weißen. Ich hoffe, dass wir bald Gelegenheit haben werden, unsere Bekanntschaft zu vertiefen.«
Sie sah ihm in die Augen und nickte. »Das hoffe ich ebenfalls.«
Als Dyara den Mann aus dem Raum führte, unterzog Danjin Auraya einer eingehenden Musterung. Die jüngste Weiße betrachtete voller Konzentration eine Vase, aber er war davon überzeugt, dass diese Vase nicht der Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit war. War das ein Glitzern von Tränen in ihren Augen?
Danjin wandte sich ab, da er sie mit seinen Blicken nicht in Verlegenheit bringen wollte. Als das Schweigen andauerte, fühlte er sich zunehmend unbehaglich. Es war ein wenig beunruhigend, eine der Weißen den Tränen nahe zu sehen, ging es ihm durch den Kopf. Es wurde von ihnen erwartet, dass sie stark waren. Mächtig. Aber sie ist ja kaum ein alter Hase in diesem Geschäft, rief er sich ins Gedächtnis. Und mir wäre es lieber, wenn jene, die die Menschen in Fragen des Gesetzes und der Moral leiten, menschliche Gefühle hätten, statt gar keine.
Abermals wurde die Tür geöffnet, und Dyara kehrte zurück. Ihre Hand schwebte über dem Türknauf.
»Es tut mir leid, Auraya. Du darfst den Tag so verbringen, wie du es wünschst. Ich werde dich heute Abend aufsuchen, sobald ich meine Pflichten erfüllt habe.«
»Danke«, erwiderte Auraya leise.
Dyara sah zu Danjin hinüber, dann deutete sie mit dem Kopf auf die Tür. Er erhob sich und folgte ihr aus dem Raum.
»Schlechte Neuigkeiten?«, fragte er, als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte.
»Ihre Mutter ist gestorben.« Dyara verzog das Gesicht. »Es ist zu einem unglücklichen Zeitpunkt geschehen. Geh nach Hause, Danjin Speer. Komm morgen zur gewohnten Zeit zurück.«
Danjin nickte und machte das Zeichen des Zirkels. Dyara ging davon. Er blickte den Flur hinunter zur Treppe, dann drehte er sich noch einmal zu der Tür des Raumes um, den er soeben verlassen hatte. Ein freier Nachmittag. Er hatte seit Tagen keinen Augenblick mehr für sich allein gehabt. Er könnte den Großen Markt besuchen und ein wenig von dem Geld, das er verdiente, auf Geschenke für seine Frau und seine Töchter verwenden. Oder er könnte lesen.
Ein Bild von Aurayas bleichem Gesicht kam ihm in den Sinn. Sie wird trauern, dachte er.
Gibt es hier irgendjemanden, der sie trösten könnte? Einen Freund? Vielleicht einer von den Priestern?
Alle Gedanken daran, Märkte zu besuchen oder zu lesen, zerstoben. Er seufzte und klopfte an die Tür. Nach einer kurzen Pause erschien Auraya vor ihm und sah ihn fragend an, dann lächelte sie hohl, als sie seine Gedanken las.
»Ich werde zurechtkommen, Danjin.«
»Gibt es irgendetwas, das ich für dich tun kann? Soll ich jemanden herholen?«
Sie schüttelte den Kopf, dann runzelte sie die Stirn. »Vielleicht kannst du doch etwas für mich tun. Du sollst niemanden herholen, sondern nur nach ihm suchen. Finde heraus, wo der Mann, der die Botschaft in den Tempel gebracht hat, sich aufhält. Der Novize, Rimo, sollte in der Lage sein, ihn zu beschreiben. Wenn meine Vermutung zutrifft, dann ist sein Name Leiard.«
Danjin nickte. »Wenn er noch in der Stadt ist, werde ich ihn finden.«
Nicht weit zu seiner Linken standen drei Frauen an einem Tisch und bereiteten das abendliche Mahl vor. Sie bemerkten kaum, wie ihre Hände geschickt kneteten, rührten oder hackten, während sie miteinander plauderten und über die bevorstehende Heirat der Tochter ihres Arbeitgebers sprachen.
In einiger Entfernung hinter ihnen war ein Mann in einen beinahe tranceartigen Geisteszustand versunken, während er den Ton zwischen seinen Händen zu einer Schale formte. Zufrieden schnitt er die Schale mit einem Stück Draht von der Töpferscheibe und stellte sie zu den anderen, die er geschaffen hatte, dann griff er nach frischem Ton.
Auf der rechten Seite eilte, müde und mutlos, ein Junge vorüber. Seine Eltern hatten sich wieder einmal gestritten. Wie immer hatte der Streit mit dem dumpfen Aufprall von Fäusten auf Fleisch und gequältem Wimmern geendet. Er dachte über die Fremden nach, die noch immer den Markt bevölkerten und anscheinend keine Ahnung von der Existenz von Taschendieben hatten, und ihm wurde leichter ums Herz. Heute Abend würde ihm seine Beute förmlich in den Schoß fallen.
Ein wenig weiter entfernt zankte eine Mutter lautstark ihre Tochter aus. Das Ganze endete mit einem Aufbranden von Befriedigung und Zorn, als die Tochter die Tür zwischen ihnen zuschlug.
Leiard holte tief Atem und ließ die Gedanken dieser und anderer Menschen in seinen Sinnen verblassen. Der Schmerz in seinem Körper hatte sich in eine erträglichere Mattigkeit verwandelt. Er fühlte sich versucht, sich niederzulegen und zu schlafen, aber dann hätte er am Abend keine Ruhe mehr gefunden, und er hatte bereits genug durchwachte Nächte hinter sich gebracht, in denen er sich gefragt hatte, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, dem Kurier die Botschaft abzunehmen.
Irgendjemand musste es tun, dachte er. Warum hat Pa-Färber diesen Jungen damit beauftragt?
Wahrscheinlich befand man sich im Dorf mitten in der Ernte. Sie konnten nur wenige Arbeitskräfte für eine Aufgabe wie das Überbringen einer Nachricht entbehren. Möglicherweise hatte der Junge sich freiwillig angeboten, um sich vor der harten Plackerei zu drücken. Pa-Färber hatte offensichtlich nichts von seiner Neigung zur Faulheit gewusst.
Es war Leiard gelungen, dem vom Trank berauschten Jungen genug Informationen zu entlocken, um herauszufinden, warum Aurayas Vater einen Boten geschickt hatte, statt Priester Avorim zu bitten, die Nachricht per Gedankenrede zu übermitteln. Der Priester war krank. Er war vor einigen Tagen zusammengebrochen.
Da der Priester ausfiel, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als einen Boten zu schicken. Leiard hatte keine Ahnung, wie krank Priester Avorim tatsächlich war. Es konnte durchaus sein, dass der alte Mann im Sterben lag.
Ironischerweise war Leiard dem betrunkenen Boten nur deshalb begegnet, weil Ma-Färbers Tod ihm die Freiheit gegeben hatte, fortzugehen. Jedes Jahr reiste er in eine Stadt, die einen Fußmarsch von einigen Tagen entfernt von Oralyn lag, um Heilmittel zu kaufen, die er nicht selbst herstellen konnte. Der Junge hatte ihm den Rest des Geldes überlassen, das Pa-Färber ihm für Essen und Unterkunft gegeben hatte, aber als Leiard in die Stadt gekommen war, hatte er feststellen müssen, dass es nicht genug war, um die Dienste eines anderen Boten zu bezahlen.
Leiard hatte die Möglichkeit erwogen, die Nachricht dem Priester der Stadt zu übergeben, aber dann hatte er sich ausgemalt, wie er dem Mann erklären würde, auf welche Weise er in den Besitz der Botschaft gelangt war, und er hatte begriffen, dass kein Priester ihm glauben würde. Damit waren ihm nur zwei Auswege geblieben:
Entweder, er brachte die Nachricht zu Pa-Färber zurück, der im Augenblick keine zusätzliche Enttäuschung und weiteren Kummer gebrauchen konnte, oder er lieferte den Briefbehälter selbst aus. Dazu, so hatte er gedacht, brauchte er ihn lediglich einem der Torhüter des Tempels zu übergeben.
Aber er hatte keine Torhüter oder Wachen entdeckt. Bei der Erinnerung an den Augenblick seiner Ankunft am Eingang des Tempels überlief Leiard eine Gänsehaut. Das Gewirr von Menschen um ihn herum hatte ihn so sehr abgelenkt, dass er den großen, weißen Turm, der die Gebäude der Stadt überragte, zu Anfang gar nicht bemerkt hatte. Er hatte ihn erst gesehen, als er in den Bogen über dem Tempeleingang getreten war.
Irgendetwas daran ließ ihn bis ins Mark frösteln. Ein Teil von ihm war voller Staunen und Bewunderung für die Geschicklichkeit gewesen, die in die Erschaffung des Turms hineingeflossen sein musste. Ein anderer Teil von ihm war zurückgezuckt und hatte ihn gedrängt, auf dem Absatz kehrtzumachen und so schnell wie möglich fortzugehen. Einzig seine Entschlossenheit, die Nachricht zu überbringen, hatte ihn davon abgehalten. Er war nicht so weit gereist, nur um dann die Flucht zu ergreifen. Aber am Eingang war niemand gewesen, dem er den Behälter hätte übergeben können, und keiner der Priester jenseits des Tores schien geneigt zu sein, an ihn heranzutreten. Er hatte durch den Bogen gehen müssen, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Nachdem er die Nachricht einem jungen Priester übergeben hatte, war er eilends und voller Erleichterung fortgegangen.
Jarime war seit seinem letzten Besuch gewachsen und hatte sich verändert, aber das war das Wesen von Städten. Das dichte Nebeneinander von Menschen war gleichzeitig anregend und ermüdend. Er hatte mehrere Stunden umherstreifen müssen, bis er ein Gästehaus für Traumweber fand. Es gehörte Tanara und Millo Bäcker, einem Ehepaar mit bescheidenem Einkommen, das einen kleinen Wohnblock geerbt hatte. Ihr Sohn, Jayim, wollte Traumweber werden, und dieser Umstand hatte die beiden auf die Idee gebracht, Traumwebern, die durch die Stadt kamen, ein Quartier anzubieten. Sie lebten im ersten Stockwerk und vermieteten das Erdgeschoss an Ladenbesitzer.
Tanara hatte ihn in einen Raum geführt und ihn dort zurückgelassen, damit er sich ausruhen konnte. Leiard hatte der Versuchung nicht widerstehen können, sich in eine Trance zu versetzen, um die Gedanken der Stadtbewohner um sich herum abzuschöpfen. Sie waren wie die Menschen überall, ganz und gar in Anspruch genommen von einem Leben, das ebenso mannigfaltig war wie die Fische im Ozean. Hell und dunkel, hart und leicht. Großzügig und selbstsüchtig. Hoffnungsvoll. Entschlossen. Resigniert. Außerdem hatte er den Geist seiner Gastgeberin in der Küche unter ihm wahrgenommen; sie dachte soeben darüber nach, dass sie Leiard bald zum Essen rufen musste. Außerdem hoffte sie, dass er ihrem Sohn helfen würde. Leiard holte noch einmal tief Atem, dann schlug er die Augen auf. Jayims Lehrer war im vergangenen Winter gestorben, und kein Traumweber hatte sich erboten, seine Stelle einzunehmen. Leiard wusste, dass er die Familie abermals enttäuschen musste. Er würde morgen in sein Dorf zurückkehren. Selbst wenn er einen weiteren Schüler hätte aufnehmen wollen – Jayim hätte mit ihm kommen müssen. Die Bäckers würden es wahrscheinlich lieber sehen, wenn Jayims Ausbildung unvollendet blieb, statt ihn ziehen zu lassen.
Wenn Jayim mit mir kommen wollte, würde ich ihn dann nehmen? Leiard spürte den Sog der Verpflichtung. Die Traumweber waren heutzutage gering an Zahl, und es wäre eine Schande, wenn dieser Junge seine Ausbildung aus Mangel an Lehrern aufgeben würde. Wenn er ihn kennenlernte, würde er es sich vielleicht noch einmal überlegen. Schließlich war er auch bereit gewesen, Auraya zu unterrichten.
Schließlich stand er auf, reckte sich und trat vor eine schmale Bank, auf der Tanara ihm eine große Schale mit Wasser und einige grobe Handtücher zurückgelassen hatte. Er wusch sich mit langsamen Bewegungen, zog seine zweite Tunika und eine frische Hose an und schlüpfte in sein Traumweberwams. Nachdem er sein Zimmer verlassen hatte, kam er in den Gemeinschaftsraum in der Mitte des Hauses, wo Tanara, die Stirn in tiefer Konzentration gerunzelt, auf einem alten Kissen saß. Auf einem großen, auf zwei Ziegelsteinen liegenden, flachen Stein garte ein Brot. Es brannte kein Feuer unter den Steinen, daher musste sie Magie benutzen, um sie zu erwärmen.
»Traumweber Leiard«, sagte sie, und die Falten um ihre Augen vertieften sich, als sie lächelte. »Wir haben keine Diener, und ich ziehe es vor, selbst zu kochen, statt das ekelhafte Zeug zu kaufen, das im Laden nebenan angeboten wird. Ich habe es nur zweimal gegessen, und beide Male ist mir übel geworden. Aber sie sind pünktlich mit der Miete, daher sollte ich mich nicht beklagen.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Tür.
»Jayim ist zurück.«
Leiard drehte sich um und sah im Nebenzimmer einen jungen Mann, der sich auf einer alten Holzbank ausgestreckt hatte. Sein Traumweberwams lag neben ihm auf dem Boden. Seine Tunika war voller Schweißflecken.
»Jayim, das ist Traumweber Leiard«, rief Tanara ihrem Sohn zu. »Leiste ihm Gesellschaft, während ich meine Arbeit hier beende.«
Der junge Traumweber blickte auf, und als er Leiard entdeckte, blinzelte er überrascht. Als Leiard den Raum betrat, richtete der Junge sich auf der Bank auf. »Hallo«, sagte er.
»Ich grüße dich«, erwiderte Leiard. Also kein traditionelles Willkommen von diesem Burschen. War es Mangel an Ausbildung oder einfach eine Geringschätzung der Rituale?
Leiard setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Jayim. Er betrachtete das Wams. Der Junge folgte seinem Blick, dann hob er das Kleidungsstück hastig auf und hängte es über die Rückenlehne der Bank.
»Ein bisschen heiß heute, nicht wahr?«, sagte Jayim. »Bist du schon früher einmal in der Stadt gewesen?«
»Ja. Vor langer Zeit«, erwiderte Leiard.
»Vor wie langer Zeit?«
Leiard runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht ganz sicher.«
Der Junge zuckte die Achseln. »Dann muss es in der Tat recht lange her sein. Hat die Stadt sich sehr verändert?«
»Mir sind einige Veränderungen aufgefallen, aber ich kann kein genaues Urteil treffen, da ich seit meiner Ankunft heute Nachmittag nur einen Teil der Stadt gesehen habe«, antwortete Leiard. »Es klingt allerdings so, als sei das Essen an den Straßenständen noch immer so gefährlich wie früher.«
Jayim kicherte. »Ja, aber es gibt durchaus auch einige gute Stände. Wirst du lange bleiben?«
Leiard schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde morgen wieder aufbrechen.«
Der Junge konnte seine Erleichterung nicht allzu gut verbergen. »Dann kehrst du also zurück nach... wie hieß der Ort noch?«
»Oralyn.«
»Wo liegt das?«
»In der Nähe der dunwegischen Grenze, am Fuß der Berge.«
Jayim öffnete den Mund, um zu sprechen, erstarrte jedoch, als er ein Klopfen hörte. »Es ist jemand an der Tür, Mutter.« »Dann mach auf.«
»Aber...« Jayim sah Leiard an. »Ich leiste unserem Gast Gesellschaft.«
Tanara seufzte und erhob sich. Sie ging zur Haupttür hinüber und entschwand ihren Blicken. Leiard lauschte dem Klatschen ihrer Sandalen auf dem gekachelten Boden. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, dann erklangen Frauenstimmen. Schritte näherten sich.
»Wir haben eine Kundin«, erklärte Tanara, als sie den Raum betrat. Eine Frau, die sich in einen weiten Umhang aus schwarzem Tuch gehüllt hatte, trat ein. Sie hatte sich das Tuch über den Kopf gezogen, so dass ihr Gesicht verborgen blieb.
»Ich komme nicht, weil ich deine Heilkünste in Anspruch nehmen möchte«, erklärte die Frau. »Ich bin hier, um einen alten Freund zu sehen.«
Die Stimme jagte Leiard einen Schauer über den Rücken, aber er war sich nicht sicher, warum. Unwillkürlich erhob er sich von seinem Platz. Die Frau nahm das Tuch von ihrem Kopf und lächelte.
»Sei mir gegrüßt, Traumweber Leiard.«
Ihr Gesicht hatte sich verändert. Es hatte die weiche Rundlichkeit der Kindheit verloren, und Leiard bemerkte die Eleganz, mit der Kinn und Stirn geformt waren, und die hohen Wangenknochen. Das Haar hatte sie sich zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, wie sie die Reichen und Modischen bevorzugten. Außerdem wirkte sie größer.
Aber ihre Augen waren dieselben geblieben. Groß, ausdrucksstark und voll wacher Intelligenz blickten sie ihn forschend an. Sie muss sich fragen, ob ich mich an sie erinnere, dachte er. Das tue ich, aber so ist sie mir nicht im Gedächtnis geblieben. Auraya war zu einer verblüffend schönen Frau herangewachsen. In Oralyn wäre ihre Schönheit niemals aufgefallen. Sie hätte zu zerbrechlich gewirkt und zu mager. Die Mode der Stadt stand ihr besser.
Die Mode der Stadt? Sie ist nicht hierhergekommen, um sich für Mode zu interessieren, sondern um Priesterin zu werden. Bei diesem Gedanken fielen ihm seine Gastgeber wieder ein. Das Wissen, dass sie eine Priesterin der Zirkler in ihrem Haus hatten, erschreckte sie vielleicht – vor allem, da es sich um eine Hohepriesterin handelte. Zumindest hatte Auraya Verstand genug, die Gewänder ihres Standes zu bedecken. Er drehte sich zu Tanara um.
»Gibt es einen Ort, an dem die Dame und ich ungestört reden können?«
Tanara lächelte. »Ja. Auf dem Dach. An einem Sommerabend ist es sehr schön dort oben. Folgt mir.«
Die Frau führte sie durch den Gemeinschaftsraum zu der Treppe gegenüber der Haupttür. Als Leiard aufs Dach hinaustrat, war er überrascht, festzustellen, dass sich überall Topfpflanzen und abgenutzte Holzstühle befanden. Er konnte die benachbarten Wohnungen und andere Menschen sehen, die sich in ihren Dachgärten entspannten.
»Ich werde euch etwas Kühles zum Trinken holen«, sagte Tanara und verschwand wieder die Treppe hinunter.
Auraya nahm Leiard gegenüber Platz und seufzte. »Ich hätte dir eine Nachricht schicken und dich von meinem Besuch in Kenntnis setzen sollen. Oder ich hätte einen anderen Treffpunkt vorschlagen können. Aber sobald ich erfahren hatte, dass du hier bist...«
Sie lächelte schief. »Ich musste einfach sofort kommen.«
Er nickte. »Du hast das Bedürfnis, mit jemandem über deine Mutter zu reden, der sie kannte«, bemerkte er.
Ihr Lächeln verblasste. »Ja. Wie ist sie denn...?«
»Alter und Krankheit.« Er breitete die Hände aus. »Ihre Krankheit hat, als sie älter wurde, einen höheren Tribut gefordert als zuvor. Zu guter Letzt konnte sie sich nicht mehr dagegen wehren.«
Auraya nickte. »Das war also alles? Sonst nichts?«
Er schüttelte den Kopf. »Wenn jemand eine Krankheit über lange Zeit hinweg in Schach gehalten hat, ist es für die anderen oft eine Überraschung, wenn der Tod schließlich doch kommt.«
Sie verzog das Gesicht. »Ja – vor allem, wenn der Zeitpunkt, da es geschieht... unglücklich ist.« Sie stieß einen langen Seufzer aus. »Wie geht es Vater?«
»Er war wohlauf, als ich Oralyn verließ. Natürlich trauerte er, aber er hat den Tod deiner Mutter auch akzeptiert.«
»Du hast dem Akolythen erzählt, du hättest die Nachricht in den Händen eines betrunkenen Kuriers gefunden. Weißt du, warum Priester Avorim sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt hat?«
»Der Kurier hat behauptet, Avorim sei krank.«
Sie nickte. »Er muss inzwischen sehr alt sein. Armer Avorim. Ich habe ihm während seiner Unterrichtsstunden das Leben so schwergemacht. Und dir auch.« Sie blickte zu ihm auf und lächelte schwach. »Es ist seltsam. Ich erkenne dich, aber du siehst anders aus.«
»Inwiefern?«
»Jünger.«
»Kinder halten alle Erwachsenen für alt.«
»Vor allem, wenn diese Erwachsenen weißes Haar haben«, erwiderte sie. Sie zupfte an dem Umhang, der sie umhüllte. »Es ist ein wenig heiß für diese Kleidung«, fuhr sie fort.
»Ich hatte befürchtet, dass ich deine Gastgeber in Schwierigkeiten bringen könnte, wenn die Leute mich hierher hätten kommen sehen.«
»Ich weiß nicht, wie das Leben für Traumweber in der Stadt ist.«
»Aber du glaubst, deine Gastgeber würden erschrecken, wenn sie wüssten, wer ich bin«, vermutete sie. »Wahrscheinlich.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich möchte nicht, dass die Menschen mich fürchten. Es gefällt mir nicht. Ich wünschte...« Sie seufzte. »Aber wer bin ich, mir zu wünschen, die Menschen würden sich ändern?«
Er betrachtete sie eingehend. »Du bist in einer besseren Position als die meisten.«
Sie sah ihn an, dann lächelte sie verlegen. »Da hast du wohl recht. Die Frage ist: Werden die Götter es zulassen?«
»Du denkst doch nicht etwa daran, ihnen diese Frage zu stellen, oder?«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht werde ich es tun.«
Als er ein Aufblitzen in ihren Augen wahrnahm, verspürte Leiard unerwartete Zuneigung zu der jungen Frau. Es schien, als stecke noch immer ein wenig von dem neugierigen Kind mit seinen endlosen Fragen in ihr. Er fragte sich, ob sie diese Seite ihres Selbst auch den anderen Priestern zeigte und wie sie damit fertigwurden.
Ich kann mir sogar vorstellen, dass sie die Götter über die Natur des Universums aushorcht, dachte er und lachte still vor sich hin. Dann wurde er wieder ernst. Es ist leicht, Fragen zu stellen. Viel schwerer ist es, Veränderungen herbeizuführen.
»Wann hast du vor, aufzubrechen?«, erkundigte sie sich. »Morgen.«
»Ich verstehe.« Sie wandte den Blick ab. »Ich hatte gehofft, du würdest vielleicht ein wenig länger bleiben. Vielleicht für ein paar Tage. Ich würde gern noch einmal mit dir sprechen.«
Er dachte über ihre Bitte nach. Nur für ein paar Tage. Leise Schritte auf der Treppe verrieten, dass Tanara zurückkehrte. Kurz darauf erschien sie mit einem Tablett, auf dem getöpferte Kelche und eine Schale mit getrockneten Früchten standen. Sie ließ das Tablett sinken und bot es Auraya an. Als Auraya die Hand ausstreckte, um nach einem der Kelche zu greifen, keuchte Tanara auf, und das Tablett fiel zu Boden. Leiard bemerkte, dass Auraya die Finger leicht durchbog. Die Flüssigkeit in den Kelchen schwappte, und das Tablett schwebte in der Luft. Er blickte zu Tanara auf. Die Frau starrte Auraya an. Jetzt bemerkte auch er, dass das Tuch, das Auraya um die Schultern trug, weggerutscht war und man den Saum ihres Zirks sehen konnte. Er stand auf und legte Tanara die Hände auf die Schultern. »Du hast nichts zu befürchten«, sagte er besänftigend. »Ja, sie ist eine Priesterin. Aber sie ist auch eine alte Freundin von mir. Sie stammt aus dem Dorf in der Nähe meiner...«
Tanara griff mit weit aufgerissenen Augen nach seiner Hand. »Keine Priesterin«, stieß sie hervor. »Viel mehr als eine Priesterin. Sie ist... sie ist...« Sie warf Leiard einen fassungslosen Blick zu. »Du bist ein Freund von Auraya von den Weißen?«
»Ich...« Auraya von den was? Er sah auf Auraya hinab, in deren Zügen sich tiefe Verlegenheit spiegelte. Sofort senkte er den Blick auf den Zirk. Die goldene Borte, die sie als Hohepriesterin ausgewiesen hätte, fehlte.
Der Zirk wies überhaupt keine Borte auf.
»Wann ist das geschehen?«, fragte er.
Sie lächelte entschuldigend. »Vor neun oder zehn Tagen.«
»Warum hast du es mir nicht erzählt?«
»Ich wollte auf den richtigen Augenblick warten.«
Tanara ließ Leiards Hand los. »Es tut mir leid. Ich wollte dir deine Überraschung nicht verderben.«
Auraya lachte kläglich. »Es ist nicht wichtig.« Sie griff nach dem Tablett und stellte es neben sich auf die Bank. »Ich sollte mich dafür entschuldigen, dass ich dir so viel Ungemach bereitet habe. Ich hätte mich an einem anderen Ort mit Leiard treffen sollen.«
Tanara schüttelte den Kopf. »Nein! Du bist hier willkommen. Wann immer du dieses Haus besuchen möchtest, bitte, zögere nicht...«
Aurayas Augen wurden um eine Spur schmaler, dann lächelte sie breit und stand auf.
»Ich danke dir, Tanara Bäcker. Das bedeutet mir mehr, als du ahnen kannst. Aber ich möchte dennoch für mein Eindringen heute Abend um Verzeihung bitten.« Sie zog das Tuch fester um sich. »Und ich sollte in den Tempel zurückkehren.«
»Oh...« Tanara sah Leiard entschuldigend an. »Ich werde dich zur Tür begleiten.«
»Vielen Dank.«
Als die beiden Frauen gegangen waren, setzte sich Leiard langsam wieder auf seinen Platz. Auraya ist eine der Weißen.
Bitterkeit überwältigte ihn. Er hatte das Potenzial in ihr gesehen. Sie war intelligent, aber nicht arrogant. Sie war neugierig, was andere Menschen betraf, begegnete ihnen jedoch ohne Geringschätzung.
Ihre Fähigkeit, zu lernen und Gaben zu nutzen, war größer als die jedes anderen Schülers, den er je unterrichtet hatte.
Natürlich hatten sie sie auserwählt. Er hatte sich sogar selbst gesagt, wie viel besser es sei, dass sie zu den Zirklern gegangen war, denn durch die strengen Einschränkungen, die den Traumwebern auferlegt waren, wäre ein großer Teil ihres Potenzials vergeudet worden.
Und wie viel besser ist es jetzt, dass sie eine der unsterblichen Weißen ist?, fragte er sich voller Groll. Die Welt wird für immer von ihren Talenten profitieren.
Und ihr Verlust wird dich für alle Ewigkeit quälen.
Der Gedanke verblüffte ihn. Er klang so, als habe ihn seine eigene Gedankenstimme geäußert, und doch kam es ihm so vor, als hätte er die Gedankenstimme eines anderen vernommen.
»Leiard?«
Er blickte auf. Tanara war zurückgekehrt. »Geht es dir gut?«
»Ich bin ein wenig überrascht«, erwiderte er trocken.
Tanara ging zu dem Stuhl dem seinen gegenüber. Dem Stuhl, auf dem Auraya gesessen hatte. »Du wusstest es nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Es scheint, als hätte meine kleine Auraya es in der Welt viel weiter gebracht, als ich gedacht hatte.«
»Deine kleine Auraya?«
»Ja. Ich habe sie als Kind gekannt. Und sie auch unterrichtet. Sie weiß wahrscheinlich mehr über die Heilkunst der Traumweber als alle anderen Priester oder Priesterinnen.«
Tanara zog die Augenbrauen hoch. Dann wandte sie mit nachdenklicher Miene den Blick ab und schüttelte den Kopf. »Ich kann es kaum fassen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Du bist ein Freund von Auraya von den Weißen.«
Hinter ihnen erklang ein erstickter Laut. Als Leiard sich umdrehte, sah er Jayim auf der Treppe stehen, die Augen geweitet vor Überraschung angesichts dessen, was er soeben mit angehört hatte.
»Jayim«, sagte Tanara, sprang auf und schob ihren Sohn zurück ins Haus. »Du darfst niemandem davon erzählen. Hör mir zu...«
Leiard erhob sich und folgte den beiden die Treppe hinunter, um in sein Zimmer zurückzukehren. Seine schmutzigen Kleider hingen noch immer über der Rückenlehne eines Stuhls. Sein Beutel war halb leer, die Hälfte seines Inhalts lag ausgebreitet auf dem Bett.
Er setzte sich und verstaute seine Habe hastig wieder in dem Beutel. Als er die schmutzige Robe darüberlegte, hörte er Schritte, und kurz darauf erschien Tanara in der Tür. Sie warf einen Blick auf den Beutel, und ihre Züge verhärteten sich.
»Dachte ich es mir doch«, murmelte sie. »Setz dich, Leiard. Ich möchte mit dir reden, bevor du in aller Eile in dein Heim im Wald zurückkehrst.«
Widerstrebend ließ er sich auf das Bett sinken. Tanara setzte sich neben ihn.
»Lass mich nur schnell überprüfen, ob ich soeben richtig verstanden habe. Du sagtest, du hättest Auraya unterrichtet, als sie noch ein Kind war. Heißt das, dass du sie in die Lehre der Traumweber eingeführt hast?«
Er nickte. »Ich hatte gehofft, dass sie sich mir anschließen würde.« Er schüttelte den Kopf. »Nun, du siehst ja selbst, wohin das geführt hat.«
Tanara klopfte ihm auf die Schulter. »Es muss sehr enttäuschend gewesen sein. Umso eigenartiger ist es, dass die Götter sie auserwählt haben. Sie müssen doch wissen, dass sie von einem Traumweber unterrichtet wurde.«
»Vielleicht wussten sie, wem ihre Treue wahrhaft galt«, murmelte er verbittert. Tanara beachtete seinen Einwand nicht. »Es war gewiss ein eigenartiges Gefühl, wieder mit ihr zu reden, obwohl du dachtest, sie sei lediglich eine Hohepriesterin. Als ich auf dem Dach ankam, hast du dich so angehört, als würdest du dich gut mit ihr verstehen. Offensichtlich hast du keine Veränderung bei ihr wahrgenommen. Aber das hättest du getan, wenn diese Auserwählung sie zu einem anderen Menschen gemacht hätte.«
»Ich weiß, ich habe gesagt, wir seien Freunde«, erwiderte er. »Aber das habe ich nur behauptet, um dich nicht zu beunruhigen. Bis zum heutigen Tag hatte ich sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.«
Tanara nahm diese Information schweigend in sich auf.
»Bedenke dies, Leiard«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Auraya möchte offensichtlich weiterhin deine Freundin sein. Es sollte unmöglich sein, dass eine der Weißen den Wunsch verspürt, mit einem Traumweber befreundet zu sein, aber so ist es offenbar nicht. Und wenn Auraya von den Weißen mit einem Traumweber befreundet ist, werden die anderen Zirkler die Traumweber in Zukunft vielleicht besser behandeln.«
Sie senkte die Stimme. »Jetzt hast du zwei Möglichkeiten. Du kannst fortgehen und in deinen Wald zurückkehren, oder du kannst hier bei uns bleiben und diese Freundschaft weiter nähren.«
»So einfach ist das nicht«, wandte er ein. »Es gibt gewisse Risiken. Was ist, wenn die anderen Weißen ihr Verhalten missbilligen?«
»Ich bezweifle, dass du mehr von ihnen zu erwarten hättest als die Aufforderung, die Stadt zu verlassen.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Ich denke, das ist das Risiko wert.«
»Und wenn die Menschen zu dem Schluss kommen, dass es ihnen nicht gefällt? Sie könnten die Dinge selbst in die Hand nehmen.«
»Wenn Auraya deine Freundschaft teuer ist, wird sie sie aufhalten.«
»Dazu wird sie vielleicht nicht in der Lage sein – vor allem dann nicht, wenn die Weißen ihr ihre Unterstützung versagen sollten.«
Tanara lehnte sich zurück, um ihn zu betrachten. »Ich streite nicht ab, dass es Risiken gibt. Ich bitte dich nur, noch einmal darüber nachzudenken. Du musst tun, was dein Herz dir sagt.«
Sie stand auf, verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Leiard schloss die Augen und seufzte.
Tanara lässt eine simple Tatsache außer Acht: Die Götter hätten niemanden auserwählt, der freundliche Gefühle für die Traumweber hegt, sagte er sich.
Aber sie hatten Auraya erwählt. Sie musste entweder eine Abneigung gegen die Traumweber entwickelt haben, oder die Götter spielten ein anderes Spiel. Er erwog die verschiedenen Möglichkeiten. Wenn die Götter eine intelligente, mit starken Gaben gesegnete und außerdem den Traumwebern freundlich gesinnte Frau erwählten und sie dazu brächten, sich gegen die Traumweber zu stellen, könnte sie dem Hass der Zirkler auf alle Heiden neue und tödliche Nahrung liefern. Sie könnte diejenige sein, die uns endgültig vernichtet.
Und wenn er weglief und sie allein und trauernd zurückließ, war er vielleicht der Erste, der ihr einen Grund gab, seinen Leuten zu grollen.
Verflucht seien die Götter, dachte er. Ich muss bleiben. Zumindest bis ich weiß, was hier vorgeht.
Auf den oberen Hängen der Berge war die Hitze der Sommersonne stärker als in den unteren Lagen. Als Tryss spürte, dass ihm abermals der Schweiß über die Stirn lief, straffte er sich und schüttelte den Kopf. Kleine Tröpfchen landeten auf dem Rahmen des Geschirrs und wurden schnell von dem trockenen Holz aufgenommen. Er zog sein Wams aus und legte es beiseite. Dann beugte er sich vor und schob sorgfältig lang gezogene Streifen biegsamen Darms zwischen die Gelenke des Geschirrs.
Ein großer Teil des Geschirrs lag, in Einzelteile zerlegt, auf dem Boden. Tryss versuchte, den Hebelarm zu verdoppeln, so dass er vier Eisenspitzen tragen konnte. Schon jetzt stiegen erste Zweifel in ihm auf, dass er mit einer so schweren Last vom Boden würde aufsteigen können. Vielleicht würde er das Geschirr auf einen Baum oder eine Klippe zerren müssen, bevor er sich in die Luft schwang.
Damit würde er jedoch keinen Eindruck schinden. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er dieses neue Geschirr niemandem zeigen würde, bis er mehrere erfolgreiche Jagden hinter sich gebracht hatte. Wann immer er ein Tier erlegte, würde er es die Droge ausschlafen lassen, aber wenn die Zeit kam, sich zu beweisen, würde er seine Beute schlachten und Fleisch mit ins Offene Dorf bringen. Wenn die anderen Siyee seine Familie bei einem Festmahl sahen, würde ihnen das Hohngelächter im Hals stecken bleiben.
Er hielt inne und stieß einen Seufzer aus. Wenn seine Vettern ihm doch nur still gefolgt wären, statt anderen Siyee zu erzählen, was Tryss angeblich zuwege gebracht hatte. Dann wären nur sie und Drilli zugegen gewesen, als Tryss hatte feststellen müssen, dass das Yern fort war. Seit jenem Tag hatte sich die Geschichte von seiner wilden Behauptung überall im Offenen Dorf ausgebreitet. Er wurde ständig aufgezogen, manchmal sogar von Siyee, die er überhaupt nicht kannte.
Etwas stach ihn plötzlich in den Arm, und er zuckte zusammen. Die Darmsehne glitt ihm aus den Fingern und schnellte zurück. Fluchend untersuchte er seinen Arm. Ein kleiner, roter Punkt war erschienen. Hatte ihn etwas gestochen? Er sah sich um, konnte aber kein Insekt in der Nähe entdecken, das für einen solchen Stich hätte verantwortlich sein können.
Noch während er den Boden nach Kriechtieren absuchte, verspürte er abermals dieses seltsame Brennen, diesmal am Oberschenkel. Er blickte gerade rechtzeitig nach unten, um etwas Kleines, Rundes zu Boden fallen zu sehen. Als er sich vorbeugte, bemerkte er zwischen den Steinen auf dem Felshang einen Winnet-Samen. Winnet-Samen waren leuchtend grün und kaum übersehbar, vor allem da man sie so hoch in den Bergen nicht fand. Die kleinen Winnet-Bäume wuchsen an Bächen und Flüssen, nicht auf trockenen, steinigen Hängen.
Ein leises Klicken senkte seine Aufmerksamkeit gerade rechtzeitig wieder auf das Geschirr, um einen weiteren Samen von dem Rahmen auf die Steine fallen und wegrollen zu sehen. Langsam legte er seine Erfindung ab und stand auf, um sich umzuschauen. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr und spürte dann ein Brennen an der Schulter. Er fuhr herum und eilte auf einen großen Felsbrocken in der Nähe der Stelle zu, an der er die Bewegung bemerkt hatte.
Dann hörte er, dass von oben jemand seinen Namen pfiff.
Als er aufblickte, tat sein Herz einen Satz, denn er erkannte Drillis Flügelmarkierungen. Hastig suchte er den Himmel ab, konnte aber keine Spur von seinen Vettern entdecken. Als Drilli sich zu Boden sinken ließ, beschleunigte sich sein Pulsschlag.
Auf ihrem Gesicht lag ein breites Grinsen. »Tryss!«, rief sie. »Ich glaube, ich habe...«Ihr Blick wanderte zur Seite, und ihr Lächeln machte einem Ausdruck der Empörung Platz. Zur gleichen Zeit spürte er ein weiteres Brennen, diesmal auf der Wange. Er fluchte vor Schmerz und legte eine Hand ans Gesicht.
»Idioten!«, kreischte Drilli. Tryss beobachtete mit angehaltenem Atem, wie sie in den Sinkflug ging und neben dem Felsbrocken landete, den er hatte ansteuern wollen. Sie verschwand, und Tryss hörte ein Klatschen. Im nächsten Moment kam ein Siyee hinter dem Felsbrocken hervorgestolpert, die Arme erhoben, um seinen Kopf zu schützen, während Drilli wieder und wieder auf ihn eindrosch.
Ziss! Tryss hörte Gelächter hinter sich und drehte sich um. Trinn kam den Felsvorsprung heraufgeklettert. Drilli stürmte auf ihn zu und riss ihm etwas aus den Händen.
»Ich habe euch verboten, diese Dinger gegen Siyee einzusetzen!«, entrüstete sie sich.
»Was wäre, wenn ihr seine Flügel zerrissen hättet? Du dämlicher Girri-Kopf! Wenn ich gewusst hätte, dass du etwas Derartiges im Schilde führst, hätte ich sie nie für dich gemacht.«
»Wir hätten seine Flügel schon nicht getroffen«, verteidigte sich Trinn. »Wir haben nur geübt.«
»Woran habt ihr geübt?«, verlangte sie zu wissen.
Trynn zuckte die Achseln. »An Bäumen. Steinen.«
»Girri?«
Er wandte den Blick ab. »Nein.«
»Du warst das doch, nicht wahr? Und du hast beobachtet, dass ich die halbe Nacht darauf verwandt habe, Rohrschilfmatten zu weben, um Tante Lirri zu trösten. Sie glaubt, ihre Girri seien an Vernachlässigung gestorben.«
»Sie hätte sie am Ende doch ohnehin gegessen«, protestierte Ziss.
Drilli wirbelte herum und funkelte ihn wütend an. »Ihr zwei widert mich an. Verschwindet. Ich will euch nicht wiedersehen.«
Die beiden Vettern tauschten einen entsetzten Blick, obwohl klar war, dass Drillis Worte Ziss weniger bekümmerten als Trinn. Er zuckte die Achseln, wandte sich ab, rannte einige Schritte und sprang dann in den Himmel hinauf.
»Tut mir leid«, sagte Trinn. Als Drilli sich wütend zu ihm umwandte, zuckte er zusammen und folgte seinem Bruder.
Drilli sah den beiden nach, bis sie nur noch kleine, dunkle Flecken vor dem Hintergrund der fernen Wolken am Horizont waren, dann wandte sie sich Tryss zu und verzog das Gesicht.
»Ich möchte mich dafür entschuldigen«, sagte sie.
Er zuckte die Achseln. »Du kannst doch nichts dafür.«
»O doch, das kann ich durchaus«, erwiderte sie, und der Ärger kehrte in ihre Stimme zurück. »Ich weiß doch, wie die beiden sind. Ich hätte ihnen nicht zeigen sollen, wozu die Rohre dienen, und erst recht hätte ich keine für sie anfertigen dürfen.«
Er betrachtete den Gegenstand in ihrer Hand. Es war ein langes Binsengras. »Rohre?«
»Ja.« Sie lächelte und hielt ihm das schmale, lange Gras hin. »Ein Blasrohr. Wir haben sie in unserem Dorf benutzt, um kleine Tiere zu jagen. Man legt ein Wurfgeschoss hier hinein und...«
»Ich weiß, wie sie funktionieren«, sagte Tryss und zuckte dann zusammen, als er die Schroffheit in seiner Stimme hörte. »Aber ich habe noch nie gesehen, wie eins dieser Blasrohre benutzt wird«, fügte er in sanfterem Tonfall hinzu. »Könntest du es mir zeigen?«
Sie lächelte und nahm ihm das Rohr aus der Hand. Dann holte sie etwas aus ihrer Tasche und schob es in das Rohr hinein. Er hörte ein leises Klicken, als das Wurfgeschoss auf etwas in dem Rohr traf, das anscheinend verhinderte, dass es auf der anderen Seite wieder herausrollte. Drilli drehte sich um und streckte die Hand aus.
»Siehst du diesen Felsen dort drüben, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Fuß hat?«
»Ja.«
»Siehst du den schwarzen Stein auf der Felsenspitze?« »Ja...« Er musterte sie zweifelnd. Die Entfernung war ziemlich groß.
Sie setzte das Rohr an die Lippen und blies schnell hinein. Tryss konnte das Geschoss kaum erkennen, aber im nächsten Moment kullerte der schwarze Stein von dem Felsen hinab und verschwand auf dessen Rückseite.
Tryss blickte Drilli überrascht an. Sie ist nicht nur hübsch und stark, dachte er. Sie ist obendrein noch klug. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Grinsen, und plötzlich wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Heiße Röte stieg ihm in die Wangen.
»Das ist also der Grund, warum du immer wieder verschwindest?«, fragte sie und deutete auf das Geschirr.
Er zuckte die Achseln. »Manchmal.«
Sie ging zu dem Geschirr hinüber und betrachtete es eingehend. »Damit hast du das Yern gefangen, nicht wahr?«
Also glaubte sie ihm, dass er tatsächlich eins gefangen hatte. Oder sie sagte das nur, um nett zu sein.
»Ahm... ja.«
»Zeig mir, wie es funktioniert.«
»Es ist... es ist...« Er wedelte hilflos mit den Händen. »Ich baue es um. Es ist in seine Einzelteile zerlegt.«
Sie nickte. »Ich verstehe. Dann ein andermal. Wenn du fertig bist.« Sie setzte sich neben das Geschirr. »Hast du etwas dagegen, wenn ich dir bei der Arbeit zusehe?«
»Ich glaube nicht, dass es mich stören würde. Wenn du es willst.« Er ging in die Hocke und stöberte in seinen Taschen nach weiteren Darmsehnen, wobei er sich Drillis Aufmerksamkeit überdeutlich bewusst war. Sie beobachtete ihn schweigend, und schon bald fühlte er sich zunehmend unbehaglich.
»Wie lange benutzen deine Leute schon Blasrohre?«, fragte er.
Sie zuckte die Achseln. »Seit Jahren. Mein Großvater hat die Idee entwickelt. Er meinte, wir müssten rückwärtsgehen statt vorwärts. Statt nach einer Möglichkeit zu suchen, Schwerter und Bögen zu benutzen wie die Landgeher, sollten wir zu einfacheren Waffen zurückkehren.« Sie seufzte. »Aber es hat uns nicht geholfen. Die Landgeher haben uns trotzdem aus unserem Dorf vertrieben. Wir haben einige von ihnen mit vergifteten Pfeilen und Fallen erwischt, aber es waren nicht allzu viele.«
Tryss sah sie von der Seite an. »Meinst du, es wäre anders ausgegangen, wenn ihr die Möglichkeit gehabt hättet, sie aus der Luft anzugreifen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Sie betrachtete das Geschirr. »Wir werden es erst erfahren, wenn wir es versucht haben. Gehst du... gehst du zu der Zusammenkunft heute Abend?«
Tryss zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.«
»Ich habe gehört, dass gestern Abend ein Landgeher angekommen ist. Er ist über die Berge geklettert, um hierherzugelangen. Er wird auch bei der Zusammenkunft sein.«
»Sie haben ihn nicht getötet?«, fragte Tryss überrascht.
»Nein. Er ist keiner von denen, die unser Land stehlen. Er kommt von weit her.«
»Was will er?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber mein Vater hat etwas in der Art gesagt, dass die Götter uns diesen Mann geschickt hätten. Er will uns bitten, uns irgendeiner Sache anzuschließen. Wenn wir das tun, würden uns andere Landgeher vielleicht helfen, diejenigen loszuwerden, die uns unser Land nehmen.«
»Wenn sie dazu in der Lage sind, dann können sie unser Land auch selbst stehlen«, bemerkte Tryss.
Drilli runzelte die Stirn. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber die Götter haben ihn geschickt. Huan hätte das gewiss nicht geschehen lassen, wenn es bedeutete, dass wir alle getötet werden.«
»Wer kennt schon die Pläne der Göttin?«, erwiderte Tryss trocken. »Vielleicht ist ihr aufgegangen, dass es ein Fehler war, uns zu erschaffen, und dies ist eine Möglichkeit, wie sie sich unserer entledigen kann.«
»Tryss!«, sagte Drilli schockiert. »Du solltest nicht so über die Göttin reden.«
Er lächelte. »Vielleicht nicht. Aber wenn sie uns beobachtet, wird sie meine Gedanken ohnehin gelesen haben. Und wenn sie mich diese Dinge denken hören kann, dann erkennt sie auch, dass ich nicht glaube, was ich gesagt habe.«
»Warum sagst du es dann?«
»Weil mir die Möglichkeit in den Sinn gekommen ist und ich sie aussprechen musste, um zu begreifen, dass ich nicht daran glaube.«
Drilli starrte ihn an, dann schüttelte sie den Kopf. »Du bist wirklich ein eigenartiger Junge, Tryss.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Geschirr. »Wirst du das zu der Zusammenkunft heute Abend mitnehmen?«
»Dieses Ding? Nein. Man würde mich auslachen.«
»Vielleicht auch nicht.«
»Ich habe es schon früher einigen Leuten gezeigt. Sie denken, dass es unmöglich sein wird, damit zu fliegen, oder dass es das Fliegen schwerfällig und gefährlich machen wird, und selbst wenn ich sie widerlege, glauben sie mir nicht, dass es möglich ist, damit zu jagen. Und im Moment bin ich mir ohnehin nicht sicher, ob es funktionieren wird. Zwei Eisenspitzen scheinen mir nicht genug zu sein. Ich habe versucht, das Geschirr so zu verändern, dass man mehr mitnehmen kann, aber... aber... es ist kompliziert.«
»So sieht es auch aus. Trotzdem würde ich es versuchen. Ich frage mich... Könntest du etwas anfertigen, das es mir ermöglichen würde, das Blasrohr im Flug zu benutzen?«
Er betrachtete zuerst das Rohr in ihren Händen, dann das Geschirr. Sie würde eine Art von Rahmen benötigen, um das Rohr ruhig zu halten, und außerdem eine Möglichkeit, es mit neuen Geschossen zu beladen. Sie könnte die Geschosse aus einem Beutel in das Rohr saugen. Außerdem waren diese Geschosse viel kleiner und leichter als Eisenspitzen, so dass sie mehr davon würde mitnehmen können... Er sog den Atem ein. Aber das war genial! Während ihm die verschiedenen Möglichkeiten durch den Kopf schössen, spürte er, dass seine Hände vor Aufregung zu zittern begannen.
»Drilli«, sagte er.
»Hmm?«
»Darf ich... darf ich mir dieses Rohr ausborgen?«
Auraya beobachtete fasziniert, wie ihr neues Haustier eine imaginäre Spinne die Wand hinaufjagte. Es war ein Veez – ein kleines, schlankes Geschöpf mit spitzer Nase, flauschigem Greifschwanz und großen Augen, die es mit einer hervorragenden Nachtsicht ausstatteten. Seine weichen Zehen spreizten sich auf der weiß getünchten Fläche und gestatteten es ihm irgendwie, sich mühelos an die Wand zu heften – und jetzt an die Decke. Der Veez hielt direkt über ihr inne und ließ sich plötzlich auf ihre Schulter fallen.
»Kein Päfer«, sagte er, dann sprang er auf einen Stuhl und rollte sich zusammen, seinen gefleckten, grauen Schwanz über die Nase gelegt.
»Kein Käfer«, stimmte Auraya ihm zu. Das Tier besaß die überaus bemerkenswerte Fähigkeit zu sprechen; allerdings beschränkte der Veez sich dabei auf Dinge, die ein solch kleines Geschöpf interessierten, wie Essen oder Trost. Sie bezweifelte, dass sie erhellende philosophische Gespräche mit ihm würde führen können.
Es klopfte an der Tür. »Herein«, rief sie.
Dyara trat ein. »Auraya. Wie geht es dir heute Morgen?«
»Owaya!«, wiederholte eine leise Stimme. Dyara blickte zu dem Veez hinüber. »Ah, wie ich sehe, hat der somreyanische Ältestenrat bereits sein traditionelles Geschenk für eine neue Weiße abgeliefert.«
Auraya nickte. »Ja. Zusammen mit einer erstaunlich raffinierten Ansammlung von Spielzeugen und Anweisungen.«
»Hast du ihm schon einen Namen gegeben?«
»Nein.«
Die ältere Frau ging zu dem Stuhl hinüber und streckte dem Veez einen Finger hin. Er schnupperte, dann legte er den Kopf schräg und ließ sich von Dyara hinter seinen winzigen, spitzen Ohren kraulen.
»Sobald du gelernt hast, deine Gedanken mit seinen zu verbinden, wirst du ihn recht nützlich finden. Du brauchst ihm nur ein Gedankenbild eines Gegenstands zu zeigen, und er wird ihn für dich holen. Er kann auch Menschen finden, obwohl es einfacher ist, wenn du ihm etwas gibst, das der Betreffende berührt hat. Dann kann er die Witterung des Gesuchten aufnehmen.«
»In den Anweisungen hieß es, Veez gäben gute Späher ab.«
Dyara lächelte. »Wobei Späher der höfliche Ausdruck für Spione ist. Wenn du dich mit seinen Gedanken verbindest, wirst du sehen können, was er sieht – und da ihre Nachtsicht hervorragend ist und sie an Orte gelangen können, die für Menschen unerreichbar sind, geben sie in der Tat gute, ahm, Späher ab.« Der Veez hatte inzwischen voller Wonne die Augen geschlossen und genoss ihre Liebkosung. »Aber du wirst ihn ebenso aufgrund seines Wesens zu schätzen lernen. Veez sind liebevoll und treu.« Sie hörte auf, das Tier zu kraulen. Der Veez öffnete die Augen und sah sie eindringlich an.
»Tratzen?«
Sie schenkte ihm keine weitere Beachtung und wandte sich zu Auraya um. »Wir werden...« »Tratzen!«
»Genug«, beschied sie ihm energisch. Er zog den Kopf ein wie ein getadeltes Kind.
»Außerdem können sie in diesem Alter ein wenig anspruchsvoll sein. Du musst streng mit ihm sein.« Sie entfernte sich von dem Stuhl und sah Auraya mit undeutbarer Miene von der Seite an. Nicht zum ersten Mal wünschte Auraya, sie hätte die Gedanken der anderen Frau ebenso mühelos lesen können, wie sie inzwischen die Gedanken der meisten Menschen zu lesen wusste.
»Gestern Abend hast du gesagt, du hättest am Nachmittag einen alten Freund besucht«, fuhr Dyara fort. »Es gibt eine Menge ›Späher‹ in der Stadt, die erpicht darauf sind, ihre Fähigkeiten zu beweisen und für mich zu arbeiten. Diese Späher melden mir, was sie gesehen haben. Heute Morgen hat einer von ihnen behauptet, der Freund, den du besucht hättest, sei ein Traumweber. Ist das wahr?«
Auraya musterte Dyara aufmerksam. Was sollte sie antworten? Sie wollte eine der Weißen nicht belügen. Ebenso wenig würde sie jedoch Schuldgefühle vortäuschen, weil sie ihren alten Freund aufgesucht hatte.
nem Heimatdorf. Ich habe ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Er hat die Botschaft vom Tod meiner Mutter in den Tempel gebracht. Dafür wollte ich ihm danken.«
»Wenn ich recht verstanden habe, wird er jetzt, da die Botschaft ausgeliefert ist, nach Hause zurückkehren.«
»Wahrscheinlich.« Auraya zuckte die Achseln. »Ich bezweifle, dass er sich lange hier aufhalten wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Leben in der Stadt ihm zusagt. Er war immer eher ein Einzelgänger.«
Dyara nickte. »Die anderen werden sich inzwischen am Altar versammelt haben. Wir sollten sie nicht warten lassen.«
Aurayas Magen flatterte, was ebenso sehr auf Furcht wie auf Erregung zurückzuführen war. Zum ersten Mal würde sie bei den anderen vier Weißen sitzen, während sie ihre Pflichten und Aufgaben erörterten. Vielleicht würden sie ihr einen Auftrag geben. Wenn sie es taten, würde es sich, wie sie vermutete, wohl eher um eine minder wichtige Aufgabe handeln. Und selbst wenn sie es nicht taten, würde es interessant sein zu hören, mit welchen weltlichen Angelegenheiten sie sich beschäftigten.
Dyaras Zirk wirbelte auf, als sie auf dem Absatz kehrtmachte und in Richtung Tür ging. Auraya folgte ihr. Der Käfig wartete auf sie. Während sie langsam hinabstiegen, dachte Auraya über die »Späher« nach, von denen Dyara gesprochen hatte. Es beunruhigte sie, dass Fremde sie beobachteten, aber gleichzeitig stieg in ihr die Frage auf, ob sie das tatsächlich aus freien Stücken getan hatten. Was wäre schlimmer gewesen: wenn sie sie aus eigenem Antrieb ausspioniert hatten oder wenn jemand es von ihnen verlangt hätte?
Behalten die anderen Weißen mich im Auge? Wenn ich ein weiteres Treffen mit Leiard arrangiere, werden sie dann versuchen, es mir auszureden? Sollte ich das zulassen? Als der Käfig am unteren Ende des Treppenhauses angelangt war, folgte Auraya Dyara in den Flur hinaus. Die Götter haben mich erwählt. Sie wussten alles über mich, eingeschlossen meine Freundschaft zu Leiard und meine wohlwollende Einstellung den Traumwebern gegenüber. Wenn sie diese Dinge nicht gebilligt hätten, hätten sie einen anderen erwählt.
Oder hätten sie das vielleicht nicht getan? Möglicherweise tolerierten sie eine Seite ihres Charakters, um andere zu nutzen. Doch solange sie es ihr nicht untersagten, würde sie sich auch weiter mit Traumwebern einlassen.
Sie schauderte. Als sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erhalten hatte, hatte sie befürchtet, dass die Götter ihr damit etwas sagen wollten – dass sie ihre Mutter getötet hatten, um ihrer Missbilligung darüber Ausdruck zu verleihen, dass Auraya die Dienste eines Traumwebers beansprucht hatte.
Lächerlich, dachte sie. So gehen die Götter nicht vor. Wenn sie etwas wollen, befehlen sie es dir.
Doch obwohl sie das wusste, hatte sie die Furcht nicht abschütteln können, bis Leiard ihr versichert hatte, dass die Krankheit ihrer Mutter der Grund für deren Tod gewesen war.
Die Luft außerhalb des Turms war warm, und die strahlende Sonne am Himmel verhieß einen weiteren heißen Tag. Dyara beschleunigte ihre Schritte. Sie erreichten die Kuppel, traten ein und gingen weiter zu dem Podest und dem Altar in der Mitte. Die drei anderen Weißen saßen bereits an einem runden Tisch und warteten auf sie. Aurayas Puls begann zu rasen, als sie näher kam, und Erinnerungen an die Erwählungszeremonie blitzten in ihren Gedanken auf. Sie folgte Dyara auf den Altar.
»Willkommen, Auraya«, sagte Juran herzlich. Sie lächelte und nickte. »Vielen Dank, Juran.«
Als Dyara sich auf einen Platz gleiten ließ, setzte sich Auraya auf den letzten verbliebenen Stuhl. Die fünf Seiten des Altars schlossen sich und erstrahlten in einem diffusen Licht.
Auraya betrachtete die anderen Weißen. Rian saß aufrecht auf seinem Stuhl, aber sein Blick war in die Ferne gerichtet. Selbst als er Auraya ansah und sie mit einem Nicken begrüßte, wirkte er geistesabwesend. Mairae sah genauso aus wie vor zehn Jahren, als sie nach Oralyn gekommen war, um mit den Dunwegern zu verhandeln. Angesichts dieses Beweises für die Unsterblichkeit der Weißen überlief Auraya ein Schaudern.
Eines Tages, dachte sie, wird jemand mich ansehen und über diesen Beweis für die Macht der Götter staunen.
Als sie Aurayas Blick begegnete, lächelte Mairae, dann wandte sie sich zu Juran um. Das Oberhaupt der Weißen hatte die Augen geschlossen.
»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru. Einmal mehr danken wir euch für den Frieden und den Wohlstand, die ihr uns gebracht habt. Wir danken euch für die Möglichkeit, euch zu dienen. Wir danken euch für die Kräfte, die ihr uns verliehen habt und die es uns gestatten, die Männer und Frauen dieser Welt, seien sie alt oder jung, zu leiten und zu unterstützen.«
»Wir danken euch«, murmelten die anderen. Auraya, die von Dyara in die Einzelheiten des Rituals eingeführt worden war, stimmte ein.
»Heute werden wir unsere Weisheit nach bestem Vermögen in euren Dienst stellen, aber sollten wir in unserem Urteil fehlgehen oder mit unserem Tun euren großen Plänen entgegenwirken, bitten wir euch, zu uns zu sprechen und uns eure Wünsche zu offenbaren.«
»Leitet uns«, antwortete Auraya zusammen mit den anderen.
Juran schlug die Augen auf und blickte in die Runde.
»Die Götter haben uns kundgetan, dass sie die Einigung von ganz Nordithania wünschen«, sagte er und sah Auraya an. »Diese Einigung soll nicht durch Krieg oder Eroberung erlangt werden, sondern durch ein friedliches Bündnis. Sie wünschen, dass alle Länder die Bedingungen ihrer Allianz wählen und mit uns aushandeln. Jene Länder, in denen die zirklische Religion nicht die Vorherrschaft genießt, werden sich wahrscheinlich eher aus Gründen der Politik und des Handels mit uns verbünden denn aus Gehorsam gegen die Götter. Völker wie die Siyee und die Elai, die Landgehern mit Argwohn begegnen, müssen lernen, uns zu vertrauen. Jene Völker, die überwiegend zirklisch sind, würden einem Befehl der Götter gehorchen. Wenn sie jedoch das Gefühl hätten, eine Allianz sei nicht gerecht oder auf ihr Wohl ausgerichtet, würden sie anderen Ländern Schwierigkeiten machen.« Juran blickte zu Dyara hinüber. »Lasst uns über jene Verbündeten sprechen, die wir bereits gewonnen haben. Dyara?«
Dyara seufzte und verdrehte die Augen. »Die Arriner von Genria und der König von Toren stehen einander nach wie vor feindselig gegenüber. Wann immer eine der arrinischen Familien einen Sohn hervorbringt – was sie anscheinend jeden Monat tun -, ersinnt Berro für die Waren, die von Genria in sein Reich gebracht werden sollen, neue Beschränkungen. Der königliche Hohepriester erinnert ihn zwar an die Bedingungen der Allianz, aber es dauert immer mehrere Wochen, bis die Beschränkungen aufgehoben werden.«
»Und die Genrianer? Wie reagieren sie darauf?«
»Mit Zähneknirschen.« Dyara lächelte. »Es ist wohl kaum ihre Schuld, dass Berro keinen männlichen Erben hervorgebracht hat. Bisher hat es bemerkenswert wenige Vergeltungsmaßnahmen gegeben. Jede Familie mit einem Knaben ist ängstlich darauf bedacht, alles zu vermeiden, was die Götter erzürnen könnte. Vielleicht ein Beweis dafür, dass ihnen klar ist, dass Guire Laern deshalb zu seinem Nachfolger bestimmt hat, weil er der einzige Prinz war, der nicht versucht hatte, einen anderen zu ermorden. Aber irgendjemand sorgt dafür, dass Berro unverzüglich von der Geburt eines jeden arrinischen Jungen erfährt.«
»Das klingt so, als sollte dieser Jemand gefunden werden«, warf Juran ein.
»Ja. Der königliche Hohepriester ermutigt Berro außerdem darin, einen Erben zu adoptieren, und sei es auch nur als vorübergehende Maßnahme, bis er selbst einen zeugt. Das könnte ihn für den Augenblick beruhigen.«
Juran nickte, dann wandte er sich an Mairae. »Was ist mit den Somreyanern?«
Mairae verzog das Gesicht. »Sie haben uns abermals abgewiesen.«
Er runzelte die Stirn. »Welchen Grund haben sie diesmal angegeben?«
»Eine geringfügige Einzelheit in den Bedingungen der Allianz. Ein Mitglied des Rats hat dagegen protestiert, eine Frau, und die anderen haben sie unterstützt.«
»Es ist ein Wunder, dass ihr Staat nicht in Einzelreiche zerbricht«, sagte Dyara düster.
»Ihr Rat kann sich niemals auf irgendetwas einigen. Was war es diesmal?«
»Die Bestimmung, dass ihre Traumweber nur ihre eigenen Soldaten behandeln dürfen.«
»Und dieses Ratsmitglied, das Protest erhoben hat, ist die Vertreterin der Traumweber?«
Mairae nickte. »Ja. Die Traumweberälteste Arleej.« Auraya wusste, dass diese Traumweberälteste nicht nur ein Mitglied des Ältestenrats in Somrey war, sondern auch das Oberhaupt der Traumweber. »Es hat mich überrascht, dass andere sie unterstützt haben. Es ist nur eine unbedeutende Einzelheit, und die meisten Mitglieder des Rats sind erpicht darauf, diese Allianz unterzeichnet zu sehen. Erpicht genug, um Kleinigkeiten wie diese zu übersehen.«
»Wir wussten, dass Somrey schwierig werden würde«, sagte Rian. »Wir können nicht jedes Mitglied des Rats zufriedenstellen. Wenn wir das täten, würden wir zu viele Kompromisse schließen. Ich bin dafür, dass wir in dieser Angelegenheit hart bleiben.«
Juran schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es nicht. Wir haben sie nicht gebeten, ihre Sitten und Gepflogenheiten zu ändern. Warum können sie uns nicht das Gleiche zubilligen?«
Die anderen zuckten die Achseln oder breiteten hilflos die Hände aus. Juran sah sie alle der Reihe nach an, dann ruhte sein Blick schließlich auf Auraya, und seine Miene wurde nachdenklich.
»Du hast in deinen frühen Jahren einen Traumweber gekannt, nicht wahr, Auraya?«
Seine Frage klang nicht anklagend, nicht einmal missbilligend. Sie nickte langsam, wobei sie sich der Tatsache bewusst war, dass Dyara sie genau beobachtete.
»Du verstehst ihre Gepflogenheiten wahrscheinlich besser als wir anderen. Kannst du uns erklären, warum sie sich dieser Bedingung der Allianz widersetzen?«
Auraya schaute in die Runde, dann richtete sie sich auf. »Alle Traumweber leisten einen Schwur, jeden Menschen zu heilen, der einer Heilung bedarf und sie wünscht.«
Juran zog die Augenbrauen hoch. »Dann würde diese Bedingung der Allianz also von den Traumwebern verlangen, ihren Schwur zu brechen. Der Rat möchte sie nicht dazu zwingen, also weigert man sich, das Abkommen zu unterzeichnen.« Er wandte sich an Dyara. »Hat Auraya Zeit, den Entwurf des Abkommens zu lesen?«
Dyara hob die Schultern. »Ich könnte in ihrem Arbeitsplan die Zeit dafür schaffen.«
Juran lächelte. »Ich freue mich darauf, deine Vorschläge zu hören, Auraya.« Sie erwiderte das Lächeln, aber er hatte sich bereits abgewandt. »Rian. Was ist mit Dunwegen?«
Rian lächelte schwach. »Die Allianz ist stark. Ich habe nichts zu berichten.« »Und Sennon?«
»Der Kaiser denkt noch über unseren Vorschlag nach. Ich glaube nicht, dass er einer Entscheidung näher ist als vor fünf Jahren.«
»Das ist keine Überraschung«, bemerkte Dyara kichernd. »In Sennon ist noch nie irgendetwas schnell gegangen.«
Rian nickte. »Sennon war schon immer schwieriger zu hofieren als Somrey. Welchen Wert können wir einer Allianz mit einem Land beimessen, das sich nicht entscheiden kann, wem oder was es huldigt?«
Juran nickte zustimmend. »Ich habe nach wie vor das Gefühl, dass wir uns Sennon bis zum Schluss aufheben sollten. Vielleicht wird sich Sennon zu guter Letzt anschließen, wenn alle anderen Länder von Nordithania geeint sind.« Er richtete sich auf und lächelte. »Damit bleiben dann noch zwei weitere Länder zu erörtern.«
Auraya bemerkte, dass Mairaes Augen aufgeleuchtet hatten, während Dyara die Lippen zu einem skeptischen Lächeln verzogen hatte.
»Si und Borra.« Juran verschränkte die Finger. »Ich habe vor einigen Monaten einen Höfling in jedes der beiden Länder geschickt, um Einladungen für eine Allianz zu überbringen.«
Ein Stich der Erregung durchzuckte Auraya. Die Geschichten über die Geflügelten der südlichen Berge und das wasseratmende Meeresvolk hatten sie schon immer fasziniert. Als sie älter wurde, waren sie ihr zu fantastisch erschienen, um wahr sein zu können, aber sowohl Priester Avorim als auch Leiard hatten ihr versichert, dass es solche Völker tatsächlich gab, auch wenn manche Beschreibungen wohl übertrieben waren.
»Es würde mich sehr beeindrucken, wenn einer dieser Boten sein Ziel tatsächlich erreicht haben sollte«, murmelte Dyara düster. Auraya sah sie überrascht an. »Nicht dass ich dächte, sie würden sie ermorden«, versicherte sie Auraya. »Aber die Länder der Siyee und der Elai sind nicht leicht zu erreichen, und ihre Bewohner begegnen gewöhnlichen Menschen mit Argwohn und Scheu.«
»Ich habe meine Höflinge mit Bedacht ausgewählt«, sagte Juran. »Beide haben diese Völker schon in der Vergangenheit besucht oder mit ihnen Handel getrieben.«
Diese Feststellung schien Dyara nun doch zu beeindrucken. Juran legte lächelnd die Hände auf den Tisch. Dann wurde sein Ausdruck wieder ernst.
»Wir haben noch nicht über die drei Länder Südithanias nachgedacht: Mur, Avven und Dekkar.«
»Die Länder, in denen der pentadrianische Kult gepflegt wird?«, fragte Rian mit missbilligender Miene.
»Ja.« Juran verzog das Gesicht. »Ihre Art zu leben und ihre Moralvorstellungen mögen mit unseren nicht vereinbar sein. Die Götter wollen Nordithania geeint sehen, nicht das ganze Ithania. Sobald jedoch Nordithania geeint ist, werden die südlichen Länder unsere Nachbarn sein. Ich habe unsere Ratgeber Informationen über diese Länder sammeln lassen. Landkarten, Zeichnungen und Berichte über ihre Glaubensvorstellungen und Rituale.«
»Finden sich darin auch Beschreibungen von Orgien?«, wollte Mairae wissen.
»Mairae!«, sagte Dyara tadelnd.
Jurans Lippen zuckten erheitert. »Du wirst enttäuscht sein zu hören, dass die Gerüchte von Orgien übertrieben sind. Sie kennen zwar durchaus Fruchtbarkeitsriten, aber nur für verheiratete Paare. Zwei ergeben noch keine Orgie.«
Mairae zuckte die Achseln. »Dann weiß ich zumindest, dass ich nichts verpasse«, murmelte sie. Puan verdrehte die Augen.
»Denkst du daran, Pentadrianerin zu werden?«, fragte er belustigt, dann sprach er, ohne auf eine Antwort zu warten, weiter. »In diesem Falle solltest du wissen, dass man von dir erwarten würde, den fünf Führern des Kults zu folgen, die sich mit dem hübschen Titel ›Die Stimmen der Götter‹ schmücken. Die Hierarchie ihrer Anhänger ist als ›Die Servanten der Götter‹ bekannt. Du würdest an ihre Götter glauben müssen. Man fragt sich, wie ein so mächtiger Kult sich aus einem Glauben an Götter entwickeln kann, die nicht existieren. Ferner könnte man erwarten, dass sie den Einfluss anderer Kulte fürchten würden, aber in Wirklichkeit ermutigen sie ihre Anhänger zu Toleranz gegenüber anderen Religionen.«
Mairae verzog das Gesicht zu einem Ausdruck gespielter Enttäuschung. »Ich fürchte, dass Südithania ohne die Orgien keinerlei Reize für mich hätte.«
Juran kicherte. »Es erleichtert mich, das zu hören. Es wäre schrecklich für uns, dich zu verlieren.« Er hielt inne, dann seufzte er. »Und nun müssen wir uns zu guter Letzt einer düstereren Angelegenheit zuwenden. Vor einigen Wochen habe ich verschiedene Berichte aus dem östlichen Toren bekommen, in denen Angriffe durch eine Meute Worns beschrieben werden. Es handelt sich nicht um gewöhnliche Worns. Diese Tiere sind doppelt so groß wie ihre weit verbreiteten Vettern. Sie haben Reisende, Bauern und sogar Kaufmannsfamilien getötet. Man hat mehrere Jagdtrupps ausgesandt, von denen nicht einer zurückgekehrt ist. Eine Frau, die mitangesehen bat, wie die Worns ihren Mann vor ihrem Haus getötet haben, behauptet, ein Mann sei auf einer der Kreaturen geritten und habe sie angeführt. Zuerst dachte ich, die Frau müsse sich geirrt haben. Worns arbeiten so gut zusammen, dass sie den Eindruck erwecken können, als würden sie von außen gelenkt. Vielleicht, so vermutete ich, hat sie sich in der Dunkelheit eingebildet, die Umrisse eines Mannes zu sehen. Außerdem scheinen diese Angriffe keinem für Menschen nachvollziehbaren Zweck zu dienen. Die Opfer haben nichts gemein, abgesehen von der Tatsache, dass sie sich des Nachts im Freien aufhielten. Aber inzwischen haben andere Zeugen die Geschichte der Frau bestätigt. Einige von ihnen sagen, der Mann gebe den Worns telepathische Anweisungen. Wenn das wahr ist, muss er ein Zauberer sein. Ich habe drei Dorfpriester mit Nachforschungen beauftragt. Sollte es sich erweisen, dass dieser Mann tatsächlich ein Zauberer ist, werde ich mich telepathisch mit euch allen in Verbindung setzen, damit ihr die Begegnung bezeugen könnt.«
Juran richtete sich auf. »Das ist alles, was ich heute zu sagen habe. Hat einer von euch noch irgendein Anliegen, das er ansprechen möchte?«
Mairae schüttelte den Kopf. Als Rian ebenfalls verneinte, sah Dyara Auraya an und zuckte dann die Achseln.
»Für den Augenblick nicht.«
»Dann erkläre ich diese Versammlung für beendet.«
Der Turm war größer als jeder andere, den sie bisher gesehenhatte. Er ragte so hoch in den Himmel empor, dass die Wolken sich daran zerteilten. Widersprüchliche Gefühle kämpften in Emerahl miteinander. Sie sollte fliehen. Sie würden sie jeden Augenblick entdecken. Aber sie wollte hinsehen. Wollte beobachten. Irgendetwas an diesem Turm faszinierte sie. Sie bewegte sich näher heran. Plötzlich ragte der Turm über ihr auf. Er schien sich zu biegen. Zu spät begriff sie, dass dies keine Illusion war. Risse waren im Mauerwerk erschienen, die sich über die Kanten der riesigen Steinblöcke schlängelten, aus denen der Turm erbaut worden war. Der Turm würde einstürzen.
Sie drehte sich um und versuchte zu rennen, aber die Luft war jetzt zäh und sirupartig, und ihre Beine waren zu schwach, um sie hindurchzutragen. Sie konnte sehen, wie sich der Schatten des Turms vor ihr in die Länge zog. Während das geschah, fragte sie sich, warum sie nicht die Vernunft besessen hatte, zur Seite zu laufen, wo der Turm ihr nichts anhaben konnte. Dann explodierte die Welt.
Schlagartig war alles dunkel und still. Sie konnte nicht atmen. Stimmen riefen ihren Namen, aber sie konnte nicht genug Luft in ihre Lunge saugen, um zu antworten. Langsam drang die kalte Finsternis zu ihr vor.
»Zauberin!«
Die Stimme des Sprechers war dunkel vor Zorn, aber sie verhieß dennoch eine Chance auf Rettung.
»Komm heraus, du aufdringliches altes Weib!«
Emerahl fuhr aus ihrem Traum auf und öffnete die Augen.
Die runde Innenwand des Leuchtturms verschwand in der Dunkelheit über ihr. Sie hörte herannahende Schritte und das Murmeln mehrerer Stimmen, das aus der Öffnung in der Wand kam, wo sich in der Vergangenheit zwei große, geschnitzte Türen befunden hatten. Dahinter stand eine breitschultrige Gestalt.
»Komm heraus, oder wir kommen hinein und holen dich.«
Die Stimme war bedrohlich und voller Wut, aber es schwang auch ein Anflug von Furcht darin. Emerahl schüttelte widerstrebend die Erinnerung an ihren Alptraum ab – sie hätte ihn gern gedeutet, bevor die Einzelheiten verschwammen – und stand auf.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Ich bin Erine, der Vorsteher von Corel. Komm jetzt heraus, oder ich werde meine Männer hineinschicken, um dich zu holen.«
Emerahl trat an die Türöffnung. Draußen standen vierzehn Männer, von denen einige zu dem Leuchtturm aufblickten, während mehrere andere hinter sich schauten und die übrigen ihren Anführer beobachteten. Alle machten sie finstere Mienen, und alle waren mit irgendwelchen primitiven Waffen ausgerüstet. Offenkundig konnte keiner Emerahl sehen, da sie im hellen Morgenlicht standen und Emerahl in der Dunkelheit des Leuchtturms verborgen war.
»So nennt ihr diesen Ring von Hütten heutzutage also«, sagte sie und trat in die Öffnung. »Corel. Ein hübscher Name für einen Ort, der von Schmugglern gegründet wurde.«
Der breitschultrige Mann bleckte jetzt förmlich die Zähne vor Wut. »Corel ist unser Zuhause. Du solltest uns gegenüber besser ein wenig Respekt zeigen, sonst werden wir...«
»Respekt?« Sie starrte zu ihm empor. »Ihr kommt hierher und schreit und sprecht Befehle und Drohungen aus, und ihr erwartet von mir, dass ich euch gegenüber Respekt zeige?«
Sie machte einen Schritt nach vorn. »Geht zurück in euer Dorf, Männer von Corel. Ihr werdet heute nichts von mir bekommen.«
»Wir wollen keins von deinen Giften und auch keinen deiner Tricks, Zauberin.« Erines Augen funkelten. »Wir wollen Gerechtigkeit. Du hast dich einmal zu viel in unsere Angelegenheiten eingemischt. Du wirst keine Frauen in unserem Dorf mehr zu gehässigen Zauberinnen machen. Wir werden dich hinauswerfen.«
Sie sah ihn überrascht an, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf ihren Zügen aus.
»Dann bist du also der Vater?«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Einen Moment lang las sie dort Furcht, dann Wut.
»Ja. Ich könnte dich umbringen für das, was du mit meiner kleinen Rinnie gemacht hast, aber die anderen denken, das würde uns Unglück bringen.«
»Nein, sie haben nur nicht das Gefühl, so viel verloren zu haben wie du«, entgegnete sie. »Sie haben lediglich ihr Glück bei Rinnie versucht. Um zu sehen, was du ihnen durchgehen lassen würdest. Aber du«, fügte sie mit schmalen Augen hinzu, »du hast dich seit Jahren an ihr ergötzt, und jetzt kannst du sie nicht mehr anrühren. Und das, wo du doch so gern deinen Willen durchsetzt. Es macht dich verrückt, dass du sie nicht länger haben kannst.«
Sein Gesicht war rot angelaufen. »Halt den Mund«, knurrte er, »sonst werde ich...«
»Deine eigene Tochter«, schleuderte sie ihm entgegen. »Du kommst hier herauf und nennst sie ›meine kleine Rinnie‹, als sei sie ein unschuldiges Kind, das du liebst und beschützt. Sie hat aufgehört, ein unschuldiges Kind zu sein, als sie zum ersten Mal begriff, dass ihr eigener Vater der Mann war, von dem sie am ehesten Schaden zu befürchten hatte.«
Die anderen Männer musterten ihren Anführer inzwischen mit einigem Unbehagen. Emerahl war sich nicht sicher, ob der Grund für ihr Verhalten in dem lag, was sie Rinnies Vater vorgeworfen hatte, oder ob ihnen etwas anderes zu schaffen machte:
Vielleicht hatten sie gewusst, was der Vater seiner Tochter antat, und hatten ihn nicht aufgehalten. Erine, der ihre Blicke spürte, beherrschte sich mit einiger Anstrengung.
»Hat sie dir das erzählt, du närrisches altes Weib? Sie erfindet schon seit Jahren solche Geschichten. Immer sucht sie nach...«
»Nein, sie hat es mir nicht erzählt«, erwiderte Emerahl. Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Ich kann die Wahrheit sehen, auch wenn die Menschen sie mir nicht zeigen wollen.«
Was nicht stimmte; sie hatte nicht versucht, die Gedanken des Mädchens zu lesen. Ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet waren nicht mehr das, was sie früher einmal gewesen waren. Alle Gaben mussten geübt werden, und sie hatte zu lange in Abgeschiedenheit gelebt.
Aber ihre Worte hatten die gewünschte Wirkung. Die anderen Männer tauschten Blicke, und einige von ihnen betrachteten Erine mit schmalen Augen.
»Wir wollen nichts mehr von deinen Lügen oder deinen verfluchten Zaubereien hören«, knurrte Erine wütend. Er trat einen Schritt vor. »Ich befehle dir fortzugehen.«
Emerahl lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein.«
»Ich bin der Vorsteher von Corel, und...«
»Corel liegt dort unten.« Sie streckte die Hand aus. »Ich habe hier gelebt, noch bevor die Väter eurer Großväter ihre erste Hütte gebaut haben. Ihr habt keine Befugnis, mir etwas zu befehlen.«
Erine lachte. »Du bist alt, aber so alt bist du nun auch wieder nicht.« Er blickte zu seinen Gefährten hinüber. »Seht ihr, wie sie lügt?« Dann wandte er sich wieder zu Emerahl um. »Das Dorf möchte dir keinen Schaden zufügen. Sie wollen dir die Chance geben, deine Sachen zu packen und in Frieden fortzugehen. Solltest du immer noch hier sein, wenn wir in einigen Tagen zurückkommen, dann erwarte keine Freundlichkeit von uns.«
Mit diesen Worten machte er kehrt und stolzierte davon, nachdem er den anderen bedeutet hatte, ihm zu folgen. Emerahl seufzte. Narren. Sie werden zurückkommen, und ich werde ihnen die gleiche Lektion erteilen, die ich schon ihren Urgroßvätern erteilt habe. Sie werden für eine Weile schmollen und versuchen, mich auszuhungern. Das Gemüse und das Brot werden mir fehlen, und ich werde wieder fischen gehen müssen, aber mit der Zeit werden sie den Vorfall vergessen und abermals heraufkommen, um Hilfe zu erbitten.
Vor dem Wegehaus am Waldrand warteten sechs Männer: drei Priester und drei Einheimische. Der blaue Besatz, mit dem die Zirks der Priester geschmückt waren, wirkte schwarz im verblassenden Licht. Die anderen Männer waren in die schlichte Kleidung von Bauern gewandet und trugen Beutel auf dem Rücken.
Adern bog die Schultern durch, um das Gewicht seiner Ausrüstung in eine angenehmere Position zu bringen, dann trat er auf die Straße hinaus. Hinter ihm erklangen die beruhigenden Schritte seiner Kameraden, die mit ihm auf der Jagd nach den Worns waren. Einer der Priester drehte sich um, um die Neuankömmlinge zu betrachten, und seine Gefährten folgten seinem Beispiel. Adern lächelte, als die anderen seine Kleidung mit offenkundigem Missfallen beäugten. Jäger reisten mit leichtem Gepäck, vor allem im Wald. Sie mochten Kleidung zum Wechseln mit sich führen, um sich am Ende eines langen Tages umziehen zu können, aber auch diese Sachen waren schon bald voller Blut und Schmutz.
In seinem Gewerbe waren saubere Kleider ein Zeichen für einen gescheiterten Jäger. Adern musterte die fleckenlos weißen Zirks seiner Auftraggeber mit einem schiefen Lächeln. Wahrscheinlich, so dachte er, waren schmutzige Gewänder bei einem Priester nicht gerade eine Empfehlung. Es musste sehr lästig sein, sie sauber zu halten.
»Ich bin Adern Schneider«, sagte er. »Das ist mein Trupp.« Er machte sich nicht die Mühe, die Männer vorzustellen. Die Priester würden sich ihre Namen ohnehin nicht einprägen.
»Ich bin Priester Hakan«, erwiderte der größte unter den Priestern. »Das sind Priester Barew und Priester Poer.« Er deutete zuerst auf einen grauhaarigen Mann, dann auf einen leicht rundlichen, und schließlich zeigte er auf die drei Einheimischen. »Das sind unsere Träger.«
Adern machte hastig mit einer Hand das Zeichen des Kreises, dann nickte er den Trägern höflich zu. Die Einheimischen wirkten ängstlich. Wozu sie guten Grund hatten.
»Ich danke dir, dass du uns deine Dienste aus freien Stücken angeboten hast«, fügte Hakan hinzu.
Adern stieß ein kurzes, raues Lachen aus. »Aus freien Stücken? Wir sind keine Freiwilligen, Priester. Wir wollen die Felle. Nach allem, was ich höre, sind diese Worns große Viecher und ganz schwarz. Pelze wie diese werden einen hohen Preis erzielen.«
Hakans Mundwinkel zuckten, aber seine beiden Begleiter verzogen angeekelt das Gesicht. »Das ist sicher wahr«, erwiderte er. »Und nun erzähl uns, wie wir deiner Meinung nach vorgehen sollen.«
»Wir suchen dort, wo der letzte Angriff stattgefunden hat, nach Spuren.«
Hakan nickte. »Wir werden euch hinführen.«
Als sie durch das Dorf gingen, erschienen in vielen Fenstern Gesichter. Stimmen wurden laut und wünschten ihnen Glück. Eine Frau kam aus einem der Häuser geeilt, ein Tablett mit kleinen Bechern in Händen; jeder Becher war bis zum Rand mit Tipli gefüllt, dem Schnaps, den die Einheimischen brannten. Die Jäger leerten ihre Becher frohen Mutes, während die Träger ihren Anteil mit verräterischer Hast hinunterschluckten. Die Priester nahmen jeder nur einen einzigen Schluck, bevor sie ihre noch vollen Becher auf das Tablett zurückstellten.
Sie gingen weiter und ließen das Dorf hinter sich. Zu beiden Seiten des Weges ragten die dunklen Schatten von Bäumen auf. Der rundliche Priester hob die Hand, und die übrigen Männer blinzelten, geblendet von dem grellen Licht.
»Kein Licht«, sagte Adern. »Wenn sie in der Nähe sind, werdet ihr sie verschrecken. Der Mond wird jetzt bald aufgehen. Er wird uns genug Licht schenken, sobald unsere Augen sich daran gewöhnt haben.«
Der Priester sah Hakan an, der nickte. Das Licht erlosch, und die Männer taumelten durch die Dunkelheit, bis ihre Augen sich angepasst hatten. Die Zeit verging langsam, gemessen einzig durch das leise Tappen ihrer Stiefel. Der Mond brach gerade langsam über den Bäumen hervor, als Priester Hakan plötzlich stehen blieb.
»Dieser Geruch... das muss der Ort sein«, sagte er. Adern blickte zu dem stämmigen Priester hinüber. »Kannst du uns ein schwaches Licht schaffen?«
Der Priester nickte. Er streckte abermals die Hand aus, und ein winziger Lichtfunke erschien. Adern sah die Überreste eines Plattans vor sich. Sie gingen zu dem Wagen hinüber, der schief auf einem gebrochenen Rad stand. Der Gestank wurde stärker, als sie näher kamen, und es stellte sich heraus, dass er vom Kadaver eines Arem herrührte, das die Worns zum Teil gefressen und liegen lassen hatten.
Der Boden war übersät mit Spuren – riesige Tatzenabdrücke, bei denen Adems Herzschlag sich vor Erregung beschleunigte. Er versuchte, die Anzahl der Tiere zu schätzen. Zehn? Fünfzehn? Die Abdrücke liefen in einer Masse aufgewühlter Erde zusammen. Frischere menschliche Spuren zogen sich darüber. Ein Glitzern stach Adern ins Auge. Er bückte sich und hob eine kurze, goldene Kette von der niedergetrampelten Erde auf. Das Gold war mit einer verkrusteten Substanz bedeckt, die er für getrocknetes Blut hielt.
»Hier haben sie den Kaufmann gefunden«, murmelte Hakan. »Oder das, was von ihm übrig war.«
Adern steckte die Kette ein. »Also gut, Männer. Schaut euch um und sucht nach Spuren, die sich von dieser Stelle entfernen.«
Es dauerte nicht lange. Schon bald führte Adern die Priester in den Wald, auf den Spuren einer Fährte, die nicht auffälliger hätte sein können, selbst wenn die riesigen Abdrücke im Dunkeln geleuchtet hätten. Das Rudel musste seiner Schätzung nach etwa einen Tag Vorsprung haben. Er hoffte, dass die Priester auf einen langen Marsch vorbereitet waren. Erst als der Mond direkt über ihnen am Himmel stand, legte Adern eine Pause ein, und auch da gab er den Männern nur wenige Minuten Zeit, um sich auszuruhen.
Nach einigen weiteren Stunden erreichten sie eine kleine Lichtung. Überall waren die Spuren von Worns zu sehen -und von einem Menschen. Ein einzelnes Paar Stiefelabdrücke zog sich über den Waldboden. Seit sie den Schauplatz des Angriffs verlassen hatten, waren sie nicht mehr auf menschliche Spuren gestoßen. Adems Männer verteilten sich im Wald.
»Sieht so aus, als hätten sie gestern Nacht Rast gemacht«, murmelte er.
»Sie sind in diese Richtung gegangen«, rief einer seiner Männer leise.
»Irgendwelche menschlichen Fußspuren, die von hier wegführen?«, fragte Adern. Es folgte eine lange Pause. »Nein.«
»Zeugen behaupten, er reite auf einem der Worns«, warf Hakan ein.
Adern trat neben den Priester. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Aber groß genug sind sie wohl. Ich...«
»Ein Wächter!«, zischte einer seiner Männer.
Die Jäger erstarrten. Adern sah sich im Wald um und lauschte.
»Ein Wächter?«, flüsterte Hakan.
»Manchmal lässt das Rudel ein einzelnes Tier zurück, das feststellen soll, ob ihnen jemand folgt.«
Der Priester starrte Adern an. »Diese Tiere sind so klug?«
»Du bist gut beraten, wenn du es glaubst.« Ein leises Geräusch zu seiner Rechten erregte Adems Aufmerksamkeit, und er hörte, wie auch seine Männer die Luft einsogen, als sie einen Schatten sahen, der sich davonstahl. Einen riesigen Schatten. Adem fluchte.
»Was ist los?«, fragte Hakan.
»Das Rudel weiß, dass wir kommen. Ich bezweifle, dass wir die Tiere jetzt noch fangen können.«
»Das kommt darauf an«, murmelte der Priester.
»Ach ja?« Adem konnte den Zweifel in seiner Stimme nicht unterdrücken. Was wussten Priester schon von Worns?
»Es kommt darauf an, ob der Reiter sie aufhält. Oder ob er will, dass wir ihn finden.«
Er hat nicht unrecht. Adem brummte zustimmend.
»Lasst uns weitergehen«, sagte Hakan.
Während der nächsten Stunden schlichen sie durch den Wald und folgten einer Spur, die jetzt um einen halben Tag frischer war. Als die Nacht jene Zeit kurz vor dem Morgen erreichte, zu der alles still und kalt war, schien die Dunkelheit sich zu verdichten. Die Priester gähnten. Die Späher trotteten hinter ihnen her, zu müde inzwischen, um sich zu ängstigen. Adems Jägergefährten ließen einen deutlichen Mangel an Begeisterung erkennen. Ihm selbst erging es nicht besser. Ihre Chancen, das Rudel zu fangen, standen inzwischen denkbar schlecht.
Dann zerriss ein menschlicher Schrei die Stille. Adern hörte mehrere gemurmelte Flüche und zog seinen Bogen. Das Geräusch war ganz aus der Nähe gekommen. Vielleicht von einem der Fährtensucher...
Plötzlich war der Wald erfüllt von zuckenden Schatten und zuschnappenden Zähnen.
»Licht!«, rief Adern. »Priester! Licht!«
Weitere Schreie wurden laut. Schreie des Entsetzens und des Schmerzes. Adern hörte ein leises Rascheln und drehte sich um; ein Schatten sprang auf ihn zu. Es blieb keine Zeit mehr, einen Pfeil an die Sehne zu legen. Er griff nach seinem Messer, duckte sich, rollte sich ab und stieß zu. Etwas riss ihm die Klinge aus der Hand. Er hörte einen unmenschlichen, verzerrten Schmerzensschrei, dann den Aufprall von etwas Schwerem, das ganz in seiner Nähe zu Boden fiel.
Mit einem Mal war der Wald von Licht durchflutet. Adern starrte in die gelben Augen des größten Worns, den er je gesehen hatte. Aus den Augenwinkeln konnte er weiße Gestalten ausmachen. Adern wagte es nicht, den Blick von der Bestie abzuwenden, um nachzuschauen. Der Worn erhob sich jaulend. Blut tropfte von dem verfilzten Haar an seinem Bauch. Adern wog seine Chancen ab. Das Tier war nah, aber es hatte Schmerzen und war vielleicht geschwächt vom Blutverlust. Es hatte ohnehin keinen Sinn, wegzulaufen. Selbst verletzt konnten diese Tiere einen fliehenden Menschen mit zehn Schritten einholen. Er tastete nach einem Pfeil.
Der Worn kroch auf ihn zu; die rosafarbene Zunge hing ihm aus dem Maul. Ein Maul, das groß genug ist, um den Kopf eines Mannes zu umfassen, durchzuckte es Adem. Es gelang ihm, den Pfeil anzulegen. Er zielte zwischen die Augen der Bestie und schoss. Der Pfeil prallte vom Schädel des Worns ab.
Adem starrte das Tier ungläubig an. Der Worn hatte überrascht einen Satz nach hinten gemacht.
»Wo bist du, Zauberer?«, rief Hakan. »Zeige dich!«
Zauberer?, dachte Adem. Magie? Die Worns werden durch Magie geschützt? Das ist nicht gerecht!
»Mir gibst du keine Befehle, Priester«, entgegnete eine Stimme mit einem seltsamen Akzent.
Der Worn heulte abermals auf, warf sich zu Boden und rollte sich auf die Seite. Adem konnte seine Klinge sehen, die im Bauch des Tieres steckte. Er kam zu dem Schluss, dass er es jetzt riskieren konnte, den Blick abzuwenden.
Priester, Jäger und Träger standen im Kreis unter einem in der Luft schwebenden Lichtfunken. Sie alle waren umzingelt von Worns.
Hakan starrte in den Wald. Im nächsten Moment trat ein Fremder ins Licht. Ausländer, dachte Adem. Keine Rasse, die ich je gesehen hätte. Langes, bleiches Haar ergoss sich über ein schwarzes, aus vielen Schichten bestehendes Gewand. Auf der Brust des Mannes ruhte ein großer, silberner Anhänger, der die Form eines fünfzackigen Sterns hatte.
»Du hast unschuldige Menschen getötet, Zauberer«, klagte Hakan den Fremden an.
»Ergib dich und stelle dich der Gerechtigkeit der Götter.«
Der Zauberer lachte. »Ich bin deinen Göttern nicht verantwortlich .«
»Jetzt bist du es«, entgegnete Hakan. Lichtfunken stoben auf und schössen von dem Priester direkt auf den Fremdländer zu. Kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, zuckten sie zur Seite weg und trafen die Bäume, deren Borke sie zerfetzten. Adern wich zurück. Es war niemals klug, sich in der Nähe eines magischen Kampfes aufzuhalten. Der verletzte Worn knurrte und erinnerte Adern daran, dass noch weitere Tiere im Wald waren. Er blieb stehen, unsicher, ob er es lieber mit einem Rudel riesenwüchsiger Worns aufnehmen oder in der Nähe der magischen Schlacht bleiben sollte.
»Deine Magie ist gering, Priester«, sagte der Fremde.
Die Luft kräuselte sich, und Hakan taumelte rückwärts und riss die Hände hoch. Adern konnte ein schwaches Schimmern in der Luft ausmachen, das sich zu einem Bogen formte und den Priester und seine Männer umschloss. Hakan erwiderte den Angriff nicht. Es sah so aus, als koste es ihn seine gesamte Kraft, sich und die Männer um ihn herum zu schützen.
Einer der Fährtensucher, die hinter den Priestern standen, drehte sich um und rannte los. Er war nur zwei Schritte weit gekommen, als er aufschrie und zu Boden stürzte. Adern starrten voller Entsetzen auf die Beine des Mannes. Sie waren in verschiedene Richtungen gebogen, und Blut durchnässte bereits seine Hosen.
Adems Mund wurde trocken. Wenn es das ist, was der Zauberer jenen antut, die sich außerhalb der Barriere befinden, sollte ich vielleicht besser bleiben, wo ich bin, und hoffen, dass er mich nicht bemerkt. Er hockte sich vorsichtig neben einen Busch, von dem aus er den Kampf weiterhin beobachten konnte. Der Lichtbogen, der die Priester und die Jäger umspannte, hatte sich inzwischen zu einer Kugel ausgedehnt, die sie alle einhüllte. Der fremdländische Zauberer kicherte leise, ein Geräusch, bei dem es Adern kalt den Rücken hinunterlief.
»Gib auf, Priester. Du wirst in dieser Schlacht keinen Sieg erringen.« Der Mann streckte die Hand aus und bog die Finger, als griffe er nach etwas.
»Niemals«, stieß Hakan hervor.
Der Zauberer machte eine schnelle Handbewegung. Adem erstarrte, als die Lichtkugel zur Seite zuckte. Die Männer, die sich innerhalb des Lichtscheins befanden, taumelten und fielen auf die Knie. Hakan griff sich an den Kopf und stieß einen wortlosen Schrei aus. Der ältere Priester sprang auf und packte Hakan an den Schultern. Adem sah, wie Hakans Züge sich ein wenig entspannten, und hörte den anderen Priester aufkeuchen. Gleichzeitig begann die Lichtkugel zu flackern.
Hakan brach zusammen. Als Adem genauer hinschaute, sah er, dass der ältere Priester die Lippen bewegte, und ihm stockte der Atem. Er fing Bruchstücke eines Gebets auf und spürte die Verzweiflung in den Worten.
Der Priester glaubte, dass sie sterben würden. Ich muss weg von hier.
Adem erhob sich und entfernte sich einige Schritte von der Schlacht.
»Das ist deine Entscheidung«, sagte der Zauberer.
Adem drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie der Zauberer die Finger streckte und sie dann zur Faust ballte. Der ältere Priester stieß einen Schrei aus. Einen Schrei, der jäh abbrach. Das Licht erlosch, und tödliche Stille folgte.
Langsam gewöhnten Adems Augen sich an den schwachen Schimmer der frühen Morgendämmerung. Er starrte zu dem stillen Ort hinüber, an dem Priester und Jäger gestanden hatten, und konnte sich nicht überwinden, den Blick von dem blutigen Gewirr aus zerschmetterten Gliedmaßen, Waffen, Packsäcken und Priesterzirks abzuwenden, nicht einmal, nachdem sein Magen seinen Inhalt auf den Boden ausgespien hatte.
In der Nähe erklang das Heulen eines Tieres. Eine Stimme sprach mit besänftigendem Tonfall auf die Kreatur ein. Adem beobachtete, wie die Worns sich um den Zauberer versammelten, um sich kraulen zu lassen. Dann begann der verletzte Worn abermals zu heulen, und der Zauberer blickte auf, direkt in Adems Augen.
Obwohl er wusste, dass keine Hoffnung bestand, rannte Adern los.
Als Auraya Jurans Gemach betrat, sah sie den übrigen Weißen einem nach dem anderen in die Augen. Juran hatte sie kurze Zeit zuvor geweckt, damit sie ihre Gedanken mit denen der Priester verbinden konnte, die gegen den Zauberer kämpften. Sie hatte den Geist der anderen Weißen gespürt und ihr Entsetzen aufgefangen.
»Es tut mir leid, Auraya«, sagte Juran. »Wenn ich gewusst hätte, dass die Auseinandersetzung ein so schlimmes Ende nehmen würde, hätte ich dich nicht geweckt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Juran. Du konntest nicht wissen, wie die Sache ausgehen würde, und es ist nichts Neues für mich, dass schreckliche Dinge auf dieser Welt geschehen – obwohl ich deine Sorge sehr zu schätzen weiß.«
Er führte sie zu einem Stuhl. »Was für eine Verschwendung«, murmelte er. Dann begann er, im Raum auf und ab zu gehen. »Ich hätte sie nicht dorthin schicken sollen. Ich hätte der Sache selbst auf den Grund gehen müssen.«
»Du konntest nicht wissen, dass dieser Zauberer so mächtig ist«, erklärte Dyara. »Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, und setz dich.«
Auraya sah Dyara an, und trotz des Ernstes der Situation erheiterte es sie, die andere Frau in einem so strengen Tonfall mit Juran sprechen zu hören. Dem Oberhaupt der Weißen schien es jedoch nichts auszumachen. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Wer ist dieser Zauberer?«, fragte Rian.
»Ein Pentadrianer«, antwortete Mairae. »In dem Bericht findet sich eine Zeichnung des Sternenanhängers. Diese Anhänger werden von Servanten der Götter getragen.«
»Ein mächtiger Zaubererpriester«, fügte Dyara hinzu.
Juran nickte langsam. »Du hast recht. Also, warum ist er hier?«
»Nicht um Handel zu treiben oder eine Allianz zu schmieden, wie es aussieht«, sagte Mairae.
»Nein«, pflichtete Dyara ihr bei. »Wir müssen darüber nachdenken, ob er hierhergeschickt wurde oder allein handelt. So oder so, wir müssen uns mit ihm befassen, und wir dürfen das Risiko nicht eingehen, einen Hohepriester oder eine Hohepriesterin zu ihm zu schicken.«
Rian nickte. »Einer von uns muss das übernehmen.«
»Ja.« Juran sah einen der Weißen nach dem anderen an. »Wer immer diese Aufgabe übernimmt, wird einige Wochen fort sein. Auraya hat ihre Ausbildung noch nicht beendet. Mairae ist mit den Somreyanern beschäftigt. Dyara bildet Auraya aus. Ich würde selbst hingehen, aber...« Er wandte sich an Rian. »Du hast noch nie zuvor mit einem Zauberer zu tun gehabt. Hättest du Zeit, dich um die Angelegenheit zu kümmern?«
Rian lächelte grimmig. »Natürlich nicht, aber ich werde mir die Zeit nehmen. Die Welt muss von diesem Pentadrianer und seinen Worns befreit werden.«
Juran nickte. »Dann nimm dir einen der Träger und brich sofort auf.«
Rian straffte sich. Ein Funkeln war in seine Augen getreten. Als der junge Mann sich erhob und aus dem Raum stolzierte, durchzuckte Auraya ein Anflug von Mitgefühl für den pentadrianischen Zauberer. Nach allem, was sie bisher erlebt hatte, entsprachen die meisten Gerüchte über Rians skrupellosen Fanatismus der Wahrheit.
»Was hältst du von den Traumwebern, Danjin Speer?«
Danjin blickte überrascht auf. Er saß Auraya gegenüber an dem großen Tisch in ihrem Empfangsraum und half ihr, die Bedingungen der vorgeschlagenen Allianz mit Somrey zu überprüfen.
Auraya sah ihm fest in die Augen. Er dachte an jenen Tag zurück, an dem sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erhalten hatte. Auf ihr Geheiß hin hatte er den Mann ausfindig gemacht, der die Botschaft zum Tempel gebracht hatte. Zu seiner Überraschung war dieser Mann ein Traumweber gewesen.
Später hatte sich seine Überraschung noch gesteigert, als er erfuhr, dass Auraya diesen Mann in Verkleidung aufgesucht hatte. Er war sich nicht sicher, was ihn mehr beunruhigte: der Gedanke, dass eine Weiße einem Traumweber einen freundschaftlichen Besuch abstattete, oder dass Auraya versucht hatte, dies in aller Heimlichkeit zu tun – sie wusste also offensichtlich, dass man dieses Verhalten als unklug oder unschicklich ansehen würde.
Natürlich konnte sie all das in seinen Gedanken lesen. Außerdem musste sie wissen, dass er sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigt und von ihrer jugendlichen Freundschaft mit Traumweber Leiard erfahren hatte; ebenso wusste er jetzt, dass sie in der Priesterschaft für ihre wohlwollende Einstellung den Heiden gegenüber bekannt war. Sie musste seinen Gedanken entnommen haben, dass ihre zweite Begegnung mit dem Traumweber bemerkt worden war und dass er, Danjin, Menschen innerhalb und außerhalb des Tempels darüber hatte reden hören. Und zu guter Letzt musste sie wissen, dass er selbst für Traumweber nichts übrighatte. In den Wochen, nachdem er Leiard gefunden hatte, hatte sie in seiner Gegenwart kein Wort über die Traumweber verloren. Jetzt, da sie an dem somreyanischen Problem arbeitete, konnten sie dem Thema nicht länger ausweichen. Er musste ehrlich sein. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als stimme er mit ihr überein.
»Ich fürchte, ich habe keine allzu hohe Meinung von ihnen«, gestand er. »Sie sind bestenfalls mitleiderregend und schlimmstenfalls nicht vertrauenswürdig.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Warum mitleiderregend?«
»Wahrscheinlich deshalb, weil es nur noch so wenige von ihnen gibt und sie so sehr verachtet werden. Und sie sind irregeleitet. Sie dienen den Göttern nicht, daher stirbt ihre Seele mit ihrem Körper.«
»Warum nicht vertrauenswürdig?«
»Ihre Gaben – einige davon – ermöglichen es ihnen, den Geist anderer Menschen zu manipulieren.« Er zögerte, da ihm bewusst wurde, dass er soeben wiederholt hatte, was sein Vater zu sagen pflegte. War dies wirklich seine eigene Meinung? »Sie können zum Beispiel ihre Feinde mit Alpträumen peinigen.«
Sie lächelte schwach. »Hast du je von einem Traumweber gehört, der das getan hätte?«
Wieder zögerte er. »Nein«, gab er zu. »Aber andererseits gibt es jetzt nur noch so wenige von ihnen. Ich glaube nicht, dass sie es wagen würden.«
Aurayas Lächeln wurde breiter. »Hat deines Wissens jemals ein Traumweber etwas getan, das ihm die Bezeichnung ›nicht vertrauenswürdig‹ eingetragen hätte?«
Er nickte. »Vor einigen Jahren hat eine Traumweberin ei-en Patienten vergiftet.«
Das Lächeln verschwand, und Auraya wandte den Blick ab. Ja, ich habe mich mit diesem Fall beschäftigt.«
Er sah sie überrascht an. »Im Rahmen deiner Ausbildung?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich schon immer für Verbrechen interessiert, an denen Traumweber beteiligt waren.«
»Zu welchem... zu welchem Schluss bist du gekommen?«
Sie verzog das Gesicht. »Dass die Traumweberin schuldig war. Sie hat ihr Vergehen gestanden, aber ich wollte mich davon überzeugen, dass man sie nicht mit Erpressung oder Gewalt zu diesem Geständnis genötigt hatte. Um Näheres zu erfahren, habe ich mir die Reaktion der anderen Traumweber angesehen. Sie haben sich von der Frau abgewandt. Dies war in meinen Augen der überzeugendste Beweis für ihre Schuld.«
Danjin hörte mit wachsender Faszination zu. »Sie hätten sich von der Frau abwenden können, um sich selbst zu schützen.«
»Nein. Ich glaube, Traumweber wissen es, wenn einer aus ihrer Mitte sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat. Wenn einer von ihnen zu Unrecht angeklagt wird – und einige der Verhandlungen waren abscheulich durchschaubar -, verteidigen sie den Betreffenden auf ihre eigene Art und Weise. Der Angeklagte bleibt ruhig, auch wenn er weiß, dass er hingerichtet werden soll. Aber wenn der Angeklagte schuldig ist, fällt kein Wort zu seiner Verteidigung. Diese Frau war verzweifelt«, Auraya schüttelte langsam den Kopf, »und wütend. Sie hat ihren eigenen Leuten gezürnt.«
»Ich habe gehört, dass sie nach Garpa verlangt haben soll, um dem Schlaf auszuweichen.« Danjin schauderte. »Wenn die Traumweber bereit sind, einen der Ihren zu quälen, was mögen sie dann erst einem Feind antun?«
»Warum vermutest du, dass sie sie gequält haben? Vielleicht wollte sie ja ihren eigenen Träumen aus dem Weg gehen.«
»Sie war eine Traumweberin. Sie hatte doch gewiss die Kontrolle über ihre eigenen Träume.«
»Wieder kannst du nur Vermutungen anstellen.« Auraya lächelte. »Du hältst die Traumweber für nicht vertrauenswürdig, weil sie die Fähigkeit haben, anderen Schaden zuzufügen. Nur weil sie dazu in der Lage sind, heißt das noch nicht, dass sie es tun. Ich könnte dein Leben mit einem einzigen Gedanken ausblasen, aber du vertraust darauf, dass ich es nicht tue.«
Er sah sie erschrocken an, beunruhigt von der beiläufigen Erwähnung ihrer von den Göttern gegebenen Kräfte. Sie hielt seinem Blick stand. Er schaute auf den Tisch hinab.
»Ich weiß, dass du es nicht tun würdest.«
»Also solltest du vielleicht dein Urteil über jeden einzelnen Traumweber überdenken, bis du ihn oder sie persönlich kennengelernt hast.«
Er nickte. »Du hast natürlich recht. Aber ich kann ihnen ebenso wenig vertrauen, wie ich einem Fremden vertrauen würde.«
Sie kicherte. »Das tue ich auch nicht. Ebenso wenig wie ich jenen vertraue, die ich zu kennen glaube, da Menschen, die ich zu kennen glaubte, bisweilen durchaus eine Skrupellosigkeit oder Rohheit an den Tag gelegt haben, deren ich sie nicht für fähig gehalten hätte.« Sie sah auf die Schriftrolle hinab, die vor ihr ausgebreitet lag. »Ich schätze deine Ansichten, auch wenn ich nicht mit ihnen übereinstimme, Danjin. Ich weiß, dass ich mit meiner Meinung über diese Angelegenheit allein dastehe. Ich bin keine Traumweberin. Meine Kenntnisse über sie erweisen sich als begrenzt. Ebenso wenig bin ich jedoch eine typische Zirklerin, die Traumwebern bestenfalls misstraut und sie schlimmstenfalls bewusst verfolgt. Ich muss alle Sichtweisen in Betracht ziehen, wenn ich Mairae verschiedene Möglichkeiten vorschlagen soll, wie man die Somreyaner zu einem Bündnis mit uns bewegen könnte.«
Danjin bemerkte die Falte, die sich zwischen ihren Brauen gebildet hatte. Als ihm diese Stellung angeboten worden war, hatte Dyara ihm versichert, dass man Auraya während ihrer ersten Jahre als Weiße keine schwierigen Aufgaben zuweisen würde. Wie es schien, hatte diese Aufgabe von allein zu Auraya gefunden.
Aufgrund ihrer Kenntnisse der Traumweber war sie jedoch von allen Weißen am besten dazu geeignet. Vielleicht war dies der Grund, warum die Weißen allenthalben durchblicken ließen, dass die neueste Weiße Heiden duldete, wenn nicht gar unterstützte. Welche Konsequenzen würde diese Einstellung auf lange Sicht mit sich bringen? Obwohl das Gesetz es zu einem Verbrechen erklärte, die Dienste eines Traumwebers zu nutzen, ignorierten so viele Menschen diese Vorschrift, dass nur wenige jemals dafür bestraft wurden. Würde Aurayas Toleranz den Traumwebern gegenüber noch mehr Menschen dazu ermutigen, dem Gesetz zu trotzen?
Auraya sagte nichts. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit wieder der Allianz zugewandt.
»Gegen welche Bedingungen haben die Somreyaner zu Anfang protestiert?«
Danjin hatte diese Frage erwartet. Er nahm sich eine Wachstafel vor und verlas eine lange Liste von Veränderungen an den Bedingungen des Bündnisses. Das letzte Drittel dieser Veränderungen hatte ausschließlich mit Belangen der Traumweber zu tun.
»Das sind keine neuen Bedingungen, nicht wahr? Diese Verfügungen waren schon immer Teil der Allianz.«
»Ja.«
»Warum haben die Somreyaner nicht gleich zu Beginn der Verhandlungen dagegen protestiert?«
Danjin zuckte die Achseln. »Wenn man über große Dinge verhandelt, werden die kleineren häufig weniger beachtet. Oder so sagt man zumindest.«
»Und die Somreyaner haben diesen Punkten einem nach dem anderen ihre Beachtung geschenkt?« Ihre Stimme troff vor Skepsis.
Er kicherte. »Jedes Mal, wenn ein Punkt ausgehandelt ist, protestieren sie gegen den nächsten.«
»Wollen sie das Bündnis also hinauszögern? Kannst du irgendeinen Grund erkennen, warum der Ältestenrat die Unterzeichnung verschleppt? Oder sind es nur die Traumweber, die die Allianz verzögern oder verhindern wollen?«
»Das weiß ich nicht. Mairae ist davon überzeugt, dass die meisten Mitglieder des Rats die Allianz wollen.«
Auraya trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Dann sind sie also entweder mit den minderwichtigen Punkten unzufrieden und präsentieren sie uns einen nach dem anderen, damit jedem einzelnen Punkt die gleiche Beachtung zuteilwird, oder aber sie spielen mit uns. Die erste Möglichkeit lässt sich mit Geduld überwinden. Um die zweite Möglichkeit zu überwinden...«
»Diese Möglichkeit wird nichts überwinden. Nichts als eine direkte Einmischung in die somreyanische Politik.«
»Ich denke nicht, dass wir so weit werden gehen müssen. Wir müssen lediglich die Macht der Traumweberältesten schmälern.«
Danjin sah sie überrascht an. Einen solchen Vorschlag hätte er von jemandem, der sich für die Belange der Traumweber einsetzte, niemals erwartet.
»Wie?«
»Indem wir einen Teil dieser Macht einem anderen Traumweber übertragen.«
»Im Rat darf nur jeweils ein Vertreter einer jeden Religion sitzen. Wie willst du diese Bedingung ändern, ohne dich in die somreyanische Politik einzumischen?«
»Ich habe nicht die Absicht, zwei Traumweber in den Rat zu setzen, Danjin. Nein, dies wäre eine gesonderte Position.« »Und wer würde darüber entscheiden?« »Die Weißen.«
»Das würden die Somreyaner nicht akzeptieren!« »Sie würden keine andere Wahl haben. Es hätte nämlich nichts mit ihnen zu tun.«
Danjin kniff die Augen zusammen. »Also schön. Ich bin ganz Ohr. Erzähl es mir.«
Sie kicherte. »Die Weißen brauchen offenkundig jemanden, der sie in den Angelegenheiten der Traumweber berät.«
»Und dieser Ratgeber wäre ein Traumweber?«
»Natürlich. Die Somreyaner würden niemals auf einen Zirkler hören, der in diese Position gewählt wurde.«
Danjin nickte langsam, während er die Vorteile eines solchen Arrangements bedachte.
»Ich verstehe. Zunächst einmal werden die Traumweber beschwichtigt sein. Indem wir einen aus ihrer Mitte zum Ratgeber ernennen, erkennen die Weißen an, dass die Traumweber einen gewissen Wert für sie haben. Der Ratgeber wird die Bedingungen der Allianz von Gleich zu Gleich erörtern, so dass die Traumweberälteste gezwungen sein wird, vernünftig zu verhandeln, statt sich gegen unsere Anliegen zu sperren.«
»Und unser Ratgeber könnte Vorschläge machen, wie sich die Bedingungen der Allianz verändern ließen, um die Anzahl der Proteste zu verringern und auf diese Weise das Ganze zu beschleunigen«, fügte Auraya hinzu.
Wo liegen dann die Nachteile?, fragte sich Danjin. Welche Schwächen hat dieser Plan?
»Du wirst dafür Sorge tragen müssen, dass die Ziele dieses Ratgebers den unseren nicht entgegengesetzt sind«, sagte er warnend. »Der Betreffende könnte Veränderungen an der Allianz vorschlagen, die seinen Leuten zugute kämen und unseren schaden würden.«
»Der Betreffende dürfte sich über diese Konsequenzen ebenso wenig im Klaren sein wie ich«, erwiderte sie und tippte sich an die Stirn. »Es gibt nur vier Menschen auf der Welt, die mich belügen können.«
Diese Information erfüllte Danjin mit einiger Erregung. Also konnten die Weißen nicht die Gedanken ihrer Gefährten lesen. Er hatte schon immer vermutet, dass es so sein müsse.
»Es wäre natürlich möglich, dass kein Traumweber sich bereiterklärt, mit uns zusammenzuarbeiten«, wandte er ein.
Sie lächelte.
»Hast du schon jemanden im Sinn?« Noch bevor er seine Frage gestellt hatte, kannte er die Antwort.
»Aber ja. Ich würde natürlich mit jemandem zusammenarbeiten, dem ich vertrauen kann. Wer wäre da besser geeignet als der Traumweber, den ich persönlich kenne?«
Während der Plattan davon rollte, nahm Auraya ihre Umgebung in sich auf. Sie und Dyara befanden sich auf einer weiten, freien Fläche zwischen Reihen kultivierter Bäume. Lange Gräser wiegten sich in der Brise. In der Ferne galoppierten ein Priester und eine Priesterin auf großen, weißen Reyna über ein Feld. Beide kamen ihr vertraut vor. »Sind das...?«
»Juran und Mairae«, antwortete Dyara. »Wir nennen den letzten Tag des Monats unseren Reittag, weil wir ihn nutzen, um mit den Trägern zu arbeiten. Sobald du eine Verbindung zu einem von ihnen hergestellt hast, musst du sie aufrechterhalten.«
»Ist es das, was ich heute tun werde?«
Dyara schüttelte den Kopf. »Nein. Du wirst irgendwann reiten lernen müssen, aber das ist nicht von allzu großer Bedeutung. Viel wichtiger ist es, dich zu lehren, wie du deine neuen Gaben einsetzen kannst.«
Die beiden Reyna in der Ferne setzten zu einer kompliziert aussehenden Drehung an, bei der sich ihre Beine im Gleichklang bewegten. Auraya konnte sich nicht vorstellen, dass es ihr gelingen würde, sich auf dem Rücken eines Reyna zu halten, während das Tier unter ihr solche Manöver vollführte. Sie hoffte, dass ihre Erleichterung darüber, dass ihre Füße auf dem Boden bleiben würden, nicht allzu offenkundig war.
»Der Schild, den zu formen ich dich beim letzten Mal gelehrt habe, wird den meisten Arten von Angriffen standhalten«, erklärte Dyara, und ihre Stimme nahm einen inzwischen vertraut gewordenen, belehrenden Tonfall an. »Dieser Schild lässt Wurfgeschosse, Flammen und Gewalt abprallen, Blitze jedoch nicht. Zum Glück werden Blitze jedoch auf natürliche Weise in den Boden gelenkt. Sie nehmen den einfachsten Weg – durch dich hindurch. Um das zu verhindern, musst du ihnen eine andere Möglichkeit geben, und du musst es schnell tun.«
Dyara streckte die Hand aus. Ein verzerrtes Band aus Licht blitzte aus ihren Fingern in den Boden, und ein ohrenbetäubendes Krachen hallte über das Feld. Eine Brandnarbe zeichnete das Gras, und die Luft zischte.
»Wann werde ich das lernen?«, flüsterte Auraya.
»Erst wenn du gelernt hast, dich dagegen zu verteidigen«, erwiderte Dyara. »Ich werde mit kleinen Zaubern anfangen, die alle auf dieselbe Stelle gerichtet sind. Du musst versuchen, ihren Verlauf zu verändern.«
Zuerst hatte Auraya das Gefühl, als sei ihr befohlen worden, Sonnenlicht in der Hand einzufangen. Die Blitze zuckten in zu schneller Folge, als dass sie irgendetwas daran hätte wahrnehmen können. Allerdings stellte sie fest, dass die gezackte Linie aus Licht niemals dieselbe war. Es musste einen Grund dafür geben, dass sie jedes Mal einem anderen Weg folgte. Irgendetwas, das mit der Luft zu tun hatte.
Dyara? Auraya?, erklang eine Stimme in Aurayas Gedanken.
Dyaras Kopf fuhr hoch. Sie hatte die Stimme offensichtlich ebenfalls gehört.
Juran?, antwortete sie. Auraya blickte zu dem Feld hinüber, aber die beiden Reiter waren nicht mehr zu sehen.
Rian hat den Pentadrianer gefunden. Lenkt euren Geist durch meinen hindurch.
Dyara schaute zu Auraya hinüber, dann nickte sie. Auraya schloss die Augen und suchte nach Jurans Geist. Als sie sich mit ihm verband, spürte sie Mairae und Dyara, aber Rians Gedanken verlangten ihre ganze Aufmerksamkeit. Von ihm kamen Geräusche und Bilder. Ein Wald. Ein halb zerstörtes Steinhaus. Ein Mann in schwarzer Kleidung, der in der Tür stand. Auraya sog erstaunt die Luft ein, als sie feststellte, dass sie sehen konnte, was Rian vor Augen hatte. Außerdem konnte sie spüren, dass er Magie in sich hineinzog, um dem Schutzschild um sich herum Nahrung zu geben. Der Pentadrianer beobachtete Rians Herannahen. Überall um ihn herum waren Worns. Er streckte die Hand aus, streichelte einem der Geschöpfe an seiner Seite den Kopf und murmelte einige Worte in seiner eigenartigen Sprache.
Rian hielt inne und saß ab. Er sandte eine Anweisung in den Geist seines Trägers, und dieser galoppierte davon.
Der Zauberer verschränkte die Arme vor der Brust. »Du kommst, um mich zu fangen, Priester?«
»Nein«, sagte Rian. »Ich bin gekommen, um dich zu töten.«
Der Zauberer lächelte. »Das ist nicht sehr höflich.«
»Es ist das, was du verdienst, Mörder.«
»Mörder? Ich? Du sprichst von Priestern und Männern, ja? Ich verteidige mich nur. Sie greifen zuerst an.«
»Haben die Bauern und Kaufleute, die du getötet hast, dich als Erste angegriffen?«, fragte Rian.
Ich kann seine Gedanken nicht lesen, sagte Rian. Seine Gedanken sind abgeschirmt.
Dann könnte er gefährlich sein, sagte Juran.
So mächtig wie einer der Unsterblichen des vergangenen Zeitalters. Das wird ein interessanter Kampf werden, antwortete Rian.
»Ich greife Bauern und Kaufleute nicht an«, erwiderte der Zauberer. Er kraulte den Kopf eines Worns. »Meine Freunde sind hungrig. Man gibt ihnen kein Essen, keinen Respekt. Ihr Leute seid nicht höflich, und seit ich hier bin, respektiert ihr mich und meine Freunde nicht. Jetzt sagst du, du tötest mich.« Er schüttelte den Kopf. »Ihr Leute seid nicht freundlich.«
»Nicht Mördern gegenüber«, sagte Rian. »Vielleicht ist Barbarei in deinem Land kein Verbrechen, aber in unserem steht darauf die Todesstrafe.«
»Du denkst, du kannst mich bestrafen?«
»Mit dem Segen und der Macht der Götter.« Auraya verspürte das Aufbranden der Bewunderung und der Entschlossenheit, die Rian fühlte. Er ist den Göttern ganz und gar ergeben, dachte sie. Verglichen mit uns anderen. Wir sind lediglich treu. Und doch müssen die Götter dies akzeptabel finden, sonst wären alle Weißen wie Rian.
Der Zauberer lachte. »Die Götter würden dich niemals segnen, Heide.«
»Nicht deine falschen Götter«, entgegnete Rian. »Der Zirkel. Die wahren, lebenden Götter.« Er zog Magie in sich hinein, kanalisierte sie und formte sie zu einer Strähne weißer Hitze. Die Luft vor dem Zauberer verwandelte sich plötzlich in eine Mauer aufgepeitschter Wellen. Eine Woge warmer Luft schlug über Rian zusammen. Der Schutzschild, den Rian um sich herum hochgezogen hatte, wölbte sich nach innen. Er stärkte ihn instinktiv, um die Kraft, die auf ihn einstürmte, abzuwehren. Auraya hörte das Knacken von Holz, als die Bäume in Rians Nähe die Wucht zurückgeworfener Macht abfingen.
Rian griff abermals an, diesmal indem er Magie zu Pfeilen formte, die von allen Seiten auf den Zauberer zuflogen. Der Abwehrschild des Pentadrianers hielt stand, und er antwortete mit Lichtzaubern, die Rian in den Boden ableitete.
So wird das also gemacht, dachte Auraya.
Die Erde unter Rian zuckte und wogte auf. Er sandte Magie hinab, um dem Toben ein Ende zu machen. Gleichzeitig zog er die Luft um den Zauberer herum ab, so dass dieser in einem Vakuum festsaß. Der Zauberer riss die Luft zurück.
Er stellt mich auf die Probe, bemerkte Rian.
Ich stimme dir zu, erwiderte Juran.
Rian spürte, wie eine gewaltige Kraft ihn umschlang und gegen den Schutzschild um ihn herum presste. Er kämpfte dagegen an, aber der Ansturm wurde immer stärker. Es überraschte Auraya nicht, zu sehen, dass der Zauberer eine Hand ausstreckte und zu einer Klaue bog, geradeso wie er es in dem Kampf mit den Priestern getan hatte.
Jetzt kommt die Kraftprobe, sagte Rian. Er widersetzte sich dem Ansturm, vergalt Schlag mit Schlag. Gleichzeitig war er auf der Hut vor anderen Formen des Angriffs. Die Zeit verstrich unbemerkt. Der Angriff des Zauberers wurde stetig machtvoller. Langsam verstärkte Rian seine Abwehr.
Dann erstarb schlagartig die Kraft, die seinen Schild unter Druck gesetzt hatte. Obwohl Rian sehr schnell reagierte, entwich ihm eine gewaltige Menge an Magie. Bäume barsten. Die Ruine des Hauses explodierte. Staub und Steine wirbelten durch die Luft und nahmen ihm die Sicht. Rian warf einen sanfteren Zauber aus, und der Staub legte sich.
Der Pentadrianer war fort. Rian, der suchend Ausschau hielt, sah ein gewaltiges schwarzes Tier, auf dessen Rücken ein Mann saß, davonspringen. Er sandte ihm einen Blitz nach, aber die Energie prallte von dem fliehenden Zauberer ab und versank im Boden.
»Die Götter sollen ihn mit ihrem Zorn strafen«, zischte Rian, als der Mann und das Tier zwischen den Bäumen verschwanden. Er schickte seinem Träger einen Gedankenruf. Das Reittier war nicht weit entfernt.
Gib Acht, warnte Juran. Folge ihm, aber sei auf der Hut. Er ist sehr mächtig, und ein Überraschungsangriff könnte tödlich sein.
Ein kalter Schauer überlief Auraya. Tödlich für Rian? Aber gewiss konnte ihm doch nichts Schaden zufügen?
Er ist nicht so mächtig wie ich, erwiderte Rian, dessen Gedanken dunkel waren vor Zorn und Entschlossenheit. Es wird keine Gelegenheit zu einem Hinterhalt geben. Ich werde weder schlafen noch rasten, bis ich ihn tot weiß.
Dann erloschen seine Gedanken aus Aurayas Sinnen. Sie schlug die Augen auf. Dyara sah sie an.
»Das war sehr aufschlussreich«, bemerkte die Frau trocken. »Wir sind schon seit langer Zeit keinem so mächtigen Feind mehr begegnet.« Sie kniff die Augen zusammen. »Du wirkst verwirrt.«
»Das bin ich auch«, erwiderte Auraya. »Ist Rian wirklich in Gefahr?« »Nein.«
»Warum hat Juran ihn dann vor einem Überraschungsangriff gewarnt? Er kann doch nicht getötet werden?«
Dyara verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur wenn er einen törichten Fehler begeht – und das wird er nicht tun. Ich habe ihn gut ausgebildet.«
»Dann sind wir also nicht unverletzbar? Oder unsterblich?«
Dyara lächelte. »Nicht direkt. Die meisten Leute würden sagen, dass wir ziemlich nah dran sind. Allerdings gibt es auch für uns Grenzen. Eine ist der Zugang zu Magie. Denk daran, was ich dich gelehrt habe: Wenn wir Magie in uns hineinziehen, verbrauchen wir das, was um uns herum ist. Wenn wir sehr viel davon benutzen, wird es schwerer, da die Magie um uns herum dünner wird und wir weiter ausgreifen müssen, um uns zu stärken. Die Magie wird in den Ort, den wir geschwächt haben, zurückfluten, aber das geschieht nur langsam. Um eine frische, starke Quelle auf zu tun, müssen wir unseren Standort wechseln. Es kommt allerdings nur selten vor, dass wir Magie in solchem Maße verbrauchen. Die wahrscheinlichste Situation, die uns dazu veranlassen könnte, ist der Kampf mit einem anderen Zauberer – einem außerordentlich mächtigen Zauberer. Die Erschöpfung eines Bereichs könnte dich in einem ungünstigen Augenblick schwächen.« Sie hielt inne, und Auraya nickte zum Zeichen, dass sie verstand.
»Deine eigene Fähigkeit, zu lernen und Gaben zu benutzen, ist die zweite Beschränkung, die dir auferlegt ist. Jeder von uns ist so stark, wie die Götter ihn machen können. Deshalb sind wir auch nicht alle gleich stark. Das ist der Grund, warum Mairae die Schwächste und Juran der Stärkste unter uns ist.«
»Ist es möglich, dass ein Zauberer stärker ist als wir?«
»Ja, obwohl Zauberer von solcher Stärke wahrhaft selten sind. Dies ist seit fast hundert Jahren der erste, von dem ich erfahren habe.« Sie lächelte grimmig. »Du bist in interessanten Zeiten zu uns gestoßen, Auraya. Ein Mangel an Ausbildung ist eine dritte Beschränkung, aber wenn man die Geschwindigkeit bedenkt, mit der du lernst, wirst du dieses Problem bald überwunden haben. Keine Sorge. Wir würden dich niemals in den Kampf mit einem Zauberer von solcher Stärke schicken, bevor deine Ausbildung vollendet ist.«
Auraya lächelte. »Ich mache mir keine Sorgen. Und ich hatte mich schon gefragt, warum wir unverletzbar sein sollen, wenn die Götter selbst es nicht sind.«
Dyara runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Im Krieg der Götter sind viele Götter gestorben. Wenn Götter sterben können, können wir es auch.«
»Ich nehme an, das ist wahr.«
Als sie das Trommeln von Hufen auf dem Boden hörten, drehten beide Frauen sich um und sahen, dass Juran und Mairae auf sie zuritten. Als die Reyna zum Stehen kamen, stellte Auraya fest, dass keins der Tiere Zügel trug. Sie erinnerte sich an das, was Dyara ihr erklärt hatte: dass Träger durch Gedankenbefehle geleitet wurden.
Juran blickte auf Auraya hinab. »Ich habe eine Frage an dich, Auraya. Von Mairae höre ich, dass du mit der Überprüfung des Allianzentwurfs für die Somreyaner fertig bist. Würdest du irgendwelche Änderungen an den Bedingungen vornehmen?«
»Einige, obwohl ich den Verdacht habe, dass noch mehr Veränderungen vorgenommen werden müssen. Beim Lesen der Dokumente ist mir aufgefallen, dass ich doch nicht so viel über die Traumweber weiß, wie ich dachte. Ich weiß, wie sie Wundfäule behandeln, aber nicht, wie sie sich in die somreyanische Gesellschaft einfügen. Nach und nach stieg in mir der Wunsch auf, ich hätte einen Fachmann, an den ich mich wenden könnte, und schließlich ist mir eine mögliche Lösung eingefallen. Vielleicht brauchen wir einen Ratgeber, der uns in die Traumweber betreffenden Angelegenheiten weiterhilft.«
Juran drehte sich zu Mairae um. »Du hast das einmal versucht, nicht wahr?«
Mairae nickte. »Ich konnte niemandem mit dem entsprechenden Wissen finden.«
Aurayas Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, aber sie zögerte nicht. »Hast du es mit einem Traumweber versucht?«
»Nein. Ich hatte nicht erwartet, dass sie mit uns zusammenarbeiten würden.«
Juran hatte die Augenbrauen hochgezogen, aber in seinen Zügen spiegelte sich keine Missbilligung. »Du glaubst, man könnte jemanden dafür gewinnen, Auraya?«
»Ja, wenn der Betreffende das Gefühl hätte, unser Anliegen stehe nicht im Widerspruch zum Wohlergehen der Traumweber. Das tut die Allianz nicht, soweit ich sehen kann.«
Sie lächelte schief und griff sich an die Stirn. »Und wir haben unsere eigenen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um zu verhindern, dass die Ziele der Traumweber den unseren entgegengesetzt sein könnten.«
»Vorsichtsmaßnahmen, über die sie sich vollauf im Klaren sind.« Juran beugte sich vor und kraulte seinen Träger zwischen den Ohren und an der Stelle, an der eins seiner Hörner aus dem Fell wuchs. »Ich wäre überrascht, wenn ein Traumweber sich für diese Arbeit zur Verfügung stellen sollte, aber falls es doch einer täte, kann ich die Vorteile einer solchen Regelung erkennen.«
Mairae lächelte. »Die somreyanische Traumweberälteste würde einem der Ihren nicht ganz so leicht trotzen können.«
»Das ist richtig«, stimmte Juran ihr zu.
»Wir würden damit allerdings eingestehen, dass die Traumweber Macht und Einfluss haben«, sagte Dyara warnend.
Mairae zuckte die Achseln. »Nicht mehr Macht, als sie ohnehin besitzen. Nicht mehr, als wir in den Bedingungen der Allianz bereits anerkannt haben.«
»Wir würden damit unseren Leuten signalisieren, dass wir die Traumweber billigen«, beharrte Dyara.
»Nicht billigen. Dulden. Wir können nicht so tun, als hären sie in Somrey keine Macht.«
Dyara öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder und schüttelte den Kopf. Juran sah Auraya an. »Wenn du einen Traumweber findest, der bereit ist, das zu tun, werde ich dich und Mairae gemeinsam nach Somrey schicken.« »Aber Auraya hat mit ihrer Ausbildung noch kaum begonnen«, wandte Dyara ein. »Damit würden wir zu schnell zu viel von ihr erwarten.«
»Ich sehe dazu nur die Alternative, die Verhandlungen abzubrechen.« Juran musterte Auraya und zuckte die Achseln. »Wenn du scheiterst, werden die Menschen glauben, der Grund dafür sei deine Unerfahrenheit und nicht ein Fehler in unserer Strategie.«
»Das ist Auraya gegenüber wohl kaum gerecht«, bemerkte Dyara.
Auraya schüttelte den Kopf. »Ich wäre damit einverstanden.«
Juran blickte sie nachdenklich an. »Wenn Mairae sich so benähme, als erwarte sie nicht, irgendetwas zu erreichen, habe dich aber nach Somrey mitgenommen, um dir Einblick in andere Regierungssysteme zu geben... Lassen wir sie dich unterschätzen.« Er nickte.
»Ja. Tu es. Stell fest, ob du einen Ratgeber für uns finden kannst.«
»Hast du schon jemanden im Sinn?«, erkundigte sich Mairae.
Auraya zögerte kurz. »Ja. Den Traumweber, den ich als Kind gekannt habe. Er hält sich für kurze Zeit in der Stadt auf.«
Juran runzelte die Stirn. »Ein alter Freund. Das könnte unangenehm für dich werden, falls er sich als schwierig erweisen sollte.«
»Ich weiß. Aber ich würde lieber mit jemandem arbeiten, den ich gut kenne.«
Er nickte langsam. »Also schön. Aber gibt Acht, Auraya, dass du nicht um der Freundschaft willen faule Kompromisse schließt. So etwas geschieht nur allzu leicht.«
Bedauern schwang in seinem Tonfall mit.
»Ich werde vorsichtig sein«, versicherte sie ihm.
Juran tätschelte den Hals seines Trägers, und das Tier schlug mit den Hufen auf den Boden. Auraya widerstand dem Drang, zurückzuweichen. Es waren so gewaltige Geschöpfe.
»Wir müssen uns wieder unseren Übungen zuwenden«, sagte Juran. Als er und Mairae davonritten, fragte sich Auraya, was geschehen sein mochte, das ihn mit solch offenkundigem Bedauern erfüllte. Vielleicht würde sie es eines Tages herausfinden. Es gab so viele Dinge, die sie über ihre Gefährten unter den Weißen nicht wusste. Aber sie hatte reichlich Zeit, mehr zu erfahren. Vielleicht nicht bis in alle Ewigkeit, aber, wie Dyara gesagt hatte, nahezu.
Fünf Menschen saßen auf den Bänken im Gemeinschaftsraum im Haus der Bäckers. Am Morgen war eine weitere Traumweberin, Olameer, angekommen. Sie war eine Somreyanerin in mittleren Jahren, die die Reise nach Süden unternahm, um Kräuter zu sammeln, die im kälteren Klima ihrer Heimat nicht wuchsen. Jayim hatte während der Mahlzeit meistens geschwiegen.
»Bist du schon einmal in Somrey gewesen, Leiard?«, fragte Tanara.
Leiard runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe Erinnerungen daran, aber ich weiß nicht, an welche Stelle in meiner Vergangenheit sie gehören.«
Olameer sah ihn forschend an. »Das klingt nach Netzerinnerungen.«
»Wahrscheinlich«, stimmte Leiard ihr zu.
»Aber du bist dir nicht sicher«, bemerkte Olameer. »Hast du andere Erinnerungen, bei denen du dir nicht sicher bist, ob sie deine eigenen sind?«
»Viele«, gab er zu.
»Verzeiht mir, aber was sind Netzerinnerungen?«, unterbrach Tanara sie.
Olameer lächelte. »Traumweber vernetzen bisweilen ihre Gedanken, um einander Vorstellungen und Erinnerungen zu übermitteln. Es geht schneller und ist einfacher, manche Dinge auf diesem Weg zu erklären. Wir benutzen Vernetzungen manchmal auch als Teil unserer Rituale und als eine Möglichkeit, einen anderen Menschen kennenzulernen.« Sie sah Leiard an, und an die Stelle ihres Lächelns trat ein nachdenklicher Ausdruck. »Wir neigen dazu, Erinnerungen anzusammeln, die nicht unsere eigenen sind, aber für gewöhnlich können wir den Unterschied feststellen. Wenn eine Erinnerung jedoch sehr alt ist, ist es leichter zu vergessen, dass sie nicht unsere eigene ist. Und in seltenen Fällen, wenn ein Traumweber ein sehr schmerzhaftes Erlebnis verarbeiten muss, vermischen sich seine Erinnerungen mit Netzerinnerungen.«
Leiard lächelte. »Ich habe kein solches Erlebnis gehabt, Olameer.«
»Nicht soweit du dich erinnern kannst«, erwiderte sie sanft.
Er zuckte die Achseln. »Nein.«
»Würdest du... würdest du heute Abend gern eine Vernetzung durchführen? Ich könnte mir diese Netzerinnerungen einmal genauer ansehen und versuchen, die Identität zu ermitteln, die hinter ihnen steht.«
Leiard nickte langsam. »Ja. Es ist zu viel Zeit vergangen, seit ich das letzte Mal das Ritual vollzogen habe.« Er bemerkte, dass Jayim ihn eindringlich ansah, und lächelte.
»Und Jayim sollte sich zu uns gesellen. Er ist seit dem Tod seines Lehrers vor sechs Monaten nicht mehr ausgebildet worden.«
»Oh, ihr braucht euch meinetwegen keine Mühe zu machen«, erklärte Jayim hastig.
»Ich wäre nur... im Weg.«
Tanara betrachtete ihren Sohn voller Überraschung. »Jayim! Ein solch großzügiges Angebot solltest du nicht ausschlagen.«
Leiard sah Olameer an. In ihren Zügen lag ein wissender Ausdruck.
»Ich kann nicht. Ich bin heute Abend mit einem Freund verabredet«, erklärte Jayim seiner Mutter.
Millo musterte seinen Sohn mit einem Stirnrunzeln. »Davon hast du vorhin nicht gesprochen. Willst du allein gehen? Du weißt, dass es gefährlich ist.«
»Ich werde schon zurechtkommen«, sagte Jayim. »Es ist nicht weit bis zu Vins Haus.«
Tanara presste die Lippen zusammen. »Du kannst morgen früh zu ihm gehen.«
»Aber ich habe es versprochen«, protestierte Jayim. »Er ist krank.«
Tanara zog die Augenbrauen hoch. »Schon wieder?« »Ja. Es ist die Atemkrankheit. Sie wird im Sommer schlimmer.«
»Dann sollte ich dich am besten begleiten«, warf Leiard ein. »Ich kenne viele Möglichkeiten der Behandlung für Krankheiten der Lunge.« »Ich...«
»Vielen Dank, Leiard«, sagte Tanara. »Das ist sehr freundlich von dir.«
Jayim blickte zwischen seiner Mutter und Leiard hin und her, dann sanken seine Schultern herab. Tanara stand auf und sammelte das schmutzige Geschirr ein. Olameer gähnte anmutig, dann erhob sie sich, um ihrer Gastgeberin zu helfen.
»Es ist vielleicht ganz gut so«, murmelte sie. »Ich bin wahrscheinlich zu müde, um dir von Nutzen sein zu können, Leiard. Ich schlafe auf Schiffen niemals gut.«
Er nickte. »Danke für das Angebot. Vielleicht ein andermal?«
»Ich werde morgen in aller Frühe aufbrechen, aber wenn du nach meiner Rückkehr noch hier bist, werden wir das Ritual dann vollziehen. In der Zwischenzeit, gehab dich wohl.« Sie berührte nacheinander Brust, Mund und Stirn. Leiard erwiderte die Geste und sah aus den Augenwinkeln, dass Jayim hastig seinem Beispiel folgte. Als Olameer den Raum verlassen hatte, stand Leiard auf und blickte erwartungsvoll zu Jayim hinüber.
»Womit verdient dein Freund seinen Lebensunterhalt?«
Der Junge schaute auf. »Sein Vater ist Schneider, daher erlernt er dasselbe Gewerbe.«
»Wird seine Familie protestieren, wenn ich ihr Haus besuche?«
Jayim zögerte; offensichtlich erwog er diese Chance, Leiard fortschicken zu können, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Sie werden nichts dagegen haben. Mein Lehrer hat ihnen geholfen, seit Vin auf der Welt ist. So habe ich ihn auch kennengelernt. Ich werde nur schnell meine Tasche holen.«
Leiard wartete, während Jayim einen kleinen Beutel aus seinem Zimmer herbeiholte. Sobald sie das Haus verlassen hatten, gab der Junge einen schnellen Schritt vor. Die Straße war dunkel und verlassen. Die Fenster der Häuser zu beiden Seiten waren helle Quadrate aus Licht, und Leiard konnte Stimmen und Bewegungen dahinter wahrnehmen.
»Warum hast du beschlossen, Traumweber zu werden, Jayim?«, fragte er leise. Jayim blickte zu ihm auf, aber es war zu dunkel, um in seinen Zügen zu lesen.
»Ich weiß es nicht. Ich habe Calem, meinen Lehrer, sehr gemocht. So, wie er die Arbeit der Traumweber darstellte, klang alles sehr nobel. Ich hätte den Menschen auf eine Art und Weise geholfen, wie es den Zirklern niemals möglich wäre. Außerdem habe ich die Zirkler gehasst.«
»Darm hasst du sie jetzt also nicht mehr?«
»Doch, aber...«
»Aber?«
»Nicht so, wie ich sie damals gehasst habe.« »Was hat sich deiner Meinung nach geändert?« Jayim seufzte. »Ich weiß es nicht.«
Da Leiard spürte, dass der Junge angestrengt nachdachte, verfiel er in Schweigen. Nach einer Weile bogen sie in eine schmalere Straße ein.
»Vielleicht sind es nicht alle Zirkler, die ich hasse. Vielleicht hasse ich nur einige wenige von ihnen.«
»Hass auf einen einzelnen Menschen ist etwas anderes als Hass auf eine Gruppe. Für gewöhnlich ist es schwieriger, eine Gruppe von Menschen zu hassen, wenn man erst einmal festgestellt hat, dass man ein einzelnes Mitglied dieser Gruppe mag.«
»Wie Auraya?«
Beim Klang dieses Namens überlief Leiard eine eigenartige Erregung. Er hatte sich seit Aurayas erstem Besuch noch zweimal mit der jungen Frau getroffen. Sie hatten von Leuten gesprochen, die sie aus dem Dorf kannten, und von Ereignissen, die sich nach Aurayas Weggang zugetragen hatten. Sie hatte ihm Geschichten aus ihrer Zeit als Akolythin und den späteren Jahren als Priesterin erzählt. Irgendwann im Verlaufe dieser Gespräche hatte sie eingestanden, dass ihre Erwählung durch die Götter sie nach wie vor erstaunte. »Ich war nicht immer einer Meinung mit den anderen Zirklern«, hatte sie gesagt. »Wahrscheinlich ist das deine Schuld. Wenn ich in Jarime aufgewachsen wäre, wäre ich wahrscheinlich genauso engstirnig geworden wie alle anderen.«
»Ja«, beantwortete er Jayims Frage. »Auraya ist nicht so wie die übrigen Zirkler.«
»Aber bei mir ist es genau andersherum«, fuhr Jayim fort. »Ich habe begriffen, dass ich nicht alle Zirkler hasse, nur weil einige von ihnen schlecht sind.«
Und was mich betrifft, so hasse ich die Zirkler nicht – nur ihre Götter, erklang eine Stimme aus den Tiefen von Leiards Geist. Mit diesen Worten war ein Aufwallen so heftiger Gefühle verbunden, dass er scharf die Luft einsog. Warum habe ich solchen Hass in meinem Herzen vergraben?, fragte er sich. Warum ist dieser Hass erst jetzt an die Oberfläche gestiegen? »Ich... ich habe Zweifel, Leiard.«
Leiard zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen an seiner Seite zu richten.
»Worauf beziehen sich deine Zweifel?«
Jayim seufzte. »Auf die Traumweber. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich selbst einer werden will.«
»Das hatte ich bereits erraten.«
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
Leiard lächelte. »Was willst du denn tun?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was erwartest du vom Leben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Natürlich weißt du es. Willst du Liebe? Kinder? Wohlstand? Was ist mit Ruhm? Oder Macht? Oder mit beidem? Oder sind dir Wissen und Weisheit wichtiger? Für welches Ziel bist du bereit zu arbeiten, Jayim? Und worauf würdest du, um dieses Ziel zu erreichen, verzichten?«
»Ich weiß es nicht«, stieß Jayim verzweifelt hervor. Er bog in eine Gasse ein. Sie war so schmal, dass Leiard hinter dem Jungen hergehen musste. Ein saurer Geruch von verwesendem Gemüse stieg ihm in die Nase.
»Natürlich weißt du das nicht. Du bist jung. Jeder Mensch braucht Zeit, um...«
Mit einem Mal nahm Leiard ein Gefühl der Bedrohung wahr. Er packte Jayims Schulter.
»Was ist?«, fragte der Junge angespannt.
Ein Keuchen hallte in der Gasse wider, das sich in ein Lachen verwandelte. Zwei weitere Stimmen fielen in diesen Ausbruch von Heiterkeit ein. Als kurz darauf drei Gestalten in der düsteren, engen Gasse sichtbar wurden, fluchte Jayim leise.
»Wohin willst du denn so spät am Abend, Träumer?« Die Stimme war jung und männlich. Leiard ließ sich von den Gefühlen dieser Fremden überfluten. Er verspürte eine Mischung aus räuberischer Absicht und grausamer Vorfreude.
»Er hat einen Freund bei sich«, warnte eine zweite Stimme.
»Einen Freund?«, höhnte der erste Junge, obwohl seine Gedanken sofort durch Vorsicht gemäßigt wurden. »Träumer haben keine Freunde. Sie haben Späher. Leute, die für sie Ausschau halten, falls sie zufällig jemand dabei erwischt, wie sie die Ehefrauen und Töchter anderer Männer verführen. Nun, das ist Pech für dich, Träumer. Wir waren als Erste hier. Du wirst nicht in Loiris Nähe kommen.«
Ehefrauen und Töchter verführen... Ein Bild blitzte durch Leiards Gedanken. Er sah sich zwei Männern gegenüber, beide waren wütend, beide hielten Waffen in Händen. In einem Fenster über ihm erschien eine Frau. Obwohl ihr Gesicht im Dunkeln lag, wusste er, dass sie sehr schön war. Sie stieß zornige Schreie aus, aber ihr Zorn galt nicht ihm. Ihre Flüche galten den Männern unter ihr.
»Ich bin nicht hier, um Loiri zu besuchen, Kinnen«, stieß Jayim mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich will zu Vin.«
Das Bild verblasste, und Leiard schüttelte den Kopf. Eine weitere Netzerinnerung? Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen so starken Drang verspürt zu haben, eine Frau zu verführen. Etwas Derartiges wäre ihm doch gewiss im Gedächtnis haften geblieben. Andererseits galt dasselbe für Netzerinnerungen.
»Vin sollte nicht so dumm sein«, erklang jetzt eine dritte Stimme, »sich mit Traumwebern einzulassen. Was hast du in dem Beutel, Jayim?«
»Nichts.«
Jayims Stimme war ruhig, aber Leiard konnte seine wachsende Angst spüren. Als die drei Raufbolde näher kamen, ließ Leiard ein wenig Magie in seine Hand fließen. Licht blühte zwischen seinen Fingern auf und tauchte seinen Unterarm in einen grellen Schein. Er trat an Jayim vorbei und öffnete die Hand.
Das Licht erfüllte die Gasse. Zu Leiards Entsetzen standen drei zirklische Priester vor ihm.
Nein, korrigierte er sich. Akolythen. Sie tragen keine Ringe.
Die drei jungen Männer starrten heftig blinzelnd das Licht an, dann hoben sie den Blick zu Leiards Gesicht. Leiard musterte sie leidenschaftslos.
»Ich bin mir nicht sicher, was ihr damit beabsichtigt, uns hier auf diese Weise entgegenzutreten. Jayim hat euch das Ziel unseres Besuchs genannt und euch erklärt, dass wir dort willkommen sind. Wenn das nicht genügt, um euch zufriedenzustellen, dann solltet ihr uns vielleicht begleiten. Oder...« Er hielt inne und senkte dann die Stimme. »Oder habt ihr uns hier abgefangen, um unsere Dienste zu erbitten?«
Die Jungen tauschten bestürzte Blicke.
»Wenn es so sein sollte«, fuhr Leiard fort, »und die Angelegenheit nicht drängt, können wir euch morgen aufsuchen. Würdet ihr als Treffpunkt den Tempel oder eure Häuser bevorzugen?«
Daraufhin wichen die drei Jungen langsam zurück.
»Nein«, erklärte der Erste steif. »Es ist schon gut. Wir benötigen eure Dienste nicht. Ihr braucht uns nicht aufzusuchen.«
Sie machten einige Schritte rückwärts, dann drehten sie sich um und gingen breitbeinig davon, wobei sie sich große Mühe gaben, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Jayim stieß einen langen, leisen Seufzer aus.
»Danke.«
Leiard musterte den Jungen ernst. »Geschieht so etwas häufig?«
»Ab und zu. Das letzte Mal liegt schon einige Zeit zurück, aber ich denke, sie waren mit den vielen Besuchern beschäftigt, die zur Erwählungszeremonie in die Stadt gekommen sind.«
»Vermutlich«, erwiderte Leiard.
»Aber du hast sie vertrieben«, meinte Jayim grinsend.
»Ich habe sie mit einer List in die Flucht geschlagen. So etwas wird nicht noch einmal funktionieren. Sie werden sich daran erinnern, dass das Gesetz jeden zur Rechenschaft zieht, der unsere Dienste in Anspruch nimmt. Du musst lernen, dich zu schützen.«
»Ich weiß, aber...«
»Deine Zweifel haben dich daran gehindert, dir einen neuen Lehrer zu suchen.«
»Ja.« Jayim zuckte die Achseln. »Es sind häufig Traumweber bei uns zu Gast, so wie du. Sie alle bringen mir irgendetwas bei.«
»Du weißt, dass das nicht genug ist.«
Der Junge ließ den Kopf sinken. »Ich denke, es war ein Fehler, Traumweber werden zu wollen. Ich wollte jemand sein.« Er blickte die Gasse hinunter. »Wie diese drei dort, aber Priester wollte ich nicht werden. Die anderen hätten mir das Leben zur Hölle gemacht. Und... und Vater hat mich immer wieder gedrängt, Schreiber zu werden wie er, aber ich habe keinerlei Begabung dafür.« Er seufzte. »Nachdem ich mich dafür entschieden hatte, Traumweber zu werden, ist es mit Kinnen und seinen Freunden immer schlimmer geworden. Und mit meinen Eltern auch.« Er lachte bitter auf. »In ihrem Eifer, mir zu beweisen, dass sie jede meiner Entscheidungen zu akzeptieren bereit sind, haben sie unser Haus in ein Schutzhaus verwandelt.« Er hob hilflos die Hände. »Also kann ich jetzt keinen Rückzieher machen.«
»Natürlich kannst du das«, erwiderte Leiard.
Jayim schüttelte den Kopf. »Kinnen und seine Freunde werden denken, ich hätte nachgegeben. Und meine Eltern wären enttäuscht.«
»Was kein Grund ist, dir weiter zu gestatten, das Wams zu tragen.«
Jayim runzelte die Stirn, dann weiteten sich seine Augen. »Du bist... du bist hier, um mich aus den Reihen der Traumweber auszuschließen!«
Leiard schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Aber ich sehe viele Dinge an dir, die mich beunruhigen. Nach unseren Gesetzen ist es folgendermaßen: Wenn drei Traumweber aus einer jeden der drei Generationen übereinstimmen, dass ein anderer ausgeschlossen werden sollte, dann kann und muss es geschehen.« Er schlug einen sanfteren Tonfall an. »Du bist voller Zweifel, Jayim. Das ist bei einem Jungen deines Alters durchaus nachvollziehbar. Wir werden dir Zeit zum Nachdenken geben. Aber während du nachdenkst, darfst du deine Ausbildung nicht vernachlässigen, und du hast nichts unternommen, um dir einen neuen Lehrer zu suchen.«
Jayim starrte das Licht in Leiards Hand an. »Ich verstehe«, sagte er leise. Leiard hielt inne, dann schob er die letzten Reste seines verblassenden Bedürfnisses nach Abgeschiedenheit beiseite. »Solltest du dich dafür entscheiden, bei uns zu bleiben, Jayim, und solltest du es wünschen, werde ich deine Ausbildung fortsetzen. Ich kann dir nicht versprechen, dass du immer in Jarime bleiben wirst, daher musst du bereit sein, deine Eltern zu verlassen und mich in eine ungewisse Zukunft zu begleiten. Aber ich verspreche dir, dass ich einen Traumweber aus dir machen kann.«
Per Junge sah Leiard in die Augen, dann wandte er gequält den Blick ab.
Leiard lachte leise. »Denk darüber nach. Und jetzt sollten wir wohl am besten deinen kranken Freund aufsuchen.«
Jayim nickte und deutete mit dem Finger auf das andere Ende der Gasse. »Wir gehen durch den Hintereingang hinein. Folge mir.«
Ein Schauer der Erregung überlief Tryss, als er über das Offene Dorf flog. Etwa in der Mitte des Dorfes hatte sich ein großer Halbkreis aus Lichtern gebildet; an dieser Stelle bot eine Felsfläche, die unter dem Namen die Flache bekannt war, Platz genug für viele Siyee. Die Anführer eines jeden Stammes – die Sprecher – standen über den anderen auf einem niedrigen, natürlichen Felswall. Und aus der Luft landeten unablässig weitere Siyee und schlossen sich der Versammlung an.
Als sein Vater langsam in den Sinkflug ging, folgte ihm Tryss. Seine Mutter war nicht weit hinter ihnen. Zusammen mit etlichen anderen Siyee schwebten sie langsam hinab, und sobald ihre Füße festen Boden berührten, machten sie eilig Platz, damit andere ebenfalls landen konnten. Während sie zu ihrem Stamm hinübergingen, hielt Tryss Ausschau nach den Leuten von Drilli. Sie standen ganz in der Nähe. Drilli fing seinen Blick auf und zwinkerte. Er grinste zurück.
In diesem Jahr waren fünfzehn Siyee-Stämme vertreten. Einer weniger als im vergangenen Jahr. Der Westwald-Stamm war im letzten Sommer von Landgehern ausgelöscht worden. Die wenigen überlebenden Mitglieder des Stammes, die nicht in ihr Territorium zurückkehren konnten, hatten sich anderen Stämmen angeschlossen. Der Schlangenfluss-Stamm, dem auch Drilli angehörte, war aus seinem Dorf vertrieben worden, aber es hatten genug Siyee das Gemetzel überlebt, um sie nach wie vor als Stamm anzusehen. Sie hatten sich vorübergehend bei anderen Stämmen angesiedelt, bis eine Entscheidung über den Standort für ein neues Dorf getroffen werden konnte.
Tryss blickte zu den Sprechern auf. In ihrer Mitte saß ein fremdartig gewandeter Mann. Seine Kleidung bedeckte seine Arme, aber dieser Umstand lenkte erst recht die Aufmerksamkeit auf das Fehlen von Membranen zwischen seinen Armen und seinem Körper. Kein Siyee konnte solche Kleidung tragen.
Seine Größe machte den Mangel an Flügeln jedoch mehr als wett. Tryss erkannte endlich, warum diese Landgeher trotz ihrer Unfähigkeit zu fliegen eine solche Gefahr für sein Volk darstellten. Der Mann saß auf einem Felsvorsprung, und doch befand sich sein Kopf auf gleicher Höhe mit dem der Sprecher. Seine Arme waren massig und seine Beine lang. Sein Körper war wie ein gewaltiges Fass, und die dicken Schichten von Kleidung, die er trug, ließen ihn noch gewaltiger erscheinen.
Er war riesig.
Sein Kopf jedoch war klein. Oder irrte er sich? Tryss stellte einen schnellen Vergleich mit dem Kopf eines der Sprecher an, dann nickte er. Der Kopf des Landgehers war genauso groß wie der eines Siyee. Er sah nur kleiner aus, weil er auf einem so massigen Körper saß.
Die Sprecher traten jetzt vor. Sie bildeten eine Reihe entlang des Felsvorsprungs, und jeder von ihnen stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Der Landgeher zuckte bei diesem Geräusch zusammen, wie Tryss bemerkte. Stille breitete sich über der Versammlung aus.
Sirri, die Sprecherin von Tryss’ Stamm, stieg auf einen Felsbrocken, der als Stein der Sprecher bekannt war. Sie hob die Arme und breitete die Flügel aus.
»Völker der Berge. Stämme der Siyee. Wir, die Sprecher, haben euch heute Abend hergerufen, um die Worte eines Mannes zu vernehmen, der in unserem Land zu Gast ist. Er ist, wie ihr gehört habt und selbst sehen könnt, ein Landgeber. Ein Landgeher aus einer fernen Gegend namens Hania, keiner von jenen, die unsere Leute töten und uns unsere Länder stehlen. Wir haben lange Gespräche mit ihm geführt und sind davon überzeugt, dass dies die Wahrheit ist.«
Sirri hielt inne und ließ den Blick von einem Gesicht zum nächsten wandern, während sie die Stimmung der Versammlung einzuschätzen versuchte.
»Landgeher Gremmer hat unsere Berge erklommen und unsere Flüsse überquert, um uns zu erreichen. Er ist allein hierhergewandert und hat eine Reise auf sich genommen, die einen Landgeher Monate kostet. Warum hat er das getan? Er hat uns ein Angebot für eine Allianz überbracht. Eine Allianz mit den Weißen, den fünf Menschen, die die Götter als ihre Stellvertreter in der Welt der Sterblichen auserwählt haben.«
Ein Raunen lief durch die Reihen der Siyee. Seit Jahren schon erzählte man sich von einer Gruppe von Landgehern, die die Götter auserwählt hatten. Während des vergangenen Jahrhunderts war einzelnen Siyee die Göttin Huan erschienen, die von den mit Gaben gesegneten Menschen gesprochen hatte, Menschen, die die Götter vertraten. Mit der Zeit, so hatte die Göttin versprochen, würden diese Auserwählten den Siyee helfen, sich gegen Eindringlinge zu verteidigen.
Während der letzten fünf Jahre hatte die Zahl der Übergriffe durch die Landgeher dramatisch zugenommen, ein Umstand, der in vielen die Hoffnung geweckt hatte, dass die versprochenen Beschützer bald in Erscheinung treten würden. Im letzten Sommer haben wir einen ganzen Stamm verloren, dachte Tryss. Sie sollten sich besser beeilen, sonst wird keiner von uns mehr da sein, den sie beschützen könnten.
»Gremmer hat inzwischen viele Tage bei uns verbracht«, fuhr Sirri fort, »und ein wenig von unserer Sprache gelernt. Er möchte heute Abend zu euch sprechen, um euch von den Auserwählten der Götter zu erzählen.«
Sirri drehte sich um und nickte dem Landgeher zu. Der Mann erhob sich langsam und trat auf den Stein der Sprecher. Als der Mann seine volle Größe offenbarte, lief eine Welle der Unruhe durch die Reihen der Siyee, eine Reaktion, die halb Staunen, halb Furcht ausdrückte.
Der Landgeher trat an den Rand des Felsens und warf ein scheues Lächeln auf die Menge. Er überragte sie alle. Dann ließ Gremmer sich zu Tryss’ Überraschung auf den Boden sinken und überkreuzte die Beine wie ein Kind.
Das hat er absichtlich getan, ging es Tryss durch den Kopf. Um weniger bedrohlich zu wirken.
Jetzt hielt der Mann mit seinen massigen, kurzen Fingern ein Stück Papier in die Höhe. Er blickte darauf hinab und räusperte sich leise.
»Volk des Himmels. Stämme der Siyee. Lasst mich zu euch von den Männern und Frauen sprechen, die die Götter zu ihren Stellvertretern erwählt haben.« Seine Redeweise war eigenartig, und es war offenkundig, dass er sich große Mühe beim Sprechen gab.
»Der Erste war Juran, der vor hundert Jahren erwählt wurde. Er ist unser Anführer und derjenige, der die ersten Priester und Priesterinnen um sich geschart und ihnen den Namen Zirkler gegeben hat. Die Zweite war Dyara, dazu auserwählt, die Gesetzesschöpferin zu sein. Dann gesellte sich Rian, der Fromme, zu ihnen, und darauf kam Mairae, eine junge Frau von großer Schönheit und tiefem Mitgefühl. Der letzte Stellvertreter der Götter wurde erst vor einem Monat bestimmt, und ich kenne seinen Namen noch nicht, da ich vor der Erwählungszeremonie aufgebrochen bin.«
Gremmer hob den Blick von seinem Papier. »Seit hundert Jahren haben die Auserwählten der Götter zum Wohle Hanias gewirkt. Jenen, denen ein Unglück widerfuhr, wurde geholfen. Jene, die von Krankheit befallen wurden, wurden versorgt-
Den Kindern bringt man das Lesen und Schreiben bei, und sie erlernen den Umgang mit Zahlen. Es hat keinen Krieg gegeben.«
Jetzt richtete er sich auf und ließ den Blick über die Siyee gleiten, bevor er sich wieder seinen Notizen zuwandte.
»Die Priester und Priesterinnen der Zirkler haben von Anfang an in vielen Ländern gewirkt, aber Hania ist das einzige Land, über das die Weißen regieren. Toren und Genria im Westen sind seit über fünfzig Jahren unsere Verbündeten. Dunwegen, die Kriegernation im Nordosten, hat sich vor zehn Jahren der Allianz angeschlossen. Zurzeit verhandeln die Weißen mit dem Ältestenrat von Somrey, und jetzt möchten wir auch Si das Angebot für ein Bündnis unterbreiten.«
Er lächelte und sah die Siyee an. »Ich habe erfahren, dass ihr ein nobles, friedfertiges Volk seid. Ich versichere euch, dass die Weißen euch in euren Schwierigkeiten beistehen können. Euer Land wird von torenischen Siedlern gestohlen. Es müssen Gesetze geschaffen und ausgeführt werden, um ihrem Treiben Einhalt zu gebieten. Ihr müsst eure Abwehr stärken. Wenn ihr die torenischen Siedler nicht aufhalten könnt, wie wollt ihr dann jemals eine Armee aufhalten?
Die Weißen beschützen ihre Verbündeten. Als Gegenleistung erbitten sie von diesen Verbündeten, ihnen Kämpfer zu Hilfe zu schicken, falls sie selbst einmal angegriffen werden sollten. Da sie sehr mächtig sind und Frieden verbreiten, wo immer sie in Erscheinung treten, wird diese Hilfe wahrscheinlich niemals notwendig sein. Wenn Si und die Weißen Verbündete wären, könnten wir einander in vieler Hinsicht helfen. Ihr wisst von Huan, und ihr wisst auch ein wenig von den anderen Göttern. Unsere Priester und Priesterinnen können euch neues Wissen erschließen. Außerdem können sie euch helfen, eure Kenntnisse der Magie, des Schreibens, des Rechnens und der Heilkunst zu mehren. Falls es euer Wunsch sein sollte, würde der Tempel einige Priester nach Si schicken, die unter euch leben würden. Es könnten auch Siyee in den Tempel kommen, um selbst Priester und Priesterinnen zu werden. Eine solche Entwicklung hätte viele Vorteile. Diese Priester und Priesterinnen könnten auf telepathischem Wege Botschaften schicken, so dass ihr erfahren würdet, was sich in der Welt draußen zuträgt. Berichte über Angriffe auf Siyee würden die Weißen schnell erreichen, damit sie entsprechend reagieren könnten. Die Menschen – die Landgeher – würden die Siyee besser zu verstehen lernen, und auch die Siyee würden mehr über die Landgeher erfahren. Verständnis bringt Respekt und Freundschaft mit sich. Freundschaft bringt Frieden und Wohlstand.« Er lächelte und nickte mehrmals. »Ich danke euch, dass ihr mir gestattet habt, zu euch zu sprechen.«
Die Siyee warteten schweigend ab, während Gremmer aufstand und sich vom Rand des Felsvorsprungs zurückzog. Tryss stellte fest, dass sein Herz raste. Wir könnten so vieles von diesen Landgehern lernen, dachte er. Dinge, die uns verlorengegangen sind, als wir in die Berge kamen. Dinge, die die Landgeher seit jener Zeit erfunden haben. Aber Tryss las Zweifel in den Gesichtern seiner Gefährten. Schließlich trat Sirri vor.
»Wir, die Sprecher, werden jetzt das Wort an unsere Stämme richten.«
Die Sprecher sprangen von dem Felsvorsprung in die Luft und schwebten zu ihren Stämmen hinunter. Als Sirri landete und sich zu der Gruppe um Tryss gesellte, wurden mehrere Stimmen gleichzeitig laut. Sie hob die Hand, um den Siyee Einhalt zu gebieten.
»Einer nach dem anderen«, sagte sie. »Wir sollten uns in einen Kreis setzen und nacheinander unsere Meinung äußern.«
Tryss’ Eltern ließen sich zu Boden sinken, und er setzte sich hinter sie. Sirri nickte dem Mann zu ihrer Linken zu, Tryss’ Onkel, Till.
»Es ist ein gutes Angebot«, sagte er. »Wir könnten ihren Schutz gebrauchen. Aber wir haben ihnen nichts als Gegenleistung anzubieten. Gremmer spricht von Kämpfern; wir haben keine.«
Sirri wandte ihre Aufmerksamkeit dem nächsten Siyee in dem Kreis zu. Der Mann formulierte die gleichen Zweifel. Während die übrigen Mitglieder des Stammes einer nach dem anderen zu Wort kamen, stieg Tryss’ Mutlosigkeit. Dann begann Tryss’ Tante zu sprechen.
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Vissi düster. »Sie sind die Auserwählten der Götter. Wer würde es wagen, gegen sie zu kämpfen? Gremmer hat recht. Wir werden wahrscheinlich niemals in die Lage kommen, kämpfen zu müssen. Wir sollten dieser Allianz beitreten.«
»Aber was geschieht, falls es zu einem kleinen Krieg kommen sollte? Einem Krieg zwischen Ländern, die mit den Weißen verbündet sind? Was ist, wenn eine Rebellion ausbricht?«, fragte Tryss’ Vater. »Was ist, wenn sie uns dann um Hilfe bitten? Sollen wir unsere jungen Männer und Frauen in den sicheren Tod schicken?«
Vissi blickte gequält drein. »Es wäre nicht sicher, dass sie sterben würden. Möglich, ja. Es ist ein Risiko, darin stimme ich dir zu. Ein Glücksspiel. Wir verlieren ständig junge Männer und Frauen an diese Siedler. Und auch ältere Männer und Frauen. Und ihre Kinder. Wir werden weitere Verluste hinnehmen müssen – bis man uns auch unser Land nimmt. Diese Gewissheit ist größer als das Risiko, dass man uns in den Krieg rufen könnte.«
Die versammelten Siyee nickten widerstrebend, und Tryss biss sich auf die Unterlippe.
Wir können kämpfen, schoss es ihm durch den Kopf. Ihr denkt nach wie vor, ihr müsstet kämpfen wie die Landgeher. Wir müssen kämpfen wie Siyee – von der Luft aus. Mit meinem Jagdgeschirr. Mit Drillis Blasrohr.
»Vielleicht können wir, bevor es dazu kommt, zu kämpfen lernen.«
Diese Bemerkung war von Sreil gekommen. Tryss’ Herz tat einen Satz. Hatte Sreil sich an Tryss’ Geschirr erinnert?
»Wenn die Landgeher hierherkommen, können sie es uns beibringen«, fügte Sreil hinzu, und Tryss’ Hoffnung erlosch.
»Aber dann müssten wir zugeben, dass wir nicht kämpfen können«, wandte Vissi ein.
»Ich denke, wir müssen diesen Weißen gegenüber ehrlich sein«, sagte Sirri. »Schließlich stehen sie den Göttern näher als jeder Sterbliche, und die Götter können in unsere Gedanken schauen. Sie werden es wissen, wenn wir unehrlich sind.«
Die Siyee schwiegen. Dann ergriff Tryss’ Vater das Wort.
»In diesem Falle werden sie wissen, dass wir nicht mit Schwert oder Speer kämpfen können. Wenn sie glaubten, dass wir in einem Krieg keinen Wert für sie hätten, hätten sie uns dieses Angebot nicht unterbreitet.«
Die Bedeutung der Worte seines Vaters traf Tryss wie ein körperlicher Schlag. Ein kalter Schauer überlief ihn. Langsam hob er den Kopf und blickte zu den Sternen empor.
Habt ihr in meine Gedanken gesehen?, fragte er. Habt ihr meine Ideen gesehen? Ist es das, was ihr mir bestimmt habt – das sich meinem Volk eine Möglichkeit gebe, zu kämpfen?
Er hielt den Atem an. Was ist, wenn die Götter antworten?, durchzuckte es ihn plötzlich. Das wäre... wunderbar, wunderbar und beängstigend.
Aber es kam keine Antwort. Einen Moment lang war Tryss enttäuscht. Hatten sie ihn gehört und es doch vorgezogen, ihm keine Beachtung zu schenken? Bedeutete das, dass er die Arbeit an seinen Erfindungen abbrechen sollte? Oder war die Aufmerksamkeit der Götter gerade auf andere Dinge gerichtet?
Wenn ich so weitermache, werde ich noch den Verstand verlieren, befand er. Sie haben nicht »ja« gesagt. Sie haben nicht »nein« gesagt. Also werde ich davon ausgehen, dass sie nicht zugehört haben oder dass es ihnen gleichgültig ist, und ich werde tun, was ich will Jetzt wollte er nur eins: sein Geschirr vervollkommnen und miterleben, wie die Siyee es zur Jagd benutzten. Wenn seine Erfindungen das Ende der Schwierigkeiten seines Volkes bedeuten würden... nun, das wäre noch besser. Er würde berühmt sein. Würde es zu Ansehen bringen.
Morgen, beschloss er, morgenwerde ich die letzten Veränderungen vornehmen. Danach werde ich das Geschirr erproben. Wenn ich davon überzeugt bin, dass es wirklich funktioniert, werde ich es den Sprechern vorlegen.
Jarime war eine Stadt mit vielen Flüssen. Sie schnitten die Stadt in Bezirke, von denen einige wohlhabender waren als andere, und sie wurden von Booten genutzt, um Menschen und Waren zu transportieren. Außerdem bezogen die Einwohner der Stadt ihr Wasser aus diesen Flüssen, das später durch unterirdische Tunnel ins Meer geleitet wurde.
Die Hälfte des Tempelbezirks wurde von einem Fluss begrenzt, von dem ein Seitenarm durch den gesamten heiligen Bezirk floss. Entlang dieses Seitenarms gab es viele hübsche, belaubte Stellen, an denen die Priester und Priesterinnen Ruhe und Abgeschiedenheit zum Nachdenken und Beten finden konnten. Die Mündung des Flusses wurde bewacht, damit kein Außenstehender die Ruhe stören konnte, aber wenn ein Besucher den richtigen Zugangspass bei sich führte, durfte er mit den flachen Booten des Tempels auf das Gelände einfahren.
Aurayas Lieblingsstelle am Fluss war ein kleiner, aus Weißstein gemauerter Pavillon. Auf der einen Seite führten Trittsteine zum Wasser hinab, wo an mehreren Pollern Boote vertäut werden konnten. Im Augenblick balancierte ein Veez auf der abgerundeten Oberseite eines Pollers, um seine Umgebung genau zu untersuchen. Er betrachtete den nächsten Pfosten, und Auraya hielt den Atem an, als er mit einem Satz hinüberschnellte. Nach einer sauberen Landung folgte der nächste Sprung, und so bewegte er sich von einem Poller zum nächsten.
»Ich hoffe, du kannst schwimmen, Unfug«, sagte sie. »Ein Fehler, und du wirst in den Fluss fallen.«
Nachdem er den letzten Poller erreicht hatte, stellte der Veez sich auf die Hinterbeine und blinzelte Auraya an.
»Owaya«, sagte er. Dann sprang er so schnell von dem Poller hinab, dass man die einzelnen Bewegungen kaum wahrnehmen konnte, und hüpfte auf ihren Schoß.
»Essen?«, fragte er, den Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet.
Sie lachte und kraulte seine Wangen. »Kein Essen.«
»Teks?«
»Keine Kekse.«
»Leckerssen?«
»Keine Leckerchen.«
Er hielt inne. »Häppsen?«
»Keine Häppchen.« Sie wartete, aber der Veez blieb still und sah sie nur flehentlich an.
»Später«, versprach sie ihm.
Das Zeitgefühl des Veez war beschränkt. Er verstand »Nacht« und »Tag« und die Phasen des Mondes, aber mit kleineren Zeiteinheiten konnte er nichts anfangen. Sie konnte ihm nicht sagen, dass es »in ein paar Minuten« so weit sein würde, daher begnügte sie sich mit einem »Später«, was schlicht und einfach bedeutete: »Nicht jetzt.«
Er war ein eigenartiger und erheiternder Gefährte. Wann immer sie in ihr Quartier zurückkehrte, kam er auf sie zugesprungen und sagte wieder und wieder ihren Namen. Es war schwer, einer solchen Begrüßung zu widerstehen. Sie versuchte, jeden Tag eine Stunde Zeit zu finden, um seine Ausbildung zu vervollkommnen, wie die Somreyaner es empfohlen hatten, aber sie konnte von Glück sagen, wenn sie mehr als einige wenige Minuten abzweigen konnte. Dennoch lernte er sehr schnell, daher war das vielleicht genug.
Die Suche nach einem Namen für ihn war eine echte Herausforderung gewesen. Nachdem sie gehört hatte, dass Mairaes Veez Sternenstaub hieß, war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie etwas weniger Verstiegenes würde finden müssen. Danjin hatte ihr von einer reichen alten Dame erzählt, die ihren Veez Tugend genannt hatte – anscheinend, damit sie jedes Gespräch mit der Bemerkung beenden konnte: »Aber meine Tugend ist mir teuer.« Wenn Auraya nun jeden Morgen ihre Pläne mit Danjin erörterte, lächelte er stets, wenn sie sagte: »Ich muss noch etwas Zeit für Unfug haben.«
An diesem Morgen hatte sie Unfug jedoch nicht mitgenommen, um seine Ausbildung voranzutreiben, sondern als Ablenkung, falls sich das Gespräch, das sie plante, als peinlich erweisen sollte. Sie war neugierig zu sehen, wie der Veez auf ihren Besucher reagieren würde, obwohl er dazu neigte, sein Urteil über jemanden in dessen Gegenwart lautstark zu verkünden, eine Angewohnheit, die sie ihm noch nicht hatte austreiben können.
Jetzt öffnete sie ihren Korb und zog eins der raffinierten Spielzeuge aus der Sammlung hervor, die die Somreyaner ihr mitgeschickt hatten. Sie legte es beiseite und machte sich daran, die Anweisungen für seinen Gebrauch zu lesen. Zu ihrer Überraschung schien das Spielzeug dazu geschaffen zu sein, den Veez zu lehren, mithilfe seiner Gedanken Schlösser zu öffnen. Sie war sich nicht sicher, was sie erheiternder fand -dass das Tier dazu in der Lage war oder dass die Somreyaner glaubten, es sei passend, ihm etwas Derartiges beizubringen.
Sie hörte ein Spritzen und blickte den Fluss hinauf. Ein Kahn kam herangeglitten, geführt von zwei Stakern. Als sie den Fahrgast sah, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob Leiard ihre Einladung annehmen würde. Bisher hatten sie sich nie auf dem Gelände des Tempels getroffen, sondern an stillen, abgeschiedenen Orten in der Stadt. Alles, was mit der zirklischen Religion zu tun hatte, machte ihn nervös und ängstlich, und da sie das wusste, hatte sie sich gefragt, ob er es wagen würde, den Tempelbezirk noch einmal zu betreten. Aber da war er.
Was nur gut war. Hätte er sich nicht dazu überwinden können, den Tempelbezirk zu betreten, hätte er die Aufgabe, die sie ihm anbieten wollte, nicht übernehmen können. Sie beobachtete, wie der Kahn näher kam. Unfug sprang von ihrem Schoß herunter und huschte an einem Pfosten des Pavillons ins Dach hinauf. Die Staker lenkten den Kahn aus der Strömung, und als er sich den steinernen Stufen näherte, sprang einer der beiden hinaus und warf Leinen um die Poller.
Leiard erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. Er trat an Land und ging die Stufen hinauf. Während Auraya ihn beobachtete, stieg ein Gefühl sehnsüchtiger Bewunderung in ihr auf. Die Aura von Würde und Gelassenheit, die Leiard stets verströmte, hatte etwas sehr Reizvolles, ebenso wie seine Neigung, sich ohne Hast und mit großer Behändigkeit zu bewegen.
Doch als sie ihm in die Augen blickte, sah sie, dass diese Ruhe nur ein äußerer Eindruck war. Seine Augen flackerten, und er wandte den Blick von ihr ab, versuchte von neuem, sie anzusehen, aber auch diesmal währte der Kontakt nur einen kurzen Moment. Sie zögerte, dann schaute sie genauer hin. In seinen Gedanken rannen Furcht und Hoffnung.
Sie war froh darüber, dass sie auf einem Treffen unter vier Augen bestanden hatte. Dyara hatte ihre Arbeit wie immer überwachen wollen, aber Auraya vermutete, dass die Anwesenheit einer anderen Weißen Leiard einschüchtern würde. Vor allem wenn es sich bei dieser Weißen um eine Frau handelte, die bei der bloßen Erwähnung von Traumwebern nichts als tiefste Missbilligung verströmte.
Nachdem sie ihn eine Weile beobachtet hatte, sah sie, dass die Hoffnung die Schlacht mit der Furcht zu gewinnen schien. Leiard sah in Auraya ein Potenzial zur Veränderung, das die Furcht, die der Tempel in ihm weckte, lohnte. Sie bemerkte, dass sein Vertrauen einzig ihr, Auraya, galt. Er glaubte, dass sie den Traumwebern willentlich keinen Schaden zufügen würde. Ebenso wenig wäre sie glücklich darüber, sollten die anderen Weißen es tun. Sie war für die Traumweber die beste Chance auf Frieden, die sie hatten.
Sie spürte jedoch, dass er nicht restlos davon überzeugt war. Die Zirkler interessierten sich nur für ihre Götter und für sich selbst. Sie verachteten und fürchteten die Traumweber. Er fragte sich, ob er ein Narr war, ihr zu vertrauen. Es war frustrierend, ihre Gefühle nicht wahrnehmen zu können. Sie könnte sich verändert haben, seit sie eine Weiße geworden war. Das Ganze könnte eine Falle sein...
Auraya runzelte die Stirn. Sie hatte schon bei früheren Begegnungen Hinweise darauf gesehen, dass er die Fähigkeit besaß, Gefühle anderer aufzufangen, aber dies war das erste Mal, dass er tatsächlich darüber nachgedacht und ihr damit bestätigt hatte, dass es der Wahrheit entsprach. Früher hatte er diese Fähigkeit nie erwähnt, nicht einmal, als sie noch ein Kind gewesen war.
Also hat er mir damals nicht alles erzählt, dachte sie. Das ist keine Überraschung. Den Dorfbewohnern hätte die Vorstellung nicht gefallen, dass er etwas von ihren Gedanken spüren konnte, und seienes auch nur Gefühle. Ich wüsste doch gern, ob auch andere Traumweber über diese Fähigkeit verfügen.
All das schoss ihr durch den Kopf, während Leiard in den Pavillon hinaufkam. Als er einige Schritte unter ihr stehen blieb und seine Augen auf der gleichen Höhe waren wie ihre, lächelte sie.
»Auraya«, sagte er. »Auraya, die Weiße. So sollte ich dich jetzt anreden, nicht wahr?«
Sie zuckte die Achseln. »Offiziell, ja. Wenn wir unter uns sind, kannst du mich nennen, wie es dir behagt. Außer Stinkatem. Daran würde ich Anstoß nehmen.«
Er zog die Augenbrauen hoch, und ein Lächeln zuckte um seine Lippen. Da sie sah, dass die Staker die Hände vors Gesicht hoben, um ihre Heiterkeit zu verbergen, drehte sie sich um und winkte ihnen.
»Ich danke euch. Könntet ihr in einer Stunde zurückkehren?«
Sie nickten, dann machten sie mit beiden Händen das Zeichen des Kreises. Nachdem sie die Leinen von den Pollern gelöst hatten, stiegen sie wieder in den Kahn, griffen nach ihren Staken und steuerten das Boot flussabwärts.
Auraya trat in den Schatten des Pavillons und war sich dabei sehr deutlich bewusst, dass Leiard ihr folgte.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Gut«, antwortete er. »Und dir?«
»Genauso. Besser. Ich bin froh, dass du deine Meinung geändert und die Stadt noch nicht verlassen hast.« Er lächelte. »Ich bin ebenfalls froh darüber.« »Wie geht es deinen Gastgebern?«
»Gut. Der Lehrer ihres Sohnes ist im vergangenen Winter gestorben, und er hat keinen Ersatz gefunden. Fürs Erste habe ich diese Aufgabe übernommen.«
Ein kleiner Stich des Neids durchzuckte sie. Oder war es einfach Sehnsucht nach der Vergangenheit? Was immer der Grund auch sein mochte, sie hoffte, dass der Junge begriff, welches Glück er hatte, Leiard als Lehrer zu bekommen.
»Ich hätte gedacht, es müsste innerhalb der Stadt leichter sein, Lehrer zu finden, als außerhalb«, sagte sie. »Hier muss es doch noch mehr Traumweber geben?«
Leiard zuckte die Achseln. »Ja, aber keiner von ihnen war frei, um einen Schüler aufzunehmen. Wir unterrichten nie mehr als einen Schüler, und selbst jene von uns, die gern unterrichten, brauchen ab und zu eine Pause von den ständigen Anforderungen durch den Schüler.«
Ständige Anforderungen? Bedeutete das, dass Leiard während der nächsten Jahre beschäftigt sein würde?
»Dann wird dieser neue Schüler also deine gesamte Zeit in Anspruch nehmen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht.« »Wird er dich in Jarime halten?«
»Nicht wenn ich beschließen sollte, fortzugehen. Ein Schüler begleitet einen Lehrer, wo immer es diesen hinzieht.«
»Du denkst nicht zufällig daran, Somrey einen Besuch abzustatten, oder?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Warum?«
Ihr Gesichtsausdruck wurde nüchtern und ihre Stimme geschäftsmäßig. »Ich habe dir einen Vorschlag zu unterbreiten, Leiard. Einen ernsthaften Vorschlag von einer Weißen an einen Traumweber.«
Sie beobachtete seine Reaktion auf die Veränderung in ihrem Verhalten. Er beugte sich ein wenig nach hinten, und ein wachsamer Ausdruck trat in seine Züge, aber sein Geist war voller Hoffnung.
»Du brauchst nicht das Gefühl zu haben, das Angebot annehmen zu müssen«, erklärte sie. »Wenn dir mein Vorschlag nicht zusagt, wird er vielleicht einem anderen Traumweber zusagen. Wenn du glaubst, dass kein Traumweber darauf eingehen würde, dann sag es mir bitte. So oder so, ich wäre dir dankbar für deinen Rat.«
Er nickte.
»Die Weißen streben ein Bündnis mit Somrey an«, fuhr sie fort. Während sie ihm die Situation darlegte, sagte er nichts, sondern hörte nur zu und nickte gelegentlich zum Zeichen, dass er verstand. »Juran hat mich gebeten, mir die Bedingungen der Allianz anzusehen«, sprach sie weiter, »und dabei ist mir klargeworden, dass ich keineswegs so viel über Traumweber weiß, wie ich dachte. Die Fragen, die ich hatte...« Sie lächelte. »Ich habe mir gewünscht, du wärst dort gewesen, um sie für mich zu beantworten. Mir ist klargeworden, dass wir einen Traumweber brauchen, der uns berät. Jemanden, der uns sagt, welche Bedingungen für das Bündnis wahrscheinlich Anstoß erregen werden. Jemanden, der uns bei den Verhandlungen hilft. Jemanden, der uns auch anderenorts bei Verhandlungen unterstützt, die die Traumweber betreffen.« Sie hielt inne und musterte ihn forschend. »Möchtest du unser Ratgeber werden, Leiard? Willst du mich nach Somrey begleiten?«
Er sah sie schweigend an. Nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte, wog er das Für und Wider ihres Angebots ab.
Das ist die Chance, von der Tanara meinte, sie werde vielleicht kommen. Ich darf diese Möglichkeit nicht ungenutzt lassen. Ich werde das Angebot annehmen.
Nein! Wenn du das tust, wirst du den Weißen Turm betreten müssen. Juran wird dort sein. Die Götter werden dort sein!
Ich darf mir diese Chance nicht aus Furcht entgehen lassen.
Du musst es tun. Es ist gefährlich. Sie soll einen anderen Ratgeber auswählen. Hilf ihr dabei, einen zu finden.
Es gibt niemanden, der für diese Position besser geeignet wäre als ich. Ich kenne sie. Sie kennt mich.
Sie ist eine Sklavin der Götter.
Sie ist Auraya.
Es war ein eigenartiges Gefühl, das innere Ringen eines anderen zu beobachten. Vernunft und Hoffnung trugen in dem Kampf gegen seine Furcht den Sieg davon, aber sie sah, dass diese Furcht tiefe Wurzeln hatte. Was hatte diese ungeheure Angst vor den Göttern ausgelöst? War ihm irgendetwas zugestoßen, das ihn mit solchem Entsetzen erfüllte? Oder war diese Furcht weit verbreitet unter den Traumwebern? Die Geschichten, die sie aus der Zeit gehört hatte, als die Traumweber brutal verfolgt wurden, waren schrecklich genug, um jedem Menschen eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen.
Er würde, wann immer er den Tempel betrat, gegen diese Furcht ankämpfen müssen. Plötzlich wusste sie, dass sie das nicht von ihm verlangen durfte. Sie würde einen anderen Traumweber finden. Sie konnte einen Freund nicht bitten, sich diesem Grauen zu stellen.
»Wir können auch jemand anderen für diese Aufgabe suchen«, sagte sie. »Außerdem wirst du vielleicht ohnehin zu viel mit der Ausbildung dieses Jungen zu tun haben. Kannst du mir einen anderen Traumweber empfehlen?«
»Ich...« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Einmal mehr hast du mich überrascht, Auraya«, erwiderte er leise. »Zuerst dachte ich, du wolltest lediglich meinen Rat, was diese Allianz betrifft. Dein Angebot ist zu wichtig, um eine Entscheidung zu treffen, bevor ich eine gewisse Bedenkzeit hatte.«
Sie nickte. »Natürlich. Lass es dir durch den Kopf gehen. Ich brauche deine Antwort bis... hm, ich bin mir nicht sicher, wie viel Zeit ich dir geben kann. Eine Woche. Vielleicht länger. Ich werde es dich wissen lassen...«
Sie zuckten beide zusammen, als Unfug plötzlich auf Aurayas Schulter fiel.
»Bombom!«, trällerte eine schrille Stimme in ihr Ohr.
»Unfug!«, stieß sie hervor und drückte eine Hand auf ihr hämmerndes Herz. »Das war sehr unhöflich!«
»Bombooom!«, verlangte der Veez. Er sprang von ihrer Schulter auf Leiards. Zu Aurayas Erleichterung zeichnete sich ein breites Lächeln auf Leiards Zügen ab.
»Komm her«, sagte er und legte vorsichtig die Finger um den Körper des Veez. Als Leiard ihn von seiner Schulter hob und auf den Rücken drehte, stieß Unfug ein klagendes Miauen aus. Nachdem der Traumweber jedoch seinen Bauch zu streicheln begonnen hatte, entspannte sich der Veez und schloss die Augen. Schon bald lag er schlaff in einer von Leiards Händen, und seine kleinen Finger zuckten.
»Das ist doch einfach jämmerlich«, rief sie aus.
Er grinste und hielt ihr den Veez hin. Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke. Das Funkeln, das in seine Augen getreten war, erfüllte Auraya mit einer eigenartigen Freude. Sie hatte ihn selten so... so verspielt gesehen.
Plötzlich fiel ihr etwas ein, das ihre Mutter vor Jahren gesagt hatte. Dass die Frauen im Dorf sich Sorgen machten, sie könne ein ungebührliches Interesse an Leiard haben. Dass er nicht so alt sei, wie er erschien.
Jetzt verstehe ich, warum sie sich um mich gesorgt haben. Ich dachte, er sei uralt, aber ich war ein Kind und habe nur das weiße Haar und den langen Bart gesehen. Er kann nicht alter als vierzig sein, und wenn er sich rasieren und das Haar schneiden würde, glaube ich, wäre er auf eine raue Art recht gutaussehend.
Der Veez löste sich aus seiner Trance und hob den Kopf. »Mehr kraulen?«
Diese Bemerkung entlockte ihnen beiden ein leises Lachen. Leiard setzte den Veez auf die Bank. Das Tier begann von neuem, um Essen zu betteln, daher öffnete Auraya ihren Korb und holte Erfrischungen für sie alle hervor. Dann las sie laut die Anweisungen für das Spielzeug vor, und sie stellten Überlegungen zu der Frage an, ob es klug sei, dem Tier derartige Kunststücke beizubringen.
Nur allzu bald kam der Kahn zurück. Leiard wartete, bis das Boot an den Pollern festgemacht war, bevor er aufstand. Dann hielt er inne und blickte auf sie hinab.
»Wann wirst du nach Somrey segeln?«
Sie zuckte die Achseln. »Das hängt davon ab, ob ich einen Ratgeber finde. Wenn sich niemand zur Verfügung stellt, wird Mairae wahrscheinlich in etwa einem Monat allein aufbrechen.«
»Und wenn du jemanden findest?« »Früher.«
Er nickte, dann wandte er sich ab und ging zu dem Kahn hinüber. Nach einigen Schritten blieb er noch einmal stehen, drehte sich um, lächelte schwach und neigte den Kopf.
»Es war mir ein Vergnügen, mich mit dir zu unterhalten, Auraya von den Weißen. Ich werde die Position, die du mir angeboten hast, annehmen. Wann soll ich dich treffen?«
Sie sah ihn überrascht an. »Wie war das noch mit der Bedenkzeit?«
Er hob die Schultern. »Ich habe bereits nachgedacht.«
Sie betrachtete ihn eingehend. Von dem Aufruhr, der einige Zeit zuvor seinen Geist erfüllt hatte, war nichts mehr zu entdecken. Anscheinend hatte die Vernunft seine Furcht überwunden, nachdem er über das Problem nachgedacht hatte.
»Ich werde Juran sagen, dass du das Angebot angenommen hast. Wenn ich deine Anwesenheit im Turm benötige, werde ich dir eine Nachricht schicken.«
Er nickte knapp. Dann wandte er sich ab, stieg zu dem Kahn hinunter und ließ sich auf die niedrige Bank sinken. Sie gab den Stakern ein Zeichen, woraufhin die Männer die Leinen ins Boot warfen und wieder an Bord gingen. Kurz darauf glitt der Kahn stromaufwärts davon.
Auraya blickte Leiard nach, der gelassen zwischen den Stakern saß, und dachte über die Zweifel nach, die sie gehabt hatte. Sie hatte befürchtet, dass er sich nicht mit ihr treffen würde, aber er hatte es getan. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass die Begegnung peinlich werden könnte, aber sie war in seiner Gegenwart so unbefangen gewesen wie eh und je. Gleichzeitig hatte sie sich ängstlich gefragt, wie seine Antwort ausfallen würde.
Jetzt brauchte sie nur noch über die Möglichkeit nachzugrübeln, dass seine neue Tätigkeit womöglich ihre Freundschaft zerstörte. Als der Kahn außer Sicht war, rief Auraya nach Unfug, griff nach ihrem Korb und machte sich auf den Rückweg zum Weißen Turm.
Fiamo nahm den letzten Schluck von seinem Gewürzwasser und lehnte sich an den Mast. Er war außerordentlich zufrieden mit sich, und das lag nicht nur an der Wirkung des Schnapses. Der Sommer brachte immer eine größere Ausbeute an Fischen, aber heute hatten sie mehr gefangen, als es für die Jahreszeit üblich war. Er würde ein hübsches Sümmchen Geld verdienen.
Er lächelte vor sich hin. Das meiste würde nach ihrer Rückkehr an die Mannschaft gehen – und an seine Frau. Aber er hatte gute Lust, ein wenig von dem Geld beiseitezulegen, um Geschenke für seine Söhne zu kaufen, wenn er das nächste Mal in den Nordosten segelte.
Im Augenblick gab es nicht mehr zu tun, als sich am Pier von Meran die Zeit zu vertreiben. Der Wind hatte nachgelassen und würde wahrscheinlich erst am späten Nachmittag wieder auffrischen. In der Zwischenzeit sah es so aus, als würde dies einer jener warmen, trägen Nachmittage werden, die zu nichts anderem gut waren, als mit seiner Mannschaft zu zechen.
Seine Männer waren Nachbarn und Verwandte. Er arbeitete schon seit Jahren mit ihnen zusammen, zuerst als einfacher Seemann im Dienst seines Vaters und jetzt, nachdem sein Vater vor fünf Jahren an Lungenfäule gestorben war, als Kapitän.
Plötzlich spürte Fiamo, dass das Boot sich ein klein wenig zur Seite neigte, und er hörte die Tritte schwerer Stiefel auf der Laufplanke. Er blickte auf und grinste, als der alte Marro auf Deck kam, in den Händen einen irdenen Krug und einen großen Fladen Brot.
»Vorräte«, sagte der Mann. »Wie du befohlen hast.«
»Das wurde auch Zeit«, erwiderte Fiamo schroff. »Ich dachte, du...«
»Kapitän!« Der Ruf kam von Harro, dem jüngsten Mitglied von Fiamos Mannschaft, dem Sohn eines Nachbarn. Fiamo hörte Unsicherheit und einen warnenden Unterton in der jungen Stimme. Harro stand am Bug, den Blick auf das kleine Dorf gerichtet.
»Hm?«
»Da kommt... da kommt ein Rudel Worns die Straße herunter. Es sind vielleicht zehn Tiere.« »Da kommt was?«
Fiamo rappelte sich hoch, und einen Moment lang trübten das Gewürzwasser und die plötzliche Bewegung seine Sicht. Als sein Blick wieder klarer wurde, sah er, was der Junge entdeckt hatte. Meran war der größte Hafen an diesem Küstenabschnitt, aber das zugehörige Dorf war eher klein. Am Ende des Piers begann eine Straße, die stetig in die gewellten Hügel emporstieg. Und über diese Straße kam jetzt eine wogende, springende Masse schwarzer Geschöpfe.
»Mögen die Götter uns schützen«, stieß er hervor und machte mit einer Hand das Zeichen des Kreises. »Die Leinen los! Läute die Glocke!«
Er hatte einmal im Licht eines vollen Mondes einen Worn gesehen. Das Tier war gewaltig gewesen, und wahrscheinlich hatte seine Furcht es ihm so groß erscheinen lassen. Diese Worns waren noch größer, als er es sich in seiner Fantasie jemals ausgemalt hatte. Auch das Sonnenlicht schien ihnen nichts anhaben zu können. Sie liefen mit geschmeidigen, gut aufeinander abgestimmten Bewegungen die Straße hinunter auf das Schiff zu.
»Beeilt euch«, fuhr er seine Männer an.
Die Seeleute waren aufgestanden, um sich dieses unmögliche Bild anzusehen. Auf seinen Befehl hin sprangen sie jetzt an die Seile. Fiamo trat an die Reling und rief den anderen Fischern, die im Hafen vor Anker lagen, eine Warnung zu. Dann begann sein eigenes Boot zu schaukeln, während seine Männer es vom Pier abstießen. Harro läutete aus Leibeskräften die Warnglocke.
Die Segel wurden heruntergelassen, blieben jedoch schlaff. Fiamo stellte fest, dass sein Herz hämmerte. Er beobachtete, wie die wenigen Dorfbewohner, die sich noch im Freien aufhielten, die Tiere sahen und in ihre Häuser flüchteten. Der Abstand zwischen seinem Boot und dem Pier wurde nur langsam größer. Das Stück Straße zwischen den Worns und dem Pier schrumpfte sehr viel schneller zusammen.
»An die Ruder!«, rief er.
Die Männer beeilten sich, seinem Befehl Folge zu leisten. Die näher kommenden Worns hatten inzwischen ebenen Boden erreicht. Jetzt wurde eine Gestalt mitten zwischen den Tieren sichtbar, und Fiamo keuchte ungläubig auf.
»Ein Mann! Auf einem von ihnen reitet ein Mann!«, schrie Harro.
Zur gleichen Zeit beschleunigte sich die Fahrt des Bootes, als zu beiden Seiten Ruder ins Wasser eingetaucht wurden. Fiamo blickte zum Pier hinüber. Die anderen Boote, die kleiner und leichter waren, waren schneller vorangekommen. Sein Boot war es, das dem Pier nun am nächsten war. Obwohl er bezweifelte, dass selbst Worns von dieser Größe so weit springen konnten, sagte irgendetwas ihm, dass er noch nicht außer Gefahr war.
Das Rudel ergoss sich wie eine schwarze Flut durch das Dorf. Fiamo konnte den Reiter inzwischen besser sehen, einen Mann, der mit Gewändern angetan war, wie kein gewöhnlicher Sterblicher sie trug. Das Boot befand sich mehr als zwanzig Schritte vom Pier entfernt und nahm Geschwindigkeit auf, da die Furcht der Mannschaft zusätzliche Kraft verlieh. Die Worns schenkten den Häusern keinerlei Beachtung. Sie sprangen auf den Pier und strichen an deren Außenkanten entlang. Der Reiter betrachtete die flüchtenden Boote, dann kehrte sein Blick zu Fiamos Boot zurück. Er hob die Hand. Fiamo holte tief Luft, darauf gefasst, sich dem Befehl des Fremden, zurückzukehren, zu widersetzen. Keine Stimme wehte über das Wasser. Stattdessen wurde die Fahrt des Bootes jäh gebremst.
Dann schoss es rückwärts.
Die Riemen verkeilten sich in ihren Dollen. Die Seeleute mühten sich vergebens mit ihnen ab. Der Junge stieß ein schrilles Kreischen aus. Andere schrien die Namen der Götter. Fiamo hockte sich hin, gelähmt vor Angst, während sein Boot zum Ufer zurückjagte wie eine Frau, die soeben ihren verlorenen Geliebten erblickt hatte.
Wir werden gegen den Pier krachen, dachte er.
Im letzten Moment verlangsamte sich die Fahrt des Bootes. Noch bevor es gegen den Pier stieß, sprangen die Worns an Bord. Zu beiden Seiten spritzte Wasser auf, als die Männer, die schwimmen konnten, sich über die Reeling stürzten. Ich sollte ihnen folgen, dachte er, aber er blieb, wo er war. Verfluchter Narr, der ich bin. Ich kann mich nicht dazu überwinden, mein Boot einfach aufzugeben.
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Wenn dieser Mann die Tiere beherrschen konnte, dann brauchte er, Fiamo, nur den Mann zu fürchten. Mit einem Mann ließ sich verhandeln.
Trotzdem hämmerte Fiamos Herz in seiner Brust, als die Worns an ihm vorbeipreschten. Die Zungen baumelten ihnen aus dem mit scharfen Zähnen bewehrten Maul. Einige der Geschöpfe umkreisten ihn, setzten aber nicht zum Sprung auf seine Kehle an. Als hinter ihm Schmerzensschreie laut wurden, drehte er sich um, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er mehrere Worns sah, die einige seiner Männer an Armen und Beinen gepackt hatten. Sie zogen sie jedoch nur von der Reling weg und warfen sie nicht auf das Deck. Durch das zusätzliche Gewicht lag das Boot jetzt tief im Wasser. Kurz darauf hörte Fiamo das Geräusch von Holz, das über Holz scharrte, und er fuhr herum. Die Laufplanke bewegte sich ohne menschliches Zutun an den Rand des Decks. Als sie schließlich auf dem Pier ruhte, kam der Fremde an Bord geritten. Er ließ sich von seinem Reittier gleiten und starrte Fiamo an.
»Kapitän«, sagte der Mann mit einem eigenartigen Akzent. »Befiehl deinen Männern, an die Ruder zu gehen.«
Fiamo zwang sich, die ihm verbliebenen Seeleute zu betrachten, die sich nebeneinanderkauerten, umringt von Worns. Einige murmelten Gebete.
»Ihr habt ihn gehört, Jungs. Zurück an die Ruder.«
Seine Stimme zitterte, aber seine Autorität genügte noch immer, um die Männer auf die Beine zu bringen. Sie schoben sich um die Worns herum zu ihren Plätzen.
»Zieht die Ruder hoch und haltet sie oben«, befahl der Zauberer.
Die Mannschaft gehorchte, und das Boot entfernte sich langsam vom Pier. Die Laufplanke glitt wie ein böses Omen ins Wasser. Fiamo beobachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie sein Boot Fahrt aufnahm und der Bug trotz der untätigen Ruderer und des Mangels an Wind durch die Wellen schnitt.
Magie, dachte er. Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass der Fremde zum Ufer zurückschaute. Fiamo folgte dem Blick des Mannes und sah eine ferne Gestalt die Straße zum Dorf hinunterreiten. Die Gestalt war weiß, und sie saß auf einem galoppierenden, weißen Reittier. Konnte das sein...?
Der Neuankömmling ritt bis zum Ende des Piers und sprang dann zu Boden. Das Boot kam so jäh zum Stehen, dass Fiamo und viele der Worns stürzten. Dann bewegte sich das Boot langsam rückwärts, und eine Welle der Erleichterung schlug über Fiamo zusammen. Er blickte zu der weißen Gestalt hinüber.
Es ist wahr! Es ist einer der Weißen.Wir sind gerettet!
Der Fremde murmelte einige Worte, und die Kraft, die sie rückwärtszog, verlor ihren Zugriff. Das Boot bewegte sich nicht mehr weiter.
»Rudert«, befahl der Fremde. »Sofort.«
Die Männer zögerten und sahen Fiamo zweifelnd an.
Die Worns knurrten.
Die Männer packten die Riemen, und Fiamo rappelte sich wieder hoch. Langsam entfernte sich das Boot von der Küste. Als die ferne Gestalt nur noch ein weißer Punkt war, kicherte der schwarze Zauberer leise. Er kehrte der Küste den Rücken zu und betrachtete das Boot und seine Mannschaft. Als er Fiamos Blick begegnete, lächelte er auf eine Art und Weise, die dem Kapitän das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Kapitän, hast du noch weitere Riemen?«
Fiamo sah sich um. Harro und der alte Marro standen mit leeren Händen da. Der Junge wimmerte, als zwei der Worns auf ihn zukamen.
»Nein«, gestand Fiamo. »Aber wir...«
Auf ein unausgesprochenes Zeichen hin setzten die Tiere zum Sprung an und packten die beiden an der Kehle. Als sich ein Schwall Blut auf die Planken ergoss, wich alle Kraft aus Fiamos Beinen, und er sank auf das Deck. Es gab keine Schreie, aber er konnte hören, wie die beiden sich zur Wehr setzten.
»Rudert weiter«, brüllte der Zauberer. Fiamo spürte, dass der Mann auf ihn zukam. Die Geräusche der Tiere, die sich an ihrem Festmahl gütlich taten, waren in der windlosen Stille nur allzu deutlich zu hören.
Der alte Marro. Der Sohn meines Nachbarn. Sie sind tot. Tot.
Der Zauberer ragte über ihm auf.
»Warum?«, hörte Fiamo sich krächzen.
Der Mann wandte sich ab. »Sie haben Hunger.«
Ein Rascheln von Tuch lenkte Fiamos Aufmerksamkeit nach oben. Die Segel blähten sich. Der Nachmittagswind war gekommen.
Wo er sie heute hinführen würde, darüber wollte Fiamo lieber nicht nachdenken.
Der Turm war höher als jeder andere, den sie je gesehen hatte. Er war so hoch, dass die Wolken auf ihrem Zug daran zerrissen ...
Nein. Nicht noch einmal.
Emerahl riss sich aus dem Traum los und schlug die Augen auf. Während des vergangenen Monats hatte der Traum sie fast jede Nacht heimgesucht. Es war jedes Mal dasselbe: Der Turm stürzte auf sie, und sie musste unter dem Schutt langsam ersticken. Wenn sie dem Traum bis zum Ende seinen Lauf ließ, erwachte sie bebend und voller Angst, daher hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, sich aufzuwecken, sobald er begann.
Schließlich würde der Traum mich ohnehin wecken. Da kannich meinen Schlaf genauso gut zu meinen Bedingungen beenden.
Sie erhob sich seufzend, goss ein wenig Wasser in einen Kessel und machte ein Feuer. Die Flammen warfen unheimliche Schatten auf die Wände des Leuchtturms – deren bedrohlichste sie selbst zeigten, mit gebeugten Schultern und wirrem Haar.
Altes Hexenweib, dachte sie und nickte dem Schatten zu. Kein Wunder, dass die Dörfler dich fürchten.
Sie hatte schon seit einigen Tagen keinen von ihnen mehr zu Gesicht bekommen. Gelegentlich fragte sie sich, ob »Klein Rinnie« noch immer ihrem Vater und seinen Spießgesellen ein Schnippchen schlug. Die meiste Zeit über genoss sie jedoch einfach die Ruhe.
Weshalb dann diese Träume?, fragte sie sich. Sie nahm einige getrocknete Blätter aus einem Krug und streute sie in einen Becher. Während das Wasser heiß wurde, begann der Kessel zu pfeifen. Sie verschränkte die Finger und grübelte über den Traum nach. Er war immer gleich. Die Einzelheiten wichen niemals von dem Gewohnten ab. Es war mehr ein Erinnerungstraum als ein gewöhnlicher Traum, aber sie hatte keine Erinnerungen wie diese. Sie war stolz auf ihr Gedächtnis und stolz darauf, dass sie niemals auch nur eine einzige ihrer Erinnerungen an die Vergangenheit unterdrückt hatte. Ob gut oder schlecht, sie akzeptierte sie als Teil der Frau, die sie war. Dieser Traum schien einem bestimmten Plan zu folgen. Es war ein Gefühl, das sie seit langer Zeit nicht mehr wahrgenommen hatte. Es erinnerte sie an einen ...an einen Traum, wie sie die Traumweber schickten!
Bei dieser Erkenntnis überlief sie ein Schauder der Überraschung, eine Regung, die selten geworden war in den letzten Jahren. Es war möglich, dass ein Zauberer oder sogar ein Priester diese Fähigkeit erlernt hatte, aber irgendetwas sagte ihr, dass es das Werk eines Traumwebers war.
Aber warum sollte ihr irgendjemand einen solchen Traum schicken? Und war er ausschließlich an sie geschickt worden oder an jeden Menschen, der empfindsam genug war, ihn zu empfangen? Sie trommelte mit den Fingern auf ihre Knie. Der Inhalt eines Traums konnte ein Fingerzeig auf seine Ursprünge sein. Sie dachte über die Türme nach, die es ihres Wissens in der Vergangenheit gegeben hatte. Keiner davon hatte Ähnlichkeit mit dem Traumturm, aber es war durchaus möglich, dass dieser lediglich für einen anderen Turm stand. Für ein anderes Gebäude, das eingestürzt war. Eine Gänsehaut überlief sie. Mirar war getötet worden, als Juran, das Oberhaupt der Zirkler, das Traumweberhaus in Jarime zerstört und ihn unter dem Schutt begraben hatte. Es hieß, sein Körper sei so übel zerquetscht worden, dass man ihn kaum mehr wiedererkennen konnte.
Bedeutete das, dass irgendjemand vom Tod Mirars träumte? Irgendjemand mit Traumwebergaben von solcher Macht, dass er oder sie den Traum laut genug aussandte, um ihn auf Emerahl in diesem entlegenen Winkel der Welt zu übertragen. Es ergab durchaus Sinn, dass ein Traumweber vom Tod seines Anführers träumte, aber warum träumte er oder sie wieder und wieder davon? Und warum sollte irgendjemand diesen Traum auf andere übertragen?
Der Kessel ratterte inzwischen leise. Plötzlich stand ihr der Sinn nicht länger nach einem Schlafmittel. Sie wollte nachdenken. Also nahm sie den Kessel vom Feuer und stellte ihn beiseite. Während das Blubbern darin langsam nachließ, hörte sie draußen den Klang leiser Stimmen.
Sie seufzte. Also kamen sie nun doch noch. Es wurde Zeit, diesen dreisten Dörflern zu zeigen, warum sie ältere Menschen respektieren sollten.
Sie stand auf und trat in den Eingang des Leuchtturms. Und tatsächlich, eine Kolonne von Männern schlängelte sich den Weg hinauf. Sie lächelte traurig und schüttelte den Kopf.
Narren.
Dann zerstob ihre Erheiterung. An der Spitze der Kolonne ging ein ganz und gar weiß gewandeter Mann.
Ein Priester! Emerahl wandte sich ab und fluchte laut. Kein Priester der Zirkler war stark genug, um sie zu bezwingen, aber jeder Einzelne von ihnen stand in direkter Verbindung zu ihren Göttern. Und sollten die Götter sie durch die Augen dieses Priesters sehen...
Sie fluchte abermals, dann lief sie wieder in den Leuchtturm. Sie griff sich eine Decke, warf die wertvollsten ihrer Besitztümer hinein und band die Decke mit einem dünnen Seil zu. Dann drückte sie sich das Bündel an die Brust und ging zur gegenüberliegenden Seite des Raums hinüber.
»Zauberin!«
Die Stimme des Dorfvorstehers. Emerahl erstarrte und zwang sich schließlich, sich zu bewegen. Sie sog Magie in sich hinein und wischte die Erde fort, die einen Teil des Bodens bedeckte. Ein großes Rechteck aus Stein wurde sichtbar.
»Komm heraus, Zauberin, sonst kommen wir hinein und zerren dich mit Gewalt nach draußen!«
Schnell! Sie zog noch mehr Magie in sich hinein und ließ das Erdreich durch die Luft fliegen. Eine Treppe erschien. Emerahl löste dicken Lehm aus dem Tunnel dahinter. Steine kamen zum Vorschein, dann eine Höhle. Zu guter Letzt räumte sie mit einem Seufzer der Erleichterung den Eingang eines Tunnels frei.
»Also schön. Wir kommen herein.«
»Ich werde um eurer Sicherheit willen als Erster gehen«, erklang eine unvertraute Stimme. Es folgte schwacher Protest. »Wenn sie eine Zauberin ist, wie ihr sagt, könnte sie gefährlicher sein, als ihr vermutet. Ich hatte schon früher mit ihresgleichen zu tun.«
Emerahl floh in den Tunnel. Nachdem sie einige Schritte in die Dunkelheit hineingetan hatte, drehte sie sich um und streckte ihren Geist aus. Erdreich wogte in den Teil des Tunnels, den sie bereits durchschritten hatte. Sie konnte nicht feststellen, ob es genügte, um ihre Flucht zu verbergen.
Dann sollte ich zusehen, dass ich wegkomme. Sie schuf ein magisches Licht. Das Licht enthüllte eine Treppe, die in die Finsternis hinabführte. Ihr Bündel fest an sich gedrückt, eilte sie hinunter.
Die Stufen schienen endlos zu sein, aber zumindest war der Tunnel nicht allzu schwer beschädigt. An manchen Stellen waren die Wände oder die Decke eingestürzt, und Emerahl musste ihren Weg mit großer Vorsicht wählen. Die Luft wurde langsam feuchter, als sie hinter sich ein schwaches Echo hörte.
Wieder stieß sie einen Fluch aus. Dieser Tunnel war seit über hundert Jahren ihr Geheimnis gewesen. Sie hätte die Schmuggler gleich nach ihrer Ankunft hier vertreiben sollen, aber sie hatte zu Recht befürchtet, dass die Nachricht von einer mächtigen Zauberin, die im Leuchtturm lebte, unerwünschte Aufmerksamkeit erregt hätte. Jetzt wurde sie von den Nachfahren dieser Schmuggler aus ihrem Heim vertrieben. Ein wilder Zorn erfasste sie. Es war eine große Versuchung, ihren Verfolgern in der Dunkelheit aufzulauern. Solange der Priester sie nicht sah, war sie in Sicherheit. Sie könnte ihn und die übrigen Männer töten, bevor sie wussten, wie ihnen geschah.
»Nichts bleibt, wie es ist. Es gibt nur eines im Leben, dessen du dir sicher sein kannst, und das ist die Veränderung.«
Das hatte Mirar gesagt. Er hatte sich der letzten und endgültigen Veränderung gegenübergesehen: dem Tod. Ein einziger Fehler, und sie würde ihm Gesellschaft leisten. Es lohnte das Risiko nicht.
Sie rannte die restlichen Stufen hinab.
Am unteren Ende der Treppe befand sich eine steinerne Tür. Sinnlos, den Mechanismus öffnen zu wollen. Er war wahrscheinlich eingerostet. Also streckte sie die Hände aus und ließ Magie durch sie hindurchströmen. Eine gewaltige Kraft schlug gegen den Stein, der mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen zerbarst. Emerahl trat auf einen schmalen Weg links neben der Tür hinaus.
Es war im Grunde weniger ein Weg als eine Felsspalte in den Klippen. Sie löschte ihr Licht und begnügte sich mit dem Schein des Mondes. Ihr alter Körper schmerzte bereits von ihrer Flucht den Tunnel hinunter. Mit zitternden Beinen eilte sie den Weg entlang, eine Hand auf den Felsen gelegt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie wagte es nicht, stehen zu bleiben und hinter sich zu blicken. Wenn ihre Verfolger das Ende des Tunnels erreichten, würde sie es hören. An dieser Stelle wölbte sich der Felsen, so dass sie wahrscheinlich bereits außer Sicht war.
Der Pfad wurde schmaler, und sie presste sich an den Felsen und schob sich, auf den Zehenspitzen balancierend, daran entlang. Schließlich spürte sie eine Lücke in der Felswand. Sie schlurfte darauf zu und zog sich in die Höhle.
Dort angekommen, streckte sie die Hand aus und schuf ein weiteres Licht. Die Höhle war niedrig, und der größte Teil des Raums wurde von einem kleinen Boot in Anspruch genommen, das Emerahl jetzt genau in Augenschein nahm. Es bestand aus einem einzigen Stück Salzholz, einem seltenen und teuren Holz, das schwer zu bearbeiten war, aber hunderte von Jahren überstand, bevor es verfaulte. Der Name, den sie vor langer Zeit auf den Bug gemalt hatte, war abgeblättert.
»Da bist du ja wieder, Windjäger«, murmelte sie und strich mit den Fingern über die feine Maserung des Holzes. »Ich habe keine Segel für dich, fürchte ich. Für den Augenblick wird uns stattdessen eine Decke genügen müssen.«
Sie griff nach dem Bug und zog das Boot auf den Eingang der Höhle zu. Als der größte Teil der Windjäger durch den Felsen ragte, versetzte sie ihr mit Magie einen festen Stoß.
Geleitet von ihrem Willen, schnellte das Boot hinaus und klatschte auf die wogende See.
Als Nächstes schickte sie ihr Bündel in das Boot hinab und hoffte, dass die zarteren Dinge darin den Aufprall überstehen würden. Eine Welle drohte, das Boot gegen die Klippen zu werfen, aber Emerahl hielt es mit ihrer Willenskraft fest. Sie trat an den Rand und holte tief Atem. Das Wasser würde sehr kalt sein.
Dann hörte sie Stimmen zu ihrer Rechten. Als sie durch den Rand des Höhleneingangs spähte, sah sie, nicht mehr als fünfzig Schritte von ihr entfernt, ein tanzendes Licht. Mit einem unterdrückten Fluch zwang sie ihren alten Körper ins Freie.
Sie stürzte.
Plötzlich war sie umgeben von flüssigem Eis. Obwohl sie sich gegen die Kälte gewappnet hatte, kostete es sie alle Kraft, nicht vor Schreck und Schmerz aufzustöhnen. Sie drehte sich um und stieß sich mit den Füßen in die Richtung, aus der das Mondlicht kam.
Als ihr Kopf die Oberfläche des Wassers durchbrach, drückte eine Welle sie gegen die Klippen. Sie griff nach weiterer Magie und stemmte sich gegen die Felswand. Wasser umbrandete sie, als sie sich mit Macht vorwärtsbewegte. Einen Moment später hatte sie das Boot erreicht.
Die Windjäger befand sich jetzt gefährlich nahe am Land, da das Meer seinen Vorteil genutzt hatte, während Emerahl damit beschäftigt gewesen war, durch seine Fluten zu schwimmen. Schließlich bekam sie den Rand des Bootes zu fassen und zog sich hinein. Einen Moment lang lag sie einfach nur da, keuchte von der Anstrengung, die die Bewegung sie gekostet hatte, und verfluchte sich dafür, dass sie ihren Körper so sehr vernachlässigt hatte.
Dann hörte sie einen lauten Ruf. Sie setzte sich auf und blickte zurück. Mehrere Männer klammerten sich an die Felswand. Der Priester war nirgends zu sehen.
Lächelnd konzentrierte sie ihren Geist auf die Klippen und stieß sich ab. Das Boot schnellte inmitten spritzender Gischt davon. Die Klippen wichen langsam zurück und mit ihnen die Dörfler, die sie aus ihrem Heim vertrieben hatten.
Bei diesem Gedanken stieß sie einen wilden Fluch aus.
»Ein Priester! Hier! Bei den Hoden der Götter, Windjäger, gibt es denn keinen Ort, an dem die Zirkler ihre giftige Saat noch nicht ausgesät haben?«
Es kam keine Antwort. Sie betrachtete den Mast, der fest im Bauch des Bootes vertäut war, und seufzte.
»Nun, was kannst du schon von diesen Dingen wissen? Du hast seit Jahren wie ein trauernder Witwer in der Höhle gelegen. So, wie die Dinge stehen, sollten wir beide uns wohl am besten daran machen, ein Segel für dich und ein neues Heim für mich zu finden.«
Als Danjin in Aurayas Empfangsraum trat, erblickte er den XX mittlerweile vertrauten, hochgewachsenen Mann am Fenster. Leiard, dachte er. Pünktlich wie immer.
Der Traumweber drehte sich um und nickte Danjin höflich zu. Als Danjin die Geste erwiderte, bemerkte er, dass das Fenster vom Atem des Traumwebers beschlagen war. Plötzlich stellten sich die feinen Härchen in seinem Nacken auf. Wie konnte sich jemand so dicht vor das Fenster stellen, wenn auf der anderen Seite ein solcher Abgrund klaffte?
Ihm war aufgefallen, dass Leiard, wenn er einen Turmraum betrat, stets zu dem Fenster hinüberging, das ihm am nächsten lag. War es die Aussicht, die ihn faszinierte? Danjin musterte den Traumweber, der nun wieder hinausblickte. Und es war ein sehr eindringlicher Blick. Beinahe so, als wolle er durch das Fenster treten und... und...
Fliehen, dachte Danjin plötzlich.
Was durchaus verständlich gewesen wäre. Hier stand er an ebendem Ort auf der Welt, an dem der Einfluss der Götter am stärksten war. Jener Götter, die den Begründer der Traumweberzunft hingerichtet hatten.
Und doch war die Nähe zu einem der Fenster das einzige Zeichen von Leiards Unbehagen, das Danjin jemals wahrgenommen hatte. Ich habe ihn noch nie erregt gesehen, aber andererseits habe ich ihn ebenso wenig entspannt gesehen. Er vermittelt den Eindruck, als habe er seine Gedanken und Gefühle zu jeder Zeit fest unter Kontrolle.
Die Tür zu Aurayas privaten Räumen öffnete sich. Als sie ihre Gäste sah, lächelte sie. Danjin machte das formelle Zeichen des Kreises, während Leiard wie immer reglos verharrte. Auraya hatte niemals zu erkennen gegeben, ob dieses Verhalten sie kränkte.
»Danjin Speer. Traumweber Leiard«, sagte sie. »Ist alles gepackt und bereit?«
Ihr Gesicht strahlte vor Aufregung. Sie war wie ein Kind, das im Begriff stand, seine erste große Reise anzutreten, die es von zu Hause fortführte. Leiard deutete auf einen abgenutzten Beutel neben einem Stuhl.
»Ich bin bereit«, erwiderte er ernst.
Auraya betrachtete den Beutel. »Das ist alles?«
»Alles, was ich je auf eine Reise mitnehme«, antwortete er.
»Unser Gepäck befindet sich bereits auf dem Schiff«, informierte Danjin Auraya. Er dachte an die drei großen Schrankkoffer, die er vorausgeschickt hatte. Einer war voller Schriftrollen, Geschenke und anderer Dinge, die mit dem Zweck ihrer Reise zusammenhingen. In einen anderen Koffer war Aurayas Habe gepackt worden. Der dritte Schrankkoffer war der größte, und in ihm befanden sich seine eigenen Kleider und andere Besitztümer. Leiard und Auraya hatten es leicht, ging es ihm durch den Kopf. Sie trugen beide den Ornat ihres Standes statt der endlos variierten Prunkgewänder, die zu tragen von ihm als Mitglied der höchsten Gesellschaftskreise Hanias erwartet wurde.
»Dann sollten wir uns jetzt auf den Weg zu Mairaes Räumen machen«, sagte Auraya. Sie trat einen Schritt zurück und bückte sich, um im Nebenzimmer etwas aufzuheben.
»Komm, Unfug. Es wird Zeit, aufzubrechen.«
In dem kleinen Käfig, den sie jetzt in der Hand hielt, hockte ihr Veez und stemmte sich mit allen vier Beinen gegen den Boden.
»Käfig schlecht«, sagte er verdrossen. »Still«, befahl sie ihm.
Zu Danjins Überraschung gehorchte das Tier. Als Auraya zur Haupttür hinüberging, hob Leiard seinen Beutel auf und sah Danjin erwartungsvoll an. Danjin verließ den Raum, und der Traumweber folgte ihm.
Als sie die Treppe hinaufgingen, kam der Käfig im Treppenhaus ihnen von oben entgegen. Darin stand ein junger Mann in einer aufsehenerregenden, förmlichen Kleidung. Danjin erkannte ihn sofort; es war Haime, einer der vielen genrianischen Prinzen. Als der Prinz Auraya sah, verneigte er sich leicht und machte das Zeichen des Kreises. Auraya nickte ihm lächelnd zu.
Sie kamen an der Tür zu Rians Räumen vorbei. Danjin dachte an die Gerüchte, die in der Stadt die Runde machten und die Rians jüngste Reise nach Süden zum Inhalt hatten. Es waren Berichte über einen gefährlichen Zauberer, der in Toren Dörfer angriff, und man war allenthalben davon ausgegangen, dass Rian damit beauftragt worden war, dem Eindringling das Handwerk zu legen. Als Rian vor einigen Tagen zurückgekehrt war, hatte Danjin eine triumphierende Erklärung erwartet, dass die Gefahr gebannt sei, aber es war nichts dergleichen erfolgt. Bedeutete das, dass Rian gescheitert war? Oder war er aus ganz anderen Gründen nach Süden gereist? Als Auraya vor Mairaes Tür stand, klopfte sie leise an. Die Tür wurde geöffnet, und die hellhaarige Weiße führte sie in ihren Empfangsraum.
»Ich bin fast fertig«, sagte sie nach einer schnellen förmlichen Begrüßung. »Macht es euch bequem.«
Ihr Gesicht war ein wenig gerötet, wie Danjin bemerkte. Sie eilte in die privaten Räume ihres Quartiers. Auraya lächelte, dann hielt sie inne und blickte Leiard fragend an. Der Traumweber sah ihr unbewegt in die Augen und zuckte die Achsein. Auraya wandte sich ab; offensichtlich war sie zufrieden mit dem, was sie in seinem Gesicht oder in seinen Gedanken gelesen hatte.
Ich bin ständig von Rätseln umgeben, dachte Danjin trocken.
Ein leises Jaulen lenkte seine Aufmerksamkeit auf Unfug zurück. Der Veez drehte sich in seinem Käfig rastlos im Kreis und blieb dann stehen, um zur Decke emporzustarren. Nun blickte auch Danjin auf und sah den anderen Veez, der über ihnen an der Decke hing.
Mairaes Veez... wie war noch gleich sein Name? Sternenstaub.
Er konnte erkennen, warum Mairae dem Tier gerade diesen Namen gegeben hatte. Der Veez war schwarz, und sein Fell war übersät mit winzigen, weißen Tupfen. Sternenstaub -ein Weibchen – sprang von der Decke auf die Rückenlehne eines Sessels, dann ließ sie sich zu Boden gleiten. Sie trat vor Unfugs Käfig hin, stellte sich auf die Hinterbeine und stieß eine Abfolge der komplizierten Zwitscherlaute aus, die die natürliche Ausdrucksform dieser Geschöpfe bildeten.
Kurz darauf wurde die Tür zu den privaten Räumen geöffnet, und Mairae kehrte zurück. Ein Diener folgte ihr mit einem kleinen Beutel. Als Mairae Sternenstaub entdeckte, rief sie ihren Namen.
»Nimmst du Unfug mit?«, fragte Mairae Auraya, als Sternenstaub auf sie zugesprungen kam.
»Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, wenn ich, den Anweisungen der Somreyaner folgend, seine Ausbildung vollenden will.«
Mairae bückte sich, um den Veez zu ihren Füßen zu streicheln. »Ich würde Sternenstaub auch gern mitnehmen, aber sie wird auf Schiffen immer seekrank.« Sie zeigte auf die Tür zu ihrem privaten Quartier. »Geh hinein.«
Sternenstaub trottete zur Tür hinüber, dann setzte sie sich hin und bedachte ihre Herrin mit einem sehnsüchtigen Blick.
»Ich werde bald wieder da sein«, versicherte Mairae dem kleinen Geschöpf. Sternenstaub stieß einen langen, übertriebenen Seufzer aus, dann verschränkte sie die Pfoten und stützte das Kinn darauf, um ihre Herrin flehentlich anzublinzeln. Mairae verdrehte die Augen.
»Kleine Ränkeschmiedin«, murmelte sie. »Wir sollten schnell aufbrechen, bevor sie zu weinen anfängt.«
»Veez weinen?«, fragte Auraya.
»Sie können keine Tränen produzieren wie Menschen, aber sie verstehen sich hervorragend darauf, einen guten Weinkrampf nachzuahmen.« Sie schloss die Tür.
»Bist du bereit für deine erste Seereise?«
»So bereit, wie man es nur sein kann«, erwiderte Auraya.
Mairae schenkte ihnen allen ein strahlendes Lächeln. »Dann brechen wir wohl am besten zum Hafen auf, bevor die Seeleute denken, wir hätten unsere Meinung geändert, und ohne uns in See stechen.«
Danjin lächelte. Als ob eins der Schiffe der Weißen jemals ohne sie aufgebrochen wäre. Er folgte Mairae aus dem Raum. Während sie darauf warteten, dass der Käfig ankam, ließ er sich die vor ihm liegende Aufgabe noch einmal durch den Kopf gehen.
Würden sich die Dinge so entwickeln, wie sie es hofften? Die Chancen standen gut, befand er. Er hätte anders gedacht, wäre seine Meinung über den Traumweber weniger günstig ausgefallen. Während sämtlicher Beratungen über die Allianz war Leiard erfrischend offen gewesen, was die Bedingungen betraf, die seine Leute kränken könnten, andererseits waren seine Gegenvorschläge stets vernünftig gewesen. Bisher hatte Danjin nicht den leisesten Grund zu argwöhnen, dass der Traumweber irgendein anderes Ziel verfolgte als die Verringerung der Konflikte zwischen seinen Leuten und den Zirklern.
Und doch war irgendetwas seltsam an Leiard. Zum einen veränderte sich sein Verhalten Auraya gegenüber von einem Augenblick zum nächsten. Manchmal war er still, und seine Haltung und seine Sprache verrieten großen Respekt; zu anderen Zeiten war sein Tonfall voller Autorität und Selbstbewusstsein. Vielleicht gewann er sein Selbstbewusstsein zurück, wenn er vergaß, wer sie war, nur um es von neuem zu verlieren, wenn es ihm wieder einfiel.
Oder gab es einen anderen Grund dafür? Danjin war sich nicht sicher. Vielleicht war es Leiards Nervosität im Umgang mit den anderen Weißen, die ihm zu schaffen machte. Obwohl Leiard während der Gespräche über die Allianz mehrmals mit Mairae zusammengekommen war, begegnete er ihr stets mit wachsamer Höflichkeit. In Dyaras Gegenwart widerstrebte es ihm offenkundig, überhaupt etwas zu sagen, obwohl das wahrscheinlich daran lag, dass die ältere Frau keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen Heiden machte. Bei einer ihrer ersten Begegnungen hatte Dyara Leiard befragt, bis Mairae einwandte, dass die Hälfte der für ihr Gespräch vorgesehenen Zeit von dem »Verhör« in Anspruch genommen werde. Danjin vermutete, dass Dyara Anstoß an Leiards Wortkargheit und seinen vagen Antworten nahm. Ihre Unzufriedenheit führte nur zu weiteren Fragen.
Einmal war Rian während einer solchen Besprechung erschienen, aber er war Leiard vollkommen gleichgültig gegenüber getreten. Juran war der einzige Weiße, in dessen Gesellschaft Danjin Leiard noch nicht erlebt hatte. Es wäre gewiss eine interessante Begegnung. Danjin vermutete, dass kaum etwas Leiard mehr Unbehagen bereiten würde als das Zusammentreffen mit dem Mann, der den Begründer seines Kults getötet hatte.
Während der Käfig langsam von unten auf sie zuglitt, fragte sich Danjin, ob Leiards Befangenheit vielleicht einfach ansteckend war. Ich fühle mich in seiner Gegenwart unbehaglich, weil er sich unter den Menschen unbehaglich fühlt, die mir so viel bedeuten.
In einem Punkt war er sich sicher: Er würde Leiard genau im Auge behalten. Die Weißen mochten schwer zu hintergehen sein, aber er hätte niemals darauf gewettet, dass etwas Derartiges unmöglich war.
Die äußeren Arme der Bucht von Jarime hatten sich während der letzten Stunde langsam enger zusammengezogen und zeigten sich jetzt als Reihen hoher Klippen zu beiden Seiten. Auraya sah voller Interesse zu, wie die Mannschaft der Herold ihre Arbeit tat. Das Schiff fuhr aus der Bucht, dann zwischen den beiden gewaltigen Felssäulen hindurch, die als die »Wächter« bekannt waren. Als sie die Gewässer der Spiegelstraße erreichten, wurde die Fahrt langsam ruhiger.
»Früher bin ich auf Schiffen immer seekrank geworden.«
Auraya sah zu Mairae hinüber. Sie saßen am Heck, wo sich entlang der Reling hölzerne Bänke zogen. Man hatte weiche Kissen für sie bereitgelegt, und ein Baldachin schirmte sie vor der grellen Sonne ab. Leiard und Danjin standen am Bug, und unten im Schiffsrumpf war eine kleine Gruppe von Dienern damit beschäftigt, ein leichtes Mahl zuzubereiten.
»Tatsächlich?«, fragte Auraya.
»Ja. Es war so schlimm, dass ich den größten Teil der Reise praktisch ohne Bewusstsein war.« Mairae legte sich eine Hand über die Augen. Das Sonnenlicht funkelte auf dem weißen Ring an ihrem Mittelfinger. »Manchmal sind es gerade die kleinsten Gaben der Götter, die ich am meisten zu schätzen weiß.«
Auraya blickte auf ihren eigenen Ring hinab, dann schaute sie zu der Tür, die zu den Räumen unter Deck führte.
»Ich hoffe, dass Leiard und Danjin die Reise gut verkraften werden.«
»Der Traumweber hat gewiss seine eigenen Methoden, um Seekrankheit zu kurieren, und Danjin hat sich wahrscheinlich Heilmittel dagegen mitgenommen. Er ist immer aufs Beste vorbereitet.«
»Ja.« Auraya lächelte. »Ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun würde.« Sie wandte sich zu Mairae um. »Du hast keinen Ratgeber?«
»Zu Anfang hatte ich jemanden, der in meinem Dienst stand. Sein Name war Wesso, aber ich habe ihn immer Westie genannt, weil er von der Insel Irian kam und sein Akzent so stark war, dass man ihn bisweilen kaum verstehen konnte. Er war fast zehn Jahre lang mein Ratgeber.« Ein geistesabwesender Ausdruck trat in ihre Augen. »Zu der Zeit brauchte ich ihn bereits nicht mehr, aber wenn ich ihn entlassen hätte, hätte ihn das zutiefst gekränkt, daher habe ich ihn bis zu seinem Tod bei mir behalten. Aber jetzt vermisse ich ihn manchmal.«
Als sie den Kummer in Mairaes Augen sah, durchzuckte Auraya ein Stich des Mitgefühls – und etwas, das an Angst grenzte.
»Hast du dich daran gewöhnt, Menschen alt werden und sterben zu sehen?«, fragte sie mit leiser Stimme.
Mairae hielt Aurayas Blick stand, und ihre Miene war ungewöhnlich ernst. »Nein, aber ich habe gelernt, auf welche Weise ich am besten trauern kann. Ich gestatte mir ein gewisses Maß an Zeit, unglücklich zu sein, dann muss das Leben weitergehen. Und ich erlaube mir nicht, im Vorhinein allzu viel darüber zu grübeln. So wie ich es sehe, darf man sich keine übertriebenen Sorgen um die Zukunft machen, wenn diese Zukunft endlos ist.«
»Du hast wahrscheinlich recht. Aber manchmal kann ich nicht umhin, mich zu sorgen. Wahrscheinlich gehört das zu den vielen Dingen, die ich noch werde lernen müssen.«
Mairae zog die Augenbrauen hoch. »Worüber machst du dir denn solche Sorgen?«
Auraya zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Oh, es sind nur... kleine Dinge. Nichts Wichtiges.«
»Du bist nach wie vor ein Mensch, Auraya. Nur weil du dich um große Dinge kümmern musst, bedeutet das nicht, dass die kleinen nicht wichtig wären. Seit ich für diese Reise Dyaras Platz als deine Lehrerin übernommen habe, ist es meine Aufgabe, all deine Fragen zu beantworten, seien sie nun bedeutend oder weniger bedeutend.«
»Ich bespreche keine unbedeutenden Angelegenheiten mit Dyara.«
Mairae grinste. »Das tue ich auch nicht. Umso mehr Grund, mit mir zu reden. Also?«
»Ich mache mir Sorgen, dass ich einsam sein werde«, gestand Auraya.
Mairae nickte. »Davor hat jeder Mensch Angst, sei er nun sterblich oder nicht. Du wirst neue Freunde finden, die an die Stelle der alten treten.« Sie lächelte. »Und auch neue Geliebte.«
Wie Haime, den genrianischen Prinzen? Auraya dachte an den Morgen zurück, an den jungen Mann, der in dem Käfig den Turm hinuntergefahren war. Sie hatte genug von seinen Gedanken aufgefangen, um zu wissen, dass er soeben aus Mairaes Quartier gekommen war – und sie hatte auf diese Weise auch erfahren, was er während des größten Teils der vergangenen Nacht getan hatte. Dieser kleine Zwischenfall hatte ihr lediglich bestätigt, dass die Gerüchte, die sich um Mairae und ihre Geliebten rankten, der Wahrheit entsprachen.
Mairae kicherte. »Nach deinem Gesichtsausdruck zu schließen, hast du von meinen Geliebten wohl bereits gehört.«
»Nur gerüchteweise«, sagte Auraya ausweichend.
»Es ist unmöglich, Geheimnisse vor den anderen Weißen zu haben, und noch schwieriger ist es, irgendetwas vor den Dienern geheim zu halten.« Sie lächelte. »Es ist lächerlich, von uns zu erwarten, dass wir bis in alle Ewigkeit keusch leben.« Mairae zwinkerte. »Die Götter haben nicht gesagt, dass wir das tun müssen.«
»Haben die Götter jemals direkt zu dir gesprochen?«, fragte Auraya, die sich die Gelegenheit, das Thema zu wechseln, nicht entgehen lassen wollte. Wenn Mairae erst begann, über ihre ehemaligen Geliebten zu sprechen, würde sie von Auraya gewiss die gleiche Offenheit erwarten – und sie war davon überzeugt, dass ihre eigenen Erfahrungen an die von Mairae nicht heranreichen konnten. »Zu mir haben sie noch nichts gesagt.«
Mairae nickte. »Manchmal.« Sie hielt inne, und ein geistesabwesender, verzückter Ausdruck trat in ihre Züge. »Yranna teilt meinen Geschmack, was Männer betrifft. Sie ist wie eine große Schwester.« Sie drehte sich zu Auraya um. »Du hast gewiss schon von Anyala gehört, Jurans großer Liebe. Alle sprechen davon, wie wunderbar treu Juran war. Das Problem ist, dass er seither keine andere Frau mehr hatte, und Anyala ist nun seit fast zwanzig Jahren tot. Dadurch sieht es jetzt so aus, als erwarte er von uns Übrigen ebenfalls, keusch zu bleiben. Du bist in diesem Punkt doch nicht seiner Meinung, oder?« Mairae sah Auraya erwartungsvoll an.
»Nein. Ich... ich hatte schon gehört, dass Juran einmal eine Ehefrau hatte«, sagte Auraya. Ihr Versuch, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, zeigte keinen großen Erfolg.
»Die beiden waren nie verheiratet«, korrigierte Mairae sie. »In diesem Punkt haben sich die Götter sehr klar ausgedrückt. Keine Ehe und keine Kinder. Juran hat seit Anyalas Tod keine andere Frau auch nur angesehen. Das ist nicht gesund. Und Dyara...« Sie verdrehte die Augen. »Dyara ist noch schlimmer. Eine typische Genrianerin und prüde bis ins Mark. Sie hatte fast vierzig Jahre lang eine tragische Liebesaffäre mit Timare. Eine körperliche Ebene hat die Beziehung zwischen den beiden jedoch nie erreicht. Ich glaube, sie hätte es nicht ertragen können, wenn wir anderen sie nackt in Timares Gedanken hätten sehen können. So wie sie sich benimmt, so heimlichtuerisch, bringt sie die Menschen auf den Gedanken, die Liebe sei etwas, dessen man sich schämen müsse.« »Timare?«
»Ihr Lieblingspriester«, sagte Mairae. Dann musterte sie Auraya forschend. »Du hast nichts davon gewusst?«
»Ich bin Hohepriester Timare vor meiner Auserwählung nur ein- oder zweimal begegnet.«
Mairae zog die Augenbrauen hoch. »Ich verstehe. Also hält Dyara euch beide voneinander fern. Sie möchte wahrscheinlich verhindern, dass du von ihrem kleinen Geheimnis erfährst.« Sie trommelte mit den Fingern auf die Bank. »Hat sie dir irgendwelche Anweisungen gegeben, wie du dich in Angelegenheiten des Herzens – und des Schlafzimmers – zu verhalten hast?«
Auraya schüttelte den Kopf.
»Interessant. Nun, lass dir von Dyara nicht ihre spießigen Vorstellungen von Tugend aufzwingen. Das würde dir nur Einsamkeit und Verbitterung eintragen.«
»Was... was ist mit Rian?«, fragte Auraya, die den Versuch, das Thema zu wechseln, nun endgültig aufgab und stattdessen danach trachtete, andere Personen zum Gegenstand des Gesprächs zu machen.
Mairae rümpfte angewidert die Nase. »Ich glaube nicht, dass er dazu in der Lage ist«, murmelte sie. Dann verzog sie das Gesicht. »Das ist grausam und ungerecht. Rian ist ein ganz zauberhafter Mensch. Aber er ist so... so...«
»Fanatisch?«
Mairae seufzte. »Ja. Nichts könnte jemals zwischen Rian und die Götter kommen. Nicht einmal die Liebe. Damit könnte eine Frau leben, aber nicht damit, ständig daran erinnert zu werden.«
Bin ich vielleicht genauso?, fragte sich Auraya. In den Jahren seit ihrer Weihe zur Priesterin hatte sie einige Male geglaubt, verliebt zu sein, aber das Gefühl des Jubels und der Zugehörigkeit hatte niemals mehr als wenige Monate überdauert. Wenn sie an die Götter dachte, empfand sie eine Ehrfurcht, die um ein Vielfaches tiefer ging als diese anderen Regungen. Wenn es Liebe war, so ließ sie sich in keiner Weise mit den irdischen Gefühlen vergleichen, die sie für diese Sterblichen empfunden hatte. Warum konnte das eine keinen Raum für das andere lassen?
»Er geht ein wenig hart mit sich ins Gericht, weil er den Pentadrianer verloren hat«, fügte Mairae hinzu.
»Ja«, pflichtete Auraya ihr eifrig bei. Endlich hatte Mairae sich einem anderen Thema zugewandt. »Glaubst du, dass der Pentadrianer zurückkommen wird?«
Mairae verzog das Gesicht. »Vielleicht. Böse Menschen lassen sich selten für lange Zeit aufhalten. Wenn sie Unheil stiften und damit durchkommen, versuchen sie es im Allgemeinen noch einmal.«
»Wird Juran Rian dann auf den südlichen Kontinent schicken?«
»Ich bezweifle es. Dieser Zauberer ist fast genauso stark wie Rian. Ich glaube nicht, dass es im Süden andere gibt wie ihn, aber es gibt jede Menge Pentadrianer, die mit ebenso großen Gaben gesegnet sind wie unsere Hohepriester dort. Mit ihrer Hilfe könnte er eine echte Gefahr für Rian darstellen. Nein, wenn wir ihn besiegen wollen, werden wir warten müssen, bis er zu uns kommt.«
Auraya schauderte. »Ich werde mich erst wieder sicher fühlen, wenn ich weiß, dass er tot ist.«
»Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf.« Mairaes Züge nahmen einen Ausdruck an, den Auraya bisher nur bei älteren Menschen gesehen hatte. »Es hat stets mächtige Zauberer gegeben, Auraya. Einige waren mächtig genug, um ohne die Hilfe der Götter Unsterblichkeit zu erringen. Wir haben sie immer besiegt.«
»Die Wilden?«
»Ja. Die Macht hat eine seltsame Neigung, Menschen zu verderben. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir die Leitung der Götter haben und in dem Bewusstsein leben, dass man uns unsere Gaben wieder wegnehmen kann, falls wir uns dem Bösen zuwenden. Die traurige Wahrheit der Welt ist die, dass die meisten Menschen, die über große magische Macht verfügen, diese Macht nicht zum Guten nutzen. Ihre Ziele sind im Allgemeinen selbstsüchtig, und niemand ist stark genug, um sie für ihre Missetaten zur Rechenschaft zu ziehen.«
»Niemand außer uns.«
»Ja. Und indem wir mit Gaben gesegnete Menschen dazu ermutigen, Priester zu werden, sorgen wir dafür, dass wir die neuen Zauberer unter Kontrolle halten können.«
Auraya nickte. »Ist dieser Zauberer einer der alten Wilden?«
Mairae runzelte die Stirn. »Einige wenige sind Juran und Dyara entkommen: eine Frau, die als die Hexe bekannt war, ein Junge, der es immer mit dem Meer und den Seeleuten hatte und den Namen die Möwe trug, und außerdem zwei Geschwister, die als die Zwillinge bekannt waren. Diese Wilden sind seit hundert Jahren nicht mehr gesehen worden. Juran glaubt, sie seien vielleicht auf die andere Seite der Welt gereist.«
»Keiner von ihnen klingt so, als könnte er dieser Zauberer sein.«
»Nein. Er ist ein neuer Wilder, falls er überhaupt einer ist. Die Götter haben uns gewarnt, dass etwas Derartiges geschehen könnte. Alle tausend Jahre werden einige von ihnen geboren. Wir müssen uns ihrer entledigen, wenn sie erscheinen. Für den Augenblick müssen wir beide jedoch erst einmal eine Allianz aushandeln.« Sie grinste.
»Und du solltest das Beste aus der Zeit machen, in der du frei bist von Dyaras Joch.«
»So schlimm ist sie gar nicht.«
»Lügnerin. Vergiss nicht, sie war auch meine Lehrerin. Ich weiß, wie sie ist. Das ist mit ein Grund, warum ich erklärt habe, ich könne nicht ohne dich auskommen. Sie hat versucht, Juran davon zu überzeugen, dass du zu unerfahren seist, aber er weiß, dass diese Aufgabe durchaus im Bereich deiner Möglichkeiten liegt.«
Auraya sah Mairae an und mühte sich, eine Antwort zu finden. Ein vertrauter Ruf bewahrte sie vor weiteren Überlegungen.
»Owaya! Owaya!«
Ein Veez kam über das Deck gehuscht, brachte beinahe zwei der Matrosen zu Fall und sprang auf Aurayas Schoß. Als Unfug sich daranmachte, Aurayas Gesicht zu lecken, lachte Mairae entzückt auf.
»Halt! Genug!«, protestierte Auraya. Als der Veez sich beruhigt hatte, sah sie ihn missbilligend an. »Wie bist du herausgekommen?«
Der Veez blickte hingebungsvoll zu ihr auf.
»Ich glaube, er hat wieder einmal das Schloss seines Käfigs geknackt«, erwiderte eine Männerstimme. Leiard schlenderte über das Deck auf sie zu. Bei seinem Anblick beschleunigte sich Aurayas Herzschlag. Er hatte in seiner Rolle als Ratgeber größeren Nutzen bewiesen, als sie je gehofft hatte. Es tat so gut, auf dieser Reise seine Gesellschaft zu haben. Seine Gegenwart verlieh ihr Zuversicht.
»Käfig schlecht«, murmelte der Veez.
»Ich habe die Diener über ihn schimpfen hören und mich erboten, ihn zurückzubringen«, erklärte Leiard ihr.
»Vielen Dank, Leiard.« Sie seufzte. »Ich nehme an, er wird es einfach wieder tun. Am besten, er bleibt gleich bei mir.«
Leiard nickte. Er schaute einen Moment lang zu Mairae hinüber, dann senkte er den Blick auf das Deck.
»Mairae von den Weißen«, sagte er.
»Traumweber Leiard«, erwiderte sie.
Er wandte sich wieder Auraya zu. »Ich werde den Dienern Bescheid geben, dass er bei dir ist.«
Als er davonging, stieß Mairae einen leisen Seufzer aus. »Ich mag hochgewachsene Männer. Er hat schöne Augen. Ein Jammer, dass er ein Traumweber ist.«
Auraya starrte die andere Weiße erschrocken an, und Mairae lachte. »Oh, Auraya. Du bist fast so prüde wie Dyara. Ich habe nicht ernstlich die Absicht, ihn in mein Bett zu nehmen, aber ich glaube nicht, dass es verwerflich ist, die Vorzüge eines Mannes zu bewundern – ebenso wenig wie es verwerflich ist, ein besonders gut gezüchtetes Reyna oder eine Blume zu bewundern.«
Auraya schüttelte tadelnd den Kopf. »Es ist überhaupt nichts Verwerfliches daran, nur dass ich nicht auf diese Weise über die Männer um mich herum denken möchte.«
»Warum nicht?«
»Ich muss mit ihnen zusammenarbeiten. Und es würde mich zu sehr ablenken, wenn ich mich fragte, wie sie im Bett wären.«
Mairae kicherte. »Du wirst deine Meinung vielleicht ändern, wenn dir klar wird, wie viele lange, zähe Besprechungen du in Zukunft noch über dich ergehen lassen musst.«
Darauf fiel Auraya keine Erwiderung ein.
Eine Dienerin kam zum Heck herübergeeilt und machte das Zeichen des Kreises. »Die Mittagserfrischungen sind bereit«, sagte sie. »Soll ich sie euch hier her aufbringen?«
»Ja, vielen Dank«, antwortete Mairae. Dann stand sie auf und blickte auf Auraya hinab.
»Ich schätze, wir werden gleich herausfinden, wie gut dein Ratgeber mit dem Reisen zur See fertig wird.«
Auraya lächelte und setzte sich den Veez auf die Schulter. »Ich schätze, du hast recht.«
Es gibt eine bestimmte Art von Erregung, die Menschen befällt, wenn sie sich dem Ende einer Reise nähern. Für die Mannschaft der Herold hatte es mit der komplizierteren Aufgabe zu tun, das Schiff in einen Hafen zu steuern, in dem bereits zahlreiche andere Schiffe vor Anker lagen. Im Falle der Passagiere war es die Vorfreude darauf, die Unannehmlichkeiten des Schiffes hinter sich zu lassen; hinzu kamen noch die Hoffnungen und Zweifel angesichts dessen, was ihnen an ihrem Bestimmungsort vielleicht widerfahren würde.
Leiard betrachtete Aurayas Ratgeber, der auf der anderen Seite der beiden sitzenden Weißen stand. Danjin Speer war intelligent und kenntnisreich, und er hatte sich Leiard gegenüber respektvoll gezeigt, auch wenn er mit gelegentlichen Bemerkungen seine Abneigung gegen die Traumweber im Allgemeinen offenbart hatte.
Er wandte seine Aufmerksamkeit Mairae zu. Abgesehen von Auraya war sie von allen Weißen diejenige, die ihm am freundlichsten begegnete. Ihre Herzlichkeit schien ein natürlicher Teil ihres Wesens zu sein und nichts Einstudiertes, aber es war offenkundig, dass sie hochgeborene Gesellschaft bevorzugte. Obwohl sie Mitgefühl mit den Armen hatte und voller Lob war für die hart arbeitenden Kaufleute und Handwerker, behandelte sie sie nicht genauso, wie sie die Reichen und Mächtigen behandelte. Er vermutete, dass sie im Geiste die Traumweber irgendwo zwischen den Armen und den Handwerkern ansiedelte und ihnen wahrscheinlich eher Mitleid als Verachtung entgegenbrachte.
Ganz anders als Auraya, die die Traumweber weder bemitleidete noch verachtete. Leiard blickte auf sie hinab und konnte sich eines Anflugs von Stolz nicht erwehren. Alles andere wäre ihm auch schwergefallen, wenn er bedachte, was sie erreicht hatte. Die übrigen Weißen hatten ihn und seinen Rat akzeptiert, auch wenn einige von ihnen es nur widerstrebend taten.
Sie verlassen sich darauf, dass ich diese Allianz für sie aushandeln werde. Wer hätte das geahnt? Die Auserwählten der Götter verlassen sich auf einen Traumweber.
Ein Schwall kalter Luft fuhr über sie hinweg und führte das Schiff noch näher an die Stadt heran. Die quadratischen Weißsteinhäuser von Arbeem waren auf einem Hang erbaut worden, der steil zum Wasser hin abfiel. Sie sahen aus wie achtlos hingeworfene, übergroße Treppenstufen. Immer wieder wurde die weiße Fläche von Grün durchbrochen. Die Somreyaner liebten Gärten.
In der Mitte des Hafens stand auf einer massiven Säule eine riesige Statue. Der verwitterte Zustand, in dem sie sich befand, ließ auf ein ungeheuer hohes Alter schließen und machte das Antlitz der Statue beinahe unkenntlich. Eine Erinnerung blitzte durch Leiards Geist und erschütterte ihn mit ihrer Stärke. Was er vor seinem inneren Auge sah, war dieselbe Statue, nur weniger verwittert. Auch ein Name tauchte in seinem Gedächtnis auf.
Svarlen. Der Gott des Meeres.
Es musste eine Netzerinnerung sein – und obendrein eine sehr alte. Als das Schiff daran vorbeifuhr, blickte Leiard zu dem Koloss auf und ließ das alte Bild von der noch neueren Statue sich über das reale Augenblicksbild der Skulptur legen. Er hörte den Ruf eines Horns und wandte sich wieder der Stadt zu.
Ein Boot kam ihnen entgegen, vorwärtsgetrieben von Ruderern. Es hatte einen breiten Rumpf, war auf aufsehenerregende Weise geschmückt und trug auf seinem Segel das aufgemalte Emblem des Ältestenrats.
Der Kapitän der Herold gab mit lauter Stimme einen Befehl. Das Segel wurde eingeholt, und das Schiff drosselte seine Fahrt. Als das Boot des Rats längsseits ging, warfen beide Mannschaften Leinen aus und machten die beiden Schiffe aneinander fest.
An Bord des Bootes standen drei anscheinend wichtige Personen, von denen jede die goldene Schärpe trug, die sie als Mitglieder des Ältestenrats auswies. Auf der linken Seite stand ein stämmiger, grauhaariger Hohepriester. Sein Name war Haleed, wie Leiard sich erinnerte. Auf der rechten Seite erblickte er eine Frau in mittleren Jahren, die ein Traumweberwams trug. Dies musste Arleej sein, die Traumweberälteste. Das Oberhaupt seines Standes.
Er hatte sich auf die Begegnung mit dieser Frau gefreut. In den Sendschreiben, die über Priester in beiden Ländern zwischen dem Rat und den Weißen hin und her gegangen waren, hatte Leiard Hinweise auf eine stolze Frau mit einem scharfen Verstand gesehen. Stolz war eine Eigenschaft, die zur Schau zu stellen Traumweber im Allgemeinen nicht ermutigt wurden, aber ebenso wenig war es rühmlich, sich ein allzu schnelles Urteil zu bilden, rief er sich ins Gedächtnis. Das Oberhaupt der Traumweber würde in diesem Zeitalter sehr stark sein müssen.
Der dritte Mann auf dem Boot, der zwischen den anderen stand, war dünn und hochbetagt, aber obwohl er einen Gehstock in Händen hielt, war sein Blick klar und aufmerksam. Dies, so vermutete Leiard, war der Vermittler des Rats, Meeran. Auraya und Mairae erhoben sich von ihren Sitzplätzen, dankten dem Kapitän der Herold und gingen dann auf das Boot hinüber, das man zu ihrer Begrüßung ausgesandt hatte. Leiard und Danjin folgten ihnen, wobei der Ratgeber Unfug in seinem Käfig trug. Das Veez brabbelte verdrossen vor sich hin. Während der Reise hatte Auraya ihn gelehrt, die Gefangenschaft als Gegenleistung für großzügige Belohnungen zu ertragen. Trotzdem währte seine Duldung des Käfigs nie länger als eine Stunde.
Sobald die Weißen an Bord waren, trat Meeran vor.
»Willkommen in Somrey Auserwählte der Götter.« Er verbeugte sich leicht, dann machte er das formelle Zeichen des Kreises. »Ich bin Vermittler Meeran. Es ist uns eine Freude, dich wiederzusehen, Mairae Edelsteinschmiedin, und eine Ehre, das erste fremde Land zu sein, das Auraya Färberin empfangen darf.«
Arleej schaute zu Leiard hinüber. Der Blick war eindringlich und fragend, und er spürte Zweifel und Argwohn. Er neigte den Kopf, und sie hob zur Antwort kurz das Kinn.
»Wir sind hocherfreut, eure schönen Inseln besuchen zu dürfen, Vermittler Meeran«, erwiderte Mairae, »und es macht mich glücklich, meine Bekanntschaft mit dir und den übrigen Ratsmitgliedern erneuern zu können.« Sie sah zu Haleed und Arleej hinüber. Die beiden neigten den Kopf und murmelten eine Antwort.
»Ich habe mich darauf gefreut, einen jeden von euch kennenzulernen«, sagte Auraya mit einem strahlenden Lächeln. Arleejs Mundwinkel bogen sich kurz nach oben, aber ihr Lächeln reichte nicht bis zu ihren Augen. »Ich habe viel über die Schönheit eures Landes gehört und hoffe, mir ein wenig davon ansehen zu können«, fügte Auraya hinzu, »wenn mir die Zeit dazu bleibt.«
Mit anderen Worten, wenn wir diese Angelegenheit schnell unter Dach und Fach bringen können, ging es Leiard durch den Kopf.
»Dann müssen wir eine Besichtigungsreise für dich veranlassen.« Meerans Lächeln war echt. Jetzt wanderte sein Blick an Mairae vorbei zu Danjin hinüber. »Du musst Danjin Speer sein. Ich hatte das Vergnügen, in jüngeren Jahren mit deinem Vater Handel zu treiben.«
Danjin lachte leise. »Ja. Er hat viele Male ebenso bewundernd wie vernichtend von deiner Fähigkeit zu feilschen gesprochen.«
Meerans Lächeln wurde breiter. »Das kann ich mir denken, aber ich möchte gern glauben, dass diese Fähigkeiten jetzt zu einem besseren Zweck eingesetzt werden, zum Wohle des Volkes.« Er schaute kurz zu Auraya hinüber, und Leiard fragte sich, ob ihr die unterschwellige Warnung in den Worten des Mannes aufgefallen war. Dann wandte Meeran sich an Leiard. »Und du musst Traumweberratgeber Leiard sein.«
Leiard nickte.
»Bist du schon früher in Somrey gewesen?« »Ich habe Erinnerungen an dieses Land, aber sie sind schon sehr alt.«
Arleejs Augenbrauen zuckten in die Höhe.
»Dann heiße ich dich erneut willkommen in meiner Heimat, Traumweber«, sagte Meeran. »Ich freue mich darauf zu erfahren, wie du zu dieser einzigartigen und vielversprechenden Position als Traumweberratgeber bei den Weißen gelangt bist. Und nun«, er drehte sich um und klatschte in die Hände, »werden wir euch einige Erfrischungen anbieten.«
Das Boot hatte sich von dem Schiff entfernt, und die Ruderer waren wieder ans Werk gegangen. Meeran geleitete die Besucher zu den Sitzbänken hinüber und betrieb höfliche Konversation, während einige Diener Gläser mit einem warmen, gewürzten Getränk brachten, das Ahm genannt wurde.
Eine hohe Mauer begrenzte die Stadt. Darauf befand sich eine lange Reihe von Menschen, wobei diejenigen, die ganz vorn saßen, die Füße über den Rand baumeln ließen. Als das Boot näher an die Mauer herankam, konnten sie die Rufe dieser Menschen hören. Auraya und Mairae winkten, und die Menge brach in Jubel aus.
Das Boot legte nicht vor der Mauer an, sondern fuhr weiter. Leiard sah bewaffnete Wachen, die den Zuschauern den Zutritt zu einem bestimmten Teil des Docks verwehrten. Dort standen nur Priester und Priesterinnen, und ebendiesen Bereich steuerte das Schiff nun an.
Entlang der Kaimauer waren solide, hölzerne Gehwege gebaut worden. Als sie ihr Ziel erreichten, zogen die Männer ihre Ruder ein. Einige von ihnen vertäuten das Boot am Kai, während andere eine geschnitzte und bemalte Brücke für die Besucher herabließen.
Sie gingen von Bord, und Meeran führte sie eine Treppe hinauf. Oben auf der Mauer starrten die Priester und Priesterinnen Mairae und Auraya an, und ihre Ehrfurcht war so machtvoll, dass Leiard sie mühelos auffangen konnte. Die Hohepriester traten vor, um sich von Haleed vorstellen zu lassen. Als Leiard den Blick weiterwandern ließ, wurde ihm bewusst, dass er sich innerhalb des Tempels von Arbeem befand. Das Gebäude war von bescheidenerer Machart als die in Jarime und im gleichen Stil gebaut wie die meisten Häuser der Stadt – einstöckig und schmucklos.
Als Leiard seinen Namen hörte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Menschen um sich herum. Die Hohepriester betrachteten ihn mit unterdrückter Neugier und Zweifel. Nachdem alle miteinander bekanntgemacht worden waren, erklärte Arleej, dass sie sich verabschieden müsse.
»Ich muss ins Traumweberhaus zurückkehren. Wir vollziehen heute Abend die Frühlingsvernetzung«, erklärte sie. Dann wandte sie sich an Leiard. »Möchtest du an der Zeremonie teilnehmen, Traumweber Leiard?«
Sein Pulsschlag beschleunigte sich. Eine Vernetzung und eine Chance, sich mit einem anderen Traumweber zu beraten, was seine eigenartigen Erinnerungen betraf. »Es wäre mir eine Ehre«, antwortete er langsam. »Aber möglicherweise werde ich hier benötigt.«
»Nicht heute Abend, Leiard«, sagte Auraya. Sie sah ihm gelassen in die Augen und nickte beinahe unmerklich. Geh zu deinen Leuten, schien ihre Miene zu sagen. Zeig ihnen, dass man dir vertrauen kann. »Aber wir werden uns morgen früh mit dir beraten wollen«, fügte sie hinzu.
»Dann werde ich an der Zeremonie teilnehmen«, erklärte er. »Und noch heute Abend zurückkehren.«
Arleej nickte. »Ich freue mich darauf, euch alle morgen wiederzusehen«, sagte sie mit einer höflichen Verbeugung. Als sie sich abwandte, trat ein Priester vor und erbot sich, sie durch den Tempel zu führen.
Die Traumweberälteste schwieg, während sie dem Priester folgten. Nach kurzer Zeit traten sie aus dem Gebäude in einen Irmenhof hinaus. In der Nähe standen ein vierrädriger Tarn mit Verdeck und ein Fahrer für sie bereit.
»Der Hohepriester wollte uns durch die Haupttore schicken«, sagte sie, »aber ich habe darauf bestanden, dass wir diesen Weg nehmen. Vor dem Tempel haben sich gewiss viele Menschen eingefunden, was uns das Durchkommen schwergemacht hätte.«
Leiard nickte. Wollte sie damit andeuten, dass die Menge möglicherweise gefährlich war oder dass sie ihnen einfach den Weg versperren würde? Obwohl Somrey die Nation war, die den Traumwebern mit der größten Toleranz begegnete, gab es in jedem Land kleine Gruppen, deren Meinung von der der Mehrheit abwich.
Der Tarn war schlicht und schmucklos und der Fahrer ein Dienstmann. Leiard ließ sich auf der Sitzbank neben Arleej nieder. Die Traumweberälteste nannte dem Fahrer ihr Ziel, und schon bald rollten sie durch die schmalen, überfüllten Straßen der Stadt.
Während der Tarn sich dem Traumweberhaus näherte, dachte Arleej über ihren Begleiter nach. Er war nicht das, was sie erwartet hatte, aber andererseits waren ihre Erwartungen nicht besonders konkret gewesen. Sie hatte einfach damit gerechnet, dass der Mann, der nach Somrey kam, weniger wie ein Traumweber und mehr wie ein Zirkler sein würde.
Leiard war jedoch durch und durch Traumweber, das konnte sie deutlich spüren. Die Art, wie er ihre Fragen beantwortete, erinnerte sie stark an ihren Lehrer. Keefler hatte das Jahr seiner Geburt nicht gekannt und den größten Teil seines Lebens an einem entlegenen Ort zugebracht. Auch er war still und wachsam gewesen.
Die Antworten auf ihre Fragen, was seine Beziehung zu Auraya von den Weißen betraf, hatten sie so sehr verblüfft, dass sie in Schweigen verfallen war. Er hatte die junge Frau als Kind unterrichtet und gehofft, sie würde seine Schülerin werden. Stattdessen war sie zu den Zirklern gegangen. Wenn Arleej eine solche Enttäuschung erlitten hätte, bezweifelte sie, dass sie imstande gewesen wäre, ihrer ehemaligen Schülerin ohne Groll gegenüberzutreten. Leiard dagegen schien ihre Entscheidung und ihre Erhebung in den Stand einer Weißen akzeptiert zu haben. Er bezeichnete sie tatsächlich als Freundin.
Das alles schien zu gut zu sein, um wahr sein zu können. Dass die Götter eine Frau erwählt hatten, die von einem Traumweber unterrichtet worden war und die dem Traumweberkult wohlwollend gegenüberstand, war unglaublich. Noch unglaublicher war die Tatsache, dass sie die Zusammenarbeit ihrer Anhänger mit den Traumwebern duldeten. Waren sie endlich so weit, dass sie die Existenz von Heiden akzeptierten?
Sie bezweifelte es. Hundert Jahre der Verfolgung hatten die Zahl der Traumweber verringert, sie aber keineswegs ausgelöscht. Die frühen Jahre der Gewalttätigkeiten nach Mirars Tod hatten die Barmherzigen dazu getrieben, Mitgefühl mit den Traumwebern zu empfinden, und die Rebellischen veranlasst, dem Kult beizutreten. Jetzt trachteten die Götter vielleicht danach, die Heiden anzulocken, indem sie sich großzügig und wohlwollend gaben.
Sie werden scheitern, dachte sie. Solange Traumweber Netzerinnerungen von Generation zu Generation weitergeben, wird die wahre Natur der Götter nicht in Vergessenheit geraten.
Der Tarn bog um eine Ecke und kam vor einem großen Gebäude zum Stehen. Auf der Straße davor herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Leiard betrachtete die Symbole, die in die Fassade eingemeißelt waren.
»Das einzige Traumweberhaus in ganz Nordithania, das noch steht«, sagte Arleej.
»Komm mit hinein.«
Er folgte ihr in eine großzügig bemessene Halle. Drei ältere Traumweber traten vor, um Arleej zu begrüßen, wobei sie Somreyanisch sprachen. Als sie ihn als den Traumweberratgeber der Weißen vorstellte, trat ein wachsamer Ausdruck in ihre Züge. Leiard begrüßte sie auf Somreyanisch. Arleej sah ihn überrascht an. »Deine Kenntnisse unserer Sprache sind beeindruckend«, sagte sie.
Er zuckte die Achseln. »Ich kenne viele Sprachen.«
»Die Frühlingsvernetzung wird gleich beginnen«, rief eine Stimme.
Arleej bemerkte ein Funkeln in Leiards Augen. Er freut sich auf die Zeremonie, überlegte sie. Sie ging auf den Korridor zu. Leiard folgte ihr, und die drei alten Traumweber schlossen sich ihnen mit untypischem Schweigen an. Zweifellos ist ihnen klargeworden, dass er sich uns anschließen wird, dachte Arleej, und sie fragen sich, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Es ist ein Glücksspiel. Er mag mancherlei über uns in Erfahrung bringen, aber ihnen muss klar sein, dass auch wir einiges über ihn und die Weißen erfahren werden und über ihre Absichten, was die Allianz betrifft.
War Auraya das bewusst gewesen, als sie ihm gestattet hatte, den Abend im Traumweberhaus zu verbringen?
Der Flur führte zu einer großen Holztür. Arleej drückte sie auf und trat in einen runden, tiefer gelegenen Garten. Die Luft war kühl und feucht. Es waren bereits mehrere Traumweber anwesend, die einen durchbrochenen Ring formten. Leiard sah sich mit einem Ausdruck milden Erstaunens um. Geradeso, als erkenne er den Garten wieder. Arleej schloss sich dem Kreis an und trat dann beiseite, um Leiard vorbeizulassen. Die älteren Traumweber aus der Halle nahmen ihre Plätze ein. Arleej wartete, bis alles still war, dann ließ sie noch ein wenig Zeit verstreichen, bis die Ruhe des Gartens auf ihre Gedanken übergegangen war. Erst dann sprach sie die Worte des Rituals.
»Wir kommen heute Abend in Frieden zusammen und auf der Suche nach Verstehen. Unsere Gedanken sollen vernetzt werden. Unsere Erinnerungen werden zwischen uns hin und her fließen. Niemand soll spionieren oder einem anderen seinen Willen aufdrängen. Stattdessen wollen wir eines Geistes werden.«
Sie hob die Arme und ergriff die Hände ihrer Nachbarn. Zwei Geister berührten ihre Sinne, dann folgten Dutzende weiterer, als alle Traumweber ihre Hände und ihren Geist verbanden. Ein geteiltes Gefühl des Jubels machte sich breit, dann trat eine kurze Pause ein.
Bilder und Eindrücke überlagerten schnell jede Wahrnehmung der körperlichen Welt. Erinnerungen an die Kindheit vermischten sich mit jüngeren Ereignissen. Bilder von wohlbekannten Gesichtern folgten denen von Fremden. Bruchstücke von vergangenen Gesprächen hallten in den Gedanken aller Traumweber wider. Arleej machte keine Anstalten, sie in bestimmte Bahnen zu lenken; sie ließ die vereinten Gedanken fließen, wo immer sie hinfließen wollten. Langsam geschah das Unausweichliche. Alle waren neugierig auf den Neuankömmling. Während einige sich fragten, wer er sein mochte, offenbarten jene, die darüber Bescheid wussten, seine Identität. Leiard reagierte darauf, indem er seine Position als Traumweberratgeber darlegte und anschließend viele sich überlagernde Schichten von Gedanken enthüllte. Arleej verstand, dass er hoffte, seinen Leuten zu helfen. Außerdem sah sie die Zuneigung und die Bewunderung, die er für Auraya empfand. Gleichzeitig offenbarte er auch seine Angst vor den Weißen und ihren Göttern.
Arleej beobachtete mit einiger Erheiterung, dass seine Gedanken sich nun im Kreis zu drehen begannen. Wann immer er sein Misstrauen und seine Abneigung gegen die Götter und die Weißen berührte, schenkte ihm der Gedanke an Auraya neue Zuversicht. Obwohl er glaubte, dass sie ihm oder anderen Traumwebern nicht wissentlich Schaden zufügen würde, war er nicht töricht genug, anzunehmen, dass sie es nicht doch tun würde, sollten die Götter es ihr befehlen. Er war der Meinung, dass es das Risiko wert sei.
Alle waren erleichtert zu sehen, dass er zum Wohle seiner Leute mit Auraya zusammenarbeitete, nicht um der Götter oder auch nur um Aurayas willen. Allerdings regte sich eine tiefe Furcht in ihm, wann immer er mit einem anderen Zirkler als Auraya zusammen war. Eine solche Furcht konnte nur aus Erfahrung rühren. War ihm etwas Schreckliches zugestoßen? Während Arleej diese Möglichkeit erwog, wandten Leiards Gedanken sich anderen Dingen zu, die ihm Sorgen machten. Er offenbarte ihnen, dass immer wieder ungeheißen eigenartige Erinnerungen in ihm aufstiegen. Manchmal schössen ihm Gedanken durch den Kopf, die sich nicht so anfühlten, als seien es seine eigenen. Die Neugier der anderen Traumweber wuchs.
Als Reaktion darauf traten die Erinnerungen, von denen Leiard gesprochen hatte, an die Oberfläche.
Arleej sah den »Wächter« im Hafen. Die Statue war nicht so verwittert wie jetzt, und plötzlich wusste sie, was sie darstellte. Es war ein Gott – und zwar keiner von denen, denen die Zirkler jetzt huldigten.
Sie sah ein kleineres Arbeem vor sich, mit einer halb fertigen Dockmauer. Sie sah das Traumweberhaus als neues, in leuchtenden, freundlichen Farben gestrichenes Gebäude.
Sie sah das Gesicht eines älteren Traumwebers und wusste, dass er vor Jahrhunderten einer ihrer Vorgänger gewesen war. Mit dem Bild kam ein Gedanke, und dieser Gedanke klang gar nicht nach Leiards innerer Stimme.
Ein stolzer Mann, dieser Traumweberälteste. Ich musste ihm die Idee ausreden, dem Vermittler jede Behandlung zu verweigern, obwohl der Mann es verdiente. Das war das letzte Mal, dass ich Somrey besuchthabe. Damals hatte es als Königreich noch keinen besonderen Rang – es wurde nicht einmal als Teil von Nordithania erachtet. Wer hätte es für möglich gehalten, dass ausgerechnet Somrey zu der einzigen Zuflucht für die Traumweber werden würde?
Arleejs Herz raste. Leiard hat recht, schoss es ihr durch den Kopf. Das sind nicht seine Gedanken. Sie kommen von Mirar.
Sie war schon früher auf ähnliche Netzerinnerungen gestoßen. Die meisten Traumweber trugen Bruchstücke von Mirars Erinnerungen in sich, die sie bei Vernetzungen erworben hatten. Mirar war so lange mit anderen Traumwebern vernetzt gewesen, dass noch immer viele seiner Erinnerungen existierten. Das Ritual, das Mirar geschaffen hatte, um das Verständnis unter den Traumwebern zu fördern und das Lehren zu beschleunigen, erhielt außerdem einen Teil von ihm in den Gedanken seiner Anhänger am Leben, und diese Überlegung hatte etwas Tröstliches.
Leiard trug jedoch mehr als nur Bruchstücke von Mirars Erinnerungen in sich. Sein Geist war erfüllt von so vielen Erinnerungen, dass ein wenig von Mirars Persönlichkeit an die Oberfläche gekommen war. Es war so, als kenne man jemanden so gut, dass man vorhersehen konnte, wie er sich benehmen oder was er sagen würde.
Arleej nahm die Erregung der anderen Traumweber wahr. Sie konnte spüren, wie sie gierig nach weiteren Erinnerungen suchten, aber jetzt, da Leiard über ihren Ursprung nachsann, war die Flut verebbt. Arleej konnte erkennen, dass er die Wahrheit nicht gekannt oder auch nur vermutet hatte. Er war sich nicht einmal sicher, von wem er die Erinnerungen aufgefangen hatte. Wahrscheinlich stammten sie von seinem Lehrer, obwohl er keine starke Erinnerung an den Mann -oder an die Frau – hatte. Und noch etwas anderes bereitete ihm Ungemach. Warum waren so viele seiner Erinnerungen so verschwommen?
Du hast viele Netzerinnerungen, erklärte sie ihm. Und du hast lange Jahre in großer Abgeschiedenheit verbracht. Mit der Zeit ist es leicht zu vergessen, welche Erinnerungen deine sind und welche nicht. Die Grenzen verschwimmen, daher musst du sie neu aufbauen. Dazu sind Vernetzungen die beste Methode. Die Bekräftigung deiner Identität am Ende einer Vernetzung stärkt dein Gefühl für dein eigenes Ich.
Aber auf diesem Wege werde ich noch weitere Netzerinnerungen empfangen, wandte Leiard ein.
Ja, das ist richtig. Doch je häufiger du dich vernetzt, umso geringer werden die Schwierigkeiten, die du damit hast. Für den Augen blick solltest du dich nur mit einem einzigen Traumweber vernetzen, so dass auf jede Bekräftigung deines Ichs eine geringere Zahl an Erinnerungsübertragungen kommt. Vernetze dich mit jüngeren Leuten, die weniger Erinnerungen zu übertragen haben. Dieser junge Mann, den du unterrichtest, würde deinen Zwecken zum Beispiel sehr dienlich sein.
Jayim. Leiard dachte darüber nach, wie wenig Lebenserfahrung der Junge hatte, ja, er wäre am besten geeignet-falls er sich dafür entscheidet, Traumweber zu bleiben. Von mehreren der Traumweber kam ihm eine Welle der Enttäuschung entgegen. Ihnen war klargeworden, dass Leiard sich während seiner Zeit in Arbeem keiner weiteren Vernetzung anschließen konnte, so dass sie nicht mehr von Mirars Erinnerungen zu sehen bekommen würden. Arleej betrachtete ihre Reaktion mit einer gewissen Erheiterung. Ihre Leute hatten all ihren Argwohn beiseitegeschoben, und jetzt akzeptierten sie Leiard und vertrauten ihm. Lag der Grund dafür einzig darin, dass er Mirars Erinnerungen bewahrte?
Nein, befand sie. Seine Absichten sind gut. Seine Treue gilt uns, obwohl sie auf eine ernste Probe gestellt werden würde, sollte er gezwungen sein, zwischen seinen Leuten und Auraya zu wählen. Dass er glaubte, diese neueste Weiße sei seiner hohen Meinung würdig, war ebenfalls ein gutes Zeichen.
Solchermaßen zufriedengestellt, begann sie den letzten Teil des Rituals, die Selbstbekräftigung.
Ich bin Arleej, Traumweberälteste. Geboren in Teerninya als Tochter von Leenin Stiefelmacher und...
Sie zog ihre Gedanken in sich zurück, während sie sich die Dinge ins Gedächtnis rief, die sie am deutlichsten prägten. Als sie die Augen aufschlug, stellte sie fest, dass Leiard noch immer in dem Ritual befangen war. Die Linien auf seiner Stirn vertieften sich, dann holte er tief Luft und sah Arleej an. Sie lächelte und ließ seine Hand los.
»Du warst eine große Überraschung für uns, Leiard.« Sein Blick wanderte zu den anderen Traumwebern, die sich in Gruppen zusammengefunden hatten, um zu reden, und zweifellos redeten sie über ihn. »Die Entdeckung dieses Abends war auch für mich eine Überraschung. Ich muss darüber nachdenken. Wird irgendjemand Anstoß nehmen, wenn ich jetzt fortgehe?«
Arleej schüttelte den Kopf. »Nein, sie werden es verstehen. Die meisten von ihnen kehren kurz nach einer Vernetzung nach Hause zurück – obwohl ich denke, dass sie mit dieser Gewohnheit brechen würden, wenn du geblieben wärst. Ich werde dich hinausbegleiten, bevor sie sich auf dich stürzen können.« Sie führte ihn zur Tür und scheuchte einen der älteren Traumweber beiseite, als er an Leiard herantreten wollte.
»Leiard muss zu seinen Reisegefährten zurückkehren«, erklärte sie. Ein Raunen der Enttäuschung wurde laut. Leiard berührte nacheinander Brust, Mund und Stirn, und die anderen Traumweber folgten seinem Beispiel mit feierlicher Miene.
Als sie ihn durch den Flur zum Eingang des Hauses begleitete, fiel Arleej nichts zu sagen ein, abgesehen von einer Flut von Fragen, die sie besser bei anderer Gelegenheit stellen sollte. Sie trat aus dem Haus, wo soeben ein gemieteter Plattan angekommen war, um eine Familie mit einem kranken Kind aussteigen zu lassen. Sie rief nach dem Fahrer.
»Bist du frei, um eine andere Fahrt übernehmen zu können?«, fragte sie.
»Wohin?«, wollte der Mann wissen.
»In den Tempel«, antwortete sie. »Zum Hintereingang.«
Der Fahrer zog die Augenbrauen hoch. Sie handelte einen fairen Preis aus, entlohnte den Mann und sah dann zu, wie Leiard in den Wagen stieg.
»Ich werde dich morgen gewiss wiedersehen«, sagte sie.
»Ja.« Leiard lächelte, dann wandte er das Gesicht nach vorn. Der Fahrer, der dies als Fingerzeig verstanden hatte, schnippte mit den Zügeln, und der Wagen rollte davon. Arleej schüttelte langsam den Kopf. Es war in der Tat eigenartig, einen Traumweber »nach Hause« zum Tempel zu schicken.
Als der Wagen außer Sicht war, eilte sie zurück ins Haus. Wie sie vermutet hatte, erwartete sie ihr Vertrauter, Traumweber Neeran, im Flur. Seine Augen hatten sich geweitet vor Staunen.
»Das war... war...«
»Bemerkenswert«, pflichtete sie ihm bei. »Komm mit nach oben in mein Zimmer. Wir müssen reden.«
»Von all den Menschen, die Mirars Erinnerungen halten können«, flüsterte er, während er ihr die Treppe hinauffolgte, »musste es ausgerechnet der Traumweber sein, der die Weißen berät.«
»Ein außerordentlicher Mann in einer außerordentlichen Position«, gab sie ihm recht. Als sie die Tür ihres Quartiers erreichte, drückte sie sie auf und geleitete Neeran hinein. Er drehte sich zu ihr um.
»Glaubst du, die Weißen wissen es?«
Sie erwog seine Frage. »Wenn er es nicht einmal wusste, wie könnten sie es dann wissen?«
»Alle Weißen können Gedanken lesen. Juran wird gewiss etwas von Mirar in Leiard entdeckt haben.«
Arleej dachte an Leiards Worte: »... alle Gedanken sind für die Weißen sichtbar.«
»Wenn Juran es weiß, dann bekümmert es ihn nicht allzu sehr. Wenn er es nicht weiß, nun, jetzt, da dies uns und Leiard bekannt ist, werden es auch die Weißen entdecken. Ich hoffe nur, das wird ihm keine Schwierigkeiten machen.«
Neerans Augen weiteten sich, und er nickte zustimmend. »Außerdem wissen sie, dass Leiard zu unser beider Wohl gearbeitet hat.« Er blickte zu Arleej auf. »Was schon für sich genommen eigenartig ist, nicht wahr?«
Sie nickte. »Eigenartig, dass jemand, der so viel von Mirar in sich trägt, diese Allianz befürwortet?«
»Ja.«
»Ganz gleich, was die Weißen Leiards wegen unternehmen, eines steht fest.« Sie ging zu der Feuerstelle, auf der eine Flasche Ahm zum Wärmen neben dem Herdfeuer stand.
»Wir sollten die Möglichkeit erwägen, so eigenartig sie uns auch erscheinen mag, dass eine Allianz zwischen Somrey und den Weißen das ist, was Mirar gewünscht hätte.«
Als der dunkle Fleck am Himmel größer wurde, beobachtete Tryss das Geschehen mit angstvoller Miene. Stunden waren verstrichen, seit Drilli gesagt hatte, sie wolle sich mit ihm treffen. Er hatte sein neues Geschirr dreimal angelegt, fest entschlossen, dass er nicht auf sie warten würde. Jedes Mal hatte er das Geschirr dann wieder abgenommen. Sie hatte ihm das Versprechen entlockt, dass er es nicht erproben würde, wenn sie nicht dort wäre, um es mit anzusehen.
Als er nun die näher kommende Siyee beobachtete, beschleunigte sich sein Puls, angetrieben von Furcht und Erregung gleichermaßen. Drilli war schon mehrere Male gekommen, um ihn bei der Arbeit zu beobachten. Er hatte damit gerechnet, dass sie sich langweilen würde, aber sie saß einfach nur in seiner Nähe und sprach endlos auf ihn ein. Zu seiner Überraschung gefiel es ihm. Meistens sprach sie von ihren Familien oder von der Allianz, die der Landgeher vorgeschlagen hatte, aber häufig befragte sie ihn auch nach den Dingen, die er fertiggestellt hatte. Manchmal machte sie Vorschläge. Bisweilen waren sie sogar gut.
Der Punkt war inzwischen zu einer Gestalt geworden. Sie senkte sich auf ihn herab, und als er Drillis Flügelzeichnung erkannte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Er griff nach dem Geschirr, schob den Kopf durch die Schlinge des Halsgurtes und zog dann die übrigen Gurte fest.
Ein Pfeifen zur Begrüßung verriet ihre Ankunft. Sie landete mit anmutigen Bewegungen und kam lächelnd auf ihn zu.
»Du müsstest dich jetzt selbst mal sehen!«, sagte sie.
»Du bist spät dran«, erwiderte er, obwohl sein Versuch, verärgert zu klingen, kläglich scheiterte.
»Ich weiß. Es tut mir leid. Mutter hat mich stundenlang Girri rupfen lassen.« Sie bog die Finger durch. »Bist du bereit?«
»Schon seit Stunden.« »Dann lass uns aufbrechen.«
Gemeinsam sprangen sie in die Luft. Der Wind ließ die Riemen seines Geschirrs summen. Es war leichter als das vorherige und bestand aus weniger Einzelteilen. Die Hauptlast hing jedoch direkt unter seiner Brust, so dass ihm das Vorhandensein dieses Geschirrs deutlicher bewusst war, als es beim letzten der Fall gewesen war.
»Hast du es bequem?«, rief Drilli.
»Erträglich«, antwortete er.
Sie schwebten auf ein schmales Tal zu. Im Gegensatz zu den kahlen Berghängen, wo nur noch die zähesten Gräser und Bäume wuchsen, war das Tal mit einer dichten Pflanzendecke überzogen und bot zahlreichen Beutetieren gute Lebens- und Versteckmöglichkeiten. Sobald sie über die Baumwipfel strichen, erhob sich noch etwas anderes in die Luft. Drilli stieß einen Freudenschrei aus.
»Schnapp ihn dir!«, kreischte sie.
Es war ein Ark, ein Raubvogel, der es gewohnt war, selbst zu kreisen und nach Beute Ausschau zu halten, auf die er dann herabzustoßen und die er mit lähmender Magie zu betäuben pflegte. Dass ihm selbst in der Luft nachgestellt wurde, gehörte bisher nicht zu seinen Erfahrungen. Er schwebte direkt unter ihnen und schlug gelegentlich mit den Flügeln.
Tryss folgte ihm. Er zog die Arme zusammen und packte das Rohr, das an seiner Seite befestigt war, dann breitete er die Flügel aus, bevor er auf den Ark hinabstieß. Eine weitere schnelle Bewegung, und er hielt das Rohr an den Lippen. Jetzt war die Zeit gekommen, um zu sehen, ob seine jüngste Veränderung sich als nützlich erweisen würde.
Das eine Ende des Rohrs zwischen den Lippen, tauchte er das andere in den Korb mit winzigen Pfeilen, der unter seiner Brust hing. Er saugte an dem Rohr und spürte, wie ein Pfeil hineinglitt. Als er wieder aufblickte, sah er, dass der Ark seine Richtung geändert hatte. Er verlagerte seine Flügel ein wenig und machte sich an die Verfolgung des Arks.
Der Vogel glitt unter ihm dahin, unsicher, was er von seinen Verfolgern halten sollte. Obwohl die Siyee nur allzu gern Arks fingen und aßen, machten sie sich selten die Mühe, so dass sie für die Vögel keine vertrauten Jäger darstellten. Tryss zielte nach bestem Vermögen, das Blasrohr fest zwischen die Zähne geklemmt, dann blies er so stark, wie er nur konnte.
Und verfehlte sein Ziel.
Tryss knurrte – es sollte ein Fluch sein, soweit er das mit dem Rohr zwischen den Zähnen fertigbrachte. Er bückte sich, um einen weiteren Pfeil in das Rohr zu saugen, dann zielte er abermals. Diesmal verfehlte er den Ark um Armeslänge. Seufzend versuchte er es noch ein drittes Mal, aber im letzten Augenblick tauchte der Vogel im Schutz der Bäume unter.
Enttäuschung hüllte ihn ein. Er knirschte so heftig mit den Zähnen, dass das Rohr barst. Diesmal fluchte er tatsächlich, und das Blasrohr fiel ihm aus dem Mund und in die Pflanzen unter ihm.
Plötzlich wollte er das Gestänge, in dem er festgeschnallt war, nur noch loswerden. Er flog auf einen Felsvorsprung an der Seite des Tals, landete schwerfällig, setzte sich hin und begann, an den Riemen des Geschirrs zu zerren. Drilli ließ sich vor ihm auf den Boden fallen.
»Hör auf. Lass mich das tun«, sagte sie und hielt seine Hände fest.
Er hätte sie am liebsten von sich gestoßen. Warum bin ich so wütend? Schließlich stand er auf, entspannte sich und ließ Drilli die Gurte öffnen. Als der Druck auf seinen Gliedern langsam nachließ und er Drilli mit einem Mal näher kam, als er es je zuvor gewagt hatte, verebbten die Enttäuschung und die Wut.
»Also, was ist passiert?«, fragte sie, als das Geschirr zu Boden glitt. Er verzog das Gesicht. »Ich habe danebengeschossen. Dann ist das Rohr geborsten. Ich... ich habe es zwischen den Zähnen zerquetscht.«
Sie nickte langsam. »Ich kann dir ein anderes Rohr machen, aber du musst lernen, es geschickter zu benutzen.«
»Wie?«
»Du musst üben. Ich habe dir gesagt, es sei nicht so einfach, wie es aussieht.«
»Aber ich habe geübt.«
»Auf dem Boden. Du musst dich daran üben, das Rohr in der Luft zu benutzen. An beweglichen Zielen.« Sie wandte stirnrunzelnd den Blick ab. »Und ich denke, du musst etwas bauen, das das Rohr stützt, während du zielst – damit du es nicht verlierst, wenn du es fallen lässt.«
Er sah sie mit großen Augen an, dann lächelte er. »Ich weiß nicht, warum du dich überhaupt mit mir abgibst, Drilli.«
Sie erwiderte seinen Blick und grinste. »Du bist interessant, Tryss. Und klug. Aber manchmal ein wenig langsam.«
Er zuckte zusammen. »Langsam?«
»Ich habe eine Frage an dich, Tryss. Wie oft muss ein Mädchen einem Jungen gegenüber erwähnen, dass es keinen Partner für das Trei-Trei hat, bevor es aufgibt und es bei jemand anderem versucht?«
Er starrte sie überrascht an. Sie zwinkerte ihm zu, machte zwei Schritte rückwärts und drehte sich dann um, um sich in die Luft zu schwingen. Einen Moment später wurde sie von einem Aufwind in die Höhe gezogen.
Kopfschüttelnd ließ er das Geschirr liegen, wo es war, und folgte Drilli.
Der Tempel von Arbeem war von großer Schönheit. Obwohl viel kleiner und weniger aufsehenerregend als der in Hania, gab es keinen Bereich darin, von dem man nicht einen zauberhaften Ausblick gehabt hätte. Von der Vorderseite sah man den Hafen, und an allen Stellen, an denen es möglich war, hatte man Fenster eingebaut, um aufs Wasser schauen zu können.
Hinter dem Tempel befand sich ein in vielen Terrassen angelegter Garten. Alle Fenster auf der Rückseite boten einen Blick auf grünes Pflanzenwerk. Auraya hatte auf eine Gelegenheit gehofft, ihre Umgebung näher erkunden zu können, aber bisher hatte sie während der fünf Tage seit ihrer Ankunft in Somrey keine Zeit dazu gefunden. Mairae ging an ihrer Seite. »Ich habe über Leiard nachgedacht«, sagte sie leise. »Diese Netzerinnerungen von Mirar machen mir keine Sorgen. Vielleicht verfügt er über mehr Erinnerungen dieser Art als die meisten Traumweber, aber das bedeutet noch lange nicht, dass er Mirar ist« Sie kicherte. »Mirar war ein Schürzenjäger und ein schamloser Verführer. Leiard scheint mir weder das eine noch das andere zu sein.«
Auraya lächelte. »Nein. Du zerbrichst dir den Kopf darüber, was die anderen denken werden, nicht wahr?«
Mairae verzog das Gesicht. »Ja. Es wird Rian nicht gefallen, aber er steckt seine Nase grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten anderer Weißer – obwohl er mit seiner Meinung zu dem Thema gewiss nicht hinter dem Berg halten wird. Dyara wird wahrscheinlich bestürzt sein und sich Sorgen machen, dass es Mirar immer noch irgendwie gelingen könnte, durch Leiard gegen uns zu arbeiten. Sie wird von dir erwarten, dass du Leiard fortschickst, obwohl er uns so sehr geholfen hat.« »Und Juran?«
»Das weiß ich nicht.« Mairae runzelte die Stirn. »Hast du mit Juran jemals über Mirar gesprochen?« Auraya schüttelte den Kopf.
»Er redet nicht auf die Art über diese Ereignisse, wie man es erwarten würde. Man sollte meinen, er sei froh darüber, dass Mirar ihm das Leben nicht mehr schwermachen kann, aber stattdessen sagt er, es sei – wie hat er es noch gleich ausgedrückt? – eine unglückliche Notwendigkeit gewesen. Ich glaube, er fühlt sich deswegen schuldig. Ganz sicher bedauert er, was geschehen ist.«
»Warum?«
»Keine Ahnung.« Mairae zuckte die Achseln. »Aber ich denke, dass sich neue Schuldgefühle und neues Bedauern in ihm regen werden, wenn er Mirars Erinnerungen in Leiards Geist sieht.«
»Ich verstehe.« Auraya biss sich auf die Unterlippe. »Wenn ich Leiard durch einen anderen Traumweber ersetze, besteht nach wie vor die Gefahr, dass Juran an Mirar erinnert werden wird. Viele Traumweber tragen Mirars Erinnerungen in sich, obwohl man nur selten so viele von ihnen bei einem einzigen Menschen findet. Ein jüngerer Traumweber wird keine solchen Erinnerungen in sich tragen, aber möglicherweise wird er uns auch nicht so nützlich sein können.«
Mairae seufzte. »Allein die Anwesenheit eines Traumwebers wird ihn an Mirar erinnern. Es ist nur die Frage, in welchem Maße das geschieht. Juran ist sicher in der Lage, mit Erinnerungen an die Vergangenheit zu leben, aber es ist vielleicht ein wenig zu viel verlangt, ständig den realen Erinnerungen Mirars ausgesetzt zu sein.«
»Was sollen wir jetzt tun?«
Mairae schürzte die Lippen, dann zuckte sie die Achseln. Abwarten. Ich werde Juran von diesen Erinnerungen berichten, so dass er darauf vorbereitet ist. Sollten sie sich als Problem erweisen, werde ich dir Bescheid geben. Ansonsten machst du einfach weiter wie zuvor.«
Auraya seufzte vor Erleichterung. »Das werde ich.« Sie kamen zu einem kleinen Pavillon und setzten sich. In einer Nische stand eine lebensgroße Statue von Chaia. Sie war beeindruckend genau – eine steinerne Version der strahlenden Gestalt, der Auraya bei der Erwählungszeremonie von Angesicht zu Angesicht begegnet war. »Ich müsste eigentlich völlig erschöpft sein. All diese politischen Gespräche, aber ich werde niemals müde.«
»Eine weitere Gabe der Götter«, sagte Mairae. »Ohne sie wären wir von dem üppigen somreyanischen Essen gewiss schon krank geworden – oder fett.«
Auraya grinste. »Denkst du, dass es auch nur eine einzige adlige Familie gibt, die uns noch nicht bewirtet hat? Wir haben bisher jede Mahlzeit in einem anderen Haus eingenommen.«
»Ich gewinne langsam den Eindruck, dass sie immer neue Essenszeiten erfinden, nur damit wir mehr Leute besuchen können.«
»Eigentlich habe ich ein schlechtes Gewissen deswegen. Während wir uns amüsieren, läuft der arme Leiard zwischen uns und dem Traumweberhaus hin und her. Er ist vollkommen erschöpft.«
»Dann werden wir um seinetwillen hoffen müssen, dass der Rat die Änderungen der Allianzverträge akzeptiert, sonst wird er das alles noch einmal mit ihnen durchgehen müssen. Ah – da kommt dein zweiter Mann.« Auraya blickte auf, in der Erwartung, Danjin zu sehen, aber stattdessen kam eine pelzige kleine Gestalt aus dem Garten herbeigehüpft und sprang auf ihren Schoß.
»Owaya!« Unfug sah zu ihr auf und klimperte mit den Wimpern.
Sie unterdrückte ein Lachen. Er hatte diese Angewohnheit den vielen Veez abgeschaut, die somreyanischen Familien gehörten. Anscheinend brachte dieser Blick die Herzen der meisten reichen Somreyanerinnen zum Schmelzen. Aber bei mir funktioniert das nicht, sagte sie sich, obwohl sie den unangenehmen Verdacht hatte, dass sie sich irren könnte. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu ihren gesellschaftlichen Treffen mitzunehmen, aber Mairae hatte ihr versichert, dass die Somreyaner von ihr erwarteten, dass sie ihr Schoßtier auf Schritt und Tritt bei sich hatte, geradeso wie sie selbst es taten. Bei Zusammenkünften jedweder Art spielten die Veez ausgelassen miteinander, obwohl stets Diener in der Nähe waren, um ungeplante amouröse Abenteuer zu verhindern. Unfug hatte viele neue Wörter gelernt, unter anderem einige, die Aurayas Diener in helle Empörung versetzen würden, wenn er nach Hania zurückkehrte – sofern sie über einige Kenntnisse der somreyanischen Sprache verfügten.
Als er nun begreifen musste, dass er ihr mit seinem neuesten Trick keinen Leckerbissen entlocken konnte, blickte er mürrisch drein. Er schnaufte leise und ließ den Kopf hängen.
»Du bist so knauserig«, sagte Mairae. »Ich werde mit ihm in die Küche gehen und ihm etwas zum Knabbern suchen. Ich glaube tatsächlich, dass das Gefühl, das sich langsam in mir ausbreitet, Hunger ist. Ich hatte fast vergessen, wie sich Hunger anfühlt.«
»Ich werde dich begleiten.«
»Bleib hier«, sagte Mairae. »Du wirst nicht lange allein bleiben.«
Auraya blinzelte überrascht, dann konzentrierte sie sich auf den Geist der Menschen um sie herum. Sie brauchte nicht lange, um Leiards Gedanken zu entdecken, als er durch den Garten auf sie zukam.
»Unfug. Essen.« Mairae streckte den Arm aus. Der Veez schaute zwischen ihr und Auraya hin und her. »Geh nur«, sagte Auraya.
Er sprang von ihrem Schoß und huschte über Mairaes Arm auf ihre Schulter hinauf. Die beiden gingen davon, und Auraya beobachtete lächelnd, dass der Veez Mairaes Ohr leckte und sie erschrocken zurückzuckte.
Kurz darauf hörte sie Schritte. Leiard kam um eine Ecke und sah sie. Er lächelte und beschleunigte seine Schritte. Als er den Pavillon erreichte, wanderte sein Blick zu der Statue Chaias hinüber, und er erstarrte für einen Moment, dann wandte er sich wieder ihr zu.
»Auraya von den Weißen«, sagte er förmlich.
»Traumweber Leiard«, erwiderte sie.
»Es wird langsam spät«, bemerkte er. »Glaubst du, dass sie sich heute entscheiden werden?«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe dich noch nie zuvor nervös erlebt.«
Seine Mundwinkel zuckten schwach. »Es wäre doch eine Enttäuschung, wenn wir so weit gereist wären, nur um mit einer Ablehnung der Allianz heimkehren zu müssen.«
»Ja, das wäre es, aber vielleicht bedarf es nur einiger kleinerer Nachverhandlungen, um sie zu überzeugen.«
»Vielleicht.«
Wieder schaute er zu der Statue hinüber. Auraya folgte seinem Blick. Wenn Chaia sie beobachtete, was mochte er dann wohl von Leiard halten? Waren die Götter beunruhigt über die Entdeckung, dass der Traumweberratgeber der Weißen Mirars Erinnerungen in sich trug?
Nein, wahrscheinlich haben sie es die ganze Zeit über gewusst, schoss es ihr durch den Kopf.
Wenn von Leiard irgendwelche Gefahr ausginge, hätten sie mich gewarnt.
Aber würden sie sie auch warnen, wenn diese Angelegenheit ihn in Gefahr brachte? Auraya stand auf, verließ den Pavillon und schlenderte den Pfad hinunter. Leiard stieß einen langen, leisen Seufzer der Erleichterung aus und schloss sich ihr an. Bei diesem Seufzer durchzuckte sie ein Stich des Ärgers. Die kleine Geste hatte sie daran erinnert, dass sich eines nicht ändern würde, selbst wenn es ihr gelang, ein gewisses Einvernehmen zwischen Traumwebern und Zirklern herbeizuführen: Leiard würde sich niemals bei irgendetwas wirklich wohlfühlen, das mit den Göttern zu tun hatte. Das war zu erwarten gewesen. Er hatte sich von den Göttern abgewandt, um Traumweber zu werden. Wenn er starb, würden die Götter seine Seele nicht annehmen. Sie würde zu existieren aufhören. Der Gedanke schmerzte sie. Ich bin unsterblich. Ich werde ihm in der jenseitigen Welt niemals begegnen. Es wäre nicht gar so schlimm, wenn er einfach einem anderen Gott huldigte. Dann würde ich zumindest wissen, dass er irgendwo weiterexistiert.
Sie schüttelte den Kopf. Warum sollte irgendjemand die Götter und die Chance auf Ewigkeit, die sie den Menschen boten, verschmähen? Sie drehte sich zu ihm um, und er zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.
»Was beschäftigt dich?«
»Warum bist du Traumweber geworden, Leiard?«
Er zuckte die Achseln. »Ich kann mich nicht genau daran erinnern«, antwortete er. »Es muss damals wohl die richtige Entscheidung gewesen sein.«
»Was hat deine Familie von deinem Schritt gehalten – kannst du dich daran erinnern?«
Er runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. »Meine Itern sind tot.« »Oh, das tut mir leid.«
Leiard machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie sind vor langer Zeit gestorben, als ich noch jung war. Ich erinnere mich kaum noch an sie.«
Auraya lachte. »Als du jung warst? Leiard, so alt kannst du nun auch wieder nicht sein. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der bei jeder meiner Begegnungen mit ihm jünger zu sein scheint als beim letzten Mal.«
»Das liegt daran, dass du erwachsen geworden bist.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie alt bist du?« Er stutzte kurz. »Ungefähr vierzig, denke ich.« »Denkst du? Wie ist es möglich, dass jemand nicht genau weiß, wie alt er ist?«
Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. »Arleej glaubt, mein Gedächtnisverlust sei darauf zurückzuführen, dass ich mich über viele Jahre hinweg nicht mehr mit anderen Traumwebern vernetzt habe.«
Da sie seinen Kummer spüren konnte, wechselte sie das Thema. Es war offenkundig, dass der Verlust gewisser Erinnerungen ihm schwer zu schaffen machte.
»Wie viele Jahre sind denn vergangen, seit du das letzte Mal an einer Vernetzung teilgenommen hast?«
»Das letzte Mal war noch vor der Zeit, als ich in dem Wald der Nähe deines Dorfes lebte.«
Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Arm. »Wie lange warst du schon in dem Dorf, bevor meine Familie dort ankam?«
»Einige Jahre.«
»Dann liegt deine letzte Vernetzung fast zwanzig Jahre zurück. Wie alt sind Traumweber, wenn sie ihre Ausbildung beenden?«
Er warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Zwanzig, wenn sie jung anfangen.«
Sie nickte. Also hatte er recht: Er war etwa vierzig Jahre alt. Irgendwie enttäuschte sie das. Vielleicht gab es einen einfachen Grund für dieses Gefühl: Je älter er war, umso geringer war die Zeit, die ihr mit ihm noch verbleiben würde. Er würde älter werden, während sie sich ihre Jugend bewahrte. Beklommen dachte sie darüber nach, dass die Zeit ihm davonlief. Noch einige Jahrzehnte, und seine Seele würde für immer erlöschen.
»Haben die Traumweber jemals den Göttern gedient?«, fragte sie schließlich.
»Nein.«
»Glaubst du, dass sie es in Zukunft jemals tun werden?« »Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil wir es nicht wollen.«
Sie sah ihn von der Seite an. »Weil die Götter Mirar haben töten lassen?«
»Das ist ein Teil unserer Gründe.« »Und der andere Teil?«
»Weil Macht niemandem das Recht gibt, anderen zu sagen, wie sie denken oder leben oder wen sie töten sollen.«
»Nicht einmal dann, wenn der Betreffende älter und klüger wäre als du? Wie zum Beispiel ein Gott?«
»Nein.« Er wandte den Blick ab. »Die Menschen sollten frei wählen können, ob sie den Göttern huldigen wollen oder nicht.«
»Sie können wählen.«
»Ohne Strafe oder Vergeltung fürchten zu müssen?«
»Dann erwartest du also von den Göttern, dass sie deine Seele in ihre Obhut nehmen, ganz gleich, ob du ihnen huldigst oder nicht?«, fragte sie zurück.
»Nein. Ich erwarte, dass meine Leute frei von Verfolgung leben können.«
»Diese Dinge gehören der Vergangenheit an.«
»Ach ja? Warum haben Traumweber dann noch immer Angst, durch die Straßen von Jarime zu gehen? Warum ist es ihnen verboten, ihre Fähigkeiten zum Wohle anderer einzusetzen?«
Auraya seufzte. »Wegen der Ereignisse vor hundert Jahren. Und damit meine ich nicht Mirars Tod.«
Darauf erwiderte er nichts. Sie war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Obwohl sie nicht mit ihm streiten wollte, hätte sie gern seine Meinung über die Geschehnisse in der Vergangenheit gehört, die zu der gegenwärtigen Situation der Traumweber geführt hatten.
Nach den Dokumenten, die sie gelesen hatte, war Mirar in seiner Arbeit bewunderungswürdig und in seinen Neigungen ausschweifend gewesen. Er hatte seine Anhänger alles gelehrt, was es über Medizin und Heilmethoden für die Kranken und Verwundeten zu wissen gab. Seine Gabe des Heilens war einzigartig gewesen, und er hatte seine Fähigkeiten großzügig eingesetzt.
Aber er hatte in dem Ruf gestanden, maßlos dem Alkohol und Rauschdrogen zuzusprechen und ein großer Verführer zu sein, und diese Dinge hatten viele Menschen empört. Die Traumweber sprachen zwar nicht davon, wussten jedoch, dass dieser Ruf durchaus verdient war. Die Wahrheit fand sich in den Netzerinnerungen an Mirar wieder, und jene, die ihn gekannt hatten, gaben sie von Generation zu Generation weiter. Auraya konnte dieses Wissen in ihren Gedanken lesen. Sie hatte es in Leiards Gedanken gelesen.
Trotzdem waren es nicht Mirars Charakterschwächen gewesen, die die Götter zu der Anschauung gebracht hatten, dass er getötet werden müsse. Er hatte offen gegen sie gearbeitet und versucht, die Formierung der Weißen zu verhindern. Er hatte Zweifel gesät und den Menschen bösartige Lügen über das Schicksal ihrer Seelen in den Händen der Götter erzählt. Er hatte behauptet, einige der toten Götter hätten ihr Schicksal nicht verdient, während der Zirkel der Fünf sich schrecklicher Grausamkeiten schuldig gemacht habe. Und schließlich hatte er die Verurteilung durch die Götter über sich gebracht, indem er den Bewohnern Ithanias machtvolle Träume geschickt hatte, um sie gegen die Götter einzunehmen.
Stattdessen hatten die Menschen die Götter jedoch angefleht, sie von seinen Ränken zu befreien.
Er hat seinen Tod selbst verschuldet, dachte sie.
Und doch war das, was Mirars Tod folgte, schrecklich gewesen. Die Götter hatten niemals verfügt, dass gewöhnliche Traumweber getötet werden sollten, aber nach Mirars Tod hatte es viele Morde an Traumwebern gegeben, ausgeführt von übereifrigen Anhängern der Zirkler. Diese Fanatiker waren zwar bestraft worden, aber es hatte lange gedauert, andere von der Idee abzubringen, es ihnen gleich zu tun. Die meisten Zirkler wussten, dass kein Priester es, was medizinische Kenntnisse oder Wissen betraf, mit einem voll ausgebildeten Traumweber aufnehmen konnte. Jetzt, da Auraya den Zweck und den Nutzen einer Gedankenvernetzung verstand, war ihr klar, dass dies die Art und Weise war, wie die Traumweber ein solch großes Wissen teilen und weitergeben konnten. Soweit sie das beurteilen konnte, hatte kein Priester jemals etwas Derartiges wie eine Gedankenvernetzung versucht. Abgesehen von der Telepathie, bei der es nicht darum ging, dass ein Mensch einem anderen seinen Geist öffnete, verspürten die Zirkler eine große Abneigung dagegen, jemanden in ihre Gedanken einzulassen. Das Eindringen in einen fremden Geist galt als ein Verbrechen – ein Gesetz, das als Reaktion auf Mirars Taten erlassen worden war.
Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir unsere zimperliche Einstellung dazu überwinden, überlegte Auraya. Wenn die zirklischen Priester von den Traumwebern lernten, könnten auch sie ihre Kenntnisse der Heilkunst mehren. Ein Schaudern überlief Auraya. Wenn sie es den Traumwebern gleichtun oder diese sogar übertreffen könnten, würde einer der mächtigsten Anreize, der Neulinge zu dem heidnischen Kult hinzog, verloren gehen. Der Kult der Traumweber würde vielleicht binnen weniger Generationen erlöschen. Oder binnen einer einzigen Generation, falls ich oder ein anderer Weißer das Wissen weitergeben sollte, das wir aus ihren Gedanken gezogen haben.
Sie schauderte. Nein. Damit würden wir uns ebendes Verbrechens schuldig machen, das die Menschen stets den Traumwebern zugeschrieben haben: Wir würden in die Intimität des Geistes anderer eindringen und die Information zu ihrem Schaden nutzen.
Und doch ließ sich das Gleiche ohne Vernetzungen erreichen. Wenn man Priester dazu überreden könnte, mit Traumwebern zusammenzuarbeiten, würden sie gewiss neue Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben. Es würde lange Zeit in Anspruch nehmen, aber unterdessen auch die Toleranz untereinander fördern.
Möchte ich wirklich der Grund für den Niedergang der Traumweber sein?
Nein. Aber ich darf nicht zulassen, dass sich weitere Menschen von den Göttern abwenden und ihre Seelen opfern. Nicht, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Die Menschen glauben,dass die Heilkenntnisse der Traumweber verloren gehen werden, falls nicht irgendjemand dieses Opfer bringt. Aber wenn sie die gleichen Dinge lernen könnten, indem sie der Priesterschaft beitreten, warum sollten sie dann Heiden werden?
Heute, in diesem Garten, mit Leiard an ihrer Seite, war sie über ein schreckliches Dilemma gestolpert. Eines Tages würde sie wählen müssen, ob sie sich seine Freundschaft erhalten oder Seelen retten wollte. Aber dies war nicht der Zeitpunkt dafür. Danjin war vor ihnen auf dem Weg erschienen. Er grinste, als er sie sah, und sie wusste, auch ohne seine Gedanken zu lesen, welche Neuigkeiten er ihr bringen würde. Sie verspürte jedoch kein Triumphgefühl, sondern nur Erleichterung.
»Sie haben es getan!«, rief er. »Sie haben die Allianz unterzeichnet!«
Emerahl blickte über ihre Schulter. Ihr kleines Boot aus silbrigem Holz leuchtete im Mondlicht. Ihr Blick glitt noch einmal über die Leine, mit der sie ihr Boot festgemacht hatte, dann nickte sie und zog sich ihren Umhang über den Kopf, bevor sie sich über den Kai entfernte.
Sie war mehrere Wochen lang die Küste von Toren hinaufgesegelt. Alle paar Tage hatte sie in kleinen Küstendörfern angelegt, um Heilmittel gegen Essen, sauberes Wasser und Dinge wie Segeltuch, ein wasserfestes Seekapas und Angelschnur einzutauschen. Die Menschen, mit denen sie Handel trieb, behandelten sie mit freundlichem Respekt, obwohl sie es offenkundig merkwürdig fanden, dass eine alte Frau eine solche Reise unternahm.
Die Dörfer waren immer größer und zahlreicher geworden, bis man den Eindruck gewann, als gäbe es in jeder Bucht einen Pier. An diesem Nachmittag war sie in eine tiefere Bucht gelangt, in der große Schiffe vor Anker lagen. Das gesamte Land war von Gebäuden bedeckt, und die Küste war ein Labyrinth hölzerner Docks. Sie war in Porin angelangt, der Hauptstadt von Toren.
Mit einem Halm getrockneten Sternenscheinkrauts hatte sie einem bestechlichen Hafenmeister einen Anlegeplatz abgekauft. Eine der Dorfbewohnerinnen hatte es einige Monate zuvor ihrem Mann gestohlen, um es gegen ein Heilmittel für ein fieberkrankes Kind einzutauschen. Emerahl hatte das Sternenscheinkraut für sich selbst aufgehoben, und sie bedauerte seinen Verlust. Aufgrund seiner halluzinogenen Eigenschaften und der Euphorie, die es auslöste, war es eine ihrer bevorzugten Rauschdrogen.
Daher war sie keineswegs bester Stimmung, als sie in den Marktbezirk der Stadt kam. In jeder größeren Stadt gab es einen Ort, an dem der Handel niemals abbrach und die Geschäfte niemals geschlossen wurden. Wenn Menschen verzweifelt waren, suchten sie zu jeder Zeit der Nacht nach Heilmitteln.
Sie hatte jedoch nicht die Absicht, mit den Kunden auf dem Markt Geschäfte zu machen. Das Handelsrecht war in allen Städten ein eifersüchtig gehütetes Gut. Wenn sie ihre Waren verkaufen wollte, würde sie ein Abkommen mit einem Marktverkäufer treffen müssen, um vor seinem Laden arbeiten zu dürfen. Einen Teil ihres Gewinns würde sie als Bezahlung für diese Vergünstigung opfern müssen. Dafür fehlte ihr jedoch die Zeit.
Stattdessen hatte sie eine Ansammlung von Dingen bei sich, die sie an die Läden verkaufen wollte, die Heilmittel feilboten. Einige davon hatte sie bereits besessen, andere hatte sie während der Reise gesammelt. Darunter fanden sich Säckchen mit Gift von Yeryer-Fischen, um das Blut zu verflüssigen, Dornen des Stachelkrauts, die punktgenau als Narkosemittel eingesetzt werden konnten, und keimtötende Seetang-bänder. Sie hatte noch einige Beutel gemahlenen Feuerwurz beigefügt, der um den Leuchtturm herum in üppiger Fülle gewachsen war, und mehrere starke Kräuter. Auch einige Dinge, die keinen medizinischen, sondern nur einen hohen materiellen Wert hatten, waren in ihren Beutel gelangt. Die meisten davon waren Aphrodisiaka. Diese hatten im Allgemeinen keine echte körperliche Wirkung, aber der Gedanke, dass sie eine »Kur« benutzten, genügte bei den meisten Menschen, um ein solches sexuelles Verlangen zu wecken, dass sie ihre Erregung irrtümlich für das Resultat der »Kur« hielten. Natürlich stammten diese »Kuren« entweder von irgendeinem wilden Tier – wie die Zähne des Riesengarr, die sie an einem verlassenen Strand gefunden hatte -, oder sie sahen aus wie Geschlechtsorgane, wie die getrockneten Seewürmer, die fleischigen, phallusähnlichen Wemmin-Blüten und die Seeglocke, die sie inmitten von im Wasser treibenden Gräsern entdeckt hatte. Die Seeglocke würde sie nur als letzte Möglichkeit veräußern. Sie war selten und kostbar, und kein Ladenbesitzer würde einer Reisenden, die sich nur für kurze Zeit in der Stadt aufhielt, ihren wahren Wert bezahlen. Eines Tages würde sie vielleicht in einer besseren Position sein, um zu feilschen.
Lärm und Licht zogen sie zu ihrem Bestimmungsort. Große Markisen, an denen Laternen hingen, bildeten zwei Tunnel zu beiden Seiten einer langen Straße mit Läden. Einige Musikanten verliehen den Stimmen der wenigen Käufer einen fröhlichen Beiklang. Mehrere Händler brüllten einladende Beschreibungen ihrer Waren in die Welt. Andere machten kühne Versprechungen, was vernünftige Preise und ehrlichen Handel betraf.
Emerahl kaufte einen Laib Brot, einen Spieß mit gegrilltem Ner – sie war der Fische inzwischen herzlich überdrüssig -, einige überteuerte Früchte und einen Becher gesüßte, fermentierte Shem-Milch. Als sie die Straße weiter hinunterging, wurden die Essensgerüche von dem beißenden Gestank von qualmenden Kräutern und Weihrauch verdrängt. Hier fand sie, wonach sie gesucht hatte.
Der erste Laden, der Heilmittel feilbot, war groß und voller Menschen. Entlang der Vorderseite des Ladens erstreckte sich eine Theke, und an der hinteren Wand standen in Regalen Krüge verschiedenster Größen und Formen. Sie ging mit ihrem Beutel zur Theke und wartete geduldig, bis sie an die Reihe kam. Der Verkäufer war ein nicht mehr junger, kahlköpfige1ʺ Mann mit scharfen Augen. Nachdem er einem jungen Soldaten ein zweifelhaftes Mittelchen gegen Fußfäule verkauft hatte, wandte er sich Emerahl zu.
»Womit kann ich dir helfen, junge Dame?«
Sein Versuch, ihr zu schmeicheln, entlockte ihr ein Lächeln. »Mein Arm schmerzt mich«, erklärte sie ihm. »Also hoffe ich, dass ich einige Dinge aus meinem Beutel werde verkaufen können.«
In seinen klugen Augen blitzte Erheiterung auf. »Ach ja? Und du hoffst, sie mir zu verkaufen?«
»Ja.« Sie öffnete den Beutel und nahm den Krug heraus, in dem sich die Säckchen mit Yeryer-Gift befanden. »Hättest du dafür vielleicht eine Verwendung? Sie sind ganz frisch. Ich habe sie erst vor einer Woche gesammelt.«
Als sie den Krug öffnete, zog der Mann die Augenbrauen hoch. »Vor einer Woche, sagst du? Vielleicht könnte ich ein paar Münzen dafür erübrigen.« Er musterte ihren Beutel, der ein wenig fischig roch. »Was hast du denn sonst noch anzubieten?«
Sie nahm einige weitere Dinge heraus, dann begann das Feilschen. Er wurde dabei mehrmals von einem jüngeren Mann, vielleicht seinem Sohn, unterbrochen, der schließlich im hinteren Teil des Ladens verschwand. Emerahl konzentrierte sich auf ihren Kunden. Er war wählerisch und dachte über jeden einzelnen Gegenstand lange nach, obwohl sie fand, dass sie ihre Waren schon zu recht günstigen Preisen feilbot. Er sah ihr nicht in die Augen, und sie wünschte sich mit einem Mal, sie hätte sich ihre Fähigkeit, Gefühle bei anderen zu erspüren, bewahrt.
Ich werde es neu lernen müssen, dachte sie. Dann würde es mir auch leichterfallen, mich an die Veränderungen in der Sprache anzupassen. Ich hatte vermutet, die eigenartige Sprechweise der Dörfler sei das Ergebnis ihrer niederen Abstammung, aber anscheinend hat sich die torenische Sprache im Allgemeinen verändert.
Der Verkäufer hatte bisher nur die Hälfte der Dinge in ihrem Beutel gesehen. Als sie der langsamen Verhandlungsweise des Mannes überdrüssig geworden war, beschloss sie, vorzugeben, ihm alles gezeigt zu haben, und ihr Geld zu verlangen.
Er zählte langsam Münzen aus einer Börse ab und hielt mitten in seinem Tun inne, als sein Helfer zurückkehrte, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.
»Ich würde gern irgendwann zu Bett gehen«, unterbrach Emerahl die beiden. Sie legte eine Hand auf die Krüge, die der Ladenbesitzer kaufen wollte, und machte einen Schritt rückwärts. »Sind meine Preise nicht gut genug für dich?«
Er hob beschwichtigend die Hände. »Es tut mir leid, meine Dame, aber mein Geselle muss sich um eine recht delikate und drängende Angelegenheit kümmern.« Er kehrte an die Theke zurück und zählte den Rest der Münzen ab. Emerahl schob ihm die Krüge hin, fegte die Münzen in ihren Beutel und verließ den Laden, noch ehe der Mann seine weitschweifige Verabschiedung hatte beenden können.
Auf der Straße angekommen, stieß sie einen Seufzer der Verärgerung aus. Hatte er gehofft, dass sie mit ihrem Preis heruntergehen würde, nur damit er sich beeilte? Hatte sie ausgesehen, als sei sie in Eile?
Mit dieser Frage beschäftigt, schlenderte sie in eine nahe Weinschänke und kaufte ein Maß Gewürzwasser. Dann setzte sie sich in eine dunkle Ecke, hob das Glas an ihre Lippen und blickte zu dem Laden auf der anderen Straßenseite hinüber.
Sie verschluckte sich beinahe, als sie zwei Priester aus der Tür treten sah. Dann erschien der Verkäufer und zeigte auf die Schänke. Als die Priester auf sie zukamen, begann Emerahls Herz zu rasen.
Sie wollen wahrscheinlich nur etwas trinken, sagte sie sich. Aber die beiden Männer unterzogen jeden auf der Straße einer genauen Musterung. Als eine alte Frau an ihnen vorbeikam, blieben sie stehen und starrten sie eindringlich an. Nein, es ist kein Wein, den sie suchen.
Plötzlich ergab das Verhalten des Verkäufers einen Sinn: seine Neigung, ihrem Blick auszuweichen, der Versuch, sie aufzuhalten. Sein Geselle, der plötzlich verschwunden war. Das geflüsterte Gespräch der beiden Männer.
Es tut mir leid, meine Dame, aber mein Gesellemuss sich um eine recht delikate und drängende Angelegenheit kümmern.
War es dabei um eine alte Frau gegangen, die Heilmittel verkaufte? Hatte man dem Ladenbesitzer aufgetragen, nach ihr Ausschau zu halten? Das kann ich nicht genau wissen, sagte sie sich. Dies könnte auch ein schlichter Zufall sein. Vielleicht suchten die Priester ja nach jemand anderem. Die Tatsache, dass sie soeben von einem dieser Priester aus ihrem Heim vertrieben worden war, hatte sie argwöhnisch gemacht, so dass sie nun glaubte, alle seien auf der Suche nach ihr.
Zufall oder nicht, ich werde nicht hier warten, um es herauszufinden. Emerahl öffnete ihren Beutel, nahm ihr mit Öl eingeriebenes, wasserfestes Seekapas heraus und schlüpfte hinein. Dann zog sie sich ihren Umhang vom Kopf, stülpte sich stattdessen einen breitkrempigen Seemannshut über und schob ihr Haar darunter. Dann wickelte sie ihren Beutel in den Umhang und schob ihn sich unter den Arm.
Die Priester waren jetzt nur noch wenige Schritte von der Schänke entfernt. Emerahl trat durch die Tür und blieb kurz stehen, um mit einer Hand das Zeichen des Kreises zu machen, dann entfernte sie sich mit dem typischen wiegenden, gemächlichen Gang eines Seemanns.
Sie rechnete damit, dass die Priester sie zurückrufen würden, aber nur die Prahlereien der Händler durchbrachen das allgemeine Getöse auf dem Markt. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie das Ende der Straße erreicht hatte. Dort angekommen, beschleunigte sie ihren Schritt ein wenig und hielt sich im Schatten der Gebäude.
Werde ich verfolgt? Wenn ja, wie konnten die Priester erraten, dass ich auf den Nachtmarkt von Porin gehen würde, um Heilmittel zu verkaufen?
Die Antwort lag auf der Hand. Wenn der Priester in Corel die Küste hinaufgereist war, musste er von der eigenartigen alten Frau gehört haben, die allein in einem Boot segelte und Heilmittel verkaufte. Er musste erraten haben, dass sie es war, und die Priester in den Städten durch Telepathie verständigt haben. Und jetzt hielten sie Ausschau nach einer alten Frau wie ihr. Es war reines Glück, dass sie nicht schon vorher von einem anderen Priester aufgehalten worden war.
Aber warum? Diese Priester konnten unmöglich wissen, wer sie wirklich war. Vielleicht war der Priester in Corel neugierig zu erfahren, wer die verrückte alte Zauberin war, die so lange Zeit in einem entlegenen Leuchtturm gelebt hatte...
Oh. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Wenn er die Dorfbewohner gefragt hat, wie lange ich schon dort gelebt habe, haben sie ihm vielleicht geantwortet, dass ich seit Generationen in dem Leuchtturm wohne. Wenn es so geschehen ist, muss er den Verdacht geschöpft haben, ich könnte eine Unsterbliche sein. Selbst wenn er es nicht glaubt, ist er wahrscheinlich dazu verpflichtet, es zu überprüfen.
Als sie sich den Docks näherte, verlangsamte sie ihre Schritte wieder. Vorsichtig schlich sie weiter und suchte dabei ihre Umgebung ab. In der Ferne konnte sie gerade noch ihr kleines Boot erkennen, das am Pier vertäut war. Schließlich fand sie eine dunkle Ecke, wo sie sich hinsetzte und wartete.
Sie brauchte nicht lange zu warten. Als der Hafenmeister aus seiner Hütte kam, erblickte sie einen Stuhl und den Rücken von jemandem, der etwas Weißes mit einer blauen Umsäumung trug.
Lebwohl, kleiner Freund, dachte sie und schaute noch einmal zu ihrem Boot hinüber. Ich hoffe, du wirst einen guten Besitzer finden.
Schließlich wandte sie sich mit einem Stich des Bedauerns ab und tauchte in die Schatten der Stadt ein.
Der Fremde hatte im hinteren Teil des Raums Platz genommen und die beiden letzten Stunden damit zugebracht, die anderen Gäste in der Schänke zu beobachten. Roffin hatte der Mann schon von dem Augenblick an, als er die Schänke betrat, nicht gefallen. Er war einfach zu gepflegt, das war es. Ausstaffiert mit einem großen Kapas. Ein Fremdländer mit einer arroganten Art, die auf eine vornehme Geburt schließen ließ. Es gefiel Roffin nicht, wie der Mann das Kommen und Gehen der Gäste beobachtete.
»Betrachtest du wieder einmal unseren rätselhaften Gast?«, murmelte Cemmo. Roffin drehte sich zu seinem Gefährten um. Cemmo war ein kräftiger, drahtiger Mann, einer der jüngsten Fischer aus dem Ort. Roffin stieß ein leises Knurren aus.
»Seinesgleichen gehört nicht hierher.«
»Stimmt«, gab Cemmo ihm recht.
»Der sollte oben in der Schänke für die besseren Leute sein.«
»Das ist richtig.«
»Irgendjemand sollte ihn rauswerfen.«
»Upta Garmen. Aber der wird’s nicht tun, solange es keinen Ärger gibt.«
»Garmen hätte ’ne Menge zu verlieren, wenn hochwohlgeborene Leute mit ihm unzufrieden wären. Wir nicht«, bemerkte Roffin.
Cemmo wandte den Blick ab. »Das ist wahr. Aber... Ich weiß nicht. Irgendwie kommt er mir gefährlich vor.«
»Das sind bloß seine Blicke, die dir Angst machen.«
Garmen, der Besitzer der Schänke, unterzog den Fremden einer schnellen, nervösen Musterung. Der Mann trank auch nicht viel, wie Roffin bemerkte. Geiziger ausländischer Bastard.
Als Roffin seinen dritten Becher hinunterkippte, drehte der Fremde sich um und starrte ihn an. Roffin starrte unverhohlen zurück. Der Mann zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe. Er lächelte.
»Also, wenn sonst niemand den Mumm dazu hat.«
Cemmo runzelte die Stirn, als Roffin aufstand, sagte jedoch nichts; er glitt einfach von seinem Stuhl und folgte ihm, ein schweigsamer Helfer. Als Roffin auf den Fremden zutrat, blickten andere Gäste auf und nickten zustimmend.
Der Fremde beobachtete ihn mit scheinbarer Sorglosigkeit. Roffin beugte sich über den Mann, wobei er seine massige Statur zu seinem Vorteil nutzte.
»Du bist hier am falschen Ort«, erklärte er ihm. »Die richtige Schänke für dich findest du auf der anderen Seite der Straße. Oben in der Stadt.«
Der Fremde verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Mir gefällt es hier«, antwortete er mit einer tiefen, von einem eigenartigen Akzent gezeichneten Stimme.
Roffin richtete sich auf. »Uns gefällt es aber nicht, dass du hier bist. Geh und starr deinesgleichen an.«
»Ich bleibe.« Der Mann deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. »Du bleibst. Wir trinken.«
»Du trinkst anderswo«, knurrte Roffin. Er streckte die Hände nach den Schultern des Fremden aus. Der Mann kniff die Augen zusammen, rührte sich jedoch nicht. Mit einem Mal spürte Roffin, wie sengende Hitze seine Finger umschloss. Er riss die Hand weg, fluchte und starrte seine gerötete Haut an. »Was hast du...?«
»Du gehst«, sagte der Mann mit einem warnenden Unterton in der Stimme.
Roffin machte einige Schritte rückwärts. Der Fremde war ein Zauberer. Mit Drohungen war ihm nicht beizukommen. Cemmo sah Roffin fragend an. Als Roffin sich im Raum umblickte, wurde ihm bewusst, dass alle anderen Gäste ihn beobachteten. Hatten sie gesehen, was der Mann getan hatte? Wahrscheinlich nicht. Sie konnten nur Roffin sehen, der vor einem hochgeborenen Fremdländer zurückwich. Mit einem finsteren Stirnrunzeln machte er auf dem Absatz kehrt und schritt zur Tür hinüber.
»Ich werd mein Geld anderswo hinbringen«, murmelte er, dann verließ er den Raum und schlug die Tür hinter sich zu. Draußen angekommen, blieb er jedoch stehen; er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Cemmo war ihm nicht gefolgt. Langjährige Gewohnheit brachte ihm das Geräusch der Brandung am Fuß der Klippen unter ihm und das Pfeifen des Windes zwischen den Gebäuden ins Bewusstsein. Es würde eine raue Nacht auf dem Wasser werden.
Seine Hand pulsierte. Er blickte hinab und befand, dass er sie jemandem zeigen sollte.
Der Priester. Ja, er wird ein Heilmittel dagegen haben. Roffin drehte sich noch einmal zu der Schänke um und lächelte. Und ich bin davon überzeugt, dass Priester Waiken davon erfahren will, dass wir einen fremdländischen Spion in der Stadt haben.
Sich kräuselndes, wogendes Wasser erstreckte sich in alle Richtungen. Das Licht, das die aufgehende Sonne zurückwarf, formte sich auf seiner Oberfläche zu orangefarbenen Bändern. Gelegentlich trieb ein Seevogel über sie hinweg, ohne auf das Schiff oder seine Passagiere zu achten.
Als Danjin sich nach Westen wandte, konnte er verschwommen blaue Berge über einem dünnen, dunklen Streifen Land erkennen. Das Gebirge der Untergehenden Sonne zog sich an der Westküste Hanias bis zur Spiegelstraße hinauf, wo es mit dem Wasser verschmolz und eine Reihe kleiner Inselchen bildete, über die man zu den größeren somreyanischen Inseln gelangte. Den alten Geschichtschroniken zufolge hatten einige dieser Berge früher Feuer und Asche gespien. »Danjin.«
Er drehte sich überrascht um. Auraya stand selten vor dem Morgengrauen auf. Statt ihrer gewohnten, kunstvollen Frisur trug sie ihr langes Haar jetzt zu einem schlichten Zopf geflochten. Zwischen ihren Brauen stand eine Falte.
»Guten Morgen, Auraya von den Weißen«, sagte er und machte das Zeichen des Kreises. »Es ist ein wunderschöner Morgen, nicht wahr?«
Sie blickte zu der aufgehenden Sonne hinüber, aber die Falte zwischen ihren Brauen löste sich nicht auf.
»Ja. Du hast recht.« Sie sah ihn an. »Ich werde das Schiff in der nächsten Stunde verlassen. Würdest du auf Unfug aufpassen und dafür sorgen, dass Leiard unversehrt sein Quartier erreicht?«
Danjin blickte über das Deck und sah, dass vier Seeleute ein kleines Boot aus den Verankerungen nahmen, in denen es während des größten Teils der Reise geruht hatte.
»Natürlich«, antwortete er. Sie biss sich auf die Unterlippe. Er streckte die Hand aus, berührte sie jedoch nicht. »Kannst du mir erzählen, warum du abberufen wirst?«
Sie drehte sich langsam um und ließ den Blick über die Mannschaft wandern. »Ein wenig kann ich dir wohl verraten«, sagte sie leise. »Juran hat mehrere Berichte über einen pentadrianischen Priester erhalten. Es handelt sich wahrscheinlich um einen Spion, der durch Dörfer und Städte an der Nordküste Hanias reist. Juran hat Dyara ausgeschickt, um den Mann zu fangen, und mich hat er gebeten, von Norden zu kommen, um dem Pentadrianer den Fluchtweg abzuschneiden.«
Er nickte. Jetzt verstand er ihre Furcht. Ihre Ausbildung in der Verwendung ihrer Gaben hatte gerade erst begonnen. Dies könnte womöglich ihre erste feindliche Begegnung mit einem Zauberer sein.
Die Götter werden sie beschützen, sagte er sich. Und Dyara wird das Ganze wahrscheinlich in eine Lektion verwandeln, fügte er im Geiste trocken hinzu.
Ihre Lippen zuckten ein wenig, als sie seine Gedanken las. »Ich werde mit Dyara nach Jarime zurückkehren, daher wirst du für alles Weitere zuständig sein, Danjin Speer.«
»Weiß Leiard, dass du fortgehst und warum?«
Sie schüttelte den Kopf. »Erzähl ihm, was ich dir erzählt habe, aber sag den anderen nur, dass ich mich um eine Angelegenheit an der Küste kümmern müsse.«
Er nickte. »Das werde ich.«
Schweigend betrachtete sie die ferne Küstenlinie. Während sie dem Land näher kamen, kämpfte Danjin eine wachsende Angst nieder. Sie ist eine der Auserwählten der Götter, rief er sich ins Gedächtnis. Sie kann selbst auf sich aufpassen.
Dann wurde ihm klar, dass es nicht ihre Sicherheit war, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. Sie würde vielleicht gezwungen sein, diesen Spion zu töten. Er hätte sich gewünscht, dass sie diese Bürde nicht früher als unbedingt notwendig würde tragen müssen.
Wenn Mairae nur mit uns zurückgekehrt wäre, dachte er, statt in Somrey zu bleiben, um Vorkehrungen für zukünftigen Handel und andere Delegationen zu treffen, die das Land unter den Bedingungen der Allianz aufsuchen würden. Dieser Gedanke war ihm kaum gekommen, als er wusste, dass es ein unwürdiger gewesen war. Mairae mochte voll ausgebildet sein – das vermutete er jedenfalls -, aber sie verdiente es ebenso wenig, die Bürde eines Mordes tragen zu müssen, wie Auraya es verdiente.
Die Sonne stahl sich langsam höher, und die Küste kam näher. Die dunklen Linien, die Danjin aus der Entfernung gesehen hatte, fügten sich zu einer verwitterten, schwarzen Klippe zusammen. Dicht am Rand wurde ein Gebäude mit mehreren Türmen sichtbar. Die Seeleute ließen das Boot zu Wasser, und Auraya stieg behände zu den Ruderern darin hinunter.
Danjin stützte sich auf die Reling und sah ihnen nach. Auraya saß mit durchgedrücktem Rücken da und blickte nicht zurück.
»Ratgeber Danjin Speer.«
Danjin erkannte Leiards Stimme und drehte sich zu ihm um. Er fragte sich, wie lange der Traumweber schon dort gestanden haben mochte.
»Ja, Traumweber Leiard?«
Leiard trat an die Reling und blickte zu dem Boot hinüber. »Ich vermute, Auraya wird heute nicht mit uns zusammen das Morgenmahl einnehmen.«
Danjin schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wird sich mit Dyara treffen, um sich um einen pentadrianischen Spion zu kümmern und anschließend über Land nach Jarime zurückzukehren.«
Leiard nickte. Er beobachtete das Boot noch ein Weilchen, dann wandte er sich wieder zu Danjin um. Seine Mundwinkel zuckten leicht. »Dann sollten wir besser wieder unter Deck gehen, bevor die Kuchenoblaten kalt werden.«
Danjin kicherte. Er drehte sich von der Reling weg und folgte Leiard unter Deck. Als das Boot sich den Klippen näherte, fragte sich Auraya, wie um alles in der Welt sie sicher an Land kommen sollten. Die Wellen krachten gegen schwarzen, steilen Fels und erfüllten die Luft mit salziger Gischt. Jedes Boot, das versuchte, an dieser Stelle vor Anker zu gehen, würde zerschmettert werden, so viel war offenkundig. Die Matrosen legten sich mit aller Kraft in die Riemen und manövrierten das Boot um einen Felsvorsprung herum. Ein schmaler, mit schwarzen Steinen übersäter Sandstrand kam in Sicht. Als die Mannschaft darauf zusteuerte, stieß Auraya einen Seufzer der Erleichterung aus.
Sie hob den Blick und konnte eine gezackte, in den Felsen gemeißelte Treppe erkennen, die auf die Klippen führte. Das Boot kratzte über den Sand. Die Männer zogen ihre Ruder ein und sprangen von Bord, und als eine Welle das Boot vorwärtstrieb, zogen sie es den Strand hinauf.
Auraya erhob sich und stieg aus. Als ihre Sandalen im Sand versanken, lief ihr kaltes Wasser über die Füße. Sie bedankte sich bei den Ruderern, die das Boot zurück ins Wasser zogen, und ging auf den Fuß der Treppe zu.
Die Treppe war steil und schmal, und in der Mitte einer jeden Stufe hatte sich eine Vertiefung gebildet. Auraya stieg hinauf und war schon bald außer Atem. Je höher sie kam, desto bedrohlicher wirkte der steile Abfall zum Ufer hin. Der Wind peitschte ihre Gewänder auf, und sie fragte sich beklommen, was geschehen würde, sollte sie stürzen. Dyara hatte ihr nicht beigebracht, wie man einen Sturz überlebte. Würde ein Abwehrschild, den sie bei einem magischen Angriff benutzte, sie auch bei einem Sturz in die Tiefe retten?
Vielleicht war es besser, nicht darüber nachzugrübeln. Auraya drängte ihre Furcht entschlossen beiseite und setzte ihren Aufstieg fort. Schon bald kehrten ihre Gedanken zu der Aufgabe zurück, die Juran ihr gestellt hatte. Der Pentadrianer war in Schankhäusern gesehen worden, wo er vielleicht hoffte, Dinge belauschen zu können, die für sein Volk von Interesse wären. Seine Beschreibung passte nicht zu der des mächtigen Zauberers, gegen den Rian gekämpft hatte; dieser Mann war älter und außerdem dunkelhaarig. Dennoch konnte Auraya eine gewisse Furcht nicht unterdrücken.
Es kann nicht zwei Zauberer von solcher Stärke geben, hatte Juran ihr versichert. Möglich, dass wir alle hundert Jahre einem begegnen. Dieser Mann ist immer wieder in ärmlichen Quartieren abgestiegen. Ich bezweifle, dass seine Gaben so stark sind wie die einer Hohepriesterin.
Als sie endlich oben auf den Klippen angelangt war, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass eine kleine Menschenmenge sie erwartete. An einer Seite des aus Schwarzstein gebauten Hauses am Rand der Klippen hatte sich ein Dorf angesiedelt. Ein Priester trat vor. »Willkommen in Caram, Auraya von den Weißen. Ich bin Priester Valem.«
Sie lächelte. »Vielen Dank, Priester Valem.«
Er deutete auf einen gut gekleideten Mann mit hellen Augen und grauen Strähnen im Haar. »Das ist Borean Steinmetz, unser Dorf Vorsteher.«
Sie nickte dem Mann grüßend zu, der daraufhin mit beiden Händen das formelle Zeichen des Kreises formte. Andere Dorfbewohner folgten seinem Beispiel. Auraya bemerkte, dass sie alle sehr schlicht gekleidet waren. Einer der Männer trug noch die versengte Schürze eines Metallarbeiters. Die meisten der Menschen mieden ihren Blick, während einige sie voller Ehrfurcht ansahen. Sie schenkte ihnen ein herzliches Lächeln.
»Ich bin außerdem der Besitzer des Wachhauses«, sagte Borean und deutete auf das Gebäude am Rand der Klippen. »Priester Valem hat dort ein Quartier für dich herrichten lassen.«
»Es wäre mir eine Ehre, dein Haus zu besuchen«, erwiderte Auraya. »Ich hoffe nur, dass ich dir keine Unannehmlichkeiten bereitet habe.«
»Dein Besuch macht keine Mühe«, antwortete er. Er hob die Hand zu einer höflichen Geste, und sie gingen auf das Haus zu. Der Priester trat an ihre Seite. »Ich vermiete von Zeit zu Zeit Zimmer an Reisende, daher bin ich nicht ganz unvorbereitet auf Gäste«, versicherte ihr Borean. »Aber die Annehmlichkeiten von Jarime kann ich dir nicht versprechen.«
»Weder ich noch meine Gefährtin von den Weißen führen ein luxuriöses Leben. Ist das Haus sehr alt?«
Sie brauchte kein Interesse zu heucheln, als er ihr die lange Geschichte des Gebäudes erzählte. Es war vor vielen hundert Jahren von einem seiner Vorfahren errichtet worden und diente seither als Wohnhaus und auch als Wachturm, um die Dorfbewohner im Falle eines Angriffs vom Meer her vorzuwarnen.
An der Tür angekommen, hielt Auraya inne, um den Dörflern für ihre Begrüßung zu danken. Dann bat sie Borean, sie durch das Haus zu führen, wobei der Priester ihnen schweigend folgte. Das Innere war nicht besonders luxuriös, aber reichlich mit Artefakten ausgestattet. Zu guter Letzt kamen sie in einen der massigen Türme, wo Borean ihr die Räume zeigte, die ihr als Quartier dienen sollten.
»Ich habe veranlasst, dass einige Frauen aus dem Dorf dir aufwarten...«
Ein lautes Krachen von unten unterbrach ihn, dann hörten sie den Schrei einer Frau und eilige Schritte. Borean und Priester Valem tauschten einen verwirrten Blick, dann entschuldigte sich der Dorfvorsteher und ging zum Eingang der Zimmerflucht. Einen Moment später tauchte ein Mann in einem braunen Reisekapas in der Tür auf und versperrte ihm den Weg. Der Mann schenkte dem Dorfvorsteher und dem Priester nur wenig Beachtung und sah stattdessen Auraya an.
Ein Kribbeln überlief sie. Der Mann hatte etwas Eigenartiges an sich. Seine Haut war bleich, aber seine Augen waren so schwarz, dass sie die Pupillen nicht erkennen konnte. Dies war jedoch nicht die Quelle der Eigenartigkeit, die ihr aufgefallen war. Sie schaute genauer hin, und als sie begriff, was es war, krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie konnte seine Gedanken nicht lesen.
»Wer bist...?«, begann Borean.
Der Mann sah den Dorfvorsteher an. Borean taumelte rückwärts. Er stürzte schwer zu Boden und hielt sich, um Atem ringend, den Bauch. Auraya zog Magie in sich hinein und schuf hastig eine Schutzbarriere quer durch den Raum zwischen Borean und dem Zauberer. Der Dorfvorsteher kroch, immer noch nach Luft ringend, von der Tür weg. Auraya machte einen Schritt auf ihn zu, ergriff seinen Arm und half ihm auf die Füße, wobei sie den Blick nicht von dem Mann in der Tür abwandte.
»Bist du verletzt?«, fragte sie Borean leise.
»Nur... atemlos«, antwortete er heiser.
»Gibt es noch einen anderen Weg, der aus diesen Räumen hinausführt?«
Er nickte.
»Gut. Dann geh und nimm den Priester mit.« Juran, hei sie, nachdem die beiden Männer durch eine Nebentür verschwunden waren. Ja?
Der pentadrianische Spion ist hier. Jetzt schon?
Ja. Sie stärkte die Verbindung und ließ ihn den Zauberer durch ihre Augen sehen.
Was kannst du aus seinen Gedanken erfahren?
Nichts. Ich kann in seinem Geist nicht lesen. Ist das eine Fähigkeit, die man bei Pentadrianern häufig antrifft?
Das weiß ich nicht. Wir müssen diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Ich werde mich mit Dyara in Verbindung setzen.
Er hat mich eigens hier ausfindig gemacht. Es gibt keinen anderen Grund, warum er in dieses Haus gekommen sein könnte. Bist du dir sicher, dass er ein Spion ist?
Er muss dich für eine Priesterin von einiger Bedeutung halten, und er hat die Absicht, dir Informationen abzupressen. Ich bezweifle, dass er weiß, wer du bist.
»Du musst Auraya von den Weißen sein«, sagte der Pentadrianer.
Sie sah ihn überrascht an.
So viel zu dieser Theorie, wandte sie sich an Juran. Wo ist Dyara?
Einen Ritt von einer Stunde entfernt, antwortete Dyara. Sorg dafür, dass er weiterredet, Auraya, und dass er das Haus nicht verlässt. Ich werde bald dort sein.
»Ich bin Auraya«, erklärte sie. »Wer bist du?«
»Ich bin Kuar, Erste Stimme der Götter«, antwortete er.
Großer Chaia! Der Anführer der Pentadrianer?, sagte Juran ungläubig. Warum sollte sich der Anführer eines Kults allein in den Norden wagen? Der Mann muss lügen.
Der Pentadrianer kam langsam auf sie zu. »Warum bist du hier?«, fragte sie.
»Ich bin gekommen, um dich zu sehen«, erwiderte der Zauberer.
»Mich? Warum?«
»Um in Erfahrung zu bringen...« Er erreichte ihre Barriere. Als er die Hände davor ausbreitete, teilte sich sein Kapas, und darunter wurden schwarze Kleider und ein silberner Sternenanhänger sichtbar. Auraya runzelte die Stirn. Ein Spion würde ein fremdes Land nicht nur mit einem Kapas durchreisen, das die Gewänder seines Volkes verbarg.
»Was wünschst du, in Erfahrung zu bringen?«, fragte sie.
Ein machtvoller Zauber prallte auf ihren Schild, und Magie züngelte wie flammende Blitze über seine Oberfläche. Auraya sog scharf die Luft ein, als sie die Stärke des Zaubers sah. Der Angriff brach ab, und der Pentadrianer musterte sie kühl.
»Wie stark ihr Heiden seid«, erwiderte er.
Sie durchbohrte den Pentadrianer mit einem Blick, von dem sie hoffte, dass er eiskalt war. »Hat das deine Frage beantwortet?«
Der Zauberer zuckte die Achseln. »Nicht ganz.«
Auraya verschränkte die Arme vor der Brust und starrte den Fremden trotzig an. Innerlich zitterte sie jedoch, so sehr hatte der Angriff des Pentadrianers sie erschreckt.
Juran, sagte sie. Ich vermute, deine Theorie, dass alle hundert Jahre nur ein mächtiger Zauberer geboren wird, ist falsch. Und ich denke, deine Theorie von dem Spion ist ebenfalls falsch.
Ich befürchte, dass du in beiden Punkten recht hast, stimmte Juran ihr zu. Er ist stark, aber du bist es ebenfalls.
Ich habe bisher kaum mehr gelernt, als mich mit einem Schild zu schützen’.
Das ist alles, was du brauchst. Wenn Dyara ankommt, wird sie sich um ihn kümmern.
Die Augen des Zauberers wurden schmal. Ein zweiter magischer Angriff prallte auf ihre Barriere, die jetzt leise zu summenbegann. Zu beiden Seiten des Raums versengte überschüssige Magie die Farbe an den Wänden und setzte die Möbel in Brand. Während Angriff auf Angriff folgte, zog Auraya mehr und mehr Magie in sich hinein, um sich gegen den Pentadrianer zur Wehr zu setzen.
Bei den Göttern, er ist stark!
Dein Schild ist zu groß, warnte Juran sie. Du musst ihn näher an dich heranziehen, dann wird er dir von größerem Nutzen sein.
Sie befolgte seinen Rat. Nachdem ihre Barriere sich von einem Moment zum anderen aufgelöst hatte, zerschmetterte der nächste Angriff des Zauberers Gemälde, Möbelstücke und Fenster. Angesichts der Zerstörung um sie herum durchzuckten sie kurz Gewissensbisse.
Der Angriff brach ab. Sie beobachtete das Gesicht des Pentadrianers. In seinen Augen stand ein nachdenklicher Ausdruck. Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Es gibt zivilisiertere Methoden, um solche Dinge zu erledigen«, erklärte sie. »Wir könnten eine Art Probe ersinnen. Vielleicht könnten wir jährliche Spiele abhalten. Die Menschen würden von weit her...«
Als ein brutaler, machtvoller Zauber auf ihren Schild prallte, richtete sie ihre gesamte Konzentration darauf, Magie in sich hineinzuziehen und in ihren Schild zu leiten. Der Mann beobachtete sie aufmerksam und ließ keine Anzeichen von Anstrengung erkennen, während sein Ansturm immer stärker wurde. Am Ende gelang es ihr nicht mehr, schnell genug Magie in sich hineinzuziehen, um seinen Angriff abzuwehren. Als ihr Schutzschild zerbrach, wurde sie von weißem Licht geblendet. Sie erlebte einen kurzen Augenblick puren Schmerzes. Rückwärts taumelnd rang sie nach Luft und blickte an sich hinab. Sie lebte und war zu ihrer Überraschung unverletzt.
Flieh! Jurans Botschaft klang wie ein Schrei in ihren Gedanken. Er ist stärker als du. Es gibt nichts mehr, was du noch tun könntest.
Die Erkenntnis traf sie wie ein körperlicher Schlag. Der Pentadrianer konnte sie töten. Eine Woge des Entsetzens schlug über ihr zusammen, und sie schuf hastig einen weiteren Schild. Als sie zu dem Zauberer aufblickte, sah sie ihn breit grinsen. So viel zum Thema Unsterblichkeit, schoss es ihr durch den Kopf. Die Menschen werden mich als die kurzlebigste Unsterbliche in der Geschichte in Erinnerung behalten! Sie machte einige Schritte in Richtung der Nebentür und traf auf eine unsichtbare Kraft.
»Nein, nein«, sagte der Pentadrianer. »Du wirst nicht gehen. Ich möchte sehen, wie du deine Götter anrufst. Werden sie erscheinen? Das wäre interessant. Und es würde viele Fragen beantworten.«
Hast du ein Fenster hinter dir?, fragte Dyara.
Ja, aber wenn ich mich darauf zubewege, wird er mir den Weg versperren.
Dann wirst du dich ihm widersetzen müssen. Er wird einige Zeit brauchen, um deine Abwehr erneut zu durchbrechen. Nutze diese Zeit, um das Fenster zu erreichen.
Auraya wich vor dem Zauberer zurück. Sein Lächeln wurde breiter, und sie vermutete, dass er glaubte, sie habe Angst vor ihm, eine Erkenntnis, die ihn erheiterte. Ich habe wirklich Angst vor ihm! Sie trat in ein Rechteck aus Licht, das das zerschmetterte Fenster hinter ihr bildete, und spürte warmes Sonnenlicht auf ihren Waden. Der Zauberer blickte auf ihre Füße hinab und runzelte die Stirn. Sein Blick flackerte zu dem Fenster hinüber, und seine Augen wurden schmal.
Eine unsichtbare Kraft traf ihren Schild. Obwohl sie dagegen ankämpfte, war sie nicht stark genug, um zu verhindern, dass sie mit dem Rücken gegen die Wand gepresst wurde. Das Fenster war eine Armeslänge von ihr entfernt. Der Pentadrianer kam auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand.
»Wo sind deine Götter?«, fragte er. »Ich kenne deine Stärke. Es wird nicht lange dauern, bis ich dich abermals besiegt habe. Ruf nach deinen Göttern.«
Das Fenster war so nah, aber sie konnte sich nicht bewegen.
Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Sie existieren nicht. Ihr seid Betrüger. Du verdienst es zu sterben.«
Er breitete vor ihrer Brust die Finger aus. Sie versuchte zurückzuweichen, aber die Wand drückte sich hart in ihren Rücken. Wenn es nur möglich gewesen wäre, durch sie hindurchzugelangen...
Aber natürlich ist es möglich! Sie griff nach ihrer Macht und sandte sie rückwärts in die Mauer. Die Mauer gab mit einem ohrenbetäubenden Krachen nach. Auraya sah, wie die Augen des Zauberers sich vor Überraschung weiteten, als sie ihm entglitt und in die Tiefe stürzte. Sie wappnete sich gegen den Aufprall ihres Schilds, wenn er auf dem Boden aufschlug.
Aber nichts Derartiges geschah.
Sie stürzte immer weiter. Als sie sich umdrehte, sah sie Sand, Felsen und Wasser in rasendem Tempo auf sich zukommen.
Ich muss anhalten!
Sie spürte, wie Magie als Reaktion auf den Befehl in ihren Gedanken durch sie hindurchströmte. Das Gefühl, zu fallen, endete mit einem jähen Ruck. Einen Moment lang war sie zu verblüfft, um denken zu können. Sie atmete einmal tief durch, dann noch einmal. Langsam öffnete sie die Augen, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, wann sie sie geschlossen hatte.
Eine Armeslänge von ihr entfernt lag eine Mauer aus dunklem Sand.
Keine Mauer, korrigierte sie sich, sondern der Strand. Sie blickte sich um und sah die Klippenwand zu ihrer Rechten und das Meer zu ihrer Linken. Sie schwebte.
Wie ist das möglich?
Sie dachte zurück und sann über die Idee nach, die ihr durch den Kopf gegangen war.
Ich wollte anhalten. Wollte aufhören, mich zu bewegen.
Aber es war mehr als das. Sie hatte gesehen, wie die Dinge um sie herum sich bewegten. Aber nicht nur die Klippen und das Meer hatten sich bewegt. Alles. Die Welt hatte sich bewegt.
Und ich habe es getan. Sie schüttelte staunend den Kopf. Und ich tue es immer noch. Kann ich mich noch einmal selbst bewegen, indem ich mein Wollen darauf richte, meine Position im Verhältnis zur Welt zu wechseln?
Sie zögerte, denn sie befürchtete, dass sie diese neue Gabe verlieren würde, wenn sie sie näher untersuchte. Wenn das geschah, würde sie auf den Strand hinunterfallen. Es würde kein tödlicher Sturz sein, sondern nur ein enttäuschender.
Aber, überlegte sie, wenn diese Fähigkeit – diese Gabe – großes Nachdenken erfordert hätte, hätte ich von Anfang an davon gewusst. Nein, diese Gabe war anders als alle, die sie bisher erlernt hatte. Dies war ein Gefühl, als lerne man laufen. Etwas, über das sie nicht nachzudenken brauchte.
Wenn sie sich in dieser Lage bewegen konnte, wäre es so, als flöge sie. Dieser Gedanke erfüllte sie mit einer prickelnden Erregung.
Ich muss es versuchen. Ich in Bezug zur Welt. Ich möchte mich umdrehen und aufsteigen.
Mit drei abrupten Bewegungen rollte sie sich auf die Seite. Über ihr waren die Klippen. Sie dachte daran, höher aufzusteigen, und es geschah. Langsam und schließlich mit wachsender Geschwindigkeit bewegte sie sich aufwärts. In aufrechter Haltung würde es noch besser sein, befand sie. Langsam drehte sie sich, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie bewegte sich zum Rand der Klippen und hielt schließlich inne, als sie feststellte, dass sie auf das Wachhaus hinabblickte.
Schlagartig fiel ihr der Zauberer wieder ein, und ihr Jubel erstarb. Aus dem Loch, das sie in die Seite des Hauses gesprengt hatte, entwich Rauch. Einige Dorfbewohner schleppten aus einem Brunnen Eimer mit Wasser herbei. Mit vor Furcht verkrampftem Magen suchte sie nach dem Zauberer. Wenn er noch dort war, würde sie sich zurückziehen müssen, bis Dyara ankam.
Vorsichtig bewegte sie sich über das Dorf hinweg, aber sie hielt vergeblich nach ihm Ausschau. Dann sah sie eine dunkle Gestalt, die auf einem Reyna in Richtung Norden ritt. Sie suchte nach seinen Gedanken, konnte jedoch nichts finden. Sie seufzte erleichtert.
Er muss angenommen haben, ich sei gestorben. Und Juran und Dyara werden sich fragen, was geschehen ist. Sie lächelte. Sie werden es mir nicht glauben.
Juran.
Auraya? Du lebst. Was...? Wo bist du?
Über Caram.
Ich verstehe nicht...
Ich auch nicht. Die Götter konnten mich nicht stärker machen, also haben sie mir stattdessen eine neue Gabe geschenkt. Ich kann den Zauberer sehen. Er reitet davon. Soll ich ihm folgen? Oder soll ich auf Dyara warten?
Bring dich nicht in Gefahr. Warte auf Dyara. Ihr müsst beide zurückkehren.
Wir dürfen den Zauberer nicht entkommen lassen!, protestierte Dyara.
Wir müssen. Du bist stärker als Auraya, aber wir wissen nicht, ob du stark genug bist, und bevor Auraya ihre Ausbildung beendet hat, sollten wir sie nicht in den Kampf gegen derart gefährliche Zauberer schicken – nicht einmal mit Unterstützung. Reite zu Auraya, und dann kehrt ihr beide nach Jarime zurück.
Auraya betrachtete die Gebäude unter ihr. Der Rauch, der aus dem Wachhaus aufgestiegen war, hatte sich aufgelöst. Im nächsten Moment kam Borean aus dem Haus, und sie entnahm seinen Gesten, dass er den Dorfbewohnern mitteilte, dass das Wasser nicht länger vonnöten sei.
Wo bist du, Dyara?
Auf der Straße, nicht mehr weit von dir entfernt. Ich werde mich nach Süden wenden und dir entgegenkommen. Mit diesen Worten brach Auraya die Verbindung ab und gab ihrem Körper den Befehl, sich wieder in Bewegung zu setzen.
Das Erste, was Leiard auffiel, als Danjin Speer die Tür zu Aurayas Räumen öffnete, war die Blässe des Ratgebers. Die Höhenangst des Mannes trat deutlicher zutage als gewöhnlich, aber jetzt kamen auch noch Überraschung und Staunen hinzu.
»Traumweber Leiard«, sagte Danjin ein wenig atemlos. »Mairae hat mir aufgetragen, dich auf das Dach zu schicken. Du wirst über die Treppe dort hinauf gelangen.« »Vielen Dank, Danjin Speer.«
Kühle Luft strömte aus dem Raum hinaus. Leiard hielt inne und blickte über Danjins Schulter, wo zwei Arbeiter vor einem Fenster standen, in dem die Glasscheibe fehlte.
Das ist also der Grund für seineverstärkte Furcht. Er ist sich nur allzu deutlich darüber im Klaren, dass nichts zwischen ihm und dem steilen Abgrund jenseits des Fensters liegt. Aber warum fehlt das Glas? Ist dort vielleicht jemand hinausgestürzt? Er konnte weder von dem Ratgeber noch von den beiden Arbeitern eine Regung auffangen, die diesen Verdacht bestätigte.
Als Danjin entschlossen die Tür hinter sich zuzog, war Leiard die Sicht in den Raum versperrt. Er schüttelte den Kopf und ging langsam die Treppe hinauf. Das Rätsel würde wahrscheinlich gelöst werden, wenn er mit Auraya sprach.
Die Herold war vor drei Tagen nach Jarime und Leiard in das Haus der Bäckers zurückgekehrt. Die Nachricht von der Unterzeichnung der Allianz war noch schneller gereist, und Tanara hatte bereits ein Festmahl vorbereitet, zu dem sie auch andere Traumweber und wohlwollende Freunde geladen hatte. Nicht alle waren sich so sicher wie sie, dass dies der Beginn des Friedens zwischen Traumwebern und Zirklern sein würde, aber alle stimmten darin überein, dass die Schikanen den »Heiden« gegenüber während der letzten Monate in Jarime deutlich nachgelassen hatten.
Jayim war den ganzen Abend über schweigsam und in sich gekehrt gewesen. Später hatte er Leiard nach seiner Rolle befragt. Leiard hatte gespürt, dass der Junge kurz davor stand, über seine Zukunft zu entscheiden. Er drängte ihn jedoch weder in die eine noch in die andere Richtung. Diese Entscheidung musste Jayim ganz allein treffen. An diesem Morgen herrschte im Haus ein Gefühl von Entschlossenheit. Jayim war angespannt und still gewesen und hatte offensichtlich auf einen geeigneten Augenblick gewartet, um zu sprechen. Am Ende des Morgenmahls hatte er gefragt, ob Leiard ihn noch immer unterrichten wolle. Einige Worte später hatte Leiard einen neuen Schüler. Tanara hatte kaum Zeit genug gehabt, um das Geschehene zu begreifen, als der Ruf in den Weißen Turm gekommen war. Als Leiard das Haus verlassen hatte, hatte der Junge übers ganze Gesicht gegrinst, und seine Mutter war bereits mit den Plänen für ein weiteres Festmahl beschäftigt gewesen. Als er nun die Treppe zum Dach hinaufging, fragte sich Leiard, ob er glücklich mit dieser Vereinbarung war. Jayim war klug und mit Gaben gesegnet. Mit der richtigen Ausbildung und der Reife zunehmenden Alters würde er einen guten Traumweber abgeben. Warum also verspürte er nach wie vor einen Hauch von Bedauern? Verlangte es ihn nach Einsamkeit? Wollte er sich einfach nicht mit einem Schüler belasten? Oder hoffte er tief im Innern noch immer, dass Auraya zu ihm zurückkehren würde?
Wenn ich das tue, bin ich ein Narr.
Am oberen Ende der Treppe kam eine kleine, halb geöffnete Tür in Sicht. Leiard spürte einen kalten Luftzug auf seinen Wangen. Als er hinaustrat, nahm er einen Schatten wahr, der über der Balustrade des Turms hin und her huschte. Stirnrunzelnd blieb er stehen. Der Schemen war zu groß gewesen, um ein Vogel sein zu können. Er hatte den flüchtigen Eindruck von menschlichen Gliedmaßen gewonnen. War ein Siyee nach Jarime gekommen? Bei diesem Gedanken beschleunigte sich sein Herzschlag. Soweit er wusste, war noch nie zuvor ein Siyee so weit geflogen. Er eilte zum Geländer hinüber.
Jetzt konnte er die Gestalt deutlich erkennen. Es war kein Siyee, sondern ein Mensch von gewöhnlichen Körpermaßen. Es war unmöglich, aber dieser Mensch – diese Frau – hatte keine Flügel. Ein weißer Zirk flatterte um ihre Schultern. Sie vollführte mitten in der Luft einige langsame Drehungen. Als sie ihm das Gesicht zuwandte, setzte sein Herz einen Schlag aus.
Auraya!
Er sah sie ungläubig an. Wie ist das möglich? Natürlich mit Magie, antwortete eine Stimme in seinen Gedanken.
Er hatte etwas Derartiges noch nie gesehen. Obwohl viele Zauberer es versucht hatten, war es keinem je gelungen. Bis jetzt hatte er keine Ahnung gehabt, dass es überhaupt möglich war, aber jetzt trotzte Auraya vor seinen Augen dem Sog der Erde.
Sie flog!
Er sann darüber nach, was die Fähigkeit des Fliegens die Siyee gekostet hatte, und plötzlich tat es ihm weh, Auraya zu beobachten. Es war nicht nur dieser Schmerz, der ihn quälte, sondern auch ein Gefühl von Leere, als wären seine letzten Hoffnungen plötzlich erstorben. Wie sehr das Leben Auraya auch enttäuschen mochte, von dem hier würde nichts sie jemals fortlocken können.
Sie grinste breit, ganz und gar konzentriert auf die akrobatischen Kunststückchen, die sie geschickt, wenn auch langsam vollführte.
»Leiard!«, rief sie. »Sieh nur, was ich kann!« Sie vollführte eine weitere Drehung. Ihr Zirk flatterte, und er bemerkte, dass sie statt der gewohnten, langen Tunika Hosen darunter trug. Zweifellos wäre es in einer Tunika schwierig gewesen zu fliegen – zumindest mit einem Hauch von Würde.
Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Der kindliche Jubel in ihrer Stimme erinnerte ihn an das Mädchen, das sie einst gewesen war. Ihr Blick ging an ihm vorbei, und ihr Grinsen entspannte sich zu einem Lächeln. Sie flog steil auf den Turm zu, und Leiard beobachtete, wie sie auf dem Dach landete.
Ein Priester kam auf sie zu. Der Mann hatte eine würdevolle Haltung, aber auf seinen Zügen malte sich ein Ausdruck freundlicher Besorgnis ab. Irgendwie kam er ihm vertraut vor.
Er ist es, sagte die Stimme in den Tiefen von Leiards Geist.
Wer?, fragte Leiard. Es kam keine Antwort, aber er brauchte auch keine. Der Zirk dieses Priesters war schmucklos, und es gab nur einen einzigen Weißen, dem er noch nicht begegnet war.
»Juran«, sagte Auraya. »Das ist Traumweber Leiard. Leiard, das ist Juran von den Weißen.«
Eine Erinnerung blitzte in Leiards Geist auf, eine Erinnerung an Jurans von Entschlossenheit starrem Gesicht. Mit dieser Regung kam ein Aufwallen von Furcht. Leiard gelang es, sie zu unterdrücken. Es gab keine Möglichkeit, diese Begegnung jetzt noch zu verhindern. Juran hat keinen Grund, mir Schaden zufügen zu wollen, sagte er sich. Der Weiße runzelte die Stirn, zweifellos, weil er Leiards Gedanken aufgefangen hatte, aber dann entspannten sich seine Züge.
»Traumweberratgeber Leiard«, sagte er. »Es ist mir eine Freude, dich endlich kennenzulernen. Vielen Dank für deine Hilfe bei den Verhandlungen für die somreyanische Allianz. Auraya und Mairae haben mir erzählt, dass deine Unterstützung von unschätzbarem Wert gewesen sei.«
Leiard neigte den Kopf. »Es war mir ein Vergnügen, von Nutzen sein zu können.« Er sah Auraya an. »Und anscheinend sind die Götter ja recht zufrieden mit Aurayas Bemühungen.«
Juran lächelte. »Sie hätten uns warnen können«, sagte er kläglich, aber ohne einen Anflug von Tadel in der Stimme. Dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst.
»Auraya hat mir von den Netzerinnerungen erzählt. Sie sagt, du trügest viele Erinnerungen Mirars in dir.«
Aurayas Lächeln erlosch. Sie sah Leiard mit besorgter Miene an.
»Ja«, erwiderte Leiard. »Ich habe allerdings keine Ahnung, wo oder von wem ich sie aufgefangen habe. Es sind viele Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal an einer Erinnerungsvernetzung teilgenommen habe.«
Juran nickte. »Wie weit reichen diese Erinnerungen in Richtung Gegenwart?«
»Es sind nur Bruchstücke«, antwortete Leiard wahrheitsgemäß. »Es ist schwer zu wissen, auf welche Zeit sie sich beziehen. Einige sind alt, wie man an dem noch frischen Zustand mancher markanter Bauwerke sieht. Manchmal lässt es sich unmöglich feststellen.«
Juran öffnete den Mund, als wolle er noch etwas sagen, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich zu Auraya um. »Wir haben heute viel zu tun, und ich bin davon überzeugt, dass dein Ratgeber es sehr zu schätzen wüsste, wenn du dich für eine komfortablere Umgebung als das Turmdach entscheiden würdest, wo wir über euren Aufenthalt in Somrey sprechen können.«
»Dann sollten wir uns vielleicht in deinen Räumen treffen«, schlug sie vor. »Ich habe Handwerker in mein Quartier gebeten, die aus dem Fenster in meinem Zimmer eine Tür machen sollen. Es ist ein wenig... zugig.«
Juran zog die Augenbrauen hoch. »Also dann, mein Quartier.« Er sah Leiard an. »Wir sollten die Unterredung nicht länger hinauszögern.« Mit einer höflichen Geste bedeutete er Leiard, dass er an seiner Seite zurück zu der Tür des Treppenhauses gehen sollte.
Leiard folgte seinem Wink, verspürte dabei jedoch ein tiefes Unbehagen. Vertrau ihm nicht, flüsterte die andere Stimme in seinen Gedanken. Leiard holte tief Luft und tat sein Bestes, die Stimme zu ignorieren. Je früher er Jayim die Vernetzung lehrte und auf diese Weise regelmäßig seine eigene Identität bekräftigen konnte, umso besser. Diesmal weckten die rituellen Worte, die Juran zu Beginn der Versammlung im Altar rezitierte, Dankbarkeit und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Die beiden kurzen Sätze, die sie beizutragen hatte, kamen ihr mehr denn je von Herzen. »Wir danken euch.«
Ihr Dank schloss nun auch die außerordentliche Gabe ein, die die Götter ihr geschenkt hatten. Juran hatte sie früh am Morgen auf das Dach gerufen, um festzustellen, ob auch er diese Fähigkeit würde meistern können. Obwohl sie es ihm so deutlich wie nur möglich erklärt und sogar ihr Wissen darüber in seine Gedanken gesandt hatte, konnte er es ihr nicht gleichtun.
»Vielleicht sollte ich mich einfach vom Turm stürzen«, hat zu hatte er einmal gemurmelt. Als er jedoch über das Geländer zu Boden geblickt hatte, hatte ihn ein Schaudern überlaufen- »Nein, ich denke, manche Risiken sind einfach zu groß. Es wäre keine angenehme Weise, herauszufinden, dass diese Gabe ausschließlich für dich bestimmt ist.« Was eine interessante Möglichkeit war. Würden auch die anderen ihre eigenen, einzigartigen Gaben empfangen? Vielleicht würden die Götter sich heute erklären... »Leitet uns.«
Bei diesen Worten wanderten ihre Gedanken zu dem anderen Grund für ihre Versammlung hier, und ihre Stimmung verdüsterte sich. Sie wollten ihre Begegnung mit dem pentadrianischen Zauberer erörtern.
Nachdem das kurze Ritual vollzogen war, sah Juran die anderen Weißen mit ernster Miene an.
»Zwei schwarze Zauberer«, sagte er. »Beide Pentadrianer. Beide mächtig. Einer, der behauptet, Kuar zu sein, der Anführer ihres Kults. Wenn er ihr Anführer ist, warum ist er dann allein hergekommen? Warum ist der andere Pentadrianer gekommen? Stellen sie eine Gefahr für Nordithania dar?« Er hielt inne und sah sie der Reihe nach erwartungsvoll an.
»Die Antwort auf deine letzte Frage liegt auf der Hand«, sagte Dyara. »Dieser Mann namens Kuar hat Auraya in einer simplen Kraftprobe besiegt. Sie ist stärker als Rian und Mairae. Das bedeutet, dass er zumindest für drei von uns eine Gefahr darstellt. Der erste Pentadrianer hat uns gezeigt, wie gefährlich diese Leute für das Volk von Nordithania sein können.«
»Kuar hat keine gewöhnlichen Menschen getötet«, rief Juran ihr ins Gedächtnis. »Wir sollten nicht alle Pentadrianer nach den Taten des ersten Zauberers beurteilen, dem wir begegnet sind. Jener könnte seine Macht missbraucht haben, während seine Oberen ihn nicht unter ihrer Kontrolle hatten.«
Dyara nickte stirnrunzelnd. »Das ist wahr.«
»Wir können sicher sein, dass sie uns verachten«, sagte Rian. »Beide haben uns Heiden genannt.«
»Ja«, stimmte Auraya ihm zu. »Kuar drängte mich, die Götter anzurufen, als glaube er nicht, dass sie mich beschützen würden.«
Es ist offenkundig, dass ihr größter Groll gegen uns seinen Grund in der Religion hat und dass sie gefährlich sind, sagte Mairae. Selbst durch die telepathische Verbindung konnte Auraya die Ungeduld der anderen Frau spüren.
Ich möchte wissen, wozu sie fähig sind und ob sie weitere Angriffe planen.
»Wir müssen weitere Spione aussenden«, sagte Dyara.
Juran nickte. »Wir haben bereits einige dort, aber es ist an der Zeit, ihre Zahl zu vergrößern. Außerdem brauchen wir mehr Priester, um die Weitergabe von Informationen zu beschleunigen.«
»Sie mögen keine zirklischen Priester«, warnte Rian. »Alle Priester und Priesterinnen, die nach Südithania gereist sind, sind wieder nach Hause geschickt worden.«
»Dann werden diejenigen, die wir jetzt hinschicken, eben nicht als solche zu erkennen sein.«
»Wenn man sie entdeckt, wird man sie töten.«
Juran verzog das Gesicht. »Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Sucht Freiwillige unter den Priestern und Priesterinnen, und stellt sicher, dass sie gut informiert sind. Ich möchte niemanden nach Südithania schicken, der sich der Gefahr nicht vollauf bewusst ist.«
Rian nickte.
Juran rieb sich nachdenklich das Kinn. »Kuar hat nicht von Anfang an auf sich aufmerksam gemacht. Nicht so, wie es der erste pentadrianische Zauberer getan hat. Anscheinend haben beide zunächst einmal unsere Verteidigungsstrategien und unsere Stärke getestet. Ich hoffe, sie sind zu dem Schluss gekommen, dass wir zu mächtig sind, so dass sie von weiteren Angriffen absehen werden.« Er seufzte. »Es ist offenkundig, dass keiner von uns einem dieser pentadrianischen Zauberer allein entgegentreten sollte. Wir werden unsere eigenen Maßnahmen im Verborgenen durchführen müssen, so dass nur einige wenige Menschen, denen wir vertrauen können, davon erfahren, wenn einer von uns von den anderen getrennt ist.« Er runzelte die Stirn. »Hoffen wir, dass diese beiden Zauberer nicht gemeinsam zurückkehren.«
Auraya schauderte bei dem Gedanken, was ihr einen mitfühlenden Blick von Dyara eintrug. Dyaras Einstellung Auraya gegenüber hatte sich merklich verändert. Sie war weniger kritisch und beinahe freundschaftlich. Auraya hoffte, dass dies das Ergebnis ihres Erfolgs in Somrey war, argwöhnte jedoch, dass Dyara ihr lediglich den Rücken stärken wollte, falls der Kampf gegen Kuar Auraya aus dem Gleichgewicht gebracht haben sollte.
»Wo ist Kuar jetzt?«, fragte Dyara.
»Einen Tag nach seiner Begegnung mit Auraya wurde er auf dem Weg in Richtung Norden gesehen, dann hat er wie der erste Zauberer ein Boot gestohlen.«
»Was ist mit dieser Zauberin, die in Toren gesehen wurde?«, fragte Rian. Juran schüttelte den Kopf. »Sie ist keine Pentadrianerin. Nach den Berichten, die ich gehört habe, hat sie allein in einem alten Leuchtturm gelebt und den Einheimischen Heilmittel verkauft. Irgendwann hat der Dorfvorsteher an ihrem Tun Anstoß genommen und einen Priester herbeigerufen, der sie vertreiben sollte, aber sie konnte noch vor seiner Ankunft fliehen. Der Priester hätte es normalerweise dabei bewenden lassen, aber die Geschichten, die sich um die Frau ranken, haben ihn beunruhigt. Die Dörfler behaupten, sie habe mehr als hundert Jahre lang in dem Leuchtturm gelebt. Er befürchtet, sie könnte eine Wilde sein.«
»Eine alte Frau? Könnte es sich um die Hexe handeln?«, warf Rian ein.
Juran zuckte die Achseln. »Menschen können länger leben als ein Jahrhundert, und die Geschichten über die Vergangenheit könnten von Generation zu Generation übertrieben werden. Wir sind jedoch dazu verpflichtet, alle Berichte über Wilde zu überprüfen, daher habe ich den Priester angewiesen, sie zu finden.«
»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Auraya. »Wenn sie eine Wilde ist, wäre sie mächtiger als er.«
Juran nickte. »Das ist ein Risiko, das der Priester freiwillig eingegangen ist. Wir haben jedenfalls keine Zeit, Jagd auf sie zu machen.« Er schüttelte den Kopf. »Falls er bestätigt, dass sie tatsächlich eine Wilde ist, werden wir...«
Seine Stimme verklang, und sie alle blickten sich überrascht um, als sich die fünf Seiten des Altars aufzuklappen begannen. Langsam erhoben sie sich.
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Auraya wissen.
»Die Götter sind hier«, flüsterte Rian, in dessen Augen jetzt frommer Eifer brannte. Plötzlich hallten Schritte durch die gewaltige Kuppel.
Dyara verdrehte die Augen. »Wenn sie hier sind, haben sie heute jedenfalls eine bescheidene Gestalt angenommen. Nein, wir werden unterbrochen, und es muss wichtig sein.« Sie blickte vielsagend über Rians Schulter. Einer nach dem anderen drehten sie sich um und sahen einen Hohepriester, der auf sie zugeeilt kam.
»Verzeiht die Störung«, stieß er hervor, als er das Podest erreichte. »Es sind soeben zwei Botschafter eingetroffen.«
»Aus welchem Land kommen sie?«, fragte Juran.
»Aus... aus Si.«
Die Siyee! Auraya sog scharf die Luft ein und hörte gleichzeitig einen leisen Laut der Überraschung von Dyara. Juran sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, bevor er sich von seinem Stuhl entfernte.
»Dann sollten wir sie besser gleich empfangen«, sagte er.
Sie verließen den Altar und eilten zum Rand der Kuppel hinüber. Draußen hatten sich hunderte von Priestern und Priesterinnen versammelt, die zum Himmel hinaufstarrten. Auraya folgte ihrem Blick, und ihr Herz machte einen Satz, als sie die winzigen Gestalten den Turm umkreisen sah.
»Sie wissen wahrscheinlich nicht, dass wir hier unten sind«, sagte Dyara. »Sollen wir sie oben auf dem Turm empfangen?«
Auraya lächelte. »Die Mühe kann ich euch ersparen.« Dyara wandte sich mit undeutbarer Miene zu Auraya um. Juran kicherte.
»Die Absichten der Götter werden immer klarer«, murmelte er. »Geh, Auraya. Begrüße sie sozusagen in ihrem eigenen Element.«
Auraya konzentrierte sich. Sie zog Magie in sich hinein, schwang sich in die Luft und beschleunigte ihre Geschwindigkeit, bis die Mauer des Turms an ihr vorbeijagte. In den Fenstern erblickte sie zahlreiche Gesichter. Die Siyee bemerkten sie erst, als sie sie fast erreichte hatte. Erschrocken flogen sie davon.
Auraya verharrte in der Luft und sah zu, wie die Siyee in einiger Entfernung von ihr zu kreisen begannen. Aus der Nähe betrachtet konnte sie erkennen, dass alles, was man ihr je über die Siyee erzählt hatte, falsch war. Bis auf die Dinge, die Leiard ihr erzählt hatte, korrigierte sie sich.
Sie sahen aus wie Kinder. Aber es lag nicht nur an ihrer geringen Körpergröße, sondern auch daran, dass ihre Köpfe im Verhältnis zu ihrem Körper sehr groß wirkten. Ihre Oberkörper waren breit und ihre Arme drahtig und muskulös. Ihre Flügel waren nicht gefiedert, und sie waren auch nicht an ihrem Rücken verankert, wie die Legenden es erzählten. Ihre Arme waren ihre Flügel: Die Knochen ihrer Finger waren verlängert und bildeten das Rahmenwerk für eine durchscheinende Membran, die sich von den Fingerspitzen bis zum Torso erstreckte.
Die Armlöcher der Wämser, die sie trugen, reichten ihnen bis zur Hüfte hinab, um Platz für ihre Flügel zu schaffen. Eng anliegende Hosen bedeckten den Unterkörper und waren mit dünnen Riemen an ihre Beine gebunden.
Als die beiden Siyee sich in vorsichtigen Kreisen näherten, konnte Auraya noch mehr Einzelheiten erkennen. Die letzten drei Finger einer jeden Hand bildeten die Flügel und ließen Daumen und Zeigefinger frei. Sie konnte nicht entscheiden, ob sie schön waren oder hässlich. Ihre kantigen Gesichter mit den großen Augen waren von außerordentlicher Eleganz, aber ihre mageren Körper und die federlosen Flügel wurden den Beschreibungen in Schriftrollen und Gemälden nicht gerecht. Dennoch umkreisten sie sie mit einer mühelosen Anmut, die sie ungemein faszinierte.
»Willkommen in Jarime, Botschafter der Siyee«, rief sie. »Ich bin Auraya von den Weißen.«
Die Siyee verständigten sich mit leisen Pfiffen und streuten hier und da mit hoher Stimme ein gesprochenes Wort ein. Auraya las ihre Gedanken und erkannte, dass dies ihre Art der Sprache war.
»Sie muss eine der Auserwählten der Götter sein«, sagte einer der Siyee.
»Das muss sie wohl«, erwiderte der andere. »Wie sonst könnte sie auf Luft stehen?«
»In ihrer Nachricht haben sie mit keinem Wort auf ihre Fähigkeit hingewiesen, zu... zu...«
»Dem Sog der Erde zu trotzen?«, ergänzte der andere.
Auraya konzentrierte sich auf die Gedanken der beiden und fand darin schließlich die Worte, die sie brauchte. Schwieriger war es, ihre Sprechweise nachzuahmen, aber als sie ihre Begrüßung wiederholte, kamen die beiden näher.
»Ich bin Tireel vom Stamm des Grünen Sees«, sagte einer der Siyee. »Mein Begleiter ist Zeeriz vom Stamm des Gegabelten Flusses. Wir sind lange und weit geflogen, um zu den Auserwählten der Götter zu sprechen.«
»Unsere Sprecher haben uns hergeschickt, um die Allianz zu erörtern, die ihr uns vorgeschlagen habt«, fügte der andere hinzu.
Auraya nickte und suchte im Geist der beiden Siyee nach Worten. »Die anderen Auserwählten der Götter warten unten am Boden. Wollt ihr mich begleiten und sie kennenlernen?«
Die beiden Siyee tauschten einen Blick, dann nickten sie. Als Auraya hinabschwebte, folgten sie ihr, immer noch kreisend. Ihr wurde klar, dass sie nicht mitten in der Luft innehalten konnten, wie es ihr selbst möglich war. Sie mussten ständig in Bewegung bleiben, um fliegen zu können. Während sie immer wieder Veränderungen in den Windströmungen ausglichen, bemerkte Auraya kleine Korrekturen in ihrer Haltung. Als sie sich dem Boden näherte, steuerten die Siyee einen freien Bereich auf dem gepflasterten Gelände an, um zu landen. Sie folgte ihnen.
Als ihre Füße den Boden berührten, traten Juran, Rian und Dyara vor. Die Siyee musterten die versammelten Priester und Priesterinnen mit ängstlicher Miene.
»Habt keine Furcht«, sagte Auraya zu ihnen. »Sie sind nur überrascht, euch zu sehen. Sie werden euch keinen Schaden zufügen.«
Die Siyee wandten sich nun den anderen Weißen zu. Tireel trat vor.
»Wir sind hergekommen, um über die Allianz zu sprechen«, sagte er geradeheraus.
»Ihr seid weit geflogen«, erwiderte Juran, dessen Stimme weicher wurde, als er den Siyee in ihrer eigenartigen Sprache antwortete. »Möchtet ihr zuerst ein wenig ruhen und essen? Wir halten im Turm Zimmer für Gäste bereit.« Die beiden Siyee blickten zweifelnd zu dem Gebäude hinauf. »Wenn euch diese Art des Quartiers nicht angenehm ist, könnten wir in den Gärten ein Tuchhaus errichten lassen«, fügte Juran hinzu.
Die Siyee tauschten einige leise Pfiffe, dann nickte Tireel. »Wir werden eure Räume im Turm akzeptieren«, antwortete er.
Juran nickte. »Dann werde ich euch hineinbegleiten und dafür sorgen, dass ihr euch dort behaglich einrichten könnt. Wenn dieser Vorschlag für euch annehmbar ist, werden wir uns morgen treffen, um über die Allianz zu sprechen.«
»Das ist annehmbar.«
Als Juran die beiden zum Turm führte, wurde Auraya bewusst, dass Dyara sie beobachtete.
»Nun, das ist sehr hübsch eingefädelt worden.«
Auraya runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
»Wenige Tage, bevor die Himmelsleute ankommen, erwirbst du die Fähigkeit des Fliegens.«
»Und du denkst, das war mein Werk?«
»Ganz und gar nicht.« Dyara lächelte. »Die Götter sind selten bescheiden, was ihre Absichten betrifft. Das ist der Punkt, in dem wir diesen Pentadrianern gegenüber im Vorteil sind. Wir brauchen keine rätselhaften Zeichen und keine komplizierten Betrugsmanöver zu ersinnen, um unser Volk von der Existenz unserer Götter zu überzeugen.«
Die nackten Steinhänge des Offenen Dorfs waren in orangefarbenes Licht getaucht. Als die Sonne unterging, wurden in der Mitte der Lichtung in einem kreisförmigen Muster Feuer entzündet. Bruchstücke von Liedern, das Dröhnen von Trommeln und das stetige Pfeifen der Gespräche der Siyee erfüllten die Luft.
All diese Dinge zusammengenommen schufen eine erwartungsvolle, festliche Atmosphäre. Tryss betrachtete die Szene mit einem Gefühl der Erregung. Siyee aller Altersklassen hatten sich in ihre schönsten Gewänder gehüllt. Leuchtende Farben und Muster glänzten auf sonnengebräunter Haut. Männer und Frauen waren mit Juwelen herausgeputzt. Alle Gesichter waren eigenartig und wunderbar, denn sie alle trugen Masken.
Als Tryss neben seinem Vater landete, sah er sich bewundernd um. Wie immer war die Vielfältigkeit und Kunstfertigkeit der Masken erstaunlich. Es gab Tiermasken, Insektenmasken und Blumenmasken; Masken, die mit Mustern geschmückt waren, und solche, auf denen Symbole zu erkennen waren. Als er eine sorgfältig geschnitzte Maske erblickte, die einen Siyee mit ausgebreiteten Flügeln darstellte, keuchte er unwillkürlich auf. Dann lächelte er einem Mann zu, dessen Kopf durch eine große Hand »ersetzt« worden war, und lachte laut über eine Frau, deren Maske ein übergroßes Ohr darstellte. Kichernde Mädchen, deren Masken ganz und gar aus Federn gemacht waren, eilten vorbei. Ein alter Mann, dessen graues Haar unter der abgetragenen Darstellung eines Fischkopfes hervorlugte, humpelte in die andere Richtung. Zwei kleine Jungen stießen beinahe mit Tryss zusammen; das Gesicht des einen war unter einer Sonne verborgen, das des anderen halb verdeckt von einer Mondsichel.
Während Tryss seinem Vater zu ihrem gewohnten Platz in dem großen Kreis folgte, hob er die Hand, um seine eigene Maske geradezurücken. Neben einigen der anderen, die er gesehen hatte, kam sie ihm nichtssagend und töricht vor – sie bestand lediglich aus einem neu übermalten Herbstblattmuster von einem Trei-Trei-Fest vor einigen Jahren. Er hatte keine Gelegenheit gefunden, sich eine neue zu machen, da er seine gesamte freie Zeit darauf verwandte, sich in der Benutzung seines neuen Geschirrs und seiner Blasrohre zu üben.
Drilli war sehr zufrieden mit seinen Fortschritten, obwohl seine Fehlschüsse nach wie vor ebenso häufig waren wie seine Treffer. Aber von Bogenschützen, so hatte sie ihm versichert, wurde nicht erwartet, dass sie jedes Mal ihr Ziel trafen, daher würde man es auch von ihm nicht erwarten. Er war sich da nicht so sicher. Wenn er eines Tages seine Erfindung vorführte, würde er die Leute verblüffen und beeindrucken müssen. Er würde beweisen müssen, dass seine Methode besser war, als mithilfe eines Bogens vom Boden aus oder mit Fallen zu jagen.
Er seufzte. Heute Abend wollte er all das vergessen. Das Sommer-Trei-Trei, das relativ spät im Jahr veranstaltet wurde, war die letzte festliche Zusammenkunft, bevor der lange Winter begann; eine letzte Gelegenheit, um zu feiern und Energie auf akrobatische Fliegerkunst zu vergeuden.
Und in diesem Jahr hatte er eine Partnerin.
Als Tryss’ Eltern ihre Plätze bei ihrem Stamm einnahmen, erhoben sich zwei Stimmen über das allgemeine Geplauder.
»... hast sie schon einmal gesehen, nicht wahr?«
»Ja. Vor drei Jahren, glaube ich. Ein wenig frische Farbe lässt eine alte Maske auch nicht wieder gut aussehen, oder? Und ein Herbstblatt im Sommer! Er bekommt nicht mal die Jahreszeit richtig hin.«
Tryss fand, dass es besser sei, so zu tun, als habe er die Stimmen nicht gehört, aber seine Mutter blickte in die Richtung der beiden Sprecher.
»Du kommst mit deinen Vettern nicht mehr so gut aus wie früher, nicht wahr?«
Sie klang besorgt. Tryss zuckte die Achseln.
»Sie kommen nicht gut mit mir aus«, erwiderte er. »Jedenfalls nicht mehr, seit ich es müde geworden bin, dass sie mich gern als Dummkopf dastehen lassen, damit sie selbst einen besseren Eindruck machen«, fügte er leise hinzu.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das ist also der Grund. Ich dachte, es sei etwas anderes.«
Er sah sie stirnrunzelnd an, aber sie hatte sich von ihm abgewandt. Dann flackerte ihr Blick wieder zu ihm hinüber, und sie nickte ihm bedeutungsvoll zu, bevor sie erneut wegschaute. Als er ihrem Blick folgte, entdeckte er ein Mädchen mit Schmetterlingsgesicht und wusste sofort, dass es Drilli war. Kein anderes Mädchen hatte einen solchen Gang, überlegte er. Voller Selbstvertrauen, aber nicht angeberisch. Ihre Anmut war vollkommen unbewusst.
Er wandte sich wieder seiner Mutter zu und dachte über ihre Andeutung nach, dass Drilli der Grund für die Spötteleien seiner Vettern sei. Wahrscheinlich hatte sie recht. Die beiden waren eifersüchtig, wozu sie jedoch keinen Anlass hatten. Drilli mochte ihn und half ihm bei seinen Erfindungen, aber er hatte keine Ahnung, ob sie irgendetwas anderes als einen Freund in ihm sah.
Nur dass sie ihn, nun ja, dazu gebracht hatte, sie zu fragen, ob sie heute Abend seine Partnerin sein wolle, und das taten die Mädchen nicht, wenn sie von einem Jungen nicht mehr wollten als nur Freundschaft.
Inzwischen waren die letzten Strahlen der Sonne verschwunden. Als Drilli und ihre Familie ihre Plätze einnahmen, fügten sich die Klänge der einzelnen Musikinstrumente auf dem Platz zu einer Melodie zusammen. Alle Gespräche brachen ab. Der Sprecher eines anderen Stammes trat, bekleidet mit der traditionellen, leuchtend bunten Gewandung des Mustermachers, in den Kreis. Er würde die Festlichkeiten leiten, die Anordnung der Flugmuster festlegen und die Preise vergeben.
»Seit Huan vor Jahrhunderten ihr Werk für vollendet erklärt und verfügt hat, dass wir uns selbst regieren sollten, sind wir in jedem Winter und in jedem Sommer zusammengekommen, um zu feiern und unseren Dank in Worte zu fassen«, rief er aus. »Wir verfeinern unsere Talente und erproben unsere Fähigkeiten, auf dass sie auf uns hinabblicken und stolz auf uns sein möge. Im Frühling feiern wir die Ältesten und die Jüngsten unter uns. Im Sommer stimmen wir unseren Jubel über die Partnerschaft von Mann und Frau an, ob sie nun gerade erst zueinandergefunden haben oder Gefährten in einer Familie sein mögen.« Er hob die Arme. »Lasst die Paare das Trei-Trei beginnen!«
Als die Musikanten eine lebhafte, alte Melodie anstimmten, tauschten Tryss’ Eltern ein Lächeln und nahmen ihre Masken ab. Sie liefen nach vorn, vollführten Luftsprünge und gesellten sich zu den anderen Paaren, um sich in den traditionellen Schritten des Musters zu drehen. Tryss wandte sich ab und blickte zu Drillis Stamm hinüber. Sie beobachtete ihn erwartungsvoll.
Er machte einige Schritte auf sie zu, blieb jedoch jäh stehen, als zwei vertraute Gestalten sich ihr von beiden Seiten näherten. Als Ziss ihr Handgelenk ergriff, verwandelte sich ihr Lächeln in ein Stirnrunzeln. Ihre Worte gingen im Gelärme der Stimmen um sie herum unter, aber das Kopfschütteln, mit dem sie reagierte, ließ keinen Zweifel zu. Ziss machte ein finsteres Gesicht, ließ sie jedoch nicht los. Sie wandte sich abrupt von ihm ab, um Trinn anzustarren, und Ärger trat in ihre Züge. Dann schüttelte sie Ziss’ Hand ab und stolzierte davon.
Tryss fiel auf, dass ihr Vater sie forschend musterte. Seine Miene verfinsterte sich, als sie sich zu Tryss gesellte.
Ist das ein Ausdruck von Missbilligung?, fragte er sich.
»Tryss«, sagte sie. »Du wolltest es mir doch nicht etwa ganz Hein überlassen, deine Vettern abzuwehren, oder?«
Er lächelte. »Du bist recht gut imstande, dich zu verteidigen, Drilli.«
»Es ist schön, dass du das denkst, aber es wäre viel schmeichelhafter gewesen, wenn du mir galant zu Hilfe geeilt wärst«, schnaubte sie.
»Dann musst du mir auch genug Zeit geben, zu dir zu kommen, bevor du das Problem selbst löst«, entgegnete er.
Die Musik veränderte sich, und Drilli blickte mit vor Eifer leuchtenden Augen zu den Fliegern über ihr empor.
»Es wäre mir eine Ehre, wenn du mit mir fliegen würdest«, sagte er, doch die formellen Worte klangen ein wenig steif aus seinem Mund.
Sie grinste, dann nahm sie ihre Maske ab. Er tat es ihr gleich und legte seine Maske neben ihre auf den Boden. Als sie sich zu dem Kreis umwandte, blickte Tryss zu seinen Vettern hinüber. Beide funkelten ihn wütend an.
Dann begannen er und Drilli zu rennen. Sie bewegten sich voneinander fort und sprangen hoch in die Luft. Er spürte, wie die Wärme eines Feuers unter seine Flügel griff und ihn, mit Drilli an seiner Seite, emportrug. Einen Moment später hatten sie einen Platz unter den Paaren gefunden und folgten den einfachen Bewegungen eines unkomplizierten, öffentlichen Musters.
Er war schon viele Male Muster geflogen, aber nicht auf diese Art. In seinen frühen Jahren war er mit seiner Mutter geflogen und hatte vorsichtig jede ihrer Bewegungen nachgeahmt. Später hatte er jüngeren Vettern und Cousinen Anleitung geben müssen. Drilli gab weder Anleitungen, noch folgte sie ihm. Er konnte selbst die kleinste Veränderung ihrer Haltung deuten und wusste, was sie von ihm erwartete, und sie reagierte in gleicher Weise auf ihn. Es war gleichzeitig erregend und beruhigend, befreiend und fesselnd.
Sie flogen Muster um Muster, einzig auf die Frage konzentriert, ob die Musik lebhaft oder langsam war. Er stellte fest, dass er komplizierte Muster zustande brachte, die auszuprobieren er sich noch nie zuvor die Mühe gemacht hatte. Schließlich endete die Musik, und während unten bereits Reifen und Pfosten für die akrobatischen Prüfungen aufgestellt wurden, schwebten sie langsam zu Boden. Schon bald zeigten die ersten Siyee ihre Kunstfertigkeit, begleitet vom Jubel der Zuschauer.
Als der Applaus einmal besonders laut aufbrandete, beugte Drilli sich zu ihm vor.
»Lass uns verschwinden«, flüsterte sie.
Er sah sie überrascht an. Sie nahm seine Hand und führte ihn langsam durch die Menge zu dem dunklen Wald am Rand des Dorfes. Ab und zu blieben sie stehen, manchmal, um zuzuschauen, einmal, um mit einem alten Freund zu reden.
Schließlich sah Drilli sich genau um, dann beugte sie sich wieder zu ihm. »Du gehst fünfzig Schritte weit den Hügel hinauf in den Wald, dann bleibst du stehen und wartest auf mich. Ich werde bis hundert zählen und dir dann folgen.«
Er nickte. Nachdem er sich noch einmal umgeblickt hatte, um sich davon zu überzeugen, dass niemand sie beobachtete, wartete er, bis einer der Akrobaten eine komplizierte Schrittfolge begann, bevor er in den Wald hinüberging. Es war sehr dunkel zwischen den Bäumen. Die gewaltigen Stämme hatten etwas Bedrohliches an sich, das ihm tagsüber noch nie aufgefallen war. Er verstand nicht, warum das so war:
Die Siyee hatten fast drei Jahrhunderte hier gelebt, ohne den Bäumen Schaden zuzufügen.
Als ihm bewusst wurde, dass er vergessen hatte, seine Schritte zu zählen, blieb er stehen. Nach einer Weile hörte er eine leise Bewegung. Der Schatten einer weiblichen Gestalt wurde sichtbar, und als er Drillis Gang erkannte, seufzte er vor Erleichterung.
»Ich glaube, deine Vettern haben uns weggehen sehen«, sagte sie.
Er drehte sich um und fluchte, als er die beiden durch den Wald auf sie zulaufen sah.
»Ich wette, sie haben uns den ganzen Abend beobachtet.«
»Narren«, murmelte sie. »Wer glaubt, er könne ein Mädchen mit Grausamkeiten anderen gegenüber gewinnen, ist ein Dummkopf. Folge mir. Und versuch, kein Geräusch zu machen.«
Sie schlichen durch den Wald. In der Dunkelheit ließ es sich unmöglich verhindern, auf Zweige oder trockene Blätter zu treten, aber nach vielen Jahren der Benutzung war der Boden weitgehend frei von Vegetation. Tryss konzentrierte sich darauf, Drilli zu folgen, und als sie nach einer Weile stehen blieb, brauchte er einen Moment, um zu begreifen, wo sie waren.
Am Ende des Wegs befand sich eine große Laube. Die Wände wurden von einem Licht im Innern angestrahlt.
»Das ist die Sprecherlaube!«, rief er. »Wir dürfen dort nicht hingehen.«
»Seht!« Sie legte einen Finger an die Lippen und blickte über seine Schulter. »Sie werden es nicht wagen, uns zu folgen. Und in der Laube wird jetzt niemand sein. Sie sind alle beim Fest.«
»Warum brennt dann ein Licht im Innern?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat einer der Sprecher es brennen lassen, um...«
Tryss erstarrte. Drei Gestalten waren zwischen den Bäumen hervorgetreten und schritten auf die Laube zu. Die Neuankömmlinge schauten zu seiner Erleichterung nicht in ihre Richtung, sondern eilten direkt auf die Laube zu und gingen hinein. Das Licht warf ihre verzerrten Schatten an die Wände.
Drillis Atem hatte sich beschleunigt. Sie blickte in die Richtung, aus der seine Vettern gekommen waren, dann stahl sie sich plötzlich näher an die Laube heran und ging vor einem der großen, alten Bäume in die Hocke.
»Wenn deine Vettern uns finden, werden sie uns verraten«, sagte sie. »Besser, wir verstecken uns hier und riskieren eine Entdeckung durch die Sprecher.«
Sie blickte wieder zu der Laube hinüber. Jetzt konnten sie auch Stimmen hören.
»Wir sind angegriffen worden«, erklärte ein Mann düster. »Aber nicht von Menschen. Von Vögeln.«
»Vögel?« Tryss erkannte Sprecherin Sirris Stimme.
»Ja. Es waren vielleicht zwanzig. Sie sind wie eine lebendige Mauer aus den Baumwipfeln gekommen.«
»Was für eine Art von Vögeln?«
»Keine, die ich je zuvor gesehen habe. Wie große, schwarze Kiri.«
»Sehr große«, fügte eine dritte Stimme hinzu. »Ihre Flügelspanne ist der unseren fast ebenbürtig.«
»Wirklich?« »Ja.«
»Wie haben sie euch angegriffen?«
»Sie sind mit Schnäbeln und Krallen über uns hergefallen. Wir haben alle Kratzer davongetragen«, erwiderte der erste Besucher grimmig. »Niril hat ein Auge verloren, Liriss beide. Die Hälfte von uns hat zerrissene Flügelmembranen, und sowohl Virri als auch Dillir werden vielleicht nie wieder fliegen können.«
Stille folgte diesen Worten.
»Das ist schrecklich«, erwiderte Sirri mit echtem Kummer. »Was habt ihr dann getan? Wie seid ihr ihnen entkommen?«
»Überhaupt nicht. Sie haben uns zu Boden getrieben. Wir haben versucht, auf sie zu schießen, aber sie sind davongestoben, sobald wir unsere Bögen hervorgeholt hatten, geradeso als wüssten sie, wozu diese Waffen verwendet werden.« Der Sprecher hielt inne. »Wir sind für eine Weile zu Fuß gegangen, dann sind jene von uns, die noch fliegen konnten, in die Luft aufgestiegen. Wir haben uns dicht am Boden gehalten und sind zwischen den Bäumen hindurchgeflogen, weil wir gehofft hatten, im Falle eines weiteren Angriffs landen und kämpfen zu können.«
Es folgte ein Seufzen. »Wir können nicht noch mehr Gefahren gebrauchen als die, denen wir uns ohnehin schon gegenübersehen.«
»Ich habe noch nie zuvor von diesen Vögeln gehört. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine neu eingewanderte Art. Wir sollten sie vernichten, bevor sie sich so weit vermehren können, dass sie eine Bedrohung für uns alle darstellen.«
»Ich gebe dir recht. Wir müssen alle Stämme warnen und...«
»Da ist noch etwas anderes«, unterbrach der dritte Mann sie. »Mein Bruder glaubt, ich hätte mir das nur eingebildet, aber ich bin davon überzeugt, dass ich eine Landgeherin gesehen habe.«
»Eine Landgeherin?«
»Ja. Ich habe sie gesehen, als wir aufgebrochen sind. Sie hat uns beobachtet, und die Vögel hatten sich um sie herum versammelt.«
»Ich verstehe, warum dein Bruder Zweifel hegt. Noch nie zuvor haben sich Landgeher so weit in die Berge hineingewagt. Wie hat diese Frau ausgesehen?«
»Dunkle Haut. Schwarze Kleidung. Das ist alles, was ich dir erzählen kann. Ich habe nur einen flüchtigen Blick auf sie erhaschen können.«
»Das ist eigenartig. Ich muss über das, was du mir erzählt hast, nachdenken. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Nein.«
»Dann werde ich dich zu deinem Stamm zurückgeleiten.«
Die verzerrten Schatten glitten zu einer Seite der Laube hinüber, dann traten drei Gestalten heraus. Tryss beobachtete mit hämmerndem Herzen, wie sie sich entfernten.
»Ich glaube nicht, dass wir das hätten hören dürfen«, flüsterte er.
»Nein«, erwiderte Drilli. »Zumindest haben sie uns nicht bemerkt.« »Nein.«
»Wir sollten zu den anderen zurückgehen.«
Aber mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie nahe sie war. Er wollte sich nicht von ihr entfernen, und auch sie machte keine Anstalten, ihre Worte in die Tat umzusetzen. Er konnte die Wärme spüren, die von ihrer Haut aufstieg, und ihren Schweiß riechen, in den sich ein unverkennbar weiblicher Duft mischte.
Sie rückte näher an ihn heran.
»Tryss?«
Ihre Stimme klang zaghaft und fragend, aber aus irgendeinem Grund wusste er, dass keine Frage folgen würde. Sein Name war die Frage. »Drilli?«, murmelte er. Er konnte sie in der Dunkelheit kaum sehen – nur die Umrisse ihres Kinns im Licht der Sterne. Langsam beugte er sich vor.
Ihre Lippen streiften seine. Ein Gefühl, das eine Mischung aus Schock und Jubel war, durchzuckte ihn, dann schloss sich ihr Mund über seinem, und sein Blut strömte heiß durch seine Adern. Zwei Gedanken blitzten in ihm auf.
Sie will mich.
Meine Vettern werden außer sich vor Wut sein! Seine Vettern kümmerten ihn wenig. Sie wollte ihn. Daran Konnte es keinen Zweifel mehr geben. Dies war nicht der keusche Kuss eines Freundes. Er spürte ihre Hände auf seinen Schultern und schob die Arme unter ihre Flügelmembranen, um sie an sich zu ziehen. Sie wich ein klein wenig zurück.
»Etwas musst du mir versprechen«, flüsterte sie.
Das Einzige, was er sehen konnte, waren die Sterne, die sich in ihren Augen widerspiegelten. »Alles.«
»Versprich mir, dass du den Sprechern bei der nächsten Zusammenkunft dein Geschirr zeigen wirst.«
Der plötzliche Themenwechsel ließ ihn zögern. »Mein Geschirr...?«
»Ja.« Sie hielt inne. »Du bist überrascht.«
»Ich hatte gerade an etwas ganz anderes gedacht«, gab er zu.
Sie lachte leise. »Ist es mir tatsächlich gelungen, ausnahmsweise einmal deine volle Aufmerksamkeit zu erringen?« Er zog sie an sich. Als er sie abermals küsste, öffnete sie den Mund. Sacht strich sie mit den Lippen über seine, und ein wohliger Schauer überlief ihn. Er legte die Finger auf ihren Rücken und spürte die wunderbar zarte Wölbung ihrer Wirbelsäule. Als sie an seiner Unterlippe zu knabbern begann, strich er mit einem Finger über die Naht ihrer Kleider, wo ihr Wams Platz für die Membranen ihrer Flügel ließ. Sie versteifte sich überrascht, dann entspannte sie sich und lehnte sich an ihn, und er konnte ihre Brüste warm und fest an seinem Oberkörper spüren.
Das ist einfach zu schön, dachte er. Er schob die Hände unter ihr Wams und seufzte, als er die nackte, seidenweiche Haut ihres Rückens spürte. Ihre Hände folgten unterdessen dem gleichen Weg unter seinen Kleidern und strichen von seinem Nacken langsam hinunter zu – er stieß ein überraschtes Kichern aus, als sie ihm in den Po kniff. Aber als er das Gleiche zu tun versuchte, löste sie sich von ihm. Ihrer beider Atem klang laut in der Stille. Sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus.
»Wir müssen zurückgehen.«
Er wandte enttäuscht den Blick ab, obwohl er wusste, dass sie recht hatte. Seine Vettern würden verärgert darüber sein, dass sie ihre Beute im Wald verloren hatten, und sie würden zu ihren Eltern zurückkehren und berichten, was sie gesehen hatten. Sie haben nicht alles gesehen, dachte er selbstgefällig.
»Versprich mir, dass wir dies wieder tun werden«, sagte er, und die Worte waren über seine Lippen gekommen, bevor er sie hatte abwägen können.
Sie lachte leise. »Nur wenn du mir versprichst, den Sprechern das Geschirr zu zeigen.«
Er stieß einen langen Atemzug aus, dann nickte er. »Ich verspreche es.«
»Dass du was tun wirst?«
»Ich werde den Sprechern das Geschirr zeigen.«
»Bei der nächsten Zusammenkunft?« »Ja. Es sei denn, es ergibt sich eine bessere Gelegenheit.« »Ich vermute, das ist eine vernünftige Lösung«, sagte sie.
Einige Herzschläge lang standen sie schweigend voreinander. Er konnte sich nur allzu deutlich an das Gefühl ihrer Haut unter seinen Händen erinnern und wünschte sich sehnlichst, sie noch einmal zu berühren.
Sie seufzte. »Meinst du, dass du allein zurückfinden kannst?«
»Nein.«
Sie lachte. »Lügner. Natürlich kannst du es. Ich denke, es wäre besser, wenn wir aus verschiedenen Richtungen zurückkehren würden. Ich werde um die andere Seite des Offenen Dorfes herumgehen.«
»Das ist ein Umweg. Wäre es denn wirklich so schlimm, wenn die Leute uns zusammen sähen?«
»Mein Vater möchte nicht, dass ich außerhalb des Stammes heirate.« Sie hielt inne.
»Nicht dass ich dich bitten wollte, mich zu heiraten. Aber es gefällt ihm nicht, wenn ich mit dir rede.«
Er starrte sie an, und mit einem Mal verlor die Nacht ihren Zauber.
Sie trat näher an ihn heran. »Keine Sorge«, sagte sie leichthin. »Ich werde seine Meinung schon noch ändern.« Sie beugte sich vor und küsste ihn fest auf die Lippen. Dann entwand sie sich seinen Armen. Er konnte ihre Zähne im Licht der Laube kurz aufblitzen sehen, bevor sie sich umdrehte und davoneilte.
Emerahl hatte schon vor langer Zeit gelernt, welches die einfachste Methode war, um die geheimen Wege einer Stadt zu entdecken: Man musste sich mit den jüngsten und ärmsten Bewohnern anfreunden. Die schmuddeligen, schlauen Straßenkinder konnten einem mehr über den Untergrund der Stadt erzählen als die Erwachsenen, die sie regierten. Sie verstanden sich darauf, sich unsichtbar zu machen, und ihre Treue ließ sich billig erkaufen.
Am Tag, nachdem sie auf dem Markt nur mit knapper Not hatte entkommen können, hatte sie sich auf die Suche nach ihnen gemacht. Sie hatte einen kleinen Platz in dem ärmeren Viertel der Stadt gefunden und einige Stunden damit zugebracht, das Treiben um sie herum zu beobachten und zu belauschen. Die Einheimischen waren keine Narren, und sie hatte nur zwei Fälle beobachtet, in denen es Taschendieben gelang, ihre Mission erfolgreich zu Ende zu führen.
Als einer der Jungen an ihr vorbeiging, sah sie ihm fest in die Augen.
»Das ist ein hässlicher Husten, den du dir da eingefangen hast«, sagte sie. »Es wäre besser, wenn du ihn loswürdest, bevor das Wetter kalt wird.«
Der Junge verlangsamte seine Schritte und starrte sie argwöhnisch an, während er ihre abgetragenen, aber größtenteils sauberen Kleider musterte.
»Was kümmert dich das?«
»Warum sollte es mich nicht kümmern?«
Er blieb stehen und kniff die Augen zusammen. »Wenn es dich kümmern würde, würdest du mir ein paar Münzen geben.«
Sie lächelte. »Und was würdest du damit anfangen?«
»Essen kaufen – für mich und meine Schwester.« Er hielt inne. »Ihr Husten ist noch schlimmer als meiner.«
»Wie wäre es, wenn ich das Essen für dich kaufen würde?«, schlug sie vor. Er antwortete nicht. Sie wandte den Blick ab. »Das ist die einzige Chance, wie du von mir etwas bekommen kannst.«
»Also schön. Aber nicht so ein komisches Zeug. Ich werde mit dir auf den Markt gehen, sonst nirgendwohin.«
Sie folgte ihm zu dem einheimischen, kleineren Markt und kaufte ihm Brot und Früchte, dann gönnte sie ihnen beiden noch dünne Pastetentaschen mit einer Füllung aus frisch gegrilltem Fleisch. Sie bemerkte, dass er die letzten Bissen in eine Tasche schob, und vermutete, dass seine Geschichte von einer Schwester der Wahrheit entsprach.
»Gegen diesen Husten«, sagte sie, »werden du und deine Schwester ein wenig hiervon benötigen.« Sie kaufte einem Kräuterhändler eine abschwellende Lösung ab, nachdem sie kritisch daran gerochen hatte, um festzustellen, ob sie tatsächlich die Kräuter enthielt, die sich angeblich darin befanden. »Ein Löffel voll von dieser Medizin dreimal am Tag. Nicht mehr, sonst werdet ihr euch vergiften.«
Er sah sie mit großen Augen an, als er die Flasche entgegennahm. »Danke.«
»Und nun könntest du mir als Gegenleistung deinerseits einen kleinen Gefallen tun.« Er runzelte die Stirn. »Keine Bange. Ich möchte lediglich einen Rat. Ich brauche einen Ort, an dem ich einige Tage bleiben kann. Irgendetwas Billiges. Und ruhig sollte es sein, wenn du weißt, was ich meine.«
An diesem Abend war sie zu Gast bei einer kleinen Bande von Kindern, die im Kellergeschoss eines ausgebrannten Hauses in den Außenbereichen des Armenviertels lebten. Sie fand heraus, dass Rayo, der Junge, dem sie geholfen hatte, tatsächlich eine kranke Schwester hatte. Das Mädchen litt unter einer ernsthaften Entzündung der Brust, daher holte sie ihre eigenen Heilmittel hervor, um der Krankheit mit größerem Nachdruck zu Leibe zu rücken.
Es dauerte nicht lange, bis die Neuigkeit von einer alten Heilerin, nach der der Priester suchte, die Kinder erreichte. Sie stellten sie am nächsten Tag deswegen zur Rede.
»In der Stadt herrscht heller Aufruhr. Die Priester suchen nach einer Zauberin«, sagte ein jüngerer Knabe namens Tiro.
»Eine alte Frau. Genau wie du«, fügte ein Mädchen, Gae, hinzu.
Emerahl brummte etwas Unverständliches. »Das habe ich auch gehört. Die Priester halten jede alte Frau für eine Zauberin, vor allem dann, wenn sie ein wenig über Kräuter und dergleichen Dinge weiß.« Sie zeigte mit einem knochigen Finger auf die Kinder. »Versteht ihr, sie sind einfach eifersüchtig, weil wir mehr über Medizin wissen als sie.«
»Aber das ist doch dumm«, meinte Rayo. »Du bist alt. Du wirst bald tot sein.«
Sie sah den Jungen tadelnd an. »Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst.« Dann seufzte sie. »Es ist dumm. Wie du sagtest, was können wir schon tun, hm? Nichts. Wir können uns lediglich damit abfinden, dass sie uns drangsalieren.«
»Das machen sie mit dir?«, fragte Tiro.
Sie nickte seufzend, dann zeigte sie auf einen Riss in der Naht ihres Kapas. »Ich habe mir einen schönen Zeitpunkt ausgesucht, um aus meinem Haus vertrieben zu werden, nicht wahr?«
»Dann bist du also nicht diese Zauberin. Dir kann nichts passieren«, versicherte Gae ihr. Emerahl bedachte das Mädchen mit einem traurigen Blick. »Das hängt davon ab, ob sie finden, wonach sie suchen. Wenn nicht, werden sie uns anderen einfach weiter das Leben schwermachen. Oder sie könnten sich eine andere Frau suchen und ihr die Schuld zuschieben, statt einzugestehen, dass sie diejenige, auf die sie Jagd machen sollten, verloren haben.«
»Das werden wir nicht zulassen«, erklärte Rayo entschieden.
Sie lächelte. »Ihr seid wirklich zu gut zu mir, mich hier wohnen zu lassen.«
Den Kindern schien es nichts auszumachen, dass aus den wenigen Tagen, die sie ursprünglich hatte bleiben wollen, schließlich eine Woche und dann zwei wurden. Sie gab ihnen Dinge aus ihrem Beutel, die sie verkaufen konnten. Sie brachten Essen mit nach Hause und sogar einen kleinen Krug billigen Feuerwassers, und gelegentlich spionierten sie den Priestern nach.
»Ich hab zwei von ihnen belauscht«, erzählte Tiro ihr eines Abends atemlos. »Sie haben von dem Hohepriester geredet, der die Suche leitet. Ikaro ist sein Name. Sie sagten, er stehe in Verbindung mit den Göttern, und die hätten ihm die Fähigkeit gegeben, Gedanken zu lesen.«
»Also haben sie sie noch nicht gefunden?«, fragte sie. »Ich glaube nicht.«
Emerahl seufzte, aber ihre Bestürzung galt eher der Enthüllung der Fähigkeiten ihrer Verfolger.
Natürlich war es möglich, dass die Leute, die Tiro belauscht hatte, solche Ehrfurcht vor dem Hohepriester hatten, dass sie jedes Gerücht glaubten, von dem sie hörten. Emerahl konnte es jedoch nicht riskieren, die Angelegenheit auf die leichte Schulter zu nehmen. Kein Priester, der versuchte, ihre Gedanken zu lesen, würde etwas sehen können. Es bedurfte beträchtlicher magischer Fähigkeiten, den eigenen Geist zu verbergen. Vielleicht wusste der Hohepriester das nicht, aber sie hatte nicht die Absicht, es herauszufinden.
Den Kindern zufolge wurde jeder, der die Stadt mit einem Boot, einem Tarn, einem Plattan oder zu Fuß verließ, von Priestern beobachtet. Selbst die geheimen Wege der Unterwelt standen unter Beobachtung. Alle alten Frauen wurden zur Überprüfung dem Hohepriester vorgeführt. Die Zirkler verwandten viel Mühe darauf, sie zu finden. Wenn sie erraten hatten, wer sie war, würden die Götter durch die Augen sämtlicher Priester blicken und nach ihr Ausschau halten. Und wenn sie sie fanden...
Sie schauderte. Sie werden mich töten, geradeso wie sie Mirar, das Orakel, den Bauern und wahrscheinlich auch die Zwillinge und die Möwe getötet haben, obwohl ich vom Tod der letzten drei nie Berichte gehört habe.
Es war sehr verführerisch, einfach zu bleiben, wo sie war, und abzuwarten. Die Priester konnten nicht für immer so weitermachen. Allerdings würden sie noch einige andere Ränke schmieden, bevor sie das Unterfangen aufgaben. Sie vermutete, dass schon bald eine Belohnung ausgesetzt werden würde. Wenn das geschah, konnte sie sich der Ergebenheit der Kinder nicht länger sicher sein. Sie waren freundlich, aber sie waren nicht dumm. Wenn der Preis hoch genug war, würden sie sie verkaufen, ohne auch nur einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden. Schließlich war sie bloß eine alte Frau.
Sie konnte sich jetzt nirgendwo mehr sicher fühlen, und es gab nur eins, was sie tun konnte: Sie musste ihr Aussehen verändern, und es würde mehr sein müssen als nur eine Veränderung von Kleidung und Haarfarbe. Sie brauchte etwas erheblich Dramatischeres.
Eine solche Veränderung überstieg keineswegs ihre Fähigkeiten, aber der Gedanke erfüllte sie mit Furcht. Es war lange her, dass sie das letzte Mal diese Gabe benutzt hatte. Allzu viel konnte schiefgehen. Sie brauchte Zeit – vielleicht einige Tage -, um die Veränderung vorzunehmen, und sie durfte bei der Arbeit nicht unterbrochen werden. Die Kinder sollten natürlich nichts von alledem wissen. Es war besser, wenn sie ihre neue Gestalt nie zu Gesicht bekamen – oder auch nur davon erfuhren, dass sie eine solche angenommen hatte. Aber selbst wenn ihr ein plausibler Vorwand einfiel, wohin konnte sie sich wenden?
Nun, vielleicht würde sie gar nicht fortgehen müssen. Eine Menge ihrer Probleme ließen sich lösen, wenn die Kinder glaubten, sie sei gestorben.
Danjin hatte den größten Teil der beiden letzten Wochen in einem Zustand der Ehrfurcht und des Staunens verbracht. Er war nicht der Einzige, dem es so erging, obwohl er glaubte, einer der wenigen zu sein, dem es trotz der Ereignisse gelungen war, einen klaren Kopf zu bewahren. Die meisten Priester wankten entweder benommen umher oder ergingen sich schwärmerisch in Lob auf die Götter. Überall wurde laut über die Frage nachgedacht, welche Wunder ihnen vielleicht noch bevorstanden.
Als sein Plattan ihn durch den Bogengang in den Tempel trug, sann Danjin über die Vorfälle nach, die all das ausgelöst hatten.
Die erste Offenbarung war Aurayas Rückkehr gewesen. Kein Schiff und auch kein Plattan hatten sie in die Stadt zurückgebracht. Stattdessen war sie wie ein großer, weißer, flügelloser Vogel in den Tempel geflogen. Dyaras Ankunft war erheblich unauffälliger gewesen, wie ein Diener ihm erzählt hatte. Sie war auf dem Träger zurückgekehrt, mit dem sie fortgeritten war, und sie hatte ausgesehen, als hätte sie »reichlich Stoff zum Nachdenken«.
Die zweite Offenbarung war weniger angenehm gewesen. Auraya hatte Danjin von ihrem Kampf mit dem pentadrianischen Zauberer erzählt und auch erklärt, die Entdeckung ihrer neuen Gabe sei nur ein Ergebnis ihrer Niederlage gewesen. Diese Information sollte jedoch geheim bleiben. Die Weißen wollten keine unnötige Angst säen, indem sie bekannt werden ließen, dass die Pentadrianer einen Zauberer in ihren Reihen hatten, der stark genug war, um eine der Weißen zu überwältigen.
Danjin hatte sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnt, dass die Frau, für die er arbeitete, Kunststücke vollführen konnte, zu denen nicht einmal Vögel in der Lage waren. Nach der Ankunft der Botschafter aus Si hatte er eine kaum merkliche Veränderung in dem Verhalten der anderen Weißen Auraya gegenüber wahrgenommen, als erkläre das Erscheinen der Siyee, warum die Götter ihr diese neue Fähigkeit geschenkt hatten.
Es ergibt wahrscheinlich einen Sinn, dachte er. Bedeutet das, dass ich sie auf eine Reise nach Si begleiten werde?
Seither hatte Danjin Auraya nur ein- oder zweimal am Tag gesehen. Er verfügte über keinerlei Kenntnisse der Himmelsleute und beherrschte auch ihre Sprache nicht, und die Erkenntnis, dass sie im Augenblick keinerlei Verwendung für ihn hatte, hatte ihn wie ein Schlag getroffen. Bei den wenigen Gelegenheiten, da er Auraya mit den Siyee hatte beobachten können, war offenkundig gewesen, dass diese Geflügelten sie faszinierten. Und die Siyee schienen gleichermaßen eingenommen von Auraya zu sein.
Das ist kaum ein Wunder, dachte er. Sie hat mehr mit ihnen gemein als jeder andere hier. Der Plattan näherte sich den Gebäuden des Tempels. Danjin bemerkte, dass sich die wenigen Priester, die zu dieser frühen Stunde unterwegs waren, dem neuen, inoffiziellen Zeitvertreib widmeten, den er bei sich Himmelsschau nannte. Die meisten von ihnen blickten im Moment jedoch zum Turm hinüber. Die Leute hatten nicht lange gebraucht, um zu erfahren, dass ein Fenster in Aurayas Räumen durch eine Glastür ersetzt worden war, so dass sie und ihre neuen Freunde aus Si nicht auf das Dach des Gebäudes hinaufsteigen mussten, wenn sie sich ein wenig in der Luft vergnügen wollten. Wenn Auraya dort auftauchte, brach ihr Publikum häufig in Jubel aus.
Beim Gedanken an die Fenstertür in ihren Räumen schauderte Danjin. Vielleicht war es nur gut, dass sie ihn nicht länger brauchte.
Natürlich braucht sie mich noch, sagte er sich. Aber es half alles nichts. Dies war eine Gelegenheit, mehr über eins der wenigen Völker zu erfahren, von denen er nichts wusste, aber er konnte den Vorteil nicht nutzen, da Auraya ihn nicht an ihren Gesprächen mit den Siyee beteiligte.
Der Plattan hielt. Danjin stieg aus und dankte dem Fahrer. Als er in den Turm ging, nickten einige Priester ihm höflich zu. Er antwortete ihnen mit dem Zeichen des Kreises. Der Käfig befand sich im unteren Stockwerk des Treppenhauses. Während Danjin langsam emporgetragen wurde, konzentrierte er sich auf seine Atmung und verdrängte den Gedanken an den tiefen Abgrund unter ihm, indem er sich den Vers eines Gedichts ins Gedächtnis rief und ihn dann ins Dunwegische übersetzte. Als er vor Aurayas Quartier angekommen war, stieg er aus dem Käfig und klopfte an ihre Tür. Sie öffnete ihm selbst und begrüßte ihn mit einem Lächeln. Es war nicht das breite Grinsen, das er während der letzten zwei Wochen so oft auf ihren Zügen gesehen hatte, sondern ein gedämpfterer Ausdruck. Er fragte sich, was ihre gute Laune beeinträchtigt haben mochte.
»Komm herein«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl. Als sie sich setzte, warf er einen schnellen Blick auf die Fenster. Zu seiner Erleichterung war die gläserne »Tür« versperrt.
»Ich weiß, es enttäuscht dich, dass du nicht mehr mit den Botschaftern aus Si zu tun gehabt hast«, begann sie. »Sie mögen tollkühn und selbstbewusst erscheinen, aber in Wirklichkeit fürchten sie uns Landgeher – vor allem, da die meisten Landgeher, die ihnen bisher begegnet sind, Eindringlinge und Mörder waren. Deshalb habe ich versucht, sie mit möglichst wenig Landgehern zusammenzubringen.«
Während sie sprach, regte sich ein pelziges Bündel auf einem nahen Stuhl. Unfug blinzelte schläfrig in ihre Richtung, dann reckte er sich, stahl sich auf Aurayas Schoß und rollte sich wieder zusammen. Auraya schien es kaum zu bemerken.
»Ich hatte gehofft, es wiedergutzumachen, indem ich dich mitnehme, aber ich fürchte, das wird jetzt nicht mehr möglich sein.«
»Mich mitnehmen?«
Ein mittlerweile vertrautes Glitzern trat in ihre Augen. »Nach Si. Um Verhandlungen für eine Allianz zu führen. Juran hat den Siyee vor einigen Monaten einen Vorschlag geschickt, und sie möchten, dass einer von uns mit ihnen nach Si zurückkehrt.« Ihr Lächeln verblasste. »Aber die Reise dauert Monate, denn man muss schwieriges Terrain überwinden. Du würdest die Berge besteigen müssen, um dort hinzugelangen, Danjin. Juran hat verfügt, dass ich allein gehen muss.«
»Ah.« Danjin wusste, dass es ihm nicht gelingen würde, seine Enttäuschung vor ihr zu verbergen, daher versuchte er es gar nicht erst. »Du hast recht«, sagte er. »Ich bin enttäuscht. Außerdem mache ich mir Sorgen. In Somrey hattest du außer mir noch Mairae und Traumweber Leiard bei dir, um dich zu beraten. Ich hoffe, du verzeihst mir meine Offenheit, aber du bist noch zu unerfahren, um allein eine Allianz auszuhandeln. Kann das nicht warten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir brauchen Verbündete, Danjin. Möglicherweise werden sich in Zukunft noch weitere Zauberer aus dem Süden auf den nördlichen Kontinent wagen. Ich werde jedoch nicht sofort in Verhandlungen mit den Siyee eintreten. Zuvor werde ich einige Monate darauf verwenden, so viel wie möglich über sie zu lernen.«
»Dann könnte ich vielleicht sofort aufbrechen, so dass ich rechtzeitig in Si sein würde, um dir bei den Verhandlungen zu helfen.«
»Nein, Danjin«, erwiderte sie entschieden. »Ich werde dich hier brauchen.«
Sie griff unter ihren Zirk, dann beugte sie sich vor und öffnete die Hand. Darin lag ein weißer Ring. Ein Priesterring. Danjin sah ihn überrascht an.
»Du erweist mir mehr Ehre, als ich verdiene«, sagte er. »Aber ich habe nicht die Absicht, der Priesterschaft beizutreten...«
»Das ist kein Priesterring.« Sie lächelte. »Wir nennen so etwas einen ›Verbindungsring‹. Wie du weißt, können Priester durch ihre Ringe miteinander in Kontakt treten. Dazu sind sie in der Lage, weil sie Gaben besitzen, und ihre Ringe sind von einfacher Natur. Dieser hier« – sie hielt den weißen Ring in die Höhe – »ist raffinierter, und es hat einige Zeit gedauert, ihn herzustellen. Wenn ich mich mit dir in Verbindung setzen muss, kann ich das mithilfe dieses Rings tun. Aber das ist alles, wozu man ihn benutzen kann. Er kann dich mit niemand anderem verbinden.« Sie hielt ihm das Schmuckstück hin. »Trage diesen Ring, dann werde ich von Si aus mit dir sprechen können. Verliere ihn nicht. Ich habe nur den einen.«
Er nahm den Ring entgegen und hielt ihn in die Höhe. Er war schlicht und glatt, und Danjin konnte nicht erkennen, aus welchem Material er gemacht war. Er steckte ihn sich an den Finger, dann hob er den Kopf, um Auraya in die Augen zu sehen.
»Da ist noch eine weitere Sache, die mir Sorgen macht«, eröffnete er ihr. Sie lächelte und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Deine Sorge um mich ist wohltuend, Danjin, aber in Si wird mir weniger Gefahr von den Pentadrianern drohen als an jedem anderen Ort. Es ist ein abgelegenes, nur gering bevölkertes Land und schwer zu durchreisen. Die Siyee würden Eindringlinge bemerken, noch bevor diese sich auf ihr Territorium wagen könnten. Warum sollte ein Pentadrianer eine so anstrengende Reise auf sich nehmen?«
»Um dich zu finden«, erwiderte er.
»Sie werden nicht wissen, dass ich dort bin«, erklärte sie.
»Dann... könnten sie sich aus den gleichen Gründen wie du auf den Weg dorthin machen.«
»Die Si haben, soweit ich und die Botschafter es wissen, die Pentadrianer nicht zu Verhandlungen für eine Allianz in ihr Land eingeladen. Ebenso wenig sind die Pentadrianer mit einem solchen Vorschlag an irgendein anderes Land herangetreten.«
Er seufzte, dann nickte er ergeben. »Also, wie lange werde ich Däumchen drehen müssen?«
Sie kicherte. »Du wirst nichts in der Art tun, Danjin. Ich werde nur für einige wenige Monate fort sein – obwohl Juran darüber nachdenkt, mich nach Elai zu schicken, sollte ich in Si Erfolg haben. Der Höfling, den er dort hingeschickt hat, hat seit Monaten keine Berichte mehr über seine Fortschritte abgeliefert.«
»Das Meeresvolk.« Danjin stieß einen leisen Pfiff aus. »Schon bald wird es keine Geheimnisse mehr auf der Welt geben.«
Ein bekümmerter Ausdruck legte sich über Aurayas Züge, und sie wandte den Blick ab. Unfug regte sich. Sie sah auf ihn hinab, und ihr Lächeln kehrte zurück.
»Dann gibt es da noch etwas, über das ich mit dir sprechen möchte, Danjin.«
»Ja?«
»Könntest du während meiner Abwesenheit vielleicht jeden Tag hier vorbeikommen und ein wenig Zeit mit Unfugverbringen? Du wirst vorsichtig sein müssen. Er ist ziemlich hinterlistig geworden. Immer wieder ertappe ich ihn dabei, wie er draußen vor dem Fenster herumschleicht. Ich habe ein Schloss einbauen lassen, aber er hat bereits gelernt, es zu öffnen, daher werde ich das Fenster vor meiner Abreise mit Nägeln verschließen lassen.« Danjin schauderte. »Tu das, und ich werde mich um ihn Ummern.«
Sie kicherte. »Vielen Dank. Unfug wird deine Gesellschaft gewiss zu schätzen wissen.«
Nachdem Danjin sich verabschiedet hatte, ging Auraya im Raum auf und ab.
Ich habe zuversichtlicher geklungen, als ich mich fühle, dachte sie. Es ist kein bestimmter Aspekt dieser Reise, der mir Sorgen macht, sondern eherder Umstand, dass ich das alles alleinbewältigen muss.
Allerdings würde sie keineswegs den Kontakt zum Rest der Welt verlieren, denn sie konnte sich jederzeit mit den anderen Weißen in Verbindung setzen. Juran hatte ihr aufgetragen, sich mit ihm abzusprechen, bevor sie größere Entscheidungen traf. Diese Regelung war ebenso beruhigend wie vernünftig.
Dyara hatte mit keinem Wort gegen das Unternehmen protestiert. Sie hatte die Rückreise nach Jarime mit Lektionen in Magie ausgefüllt, während des Unterrichts jedoch weniger deutlich als zuvor die Lehrerin herausgekehrt. Es war Dyara nicht länger daran gelegen, Auraya zurückzuhalten, bis sie jede einzelne Übung gemeistert hatte; stattdessen schien sie fest entschlossen zu sein, so schnell wie möglich alles weiterzugeben, was sie über die Benutzung der Magie wusste. Außerdem hatte sie Auraya dazu angehalten, zu üben, wann immer sie eine Gelegenheit dazu fand.
»Wir anderen hatten Zeit, in der Geschwindigkeit zu lernen, die uns angemessen war. Es könnte sein, dass du als die Letzte von uns diese Zeit nicht haben wirst«, hatte sie rätselhaft gesagt.
Was es Auraya nur erschwerte, sich keine Sorgen um die Zukunft zu machen. In manchen Nächten erwachte sie aus Alpträumen, in denen sie ohnmächtig in der Falle saß, hilflos der Magie des pentadrianischen Zauberers ausgesetzt. Es war nicht gerade beruhigend zu wissen, dass es jemanden gab, der größere Macht besaß als sie selbst und der ihr und ihrem Volk Schaden zufügen wollte.
Als sie zum Fenster kam, blieb sie stehen. Wie jede andere Sterbliche konnte sie nur auf die Götter vertrauen.
»Lee-ar.«
Sie drehte sich um und sah, dass Unfug mit aufgestellten Ohren die Tür beobachtete. Kichernd ging sie durch den Raum. Als sie die Tür öffnete, stand Leiard wie erstarrt vor ihr, die Hand erhoben, um anzuklopfen.
»Traumweber Leiard.« Sie lächelte. »Komm herein.«
»Vielen Dank, Auraya von den Weißen.«
»Lee-ar!« Unfug sprang von seinem Stuhl. Leiard lachte, als der Veez über sein Gewand auf seine Schulter hinaufhuschte.
»Er mag dich.«
»Da habe ich aber Glück gehabt«, erwiderte er trocken und zuckte dann zusammen, als Unfug an seinem Ohr zu schnuppern begann.
Auraya dachte an die Gefälligkeit, die sie von Danjin erbeten hatte, und wurde jäh wieder ernst. Unfug hatte nichts gegen Danjin, aber dennoch schien er Leiard lieber zu mögen. Zuerst hatte sie erwogen, Leiard zu bitten, Unfug gelegentlich zu besuchen, aber sie wusste, wie unbehaglich der Traumweber sich im Tempel fühlte, daher hatte sie diese Idee wieder verworfen.
Sie unterdrückte einen Seufzer. Es war ein unglücklicher Umstand, dass ihre beiden Ratgeber Grund hatten, Besuche ei ihr zu fürchten. Leiard fühlte sich in der Gegenwart der Götter unwohl; Danjin ertrug es nur mit Mühe, sich so weit über der Erde aufzuhalten.
Vielleicht war das mit ein Grund, warum sie die Gesellschaft der Botschafter aus Si so sehr genoss. Wie sie selbst liebten sie das Fliegen und die Götter – oder zumindest Huan. Allerdings waren sie das erste Volk, dem sie begegnet war, das einen Gott dem anderen vorzog. Das war jedoch nicht weiter überraschend, da Huan sie erschaffen hatte.
»Ich habe dich hierhergerufen, um dir zu versichern, dass ich dich nicht mit Absicht vernachlässigt habe«, erklärte sie Leiard. »Ich war so beschäftigt, dass ich keine Zeit für inoffizielle Besuche hatte. Das bedauere ich umso mehr, als wir in naher Zukunft nur wenige Gelegenheiten haben werden, uns miteinander zu unterhalten.« Leiard sah sie fragend an.
»Ich werde nach Si reisen, um ein weiteres Bündnis auszuhandeln.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Nach Si?« Er lächelte. »Das wird dir gewiss gefallen. Die Siyee sind ein freundliches und großzügiges Volk. Ehrlich und praktisch veranlagt.« »Weißt du etwas über sie?«
»Ein wenig.« Er nahm Unfug von seiner Schulter und setzte n auf seinen Schoß, wo der Veez sich sofort zusammenrollte. Ein leiser Stich der Eifersucht durchzuckte Auraya, als ihr der Gedanke kam, dass ihr Veez ihren Besucher ihr vorzuziehen schien.
»Die Siyee sind in meinen Erinnerungen«, erzählte er ihr. »Da du dich mit ihnen unterhalten hast, wirst du inzwischen wohl das meiste von dem wissen, was ich weiß. Was sie vielleicht nicht erwähnt haben, sind die Tabus ihrer Kultur.«
Sie beugte sich vor. »Ja?«
»Nicht alle Siyee können fliegen«, fuhr er fort. »Manche werden ohne diese Fähigkeit geboren, und manche verlieren sie im Laufe ihres Lebens. Unfälle sind häufig. Besonders das Alter ist grausam zu ihnen. Gib gut Acht, wie du von diesen Siyee sprichst. Du darfst sie niemals als verkrüppelt bezeichnen.«
»Wie soll ich dann von ihnen sprechen?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben keinen allgemein üblichen Ausdruck dafür. Und wenn du dich mit einem Siyee triffst, dann lass ihn oder sie den Ort des Treffens festlegen. Wenn derjenige, mit dem du zusammenkommen willst, des Fliegens mächtig ist, wird er zu dir kommen. Wenn er es nicht ist, musst du zu ihm gehen. Auf diese Weise lenkst du keine Aufmerksamkeit auf sein Gebrechen.«
»Ich verstehe. Mir ist aufgefallen, dass sie schnell ermüden, wenn sie zu Fuß gehen.«
»Ja.« Er hielt kurz inne, dann kicherte er. »Sie behandeln Landgeher im Grunde ähnlich wie fluglose Siyee. Aber du...« Er runzelte die Stirn. »Du solltest ihnen das nicht gestatten. Ansonsten wird es so aussehen, als würdest du von ihnen Vergünstigungen erwarten, die du nicht verdienst.«
Das ist ein wertvoller Rat, ging es ihr durch den Kopf. Ich hätte mir nichts dabei gedacht, wenn die Siyee bei unseren Treffen stets zu mir gekommen wären.
»Gibt es sonst noch etwas?«
Er zuckte die Achseln. »Das ist alles, woran ich mich im Augenblick erinnern kann. Wenn mir vor deiner Abreise noch etwas einfällt, werde ich es dich wissen lassen.«
Sie nickte. »Vielen Dank. Und solltest du dich nach meiner Abreise noch an etwas erinnern, sag es Danjin. Er wird sich während meiner Abwesenheit um meine Angelegenheiten kümmern.«
»Das werde ich tun. Wann wirst du aufbrechen?« »In einigen Tagen.«
»Was glaubst du, wie lange du in Si bleiben wirst?« »So lange, wie es notwendig ist und ich willkommen bin. Wahrscheinlich einige Monate.«
Er nickte. »Jetzt, da die Allianz mit den Somreyanern unterzeichnet ist, wirst du in dieser Zeit wohl kaum meines Rates bedürfen.«
»Ja«, stimmte sie ihm zu. »Obwohl mir deine Gesellschaft fehlen wird.«
Er lächelte, und seine Augen blitzten auf. »Ich werde dich ebenfalls vermissen.«
»Wie macht sich dein neuer Schüler, Jayim?«
In seinen Zügen zeichnete sich eine Mischung aus Bedauern und Entschlossenheit ab.
»Er ist nicht an harte Arbeit gewöhnt«, antwortete er. »Aber alles, was mit Heilkunst zu tun hat, fasziniert ihn. Ich habe noch eine Menge Arbeit vor mir.«
»Zumindest wirst du jetzt, da ich aus dem Weg bin, die Zeit dafür haben.«
»Das ist allerdings keine Entschuldigung, um mich vor meinen Pflichten zu drücken«, bemerkte er.
Sie lachte, dann lenkte ein leises Läuten ihre Aufmerksamkeit auf einen Zeitmesser auf dem Beistelltisch. »Ah, ich fürchte, ich muss dich jetzt wegschicken. Als Nächstes habe ich eine Lektion bei Dyara.«
Sie erhob sich. Er nahm Unfug vorsichtig auf, setzte ihn auf den Boden und erhob sich dann ebenfalls, um Auraya zur Tür zu folgen. Als er ihr Glück für die Reise wünschte, schüttelte sie den Kopf.
»Ich werde gewiss die Zeit finden, um noch einmal mit dir zu sprechen, bevor ich aufbreche.«
Er nickte, dann wandte er sich ab und ging auf die Treppe zu. Während Auraya die Tür hinter ihm schloss, durchzuckte sie ein Gefühl von Traurigkeit.
Ich werde ihn vermissen. Und ich frage mich, ob er mich ebenfalls vermissen wird. Sie schlenderte zum Fenster und blickte auf die Menschen unten hinab. Aus seinen Gedanken wusste sie, dass Leiard mehr in ihr sah als jemanden, der seinem Volk helfen konnte. Er empfand Zuneigung für sie. Bewunderung. Respekt.
Bei diesem Gedanken regten sich Gewissensbisse in ihr. Einmal mehr ging ihr die Idee durch den Kopf, die ihr im Garten des somreyanischen Tempels gekommen war. Sie hatte mehrmals mit dieser Idee gerungen, außer Stande, zu entscheiden, was sie tun oder nicht tun sollte. Ihr Verstand sagte ihr, dass es richtig wäre, die Menschen davon abzuhalten, sich dem Kult der Traumweber anzuschließen. Die Götter weigerten sich, die Seelen jener, die sich von ihnen abwandten, über das diesseitige Leben hinaus zu bewahren. Indem sie die Menschen davon abhielt, sich den Traumwebern anzuschließen, würde sie den Tod vieler Seelen verhindern.
Doch gleichzeitig spürte sie, dass es unrecht gewesen wäre, am Niedergang der Traumweber zu arbeiten. Diese Menschen wurden freiwillig Traumweber und wussten, was sie opferten.
Und es war auf jeden Fall ein lohnendes Ziel, die Kenntnisse der Zirkler über die Heilkunst zu mehren. Auf der anderen Seite war es falsch, dieses Wissen aus den Gedanken der Traumweber zu ziehen. Das wäre Diebstahl gewesen.
Wenn ich es lediglich als eine Möglichkeit betrachte, das Heilerwissen der Priester zu mehren, dann tue ich nichts Unrechtes. Wie kann man mich dafür verantwortlich machen, wenn das zum Untergang der Traumweber führen sollte?
Weil ich die Konsequenzen erkannt und dennoch weitergemacht habe.
Sie seufzte. Es ist nicht meine Aufgabe, die Traumweber zu retten.
Leiard sollte mich fürchten, dachte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. Immer wieder komme ich auf Leiard zurück. Fallt mir die Entscheidung nur deshalb so schwer, weil ich Angst habe, seine Freundschaft zu verlieren?
Jurans Warnung kam ihr wieder in den Sinn. »Aber gib Acht, Auraya, dass du deine Ziele nicht um der Freundschaft willen verrätst.« Sie wandte sich vom Fenster ab. Es gibt keinen Grund zur Eile. Eine Aufgabe wie diese würde Jahre in Anspruch nehmen. Ihre Auswirkungen würden sich frühestens in der nächsten Generation bemerkbar machen. Erst lange nach Leiards Tod.
Sie setzte sich neben Unfug und kraulte ihm den Kopf. So wie die Dinge sich entwickeln, werde ich vielleicht ohnehin niemals die Zeit dafür finden. Ich werde gewiss eine ganze Weile damit beschäftigt sein, Allianzen einzufädeln und einen vorzeitigen Tod durch diese Pentadrianer zu vermeiden.
»Sie hat immer gesagt, sie wolle in einer Kiste begraben werden, wie richtige Leute.«
Rayo sah zuerst seine Schwester an, dann wieder den Leichnam der alten Frau. »Kisten kosten Geld.«
»Sie hat immer noch etwas Geld übrig«, warf Tiro ein. »Es wäre nur recht, wenn wir das für eine Kiste benutzen würden.«
»Das ist nicht notwendig«, sagte seine Schwester. »Als wir in der Grube waren, haben wir eine Kiste entdeckt, die aussah wie ein Sarg. Vielleicht ist sie immer noch dort.«
»Dann geh und sieh nach«, befahl Rayo Tiro, worauf dieser mit zwei anderen Jungen davoneilte.
Rayo ging in die Hocke und griff nach der Hand der alten Frau. Sie war kalt und steif.
»Ich danke dir, Emeria. Du hast meine Schwester und mich gesund gemacht, und du warst sehr freigebig. Wir werden dir deine Kiste besorgen, falls sie noch immer in der Grube liegt. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn wir dein Geld und die anderen Sachen nehmen. Du wirst diese Dinge nicht mehr brauchen, jetzt, wo du bei den Göttern bist.«
Die anderen nickten. Rayo zeichnete einen Kreis auf die Stirn der alten Frau, dann stand er auf. Die Jungen würden vielleicht Hilfe brauchen, wenn die Kiste in der Grube groß genug war, um sie als Sarg zu benutzen. Außerdem musste ein Loch gegraben werden, und das würde viel Zeit und Kraft kosten. Er sah seine Schwester an.
»Nimm ihre Sachen«, sagte er. Sie nickte und machte sich an die Arbeit.
Eine Stunde später lag Emerias Leichnam in der Kiste. Seine Schwester und die anderen Mädchen waren in die Hügel hinaufgegangen, um Blumen zu pflücken. Bis auf das abgetragene Unterkleid der Frau hatten sie Emerias gesamten Besitz an sich genommen, aber durch die Blumen, die über ihren Körper verstreut waren, wirkte alles sehr würdig und respektvoll.
Sie sprachen einige schnelle, tränenreiche Abschiedsworte, dann deckten sie die Kiste mit einigen verkohlten Holzbrettern zu, die sie aus dem abgebrannten Haus hatten, unter dem sie lebten. Rayo und die anderen Jungen gruben in dem kleinen Garten hinter dem Haus ein Loch. Der Boden war hart, und als sie fertig waren, war es bereits dunkel. Schließlich kehrten sie ins Haus zurück, trugen die Kiste nach draußen und ließen sie in das Loch hinunter.
Als nur noch ein kleiner Erdhügel übrig war, verteilten sie einige weitere Blumen, dann gingen sie wieder in ihren Keller hinunter. Alle waren schweigsam und in sich gekehrt.
»Wo sind ihre Sachen?«, fragte Rayo seine Schwester.
Als das Mädchen einen Stapel Kleider und Emerias Beutel in der Mitte des Raums ausbreitete, versammelten sich die anderen um sie herum. Nachdem sie den Beutel geöffnet hatte, wehte ihnen ein unverkennbar fischiger Geruch entgegen, und sie verzogen das Gesicht.
Das Mädchen sortierte mit großer Sorgfalt den Inhalt des Beutels.
»Das sind Heilmittel. Emeria hat mir erklärt, wozu sie gut sind und wie man sie benutzt. Von diesen hier meinte sie, dass sie sie verkaufen würde, weil sie im Grunde zu nichts gut seien, aber manche Leute glauben wohl, dass sie dadurch mehr Spaß am Sex hätten, so dass die Sachen tatsächlich eine Menge wert sein dürften.«
»Die können wir verkaufen«, meinte Rayo.
Sie nickte. Als Nächstes zog sie eine kleine Ledertasche hervor und kippte ihren Inhalt auf den Boden. Beim Anblick des kleinen Häufchens Münzen, das sich aus der Tasche ergoss, grinsten die anderen.
»Das Geld hat sie immer am Körper getragen. Ihr geheimer Schatz.«
»Unser geheimer Schatz«, sagte Rayo. »Wir werden gerecht teilen, und jeder soll etwas bekommen. Am besten, wir fangen mit den Kleidern an. Ich nehme das Kapas. Wer will die Tunika?«
Während sie Emerias Habe unter sich aufteilten, hatte Rayo nicht das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Emeria hatte nicht viel Zeit bei ihnen verbracht, aber solange ein jeder von ihnen etwas von ihr besaß, würde es ein wenig so sein, als sei sie noch bei ihnen.
Ich hoffe, sie ist glücklich, dort oben bei den Göttern, dachte er. Ich hoffe, sie wissen, dass sie den besten Teil von ihr bekommen haben.
Obwohl die Morgenluft mit jedem Tag kälter wurde, hatte Leiard sich dafür entschieden, Jayims Unterricht auf dem Dachgarten über dem Haus der Bäckers abzuhalten. Es hatte eine Weile gedauert und einer gewissen Beharrlichkeit bedurft, Tanara dazu zu bringen, sie nicht zu stören. Anfänglich hatte sie geglaubt, dass sie ihnen heiße Getränke bringen konnte, ohne die Lektionen zu unterbrechen, sofern sie dabei nicht sprach. Leiard hatte ihr energisch erklärt, dass ihre Gegenwart ihre Konzentration störe und sie sich von ihnen fernhalten müsse. Danach hatte sie sich etwa stündlich die Treppe hinauf geschlichen und zu ihnen hinübergespäht, und zuerst hatte sie es nicht glauben wollen, als er ihr erklärt hatte, dass auch dies eine Störung sei. Er war nicht davon überzeugt, dass er sie endgültig von ihrem Tun abgebracht hatte. Um sicherzugehen, hatte er sich eingeprägt, in welchen Zeitabständen Jayims Mutter heraufkam, und seine Lektionen entsprechend eingerichtet. Es war von größter Wichtigkeit, dass sie an diesem Morgen ungestört blieben, da er beabsichtigte, Jayim in die Feinheiten der Vernetzung einzuführen.
Als Leiard nun die Augen öffnete, betrachtete er seinen neuen Schüler. Jayims Brust hob und senkte sich in dem langsamen, regelmäßigen Rhythmus der Trance. Von dem früheren Widerstreben des Jungen, die geistigen Fähigkeiten der Traumweber zu erlernen, war noch immer etwas verblieben, aber Leiard hatte auch nicht erwartet, dass alle Zweifel sich über Nacht zerstreuen würden. Davon abgesehen war Jayim aufmerksam und fleißig. Seine Leidenschaft galt den Medizinen und der Heilkunst, und auf diesen Gebieten machte er gute Fortschritte.
Das war mit ein Grund, warum Leiard beschlossen hatte, heute mit ihm eine Gedankenvernetzung durchzuführen: Er wollte sehen, ob sie feststellen konnten, welchen Ursprung Jayims Abneigung gegen die Entwicklung seiner telepathischen Fähigkeiten hatte. Außerdem gab es noch einen anderen Grund, warum Leiard diese Aufgabe angehen wollte: Er wollte sich seiner Kontrolle über die Netzerinnerungen versichern, die seine eigene Identität überlappten. Er war sich nicht sicher, was mit ihm geschehen würde, wenn er es nicht tat. Würde das Gefühl für sein eigenes Ich weiterhin schwächer werden? Würden seine Gedanken zu einem einzigen Wirrwarr widersprüchlicher Erinnerungen werden? Oder würde er anfangen zu glauben, er sei Mirar?
Er hatte nicht die Absicht, das herauszufinden. Also schloss er die Augen wieder und streckte die Hände aus.
»Wir kommen heute Abend in Frieden zusammen und auf der Suche nach Verstehen. Unsere Gedanken sollen vernetzt werden. Unsere Erinnerungen werden zwischen uns hin und her fließen. Niemand soll spionieren oder einem anderen seinen Willen aufdrängen. Stattdessen wollen wir eines Geistes werden. Nimm meine Hände, Jayim.«
Im nächsten Moment spürte er die schlanken Finger des Jungen in seinen. Als Jayim Leiards Geist berührte, wich er leicht zurück. Leiard hörte, wie er scharf die Luft einsog. Zuerst nahm er nur ein Gefühl der Erwartung wahr. Leiard spürte die Nervosität seines Schülers und wartete geduldig ab. Schon bald huschten bruchstückhafte Gedanken und Erinnerungen durch Jayims Geist. Frühere Unterrichtsstunden, sah Leiard. Verlegenheit über private Dinge kam ans Licht. Er dachte an andere Vernetzungen mit heranwachsenden Jungen und an ähnliche Geheimnisse zurück, die auf diese Weise unbeabsichtigt offenbar geworden waren.
Versuche nicht, diese Erinnerungen auszublenden, riet er Jayim. Auf diese Weise unterbrichst du die Vernetzung.
Aber ich möchte sie nicht offenbaren!, protestierte Jayim.
Dann schieb sie beiseite. Versuch es einmal mit Folgendem: Wann immer dein Geist in diese Richtung wandert, denk an etwas anderes. Wähle ein Bild über ein Thema aus, das weder angenehm noch unangenehm ist, das deine Gedanken jedoch ablenkt.
Was könnte das sein?
Ich liste in solchen Fällen die Medizinen auf, die sich bei Säuglingen als nützlich erweisen. Sofort schössen Jayim mehrere solcher Medizinen durch den Kopf. Allerdings kehrten seine Gedanken schon bald zu dem früheren Thema zurück. Funktioniert diese Art der Ablenkung immer? Meistens.
Benutzt du den gleichen Trick, um zu verhindern, andere in deine Geheimnisse einzuweihen – wie zum Beispiel jene, die Auraya dir erzählt?
Leiard lächelte.
Was bringt dich auf den Gedanken, Auraya würde mir Geheimnisse erzählen? Ich spüre, dass sie es getan hat.
Der Junge war sehr scharfsinnig. Leiard nahm eine gewisse Selbstgefälligkeit in seinem Wesen wahr.
Könnte ich dir diese Geheimnisse anvertrauen?, fragte er.
Jetzt war Jayims Neugier geweckt, und er reagierte voller Eifer. Natürlich würde er, was immer er erfuhr, für sich behalten. Er würde niemals das Risiko eingehen, Leiards Vertrauen zu verlieren. Außerdem würde Leiard bei der nächsten Gedankenvernetzung davon erfahren, falls Jayim ihn hinterging.
Dann stiegen Zweifel in ihm auf. Was war, wenn ihm versehentlich etwas herausrutschte? Was, wenn jemand ihn mit einer List dazu brachte, Geheimnisse zu verraten?
Geheimnisse bleiben besser geheim, sagte Leiard. Je mehr Menschen davon wissen, umso weniger geheim sind sie. Es ist nicht Misstrauen, das mich davon abhält, dich in diese Dinge einzuweihen, Jayim.
Du hast Auraya sehr gern, nicht wahr?
Der plötzliche Themenwechsel machte Leiard stutzig. Außerdem entfachte er eine Mischung verschiedener Gefühle in ihm.
Ja, antwortete er. Sie ist eine Freundin.
Aber er wusste, dass sie mehr als das war. Sie war das Kind, das er einst unterrichtet hatte, das Kind, das zu einer schönen, mächtigen Frau herangewachsen war...
Du denkst, dass sie schön ist, stellte Jayim fest. Seine Erheiterung wuchs. Du hast ein Auge auf sie geworfen!
Nein! Ihr Gesicht schimmerte in seinen Gedanken auf, und er spürte, wie aus der vertrauten Bewunderung, die er für sie empfand, plötzlich Sehnsucht wurde. Erschrocken zog er sich aus Jayims Geist zurück und brach die Vernetzung ab. Der Junge sagte nichts. Wieder nahm Leiard Selbstgefälligkeit wahr. Er ignorierte sie.
Ich begehre Auraya nicht als Frau, sagte er sich.
Ich fürchte, genau das tust du, widersprach eine andere Stimme in seinen Gedanken.
Aber sie ist jung.
So jung nun auch wieder nicht.
Sie ist eine Weiße.
Ein Grund mehr, sie zu begehren. Der Reiz des Verbotenen ist eine mächtige Kraft.
Nein. Jayim hat mir diesen Gedanken in den Kopf gesetzt. Es ist nicht wahr, dass ich sie begehre.
Wenn ich Auraya das nächste Mal begegne, werde ich genauso für sie empfinden, wie ich es zuvor getan habe. Wir werden sehen.
Als Leiard die Augen aufschlug, bemerkte er, dass Jayim ihn erwartungsvoll beobachtete.
»Dein Geheimnis ist meins«, sagte der Junge.
»Es gibt kein Geheimnis«, entgegnete Leiard energisch. »Du hast mir einen Gedanken nahegelegt, den ich zuvor nie erwogen habe. Jetzt habe ich es getan, und ich glaube, dass du dich irrst.«
Der Junge wandte den Blick ab und nickte, aber es war offensichtlich, dass er ein Lächeln verbarg. Leiard seufzte.
»Warum gehst du nicht zu deiner Mutter hinunter und holst uns etwas Heißes zu trinken? Wir werden eine Pause machen und dann von neuem beginnen.«
Jayim stand auf, und Leiard sah ihm nach, als er davoneilte.
Es heißt, wer einen Schüler unterrichte, werde auch selbst unterrichtet. Ich hoffe nur, dass Jayims Lektion sich als Irrtum erweist.
Wenn ich gewusst hätte, wie bald die nächste Zusammenkunft stattfindet, dachte Tryss, hätte ich Drilli niemals dieses Versprechen gegeben.
Am Morgen nach dem Trei-Trei hatten die Sprecher erklärt, dass in vier Tagen eine Versammlung stattfinden werde. Drilli glaubte, dass die Sprecher sie alle vor den Vögeln warnen wollten, womit sie vermutlich richtig lag. Auf diese Weise blieb ihm jedoch nur wenig Zeit, sich auf die Vorführung seines Geschirrs vorzubereiten. Jetzt, da der Tag der Versammlung gekommen war, fielen ihm tausend Dinge ein, die noch getan werden mussten, und tausend weitere, die schiefgehen konnten.
Er hatte alles getan, was er in der kurzen Zeit hatte tun können. Er hatte sich jeden Tag in der Benutzung des Geschirrs und des Blasrohrs geübt, war seinen Pflichten daheim ausgewichen und hatte die Schelte dafür ertragen. Der Missbilligung seines Vaters fehlte es jedoch an echter Überzeugung, da Tryss jeden Tag Fleisch für ihr Abendessen mitbrachte.
Allerdings konnte er nicht alle Tiere mitbringen, die er getötet hatte. Damit hätte er zu früh zu große Aufmerksamkeit erregt. Obwohl es ihm gelungen war, ein weiteres Yern zu erlegen, hatte er es nicht gewagt, das Fleisch eines so großen Tieres nach Hause mitzunehmen. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als es den Aasfressern zu überlassen, was den Jubel über seinen Erfolg gedämpft hatte.
Um sein Geschirr vorzuführen, konnte er jedoch kein Yern erlegen. Die Tiere waren zu groß, um sie zu fangen und ins Dorf zu transportieren. Drilli hatte Brems vorgeschlagen. Sie waren klein, schnell und menschenscheu, was bedeutete, dass sie wahrscheinlich innerhalb des Halbkreises der versammelten Siyee bleiben würden, aber sie stellten dennoch eine ausreichende Herausforderung dar, so dass es die meisten Leute durchaus beeindrucken würde, wenn er sie mit Wurfgeschossen aus der Luft tötete.
Drilli hatte jeden Tag mehrere Brems gefangen, damit Tryss seine Jagdkünste an ihnen erproben konnte. Außerdem hatte sie das Geschirr mit leuchtend bunten Farben bemalt, so dass man es auch aus der Ferne sehen konnte. Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, bei einer Versammlung allein im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, aber seit Drilli ihn darauf hingewiesen hatte, dass die Farbe die allgemeine Aufmerksamkeit eher auf das Geschirr als auf ihn lenken würde, fühlte er sich ein wenig besser.
Er hatte das Geschirr am Morgen aus der Höhle, in der er es versteckt hatte, geholt und in die Laube seiner Familie gebracht, wo es nun in einem großen Sack aus Fadenreisig verborgen lag. Auf Drillis Drängen hin hatte er seinen Eltern erklärt, was es war, und auch hinzugefügt, dass er es am Abend bei der Versammlung vorführen würde. Seine Eltern hatten unterschiedlich auf seine Enthüllung reagiert. Seine Mutter wollte nicht einsehen, warum gewöhnliche Jagdmethoden nicht gut genug waren, aber dennoch erfüllte der Gedanke, dass ihr Sohn seine Idee bei der Versammlung vorstellen würde, sie mit einiger Aufregung. Sein Vater war dagegen sehr beeindruckt von der Erfindung gewesen, hatte aber Angst, dass Tryss sich – und seine Familie – zum Narren machen würde.
Und genau das wird vermutlich geschehen, dachte Tryss gequält.
Er war bereit, dieses Pusiko auf sich zu nehmen. Es war fast alles vorbereitet, so dass er nicht mehr zurückkonnte, was er jedoch ohnehin nicht gewollt hätte. Obwohl ihm die Vorstellung Angst machte, seine Erfindung vorzuführen, war Drillis Vertrauen in ihn doch ansteckend. Wann immer ihm Zweifel kamen, war sie voller Gewissheit. Er war bereit. Jetzt brauchte er nur noch die Sprecher um ein wenig Zeit zu bitten, um vor die Siyee hintreten zu dürfen.
Damit hatte er bis zum letzten Augenblick gewartet. Sobald er seine Bitte aussprach, würde sich die Nachricht verbreiten, dass er ein selbstgebautes Jagdgerät vorführen wollte. Und dann würden ihn nicht nur seine Vettern mit Fragen und Spott plagen. Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als er sich der Sprecherlaube näherte. Die Anführer der Siyee standen am Eingang, und mehrere von ihnen warfen ihm argwöhnische Blicke zu.
Mit rasendem Herzen und vor Nervosität flatterndem Magen fragte er: »Dürfte ich das Wort an Sprecherin Sirri richten?« Er spähte durch den Eingang der Laube, konnte aber in der Dunkelheit dahinter nichts erkennen. Dann bewegte sich ein Schatten in der Öffnung, und Sprecherin Sirri trat heraus.
»Tryss. Wir haben noch viele wichtige Dinge zu bereden, bevor die Versammlung beginnt. Kann das nicht bis morgen warten?«
»Eigentlich nicht«, sagte er und war sich dabei der missbilligenden Blicke der anderen Sprecher überdeutlich bewusst. »Ich werde mich beeilen.«
Sie nickte kurz. »Dann komm herein.«
Tryss’ Herz setzte einen Schlag aus. Er war noch nie zuvor in der Sprecherlaube gewesen. Mit zitternden Beinen ging er an Sirri vorbei. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Das Innere der Laube war schlicht und schmucklos, und in der Mitte befand sich ein Ring aus Hockern. Zu seiner Erleichterung hielten sich keine weiteren Siyee in dem Raum auf.
»Also, was gibt es, Tryss?«
Er drehte sich zu Sprecherin Sirri um und brachte zunächst einmal keinen Laut über die Lippen. Sie lächelte, bis die Haut um ihre Augen sich kräuselte, und ihm fiel plötzlich wieder ein, dass sie nur ein Mitglied seines eigenen Stammes war, gewählt von seinen eigenen Leuten, und dass er keinen Grund hatte, sie zu fürchten.
»Ich habe etwas gebaut«, erklärte er. »Heute Abend möchte ich es allen zeigen.«
»Dein Jagdgeschirr?«
Er sah sie überrascht an. Ihr Lächeln wurde breiter. »Sreil hat mir davon erzählt. Er meinte, es sei durchaus ausbaufähig.«
»Das hat er gesagt?«, platzte Tryss heraus. Er dachte an den Tag vor einigen Monaten zurück, an dem er ein Yern mit in eine Droge getauchten Dornen erlegt hatte. Sreil hatte etwas dazu bemerkt... »Netter Versuch.« Tryss war davon ausgegangen, dass der Junge ihn verspottet hatte. Aber vielleicht hatte er seine Worte tatsächlich ernst gemeint.
»Ja«, antwortete Sirri. Ihr Lächeln verblasste. »Ich muss dich allerdings warnen. Es wird nicht leicht sein, die Leute zu überzeugen. Niemandem gefällt die Vorstellung, etwas Schweres tragen zu müssen oder...«
»Es ist nicht schwer«, unterbrach Tryss sie.
»...oder von irgendetwas behindert zu werden«, fuhr sie fort. »Bist du dir sicher, dass deine Erfindung funktioniert?«
Er schluckte heftig, dann nickte er.
»Also schön, ich werde dir zu Beginn der Versammlung Zeit geben, uns das Gerät vorzuführen. Das bedeutet, dass du noch eine Stunde Zeit hast, dich vorzubereiten. Ist das genug?«
Er nickte abermals.
»Dann geh jetzt.« Sie zeigte auf die Tür. Tryss eilte hinaus. Als die anderen Sprecher sich zu ihm umwandten, wurde ihm bewusst, dass ein törichtes Grinsen auf seinen Zügen lag. Er zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene und ging davon.
Eine Stunde!, ging es ihm durch den Kopf. Ich dachte, ich würde bis zum Ende der Versammlung warten müssen. Ich sollte Drilli Bescheid sagen und dann das Geschirr holen.
Sobald er den dichten Wald, der die Sprecherlaube umgab, hinter sich hatte, sprang er in die Höhe, um über das Dorf zu Drillis Familienlaube zu fliegen. Als er vor ihrem Haus landete, rief er ihren Namen. Sofort hörte er ärgerliche Stimmen aus dem Innern der Behausung. Kurz darauf trat sie durch den Türbehang, griff nach Tryss’ Arm und zog ihn hastig davon. Als er sich umdrehte, sah er, dass ihre Mutter sie vom Eingang aus stirnrunzelnd beobachtete.
»Nun? Haben sie dir erlaubt, das Geschirr vorzuführen?«, fragte Drilli.
Tryss grinste. »Ja. Aber ich soll es gleich zu Anfang tun, nicht erst am Ende, wie wir gedacht hatten. Wir haben weniger als eine Stunde Zeit.«
Ihre Augen weiteten sich. »So bald schon?«
»Ja. Du kümmerst dich am besten um die Brems, während ich das Geschirr hole.«
»Nein, ich werde deine Hilfe brauchen, um sie zu transportieren. Wir holen zuerst das Geschirr.«
Sie eilten zu seiner Familienlaube. Zu Tryss’ Überraschung war die Laube leer.
»Meine Eltern müssen frühzeitig aufgebrochen sein«, bemerkte er. »Sie haben gesagt, dass sie...«
Die Worte, die er hatte sprechen wollen, blieben ihm im Hals stecken, als er sah, was in der Mitte der Laube lag.
Überall auf dem Boden waren leuchtend bunte Holzstücke verstreut. Die Lederriemen und Därme, mit denen er das Geschirr zusammengehalten hatte, waren aufgeschlitzt worden. Das Blasrohr, das Drilli so sorgfältig bemalt hatte, war zerschmettert. Auch der Beutel, in dem die Pfeile gesteckt hatten, war zerstört worden, und selbst die Pfeile waren allesamt entzweigebrochen.
Tryss starrte die Überreste seiner Erfindung an und hatte das Gefühl, als breche auch sein Herz in Stücke.
»Wer hat das getan?«, hörte er sich mit einer erstaunten, ungläubigen Stimme sagen.
»Wer tut so etwas?«
»Deine Vettern«, antwortete Drilli leise. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist alles meine Schuld. Sie sind neidisch auf dich. Meinetwegen.«
Sie stieß einen erstickten Laut aus, und ihm wurde bewusst, dass sie weinte. Voller Staunen darüber, dass sie um seinetwillen so bekümmert war, machte er einen Schritt auf sie zu, dann legte er ihr zögernd einen Arm um die Schultern. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich zu ihm um. »Es tut mir leid.«
Er zog sie an sich. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte er und strich ihr übers Haar. »Wenn du das glaubst, haben die beiden gewonnen.«
Sie schniefte leise, dann richtete sie sich auf und nickte. »Noch haben sie nicht gewonnen«, erklärte sie energisch und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Wir werden es ihnen zeigen. Wir werden es ihnen allen zeigen. Nur... nicht heute Abend.«
Er betrachtete die Trümmer auf dem Boden, und seine Enttäuschung krampfte sich zu einem Knoten des Zorns tief in seinem Innern zusammen. »Nächstes Mal werde ich zwei Geschirre machen. Vielleicht sogar drei.«
»Und wir werden meine Vettern bitten, ein Auge auf Ziss und Trinn zu haben.«
»Ich habe eine noch bessere Idee; wir werden sie für den Abend irgendwo anbinden.«
Drilli brachte ein Lächeln zustande. »Sie an den Knöcheln aufhängen.«
»Neben einem Schwärm Tiwi-Bienen.«
»Mit Rebi-Saft beschmiert.«
»Nachdem wir ihnen die Kleider weggenommen haben.« »Und ihnen die Haut abgezogen haben. Mit einem Flachsmesser.«
»Jetzt machst du mir wirklich Angst.«
Drillis Lächeln hatte etwas Wildes. Sie bückte sich und griff nach dem zersplitterten Blasrohr. »Brauchst du das noch, um ein anderes Rohr zu machen?«
»Nein.«
»Gut.« Sie nahm einen Korb von einem Haken, ging in die Hocke und machte sich daran, die Einzelteile einzusammeln.
»Was hast du damit vor?«
Sie verzog das Gesicht. »Einer von uns muss den Sprechern mitteilen, dass du dein Geschirr nicht vorführen kannst. Wenn ich zu ihnen gehe, werden sie wissen, dass jemand an dich glaubt. Außerdem kann ich sie mit diesen Beweisen davon überzeugen, dass du sie nicht zum Narren gehalten hast.«
Erst jetzt wurde Tryss die volle Bedeutung dessen bewusst, was seine Vettern getan hatten, und das Herz wurde ihm schwer. Die Sprecher wussten, woran er gearbeitet hatte. Die Leute würden argwöhnen, dass er anderen die Schuld am Misserfolg seiner Erfindung zugeschoben hatte – oder dass ihm der Mut fehlte, sie vorzuführen. Er würde...
»Du solltest jetzt besser nach deinen Eltern suchen und es ihnen erzählen.« Drilli richtete sich auf. »Mach kein großes Aufhebens darum und tu so, als sei alles normal.«
Sie zögerte kurz, dann trat sie vor ihn hin. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und sie beugte sich vor, um ihn zu küssen. Er blinzelte überrascht, aber als er ihren Kuss erwiderte, zog sie sich zurück. Mit einem Zwinkern schob sie den Türbehang beiseite.
»Wir sehen uns später.«
Und dann war sie auch schon fort.
Auraya sah sich die Botschafter genau an und erkannte die Zeichen von Erschöpfung. Da sie klein von Wuchs waren, vertrugen sie Rauschgetränke nicht allzu gut. Wie Kinder bewegten sie sich energisch, ermüdeten aber schnell.
Dyara unterhielt sich leise mit Tireel. Auraya bekam Bruchstücke ihres Gespräches mit.
»...Mut, ein so großes, von Landgehern besiedeltes Gebiet zu überqueren, obwohl euer Volk allen Grund hat, uns zu fürchten.«
»Wir sind hoch geflogen und meistens bei Nacht«, erwiderte er. »Landgeher blicken nicht oft nach oben. Und wenn sie es doch einmal getan haben, glaubten sie wahrscheinlich, große Vögel zu sehen.«
Dyara nickte. »Bei eurer Rückkehr werdet ihr derartige Vorsichtsmaßnahmen nicht brauchen. Auraya wird nicht zulassen, dass euch ein Leid widerfährt.«
»Dafür sind wir sehr dankbar. Mir scheint, dass die Götter dieser Allianz gewogen sein müssen, sonst hätten sie niemals einem von euch die Macht gegeben, dem Sog der Erde zu widerstehen.«
Auraya lächelte. Die beiden Siyee bezeichneten ihre Gabe nicht als »fliegen«. Sie sahen keine Ähnlichkeit zwischen der Benutzung von Magie und dem Reiten der Winde. Dennoch glaubten sie, dass gerade sie von allen Landgehern das Volk von Si am besten verstand. Die Fähigkeit zu fliegen machte einen Großteil dessen aus, was sie waren, sowohl körperlich wie auch kulturell.
Als Zeeriz gähnte, warf sie Juran einen vielsagenden Blick zu.
Unsere Gäste sind an ihre Grenzen gestoßen, erklärte Auraya dem Anführer der Weißen. Ich denke, du hast recht.
Juran richtete sich auf, dann räusperte er sich. Aller Augen wandten sich ihm zu.
»Ich würde gern ein Gebet sprechen«, sagte er. »Und unseren Gästen ein letztes Mal eine gute Reise wünschen, bevor wir uns zurückziehen.« Er hielt inne und schloss die Augen. »Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru. Wir danken euch für alles, was ihr getan habt, um uns heute Abend zusammenzuführen, auf dass wir den Ländern von Ithania Frieden und Verständnis bringen mögen. Wir bitten euch, über Tireel vom Stamm des Grünen Sees zu wachen und über Zeeriz vom Stamm des Gegabelten Flusses sowie über Auraya von den Weißen, während sie sich auf den Weg in das Land von Si machen. Möget ihr sie leiten und beschützen.«
Er öffnete die Augen wieder, dann griff er nach seinem Glas. Sofort eilten einige Diener herbei, um ihnen allen ein wenig Tintra nachzuschenken. Auraya musste sich ein Lächeln verkneifen, als sie Zeeriz’ erschrockene Miene sah.
»Ich wünsche euch eine sichere und angenehme Reise.« Juran blickte über den Rand seines Glases hinweg zuerst den einen Botschafter an, dann den anderen. Seine ernste Miene wich einem Lächeln. Er führte das Glas an die Lippen und nippte daran. Als die anderen seinem Beispiel folgten, bemerkte Auraya, dass Zeeriz sein Glas fast in einem einzigen Zug leerte, als wolle er die Angelegenheit möglichst schnell hinter sich bringen.
Tireel grinste. »Wir werden auf Auraya aufpassen«, versicherte er Juran.
»Man wird sie behandeln wie... wie...«, begann Zeeriz.
»Wie einen geehrten Gast«, vollendete Tireel seinen Satz.
»Ich danke euch«, sagte Juran. »Dann entlassen wir euch jetzt am besten in die Nacht, damit ihr noch ein wenig Schlaf bekommt, bevor ihr euren langen Flug antretet.«
Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Auraya wandte sich zu dem Stuhl um, auf dem Zeeriz saß, und als sie ihn auf seinem Platz nicht entdecken konnte, senkte sie den Blick. Sie hatte eigens hohe Stühle anfertigen lassen, damit die Siyee auf gleicher Höhe mit ihnen am Esstisch sitzen konnten. Es überraschte sie jedes Mal aufs Neue, wenn sie ihre fremdländischen Gäste am Ende eines Mahls plötzlich doch wieder überragte. Zeeriz hatte die Augen geschlossen. Er schwankte ein wenig, dann schlug er die Augen wieder auf und sah Auraya blinzelnd an.
»Es ist nicht gerecht, dass ihr Landgeher so viel trinken könnt«, murmelte er. Sie kicherte. »Ich bringe dich zu deinem Quartier zurück.«
Er nickte und ließ sich von ihr in den Flur hinausführen. Sie hörte, dass Dyara und Tireel, die sich noch immer miteinander unterhielten, ihnen folgten. Die Botschafter wohnten in einem der mittleren Geschosse des Turms in der Nähe des Speisesaals. Auraya und Dyara wünschten ihren Gästen eine gute Nacht, dann machten sie sich auf den Weg in ihre eigenen Räume. Als sie die große Treppe erreichten, warf Dyara Auraya einen nachdenklichen Blick zu.
»Diese Reise scheint dir größere Sorgen zu machen als die letzte«, bemerkte sie. Auraya sah Dyara an. »Das ist richtig«, gestand sie.
»Was glaubst du, woran das liegt?«
»Ich muss es allein schaffen.«
»Du kannst dich nach wie vor mit Juran oder mir beraten«, erklärte Dyara. »Aber ich denke, es steckt noch mehr dahinter als das.«
Auraya nickte. »Vielleicht war es mir in Somrey nicht gar so wichtig, Erfolg zu haben. Es ist nicht so, als wäre es mir gleichgültig gewesen«, beeilte sie sich hinzuzufügen, »aber die Möglichkeit, bei den Siyee zu versagen und ihnen einen weiteren Grund zu geben, uns nicht zu mögen, macht mir zu schaffen. Ich nehme an, dass sie uns größeres Vertrauen entgegenbringen als die Somreyaner. Wenn ich scheitere, wird das so sein, als hätte ich ihr Vertrauen verraten.«
»Du hattest weniger Bedenken, ob du mit deinem Tun vielleicht das Vertrauen der Traumweber verrätst?«
Auraya zuckte die Achseln. »Sie haben uns von Anfang an nicht vertraut.«
»Das ist richtig«, erwiderte Dyara und blickte versonnen drein. »Aber dein Freund vertraut dir. Es war ein kühner Schritt, ihn zu deinem Ratgeber zu machen. Ich habe dieses Vorgehen seinerzeit für unklug gehalten, aber wie sich herausgestellt hat, hatte es beträchtliche Vorteile.«
Auraya sah Dyara erstaunt an. War das ein Lob? Von Dyara? Weil sie sich mit einem Traumweber befreundet hatte?
Dyara blieb an der Tür vor Aurayas Quartier stehen. »Gute Nacht, Auraya. Ich werde dich morgen noch sehen, wenn wir uns verabschieden.«
»Gute Nacht«, erwiderte Auraya. »Und... danke.«
Dyara lächelte, dann setzte sie ihren Weg die Treppe hinauf fort. Während Auraya ihre Räume betrat, dachte sie über Dyaras Worte nach.
»Aber dein Freund vertraut dir.«
Sie hatte während der letzten Tage keine Gelegenheit gehabt, mit Leiard zu sprechen. Morgen würde sie in aller Frühe aufbrechen. Es würde ihr keine Zeit bleiben, ihn ein letztes Mal zu sehen.
Dann habe ich nur noch heute Nacht die Möglichkeit, mich von ihm zu verabschieden.
Sie runzelte die Stirn. Es war spät. Zu spät, um nach ihm zu schicken. Sie konnte niemandem den Auftrag geben, ihn zu wecken und in den Turm zu bringen, nur um fünf Minuten mit ihm zusammen zu sein, bevor sie ihn wieder nach Hause schickte. Würde er wirklich etwas dagegen haben? Sie schürzte die Lippen. Was war schlimmer: ihn mitten in der Nacht hier-herzuschleppen oder ohne ein Wort des Abschieds aufzubrechen?
Mit einem Lächeln schloss sie die Augen und suchte nach dem Geist des Priesters, der unten im Turm seinen Nachtdienst versah. Nachdem sie ihm ihre Anweisungen gegeben hatte, setzte sie sich hin, um zu warten.
Morgen um diese Zeit werde ich in irgendeinem Dorftempel schlafen. Sie schaute sich im Raum um. Alles sah genauso aus wie immer. Kein Koffer stand bereit, nur ein kleines Bündel mit weißen Kleidern zum Wechseln und einigen Geschenken für die Siyee. Alles, was sie brauchte, würde sie von den Priestern und Priesterinnen der Tempel bekommen, in denen sie Quartier nahm.
Sobald sie in den Bergen war, würde es keine Tempel mehr geben. Die Siyee hatten ihr versichert, dass sie auch in ihrem Land alles Notwendige vorfinden würde. Sie würden sie mit allen Annehmlichkeiten einer zivilisierten Kultur versorgen, wie zum Beispiel Papier und Tinte, die sie selbst herstellten. Außerdem würde Auraya eine eigene »Laube« zugewiesen bekommen, um darin zu wohnen.
Schließlich stand sie auf, trat ans Fenster und blickte nach unten. Die Kuppel zeichnete sich als dunkler, von Laternen gesäumter Schemen vor dem Himmel ab. Einige Priester und Diener eilten umher. Die Stadt unter ihr war eine Ansammlung von Lichtern in einem Meer aus tiefer Schwärze.
Ein Tarn, in dem mehrere Heilerpriester saßen, fuhr in den Tempelbezirk ein. Auraya beobachtete die Ankunft zweier Plattans, dann beschleunigte sich ihr Herzschlag, als sie einen weiteren Wagen unter dem Torbogen hindurchfahren sah. Nur eine einzige Person saß darin. Selbst aus dieser Höhe erkannte sie Leiard mit seinem weißen Haar und seinem ebenso weißen Bart sofort.
Als der Plattan näher kam, blickte Leiard auf. Ein Lächeln glitt über Aurayas Züge, obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte.
Sie trat von dem Fenster weg und begann, im Raum auf und ab zu gehen. Ob er es ihr übelnahm, dass sie ihn hatte rufen lassen? Plötzlich erschien es ihr töricht, dass sie ihn hergebeten hatte, nur um sich von ihm zu verabschieden. Sie hätte stattdessen einen Brief schicken können. Sie hätte ihn aufsuchen können... Nein, damit hätte sie die ganze Familie gestört, bei der er zur Zeit wohnte.
Nun, jetzt lässt es sich nicht mehr ändern, befand sie. Ich werde mich entschuldigen, auf Wiedersehen sagen und ihn dann heimschicken. Bis ich nach Jarime zurückkomme,wird er mir verziehen haben.
Sie setzte ihr rastloses Auf und Ab im Raum fort. Warum brauchte er so lange? Vielleicht hatte sie sich geirrt. Sie ging wieder ans Fenster.
Ich könnte den Priester befragen, der Dienst tut...
Als sie ein leises Klopfen von der Tür hörte, erstarrte sie, dann atmete sie tief durch.
Er ist hier.
Sie strich ihren Zirk glatt, schritt zur Tür hinüber und öffnete sie. Leiard musterte sie mit erwartungsvoller Wachsamkeit.
»Leiard. Komm herein.« Sie hielt ihm die Tür auf. »Ich entschuldige mich für die späte Stunde. In den letzten Tagen hatte ich keinen Augenblick für mich allein und keine Zeit, mich wie versprochen mit dir zu treffen. Morgen werde ich aufbrechen, und ich konnte nicht fortgehen, ohne mich zu verabschieden.«
Er nickte langsam, und sie war erfreut zu sehen, dass er nicht verärgert war, sondern nur erleichtert. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie ihn beunruhigt haben musste, indem sie ihn so spät noch in den Turm bat. Warum hatte sie das nicht vorhergesehen?
»Wahrscheinlich hätte ich dir einfach eine Nachricht schicken sollen«, fügte sie kläglich hinzu. »Statt dich aufzuwecken.«
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. »Es macht mir nichts aus.«
»Ich muss mich nicht nur von dir verabschieden, ich wollte mich auch bei dir bedanken.« Sie hielt kurz inne, dann griff sie nach seiner Hand. Als ihre Finger sich berührten, holte sie Luft, um etwas zu sagen, brach jedoch jäh ab, als sie in seine Augen sah. Sein Blick war angespannt und wachsam, als hätte er Mühe, irgendein Gefühl unter Kontrolle zu halten. Sie schaute näher hin. Seine Gedanken waren in Aufruhr. Ihre Berührung hatte ihn...
Eine Woge der Wärme schoss durch ihren Körper. Ihre Berührung hatte ihn erregt. Er kämpfte gegen sein Verlangen nach ihr.
Ich habe nicht gewusst, dass seine Bewunderung so tief geht... aber wahrscheinlich war das bisher nicht so, sonst hätte ich es in seinen Gedanken gelesen. Dies ist etwas Neues. Dies ist erst heute Nacht geschehen. Gerade eben erst.
Ihr Herz raste.
Ihr eigener Körper reagierte auf sein Verlangen. Sie spürte ein Lächeln auf ihren Lippen. Ich begehre ihn. Jetzt haben wir beide etwas herausgefunden. Sie war sich des angespannten Schweigens zwischen ihnen deutlich bewusst. Das einzige Geräusch im Raum war ihr Atem. Keiner von ihnen bewegte sich. Wir sollten uns voneinander lösen und so tun, als sei dies nie geschehen. Stattdessen streckte sie die Hand aus und strich über seine Wange, dann zeichnete sie mit dem Finger seine Lippen nach. Er zuckte nicht zurück, aber er erwiderte die Liebkosung auch nicht. Sie las Zögern in seinen Gedanken.
Diese Entscheidung muss von mir kommen, ging es ihr durch den Kopf. Er kann nicht vergessen, wer wir sind. Nur ich kann diese Wahl treffen.
Sie lächelte und hob ihre Lippen den seinen entgegen. Er erwiderte ihren Kuss mit einer sanften Zärtlichkeit, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Dann lagen sie einander in den Armen. Sie küsste ihn energisch, und er antwortete mit dem gleichen Maß an Hunger und Leidenschaft. Ihre Körper berührten sich, und Auraya griff nach seinem Wams, um ihn näher an sich zu ziehen. Er ließ die Hände über ihren Rücken gleiten, aber unter dem dicken Stoff ihres Zirks konnte sie seine Berührung kaum spüren.
Wams. Zirk. Dinge, die sie daran erinnerten, wer sie waren. Aber Auraya wollte nicht erinnert werden. Nicht jetzt. Diese Dinge mussten verschwinden.
Sie lachte leise. Das sieht mir gar nicht ähnlich, dachte sie. Leiards Lippen lösten sich von ihrem Mund, und er begann, ihren Hals zu küssen. Ihm sieht das auch nicht ähnlich. Sie entdeckte eine Seite an ihm, von deren Existenz sie niemals auch nur etwas geahnt hatte.
Und es gefällt mir. Sie kicherte. Schließlich schlang sie die Arme um seine Taille und ging rückwärts auf die Tür zu ihren privaten Gemächern zu.
Emerahl lächelte und ließ die Hände über ihren Körper gleiten.
Es hat funktioniert.
Aber natürlich hatte es funktioniert. Sie hatte noch nie eine Verwandlung verpfuscht. Mirar hatte ihr vor langer Zeit erklärt, dass ihre Fähigkeit, ihren Körper zu verwandeln, eine angeborene Gabe sei. Er hatte die Theorie vertreten, dass alle Wilden eine Gabe besaßen, die ihnen auf natürliche Weise zufiel. So wie das Gefühl für Musik jenen zufiel, die wahrhaftes Talent besaßen. Ihre Gabe lag darin, ihr körperliches Alter zu verändern.
Als sie die Augen aufschlug, sah sie nur Dunkelheit. Die Luft um sie herum wurde zunehmend stickig. Sobald sie sich aus der Todestrance befreit hatte, hatte sie kleine Tunnel geschaffen, um Luft in die Kiste einzulassen. Inzwischen hatte sie den Zustand der Verlangsamung aller natürlichen Vorgänge im Körper, der für eine solche Verwandlung vonnöten war, beendet und atmete mit normaler Geschwindigkeit. Sie verzog das Gesicht. Eine Todestrance war niemals angenehm, aber in diesem Fall war ihr nichts anderes übrig geblieben, denn sie hatte die Kinder täuschen und dafür sorgen müssen, dass sie unter der Erde überlebte. Sie wusste nicht, wie viele Tage vergangen waren, aber eines stand fest: Sie musste bald aus ihrem Sarg herauskommen, oder sie würde ersticken.
Sie war sich jedoch nicht sicher, wo die Kinder sie begraben hatten. Falls sie oder jemand anders sahen, wie sie sich aus ihrem Grab befreite, würde die Geschichte sich schneller verbreiten als ein Winterhusten und den Priester vielleicht auf die Veränderung ihres Aussehens aufmerksam machen. Sie würde sehr vorsichtig sein müssen.
Sie schloss die Augen, sandte ihren Geist aus und war sehr zufrieden, als es ihr gelang, die Gefühle der Menschen in unmittelbarer Nähe wahrzunehmen. Es war nicht leicht, sich Klarheit zu verschaffen, aber schließlich erkannte sie die schläfrigen Gedanken von Kindern. Sie fluchte unwillkürlich. Sie waren irgendwo ganz in der Nähe. Sie würde sehr leise sein müssen. Langsam zog Emerahl Magie in sich hinein und benutzte sie, um direkt über ihrem Kopf den Deckel der Kiste aufzubrechen. Dann bewegte sie die Erde von dieser Stelle zum anderen Ende ihres Sargs hinunter. Früher als erwartet, wurde der bleiche Himmel der Morgendämmerung sichtbar.
Sie hätten mich tiefer begraben sollen, dachte sie. Aber ihre Unwissenheit hat mir einige Mühe erspart.
Sie vergrößerte das Loch, bis sie ihren Körper hindurchzwängen konnte. Kurze Zeit später sah sie, dass sie sich in dem kleinen Garten hinter dem ausgebrannten Haus befand, unter dem die Kinder lebten. Sie hielt inne, um nachzudenken.
Ich könnte mich wieder eingraben und warten, bis sie alle für den Tag über fortgegangen sind. Sie zögerte kurz. Nein. Einige von ihnen bleiben immer zurück, um das Haus zu hüten. Es ist besser, wenn ich jetzt fortgehe, solange sie noch schlafen.
Sie hob die Arme, schob sie durch das Loch und legte die Hände auf dessen Rand. Dann begann sie sich hochzuziehen. Sie musste mehrmals innehalten, um Atem zu schöpfen, und während sie langsam aus ihrem Grab aufstieg, begriff sie auch, warum das so war. Die Veränderung hatte einen großen Teil ihres Körperfetts aufgezehrt. Ihre Arme waren knochig und mager, und ihre Brüste waren praktisch zu nichts zusammengeschrumpft. Als sie die Erde von dem schmutzigen, weißen Hemd abwischte, in dem die Kinder sie begraben hatten, spürte sie die Härte der hervortretenden Hüftknochen unter dem Stoff.
Ich binschwach und dürr, überlegte sie. Ein Skelett, das aus dem Schoß eines Sargs wiedergeboren wurde. Wenn mich heute jemand für ein unheiliges, grauenerregendes Geschöpf hielte, könnte ich es ihm nicht verübeln.
Endlich gelang es ihr, sich zu erheben. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass sie genug Kraft hatte, um zu stehen und, wie sie vermutete, auch um sich fortzubewegen. Sie trat aus ihrem Grab heraus, drehte sich um und betrachtete die Dinge, die Zeugnis von ihrer Auferstehung von den Toten ablegten.
Das hier sollte ich besser in Ordnung bringen.
Sie zog Magie in sich hinein und bearbeitete die Erde, bis das Loch wieder gefüllt und alle Spuren ihres Tuns verwischt waren. Mit einem traurigen Lächeln betrachtete sie die verwelkten Blumen, die auf dem Boden lagen. Sie wünschte, sie hätte mehr für die Kinder tun können, aber jetzt musste sie vor allem an ihr eigenes Überleben denken.
Was nun?
Sie blickte an sich hinab. Ihre Hände und Arme waren mit Erde bedeckt, und sie trug nur ein fleckiges Hemd am Leib. Das Haar hing ihr über die Schultern und war immer noch steif und weiß wie das einer alten Frau. Sie musste sich waschen, dann benötigte sie Kleider und Essen und irgendetwas, womit sie ihre Haare färben konnte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass die Börse, die sie am Leib festgeschnallt getragen hatte, verschwunden war. Sie war nicht überrascht; sie hatte gewusst, dass die Kinder sie wahrscheinlich finden würden. Schließlich konnte sie nicht alles in ihrem Leib verstecken.
Einen Moment lang erwog sie die Möglichkeit, sich ins Haus zu stehlen und nach der Börse zu suchen, aber dann verwarf sie den Gedanken wieder. Es war ein zu großes Risiko, und außerdem hatten die Kinder den größten Teil des Geldes wahrscheinlich bereits ausgegeben. Also kehrte sie ihrem »Grab« den Rücken zu und ging leise an dem Haus vorbei ins Armenviertel. Das dünne, graue Licht des Morgens wurde langsam heller. Die Straßen waren still, aber nicht menschenleer. Sie kam an zwei älteren Wäscherinnen vorbei, die sie voller Abscheu betrachteten, und kurz darauf blieb ein jüngerer Mann mit einem Holzbein vor ihr stehen, um sie lüstern anzustarren. Zum ersten Mal seit über hundert Jahren geriet sie in Verlegenheit.
Und da fragen die Leute mich, warum ich, die so jung sein kann, wie sie will, mich dafür entscheide, alt zu sein?, dachte Emerahl ironisch.
Aber andererseits hatte es eindeutig auch seine Vorzüge, wieder jung zu sein. In ihrer jüngeren Gestalt war sie für Männer stets anziehend gewesen. Manchmal auch für Frauen. Obwohl sie sich gegenwärtig in einem denkbar schlechten Zustand befand, war ein wenig von ihrer Schönheit noch immer zu erkennen. Sie brauchte nur einige regelmäßige, gesunde Mahlzeiten, um ihre Kurven zurückzugewinnen.
Aber Essen kostete Geld. Stirnrunzelnd dachte sie über die unmittelbare Zukunft nach. Nachdem sie ihre Börse und auch ihr Körperfett eingebüßt hatte, musste sie schnell eine Einkommensquelle auftun. Diebstahl war eine Möglichkeit, aber sie war seit langem aus der Übung und hätte nicht die Kraft, wegzulaufen, falls sie ertappt wurde. Wenn man sie bei einem solchen Vergehen entdeckte, würde sie damit nur die Aufmerksamkeit der Priester auf sich ziehen.
Die Priester hielten Ausschau nach einer Frau, die Heilmittel verkaufte, daher blieb ihr auch dieser Weg versperrt. Sie ging weiter hügelabwärts, auf das Meer zu. Die Richtung, die sie gewählt hatte, erheiterte sie. Sie war am Ozean zur Welt gekommen und hatte sich in Notzeiten stets zum Wasser hingezogen gefühlt. Als der flache, flüssig erscheinende Horizont schließlich in Sicht kam, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus und beschleunigte ihre Schritte.
Am Rand des Wassers angekommen, folgte sie der Straße am Ufer entlang und hielt Ausschau nach einer abgelegenen Stelle, um sich zu waschen. Die meisten der kleinen Buchten waren besetzt. Als sie zu einer Bucht mit nur einem einzigen Steg gelangte, blieb sie stehen. Zwei Fischer arbeiteten in ihrem Boot, ein junger und ein alter, die ihren Fang für den Markt zurechtlegten. Einen Moment lang betrachtete sie die beiden Männer, dann ging sie kühn den Steg hinunter.
»Sieht nach einem guten Fang aus«, sagte sie im Vorbeigehen.
Die beiden starrten sie an. Sie lächelte ihnen zu, dann wandte sie sich ab. Am Ende des Stegs sprang sie ins Meer.
Kaltes Wasser umschlang sie, und der Schreck trieb ihr alle Luft aus der Lunge. Sie spürte Sand unter ihren Füßen und stieß sich wieder hoch. Als sie die Oberfläche durchbrach, holte sie tief Luft und machte den ersten Schwimmzug.
»Meine Dame?«
Sie rollte sich herum und lachte über den besorgten Ausdruck der beiden Fischer.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Ich wollte nur wieder sauber werden.«
»Du hast uns ziemlich erschreckt«, sagte der jüngere Mann tadelnd. »Ich dachte, du willst dich ertränken.«
»Tut mir leid.« Sie schwamm auf sie zu und bemerkte, dass der Blick der beiden von ihrem Gesicht zu jenen Teilen ihres Körpers wanderte, die unter der Oberfläche des Wassers zu sehen waren. Das Hemd war in seinem durchnässten Zustand fast durchsichtig. »Vielen Dank, dass ihr auf die Idee gekommen seid, mich zu retten.« Sie schwamm unter dem Steg hindurch.
Sie konnte die beiden Männer über die Bretter über ihr gehen hören. Ihr Interesse war unverkennbar. Nachdenklich schürzte sie die Lippen. Eine Möglichkeit, wie sich ihr gegenwärtiges Dilemma lösen ließe, war ihr bereits durch den Kopf gegangen, und nun bot sich ihr eine erste Chance. Es war nicht so, als hätte sie dergleichen Arbeit noch nie getan. Tatsächlich war sie ihrer Meinung nach auf diesem Gebiet immer recht gut gewesen.
Als sie aufblickte, sah sie, dass die Planken des Stegs so dicht lagen, dass man nicht hindurchblicken konnte. Noch im Wasser schob sie eine Hand unter den Unterrock und versuchte dann, in sich etwas zu ertasten.
Das ist einer der Gründe, warum manche Männer diesen Teil des Körpers einer Trau Hurenbörse nennen, dachte sie, während sie einen kleinen Beutel hervorzog. Darin befanden sich unter anderem die Seeglocke, der Anhänger aus Dembar-Saft und einige Münzen. Von den Münzen würde sie nur wenige Mahlzeiten kaufen können, und kein Juwelier würde ihr auch nur den Bruchteil eines angemessenen Preises für eine solch wertvolle Seeglocke zahlen, solange sie so aussah wie jetzt. Nein, damit würde sie noch warten müssen. Sie schob den Beutel auf den schleimschmierigen Steg und kam dann wieder darunter hervor.
Sofort wandten sich die Fischer ihr wieder zu. Während sie sich langsam ihrem Boot näherte, gingen sie auf dem Steg neben ihr her.
»Ist das euer Boot?«, fragte sie.
»Es gehört meinem Vater«, sagte der junge Mann mit einem Blick auf seinen Begleiter.
»Habt ihr etwas dagegen, wenn ich an Bord komme, während ich mich trocknen lasse?«
Die beiden sahen einander kurz an, dann nickte der ältere Mann. »Warum nicht?«
Sie grinste ihnen zu und schwamm zu dem Boot hinüber.
Der jüngere Mann stieg in das Boot, beugte sich vor und griff nach ihrer Hand, um sie auf das Deck zu ziehen. Sie bemerkte, dass der Vater sich verstohlen umsah, um festzustellen, ob jemand sie beobachtete, und sie verkniff sich ein Lächeln. Du denkst an deine Frau, wie?
Als sie im Boot stand, zog sie Magie in sich hinein und sandte Wärme und Luft durch ihr Hemd. Der jüngere Mann trat einen Schritt zurück und betrachtete sie mit neuem Respekt. Obwohl sie wusste, dass sie in nassem Zustand wahrscheinlich aufregender aussah, sollten diese beiden möglichen Kunden doch wissen, dass es nicht leicht sein würde, sie um ihr Entgelt zu betrügen.
Als ihr Hemd trocken war, stieß sie einen Seufzer aus.
»Man sollte meinen, dass ich es mit all meinen Gaben nicht nötig gehabt hätte, als Hure zu enden.« Sie sah die beiden an und errötete. »Aber ich habe gerade erst angefangen. Und ich werde es auch nicht lange tun. Nur bis ich eine Arbeit gefunden habe.«
Die beiden Männer tauschten einen Blick, dann räusperte sich der Vater. »Wie viel?«
Emerahl lächelte. »Nun, ich denke, dass zwei galante Männer, die eine Dame vor dem Ertrinken retten wollten, einen günstigen Preis bekommen sollten, meint ihr nicht auch?«
Und das, dachte sie ironisch, ist der andere Grund, warum Männer diesen Teil eines Frauenkörpers Hurenbörse nennen.