John le Carre

Schatten von gestern

Deutsch von Ortwin Munch

Das Curriculum Vitae von George Smiley

Als Lady Ann Sercomb gegen Ende des Krieges George Smiley heiratete, pflegte sie ihn ihren erstaunten Freunden aus Mayfair als einen direkt atemberaubend gewöhnlichen Menschen zu schildern. Als sie ihn dann zwei Jahre später zugunsten eines Autorennfahrers aus Kuba verließ, verkündete sie rätselhaft, daß sie ihn nie hätte verlassen können, wenn sie es nicht zu diesem Zeitpunkt getan hätte. Und Viscount Sawley begab sich eigens zu dem Zweck in seinen Klub, um die Bemerkung fallen zu lassen, die Katze wäre aus dem Sack.

Dieser Ausspruch, der eine Zeitlang als Bonmot herumging, kann nur von Leuten verstanden werden, die Smiley kannten. Klein, dick und von ruhiger Gemütsart, schien er eine Menge Geld für wirklich miserable Anzüge auszugeben, die auf seinem viereckigen Gestell wie die Haut einer verschrumpelten Kröte wirkten. Tatsächlich sagte Sawley auch bei der Hochzeit: »Die Sercomb heiratet einen Ochsenfrosch in Ölzeug und Südwester.« Und Smiley, der von dieser Klassifizierung nichts wußte, war wie in der Hoffnung auf den Kuß, der ihn in einen Prinzen verwandeln sollte, zum Altar gewatschelt.

War er reich oder arm, Bürger oder Bauer? Wo hatte sie ihn aufgegabelt? Die Widersinnigkeit der Verbindung wurde durch Lady Anns nicht zu übersehende Schönheit noch hervorgehoben, und das Rätselhafte der Angelegenheit durch das Mißverhältnis zwischen dem Mann und seiner Braut unterstrichen. Aber der Tratsch muß sich seine Gestalten schwarz oder weiß malen und sie mit Sünden und Motiven ausstatten, die sich leicht in den Code der Konversation verschlüsseln lassen. Daher kam Smiley, der weder Schule, Eltern, Regiment oder Beruf noch Reichtum oder Armut aufweisen konnte, ohne Adreßzettel in den Gepäckwagen des Expreßzuges der Gesellschaft und wurde bald ein verlorener Koffer, endgültig verloren, als die Scheidung sich anbahnte und ausgesprochen worden war, ein Koffer, der auf den staubigen Stellagen der Neuigkeiten von gestern herumlag und den keiner mehr haben wollte.

Als Lady Ann ihrem Star nach Kuba folgte, dachte sie ein wenig über Smiley nach. Mit widerwilliger Bewunderung gestand sie sich ein, daß es Smiley sein würde, wenn es nur einen einzigen Mann in ihrem Leben gäbe, und es befriedigte sie, daß sie diese Tatsache durch das heilige Sakrament der Ehe bewiesen hatte.

Wie Lady Anns Abreise auf ihren ersten Gatten wirkte, machte der Gesellschaft, die ja wenig an dem Anteil nimmt, was nach der Sensation kommt, kaum Kopfzerbrechen, obwohl es ganz interessant gewesen wäre, zu erfahren, was Sawley und sein Kreis von Smileys Reaktion gehalten hätten; von Smileys fettem bebrilltem Gesicht, das sich in energische Falten der Konzentration zog, wenn er aufmerksam die weniger bekannten deutschen Poeten las, während er seine plumpen, feuchten Hände in den herunterbaumelnden Ärmeln zu Fäusten ballte. Aber alles, was Sawley zu diesem Anlaß von sich gab, war ein leichtes Achselzucken und die Bemerkung: >Partir c'est courir un peu<, und es schien ihm nicht klar zu sein, daß, während Lady Ann nur davonlief, ein Teil von George Smiley gestorben war.

Der Teil, der weiterlebte, sein Beruf als Nachrichtenoffizier, paßte ebensowenig zu seiner Erscheinung wie die Liebe oder seine Vorliebe für nicht anerkannte Dichter. An diesem Beruf hatte er Spaß, und dieser Beruf versah ihn auch gnädigerweise mit Kollegen, deren Charakter und Herkunft ebenso im Dunkel lagen. Er bot ihm auch, was er früher einmal am meisten geliebt hatte, nämlich akademische Exkursionen in das Mysterium menschlichen Verhaltens, die sich aus der praktischen Anwendung seiner eigenen Schlüsse ergaben.

Einmal in den zwanziger Jahren, als Smiley mit seiner bescheidenen Mittelschule fertig war und geblendet in die düsteren Arkaden seines bescheidenen College in Oxford stolperte, hatte er von Dozenturen geträumt und einem Leben, das den literarischen Obskuritäten Deutschlands im siebzehnten Jahrhundert gewidmet sein sollte. Aber sein eigener Lehrer, der ihn besser kannte, dirigierte ihn klugerweise aus dem Bereich der Ehren, die ihn ohne Zweifel erwartet hätten. An einem wunderschönen Morgen des Monats Juli im Jahre 1928 saß ein verwirrter und ziemlich rot angelaufener Smiley vor der Prüfungskommission des Komitees für Akademische Forschung in Übersee, einer Organisation, von der er sonderbarerweise noch nie etwas gehört hatte. Jebedee, sein Lehrer, hatte sich merkwürdig vage ausgedrückt, als er ihm die Sache erklärte: »Versuch es mit diesen Leuten, vielleicht behalten sie dich; sie zahlen so schlecht, daß du sicher in guter Gesellschaft sein wirst.« Aber Smiley war verärgert gewesen und hatte das auch gesagt. Er machte sich Gedanken darüber, daß Jebedee, der sich doch sonst immer so präzis ausdrückte, auswich. Ein wenig mißmutig willigte er aber ein, seine Entscheidung auf Allerseelen zu verschieben, bis er Jebedees mysteriöse »Leute« gesehen hätte.

Er wurde den einzelnen Mitgliedern der Kommission nicht besonders vorgestellt, doch kannte er ungefähr die Hälfte vom Sehen. Da war einmal Fielding, der in Cambridge über das französische Mittelalter las, Sparke aus dem Institut für orientalische Sprachen und Steed-Asprey, der an demselben Abend am Professorentisch diniert hatte, als Smiley Jebedees Gast gewesen war. Er mußte zugeben, daß er beeindruckt war. Denn daß Fielding seine Wohnung, von Cambridge gar nicht erst zu reden, verließ, war schon an und für sich ein Wunder. Später dachte Smiley an dieses Interview immer als an einen Schleiertanz, eine genau berechnete Folge von Enthüllungen, von denen jede eine andere Einzelheit eines geheimnisvollen Ganzen zeigte. Endlich entfernte Steed-Asprey, der der Vorsitzende zu sein schien, den letzten Schleier, und die Wahrheit stand in ihrer ganzen verwirrenden Nacktheit vor ihm. Man bot ihm einen Posten in einer Organisation an, die Steed-Asprey mangels eines besseren Namens schamhaft als Geheimdienst bezeichnete.

Smiley hatte um Bedenkzeit gebeten. Sie gaben ihm eine Woche. Geld wurde nicht erwähnt.

An diesem Abend aß er irgendwo in London in einem ziemlich guten Lokal und ging ins Theater. Er fühlte sich merkwürdig wirr im Kopf, und das bedrückte ihn. Er war sich völlig darüber im klaren, daß er ja sagen würde. Das hätte er schon gleich bei der Unterredung tun können. Es war nur instinktive Vorsicht und vielleicht der verzeihliche Wunsch, sich Fielding gegenüber ein bißchen zu zieren, der ihn davon abhielt, sofort einzuschlagen.

Nachdem er sich verpflichtet hatte, kam das Training: anonyme Landhäuser, anonyme Instruktoren, viele Reisen, die immer weiter wurden, und schließlich die phantastische Aussicht, ganz auf sich allein gestellt zu arbeiten.

Sein erster Posten im Einsatz war verhältnismäßig amüsant. Zwei Jahre als englischer Lektor an einer kleinen deutschen Universität: Vorlesungen über Keats und Ferien in bayrischen Jagdhütten mit Gruppen von feierlich ernsten deutschen Studenten der verschiedensten Herkunft. Gegen Ende der langen Ferien pflegte er einige von ihnen nach England zu bringen, von denen er schon die wahrscheinlich in Frage kommenden über geheime Verbindungen an eine Adresse in Bonn bezeichnet hatte. Während der ganzen beiden Jahre hatte er keine Ahnung, ob seine Empfehlungen berücksichtigt wurden oder nicht. Er wußte nicht einmal, ob man an seine Kandidaten herantrat oder nicht, noch hatte er eine Möglichkeit, festzustellen, ob seine Botschaften je ihren Bestimmungsort erreichten. Und wenn er in England war, hatte er keinen Kontakt mit dem Department.

Seine Gefühle bei der Durchführung seiner Arbeit waren gemischt und einander widersprechend. Es reizte ihn, von einem Beobachtungspunkt aus das, was er als den »potentiellen Agenten« in einem Menschen zu definieren gelernt hatte, zu finden und auszuwerten, Miniaturtests des Charakters und des Verhaltens zu erfinden, die ihn über die Qualitäten eines Kandidaten informieren konnten. Dieser Teil von ihm war blutlos und unmenschlich. In dieser Rolle war Smiley der internationale gekaufte Söldner seines Berufes, unmoralisch und ohne anderes Motiv als das seines persönlichen Vorteils.

Auf der anderen Seite betrübte es ihn, in sich das langsame Absterben natürlicher Freude zu bemerken. Immer auf der Hut, fand er, daß er vor der Versuchung der Freundschaft und menschlichen Loyalität zurückschreckte, und er wappnete sich ängstlich gegen spontane Reaktionen. Durch die Kraft seines Intellekts zwang er sich, die Regeln der Menschlichkeit mit peinlichster Objektivität einzuhalten, und weil er auch nur ein Mensch und nicht unfehlbar war, haßte und fürchtete er die Falschheit seines Lebens.

Aber Smiley war ein sentimentaler Mensch, und das lange Exil vertiefte seine innige Liebe zu England. Hungrig zehrte er von den Erinnerungen an Oxford, entsann sich seiner Schönheit, der Ungezwungenheit der Gedanken und des langsamen Reifens seiner Urteile. Er träumte von windigen Herbstferien in Hartland Quay, von langen Fußwanderungen an der Felsenküste Cornwalls, das heiße Gesicht dem Seewind zugewendet. Dies war sein zweites, geheimes Leben, und er begann die großmäulig hinterhältige Invasion des neuen Deutschland zu hassen, das Stampfen und Gebrüll der uniformierten Studenten, die arroganten Gesichter mit den Schmissen und ihre billigen konfektionierten Antworten. Es ärgerte ihn auch, wie die Fakultät an seinem Fach, seiner geliebten deutschen Literatur, herumgestümpert hatte. Und dann war eine Nacht gekommen, eine schreckliche Nacht im Winter 1937, da war Smiley an seinem Fenster gestanden und hatte auf einen großen Scheiterhaufen im Hof der Universität hinausgesehen. Rundherum standen Hunderte johlender Studenten mit exaltierten Gesichtern, die von den tanzenden Flammen beleuchtet wurden, und warfen Hunderte von Büchern in das götzendienerische Feuer. Er wußte, wer diese Bücher geschrieben hatte: Thomas Mann, Heine, Lessing und viele andere. Und Smiley, der die Glut seiner Zigarette in seiner feuchten hohlen Hand verbarg, starrte hinaus, und zugleich mit Haß überwältigte ihn der Triumph, daß er seinen Gegner kannte.

Neununddreißig war er in Schweden, und zwar als wohlakkreditierter Vertreter einer sehr bekannten Schweizer Fabrik für Handfeuerwaffen. Seine Verbindung mit der Firma war natürlich rückdatiert, wie das ja zweckdienlich ist. Ebenso zweckdienlicherweise hatte sich seine Erscheinung beträchtlich geändert, denn Smiley hatte in sich ein Talent für Tarnung entdeckt, das über das primitive Wechseln der Haarfarbe und die Hinzufügung eines kleinen Schnurrbartes hinausging. Vier Jahre hatte er seine Rolle gespielt und war zwischen der Schweiz, Deutschland und Schweden hin und her gereist. Er hatte nie geahnt, daß man es aushalten könne, so lange Zeit Angst zu haben. Die Folge war eine nervöse Irritation seines linken Augenlids, die er auch nach fünfzehn Jahren noch nicht losgeworden war, und die dauernde Spannung grub tiefe Falten in seine fleischigen Wangen und seine Stirn. Er erfuhr, was es hieß, nie richtig zu schlafen, pausenlos in Spannung zu sein und immer, sei es bei Tag oder des Nachts, das rastlose Klopfen des eigenen Herzens zu fühlen, die äußersten Grenzen der Einsamkeit und des eigenen Jammers zu erleben, das plötzliche Verlangen nach einer Frau, nach Alkohol, nach Bewegung, kurz nach irgendeinem Narkotikum, das ihm die Spannung seines Lebens nehmen konnte.

Vor diesem Hintergrund führte er seinen offiziellen Handel und seine Arbeit als Spion durch. Im Laufe der Zeit wurde das Netz größer, und andere Länder machten ihren Mangel an Voraussicht und Vorbereitung wett. 1943 rief man ihn zurück. Schon nach sechs Wochen sehnte er sich danach, weiterzumachen, aber sie ließen ihn nicht mehr: »Sie sind fertig«, sagte Steed-Asprey. »Schulen Sie neue Leute ein, machen Sie Ferien. Heiraten Sie, oder machen Sie etwas anderes. Kurz und gut, koppeln Sie ab.«

Smiley machte der Sekretärin von Steed-Asprey, Lady Ann Sercomb, einen Heiratsantrag.

Der Krieg war zu Ende. Sie zahlten ihn aus, und er nahm seine schöne Frau nach Oxford, wo er sich den Obskuritäten des siebzehnten Jahrhunderts in Deutschland widmen wollte. Aber nach zwei Jahren war Lady Ann in Kuba, und die Enthüllungen eines jungen russischen Geheimcodebeamten in Ottawa hatten neuen Bedarf an Männern mit Smileys Erfahrung geschaffen.

Die Arbeit war neu, das Risiko gering, und am Anfang fand er Gefallen daran. Aber jüngere Männer traten ein, vielleicht mit weniger verbrauchtem Verstand. Smiley stand nicht auf den Beförderungslisten, und langsam dämmerte es ihm auf, daß er die Mitte seines Lebens erreicht hatte, ohne jemals jung gewesen zu sein, und daß er ganz einfach auf dem Abstellgleis war.

Die Verhältnisse änderten sich. Steed-Asprey war nicht mehr da. Er war auf der Suche nach einer anderen Kultur aus der Neuen Welt nach Indien geflüchtet. Jebedee war tot. Im Jahre 1941 war er mit seinem Funker, einem jungen Belgier, in Lille in einen Zug gestiegen, und man hatte nie mehr etwas von den beiden gehört. Fielding war durch eine neue Auslegung der Gestalt Rolands gänzlich in Anspruch genommen - nur Maston war noch da, Maston der Karrieremacher, die Kriegserwerbung, der Fachmann des Ministeriums in Fragen des Nachrichtendienstes. »Der erste Mann«, so hatte Jebedee sich ausgedrückt, »der in Wimbledon Machttennis spielt.« Die NATO und alle verzweifelten Maßnahmen, die von den Amerikanern ins Auge gefaßt wurden, änderten gänzlich die Art von Smileys Dienst. Die Tage aus der Zeit von Steed-Asprey, da man seine Aufträge ebensogut in dessen Wohnung in Magdalen bei einem Glas Portwein erhalten konnte, waren für immer dahin. Die amateurmäßige Inspiration einer Handvoll hochqualifizierter, schlecht bezahlter Männer war der betriebsamen Leistungsfähigkeit, dem Bürokratismus und den Intrigen einer großen Ministerialsektion gewichen, die Maston in seinen teuren Anzügen, seinem Adel, seinem distinguierten grauen Haar und seinen silbergrauen Krawatten auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war. Maston, der sich sogar an den Geburtstag seiner Sekretärin erinnerte, dessen feine Manieren bei den Damen der Registratur sprichwörtlich waren, der, als wäre das selbstverständlich, seinen Machtbereich vergrößerte und wie mit einer zögernden Entschuldigung zu immer höheren Positionen aufrückte, Maston, der in Henley smarte Parties in seiner Villa gab und sich mit den Erfolgen seiner Untergebenen mästete.

Während des Krieges hatte man ihn, den Berufsbeamten, aus irgendeinem orthodoxen Ministerium hereingebracht, einen Mann, der mit Papier hantieren und die Brillanz seines Stabes mit der beschwerlichen bürokratischen Maschinerie in Einklang bringen sollte. Es war für die hohen Tiere eine Beruhigung, mit jemandem zu tun zu haben, den sie kannten, einem Mann, der jede beliebige Farbe in Grau verwandeln konnte, der seine Herren und Meister kannte und sich unter ihnen zu bewegen verstand. Und er verstand es nur zu gut! Ihnen gefiel seine Bescheidenheit, wenn er sich dafür entschuldigte, mit wem er umging, die Heuchelei, mit der er die Schrullen seiner Untergebenen verteidigte, seine Wendigkeit bei der Formulierung neuer Aufgaben. Er unterließ es auch nicht, sich der Vorteile der Methoden eines Mannes mit Radmantel und Dolch malgre lui zu bedienen, indem er das Mäntelchen für seine Vorgesetzten trug, den Dolch aber für seine Untergebenen reserviert hatte. Seine Stellung war offensichtlich eine merkwürdige. Er war nicht die offizielle Spitze des Dienstes, aber andererseits der fachmännische Berater des Ministers in Fragen des Nachrichtendienstes. Steed-Asprey hatte ihn für alle Zeiten als Obereunuchen klassifiziert.

Das war alles für Smiley eine ganz neue Welt. Die taghell erleuchteten Korridore, die smarten jungen Männer. Er kam sich hausbacken und altmodisch vor und hatte Heimweh nach dem vernachlässigten alten Haus in Knightsbridge, wo alles begonnen hatte. Seine Erscheinung schien dieses Unbehagen in einer Art physischer Rückbildung widerzuspiegeln, so daß er noch mehr gekrümmt und froschähnlich aussah als je. Er zwinkerte mehr als früher und erwarb sich den Beinamen »Maulwurf«. Aber seine junge Sekretärin betete ihn an und sprach von ihm nur als »Mein lieber Teddybär«.

Smiley war nun schon zu alt, um ins Ausland zu gehen, das hatte ihm Maston klargemacht: »Auf jeden Fall, mein lieber Freund, sind Sie ziemlich fertig nach der Hetzjagd während des Krieges. Bleiben Sie lieber zu Hause, alter Freund, und schüren Sie die heimatlichen Feuer.«

Alles das erklärt ein wenig, warum George Smiley am Mittwoch, dem 4. Januar, um zwei Uhr nachts im Fond eines Londoner Taxis saß und auf dem Wege nach Cambridge Circus war.

Keine Ruh' bei Tag und Nacht

In dem Taxi fühlte er sich sicher. Sicher und warm. Und zwar war die Wärme Konterbande, die er aus dem Bett mitgeschmuggelt und gegen die Kälte der nassen Januarnacht aufgespeichert hatte. Sicher fühlte er sich deshalb, weil die Situation unrealistisch war. Es war sein Geist, der durch die Straßen Londons wanderte und von ihren unglücklichen Vergnügungssuchern Notiz nahm, die unter den Regenschirmen der Türsteher zu ihren Taxis trippelten, und von den galanten jungen Damen, die wie zu Geschenkzwecken in Polyvinyl verpackt waren. Es war sein Geist, entschied er, der aus dem Brunnen des Schlafes geklettert war und das neben dem Bett rasselnde Telefon zum Schweigen gebracht hatte . . . Oxford Street. . . Warum war London die einzige Hauptstadt der Welt, die nachts ihre Persönlichkeit verlor? Während Smiley seinen Mantel enger um sich zog, konnte er sich keines Ortes von Los Angeles bis Bern entsinnen, der so bereitwillig den Kampf um seine Identität aufgab.

Das Taxi bog in Cambridge Circus ein, und Smiley setzte sich mit einem Ruck auf. Es fiel ihm ein, warum der Diensthabende angerufen hatte, und diese Erinnerung riß ihn brutal aus seinen Träumen. Er entsann sich des Gespräches Wort für Wort, eine Fähigkeit, die er sich vor langer Zeit erworben hatte.

»Hier ist der diensthabende Beamte, Smiley. Ich verbinde mit dem Chef . . .«

»Smiley, hier ist Maston. Sie haben doch am Montag Samuel Arthur Fennan einvernommen, ist das richtig?«

»Ja ... ja, das stimmt.«

»Um was hat es sich gehandelt?«

»Ein anonymer Brief, in dem er beschuldigt wurde, in Oxford bei der Partei gewesen zu sein. Es war eine Routine-Einvernahme, die der Sicherheitsdirektor angeordnet hatte.«

(Fennan kann sich doch unmöglich beschwert haben, dachte Smiley. Es war doch gar nichts Irreguläres, überhaupt nichts.)

»Sind Sie auf ihn losgegangen? War es feindselig, Smiley, sagen Sie mir das.«

(Gott bewahre, das klingt ja, als ob er Angst hätte. Fennan muß das ganze Kabinett auf uns gehetzt haben.)

»Nein, es war eine besonders freundschaftliche Einvernahme. Ich glaube, daß wir einander sympathisch waren. Aber trotzdem, ich bin in einem Punkt über meinen Auftrag hinausgegangen.«

»Wie denn, Smiley, wie?«

»Ja, ich habe ihm mehr oder weniger gesagt, daß er sich keine Sorgen machen soll.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Er war sichtlich ziemlich aufgeregt, deshalb habe ich das gesagt.«

»Was haben Sie ihm gesagt?«

»Ich sagte, ich hätte keinen Einfluß und auch der Dienst nicht. Aber ich könnte keinen Grund dafür sehen, daß wir ihn weiter belästigen sollten.«

»Ist das alles?«

Smiley schwieg einen Augenblick. So hatte er Maston noch nie kennengelernt und sich selbst noch nie so abhängig gefühlt.

»Ja, das ist alles, absolut alles.« (Das wird er mir nie vergeben. Die ganze wohl einstudierte Gemessenheit, die cremefarbenen Hemden und silbergrauen Krawatten, seine smarten Dejeuners mit Ministern waren beim Teufel.)

»Er behauptet, daß Sie seine Loyalität in Zweifel gezogen haben, daß seine Karriere im Außenamt ruiniert ist, daß er das Opfer von bezahlten Denunzianten ist.«

»Was sagt er? Er muß ja vollständig übergeschnappt sein. Er weiß doch ganz genau, daß wir keinen Verdacht gegen ihn haben. Was will er denn noch?«

»Nichts. Er ist tot. Heute abend um 10 Uhr 30 hat er sich umgebracht. Und einen Brief für den Außenminister hinterlassen. Die Polizei hat einen von den Sekretären angerufen und die Erlaubnis bekommen, ihn aufzumachen. Dann haben sie uns verständigt. Es wird eine Untersuchung geben. Sie sind Ihrer Sache doch sicher, Smiley, nicht wahr?«

»Sicher? Warum?«

». . . schon gut. Kommen Sie so schnell wie möglich her.«

Es hatte endlos gedauert, bis er ein Taxi bekam. Bei drei Standplätzen hatte er angerufen, ohne daß sich jemand meldete. Endlich reagierte der Standplatz Sloane Square, und Smiley wartete in seinen Mantel gehüllt am Fenster seines Schlafzimmers, bis er den Wagen vorfahren sah. Diese unwirkliche Beklemmung in der Stille der Nacht erinnerte ihn an die Luftangriffe in Deutschland.

Bei Cambridge Circus ließ er den Wagen hundert Meter vom Amt entfernt halten, teils aus alter Gewohnheit, teils, um sich vor dem zu erwartenden fieberhaften Frage-und-Antwort-Spiel mit Maston einen klaren Kopf zu schaffen.

Er wies dem diensthabenden Polizisten seine Legitimation vor und ging langsam zum Lift.

Als er ausstieg, begrüßte ihn der Diensthabende voll Erleichterung, und sie gingen zusammen den hellen cremefarbenen Korridor entlang.

»Maston ist in Scotland Yard, um mit Sparrow zu reden. Es gibt ein Tauziehen darum, welche Abteilung der Polizei den Fall behandeln soll. Sparrow sagt, die Sonderabteilung, Evelyn sagt C.I.D., und die Polizei von Surrey weiß nicht, wo ihr der Kopf steht. Eine peinliche und verwickelte Angelegenheit. Kommen Sie mit und trinken Sie eine Tasse Kaffee in der Ehrenhalle des Diensthabenden. Er ist aus der Thermosflasche, aber ganz gut.«

Smiley war froh, daß gerade an diesem Abend Peter Guillam Dienst hatte. Er war ein kultivierter und zuvorkommender Mann, der sich auf Satelliten-Spionage spezialisiert hatte, ein Mann von der Art der freundlichen Geister, die immer ein Taschenmesser und einen Fahrplan bei der Hand haben.

»Die Sonderabteilung hat um o Uhr 5 angerufen. Fennans Frau war ins Theater gegangen und fand ihn erst, als sie um dreiviertel elf allein zurückkam. Sie hat dann schließlich die Polizei angerufen.«

»Er hat irgendwo in Surrey gewohnt?«

»Ja, in Walliston, an der Nebenstraße nach Kingston. Nur ein kleines Stück außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes. Als die Polizei eintraf, fand sie neben der Leiche auf dem Boden einen Brief an den Außenminister. Der Inspektor rief den Polizeidirektor an, und der wieder den Diensthabenden im Innenministerium, der sich mit dem Außenministerium in Verbindung setzte, und schließlich bekam die Polizei die Bewilligung, den Brief zu öffnen. Und dann ist der Tanz losgegangen.«

»Was weiter?«

»Dann hat uns der Personalchef angerufen. Er wollte die Privatnummer von Maston. Er hat gesagt, das ist das letzte Mal, daß der Sicherheitsdienst an seinem Personal herumfingert, daß Fennan ein begabter und loyaler Beamter gewesen sei, qua, qua, qua . . .«

»Das war er auch, ganz bestimmt!«

»Dann sagte er noch, diese ganze Affäre beweise schlagend, daß niemand den Sicherheitsdienst am Zügel habe - Gestapo-Methoden, die nicht einmal durch eine echte Gefahr entschuldigt werden könnten . . . qua, qua, qua . . . Ich habe ihm Mastons Nummer gegeben und wählte sie auf dem anderen Apparat, während er weitertobte. Durch diesen Geniestreich wurde ich das Außenministerium auf der einen Leitung los, während ich auf der anderen Verbindung mit Maston bekam und ihm die Neuigkeit brühwarm durchgab. Das war um null Uhr zwanzig. Maston kam hier um ein Uhr an, sozusagen hochschwanger - morgen früh wird er dem Minister Bericht erstatten müssen.«

Sie schwiegen einen Augenblick. Guillam goß Kaffee in die Tassen und gab aus einem elektrischen Kocher heißes Wasser dazu.

»Wie war er denn?« fragte er.

»Wer? Ach so, Fennan. Ja, bis gestern abend hätte ich Ihnen das sagen können. Aber jetzt ist er mir ein Rätsel. Dem Aussehen nach offenbar ein Jude. Aus einer orthodoxen Familie, aber das hat er alles in Oxford über Bord geworfen und ist Marxist geworden. Weitblickend, kultiviert... ein vernünftiger Mensch. Spricht sanft, ein guter Zuhörer. Bei alldem gebildet. Sehr vielseitig, verstehen Sie. Wer auch immer es war, der ihn denunziert hat, er hatte recht. Er war nämlich tatsächlich bei der Partei.«

»Wie alt ist er denn?«

»Vierundvierzig. Sieht aber älter aus.« Während seine Augen durch das Zimmer wanderten, sprach Smiley weiter. ». . . ein sensibles Gesicht, eine Mähne von dunklem glattem Haar, wie es die Studenten tragen, das Profil eines Zwanzigjährigen; feine, trockene Haut, ziemlich bleich, auch ziemlich gefurcht, überall Falten, die das Gesicht in Quadrate schneiden. Sehr schlanke Finger . . . ein kompakter Bursche. Eine abgeschlossene, verschlossene Einheit. Vergnügte sich allein und litt auch allein, vermute ich.«

Maston trat ein, und sie erhoben sich.

»Aha, Smiley. Kommen Sie rein.« Er öffnete die Tür und streckte seinen linken Arm aus, um Smiley zuerst eintreten zu lassen.

Mastons Zimmer enthielt nicht ein einziges Möbelstück, das dem Staat gehörte. Er hatte einmal eine Sammlung von Aquarellen aus dem neunzehnten Jahrhundert gekauft, und von dieser hingen einige an den Wänden. Der Rest war von der Stange, entschied Smiley. Übrigens war auch Maston selbst von der Stange. Sein Anzug war eine Spur zu grell, um noch als dezent zu gelten, und die Schnur seines Monokels war wie ein Strich auf seinem unvermeidlichen cremefarbenen Hemd. Er trug eine hellgraue Wollkrawatte, so daß ihn ein Deutscher sicher »flott« genannt hätte, dachte Smiley. Schick, das ist das rechte Wort - wie sich eine Bardame einen echten Gentleman erträumt.

»Ich war bei Sparrow. Es ist ein klarer Fall von Selbstmord. Die Leiche ist abtransportiert worden, und außer den normalen Formalitäten wird der Polizeidirektor keine weiteren Schritte einleiten. Die Leichenschaukommission wird in ein oder zwei Tagen zusammentreten. Man ist übereingekommen - das kann ich nicht deutlich genug unterstreichen, Smiley -, daß über unser seinerzeitiges Interesse an Fennan nicht ein Wort an die Presse kommen darf.«

»Ich verstehe.« (Sie sind gefährlich, Maston. Schwach sind Sie, und Angst haben Sie obendrein. Jeder andere Hals lieber als Ihrer . . . ich weiß schon. Wie Sie mich da ansehen, nehmen Sie mir direkt Maß für die Schlinge.)

»Glauben Sie bitte nicht, daß ich Sie kritisieren will, Smiley. Schließlich, wenn der Leiter des Sicherheitsdienstes die Einvernahme autorisiert hat, so brauchen Sie sich über nichts den Kopf zu zerbrechen.«

»Außer über Fennan.«

»Ganz richtig. Unglücklicherweise hat der Leiter des Sicherheitsdienstes es unterlassen, Ihren Antrag auf eine Einvernahme zu paraphieren. Ohne Zweifel hat er seine mündliche Zustimmung erteilt, nicht wahr?«

»Ja, das wird er sicher bestätigen.«

Maston sah Smiley wieder scharf und abschätzend an. In Smileys Kehle steckte plötzlich etwas. Er wußte, daß er unnachgiebig war, daß Maston ihn näher haben wollte, daß er mitkonspirieren sollte.

»Sie wissen ja, daß Fennans Amt mit mir in Kontakt war?«

»Ja.«

»Es wird eine Untersuchung stattfinden müssen. Vielleicht läßt sich nicht einmal die Presse draußen halten. Sicherlich muß ich gleich morgen früh zum Innenminister.« (Versuchen Sie nur, mir Angst einzujagen . . . ich mache weiter . . . vielleicht die Pensionierung . . . auch nicht mehr zu verwenden . . . aber ich werde an Ihrer Lüge nicht teilnehmen, Maston.) »Ich muß alle Tatsachen haben, Smiley. Ich muß meine Pflicht tun. Wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie mir irgend etwas über diese Einvernahme sagen sollten, etwas, das Sie vielleicht nicht notiert haben, dann sagen Sie es mir jetzt und lassen Sie mich beurteilen, ob es wichtig ist.«

»Es ist nichts dem hinzuzufügen, was schon im Akt steht und was ich Ihnen heute abend gesagt habe, wirklich. Es wird Ihnen vielleicht helfen (das >Ihnen< kam vielleicht ein bißchen zu betont heraus), wenn ich Ihnen noch sage, daß die Einvernahme in einer völlig formlosen Atmosphäre stattgefunden hat. Die Vorwürfe gegen Fennan waren ziemlich fadenscheinig: Parteimitgliedschaft an der Universität in den dreißiger Jahren und vages Gerede von Sympathie auch heute noch. Die Hälfte der Regierungsmitglieder waren in den dreißiger Jahren bei der Partei.« Maston runzelte die Stirn. »Als ich in sein Zimmer im Außenamt kam, stellte sich heraus, daß dort ein recht reger Verkehr herrschte - ununterbrochen kamen Leute herein und gingen wieder, deshalb regte ich an, daß wir hinausgehen und einen Spaziergang im Park machen sollten.«

»Und was war weiter?«

»Ja, das taten wir also. Es war ein sonniger, kalter Tag, recht angenehm. Wir haben den Enten zugesehen.« Maston machte eine ungeduldige Bewegung. »Wir waren ungefähr eine halbe Stunde im Park - das Reden besorgte ausschließlich er. Er war ein intelligenter Mann und sprach flüssig und interessant, aber auch nervös, natürlich. Leute wie er sprechen gerne über sich selbst, und ich glaube, er war froh, sich die Sache vom Herzen reden zu können. Er berichtete mir die ganze Geschichte - es schien ihm auch nichts auszumachen, Namen zu nennen -, und dann gingen wir in ein Espresso in der Nähe von Millbank, das er kannte.«

»Ein was?«

»Eine Espresso-Bar. Sie verkaufen dort eine besondere Art von Kaffee für einen Shilling die Tasse. Wir haben einen getrunken.«

»Aha. Also unter diesen gastlichen Umständen haben Sie ihm dann gesagt, daß das Department keine weiteren Schritte empfehlen würde.«

»Ja, das tun wir ja oft, aber normalerweise machen wir keinen diesbezüglichen Vermerk.« Maston nickte. So etwas versteht er, dachte Smiley. Mein Gott, er ist wirklich ein recht verächtlicher Kerl. Es war direkt aufregend, festzustellen, daß Maston wirklich so unangenehm war, wie er erwartet hatte.

»Ich darf daher annehmen, daß sein Selbstmord und der Brief natürlich - Sie völlig überrascht haben? Eine Erklärung haben Sie nicht?«

»Es wäre merkwürdig, wenn ich eine hätte.«

»Haben Sie auch keine Ahnung, wer ihn denunziert haben könnte?«

»Nein.«

»Er war ja verheiratet, wie Sie wissen.«

»Ja.«

»Ob nicht... es wäre denkbar, daß seine Frau einige der Lücken schließen könnte. Ich zögere zwar, das anzuregen, aber vielleicht sollte sie jemand vom Department besuchen und, soweit es die Umstände erlauben, über alles befragen.«

»Jetzt?« Smiley sah ihn ausdruckslos an.

Maston stand an seinem großen, niedrigen Schreibtisch und spielte mit dem Schlächterwerkzeug des Geschäftsmannes - Papiermesser, Zigarettendose und Feuerzeug -, den Requisiten offizieller Gastfreundschaft. Er zeigt einen vollen Zoll von seiner cremefarbenen Manschette, dachte Smiley und bewunderte seine gepflegten Hände.

Maston blickte auf und gab seinem Gesicht einen Ausdruck von Sympathie.

»Smiley, ich weiß, wie Ihnen zumute ist, aber trotz dieser Tragödie müssen Sie die Lage verstehen. Man wird von uns im Ministerium einen völlig erschöpfenden Bericht über diese Affäre verlangen, und meine besondere Aufgabe ist es, ihn zu geben. Besonders jede Art von Information über Fennans Gemütszustand unmittelbar nach der Einvernahme durch . . . durch uns. Vielleicht hat er mit seiner Frau darüber gesprochen. Es muß nicht sein, aber wir müssen realistisch denken.«

»Wünschen Sie, daß ich hingehe?«

»Irgendwer muß es ja. Da ist noch die Frage der Leichenschau. Natürlich wird das das Innenministerium entscheiden müssen, aber im Augenblick haben wir einfach keine Tatsachen. Die Zeit drängt, und Sie kennen den Fall, weil Sie ja die Hintergründe untersucht haben. In dieser kurzen Zeit kann sich niemand in die Sache einarbeiten. Wenn überhaupt wer geht, dann werden Sie es sein müssen, Smiley.«

»Und wann soll ich gehen?«

»Es scheint, als wäre Mrs. Fennan eine etwas ungewöhnliche Frau. Eine Ausländerin, auch Jüdin, die während des Krieges schrecklich gelitten hat, was die Verwirrung nur noch größer macht. Sie hat einen starken Charakter und ist durch den Tod ihres Mannes verhältnismäßig wenig bewegt. Das ist zweifellos nur an der Oberfläche so. Aber sie ist feinfühlig und sie redet. Nach dem, was mir Sparrow sagt, verschließt sie sich nicht und wird Sie wahrscheinlich empfangen, sobald Sie hinkommen können. Die Polizei von Surrey kann ihr mitteilen, daß Sie auf dem Wege zu ihr sind, und Sie können sie gleich in der Früh besuchen. Ich werde Sie dann dort später am Tag anrufen.«

Smiley wandte sich zum Gehen.

»Oh . . . übrigens, Smiley . . .« Er fühlte Mastons Hand auf seinem Arm und drehte sich um. Maston hatte das Lächeln aufgesetzt, das er gewöhnlich für die älteren Damen des Dienstes reserviert hatte. »Smiley, Sie können natürlich auf mich zählen, das wissen Sie ja. Sie können mit meiner Unterstützung rechnen.«

Mein Gott, dachte Smiley, der arbeitet wirklich Tag und Nacht. Wie ein Kabarett, das vierundzwanzig Stunden spielt. »Bei uns ist Tag und Nacht was los.« Er trat auf die Straße hinaus.

Elsa Fennari

Merridale Lane ist einer von jenen Winkeln in Surrey, wo die Einheimischen einen pausenlosen Verteidigungskrieg gegen das Stigma der Provinz führen. Bäume, die in allen Vorgärten nach Kräften gedüngt und sorgfältig gehegt werden, verbergen zum Teil die langweilig schäbigen Einheits-Wohnstätten, die sich hinter sie ducken. Die Ländlichkeit der Gegend wird noch unterstrichen durch die geschnitzten Eulen, die die Hausnamen bewachen, und Gartenzwerge, von denen die Farbe abblättert und die sich unermüdlich über Goldfischteiche beugen. Die Bewohner von Merridale Lane streichen ihre Zwerge nicht, weil sie glauben, daß das eine provinzielle Untugend wäre, und aus demselben Grund geben sie auch ihren Eulen keinen neuen Firnis, sondern warten geduldig darauf, daß der Zahn der Zeit diesen Schätzen das verwitterte Aussehen von Antiquitäten verleihen werde, auf daß eines Tages sogar die Balken der Garage mit ihren Käfern und Bohrwürmern prahlen mögen.

Es ist nicht gerade eine Sackgasse, obwohl die Grundstücksmakler das behaupten. Nach wenigen Häusern degeneriert diese Abzweigung der Entlastungsstraße nach Kingston verzagt zu einem Kiesweg, der seinerseits zu einem traurigen, kotigen Pfad durch Merries Field dahinschwindet, dieser endlich mündet in eine Gasse, die von Merridale Lane nicht zu unterscheiden ist. Bis etwa 1920 hatte dieser Weg zur Pfarrkirche geführt, aber jetzt steht die Kirche auf einem Platz, der eigentlich eine Verkehrsinsel an der Straße nach London ist, und der Pfad, auf dem die Gläubigen einst zum Gottesdienst gingen, bildet heute eine überflüssige Verbindung zwischen den Bewohnern von Merridale Lane und Cadogan Road. Der Streifen offenen Landes, der Merries Field heißt, hat bereits eine Bedeutung erlangt, die weit über seine Bestrebungen hinausgeht. Er hat einen tiefen Keil in den Bezirksrat getrieben, und zwar zwischen die Fortschrittlichen, die das Land erschließen, und die Konservativen, die den ursprünglichen Zustand erhalten wollen, und das so erfolgreich, daß gelegentlich die ganze Maschinerie der lokalen Verwaltung in Walliston blockiert war. Jetzt hat sich eine Art von natürlichem Kompromiß herauskristallisiert. Durch die drei Stahlmaste, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt worden sind, wird Merries Field weder erschlossen noch in seinem ursprünglichen Zustand belassen. In der Mitte befindet sich eine offene, strohgedeckte Hütte, die sogenannte »Kriegergedächtnis-Ruhe«, die im Jahre 1951 in dankbarer Erinnerung an die Toten zweier Kriege und als Zufluchtsstätte für die Müden und Alten errichtet worden ist. Niemand scheint danach gefragt zu haben, was die Müden und Alten in Merries Field verloren haben könnten, aber wenigstens die Spinnen haben eine Zufluchtsstätte unter dem Dach, und als Sitzplatz war die Hütte den Monteuren der Mäste bei ihren Mahlzeiten außerordentlich bequem und willkommen.

Kurz nach acht traf Smiley dort zu Fuß ein, nachdem er seinen Wagen vor der Polizeistation abgestellt hatte, die etwa zehn Minuten entfernt war.

Es regnete heftig, und die Tropfen, die einem der Wind ins Gesicht blies, waren so kalt, daß es fast schmerzte.

Die Polizei von Surrey hatte kein weiteres Interesse an der Sache, aber trotzdem hatte Sparrow einen Beamten der Sonderabteilung hingeschickt, der auf der Polizeistation bleiben und nötigenfalls als Verbindungsmann zwischen dem Sicherheitsdienst und der Polizei fungieren sollte. Über die Todesart Fennans bestand kein Zweifel. Er war durch die Schläfe aus kurzer Entfernung mit einer kleinen französischen Pistole, die in Lille im Jahre 1957 hergestellt worden war, erschossen worden. Man hatte sie unter der Leiche gefunden. Alle Umstände ließen auf Selbstmord schließen.

Das Haus Nummer fünfzehn in der Merridale Lane war niedrig, im Tudorstil gebaut, mit den Schlafzimmern in den Giebeln; der Oberteil der Garage war Zimmermannsarbeit. Es sah vernachlässigt aus, fast verwahrlost, als hätten irgendwelche Künstler drin gewohnt, dachte Smiley. Fennan schien nicht hierher zu passen. Man konnte sich eher vorstellen, daß er in Hampstead wohnte und ausländische Mädchen au pair bei ihm arbeiteten.

Er klinkte das Gittertor auf und ging langsam die Auffahrt zum Eingang hinauf, wobei er vergeblich versuchte, durch die verbleiten Fensterscheiben zu spähen. Es war bitterkalt. Er läutete.

Elsa Fennan öffnete die Tür.

»Sie haben angerufen und gefragt, ob es mir recht ist. Ich wußte nicht recht, was ich sagen sollte. Bitte, kommen Sie herein.« Ein Anflug von deutschem Akzent klang mit.

Sie mußte älter sein, als Fennan gewesen war. Eine kleine, erregte Frau in den Fünfzigern mit kurzgeschnittenem, nikotinfarben aufgefärbtem Haar. Obwohl sie zart war, machte sie einen zähen und beherzten Eindruck, und die braunen Augen, die aus ihrem verschrobenen kleinen Gesicht leuchteten, waren von erstaunlicher Brillanz. Es war ein verbrauchtes Gesicht, das vor langer Zeit verheert und zerstört worden war, das eines Kindes, das unter Hunger und erschöpfenden Entbehrungen aufwächst, das Gesicht des ewigen Flüchtlings, das Gesicht aus den Lagern, dachte Smiley.

Sie hielt ihm ihre Hand hin - sie griff sich knöchern an. Er sagte ihr seinen Namen.

»Sie sind der Herr, der meinen Mann einvernommen hat«, sagte sie. »Über seine Loyalität.« Sie führte ihn in das niedrige dunkle Wohnzimmer. Es brannte kein Feuer. Smiley war plötzlich elend zumute. Loyalität, wem oder was gegenüber? Es klang nicht erbittert. Er war ein Unterdrücker, aber sie akzeptierte Unterdrückung.

»Ihr Mann war mir sehr sympathisch. Die Sache wäre in Ordnung gewesen.«

»In Ordnung? Was wäre in Ordnung gewesen?«

»Es lag dem ersten Anschein nach ein Grund zu einer Untersuchung vor - ein anonymer Brief - und man hat mir den Fall übertragen.« Er machte eine Pause und sah sie mit echter Teilnahme an. »Sie haben einen schrecklichen Verlust erlitten, Mrs. Fennan ... Sie müssen ja vollkommen erschöpft sein. Sicher haben Sie die ganze Nacht nicht geschlafen . . .«

Sie reagierte nicht auf seine Sympathie: »Danke, aber heute kann ich kaum hoffen zu schlafen. Schlaf ist ein Luxus, dessen ich mich nicht erfreue.« Sie blickte schräg auf ihren eigenen kleinen Körper hinunter. »Ich und mein Körper müssen zwanzig Stunden am Tag miteinander auskommen. Wir beide haben schon länger gelebt als die meisten Menschen . . . Ein schrecklicher Verlust, ja, das glaube ich. Aber verstehen Sie mich recht, Mr. Smiley, ich habe so lange Zeit nichts besessen als eine Zahnbürste, daß ich mich eigentlich nie mehr an Besitz gewöhnt habe, auch nicht nach acht Jahren Ehe. Übrigens habe ich Übung darin zu leiden.«

Sie lud ihn mit einem Kopfnicken ein, Platz zu nehmen, raffte mit einer merkwürdig altmodischen Bewegung ihr Kleid und setzte sich ihm gegenüber. Es war sehr kalt in diesem Zimmer. Smiley überlegte, ob er reden sollte. Er wagte nicht, sie anzusehen, sondern starrte nur vor sich hin und versuchte im Geiste, das abgespannte, verbrauchte Gesicht von Elsa Fennan zu durchdringen. Es schien endlos zu dauern, bevor sie zu sprechen begann.

»Sie sagten, daß er Ihnen sympathisch war. Offensichtlich haben Sie Ihrerseits ihm diesen Eindruck nicht vermittelt.«

»Ich habe den Brief Ihres Mannes nicht gesehen, aber ich habe von seinem Inhalt gehört.« Smileys ernstes, rundes Gesicht wandte sich ihr jetzt zu. »Es reimt sich einfach nicht zusammen. Ich habe ihm direkt gesagt, daß er so gut wie . . . daß wir empfehlen würden, die Angelegenheit als bereinigt zu betrachten.«

Sie wartete bewegungslos. Was konnte er sagen? -»Tut mir leid, daß ich Ihren Mann umgebracht habe, aber ich habe nur meine Pflicht getan.« (Pflicht wem gegenüber, um Himmels willen?) »Er war in der kommunistischen Partei in Oxford vor vierundzwanzig Jahren. Seine vor kurzem erfolgte Beförderung gab ihm Zutritt zu höchst geheimen Akten. Irgendein Wichtigtuer hat einen anonymen Brief geschrieben, und uns ist nichts anderes übriggeblieben, als der Sache nachzugehen. Das Verhör hat Ihren Mann in eine Art Melancholie versetzt, die ihn zum Selbstmord getrieben hat.« - Er sagte nichts.

»Es war ein Spiel«, sagte sie plötzlich. »Ein alberner Balanceakt mit Ideen. Es hat nichts mit ihm oder irgendeiner anderen wirklichen Person zu tun gehabt. Warum bemühen Sie sich? Gehen Sie zurück nach Whitehall und sehen Sie sich in Ihren Schreibtischladen nach anderen Spionen um.« Sie machte eine Pause, ohne ein weiteres Zeichen der Erregung zu geben außer dem Flackern ihrer dunklen Augen. »Es ist eine uralte Krankheit, an der Sie leiden, Mr. Smiley«, fuhr sie fort und nahm eine Zigarette aus der Dose. »Und ich habe schon viele Opfer dieser Krankheit gesehen. Der Verstand löst sich vom Körper, er denkt ohne Realität, regiert in einem Königreich aus Papier und erfindet ohne Gemütsbewegung den Untergang seiner Papieropfer. Aber manchmal hat die Trennungswand zwischen eurer Welt und unserer Löcher. Die Akten werden zu Köpfen, Armen und Beinen, und das ist eine schreckliche Situation, nicht wahr? Die Namen haben neben den Dossiers auch Familien und menschliche Motive, die die traurigen kleinen Aktennotizen und konstruierten Vergehen erklären können. Wenn so was passiert, dann tut ihr mir leid.« Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Es ist wie mit dem Staat und dem Volk. Der Staat ist auch so ein Traum, ein Symbol für nichts, ein Vakuum, ein Geist ohne Körper, ein Spiel, das mit Wolken am Himmel gespielt wird. Aber Staaten führen Krieg, nicht wahr, und sperren Menschen ein. In Doktrinen zu träumen, wie sauber ist das doch! Mein Mann und ich sind jetzt gesäubert worden, hab ich nicht recht?« Sie sah ihn starr an. Jetzt war ihr Akzent deutlicher zu hören als früher.

»Ihr nennt euch den Staat, Mr. Smiley. Unter Menschen aus Fleisch und Blut ist für euch kein Platz. Ihr habt aus heiterem Himmel eine Bombe fallen lassen. Kommt jetzt nicht herunter und seht euch das Blut an oder hört euch das Stöhnen an.«

Sie hatte ihre Stimme nicht erhoben und sah über ihn hinweg in die Ferne.

»Ich glaube, Sie sind schockiert. Ich sollte wahrscheinlich weinen, aber ich habe keine Tränen mehr, Mr. Smiley, ich bin ausgedörrt. Die Kinder meines Schmerzes sind tot. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Mr. Smiley. Sie können wieder zurückgehen. Hier können Sie nichts weiter tun.«

Er saß vorgelehnt in seinem Stuhl und rieb auf den Knien seine dicken Hände aneinander. Er sah gequält und scheinheilig aus wie ein Kolonialwarenhändler, der das Evangelium liest. Die Haut seines Gesichtes war weiß und glänzte an den Schläfen und über der Oberlippe. Nur unter seinen Augen war Farbe. Hellviolette Halbmonde, die durch die Fassung seiner Brille in zwei Teile geteilt wurden.

»Hören Sie, Mrs. Fennan, diese Einvernahme war fast eine Normalität. Ich glaube sogar, daß sie Ihrem Mann direkt Vergnügen machte. Ich vermute, er war sogar glücklich, es überstanden zu haben.«

»Wie können Sie so etwas sagen, wie können Sie das, wo doch . . .«

»Aber ich sage Ihnen doch, daß es wahr ist. Nicht einmal in einem Amt haben wir das Palaver abgehalten. Wie ich hingekommen bin, habe ich gleich gesehen, daß sein Büro eine Art Durchzugstraße zwischen zwei anderen Räumen ist, deshalb sind wir hinaus in den Park gegangen und landeten schließlich in einem Café - kaum eine peinliche Befragung, wie Sie sehen. Ich habe ihm auch gesagt, daß er sich keine Sorgen machen soll - ausdrücklich habe ich das gesagt. Ich verstehe den Brief einfach nicht, er steht direkt in . . .«

»Ich denke nicht an den Brief, Mr. Smiley, sondern an das, was er mir gesagt hat.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Einvernahme hat ihn fürchterlich aufgeregt, das hat er mir gesagt. Wie er am Montag abend nach Hause gekommen ist, war er völlig verzweifelt, fast verwirrt. Er brach in einem Stuhl zusammen, und ich habe ihn überredet, zu Bett zu gehen. Dann habe ich ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, das die halbe Nacht gewirkt hat. Am nächsten Morgen hat er noch immer davon gesprochen. Das Erlebnis hat ihn bis zu seinem Tod ununterbrochen beschäftigt.«

Im oberen Stockwerk läutete das Telefon. Smiley erhob sich.

»Entschuldigen Sie bitte, das wird mein Amt sein. Sie gestatten doch.«

»Es ist im vorderen Schlafzimmer, gerade über uns.«

Smiley ging langsam hinauf. Er befand sich in einem Zustand völliger Verwirrung. Was sollte er Maston jetzt sagen?

Er hob den Hörer ab und sah mechanisch auf die Nummer des Apparates.

»Walliston 2944.«

»Hier ist das Fernsprechamt. Guten Morgen. Ihr Weckanruf für acht Uhr dreißig.«

»Ach ja, danke schön.«

Er legte auf und war für die kleine Erholungsfrist dankbar. Dann warf er einen kurzen Blick auf das Schlafzimmer. Es war das Fennans, einfach, aber bequem eingerichtet. Zwei Lehnstühle vor dem Gaskamin. Smiley erinnerte sich jetzt daran, daß Elsa Fennan nach dem Krieg drei Jahre lang bettlägerig gewesen war. Es war wahrscheinlich ein Überbleibsel aus dieser Zeit, daß sie auch jetzt abends im Schlafzimmer gesessen hatten. Die Nischen beiderseits des Kamins waren voll mit Büchern, und in einer Ecke des Zimmers stand eine Schreibmaschine auf einem Tisch. An der ganzen Anordnung war irgend etwas rührend Intimes, und vielleicht zum erstenmal wurde Smiley die Tragödie von Fennans Tod unmittelbar bewußt. Er kehrte in das Wohnzimmer zurück.

»Es war für Sie. Der Weckanruf für acht Uhr dreißig von der Zentrale.«

Er merkte, daß eine Pause entstand, und sah sie gleichgültig an. Aber sie hatte sich von ihm weggewendet und sah zum Fenster hinaus. Ihr schlanker Rücken war aufgerichtet und bewegungslos, während sich ihr glattes kurzes Haar dunkel gegen das Morgenlicht abhob.

Plötzlich starrte er sie mit großen Augen an. Es war da etwas passiert, das ihm schon oben im Schlafzimmer hätte auffallen sollen, etwas so Unwahrscheinliches, daß sein Hirn im Augenblick unfähig war, es zu erfassen. Mechanisch redete er weiter. Er mußte weg von hier, weg vom Telefon und Mastons hysterischer Fragerei, weg von Elsa Fennan und ihrem dunklen, ruhelosen Haus. Nur weg, um nachzudenken.

»Ich habe Sie schon genug belästigt, Mrs. Fennan, und ich will jetzt Ihren Rat annehmen und nach Whitehall zurückkehren.«

Wieder die kalte, zarte Hand, die gemurmelten Beileidsworte. Er holte sich seinen Mantel in der Halle und trat in das frühe Licht hinaus. Die Wintersonne war nach dem Regen gerade einen Augenblick durch die Wolken gebrochen und ließ die Bäume und Häuser von Merridale Lane in nassen Farben erstrahlen. Der Himmel war noch dunkelgrau, und die Welt darunter, merkwürdig hell, gab das Sonnenlicht zurück, das sie aus dem Nichts gestohlen hatte.

Langsam ging er den Kiesweg hinunter. Er hatte Angst davor, zurückgerufen zu werden.

Voll der verwirrendsten Gedanken kehrte er in die Polizeistation zurück. Zunächst einmal war es nicht Elsa Fennan, die die Zentrale gebeten hatte, sie an diesem Morgen um acht Uhr dreißig zu wecken . . .

Kaffee im » Fountain «

Der Oberinspektor des C.I.D. in Walliston war eine großzügige, heitere Seele, die berufliches Können nach Dienstjahren beurteilte und das auch für richtig hielt. Sparrows Inspektor, Mendel, hingegen war ein dürrer Mann mit einem Wieselgesicht, der aus einem Mundwinkel heraus und sehr schnell sprach. Smiley verglich ihn heimlich mit einem Wildhüter - einem Mann, der sein Gebiet kannte und Eindringlinge nicht schätzte.

»Ich habe eine Botschaft von Ihrer Abteilung. Sie sollen Ihren Chef sofort anrufen.« Der Oberinspektor deutete mit seiner riesigen Hand auf das Telefon und ging durch die offene Tür aus seinem Büro. Mendel blieb. Smiley betrachtete ihn einen Augenblick sehr ernst und abschätzend.

»Schließen Sie die Tür!« Mendel ging hin und zog sie langsam zu.

»Ich möchte bei der Telefonzentrale in Walliston etwas erheben. Mit wem setzt man sich da am besten in Verbindung?«

»Mit der stellvertretenden Leiterin normalerweise. Die Leiterin hat ihren Kopf immer in den Wolken. Die Stellvertreterin macht die Arbeit.«

»Irgendwer aus dem Haus Merridale Lane Nummer fünfzehn hat darum gebeten, heute um acht Uhr dreißig geweckt zu werden. Ich möchte wissen, wann das geschehen ist und wer es war. Ich möchte auch wissen, ob vielleicht ein Dauerauftrag zum Wecken am Morgen vorliegt, und wenn das der Fall ist, die Details.«

»Wissen Sie die Nummer?«

»Walliston 2944. Der Teilnehmer heißt Samuel Fennan, denke ich.«

Mendel ging zum Telefon und wählte die Null. Während er auf Antwort wartete, sagte er zu Smiley: »Sie wollen sicher nicht, daß jemand davon erfährt, wie?«

»Nein. Nicht einmal Sie. Wahrscheinlich nichts dahinter. Wenn wir aber >Mord< zu schreien anfangen, dann werden wir . . .«

Mendel hatte Verbindung mit der Zentrale bekommen und fragte nach der Stellvertreterin.

»Hier spricht das C.I.D. Walliston, das Büro des Oberinspektors. Wir haben eine Anfrage ... ja, natürlich . . . dann rufen Sie mich zurück . . . C.I.D. externe Leitung, Walliston 2421.«

Er legte den Hörer wieder auf und erwartete den Rückruf der Zentrale. »Vernünftiges Mädchen«, brummte er, ohne Smiley anzusehen. Das Telefon läutete, und er begann sofort zu sprechen.

»Wir untersuchen einen Einbruchdiebstahl in Merridale Lane Nummer achtzehn. Es ist vielleicht möglich, daß die Diebe das Haus Nummer fünfzehn als Beobachtungspunkt für das gegenüberliegende Haus benutzten. Haben Sie eine Möglichkeit, die ankommenden und abgehenden Telefongespräche auf der Nummer Walliston 2944 während der letzten vierundzwanzig Stunden festzustellen?«

Es entstand eine Pause. Mendel legte seine Hand über das Mundstück und drehte sich mit einem leichten Grinsen zu Smiley um. Smiley begann plötzlich Sympathie für ihn zu empfinden.

»Sie fragt die Mädchen«, sagte Mendel. »Und sie will die Abrechnungszettel durchsehen.« Er konzentrierte sich wieder auf das Telefon und begann Ziffern auf den Block des Oberinspektors zu kritzeln. Plötzlich hielt er inne und lehnte sich nach vorne über den Schreibtisch.

»Ja, ja.« Im Gegensatz zu seiner Haltung war seine Stimme gleichgültig. »Wann hat sie denn darum ersucht?« Wieder eine Pause . . . »Um neunzehn Uhr fünfundzwanzig . . . wie, ein Mann? Ist die Telefonistin ganz sicher, bestimmt? . . . Aha. Gut, das geht in Ordnung. Trotzdem vielen Dank. Na ja, wenigstens wissen wir Bescheid . . . aber nein, Sie haben uns sehr geholfen . . . nichts als eine Annahme, sonst gar nichts . . . müssen die Sache eben von einer anderen Seite her anpacken, nicht wahr. Also, nochmals vielen Dank. Sehr freundlich, ja, behalten Sie es bei sich . . . auf Wiederhören.« Er legte auf, riß das Blatt von dem Block und steckte es in seine Tasche.

Smiley sagte ruhig: »Da unten am Ende der Straße ist ein scheußliches Café. Ich brauche ein Frühstück. Kommen Sie mit und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.« Das Telefon läutete. Smiley konnte Maston am anderen Ende der Leitung förmlich fühlen. Mendel sah ihn einen Augenblick an und schien zu verstehen. Sie ließen es läuten und gingen schnell aus der Polizeistation in Richtung High Street.

Das Café »Fountain« (Besitzerin Miss Gloria Adam) war ganz im Tudorstil gehalten, mit viel Messing und billigem lokalem Kitsch, mehr als sonstwo. Miss Adam schenkte den scheußlichsten Kaffee südlich von Manchester aus und sprach von ihren Gästen als: »Meine Freunde«. Miss Adam machte auch mit Freunden keine Geschäfte, sondern raubte sie ganz einfach aus, was die Illusion von vornehmem Dilettantismus, auf die sie so großen Wert legte, noch verstärkte. Ihre Herkunft lag im Dunkel, aber sie sprach oft von ihrem verstorbenen Vater als dem »Oberst«. Unter denjenigen von Miss Adams Freunden, die für diese Freundschaft besonders schwer bezahlt hatten, ging das Gerücht, daß die besagte Würde eines Obersten von der Heilsarmee verliehen worden war.

Mendel und Smiley saßen an einem Ecktisch in der Nähe des Kaminfeuers und warteten auf das, was sie bestellt hatten. Mendel sah Smiley von der Seite her an: »Das Mädchen erinnert sich genau an den Anruf. Er kam gerade am Ende ihrer Schicht - fünf Minuten vor acht, gestern abend. Es war eine Bestellung für einen Weckruf für heute morgen um acht Uhr dreißig. Es war Fennan selbst - das beschwört das Mädchen.«

»Wieso?«

»Dieser Fennan hat offenbar am Weihnachtstag in der Zentrale angerufen, und dasselbe Mädchen hatte Dienst. Er wollte ihnen allen >Fröhliche Weihnachten wünschen. Sie war ganz gerührt, und sie haben sehr nett miteinander geplaudert. Sie ist ganz sicher, daß es dieselbe Stimme war. >Ein sehr kultivierter Herr<, hat sie gesagt.«

»Aber es ist unverständlich. Um zehn Uhr dreißig hat er seinen Abschiedsbrief geschrieben. Was ist zwischen acht und dieser Zeit passiert?«

Mendel griff nach einer alten speckigen Aktentasche. Sie hatte kein Schloß. Mehr wie eine Notenmappe, dachte Smiley. Dieser entnahm er eine gewöhnliche braune Kartonmappe und gab sie Smiley. »Das Faksimile des Briefes. Der Chef hat gesagt, daß ich Ihnen eine Kopie geben soll. Sie schicken das Original an das Außenamt und eine weitere Abschrift direkt an Marlene Dietrich.«

»Wer zum Teufel ist das?«

»Tut mir leid, mein Herr. So nennen wir Ihren Chef. Ziemlich allgemein in der Branche. Tut mir leid, mein Herr.«

Wie herrlich, dachte Smiley, einfach unglaublich herrlich. Er öffnete die Mappe und sah sich die Kopie an. Mendel redete weiter: »Der erste Abschiedsbrief in Maschinenschrift, der mir je untergekommen ist. Übrigens auch der erste mit der Zeit drauf. Die Unterschrift sieht aber aus, als wäre sie in Ordnung. Ich habe sie auf der Station mit einer Empfangsbestätigung verglichen, die er einmal für irgendeinen verlorenen Gegenstand unterschrieben hat. Die ist goldrichtig. «

Der Brief war auf der Maschine geschrieben, wahrscheinlich einer Portable. Genauso wie die anonyme Denunziation, die stammte auch von einer Portable. Unter diesem Brief hier stand Fennans nette, gut leserliche Unterschrift. Unter der gedruckten Adresse am Kopf des Blattes war das Datum getippt und darunter die Zeit: 10.30 abends.

Sehr geehrter Sir David,

nach einigem Zögern habe ich beschlossen, mir das Leben zu nehmen. Ich kann die Jahre, die mir noch verbleiben würden, nicht in einer Atmosphäre des Verdachtes auf Verrat verbringen. Es ist mir klar, daß meine Karriere ruiniert ist und daß ich das Opfer von bezahlten Denunzianten bin.

Ihr ergebener Samuel Fennan

Smiley las den Brief mehrere Male durch. Konzentriert spitzte er die Lippen, und seine Augenbrauen hoben sich ein wenig, als wäre er erstaunt. Mendel fragte ihn: »Wie sind Sie draufgekommen?«

»Auf was?«

»Na, die Sache mit dem Anruf am Morgen.«

»Ach so. Ich habe den Anruf entgegengenommen. Dachte, er wäre für mich. Aber das war nicht der Fall - es war die Zentrale mit dieser Geschichte. Auch da ist der Groschen noch nicht gefallen. Ich habe geglaubt, es wäre für sie, verstehen Sie. Ich bin hinuntergegangen und habe es ihr gesagt.«

»Hinunter?«

»Ja, sie haben das Telefon im Schlafzimmer. So an der Bettkante, ja . . . sie war doch früher lange krank, verstehen Sie, und sie haben das Zimmer so gelassen, wie es damals war, nehme ich an. Es sieht auf der einen Seite wie ein Studierzimmer aus. Bücher, Schreibmaschine, Schreibtisch und so weiter.«

»Eine Schreibmaschine?«

»Ja, eine Portable. Ich vermute, daß er darauf diesen Brief geschrieben hat. Aber als ich den Anruf entgegennahm, hatte ich vergessen, daß Mrs. Fennan ihn unmöglich bestellt haben konnte.«

»Warum nicht?«

»Sie leidet an Schlaflosigkeit, hat sie mir gesagt. Sie hat eine Art Scherz damit gemacht. Ich riet ihr, sich etwas auszuruhen, und sie sagte nur: >Mein Körper und ich müssen zwanzig Stunden am Tag miteinander auskommen. Wir haben schon länger gelebt als die meisten Menschen.< Noch etwas hat sie gesagt. Ja, daß sie nicht den Luxus des Schlafes genieße. Also warum sollte sie sich um acht Uhr dreißig wecken lassen?«

»Warum ihr Mann? - Warum andere Leute? Das ist ja beinahe Lunchzeit. Gott helfe dem Staatsdienst.«

»Ganz richtig. Darüber zerbreche ich mir auch den Kopf. Das Außenamt fängt zugegebenerweise spät an - um zehn, glaube ich. Aber auch in diesem Fall wäre es für Fennan höchste Zeit zum Anziehen, Rasieren, Frühstücken und den Zug erwischen gewesen, wenn er nicht vor acht Uhr dreißig aufgestanden wäre. Übrigens hätte seine Frau ihn wecken können.«

»Vielleicht wollte sie sich nur interessant machen, als sie sagte, daß sie nicht schlafen kann«, meinte Mendel. »Das machen Frauen gerne, mit Schlaflosigkeit, Migräne und solchem Zeug. Dann glauben die Leute, sie sind sensibel und temperamentvoll. Humbug, das meiste.«

Smiley schüttelte den Kopf: »Nein, sie kann den Anruf nicht bestellt haben, bestimmt nicht. Sie war doch vor dreiviertel elf nicht daheim. Aber auch wenn man annimmt, daß sie sich bei der Zeitangabe für ihre Rückkehr geirrt hat, konnte sie nicht zum Telefon gehen, ohne die Leiche ihres Mannes zu finden. Und das können Sie mir nicht einreden, daß dann ihre erste Reaktion war, hinaufzugehen und einen Weckruf zu bestellen.«

Eine Zeitlang tranken sie schweigend ihren Kaffee.

»Noch etwas«, sagte Mendel.

»Ja?«

»Seine Frau ist um dreiviertel elf aus dem Theater zurückgekommen, nicht wahr?«

»Ja, das sagt sie.«

»War sie allein dort?«

»Keine Ahnung.«

»Wetten, nein. Ich möchte wetten, daß sie da die Wahrheit sagen mußte und den Brief mit der Zeitangabe versehen hat, um ein Alibi zu bekommen.«

Smiley kehrte im Geiste zu Elsa Fennan zurück, ihrem Zorn und ihrer Ergebung. Es kam ihm unsinnig vor, so von ihr zu reden. Nein. Elsa Fennan nicht. Nein.

»Wo ist die Leiche gefunden worden ?« fragte Smiley. »Unten am Fuß der Stiege.«

»Am Fuß der Stiege?«

»Ja, der Länge nach auf dem Boden der Halle. Der Revolver lag unter ihm.«

»Und der Brief. Wo war der?«

»Neben ihm auf dem Boden.«

»Sonst noch was?«

»Ja. Eine Kanne Kakao im Wohnzimmer.«

»Aha. Fennan beschließt also, Selbstmord zu begehen. Er bittet die Zentrale, ihn um halb neun zu wecken. Dann kocht er sich Kakao und stellt ihn in das Wohnzimmer. Er geht hinauf und schreibt seinen letzten Brief auf der Maschine. Dann kommt er herunter und erschießt sich. Den Kakao trinkt er nicht mehr. Paßt alles glänzend zusammen!«

»Ja, nicht wahr. Übrigens, sollten Sie nicht endlich Ihr Amt anrufen?«

Smiley sah Mendel unbestimmt an. »Das ist das Ende einer wunderbaren Freundschaft«, sagte er. Während er zu dem Automaten neben einer Tür, auf der »Privat« stand, ging, hörte er, wie Mendel sagte: »Ich möchte wetten, daß Sie das allen unseren Jungen sagen.« Er lächelte sogar, als er Mastons Nummer verlangte.

Maston wollte ihn sofort sehen.

Er ging zu ihrem Tisch zurück. Mendel rührte in einer zweiten Tasse Kaffee herum, als ob das seine ganze Konzentration erfordere. Er aß ein riesiges Brötchen.

Smiley blieb neben ihm stehen. »Ich muß zurück nach London.«

»Da werden Sie wie die Katze in den Taubenschlag kommen.« Das Wieselgesicht drehte sich ihm abrupt zu. »Oder nicht?« Er sprach mit dem vorderen Teil seines Mundes, während der rückwärtige Teil sich noch mit dem Brötchen beschäftigte.

»Wenn Fennan ermordet worden ist, dann kann keine Macht der Welt die Presse daran hindern, sich der Sache zu bemächtigen«, fügte er halb zu sich hinzu. »Ich glaube kaum, daß Maston darüber sehr erbaut wäre. Da würde er Selbstmord schon vorziehen.«

Smiley runzelte finster die Stirn. Er konnte schon hören, wie Maston seinen Verdacht lächerlich machen und ungeduldig verspotten würde. »Ich weiß nicht«, sagte er, »ich weiß wirklich nicht.«

Zurück nach London, dachte er, zurück zu Mastons >Idealem Heim<, zurück zu der Rattenjagd. Und zurück zu der Irrealität, eine menschliche Tragödie in einem drei Seiten langen Bericht unterzubringen.

Es goß wieder in Strömen, aber jetzt war der Regen warm. Auf dem kurzen Weg zwischen dem Café »Fountain« und der Polizeistation wurde er sehr naß. Er zog den Mantel aus und warf ihn hinten in den Wagen. Es war ihm eine Erleichterung, aus Walliston wegzukommen - obwohl es nach London ging. Als er in die Hauptstraße einbog, sah er aus einem Augenwinkel heraus die Gestalt Mendels, der in stoischer Ruhe auf dem Gehsteig der Station zutrabte. Sein grauer Eden-Hut war vom Regen ganz schwarz geworden und hatte völlig die Form verloren. Smiley hatte nicht daran gedacht, daß er vielleicht nach London hätte mitfahren wollen, und kam sich undankbar vor. Mendel, von der heiklen Situation unberührt, machte die Tür auf und stieg ein.

»So ein Glück«, bemerkte er. »Züge hasse ich. Fahren Sie nach Cambridge Circus? Kippen Sie mich bitte irgendwo in Westminster raus.«

Sie fuhren los, und Mendel zog eine schäbige grüne Tabaksdose aus der Tasche und rollte sich eine Zigarette. Er bewegte sie gegen seinen Mund hin, besann sich dann aber, bot sie Smiley an und entzündete sie ihm mit einem außergewöhnlichen Feuerzeug, das eine fünf Zentimeter lange blaue Flamme von sich gab. »Sie sehen direkt krank vor Sorgen aus«, sagte Mendel.

»Bin ich auch.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Mendel: »Sie sind von einem unbekannten Teufel besessen.«

Als sie etwa vier oder fünf Meilen weitergefahren waren, lenkte Smiley den Wagen zum Straßenrand und drehte sich dann Mendel zu.

»Hätten Sie sehr viel dagegen, wenn wir nach Walliston zurückfahren würden?«

»Gute Idee. Zurückfahren und sie fragen.«

Er wendete den Wagen und fuhr langsam zurück nach Walliston hinein und zur Merridale Lane. Er ließ Mendel im Wagen und ging den vertrauten Kiesweg hinauf.

Sie öffnete und wies ihn ohne ein weiteres Wort ins Wohnzimmer. Sie trug noch immer dasselbe Kleid, und Smiley dachte, was sie wohl gemacht hatte, seit er sie am Morgen verlassen hatte.

War sie im Haus herumgegangen oder bewegungslos im Wohnzimmer gesessen? Oder oben in dem Schlafzimmer mit den Lederstühlen? Wie kam sie sich vor in ihrer neuen Witwenschaft? Hatte sie sich schon gefaßt, oder war sie noch immer in dem tief erregten Zustand, der für gewöhnlich auf einen so schmerzlichen Verlust folgt? Sah sie noch in den Spiegel, und versuchte sie, die Veränderung, die Spur des Schreckens, in ihrem Gesicht zu finden, und weinte sie, wenn sie keine fand?

Sie blieben stehen - beide vermieden instinktiv eine Wiederholung des Zusammentreffens von heute morgen.

»Ich muß Sie noch eines fragen, Mrs. Fennan. Es tut mir leid, daß ich Sie ein zweites Mal belästigen muß.«

»Wegen des Anrufes, nehme ich an. Der Weckruf von der Zentrale.«

»Ja.«

»Ich habe mir gedacht, daß Ihnen das rätselhaft vorkommen wird. Eine Schlaflose läßt sich wecken!« Sie machte den Versuch, heiter zu sprechen.

»Ja, es ist mir merkwürdig vorgekommen. Gehen Sie oft ins Theater?«

»Ja. Alle vierzehn Tage. Ich bin Mitglied des Repertoire-Klubs in Weybridge, verstehen Sie. Ich bemühe mich, zu allen Vorstellungen zu gehen, die sie geben. Ich habe am ersten Dienstag nach jeder Premiere einen Sitz reserviert. Mein Mann hat am Dienstag immer bis spät gearbeitet. Er ist nie mitgegangen, er hat sich nur klassische Stücke angesehen.«

»Aber Brecht hat er gern gehabt, nicht wahr? Er schien von den Aufführungen des Berliner Ensembles in London ganz begeistert gewesen zu sein.«

Sie sah ihn einen Augenblick an und lächelte dann plötzlich - das erstemal, seit er sie kannte. Es war ein bezauberndes Lächeln. Ihr ganzes Gesicht erhellte sich wie das eines Kindes.

Smiley sah sie einen Augenblick im Geiste als Kind. Eine schlaksige, flinke, ausgelassene Range wie George Sands »Petite Fadette« - halb Weib, halb geschwätziges Mädchen, das lügen kann wie gedruckt. Er sah sie als schmeichelnden Backfisch, wie sie sich wie eine Katze verteidigte, und er sah sie auch verhungert und eingefallen im Konzentrationslager, hemmungslos im Kampf um ihr Leben. Es war erschütternd, in diesem Lächeln das Licht ihrer einstigen Unschuld und zugleich eine bewährte Waffe im Kampf um die Selbsterhaltung zu erleben.

»Ich fürchte, die Erklärung für diesen Anruf ist sehr einfältig«, sagte sie. »Ich leide an einem schrecklich schlechten Gedächtnis - wirklich fürchterlich. Ich gehe einkaufen und vergesse, was ich wollte, treffe am Telefon eine Verabredung, und in dem Augenblick, in dem ich den Hörer auflege, kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich bitte Leute zum Wochenende zu uns, und wenn sie kommen, sind wir nicht zu Hause. Manchmal, wenn es etwas gibt, an das ich mich unbedingt erinnern muß, dann klingle ich die Zentrale an und bitte um einen Anruf fünf Minuten vor der ausgemachten Zeit. Das ist so wie ein Knoten im Taschentuch, aber ein Knoten kann nicht für einen auf die Klingel drücken, nicht wahr?«

Smiley sah sie scharf an. Die Kehle war ihm ziemlich trocken, und er mußte schlucken, bevor er sprach.

»Und welchem Zweck diente der Anruf diesmal, Mrs. Fennan?«

Wieder das bezaubernde Lächeln: »Das ist es ja. Ich habe es völlig vergessen.«

Maston und Kerzenlicht

Während Smiley langsam nach London zurückfuhr, vergaß er vollkommen, daß Mendel neben ihm saß.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ihm das Fahren an und für sich schon eine Erleichterung bedeutet, damals hatte er in der Unwirklichkeit einer langen, einsamen Reise ein Beruhigungsmittel für sein gemartertes Hirn gefunden, da hatte es ihm die Ermüdung durch das Fahren nach einigen Stunden erlaubt, seine düsteren Sorgen zu vergessen.

Es war wohl eines der tückischen Kennzeichen seines mittleren Lebensalters, daß er auf diese Weise seine Gedanken nicht mehr in den Hintergrund schieben konnte. Jetzt waren dazu schärfere Mittel notwendig. Er versuchte sogar gelegentlich, sich Spaziergänge durch europäische Städte auszudenken - um sich an die Läden und Gebäude zu erinnern, an denen er vorbeikommen würde, zum Beispiel in Bern auf einem Gang vom Münster zur Universität. Aber trotz dieses energischen geistigen Exerzitiums pflegten sich ihm die Geister der Gegenwart immer wieder aufzudrängen und seine Träume zu vertreiben. Es war Ann, die ihn seines Friedens beraubt hatte, Ann, die einst die Gegenwart so wichtig gemacht und ihn ein Leben der Wirklichkeit gelehrt hatte. Und als sie ging, war nichts mehr.

Er konnte nicht glauben, daß Elsa Fennan ihren Mann getötet haben sollte. Ihr Instinkt war, zu verteidigen, die Schätze ihres Lebens festzuhalten, um sich die Symbole einer normalen Existenz aufzupflanzen. In ihr war keine Aggression, nur der Wille zu bewahren.

Aber was wußte man schon? Wie sagt doch Hesse? »Seltsam, im Nebel zu wandern, Leben heißt einsam sein. Kein Baum kennt den andern, jeder ist allein.« Wir wissen nichts voneinander, nichts, sinnierte Smiley. Wie nahe wir auch beisammen leben, und wenn wir auch bei Tag und Nacht die tiefsten Gedanken des anderen ergründeten, wir wissen nichts. Wie kann ich ein Urteil über Elsa Fennan abgeben? Ich glaube, daß ich ihr Leid und ihre furchtsamen Lügen verstehe, aber was weiß ich von ihr? Nichts.

Mendel deutete auf einen Wegweiser.

». . . Da wohne ich. Mitcham. Wirklich kein schlechter Platz. Mir sind die Junggesellenwohnungen schon zum Hals herausgehangen. Dort unten habe ich mir ein kleines Haus gekauft. Für den Ruhestand . . .«

»Ruhestand? Das hat wohl noch lange Zeit.«

»Ja, drei Tage. Deshalb habe ich diese Arbeit bekommen. Nichts dran. Keine Komplikationen. Geben wir es dem alten Mendel, er wird schon Mist machen.«

»Na gut, dann werden wir also beide ab Montag arbeitslos sein.«

Er brachte Mendel zu Scotland Yard und fuhr dann weiter zum Cambridge Circus. Beim Eintreten in das Haus wurde ihm klar, daß alle informiert waren. Den Eindruck machten sie. Ein kleiner Unterst schied in ihrem Blick, ihrem Benehmen. Er ging direkt in Mastons Zimmer. Seine Sekretärin saß an ihrem Schreibtisch und blickte rasch auf, als er eintrat.

»Ist der Chef da?«

»Ja, er erwartet Sie. Er ist allein. Klopfen Sie und gehen Sie hinein.« Aber Maston hatte schon die Tür geöffnet und rief ihn. Er trug ein schwarzes Sakko und grau gestreifte Modehosen. Das Kabarett geht weiter, dachte Smiley.

»Ich habe versucht, mit Ihnen in Verbindung zu kommen. Hat Sie meine Nachricht nicht erreicht?« sagte Maston.

»Das schon, aber ich hätte unmöglich mit Ihnen telefonieren können.«

»Ich bin anscheinend nicht ganz im Bilde.«

»Also, ich glaube nämlich nicht, daß Fennan Selbstmord verübt hat. Das hätte ich am Apparat nicht sagen können.«

Maston nahm die Brille ab und sah Smiley entgeistert an.

»Ermordet? Warum?«

»Fennan schrieb seinen Brief gestern abend um halb elf, wenn wir die Zeit akzeptieren, die drauf stand.«

»Und?«

»Fünf Minuten vor acht hat er die Zentrale angerufen und gebeten, man solle ihn am nächsten Morgen um halb neun wecken.«

»Woher wissen Sie das, um Himmels willen?«

»Ich war heute morgen dort, als der Anruf kam. Ich hatte ihn entgegengenommen, weil ich glaubte, er käme vom Department.«

»Aber wie, in aller Welt, können Sie denn behaupten, daß es Fennan war, der den Anruf bestellt hat?«

»Ich habe Nachforschungen angestellt. Das Mädchen in der Zentrale kannte Fennans Stimme gut. Sie ist ganz sicher, daß er es war und daß er fünf Minuten vor acht gestern abend angerufen hat.«

»Fennan und das Mädchen haben einander gekannt, nicht wahr?«

»Nein, nein, das nicht. Sie haben nur gelegentlich ein paar nette Worte gewechselt.«

»Und auf welche Weise schließen Sie aus all dem, daß er ermordet worden ist?«

»Ich habe seine Frau wegen des Anrufes befragt . . .«

»Und?«

»Sie hat gelogen. Sie sagte, daß sie selbst den Auftrag gegeben hätte. Sie behauptete, gräßlich vergeßlich zu sein - manchmal läßt sie sich angeblich von der Zentrale anrufen, wie man einen Knoten ins Taschentuch macht, wenn sie eine wichtige Verabredung hat. Und noch etwas. Kurz, bevor er sich erschoß, hat er sich Kakao gemacht. Aber nicht getrunken. «

Maston hörte schweigend zu. Schließlich lächelte er und stand auf.

»Wir scheinen uns nicht ganz verstanden zu haben«, sagte er. »Ich schicke Sie hinaus, um festzustellen, warum Fennan sich umgebracht hat, und Sie kommen daher und sagen, daß er das nicht getan hat. Wir sind keine Polizisten, Smiley.«

»Nein. Manchmal möchte ich ganz gerne wissen, was wir sind.«

»Haben Sie irgend etwas erfahren, das unsere Position hier tangiert - oder etwas, das seine Tat irgendwie erklärt? Das den Abschiedsbrief untermauert?«

Smiley zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete. Er hatte es kommen sehen.

»Ja. Ich erfuhr von Mrs. Fennan, daß er sehr aufgeregt war, nach der Einvernahme.« Ebensogut konnte er ihm gleich die ganze Geschichte erzählen. »Es ließ ihn nicht los, er konnte nicht schlafen. Sie mußte ihm ein Beruhigungsmittel geben. Ihr Bericht über Fennans Reaktion auf die Einvernahme erhärtet den Abschiedsbrief in jeder Weise.« Einen Augenblick schwieg er und sah ziemlich abwesend vor sich hin. »Was ich sagen wollte, ist, daß ich ihr nicht glaube. Ich glaube nicht, daß Fennan den Brief geschrieben hat, noch, daß er die geringste Absicht hatte, zu sterben.« Er drehte sich Maston zu. »Wir können über die Widersprüche unmöglich hinwegkommen. Und noch etwas«, bohrte er weiter, »ich habe zwar kein Gutachten von einem Sachverständigen, aber es besteht eine Ähnlichkeit zwischen Fennans Abschiedsbrief und dem anonymen Schreiben. Es sieht aus, als wäre es dieselbe Maschine. Es klingt lächerlich, das weiß ich schon, aber es ist so. Wir müssen die Polizei einschalten, ihr die Tatsachen zur Verfügung stellen.«

»Tatsachen?« sagte Maston. »Was für Tatsachen? Nehmen wir an, sie hat gelogen - sie ist eine merkwürdige Frau, in jeder Weise. Ausländerin, Jüdin. Der Himmel mag wissen, was sich da für Einflüsse auf ihren Verstand bemerkbar machen. Man hat mir gesagt, daß sie während des Krieges schwer gelitten hat, verfolgt und so weiter. Sie sieht wahrscheinlich in Ihnen den Verfolger, den Inquisitor. Sie merkt, daß Sie hinter irgend etwas her sind, gerät in Panik und erzählt Ihnen die erstbeste Lüge, die ihr in den Sinn kommt. Macht sie das zu einer Mörderin?«

»Warum hat Fennan also angerufen? Warum hat er sich diesen Schlaftrunk gemacht?«

»Wer kann das wissen?« Mastons Stimme war jetzt voller, suggestiver. »Wenn Sie oder ich, Smiley, je zu diesem fürchterlichen Punkt gelangen würden, an dem man sich entschließt, sich selber zu vernichten, wer könnte wohl sagen, was unsere letzten Gedanken sein würden? Und bei Fennan ist es das gleiche. Er sieht seine Karriere in Trümmern, sein Leben hat keinen Sinn mehr. Ist es nicht verständlich, daß er in einem solchen Augenblick der Schwäche oder der Unentschlossenheit den Wunsch hatte, eine menschliche Stimme zu hören, noch einmal die Wärme menschlichen Kontaktes zu fühlen, bevor er starb? Eine phantastische Grille vielleicht, eine Sentimentalität, aber nicht unwahrscheinlich bei einem Menschen, der so fertig, so in eine fixe Idee verrannt ist, daß er sich das Leben nimmt.«

Smiley mußte ihn bewundern. Es war gut vorgetragen, und er war Maston auf diesem Gebiet nicht gewachsen. Plötzlich fühlte er in sich eine wachsende Panik aufsteigen, eine Hilflosigkeit, die nicht zu ertragen war. Und gleichzeitig eine nicht zu zügelnde Wut über diesen Theater spielenden Angeber, diesen geschniegelten Affen mit dem graumelierten Haar und dem gescheiten Lächeln. Panik und Wut schwollen plötzlich zu einer Woge an, die seine Brust überflutete und seinen ganzen Körper durchdrang. Er bekam einen heißen hochroten Kopf, seine Brillengläser beschlugen sich, und als letzte Demütigung traten ihm Tränen in die Augen.

Maston, der das, Gott sei Dank, nicht bemerkte, fuhr fort: »Sie können von mir nicht erwarten, daß ich auf dieses Beweismaterial hin beim Innenminister andeuten soll, die Polizei hätte einen falschen Schluß gezogen. Sie wissen, wie gespannt unser Verhältnis zur Polizei ist. Einerseits haben wir Ihre Verdachtsmomente: daß, kurz gesagt, Fennans Benehmen gestern abend nicht mit der Absicht zu sterben zusammenzureimen ist. Seine Frau hat Sie offenbar angelogen. Auf der anderen Seite haben wir die Meinung erfahrener Kriminalbeamter, die an den Umständen seines Todes nichts Aufregendes gefunden haben, und wir haben Mrs. Fennans Aussage, daß ihr Mann über die Einvernahme aufgeregt war. Es tut mir leid, Smiley, aber so liegt der Fall.«

Es herrschte völlige Stille. Smiley kam langsam wieder zu sich. Die Entwicklung der Dinge machte ihn blöde und raubte ihm die Sprache. Er starrte kurzsichtig vor sich hin, sein rundes, faltiges Gesicht war noch rot, der Mund schlaff und stupid. Maston wartete darauf, daß er etwas sagen würde, aber Smiley war erschöpft und mit einem Mal völlig uninteressiert. Ohne Maston noch einen Blick zuzuwerfen, stand er auf und ging hinaus.

Er ging in sein Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Mechanisch sah er seine Arbeit durch. In seinem Einlaufkörbchen war nicht viel - ein paar Rundschreiben des Amtes und ein persönlicher Brief an G. Smiley Esq., Verteidigungsministerium. Die Schrift war ihm nicht bekannt. Er öffnete den Umschlag und las:

»Lieber Smiley!

Es ist unbedingt notwendig, daß ich morgen mit Ihnen im Restaurant Compleat Angler in Marlow speise. Bitte, tun Sie Ihr möglichstes, daß ich Sie dort um ein Uhr treffen kann. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.

Ihr Samuel Fennan«

Der Brief war mit der Hand geschrieben und trug das Datum des vorhergehenden Tages, Dienstag, 3. Januar. Er war in Whitehall um sechs Uhr abends abgestempelt worden.

Einige Minuten starrte er den Brief an, den er steif vor sich in der Hand hielt, wobei er den Kopf nach links neigte. Dann legte er den Brief auf den Schreibtisch, zog eine Lade heraus und entnahm ihr ein einzelnes, unbeschriebenes Blatt Papier. Er schrieb ein kurzes Gesuch um seine Entlassung an Maston, an das er mit einer Klammer Fennans Einladung heftete. Dann läutete er nach einer der Sekretärinnen, legte den Brief in den Korb für die ausgehende Post und ging zum Lift. Wie gewöhnlich steckte der im Parterre mit dem Teewagen der Registratur fest, und nach kurzem Warten begann Smiley, zu Fuß die Treppen hinunterzugehen. Auf dem halben Weg erinnerte er sich daran, daß er seinen Regenmantel und ein paar kleine persönliche Dinge in seinem Zimmer vergessen hatte. Ach was, dachte er, sie werden sie mir schicken.

Auf dem Parkplatz setzte er sich in seinen Wagen und starrte durch die nasse Windschutzscheibe.

Es war ihm egal, verdammt egal. Erstaunt war er natürlich, und zwar darüber, daß er fast die Beherrschung verloren hatte. Derartige Gespräche hatten in Smileys Leben eine große Rolle gespielt, und seit langer Zeit hatte er sich gegen alle Spielarten solcher Unterredungen für gewappnet gehalten, gegen schulmäßige, disziplinarische, ärztliche und religiöse. Seine verschwiegene Natur verachtete den Zweck aller Verhöre, ihre terroristische Vertraulichkeit und unausweichliche Realität. Er erinnerte sich an ein unbeschreiblich glückseliges Dinner mit Ann bei Quaglino, bei dem er ihr die Chamäleon-Gürteltier-Taktik geschildert hatte, mit der man so einen Ausfrager schachmatt setzen konnte.

Sie hatten bei brennenden Kerzen diniert. Schneeweiße Haut und Perlen - sie tranken Kognak - Anns weitoffene, glänzende Augen gehörten nur ihm. Smiley war der Verliebte, und er spielte diese Rolle wunderbar. Ann fand ihn herrlich und war durch ihre harmonische Zärtlichkeit erregt.

«... und damals habe ich gelernt, mich in ein Chamäleon zu verwandeln.«

»Und dabei hast du gerülpst, du ungezogener Frosch?«

»Nein, auf die Farbe kommt es an. Chamäleons wechseln die Farbe.«

»Natürlich wechseln sie die Farbe. Sie sitzen auf grünen Blättern und werden grün. Bist du auch grün geworden, Frosch?«

Er berührte ihre Fingerspitzen leicht mit den seinen.

»Also jetzt hör zu, du naseweise Person, wenn ich dir die Chamäleon-Gürteltier-Taktik gegen einen unverschämten Ausfrager erklären soll.« Ihr Gesicht war ganz nahe an seinem, und ihre Augen hingen in leidenschaftlicher Liebe an ihm.

»Diese Taktik basiert auf der Theorie, daß der Inquisitor, der nichts so sehr liebt wie sich selber, von seinem eigenen Bild angezogen wird. Man muß daher genau dieselbe soziale, temperamentmäßige, politische und intellektuelle Farbe annehmen, die der Inquisitor hat.«

»Du aufgeblasener Frosch. Aber ein begabter Liebhaber bist du schon.«

»Ruhe! Manchmal scheitert diese Taktik an der Stupidität oder Bosheit des Inquisitors. Wenn das der Fall ist, dann muß man sich in ein Gürteltier verwandeln.«

»Gürtel tragen, Frosch?«

»Nein, man muß ihn in eine Position versetzen, die so haarsträubend ist, daß man ihm überlegen ist. Für die Konfirmation bin ich von einem pensionierten Bischof vorbereitet worden. Ich war seine ganze Schülerschaft und habe an einem halben Feiertag genügend Unterricht genossen, um eine ganze Diözese leiten zu können. Aber indem ich das Gesicht des Bischofs betrachtete und mir vorstellte, daß es sich unter meinem Blick mit einem dicken Fell überzog, behielt ich meine Überlegenheit. Von diesem Tag an sind meine Fähigkeiten in dieser Beziehung noch gewachsen. Ich konnte ihn in einen Affen verwandeln, ihn in das Schiebefenster einklemmen, ihn nackt in eine Versammlung der Freimaurer schicken, ihn dazu verdammen, wie die Schlange auf dem Bauch zu kriechen . . .«

»Du boshafter verliebter Frosch.«

So war es einst gewesen. Aber bei seinen letzten Gesprächen mit Maston hatte ihn die Fähigkeit, sich von der Situation zu lösen, verlassen. Er war jetzt zu stark beteiligt. Als Maston die ersten Züge gemacht hatte, war Smiley zu abgespannt und angeekelt gewesen, um sich zu wehren. Er nahm an, daß Elsa Fennan ihren Mann umgebracht und dazu irgendeinen Grund gehabt hatte, aber es interessierte ihn einfach nicht mehr. Das Problem existierte für ihn nicht länger: Verdacht, Erfahrungen, Beobachtungen, gesunder Menschenverstand - alles das stand für Maston mit den Tatsachen in keinem organischen Zusammenhang. Papier war eine Tatsache, Minister waren Tatsachen und Innenminister harte Tatsachen. Das Departement gab sich nicht weiter mit den vagen Eindrücken eines einzelnen Beamten ab, wenn sie mit der Politik in Widerstreit gerieten.

Smiley war erschöpft, tief und schwer. Er fuhr langsam nach Hause. Vielleicht sollte er heute auswärts essen. Irgend etwas ganz Besonderes. Es war jetzt erst Mittag. Er beschloß, den Nachmittag damit zu verbringen, Olearius auf seiner Hanseatenreise quer durch das russische Reich zu folgen. Und dann Dinner bei Quaglino mit einem einsamen Toast für den erfolgreichen Mörder, vielleicht für Elsa, in Dankbarkeit dafür, daß er zugleich mit dem Leben Sam Fennans auch die Karriere George Smileys beendet hatte.

Er erinnerte sich daran, in der Sloane Street seine Wäsche abzuholen, bog endlich in die Bywater Street ein und fand, drei Häuser von seinem eigenen entfernt, einen Parkplatz. Er kletterte mit dem braunen Wäschepaket in der Hand heraus, sperrte seinen Wagen sorgfältig ab, ging aus alter Gewohnheit um ihn herum und versuchte alle Türgriffe. Es regnete noch immer ein wenig. Er ärgerte sich darüber, daß schon wieder jemand vor seinem Haus geparkt hatte. Gut, daß Mrs. Chapel das Fenster seines Schlafzimmers geschlossen hatte, sonst hätte der Regen . . .

Plötzlich war er hellwach. Im Wohnzimmer hatte sich etwas bewegt. Ein Licht, ein Schatten, eine menschliche Gestalt? Es war irgend etwas, dessen war er sicher. War es Wahrnehmung oder Instinkt? War es eine latente Fähigkeit seines Berufes, die ihn warnte? Irgendein feiner Sinn oder Nerv, eine verborgene Reaktionsbereitschaft, die ihn alarmierte und der er nachgab?

Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, ließ er die Schlüssel wieder in den Mantel gleiten, ging die Treppe zu seiner Haustür hinauf und läutete.

Es klang schrill durch das Haus. Dann trat Stille ein, und endlich drang deutlich das Geräusch von Tritten, die sich der Tür näherten, an Smileys Ohr. Sie klangen fest und sicher. Ein Rasseln der Kette, ein Klirren des Ingersoll-Schlosses, und die Tür wurde schnell und gewandt geöffnet.

Smiley hatte ihn vorher noch nie gesehen. Groß, blond, hübsch, etwa fünfunddreißig. Ein hellgrauer Anzug, weißes Hemd und graue Krawatte - babille en diplomate. Deutscher oder Schwede. Seine linke Hand blieb nonchalant in der Tasche seines Sakkos. Smiley sah ihn entschuldigend an.

»Ist Mr. Smiley zu Hause, bitte?«

Die Tür war jetzt ganz offen. Eine kleine Pause entstand.

»Ja, wollen Sie nicht hereinkommen?«

Den Bruchteil einer Sekunde lang zögerte er. »Danke, nein. Wollen Sie ihm bitte das hier geben?« Er übergab ihm das Wäschepaket und ging wieder die Stufen hinunter und zu seinem Wagen. Er wußte, daß er noch immer beobachtet wurde, ließ den Motor an, wendete und fuhr zum Sloane Square, ohne sich noch einmal in der Richtung nach seinem Haus umzudrehen. In der Sloane Street fand er einen Parkplatz und schrieb sich schnell sieben mehrstellige Zahlen auf. Es waren die Nummern der sieben Wagen, die in Bywater Street standen.

Was sollte er tun? Einen Schutzmann anhalten? Wer auch immer es gewesen war, wahrscheinlich war er schon davon. Übrigens gab es auch noch andere Überlegungen. Er schloß den Wagen wieder ab und ging über die Straße zu einem Telefonhäuschen. Er rief Scotland Yard an, bekam mit der Sonderabteilung Verbindung und fragte nach Inspektor Mendel. Aber es sah so aus, als hätte sich der, nachdem er seinem Vorgesetzten Meldung erstattet hatte, in heimlicher Vorwegnahme der Freuden des Pensionistenstandes nach Mitcham begeben. Smiley bat um seine Adresse, erhielt sie nach einigem Herumflunkern, fuhr nochmals los, drei Seiten eines Quadrats entlang und kam bei der Albert Bridge heraus. In einem neuen Gasthaus, das den Fluß überblickte, nahm er ein Sandwich und einen großen Whisky, und eine Viertelstunde später überquerte er die Brücke auf dem Wege nach Mitcham, während der Regen noch immer auf seinen unauffälligen kleinen Wagen herunterprasselte. Er machte sich Sorgen, wirklich ernste Sorgen.

Tee und Sympathie

Es regnete noch immer, als er ankam. Mendel war in seinem Garten und hatte den merkwürdigsten Hut auf, den Smiley je gesehen hatte. Er hatte sein Leben als Anzac-Hut begonnen, aber jetzt hing seine riesige Krempe überall herunter, so daß Mendel wie ein großer Pilz aussah. Er brütete über einem Baumstrunk, und eine bösartig aussehende Axt hing gehorsam in seiner sehnigen rechten Hand.

Er sah Smiley einen Augenblick scharf an, und dann erstrahlte sein schmales Gesicht langsam in einem breiten Grinsen, während er ihm die Hand entgegenhielt.

»Scherereien?« fragte Mendel.

»Scherereien.«

Smiley folgte ihm den Weg zum Haus hinauf. Es war ländlich und gemütlich.

»Es ist kein Feuer im Wohnzimmer - ich bin gerade erst zurückgekommen. Wie wäre es mit einer Tasse Tee in der Küche?«

Sie gingen in die Küche. Smiley amüsierte sich über die peinliche Ordnung, die fast feminine Nettigkeit, die überall herrschte. Nur der Polizeikalender an der Wand zerstörte die Illusion. Während Mendel einen Kessel aufs Feuer stellte und mit den Tassen herumhantierte, berichtete Smiley ruhig, was in Bywater Street passiert war. Als er fertig war, betrachtete ihn Mendel lange und schweigend.

»Aber warum hat er Sie hineingebeten?«

Smiley zwinkerte und wurde ein bißchen rot. »Das habe ich auch gedacht. Das hat mich einen Augenblick lang aus dem Gleichgewicht gebracht. Gut, daß ich das Paket hatte.«

Er trank einen Schluck Tee. »Obwohl ich nicht glaube, daß er auf das Paket hereingefallen ist. Vielleicht doch, aber ich bezweifle es. Sehr sogar.«

»Nicht hereingefallen?«

»Na, ich wäre es nicht. Kleiner Mann in einem Ford, der Wäsche austrägt. Wer konnte ich schon gewesen sein? Übrigens habe ich nach Smiley gefragt und es dann abgelehnt, ihn zu sehen - das muß ihm ziemlich komisch vorgekommen sein.«

»Aber was wollte er? Was hätte er mit Ihnen gemacht? Für wen hielt er Sie?«

»Das ist genau der springende Punkt, ganz genau, sehen Sie. Ich glaube, er hat auf mich gewartet, aber natürlich hat er nicht erwartet, daß ich läuten werde. Das hat ihn verwirrt. Ich denke, er wollte mich umbringen. Deshalb hat er mich ersucht, einzutreten. Er erkannte mich, aber wohl nur nach einer Fotografie, glaube ich.«

Wieder sah ihn Mendel eine Weile schweigend an. »Herrgott!« sagte er.

»Vermute, daß ich recht habe«, fuhr Smiley fort, »in jeder Weise. Ich vermute, daß Fennan wirklich ermordet wurde gestern abend, und heute wäre mir fast dasselbe passiert. Im Gegensatz zu Ihrem Beruf ereignet sich in meinem normalerweise nicht jeden Tag ein Mord.«

»Was soll das heißen?«

»Weiß nicht. Ich weiß wirklich nicht. Bevor wir weitermachen, könnten Sie vielleicht die Eigentümer dieser Nummern für mich feststellen lassen. Die Fahrzeuge standen heute zu Mittag in der Bywater Street.«

»Warum tun Sie es nicht selber?«

Smiley sah ihn einen Augenblick verwirrt an. Dann fiel ihm ein, daß er von seinem Entlassungsgesuch nichts erwähnt hatte.

»Ach. Tut mir leid, daß ich es Ihnen nicht erzählt habe. Also ich bin heute vormittag gegangen. Kurz bevor ich gefeuert worden wäre. Ich bin so frei wie der Wind. Und auch ungefähr ebenso verwendbar.

Mendel nahm ihm die Nummernliste ab und ging in die Halle, um zu telefonieren. Er kam nach ein paar Minuten wieder zurück.

»Sie werden in einer Stunde wieder anrufen«, sagte er. »Kommen Sie jetzt, ich will Ihnen meinen Besitz zeigen. Verstehen Sie etwas von Bienen?«

»Na ja, ein bißchen, ja. Ich bin nämlich in Oxford vom naturhistorischen Käfer gebissen worden.« Er war im Begriff, Mendel zu erzählen, wie er sich mit Goethes Metamorphosen der Pflanzen und Tiere in der Hoffnung abgegeben hatte, wie Faust herauszufinden, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Er wollte erklären, warum es unmöglich war, das Europa des neunzehnten Jahrhunderts zu verstehen, ohne eine ordentliche Kenntnis der Naturwissenschaften zu besitzen, er fühlte sich eifrig und voll von bedeutenden Gedanken und war sich heimlich klar darüber, daß sich sein Kopf mit den Ereignissen des heutigen Tages abplagte, daß er in einem Zustand nervöser Erregung war. Seine Handflächen waren feucht.

Mendel führte ihn zur Hintertür hinaus. Dort standen drei nette Bienenstöcke an der Mauer, die den Garten nach hinten abschloß. Sie standen in dem feinen Regen, und Mendel sagte: »Ich habe mir immer gewünscht, welche zu halten, auszuprobieren, wie das Ganze geht. Ich habe auch eine Menge gelesen, direkt Angst habe ich bekommen, kann ich Ihnen sagen. Komische kleine Kerle sind das.« Er nickte ein paarmal, um dieses Urteil zu unterstreichen, und wieder sah Smiley ihn mit Interesse an. Sein Gesicht war schmal, aber muskulös, und sein Ausdruck völlig verschlossen. Sein eisengraues Haar war sehr kurz geschnitten und borstig. Er schien dem Wetter gegenüber ebenso völlig gleichgültig zu sein wie das Wetter ihm. Smiley kannte das Leben, das hinter Mendel lag, genau. Er hatte bei den Polizisten der ganzen Welt dieselbe lederne Haut gesehen, dieselben Reserven von Geduld, Bitterkeit und Verdruß. Er konnte sich die langen ergebnislosen Stunden im Dienst bei jedem Wetter vorstellen, wenn man auf einen wartete, der vielleicht niemals kam - oder kam und zu schnell wieder verschwand. Er wußte auch, wie sehr Mendel und die anderen von gewissen Persönlichkeiten abhängig waren - manche launenhaft, tyrannisch, nervös und wankelmütig, gelegentlich einige weise und warmherzig. Er wußte, wie intelligente Menschen durch die Stupidität ihrer Vorgesetzten gebrochen werden, wie Wochen geduldiger Arbeit bei Tag und Nacht von einem solchen Menschen einfach beiseite geschoben werden konnten.

Mendel führte ihn den schlüpfrigen, mit Bruchsteinen belegten Pfad hinauf zu den Bienenstöcken. Er beachtete den Regen noch immer nicht, nahm einen der Stöcke auseinander, erklärte und zeigte ihn. Er sprach stoßweise, mit langen Pausen zwischen den einzelnen Sätzen, und zeigte alles langsam und genau mit seinen schlanken Fingern.

Nachdem sie wieder ins Haus gegangen waren, führte ihn Mendel durch die beiden unteren Räume. Der Salon war ganz geblümt. Blumen auf den Vorhängen und Teppichen und ebenso auf den Überzügen der Möbel. In einem kleinen Eckschrank standen einige Deckel-Bierkrüge neben einem Paar Pistolen und einem Pokal für Scheibenschießen.

Dann folgte ihm Smiley hinauf. Es roch nach Petroleum vom Ofen auf dem Treppenabsatz, und im Waschraum war aus dem Warmwasserbehälter tatsächlich ein leichtes Brodeln zu hören.

Mendel zeigte ihm sein Schlafzimmer.

»Das Brautgemach. Das Bett habe ich bei einer Auktion für ein Pfund gekauft. Box-Federmatratzen. Es ist erstaunlich, was man so erwischen kann. Die Teppiche gehörten früher Königin Elisabeth. Sie wechseln sie jedes Jahr. Die habe ich in einem Laden in Wafford gekauft.«

Smiley stand etwas verwirrt in der Tür. Mendel kam zurück und ging an ihm vorbei, um die Tür zum zweiten Schlafzimmer zu öffnen.

»Und das ist Ihr Zimmer, wenn Sie es wollen.« Er drehte sich Smiley zu. »Ich würde an Ihrer Stelle lieber nicht zu Hause schlafen. Man kann nie wissen, nicht wahr? Übrigens werden Sie hier besser schlafen, die Luft ist besser.«

Smiley begann zu protestieren.

»Steht ganz bei Ihnen. Sie tun, was Ihnen paßt.« Mendel wurde direkt verlegen. »Ich verstehe nicht mehr von Ihrer Arbeit als Sie von der Arbeit der Polizei, ganz ehrlich. Sie tun ganz einfach, was Ihnen paßt. Soweit ich gesehen habe, sind Sie ja imstande, auf sich aufzupassen.«

Sie gingen wieder hinunter. Mendel zündete im Salon den Gaskamin an.

»Also, zumindest müssen Sie gestatten, daß ich Sie heute abend zum Essen einlade«, sagte Smiley.

In der Halle läutete das Telefon. Es war Mendels Sekretärin wegen der Nummern.

Mendel kam zurück. Er übergab Smiley eine Liste von sieben Namen und Adressen. Vier davon konnten ausgeschieden werden, es waren solche aus der Bywater Street. Drei blieben übrig: der Leihwagen einer Firma Adam Scarr und Söhne in Battersea, ein Geschäftswagen, der der Severn Tile Company in Eastbourne gehörte, und der dritte war als das Eigentum des Botschafters von Panama bezeichnet.

»Ich habe einen Mann, der sich gerade mit Angelegenheiten Panamas beschäftigt. Es wird dort nicht schwierig sein - sie haben nur drei Wagen in England.«

»Battersea ist nicht weit weg«, fuhr er fort. »Wir könnten rasch einen Sprung hinüber machen. In Ihrem Wagen.«

Selbstverständlich, selbstverständlich«, sagte Smiley schnell. »Und dann können wir in Kensington dinieren. Ich werde einen Tisch im >Entrechat< bestellen.«

Es war jetzt vier. Sie blieben noch eine Weile sitzen und plauderten in ziemlich oberflächlicher Weise über Bienen und Haushalt. Mendel war ganz gelöst, während Smiley noch immer unbeholfen und bedrückt versuchte, einen Modus zu finden, um beim Sprechen nicht immer Weisheiten von sich zu geben. Er konnte sich ausmalen, was Ann über Mendel gesagt hätte. Sie wäre begeistert von ihm gewesen, hätte eine Persönlichkeit aus ihm gemacht, eine besondere Stimme und ein eigenes Gesicht bereit gehabt, um ihn nachzuahmen, hätte eine Geschichte von ihm gemacht, bis er in ihr Leben gepaßt hätte und kein Rätsel mehr gewesen wäre. Darling, wer hätte gedacht, daß er so gemütlich sein kann! Der letzte Mensch, von dem ich mir erwartet hätte, daß er mir sagen könnte, wo ich billig Fische kaufen kann. Und was für ein reizendes kleines Haus. Ihm ist es gleichgültig - er muß doch wissen, daß Deckel-Bierkrüge Kitsch sind, aber es kümmert ihn nicht. Ich finde, er ist ein Schatz. Frosch, lade ihn doch zum Dinner ein. Das mußt du tun. Nicht, weil wir über ihn lachen wollen, sondern weil wir ihn gern haben. Er hätte ihn natürlich nicht eingeladen, aber Ann wäre zufrieden gewesen - sie hätte einen Weg gefunden, ihn gern zu haben. Und dann hätte sie ihn vergessen.

Das war es, was Smiley sich wünschte, eine Möglichkeit, Mendel gern zu haben. Er war nicht so geschickt wie Ann, eine zu finden. Aber Ann war Ann - einmal ermordete sie einen Neffen aus Eton fast, weil er zu Fisch Bordeaux trank, aber wenn Mendel sich bei ihren crepes suzette die Pfeife angezündet hätte, dann würde sie es wahrscheinlich nicht beachtet haben.

Mendel machte wieder Tee, und sie tranken ihn. Um etwa viertel nach fünf brachen sie in Smileys Wagen nach Battersea auf. Auf dem Weg kaufte Mendel eine Abendzeitung. Er las sie unter Schwierigkeiten im Lichte der Straßenlampen. Nach ein paar Minuten fuhr er gereizt auf: »Krauts, verdammte Krauts. Gott, wie ich sie hasse!«

»Krauts?«

»Ja, Krauts. Diese Hunnen, diese Jerries, verdammte Deutsche! Nicht einmal Sixpence würde ich für alle miteinander geben. Blutdürstige, dreckige Hammel. Prügeln schon wieder auf die Juden los. Und wir waren drüben. Haben sie niedergehauen und wieder auf die Beine gestellt. Vergeben und vergessen. Warum, zum Teufel, vergessen, das möchte ich wissen! Warum Dieberei, Raub und Mord vergessen, nur weil sie von Millionen begangen worden sind? Herrgott, wenn irgend so eine arme kleine Null von einem nur zehn Shilling mitgehen läßt, dann ist die ganze Polizei der Hauptstadt hinter ihr her. Aber Krupp und das ganze Gesindel - nein, da nicht. Verdammt noch einmal, wenn ich in Deutschland ein Jude wäre, dann würde ich . . .«

Smiley war plötzlich hellwach: »Was würden Sie dann tun? Was täten Sie dann, Mendel?«

»Ach, vermutlich nichts. Politik ist heutzutage Statistik. Es ist blödsinnig, ihnen H-Bomben zu geben, also ist es Politik. Und dann da drüben die Yanks - Millionen von verfluchten Juden in Amerika. Und was tun sie? Zum Teufel, sie geben den Krauts noch mehr Bomben. Alle diese Kerle zusammen - sollten sich gegenseitig in die Luft jagen.«

Mendel zitterte vor Wut, und Smiley schwieg eine Weile, während er an Elsa Fennan dachte.

»Und wie sieht die Lösung aus?« fragte er, nur um etwas zu sagen.

»Das weiß Gott allein«, antwortete Mendel wild.

Sie bogen in die Battersea Bridge Road ein und hielten neben einem Schutzmann, der auf dem Gehsteig stand. Mendel zeigte ihm seine Polizeilegitimation.

»Scarrs Garage? Na, es ist kaum eine Garage, nur ein Hof. Hauptsächlich Altmetalle und gebrauchte Wagen. Wenn sie für den einen nicht mehr gut genug sind, dann sind sie es für den anderen, sagt Adam. Fahren Sie die Prince of Wales Drive hinunter, bis Sie zum Spital kommen. Dort ist es, zwischen ein paar Baracken. Eigentlich ein Bombenareal. Der alte Adam hat den Platz mit ein bißchen Schlacke planiert, und bisher hat ihn noch niemand hinausgeschmissen. «

»Sie scheinen eine Menge über ihn zu wissen«, sagte Mendel.

»Sollte ich, sollte ich. Ich habe ihn schon ein paarmal eingebuchtet. Steht nicht viel im Gesetzbuch, was Adam nicht auf dem Kerbholz hat. Er ist eines von unseren winterharten Dauergewächsen, das kann ich Ihnen sagen.«

»Na gut. Läuft gerade etwas gegen ihn?«

»Könnte ich nicht sagen. Aber wegen illegaler Wetten kann ich ihn jederzeit hochgehen lassen. Er fällt eigentlich schon längst unter den Akt.«

Sie fuhren weiter zum Battersea-Spital. Der Park zu ihrer Rechten sah hinter den Straßenlaternen dunkel und drohend aus.

»Was soll das heißen, er fällt unter den Akt?«

»Ach, er hat nur einen Scherz gemacht. Es heißt, daß jemandes Strafregister schon so lang ist, daß er in Präventivhaft genommen werden kann - jahrelang. Es klingt ganz, als wäre der mein Typ«, fuhr Mendel fort. »Überlassen Sie ihn nur mir.«

Sie fanden den Hof, wie es ihnen der Schutzmann beschrieben hatte, zwischen zwei halbverfallenen Baracken und einer Reihe von Schuppen, die auf dem ausgebombten Terrain errichtet worden waren. Bauschutt, Ziegel und Mist lagen überall herum. Trümmer von Asbest, Holz und Alteisen, die Mr. Scarr offenbar für den Wiederverkauf oder zum Herrichten erstanden hatte, waren in der einen Ecke aufgestapelt, trüb beleuchtet von einem schwachen Licht, das aus der entfernteren Baracke drang. Die beiden Männer sahen sich eine Weile schweigend um. Dann zuckte Mendel die Achsel, steckte zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus.

»Scarr!« brüllte er. Es blieb ruhig. Das Außenlicht an der Baracke leuchtete auf, und drei oder vier Wagen aus der Zeit vor dem Krieg und in verschiedenen Stadien der Auflösung wurden schwach sichtbar.

Die Tür ging langsam auf, und ein Mädchen von etwa zwölf Jahren stand auf der Schwelle.

»Ist dein Vater zu Hause, Kleine?« fragte Mendel.

»Nee, der ist im Prod', glaub' ich.«

»Gut, Kleine, danke schön.«

Sie gingen zur Straße zurück.

»Was in aller Welt ist das Prod'? Oder darf man das vielleicht nicht einmal fragen?« erkundigte sich Smiley.

»>Prodigal's Calf<, ein Gasthaus um die Ecke. Wir können gehen. Es ist nur hundert Meter weit. Den Wagen lassen wir hier.«

Das Lokal hatte gerade aufgemacht. An der Theke war noch niemand, und während sie auf das Erscheinen des Wirtes warteten, ging die Tür auf, und ein sehr fetter Mensch in einem schwarzen Anzug kam herein. Er ging geradewegs zur Theke und begann, mit einem Fünfshillingstück draufzuklopfen.

»Wilf«, schrie er, »nimm die Finger raus. Gäste sind da, du Glückspilz.« Er drehte sich Smiley zu. »'n Abend, Kumpel.«

Aus dem Hintertrakt des Wirtshauses antwortete eine Stimme: »Sag ihnen, sie sollen ihr Geld bei der Kasse auf den Tisch legen und später kommen.«

Der Dicke sah Mendel und Smiley einen Augenblick erstaunt an und brach plötzlich in brüllendes Gelächter aus. »Die nicht, Wilf - die sind im Dienst!« Der Witz gefiel ihm so gut, daß er sich zum Schluß auf die Bank setzen mußte, die an der Wand um den Raum lief. Er schlug sich mit den Händen auf die Schenkel, seine mächtigen Schultern schüttelte es direkt, so lachte er, und die Tränen rannen ihm über die Wangen. Zwischendurch, wenn er Atem holte, bevor ein neuer Lachanfall kam, sagte er: »Ogott-ogottogott.«

Smiley sah ihn interessiert an. Er trug einen sehr schmutzigen steifen weißen Kragen mit abgerundeten Ecken, eine geblümte rote Krawatte, die mit einer Nadel sorgfältig außen auf der schwarzen Weste befestigt war, Militärstiefel und einen abgeschabten, sehr fadenscheinigen Anzug, an dessen Hose nicht einmal die Spur einer Bügelfalte zu sehen war. Seine Manschetten waren schwarz von Schweiß, Schmutz und Schmieröl und wurden von Büroklammern zusammengehalten.

Der Wirt erschien und nahm ihre Bestellung entgegen. Der Dicke kaufte sich einen großen Whisky mit Ingwerwein und ging damit sofort in das Gastzimmer, wo ein Kohlenfeuer brannte. Der Wirt beobachtete ihn mißbilligend.

»Das sieht ihm wieder ähnlich, dem gemeinen Kerl. Die Preise im Gastzimmer will er nicht zahlen, aber das Feuer paßt ihm.«

»Wer ist es denn?« erkundigte sich Mendel.

»Er? Scarr heißt er. Adam Scarr. Der Teufel weiß, warum er Adam heißt. Wenn man sich ihn im Garten Eden vorstellt, das ist wohl verdammt komisch, der Teufel soll mich holen. Hier in der Gegend sagt man, wenn Eva ihm den Apfel geben würde, dann würde er das dreckige Kerngehäuse auch mitfressen.« Der Wirt fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und schüttelte den Kopf. Dann schrie er Scarr zu: »Aber trotzdem bist du gut für das Geschäft, nicht wahr, Adam? Die Leute kommen verdammt weit her, um dich zu sehen, stimmt's? Du Teenage-Monstrum aus dem Weltraum. Ja, das bist du, der Teufel soll mich holen. Kommen Sie herein und staunen Sie. Adam Scarr: Ein Blick, und Sie unterschreiben, daß Sie nie mehr saufen werden!«

Wieder folgte ein schallendes Gelächter. Mendel beugte sich zu Smiley hinüber. »Gehen Sie lieber und warten Sie im Wagen. - Da halten Sie sich lieber heraus. Haben Sie einen Fünfer bei der Hand?«

Smiley gab ihm aus seiner Brieftasche fünf Pfund, nickte zustimmend und ging hinaus. Er konnte sich nichts Schrecklicheres vorstellen, als es mit Scarr zu tun zu bekommen.

»Sind Sie Scarr?« fragte Mendel.

»Richtig, Kumpel.«

»TRX 0891. Ist das Ihr Wagen?«

Mr. Scarr warf einen finsteren Blick auf seinen Whisky mit Ingwer. Die Frage schien ihn traurig zu machen.

»Also?« sagte Mendel.

»War es Chef, war es.«

»Was, zum Teufel, meinen Sie?«

Scarr hob seine rechte Hand ein Stück und ließ sie dann langsam wieder sinken. »Eine dunkle Geschichte, Chef, eine trübe Geschichte.«

»So, jetzt hören Sie mir einmal zu. Ich habe größere Fische zu braten, als Sie sich je träumen lassen. Ich bin nicht aus Glas, verstanden? Mir imponiert das Geschäft, das Sie da machen, verdammt wenig. Also, wo ist der Wagen?«

Scarr schien über den Sinn dieser Rede nachzudenken. »Aha, jetzt geht mir ein Licht auf, Kumpel. Sie wollen eine Information.«

»Natürlich, zum Teufel.«

»Es sind harte Zeiten, Chef. Die Lebenskosten, mein Lieber, gehen hoch wie eine Rakete. Information ist eine Ware, eine verkäufliche Ware, hab' ich nicht recht?«

»Sie sagen mir, wer den Wagen gemietet hat, und Sie werden nicht verhungern.«

»Ich verhungere auch jetzt nicht, Kumpel. Aber ich will besser essen.«

»Ein Fünfer.«

Scarr trank aus und stellte sein Glas geräuschvoll auf den Tisch zurück. Mendel stand auf und besorgte ihm ein neues.

»Er ist geklaut worden. Ein paar Jahre habe ich ihn für Selbstfahrer vermietet, verstehen Sie. Auf Depo.«

»Auf was?«

»Na, Depo, Kaution. Irgendein Kerl will einen Wagen für einen Tag. Man nimmt zwanzig Pfund Kaution in bar, ja? Wenn er zurückkommt, ist er Ihnen vierzig Shilling schuldig, stimmt's? Sie geben ihm einen Scheck über achtunddreißig Pfund, schreiben ihn als Verlust in Ihre Bücher, und die Sache ist einen Zehner wert. Kommen Sie mit?«

Mendel nickte.

»Na also, vor drei Wochen ist so ein Bursche hereingekommen. Ein langer Schotte. Mit Pinke-pinke. Einen Stock hat er getragen. Er hat das Depo bezahlt, den Wagen mitgenommen, und weder ihn noch den Wagen habe ich wiedergesehen. Einfach Diebstahl.«

»Warum haben Sie es nicht bei der Polizei gemeldet?«

Scarr antwortete nicht und trank wieder aus seinem Glas. Er sah Mendel traurig an.

»Dagegen hätten viele Gründe gesprochen, Chef.«

»Soll das heißen, daß Sie ihn selbst gestohlen hatten ?«

Scarr machte ein erschrockenes Gesicht. »Ich habe inzwischen unangenehme Gerüchte über die Leute, von denen ich den Wagen gekauft habe, gehört. Mehr will ich nicht sagen«, fügte er fromm hinzu.

»Wie Sie den Wagen hergeliehen haben, hat er doch Formulare ausfüllen müssen, Versicherung und so weiter, nicht wahr? Wo sind die?«

»Falsch, alles falsch. Er hat mir eine Adresse in Ealing angegeben. Ich bin hin, aber sie hat nicht existiert. Bestimmt war der Name auch geflunkert.«

Mendel drehte das Geld in der Tasche zu einer Rolle und reichte es Scarr über den Tisch. Scarr entfaltete die Scheine, zählte sie ganz bewußt vor den Blicken aller, die hinsehen wollten.

»Ich weiß, wo ich Sie finde«, sagte Mendel, »und ich weiß ein paar Sachen über Sie. Wenn das ein Haufen Humbug ist, was Sie mir da verhökert haben, dann werde ich Ihnen Ihren verdammten Hals brechen.«

Es regnete wieder, und Smiley bedauerte, daß er keinen Hut mithatte. Er überquerte die Straße, kam in die Seitengasse, in der Scarrs Unternehmen lag, und ging auf den Wagen zu. In der Gasse war kein Mensch zu sehen, und es war merkwürdig ruhig. Zweihundert Meter weiter unten in der Straße schickte das kleine und nette Allgemeine Krankenhaus von Battersea durch seine vorhanglosen Fenster viele Strahlenbündel in die Nacht hinaus. Der Gehsteig war sehr naß, und das Echo seiner Schritte knirschend und laut.

Er kam vor die erste der beiden Baracken, die an Scarrs Hof lagen. Dort war ein Wagen mit brennenden Standlichtern abgestellt. Neugierig ging Smiley von der Gasse weg und darauf zu. Es war eine alte MG-Limousine, wahrscheinlich grün oder braun, wie es vor dem Krieg so beliebt war. Das Nummernschild war fast nicht beleuchtet und völlig verschmutzt. Er bückte sich, um es zu entziffern, wobei er dem Zeichen mit dem Zeigefinger folgte: TRX 0891. Natürlich, das war eine der Nummern, die er sich heute vormittag aufgeschrieben hatte.

Er hörte hinter sich Schritte, drehte sich halb um und richtete sich auf. Er hatte gerade begonnen, seinen Arm zu heben, als der Schlag fiel.

Es war ein fürchterlicher Schlag - er schien seinen Schädel in zwei Teile zu spalten. Als er fiel, konnte er das warme Blut fühlen, das in Strömen über sein linkes Ohr rann. »O Gott, nicht noch einmal«, dachte Smiley. Aber das übrige fühlte er kaum - nur eine Vision seines eigenen Körpers, ganz weit weg, der langsam wie Gestein zerbröckelt wurde. Zerbröckelt und zu Fragmenten zertrümmert, und dann war nichts mehr. Nichts als die Wärme seines eigenen Blutes, das über sein Gesicht in die Schlacken rann, und in weiter Ferne das Pochen des Steinbrechers. Aber nicht hier. Weit weg.

Mr. Scarrs Geschichte

Mendel sah ihn an und fragte sich, ob er tot wäre. Er leerte die Taschen seines Mantels und legte ihn behutsam über Smileys Schultern. Und dann rannte er wie ein Wahnsinniger zum Spital, stürzte durch die Drehtür der Ambulanz in das hellerleuchtete Innere des Hauses, das Tag und Nacht Betrieb hatte. Ein junger farbiger Doktor machte Dienst. Mendel zeigte ihm seine Karte, schrie ihm irgend etwas zu, nahm ihn am Arm und versuchte ihn hinauszuführen. Der Doktor lächelte geduldig, schüttelte den Kopf und telefonierte um einen Ambulanzwagen.

Mendel lief die Straße zurück und wartete. Nach einigen Minuten kam der Rettungswagen, und geschickte Männer hoben Smiley auf und brachten ihn weg.

»Sein Begräbnis«, dachte Mendel, »das werde ich dieses Schwein blutig bezahlen lassen.«

Er blieb einen Augenblick stehen und starrte auf den feuchten Fleck von Dreck und Schlacken, wo Smiley gestürzt war. Das matte rote Leuchten der Deckenlichter des Wagens zeigte ihm nichts. Der Boden war von den Schuhen der Sanitäter hoffnungslos zertreten worden, auch von einigen Bewohnern der Baracken, die wie schattenhafte Geier gekommen und gegangen waren. Sie hatten Scherereien nicht gerne.

»Verdammtes Schwein«, zischte Mendel und ging langsam zum Gasthaus zurück.

Das Gastzimmer füllte sich allmählich. Scarr bestellte gerade noch einen. Mendel packte ihn am Arm. Scarr drehte sich um und sagte: »Hallo, Kumpel, wieder da? Nehmen Sie auch von dem Zeug, das Tantchen umgebracht hat.«

»Halt's Maul«, sagte Mendel. »Ich muß noch einmal mit dir reden. Komm raus!«

Mr. Scarr schüttelte den Kopf und sog mitfühlend an seinen Zähnen.

»Kann ich nicht, Kumpel, kann ich nicht. Gesellschaft.« Er deutete mit dem Kopf auf eine achtzehnjährige Blondine mit fast weiß angestrichenen Lippen und einem unwahrscheinlichen Busen, die völlig bewegungslos an einem Ecktisch saß. Ihre getuschten Augen hatten einen dauernd erstaunten Ausdruck.

»Hör zu«, flüsterte Mendel, »in genau zwei Sekunden reiß ich dir die Ohren ab, du verlogener Scheißkerl.«

Scarr übergab seine Getränke dem Wirt zur Obhut und ging langsam und würdevoll hinaus. Das Mädchen sah er nicht an.

Mendel führte ihn durch die Gasse zu den Barakken. Das Standlicht von Smileys Wagen, der achtzig Meter weiter auf der Straße stand, schien ihnen entgegen.

Sie gingen in den Hof. Der MG war noch immer da. Mendel hielt Scarr fest am Arm, bereit, ihm, wenn nötig, den Unterarm nach hinten und nach oben zu drehen und ihm das Schultergelenk zu brechen oder auszukugeln.

»Na also«, rief Scarr mit offensichtlicher Freude, »da ist er ja wieder an den Busen seiner Ahnen zurückgekehrt.«

Gestohlen, nicht wahr?« sagte Mendel. »Gestohlen von einem großen Schotten mit einem Spazierstock und einer Adresse in Ealing. Nett von ihm, ihn zurückzubringen, nicht wahr? Eine freundliche Geste nach so langer Zeit. Du hast deinen verdammten Markt falsch eingeschätzt, Scarr.« Mendel bebte vor Wut. »Und warum brennen die Standlichter? Mach schon die Tür auf.«

Scarr drehte sich in der Dunkelheit zu Mendel um, und seine freie Hand tappte an seinen Taschen nach den Schlüsseln. Er zog ein Bund von drei oder vier Stück heraus, ging sie mit den Fingern durch und sperrte endlich die Wagentür auf. Mendel stieg ein, fand den Schalter für die Innenbeleuchtung und machte Licht. Er begann den Wagen methodisch zu durchsuchen. Scarr stand draußen und wartete.

Er arbeitete schnell, aber gewissenhaft. Handschuhfach, Sitze, Boden, Platz vor dem Hinterfenster: nichts. Er sondierte mit der Hand die Kartentasche an der Tür des Mitfahrers und zog eine Karte und einen Briefumschlag heraus. Das Kuvert war lang und flach, von graublauer Farbe mit einem Leinendessin. Kontinental, dachte Mendel. Draufgeschrieben war nichts. Er riß es auf. Es waren zehn alte Fünfpfundnoten drin und eine gewöhnliche Postkarte ohne Marke. Mendel hielt sie ans Licht und las die mit Kugelschreiber und in Blockbuchstaben geschriebene Mitteilung:

»Erledigt. Verkaufen Sie ihn.«

Eine Unterschrift fand sich nicht.

Er stieg wieder aus und packte Scarr an den Ellbogen. Scarr trat schnell zurück.

»Was hast du für ein Problem, Kumpel?« fragte er.

Mendel sprach sanft. »Es ist nicht mein Problem, Scarr, es ist deines. Das verdammt größte Problem, das du je gehabt hast. Mitschuld an Mord, versuchtem Mord, Vergehen gegen den Official Secrets Act. Und dazu kannst du Übertretung der Straßenverkehrsordnung, Steuerhinterziehung und ungefähr fünfzehn andere Anklagen hinzufügen, die mir einfallen werden, während du über dein Problem auf einer Pritsche in der Gefängniszelle nachdenkst.«

»Einen Augenblick, Polyp, wir wollen nicht über den Mond hinausschießen. Um was handelt es sich eigentlich? Wer, zum Teufel, redet hier von Mord?«

»Mach deine Ohren auf, Scarr, du bist ein kleiner Mann, der von den Großzügigen profitiert hat. Na gut, jetzt bist du der Großzügige. Ich rechne, daß es dich fünfzehn Jahre kosten wird.«

»Jetzt halten Sie schon endlich das Maul.«

»Nein, das werde ich nicht, kleiner Mann. Du steckst fest zwischen zwei Großen und bist der Dumme. Und was werde ich tun? Ich werde mich verdammt krank lachen, während du im Zuchthaus verrottest und dir deinen dicken Bauch anschaust. Siehst du das Spital dort? Da stirbt gerade ein Bursche, der von deinem großen Schotten umgebracht worden ist. Vor einer halben Stunde haben sie ihn hier in deinem Hof, blutend wie ein Schwein, gefunden. Ein anderer wurde in Surrey tot aufgefunden und, soviel ich weiß, einer in jeder verdammten Grafschaft hier im Land. Also es ist dein Problem, du Trottel, nicht meines. Noch etwas! Du bist der einzige, der weiß, wer er ist, nicht wahr? Er könnte vielleicht auf die Idee kommen, ein bißchen aufzuräumen, hast du kapiert?«

Scarr ging langsam auf die andere Seite des Wagens. »Steigen Sie ein, Polyp«, sagte er.

Mendel saß hinter dem Steuer und schloß die andere Tür von innen auf. Scarr setzte sich neben ihn. Das Licht schalteten sie nicht ein.

»Ich habe ein nettes Geschäft hier«, sagte Scarr ruhig, »die Einnahmen sind zwar klein, aber regelmäßig. Oder waren es wenigstens, bis dieser Kerl dahergekommen ist.«

»Was für ein Kerl?«

»Schön langsam, Polyp, drängeln Sie mich nicht. - Ich habe nicht an den Weihnachtsmann geglaubt, bis ich ihn getroffen habe. Holländer, sagte er, sei er, und im Diamantengeschäft. Ich will nicht behaupten, daß ich ihm geglaubt habe, denn Sie sind nicht aufs Hirn gefallen, und ich auch nicht. Ich habe nie gefragt, was er treibt, und er hat es mir auch nie gesagt, aber ich vermutete, daß es Schmuggel war. Geld zum Brennen hat er gehabt, das ist ihm aus den Fingern geflogen wie das Laub von den Bäumen im Herbst. >Scarr<, sagt er zu mir, >Sie sind ein Geschäftsmann. Ich habe Aufsehen nicht gern, noch nie gern gehabt, und ich höre, daß wir zwei Vögel mit gleichen Federn sind. Ich brauch' einen Wagen. Nicht für immer, nur zum Ausleihen.< Er hat es nicht ganz so gesagt, wegen des Ausländischen, aber das ist so ungefähr der Sinn. Ich sage: >Was ist Ihr Vorschlag, machen Sie mir ein Angebote >Gut<, sagt er, >ich bin vorsichtig. Ich will einen Wagen, daß niemand an mich 'ran kann. Wenn ich zum Beispiel einen Unfall hätte. Kaufen Sie für mich einen Wagen, Scarr, einen netten alten Wagen, der etwas unter der Haube hat. Aber auf Ihren eigenen Namen<, sagt er, >und stellen Sie ihn für mich aufs Eis. Hier sind fünfhundert Pfund für den Anfang und zwanzig im Monat für die Garage. Und dann gibt es extra was für jeden Tag, wenn ich ihn benutze. Aber, wie gesagt, ich bin scheu, und Sie kennen mich nicht. Dafür<, sagt er, >zahle ich: daß Sie mich nicht kennen.«

Den Tag werde ich nicht vergessen. Es hat in Strömen geregnet, und ich habe gerade am Motor von einem alten Taxi herumgebastelt, das ich von einem Kerl in Wandsworth gekauft hatte. Einem Buchmacher war ich vierzig Pfund schuldig, und die Polente ist zudringlich geworden wegen eines Wagens, den ich auf Abstottern gekauft und in Clapham verkloppt hatte.«

Mr. Scarr holte tief Atem und blies dann die Luft wieder aus, mit einem Ausdruck von komischer Resignation.

»Auf einmal stand er hinter mir wie mein eigenes Gewissen und ließ Pfundnoten über mich herunterregnen wie alte Totoscheine.«

»Wie hat er ausgesehen?« erkundigte sich Mendel.

»Ziemlich jung war er. Großer blonder Bursche, aber eiskalt, kalt wie die Nächstenliebe. Seit damals habe ich ihn nie mehr gesehen. Er hat mir Briefe geschickt, die in London aufgegeben und auf gewöhnlichem Papier mit der Maschine geschrieben waren. Einfach nur: >Seien Sie Montag abend bereit« oder: »Donnerstag abend« und so. Es war alles genau ausgemacht. Ich habe den Wagen in den Hof gestellt, fix und fertig und voll Sprit. Wann er zurück sein wird, hat er nie gesagt. Hat ihn nur reingefahren bei Feierabend, oder später, die Standbeleuchtung brennen lassen und ihn abgesperrt. In die Kartentasche hat er immer ein paar Pfund gelegt, für jeden Tag, den er weg war.«

»Was war, wenn was schiefgegangen ist, wenn man dich für irgend etwas anderes beim Kragen hatte?«

»Er hat mir eine Telefonnummer gegeben und gesagt, ich soll anrufen und nach jemandem fragen.«

»Wie war der Name?«

»Er hat mir gesagt, ich soll mir einen aussuchen. Ich habe Blondie ausgesucht. Er hat das nicht sehr komisch gefunden, aber wir sind dabei geblieben. Die Nummer war Primrose 0098.«

»Hast du sie einmal gebraucht?«

»Ja, vor ein paar Jahren. Ich wollte zur Erholung zehn Tage nach Margate. Da habe ich mir gedacht, es ist besser, daß ich ihm das sage. Ein Mädchen war am Telefon - nach der Stimme auch eine Holländerin. Sie hat gesagt, Blondie ist in Holland, und sie wird die Botschaft übernehmen. Aber dann später habe ich mir die Mühe nicht mehr gemacht.«

»Warum nicht?«

»Es ist mir aufgefallen, verstehen Sie, daß er immer alle vierzehn Tage, immer am ersten und dritten Dienstag gekommen ist, außer im Januar und Februar. Diesmal ist er zum erstenmal im Januar gekommen. Er hat den Wagen meistens am Donnerstag zurückgebracht. Komisch, daß er heute abend gekommen ist. Aber jetzt ist es ja aus mit ihm, oder?« Scarr hielt die Karte, die ihm Mendel gegeben hatte, in seiner riesigen Hand.

»Ist er eigentlich manchmal weggeblieben? Längere Zeit?«

»Im Winter war er mehr weg. Im Januar ist er nie gekommen, auch im Februar nicht. Wie ich gesagt habe.«

Mendel hatte die fünfzig Pfund noch in der Hand. Er warf sie Scarr auf den Schoß.

»Bilde dir jetzt nicht ein, daß du Schwein gehabt hast. Ich möchte nicht in deinen Schuhen stecken, nicht einmal für zehnmal soviel Geld. Ich werde wiederkommen.«

Mr. Scarr sah beunruhigt aus.

»Ich hätte nicht gepfiffen«, sagte er, »aber ich will da in nichts hineinverwickelt werden, verstehen Sie. Schon gar nicht, wenn das alte Land dabei zu Schaden kommen würde, nicht wahr, Chef?«

»Ach, jetzt halt doch schon endlich den Mund«, sagte Mendel. Er war müde. Er nahm die Karte wieder an sich, stieg aus und ging in der Richtung zum Spital weg.

Dort gab es nichts Neues. Smiley war noch immer bewußtlos. Man hatte das C.I.D. benachrichtigt und riet Mendel, seinen Namen und seine Adresse zu hinterlassen und nach Hause zu gehen. Das Spital würde anrufen, wenn es etwas Neues gäbe. Nach langem Hin- und Herreden bekam Mendel endlich den Schlüssel zu Smileys Wagen von der Schwester.

Daß ich in Mitcham wohne, ist doch zu blöd, dachte er.

Erwägungen in einem Krankenzimmer

Er haßte das Bett wie ein Ertrinkender das Meer. Und die Bettücher, die ihn so festhielten, daß er weder Hand noch Fuß bewegen konnte.

Und das Zimmer haßte er, weil er davor Angst hatte. Bei der Tür stand ein kleiner Rollwagen mit Instrumenten drauf, Scheren, Verbandzeug, Flaschen, unheimliche Gegenstände, die den Schrecken des Unbekannten an sich hatten, das zur letzten Kommunion in weißes Leinen gehüllt war. Da gab es Gefäße, große, die halb mit Tüchern bedeckt waren und wie weiße Adler aussahen, die darauf warteten, seine Eingeweide zu zerreißen, und kleine Gläser, in denen Gummischläuche wie Schlangen zusammengerollt waren. Er haßte das alles, und er hatte Angst. Es war ihm heiß, und der Schweiß rann ihm herunter, er fror schweißgebadet, und der Schweiß lief ihm wie kaltes Blut in großen Tropfen über die Rippen. Tag und Nacht lösten einander ab, ohne daß es für Smiley einen Unterschied gemacht hätte. Er kämpfte einen ununterbrochenen Kampf gegen den Schlaf, denn wenn er die Augen schloß, schienen sie sich nach innen dem Chaos in seinem Hirn zuzuwenden. Und wenn ihm manchmal, einfach nur durch ihr Gewicht, die Augenlider heruntersanken, dann nahm er alle seine Kraft zusammen, um sie wieder in die Höhe zu bringen und auf das fahle Licht zu starren, das irgendwo über ihm flimmerte.

Dann kam der gesegnete Tag, an dem irgendwer die Gardinen hochgezogen haben mußte und das graue Licht des Winters hereinließ. Er hörte den Verkehr draußen und wußte, daß er leben würde.

So wurde also das Problem des Sterbens wieder ein akademisches - eine Schuld, deren Begleichung er aufschieben würde, bis er reich war und selber zahlen konnte. Sein Geist war wunderbar klar und wanderte wie Prometheus durch seine ganze Welt. Wo hatte er denn das gehört: »Vom Körper trennt sich dann der Geist, und er regiert in einem Reiche von Papier . . .?« Das Licht über ihm wurde ihm langweilig, und er wünschte, daß es mehr zu sehen gäbe. Auch die Weintrauben, der Geruch von Honig und Blumen und die Schokoladen langweilten ihn. Er wünschte sich Bücher und literarische Zeitschriften. Wie konnte er auf dem laufenden bleiben, wenn sie ihm keine Bücher gaben? Diese seine spezielle Periode wurde ohnedies wissenschaftlich so wenig erforscht, es gab so wenig schöpferische kritische Abhandlungen über das siebzehnte Jahrhundert.

Es dauerte drei Wochen, bevor man Mendel erlaubte, ihn zu besuchen. Er kam mit einem neuen Hut in der Hand hinein und hatte ein Buch über Bienen mit. Er legte den Hut auf das Fußende des Bettes und das Buch auf das Nachttischchen und grinste.

»Ich habe Ihnen ein Buch gekauft«, sagte er. »Über Bienen. Das sind gescheite kleine Kerle. Vielleicht interessiert es Sie.«

Er setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe einen neuen Hut. Total verrückt. Zur Feier meiner Pensionierung.«

»Ach ja. Das habe ich ganz vergessen. Sie sind ja auch in der Ablage.« Sie lachten beide und schwiegen dann.

Smiley zwinkerte mit den Augen. »Ich fürchte, ich sehe Sie nicht recht deutlich im Augenblick. Ich darf meine alten Gläser nicht mehr tragen. Sie besorgen mir neue.« Er machte eine Pause. »Wissen Sie, wer es war? Wissen Sie das?«

»Vielleicht. Kommt darauf an. Ich glaube, ich habe eine Spur. Aber ich weiß nicht genug, das ist das Blöde. Über Ihre Arbeit, meine ich. Sagt Ihnen die Ostdeutsche Stahl-Mission irgend etwas?«

»Ich glaube schon, ist vor vier Jahren hergekommen. Wollte mit der Handelskammer Verbindung aufnehmen.«

Mendel erzählte von seiner Unterhaltung mit Mr. Scarr. ». . . sagte, er sei Holländer. Die einzige Kontaktmöglichkeit war eine Telefonnummer: Primrose .. . Ich habe festgestellt, wer der Teilnehmer ist. Steht als Ostdeutsche Stahl-Mission im Telefonbuch, in Belsize Park. Ich habe jemanden hingeschickt, der ein wenig herumschnüffeln sollte. Sie sind weg. Nichts mehr dort, keine Möbel, überhaupt nichts. Nur das Telefon. Und das ist aus der Wand gerissen.«

»Wann sind sie denn weg?«

»Am 3. Januar, demselben Tag, an dem Fennan umgebracht worden ist.« Er sah Smiley vielsagend an.

Smiley dachte einen Augenblick nach und sagte dann:

»Setzen Sie sich mit Peter Guillam im Verteidigungsministerium in Verbindung und bringen Sie ihn morgen her. Wenn nötig, mit Gewalt.«

Mendel nahm seinen Hut und ging zur Tür. »Auf Wiedersehen«, sagte Smiley, »danke für das Buch.«

»Also dann morgen. Auf Wiedersehen.« Mendel ging.

Smiley sank auf sein Bett zurück. Der Kopf schmerzte ihn. Zu dumm, ich habe mich nicht für den Honig bedankt. Und er war sogar von Fortnum gewesen.

Was hatte der Weckanruf zu bedeuten? Das beschäftigte ihn mehr als alles andere. Es ist eigentlich zu blöd, dachte Smiley, aber von allen ungeklärten Umständen zerbrach er sich darüber am meisten den Kopf.

Elsa Fennans Erklärung war so dumm, so auf den ersten Blick völlig unwahrscheinlich gewesen. Ann, ja, die hätte es zustande gebracht, daß die ganze Telefonzentrale köpf stand, wenn sie dazu aufgelegt war, aber auf keinen Fall Elsa Fennan. Nichts in ihrem wachen, intelligenten kleinen Gesicht, nichts an ihrer vollkommenen Selbständigkeit unterstützte ihre lächerliche Behauptung, sie sei zerstreut. Sie hätte sagen sollen, daß die Zentrale sich wahrscheinlich geirrt habe, an einem verkehrten Tag angerufen, irgend etwas anderes. Fennan ja, der war zerstreut gewesen. Das war einer der merkwürdigen Widersprüche in Fennans Charakterbild, der sich bei den Nachforschungen vor der Einvernahme herausgestellt hatte. Er las begierig Wildwest-Romane und spielte leidenschaftlich Schach. Er war Musiker und in seiner Freizeit ein Philosoph, ein tiefer Denker - aber zerstreut. Einmal hatte es seinetwegen ein fürchterliches Theater gegeben, als er geheime Akten aus dem Außenamt mitnahm. Es stellte sich dann heraus, daß er sie zusammen mit der >Times< und der Abendzeitung in seine Aktentasche gesteckt hatte, bevor er nach Walliston heimfuhr.

Hatte Elsa Fennan in ihrer Panik sich in das Mäntelchen ihres Mannes gehüllt? Oder in das Motiv ihres Mannes? Hatte Fennan den Anruf bestellt, um sich selber an etwas zu erinnern, und hatte Elsa das Motiv geborgt? Wenn das so war, woran mußte Fennan sich erinnern lassen - und was wollte seine Frau so verzweifelt verbergen?

Samuel Fennan. In ihm trafen sich die neue Welt und die alte. Der ewige Jude, kultiviert, kosmopolitisch, selbstentschlossen, fleißig und aufnahmefähig. Für Smiley ganz außergewöhnlich anziehend. Ein Kind seines Jahrhunderts. Verfolgt wie Elsa und aus seiner Wahlheimat Deutschland an die Universität nach England vertrieben. Einfach nur durch seine Begabung hatte er alle Nachteile und Vorurteile wettgemacht und war schließlich in das Außenamt eingetreten. Es war eine bemerkenswerte Leistung gewesen, die er nichts anderem verdankte als seinen brillanten Fähigkeiten. Und wenn er ein wenig eingebildet war und nicht geneigt, die Entscheidung primitiverer Geister abzuwarten, wer konnte ihm daraus einen Vorwurf machen? Es hatte einiges Stirnrunzeln gegeben, als er sich für ein geteiltes Deutschland aussprach, aber die Aufregung hatte sich wieder gelegt, er war in eine asiatische Abteilung versetzt worden, und die Affäre war vergessen. Im übrigen war er fast übertrieben generös gewesen und beliebt, in Whitehall wie in Surrey, wo er jedes Wochenende einige Stunden im Dienste der Nächstenliebe arbeitete. Sein größtes Vergnügen war das Skilaufen gewesen. Jedes Jahr nahm er seinen ganzen Urlaub auf einmal und verbrachte sechs Wochen in der Schweiz oder in Österreich. Deutschland hatte er nur ein einziges Mal besucht, erinnerte sich Smiley. Vor etwa vier Jahren, zusammen mit seiner Frau.

Es war ganz natürlich gewesen, daß Fennan sich in Oxford der Linken anschloß. Es war die große Blütezeit des Kommunismus an den Universitäten, und die Gründe dafür konnte er, bei Gott, verstehen: der Aufstieg des Faschismus in Deutschland und Italien, der Einmarsch Japans in die Mandschurei, der Aufstand Francos in Spanien, die Depression in Amerika und vor allem die Welle von Antisemitismus, die über Europa ging. Es war unausbleiblich, daß Fennan ein Ventil für seinen Zorn und eine Ablenkung suchen mußte. Übrigens war die Partei damals respektabel. Die Mißerfolge der Labour Party und der Koalitionsregierung hatten viele Intellektuelle davon überzeugt, daß allein die Kommunisten eine effektive Alternative gegenüber dem Kapitalismus und dem Faschismus zu bieten hätten. Es war die Begeisterung, die Stimmung heimlicher Verschwörung und Kameradschaft, die bei Fennans Charakter gezündet haben mußten und ihm Trost in seiner Einsamkeit gegeben hatten. Es war die Rede davon gewesen, nach Spanien zu gehen - einige waren wirklich gegangen und kehrten, wie Cornford aus Cambridge, nie zurück.

Smiley konnte sich den Samuel Fennan von damals gut vorstellen. Zerfahren und ernst, brachte er seinen Kameraden ohne Zweifel die Erfahrung echten Leidens, war ein Veteran unter Kadetten. Seine Eltern waren tot. Sein Vater war ein kleiner Bankier gewesen, der in weiser Voraussicht in der Schweiz ein kleines Konto angelegt hatte. Es war nicht viel gewesen, aber es reichte zur Not für das Studium in Oxford und schützte ihn vor dem kalten Wind der Armut.

Smiley erinnerte sich ganz genau an sein Gespräch mit Fennan. Einer von vielen, aber doch anders. Anders wegen der Sprache. Fennan war so präzis, so schnell, so sicher. »Ihr größter Tag«, hatte er erzählt, »war, als die Bergarbeiter kamen. Sie kamen von Rhondda, verstehen Sie, und es kam den Genossen so vor, als wäre der Geist der Freiheit mit ihnen von den Hügeln heruntergestiegen. Es war ein Hungermarsch. Es fiel der Gruppe gar nicht ein, daß die Marschierer vielleicht wirklich hungrig sein könnten, aber ich dachte daran. Wir mieteten einen Lastwagen, und die Mädchen machten Stew - in rauhen Mengen. Das Fleisch bekamen wir billig von einem sympathisierenden Fleischer auf dem Markt. Dann fuhren wir ihnen entgegen. Sie aßen das Stew und marschierten weiter. Sie haben uns eigentlich nicht geliebt, verstehen Sie, sie trauten uns nicht recht.« Er lachte. »Sie waren so klein - an das erinnere ich mich am meisten -, klein und schwarz wie Kobolde. Wir hofften, daß sie singen würden, und das taten sie dann auch. Aber nicht für uns, für sich selber. Das war damals das erste Mal, daß ich Waliser gesehen habe.

Es hat mich meine eigene Rasse besser verstehen lassen, glaube ich. Ich bin Jude, sehen Sie.«

Smiley hatte genickt.

»Sie wußten nicht, was sie tun sollten, als die Waliser wieder fort waren. Was macht man, wenn ein Traum wahr geworden ist? Damals verstanden sie, warum die Partei keinen großen Wert auf Intellektuelle legte. Ich glaube, sie kamen sich hauptsächlich recht nutzlos vor und waren beschämt. Sie schämten sich ihrer Betten, ihrer Zimmer, ihrer vollen Bäuche und ihrer gescheiten Abhandlungen. Auch ihrer Fähigkeiten und ihrer Fröhlichkeit. Sie redeten immer davon, wie Keir Hardie, mit einem Stück Kreide auf dem Kohlenflöz schreibend, sich ganz allein das Stenographieren beibrachte. Sie schämten sich, daß sie Papier und Bleistift hatten. Aber es hat auch keinen Sinn, das Schreibzeug deshalb einfach wegzuwerfen, nicht wahr. Das ist mir schließlich aufgegangen. Deshalb bin ich wohl aus der Partei ausgetreten, glaube ich.«

Smiley wollte ihn fragen, was er selbst gefühlt habe, aber Fennan redete schon weiter. Er hatte nichts mit ihnen gemein, das war ihm klar geworden. Sie waren keine Männer, sondern Kinder, die von Freiheitsfeuern, Zigeunermusik und einer einheitlichen Welt von morgen träumten, auf weißen Rossen über die Bucht von Biskaya ritten oder mit kindischem Vergnügen für hungernde Kobolde aus Wales Bier kauften. Kinder, die nicht die Kraft hatten, der Sonne aus dem Osten Widerstand zu leisten, und ihr gehorsam zu Tausenden ihre Köpfe zuwandten. Sie liebten einander und glaubten, daß sie die Menschheit liebte, sie bekämpften einander und meinten, sie kämpften gegen die Welt.

Bald hatte er sie komisch und rührend gefunden. Ebensogut hätten sie für Soldaten Socken stricken können. Das Mißverhältnis zwischen Traum und Wirklichkeit veranlaßte ihn, beide genau zu analysieren. Er konzentrierte seine ganze Energie auf philosophische und historische Lektüre, und zu seiner Überraschung fand er in der geistigen Klarheit des Marxismus Trost und Frieden. Er ergötzte sich an seiner intellektuellen Unbarmherzigkeit, bewunderte seine Furchtlosigkeit bei der akademischen Umkehrung traditioneller Werte. Schließlich war es das, und nicht die Partei, was ihm in seiner Einsamkeit Kraft gab. Eine Philosophie, die totale Hingabe an eine unangreifbare dogmatische Formel verlangte, die ihn demütigte und inspirierte. Und als er endlich Erfolg, Wohlstand und Aufnahme gefunden hatte, wandte er ihr traurig den Rücken wie einem Schatz, dem er entwachsen war und mit den Träumen seiner Jugend in Oxford lassen mußte.

So hatte es Fennan geschildert, und Smiley hatte ihn verstanden. Es war kaum die Geschichte von Zorn und Ressentiment, die Smiley erfahrungsgemäß bei solchen Einvernahmen zu erwarten pflegten, aber (oder vielleicht eben deshalb) sie kam ihm wirklicher vor. Und dann war da noch ein Punkt, im Zusammenhang mit der Einvernahme, nämlich Smileys Überzeugung, daß Fennan irgend etwas Wichtiges unausgesprochen gelassen hatte.

Bestand tatsächlich eine Verbindung zwischen dem Vorfall in Bywater Street und Fennans Tod? Smiley machte sich den Vorwurf, übers Ziel zu schießen. Bei objektiver Betrachtung gab es nichts außer der zeitlichen Aufeinanderfolge der Ereignisse, das angedeutet hätte, daß Fennan und Smiley irgendwie zusammenhingen.

Das heißt, die zeitliche Aufeinanderfolge und das Gewicht von Smileys Intuition, Erfahrung oder was sonst - dieses besonderen Sinnes, der ihn veranlaßt hatte, zu klingeln, statt seinen Schlüssel zu gebrauchen, dieses Sinnes, der ihn allerdings nicht gewarnt hatte, als hinter ihm in der Nacht ein Mörder mit einem Bleirohr stand.

Die Vernehmung war inoffiziell gewesen, das war richtig. Der Spaziergang im Park erinnerte ihn mehr an Oxford als an Whitehall. Der Spaziergang im Park, das Café in Millbank. Ja, es war auch in dem ganzen Verfahren ein Unterschied gegen sonst, aber worauf lief das schon hinaus? Ein Beamter des Außenamtes geht im Park spazieren und spricht ernst mit einem kleinen unbekannten Mann . . . Außer natürlich, der kleine Mann war nicht so unbekannt.

Smiley nahm eine Broschüre zur Hand und begann auf dem Vorsatzblatt zu schreiben:

»Nehmen wir an - was in keiner Weise bewiesen ist -, daß der Mörder Fennans und der Mann, der Smiley zu ermorden versuchte, identisch sind. Welche Umstände verknüpften Smiley mit Fennan vor dessen Tod?

1. Vor der Vernehmung am Montag, dem 2. Januar, habe ich Fennan noch nie gesehen. Ich habe im Department sein Dossier gelesen und gewisse Vorerhebungen gemacht.

2. Am 2. Januar fuhr ich mit einem Taxi allein zum Außenministerium. Das A. M. arrangierte die Einvernahme, wußte aber nicht, ich wiederhole, wußte nicht im voraus, wer sie durchführen würde. Fennan hatte deshalb vorher keine Kenntnis von meiner Identität, ebenso niemand außerhalb des Department.

3. Die Unterredung zerfiel in zwei Teile: den ersten im A. M., bei dem Leute durch das Büro gingen und uns in keiner Weise beachteten, und den zweiten draußen, wo uns jeder beliebige beobachten konnte.«

Was war daraus zu schließen? Nichts, außer . . .

Ja, das war der einzig mögliche Schluß: . . . außer, daß derjenige, der sie beisammen sah, nicht nur Fennan, sondern auch Smiley kannte und auf ihr Zusammensein auf das heftigste reagierte.

Warum? In welcher Weise war Smiley gefährlich? Auf einmal gingen seine Augen ganz weit auf. Natürlich in einer Weise, nur auf diese Weise - als Beamter des Sicherheitsdienstes.

Er legte seinen Bleistift hin.

Derjenige also, der Sam Fennan getötet hatte, war aufs äußerste daran interessiert, daß Fennan nicht mit einem vom Sicherheitsdienst sprechen sollte. Vielleicht jemand im Außenamt? Aber besonders jemand, der auch Smiley kannte. Vielleicht jemand, der Fennan in Oxford gekannt hatte, als Kommunisten gekannt hatte. Einer, der sich davor fürchtete, bloßgestellt zu werden, der dachte, Fennan würde reden, vielleicht schon geredet haben? Und wenn er geredet hatte, dann mußte Smiley natürlich beseitigt werden - und zwar schnell, bevor er seinen Bericht abliefern konnte.

Das würde den Mord an Fennan und den Anschlag auf Smiley erklären. Das gab der Sache einen gewissen Sinn, aber auch nicht sehr viel. Er baute sein Kartenhaus so hoch es ging und hatte noch immer Karten in der Hand. Was war mit Elsa, ihren Lügen, wie war sie hineinverwickelt, warum hatte sie Angst? Der Wagen, der Anruf um halb neun? Wie war das mit dem anonymen Brief? Wenn der Mörder Angst vor einem Kontakt zwischen Smiley und Fennan hatte, dann hätte er doch wohl kaum die Aufmerksamkeit auf Fennan gelenkt, indem er ihn denunzierte. Also wer? Wer?

Er legte sich zurück und schloß die Augen. In seinem Kopf tobte es schon wieder. Vielleicht konnte Peter Guillam helfen. Er war die einzige Hoffnung. Alles begann sich um ihn zu drehen, und er hatte wieder fürchterliche Schmerzen.

Es wird aufgeräumt

Mendel führte Peter Guillain in das Krankenzimmer und grinste breit. »Hab' ihn«, sagte er.

Das Gespräch war anfangs peinlich. Etwas gespannt, wenigstens für Guillam, mit Rücksicht auf Smileys plötzlichen Austritt und die ungehörige Tatsache, daß man sich in einem Krankenzimmer traf. Smiley trug eine blaue Bettjacke, sein Haar war borstig und unordentlich, wegen des Verbandes, und er hatte noch immer die Spur einer heftigen Quetschung an seiner linken Schläfe.

Nach einer ziemlich unangenehmen Pause sagte Smiley: »Hören Sie, Peter, Mendel hat Ihnen gesagt, was mir passiert ist. Sie sind der Fachmann - was wissen wir über die Ostdeutsche Stahl-Mission?«

»Rein wie frischgefallener Schnee, außer daß sie so plötzlich verschwunden ist. Nur drei Leute und ein Aufpasser dabei. Sie haben irgendwo in Hampstead ihre Zelte aufgeschlagen. Niemand hat anfangs recht gewußt, warum sie gekommen sind, aber in den letzten vier Jahren haben sie recht anständig gearbeitet.«

»Was waren ihre Beziehungen?«

»Das weiß Gott. Ich glaube, wie sie gekommen sind, haben sie gedacht, daß sie die Handelskammer dazu überreden könnten, etwas gegen die europäischen Stahlkonzerne zu unternehmen, man hat ihnen aber die kalte Schulter gezeigt. Dann beschäftigten sie sich mit Konsularsachen, hauptsächlich Werkzeugmaschinen und Fertigwaren, Austausch von industriellen und technischen Informationen und so weiter. Das hat nichts mit dem Zweck zu tun, dessentwegen sie gekommen sind, aber es ist weit annehmbarer, finde ich.«

»Was waren es für Leute?«

»Ach, zwei Techniker - Professor Doktor Sowieso und irgendein Doktor -, zwei Mädchen und ein allgemeiner Aufpasser.«

»Wer war der Wachhund?«

»Weiß nicht. Irgendein junger Diplomat, der die Falten ausbügeln sollte. Wir haben ihre Dossiers im Department. Ich kann Ihnen Details schicken, glaube ich.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Das ist doch selbstverständlich.«

Wieder entstand eine peinliche Pause. Smiley sagte: »Bilder wären eine wertvolle Hilfe, Peter. Geht das?«

»Ja ja, natürlich.« Guillam sah etwas verwirrt von Smiley weg. »Wir wissen eigentlich nicht viel über die Ostdeutschen, verstehen Sie. Hier und dort bekommen wir einzelne Bruchstücke in die Hand, aber im großen und ganzen sind sie irgendwie ein Mysterium. Wenn sie überhaupt arbeiten, dann tun sie es nicht unter dem Deckmantel von diplomatischen oder handelspolitischen Beziehungen. Deshalb ist es merkwürdig, wenn Sie bei diesem Burschen recht haben, daß er von der Stahl-Mission kommt.«

»Aha«, sagte Smiley ohne Überzeugung.

»Es ist natürlich schwer, aus den wenigen verstreuten Fällen, die wir kennen, allgemeine Schlüsse zu ziehen. Mein Eindruck ist der, daß sie ihre Agenten direkt aus Deutschland herüberschicken und im Operationsgebiet selbst keinen Kontakt zwischen Überwacher und Agenten haben.«

»Aber das muß sie doch schrecklich behindern«, rief Smiley. »Man muß monatelang warten, bis der Agent zu einem Treffpunkt außerhalb des Landes, in dem er arbeitet, reisen kann. Vielleicht hat er gar nicht den nötigen Vorwand, um überhaupt fahren zu können.«

»'Sicher, das muß sie offensichtlich sehr behindern, aber ihre Ziele scheinen von so geringfügiger Bedeutung zu sein. Am liebsten setzen sie Ausländer ein - Schweden, Exilpolen und was weiß ich noch alles. Sie schicken sie mit kurzfristigen Aufträgen herüber, wobei die Beschränktheit ihrer Technik nichts ausmacht. In besonderen Fällen, in denen sie einen Agenten haben, der im Lande wohnt, haben sie ein Kuriersystem, das dem der Sowjets entspricht.«

Jetzt horchte Smiley auf.

»Wie gesagt«, fuhr Guillam fort, »die Amerikaner haben vor ganz kurzer Zeit einen Kurier abgefangen, und dabei haben wir ein bißchen über die Methoden der DDR gelernt.«

»Was, zum Beispiel?«

»Ja, also, sie warten nie bei einem Rendezvous, treffen sich nie zur besprochenen Zeit, sondern zwanzig Minuten früher. Sie haben Erkennungszeichen - alle die üblichen Verschwörertricks, die das Drum und Dran zweitrangiger Spionage sind. Auch mit Decknamen schusseln sie herum. Ein Kurier kann mit drei oder vier Agenten Kontakt haben - ein Kontrollmann beaufsichtigt unter Umständen bis zu fünfzehn. Sie erfinden nie selber Decknamen für sich.«

»Wie meinen Sie das? Das ist doch notwendig.«

»Sie lassen den Agenten einen erfinden. Der Agent wählt einen Namen, irgendeinen x-beliebigen Namen, der ihm paßt, und der Kontrollmann nimmt ihn an. Auch so ein Trick . . .« Er hielt inne und sah Mendel erstaunt an.

Mendel war aufgesprungen.

Guillam setzte sich wieder auf seinen Stuhl und überlegte, ob er rauchen dürfe. Widerwillig kam er zu der Erkenntnis, daß das nicht gestattet wäre. Eine einzige Zigarette hätte ihm genügt.

»Also?« sagte Smiley. Mendel hatte Guillam von seiner Unterredung mit Mr. Scarr berichtet.

»Es paßt«, sagte Guillam. »Das paßt genau mit dem zusammen, was wir wissen. Aber wir wissen nicht so viel. Wenn Blondie ein Kurier war, dann ist es außergewöhnlich - wenigstens nach meiner Erfahrung -, daß er eine Handelsmission als Stützpunkt benutzte.«

»Sie haben doch gesagt, daß die Mission seit vier Jahren hier war«, sagte Mendel. »Blondie ist vor vier Jahren zum erstenmal zu Scarr gekommen.«

Einen Augenblick sagte niemand etwas. Dann meinte Smiley ernst: »Es ist möglich, daß sie unter besonderen Arbeitsbedingungen ebenso einen Stützpunkt wie Kuriere gebraucht haben.«

»Ja natürlich, wenn sie hinter einer wirklich großen Sache her waren, dann vielleicht schon.«

»Das heißt, wenn es sich um einen Agenten in besonders hoher Stellung gehandelt hätte?«

»Ja, so ungefähr.«

»Und wenn wir annehmen, daß sie so einen Agenten hatten, einen Maclean oder Fuchs, dann wäre es verständlich, daß sie hier unter dem Deckmantel von Handelsbeziehungen einen Stützpunkt aufgemacht hätten, der keine andere Funktion hatte, als dem Agenten behilflich zu sein?«

»Ja, das kann man sich vorstellen. Aber es ist schon etwas stark, George. Du unterstellst, daß der Agent von außerhalb dirigiert ist, von einem Kurier bedient wird und der Kurier seinerseits durch die Mission, die auch gleichzeitig der persönliche Schutzengel des Agenten ist. Das müßte schon ein Agent von Format sein.«

»Das ist zwar nicht genau das, was ich sagen will, aber ziemlich nah dran. Und ich gebe zu, daß das System einen Agenten von größter Wichtigkeit voraussetzt. Vergessen Sie nicht, daß Blondie nur nach seiner eigenen Aussage von draußen gekommen ist.«

Jetzt mischte sich Mendel ein: »Dieser Agent, hätte der direkten Kontakt mit der Mission?«

»Nein, nein, um Gottes willen«, sagte Guillam. »Aber er hätte für den Notfall wahrscheinlich irgendeine Möglichkeit, sich mit ihr in Verbindung zu setzen - einen Telefoncode oder etwas Ähnliches.« '

»Wie funktioniert so etwas?« fragte Mendel.

»Das ist verschieden. Vielleicht der Trick mit der falschen Nummer. Man wählt die Nummer in einem Automaten und verlangt, mit George Brown zu sprechen, und bekommt die Antwort, daß es dort keinen George Brown gibt. Man entschuldigt sich und hängt auf. Zeit und Treffpunkt sind vorher vereinbart. Das Notsignal ist in dem Namen enthalten, um den man fragt. Es wird jemand dort sein.«

»Welche anderen Aufgaben hätte die Mission noch?« erkundigte sich Smiley.

»Schwer zu sagen. Vielleicht die Bezahlung. Einrichtung einer Stelle, wo die Berichte abgegeben werden können. Alle diese Arrangements würde natürlich der Überwacher für den Agenten machen und ihm das Notwendige durch den Kurier mitteilen. Sie arbeiten zum Großteil nach dem russischen System, wie ich schon gesagt habe. Auch die kleinsten Details werden von der Kontrolle festgelegt. Die Leute, die im Einsatz stehen, bekommen wenig freie Hand.«

Wieder trat Stille ein. Smiley sah zuerst Guillam, dann Mendel an, blinzelte und sagte schließlich: »Im Januar und Februar ist Blondie nicht zu Scarr gekommen, ist das richtig?

»Ja, diesmal war es das erste Mal«, antwortete Mendel.

»Fennan ist im Januar und Februar immer auf Skiurlaub gefahren. Dieses Jahr ist er zum erstenmal seit vier Jahren hier geblieben.«

»Ob ich nicht doch Maston besuchen sollte«, meinte Smiley.

Guillam streckte sich genießerisch und lächelte: »Sie können es ja immerhin versuchen. Es wird ihm ein Erlebnis sein zu hören, daß Sie eins über den Schädel bekommen haben. Ich habe so eine Vorahnung, daß er glauben wird, Battersea liegt an der Küste, und er wird sich weiter um nichts kümmern. Sagen Sie ihm, daß man Sie überfallen hat, wie Sie in irgendeinem privaten Hof herumgegangen sind - er wird verstehen. Erzählen Sie ihm auch was von dem Angreifer, George. Sie haben ihn nicht gesehen, wohlgemerkt, und Sie kennen seinen Namen nicht, aber er ist ein Kurier des Ostdeutschen Spionagedienstes. Maston wird Sie decken, das tut er immer. Besonders, wenn er dem Minister Bericht erstatten muß.«

Smiley sah Guillam an und schwieg. »Auch nach dem Hieb auf den Kopf«, fügte Guillam hinzu, »er wird verstehen.«

»Aber, Peter . . .«

»Ich weiß schon, George, ich weiß schon.«

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