»Also gut, dann will ich Ihnen etwas anderes sagen. Blondie hat den Wagen immer am ersten Dienstag in jedem Monat geholt.«
»So?«
»Das waren die Abende, an denen Elsa Fennan nach Weybridge ins Theater gegangen ist. Fennan hat an Dienstagen immer bis spät gearbeitet, hat sie gesagt. «
Guillam stand auf. »Also, ich werde ein bißchen herumstöbern, George. Wiedersehen, Mendel, ich rufe Sie wahrscheinlich heute abend an. Ich weiß zwar gar nicht, was wir im Augenblick tun könnten, aber es wäre fein, wenn wir es wüßten, nicht wahr?« Er war schon bei der Tür. »Übrigens, wo sind die Sachen, die Fennan bei sich hatte, Brieftasche, Notizbuch und so weiter? Sachen, die an der Leiche gefunden wurden?«
»Wahrscheinlich noch auf der Polizeistation«, meinte Mendel. »Bis nach der Verhandlung.«
Guillam stand einen Augenblick da, sah Smiley an und wußte nicht, was er sagen sollte.
»Kann ich sonst was für Sie tun, George?«
»Nein, danke - ach ja, da fällt mir was ein.«
»Ja?«
»Könnten Sie mir das C.I.D. vom Hals schaffen? Sie haben mich schon dreimal besucht und sind hier natürlich nicht weitergekommen. Könnten Sie veranlassen, daß diese Angelegenheit zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Spionagefall behandelt wird? Tun Sie mysteriös und machen Sie es geschickt.«
»Ja, das glaube ich schon.«
»Ich weiß, daß es schwer ist, Peter, weil ich doch nicht. . .«
»Ach, da fällt mir etwas anderes ein. Nur um Sie ein bißchen aufzuheitern. Ich habe die Schriften der beiden Schreiben, Fennans Abschiedsbrief und den anonymen, vergleichen lassen. Sie sind von verschiedenen Personen auf derselben Maschine geschrieben worden. Unterschiede im Anschlag und bei den Zwischenräumen, aber dieselben Typen. Also, auf Wiedersehen, alter Freund. Und lassen Sie sich die Trauben gut schmecken.«
Guillam schloß die Tür hinter sich. Sie hörten den harten Widerhall seiner Schritte auf den Fliesen des Ganges.
Mendel rollte sich eine Zigarette.
»Um Gottes willen«, sagte Smiley, »haben Sie denn vor nichts Angst? Haben Sie die Schwester hier noch nicht gesehen?«
Mendel grinste und schüttelte den Kopf.
»Man kann nur einmal sterben«, sagte er und steckte die Zigarette zwischen seine schmalen Lippen. Smiley sah ihm zu, wie er sie anzündete. Er zog sein Feuerzeug heraus, machte es auf, setzte mit seinem gebeizten Daumen das Rädchen in Bewegung, deckte dann schnell seine hohlen Handflächen darüber und näherte die Flamme seiner Zigarette. Als ob ein Orkan geherrscht hätte.
»Also, Sie sind der Kriminalfachmann. Wie stehen wir?« fragte Smiley.
»Alles durcheinander und ungeordnet.«
»Wieso?«
»Lose Fäden, wo man hinschaut. Keine Polizeiarbeit. Nichts nachgeprüft. Wie Algebra.«
»Was hat Algebra damit zu tun?«
»Man muß zuerst feststellen, was bekannt ist. Die konstanten Größen finden. Ist sie wirklich ins Theater gegangen? War sie allein? Haben die Nachbarn sie heimkommen gehört? Wenn, dann wann? Ist Fennan an Dienstagen wirklich erst spät nach Hause gekommen? Ist seine Angetraute regelmäßig alle vierzehn Tage ins Theater gegangen, wie sie gesagt hat?«
»Und der Anruf um halb neun. Können Sie mir den erklären?«
»Der geht Ihnen im Kopf herum, nicht wahr?«
»Ja. Von allen losen Fäden ist das der loseste. Ich brüte die ganze Zeit darüber nach, sage ich Ihnen, aber er ist mir einfach unverständlich. Ich habe mir den Fahrplan da angesehen. Er war ein pünktlicher Mensch - oft ist er als erster im Amt gewesen und hat seinen Schreibtisch aufgesperrt. Er pflegte den Zug um 8 Uhr 54, den um 9 Uhr 8 oder im ungünstigsten Fall den um 9 Uhr 14 zu erreichen. Der um 8 Uhr 54 kommt um 9 Uhr 38 an. Er kam gerne um dreiviertel zehn ins Büro. Es konnte unmöglich seine Absicht sein, sich erst um halb neun wecken zu lassen.«
»Vielleicht hat er nur das Geklingel gern gehört«, sagte Mendel und stand auf.
»Und die Briefe«, setzte Smiley fort. »Verschiedene Schreiber, aber dieselbe Maschine. Außer dem Mörder hatten noch zwei Menschen Zutritt zu dieser Maschine: Fennan und seine Frau. Wenn wir annehmen, daß Fennan den Abschiedsbrief selber geschrieben hat - unterschrieben hat er ihn ja ohne Zweifel -, dann müssen wir auch annehmen, daß Elsa die Denunziation geschrieben hat. Warum hat sie das getan?«
Smiley war völlig erschöpft und erleichtert darüber, daß Mendel ging.
»Ich gehe aufräumen. Die Konstanten finden.«
»Sie werden Geld brauchen«, sagte Smiley und bot ihm welches aus der Brieftasche in seinem Nachtkästchen an. Mendel nahm es ohne weiteres Zeremoniell und ging.
Smiley lehnte sich zurück. Sein Kopf war glühend heiß, und es hämmerte darin wie wahnsinnig. Er wollte zuerst die Schwester rufen, unterließ es aber dann aus Feigheit. Langsam hörte das Pochen auf. Draußen hörte er die Sirene einer Ambulanz, die von der Prince of Wales Drive in den Hof des Spitals einfuhr. »Vielleicht hat er es nur gerne klingeln gehört«, dachte er und schlief ein.
Er wurde durch einen Streit draußen auf dem Gang geweckt. Er hörte die Schwester mit erhobener Stimme protestieren. Er hörte Schritte und die Stimme Mendels, die aufgeregt dagegenredete. Plötzlich ging die Tür auf, und jemand drehte das Licht an. Es war dreiviertel sechs. Mendel redete auf ihn ein. Er schrie fast. Was versuchte er ihm da zu sagen? Etwas von Battersea Bridge ... die Flußpolizei . . . seit gestern abgängig. Er war hellwach. Adam Scarr war tot.
Die Geschichte der Jungfrau
Mendel chauffierte sehr gut und mit einer schulmeisterlichen Pedanterie, die Smiley komisch gefunden hätte. Die Weybridge Road war, wie gewöhnlich, vollgestopft mit Fahrzeugen. Mendel haßte die Autofahrer. Wenn man einem Menschen einen Wagen gibt, dann läßt er die Anständigkeit und den gesunden Menschenverstand in der Garage zurück. Ganz gleich, wer es war. Er hatte Bischöfe im Purpur gesehen, die in der Innenstadt mit hundert Sachen fuhren und die Fußgänger so erschreckten, daß sie den Kopf verloren. Smileys Wagen mochte er gern. Ihm gefiel die peinliche Gewissenhaftigkeit, mit der er gepflegt war, die vernünftigen, nützlichen Kleinigkeiten. Er war ein netter kleiner Wagen.
Er schätzte Menschen, die sich um ihre Sachen kümmerten, die das beendeten, was sie begannen. Ihm gefielen Gründlichkeit und Genauigkeit. Keine Pfuscherei. Wie dieser Mörder. Wie hatte Scarr gesagt? »Jung, aber eiskalt. Kalt wie die Nächstenliebe. « Er kannte diesen Blick, und Scarr hatte ihn auch erkannt. . . den Ausdruck vollständiger Verneinung in den Augen eines jungen Mörders. Es war nicht der Blick eines wilden Tieres, nicht der verzerrte wilde Ausdruck eines Tobsüchtigen, sondern ein Blick aufs höchste gesteigerter, erprobter, bestätigter Perfektion. Es war ein Zustand, der über das im Krieg Erlebte hinausging. Das Erlebnis des Sterbens im Krieg bringt eine gewisse Abstumpfung mit sich, aber darüber geht die anmaßende Überzeugung von der eigenen Überlegenheit im Hirn des professionellen Mörders weit, himmelweit hinaus. Ja. Mendel hatte ihn schon gesehen. Den, der sich abseits hielt von der Bande, mit fahlen, toten Augen, dem die Mädchen nachgingen und von dem sie ohne ein Lächeln redeten. Ja, er war eiskalt.
Scarrs Tod hatte Mendel Angst eingejagt. Er ließ sich von Smiley versprechen, daß er nach seiner Entlassung aus dem Spital nicht in die Bywater Street gehen würde. Wenn sie einiges Glück hätten, dann würden die anderen ja sowieso denken, er wäre tot. Scarrs Tod bewies natürlich eine Tatsache: Der Mörder war noch immer in England und noch immer bemüht, aufzuräumen. »Wenn ich wieder gesund bin«, hatte Smiley gestern abend gesagt, »dann müssen wir ihn wieder aus seiner Höhle locken. Ein paar Brocken Käse als Köder auslegen.« Mendel war es klar, wer dieser Käse sein würde: Smiley selbst. Natürlich, wenn sie mit dem Motiv recht hatten, dann gäbe es auch noch einen anderen Käse: Fennans Frau. Es spricht tatsächlich nicht sehr für sie, dachte er grimmig, daß sie noch nicht umgebracht worden ist. Er schämte sich über sich selbst und wendete seine Gedanken anderen Dingen zu. Wie zum Beispiel wieder Smiley.
Ein merkwürdiger kleiner Bursche war dieser Smiley. Er erinnerte Mendel an einen dicken Jungen, mit dem er in der Schule Fußball gespielt hatte. Konnte nicht laufen, konnte nicht schießen, war blind wie eine neugeborene Katze, aber er spielte wie der Teufel und war erst zufrieden, wenn er sich in Stücke zerrissen hatte. Auch geboxt hatte er. Ging ohne Deckung mit geschwungenen Armen auf einen los und brachte sich halb um, bis der Schiedsrichter abpfiff. War übrigens auch ein gescheiter Bursche gewesen.
Mendel hielt bei einem Café am Straßenrand, trank eine Tasse Kaffee, aß ein Brötchen und fuhr dann nach Weybridge hinein. Das Repertoire-Theater lag in einer Einbahnstraße, die von der Hauptstraße ausging und in der man nicht parken konnte. Endlich stellte er den Wagen bei der Eisenbahnstation ab und ging in die Stadt zurück.
Der Haupteingang des Theaters war geschlossen. Mendel ging um das Haus herum auf die Seite, wo die aus Backstein gemauerten Arkaden waren. Der grüne Flügel der offenen Tür war eingehängt. Innen waren Riegel angebracht, und es stand mit Kreide »Bühneneingang« daraufgekritzelt. Eine Glocke gab es nicht. Ein schwacher Kaffeegeruch drang aus dem dunkelgrünen Gang hinter der Tür. Mendel ging durch den Eingang und den Korridor entlang, an dessen Ende er eine Steintreppe fand, die ein eisernes Geländer hatte und zu einer weiteren grünen Tür führte. Der Geruch von Kaffee war jetzt stärker, und er hörte Stimmen.
»Ist doch Blödsinn, Darling, ganz offen gesagt. Wenn die Kulturgeier in dem wonniglichen Surrey drei Monate hintereinander Barrie haben wollen, bitte sehr, sollen sie, sag ich. Entweder Barrie oder >Ein Kuckuck im Nest<, schon das dritte Jahr, und meiner bescheidenen Ansicht nach macht Barrie das Rennen um eine halbe Kopflänge«, sagte die Stimme einer Frau in mittleren Jahren.
Eine klägliche Männerstimme antwortete: »Also Ludo kann ja immerhin den Peter Pan spielen, nicht wahr, Ludo?«
»Kleines Mistvieh, kleines Mistvieh«, sagte eine dritte Stimme, auch eine männliche, und Mendel machte die Tür auf.
Er stand neben der Bühne in der Kulisse. Neben ihm, zur linken Hand, war eine dicke Ebonitplatte mit ungefähr einem Dutzend Schaltern an einem Holzrahmen befestigt, und davor stand ein absurder Rokokostuhl mit Vergoldung und Stickereien für die Souffleuse und Mädchen für alles.
In der Mitte der Bühne saßen zwei Männer und eine Frau auf Fässern, rauchten und tranken Kaffee. Die Szene stellte das Deck eines Schiffes dar. Ein Mast mit Takelage und Strickleitern nahm die Mitte der Szene ein, und eine Kanone aus Pappe wies trostlos gegen einen Prospekt von Meer und Himmel.
Die Konversation stockte abrupt, als Mendel auf der Bühne erschien. Jemand murmelte: »Um Gottes willen, der steinerne Gast«, und sie sahen ihm alle entgegen und kicherten.
Die Frau sprach zuerst: »Suchen Sie jemanden, lieber Freund?«
»Entschuldigen Sie, daß ich so hereinplatze. Ich komme, weil ich Mitglied Ihres Theaterklubs werden möchte.«
»Ach ja, natürlich. Wie nett«, sagte sie, stand auf und ging ihm entgegen. »Das ist wirklich sehr nett.« Sie nahm seine linke Hand in ihre beiden, drückte sie, trat dann zurück und breitete ihre Arme aus. Es war ihre hausfrauliche Geste - Lady Macbeth empfängt Duncan. Sie neigte den Kopf mädchenhaft zur Seite, ergriff wieder seine Hand und geleitete ihn über die Bühne in die Kulisse auf der anderen Seite. Eine Tür führte in ein kleines Büro, in dem überall alte Programme und Plakate verstreut lagen, Schminkstifte, Perücken und mit Flitter besetzte Marineuniformen.
»Haben Sie unsere diesjährige Pantomime schon gesehen? >Die Schatzinsel.< Wirklich ein sehr befriedigender Erfolg. Und so viel mehr dran als an diesen vulgären Märchen, finden Sie nicht?«
Mendel sagte: »Ja, nicht wahr.« Er hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie redete. Dann fiel sein Blick auf einen Stoß Rechnungen, die ziemlich nett geordnet von einer großen Klammer, die die Form des Kopfes einer Bulldogge hatte, zusammengehalten wurden. Die oberste war eine für Mrs. Ludo Oriel und vier Monate überfällig.
Sie sah ihn durch ihre Brille gescheit an. Sie war klein und dunkelhaarig, mit Furchen am Hals und viel Make-up. Die Falten unter ihren Augen waren mit Schminke verdeckt worden, aber die Wirkung hatte nicht angehalten. Sie trug weite lange Hosen und einen dicken Pullover, der über und über mit Temperafarben bespritzt war. Sie rauchte unaufhörlich. Ihr Mund war sehr breit, und in der Mitte, genau unter der Nase, hatte sie die Zigarette stecken, wodurch ihre Lippen eine übermäßig konvexe Kurve bildeten, die den unteren Teil ihres Gesichtes verzerrte und ihr einen übellaunigen, ungeduldigen Ausdruck gab. Mendel hatte gedacht, daß sie eventuell schwierig und gewitzt sein würde. Es war eine Erleichterung, festzustellen, daß sie ihre Rechnungen nicht zahlen konnte.
»Sie wollen also dem Klub beitreten, nicht wahr?«
»Nein.«
Sie bekam einen Wutanfall: »Wenn Sie wieder einer von den verfluchten Lieferanten sind, dann können Sie absegeln. Ich habe gesagt, daß ich zahlen werde, und das werde ich auch, nur belästigen Sie mich nicht ununterbrochen. Wenn ihr bei den Leuten ausstreut, daß ich pleite bin, dann werde ich es sein, und ihr werdet die Verlierer sein, nicht ich.«
»Ich bin kein Gläubiger, Mrs. Oriel. Ich bin hergekommen, um Ihnen Geld anzubieten.«
Sie horchte auf.
»Ich arbeite für einen Scheidungsanwalt. Ein reicher Klient. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir sind bereit, für Ihren Zeitverlust zu zahlen.«
»Du lieber Himmel«, sagte sie erleichtert. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Sie lachten beide. Mendel blätterte der Reihe nach fünf Pfundnoten auf den Stoß von Rechnungen.
»Also«, sagte Mendel, »wie sieht die Liste Ihrer Mitglieder aus? Welche Vorteile bietet der Beitritt?«
»Ja also, wir trinken jeden Vormittag genau um elf wässerigen Kaffee auf der Bühne. Die Mitglieder dürfen dabei sein und sich unter das Ensemble mischen, wenn wir von11.oo bis 11.45 zwischen den Proben eine Pause machen. Was sie konsumieren, bezahlen sie natürlich, aber die Teilnahme ist ausschließlich auf die Mitglieder beschränkt.«
»Aha.«
»Das ist wahrscheinlich das, was Sie interessiert. Es scheinen nur warme Brüder und mannstolle Weiber zu kommen.«
»Kann sein. Was gibt es noch?«
»Alle vierzehn Tage setzen wir ein neues Stück auf den Spielplan. Die Mitglieder können für irgendeinen Tag der Spieldauer Plätze bestellen - zum Beispiel für den zweiten Mittwoch der Spieldauer und so weiter. Wir bringen immer am ersten und dritten Montag jedes Monats ein neues Stück heraus. Die Vorstellung beginnt um halb acht, und wir halten die Klubbestellungen bis sieben Uhr zwanzig reserviert. Das Mädchen an der Kasse hat den Sitzplan und streicht jeden Platz aus, der verkauft wird. Die bestellten Sitze der Klubmitglieder sind rot angehakt und werden erst zum Schluß verkauft.«
»So ist das also. Wenn also eines Ihrer Mitglieder den bestellten Sitz nicht nimmt, dann wird das im Sitzplan angezeichnet.«
»Nur wenn der Platz verkauft wird.«
»Natürlich.«
»Nach der ersten Woche sind wir nicht oft ausverkauft. Wir würden gern jede Woche ein neues Stück spielen, aber das ist nicht leicht. . . durchführbar. Für vierzehn Tage en suite ist wieder auch nicht das Publikum da, eigentlich.«
»Nein, wohl nicht ganz. Bewahren Sie alte Sitzpläne auf?«
»Manchmal, wegen der Abrechnung.«
»Was ist mit Dienstag, dem 3. Januar?«
Sie öffnete einen Schrank und nahm einen Stapel gedruckter Sitzpläne heraus. »Das ist die dritte Woche unserer Pantomime, natürlich. Tradition.«
»Ja«, sagte Mendel.
»Also, an wem sind Sie denn so interessiert?« fragte Mrs. Oriel und nahm ein dickes Buch vom Schreibtisch.
»Eine kleine Blonde, ungefähr zweiundvierzig oder dreiundvierzig. Der Name ist Fennan, Elsa Fennan.«
Mrs. Oriel öffnete ihr Buch. Mendel sah ihr völlig schamlos über die Schulter. In der linken Kolonne waren die Namen der Klubmitglieder mit netter Schrift verzeichnet. Ein roter Haken links daneben bedeutete, daß das Mitglied seinen Beitrag bezahlt hatte. Auf der rechten Seite waren Anmerkungen über die für das laufende Jahr ständig bestellten Sitze. Es gab ungefähr achtzig Mitglieder.
»Der Name sagt mir nichts. Wo sitzt sie denn?«
»Keine Ahnung.«
»O ja, hier haben wir es schon. Merridale Lane, Walliston. Also wir wollen einmal sehen. Ein Parkettsitz hinten, ganz an der Wand. Komischer Geschmack, finden Sie nicht auch? Sitz Nummer R 2. Aber Gott mag wissen, ob sie am 3. Januar da war. Ich glaube nicht, daß wir den Plan noch haben, obwohl ich in meinem ganzen Leben nichts weggeworfen habe. Die Sachen verflüchtigen sich einfach, nicht wahr?« Sie sah ihn von der Seite her an, offenbar in der Hoffnung, ihre fünf Pfund schon verdient zu haben. »Ich werde Ihnen etwas sagen, wir werden die Jungfrau fragen.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Fennan . . . Fennan . . .?« sagte sie. »Einen Augenblick. Jetzt hab' ich's. Komisch, wieso? Ach ja, verflixt. Ja natürlich. Die Notenmappe.« Sie machte die Tür auf. »Wo ist die Jungfrau?« sagte sie zu jemandem auf der Bühne.
»Keine Ahnung.«
»Nichtsnutziger Dickschädel«, sagte Mrs. Oriel und schloß die Tür wieder. Sie drehte sich Mendel zu. »Die Jungfrau ist die Blüte unserer Hoffnung. Eine englische Rose, die theatertolle Tochter eines Rechtsanwalts, ganz Florstrümpfe und Hasch-mich-wenn-du-kannst. Sie ist uns ein Greuel. Manchmal bekommt sie eine Rolle, weil ihr Vater für den Schauspielunterricht zahlt. Manchmal, wenn ein großer Ansturm ist, weist sie Plätze an, sie und Mrs. Torr, die Reinemachefrau, die sonst die Damentoilette hat. Normalerweise macht Mrs. Torr alles allein, und die Jungfrau treibt sich in den Kulissen herum in der Hoffnung, daß die Hauptdarstellerin tot zusammenbrechen wird.« Sie machte eine Pause.
»Ich bin verdammt sicher, daß ich mich an den Namen Fennan erinnere, verdammt sicher. Wo diese Kuh nur stecken kann?« Sie verschwand einige Minuten und kam mit einem großen, ziemlich hübschen Mädchen mit blondem gekräuseltem Haar und roten Backen zurück, die sicher eine ausgezeichnete Tennisspielerin und Schwimmerin war.
»Das ist Elizabeth Pidgeon. Darling, wir suchen eine Mrs. Fennan, ein Mitglied. Hast du mir nicht irgend etwas von ihr erzählt?«
»Ja natürlich, Ludo.« Sie bildete sich offenbar ein, daß ihre Stimme süß klang. Sie lächelte Mendel geistlos an, legte den Kopf zur Seite und flocht ihre Finger ineinander. Mendel wendete ihr den Kopf zu.
»Kennst du sie?« fragte Mrs. Oriel.
»Ja sicher, Ludo. Sie ist schrecklich musikalisch. Wenigstens glaube ich es, denn sie bringt immer Noten mit. Sie ist schrecklich mager und komisch. Sie ist eine Ausländerin, nicht wahr, Ludo?«
»Warum komisch?«
»Ja, das letztemal, wie sie hier war, hat sie ein gräßliches Theater gemacht wegen des Platzes neben ihr. Er war vom Klub aus reserviert, verstehen Sie, und es war längst zwanzig nach sieben vorbei. Wir hatten gerade mit der Panto-Saison begonnen, und draußen standen Tausende von Leuten, die Plätze wollten, deshalb habe ich ihn verkaufen lassen. Sie sagte ununterbrochen, daß diese Person sicher kommen würde, weil sie immer käme.«
»Und ist sie dann wirklich gekommen?« fragte Mendel.
»Nein. Ich habe den Platz verkaufen lassen. Sie muß fürchterlich schlecht aufgelegt gewesen sein, denn sie ist nach dem zweiten Akt davon und hat vergessen, ihre Notenmappe aus der Garderobe zu holen.«
»Dieser Mensch, von dem sie so sicher war, daß er kommen würde, ist der mit Mrs. Fennan befreundet?«
Ludo sah Mendel vielsagend an. »Joh, das will ich meinen. Er ist ihr Mann, nicht wahr?«
Mendel sah sie einen Augenblick an, lächelte dann und sagte: »Haben wir nicht einen Stuhl für Elizabeth?«
»Joh, danke«, sagte die Jungfrau und setzte sich auf die Kante eines alten vergoldeten Sessels wie der der Souffleuse in den Kulissen. Sie legte ihre dicken roten Hände auf die Knie und lächelte ununterbrochen, voll Erregung darüber, der Mittelpunkt von so viel Interesse zu sein. Mrs. Oriel sah sie giftig an.
»Weshalb glauben Sie, daß es ihr Mann ist, Elizabeth?« Es war eine leichte Schärfe in seiner Stimme, die früher nicht dagewesen war.
»Ja, ich weiß, daß sie nicht zusammen kommen, aber ich dachte, weil sie Plätze haben, die nicht bei denen der anderen Klubmitglieder sind, daß sie verheiratet sein müßten. Und übrigens bringt ja auch er immer eine Notenmappe mit.«
»Aha. Können Sie sich noch an irgend etwas an diesem Abend erinnern, Elizabeth?«
»Oh, natürlich. Eine ganze Menge. Verstehen Sie, ich habe Mitleid mit ihr gehabt, weil sie so verärgert weg ist, und später am Abend hat sie dann angerufen. Also Mrs. Fennan, meine ich. Sie sagte ihren Namen und erzählte, daß sie früher weggegangen wäre und ihre Notenmappe vergessen hätte. Obendrein hätte sie noch den Garderobenschein verloren und sei in schrecklicher Aufregung. Es klang so, als weinte sie. Ich hörte eine Stimme im Hintergrund, und dann sagte sie, es würde jemand vorbeikommen und die Tasche abholen, wenn es ohne den Schein ginge. Ich sagte, natürlich, und eine halbe Stunde später ist der Mann gekommen. Der ist allerhand Klasse. Groß und blond.«
»So ist das also«, sagte Mendel. »Ich danke Ihnen sehr, Elizabeth. Sie waren mir eine große Hilfe!«
»Joh, das ist fein.« Sie stand auf.
»Übrigens«, sagte Mendel noch, »dieser Mann, der die Tasche geholt hat - war das nicht derselbe Mann, der im Theater immer neben ihr sitzt?«
»Ja natürlich, joh, tut mir leid, das hätte ich gleich sagen sollen.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Ach, nur >bitte sehr, da< und so.«
»Was für eine Stimme hatte er?«
»Ausländisch, wie Mrs. Fennan - sie ist doch eine Ausländerin, nicht wahr? Den Eindruck hatte ich wenigstens - ihre Art und das ganze Getue - ausländisches Temperament.«
Sie lächelte Mendel zu, wartete einen Moment und ging dann hinaus wie Alice im Wunderland.
»Kuh«, bemerkte Mrs. Oriel und sah auf die geschlossene Tür. Dann blickte sie Mendel an. »Also, hoffentlich war das Ihre fünf Pfund wert.«
»Ich glaube schon«, meinte Mendel.
Ein Klub dritter Klasse
Als Mendel eintrat, saß Smiley voll angezogen in einem Armstuhl. Peter Guillam lümmelte genießerisch auf dem Bett und hielt eine blaßgrüne Mappe lässig in der Hand. Der Himmel draußen war dunkel und drohend.
»Der dritte Mörder betritt die Bühne«, sagte Guillam, als Mendel eintrat. Mendel setzte sich auf das Fußende des Bettes und nickte Smiley, der bleich und deprimiert aussah, fröhlich zu.
»Gratuliere. Erfreulich, Sie wieder auf den Beinen zu sehen.«
»Danke. Ich fürchte nur, wenn Sie mich wirklich auf den Beinen sähen, würden Sie mir nicht gratulieren. Ich bin schwach wie eine neugeborene Katze.«
»Wann läßt man Sie denn raus?«
»Weiß nicht, wann sie mich gehen lassen.«
»Haben Sie denn nicht gefragt?«
»Nein.«
»Das sollten Sie doch lieber tun. Ich habe Neuigkeiten für Sie. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber etwas bedeutet es.«
»Na also«, sagte Guillam, »alle haben Neuigkeiten für alle. Fabelhaft. George hat sich gerade meine Familienbilder angesehen.« Er hob die grüne Mappe. »Und er erkennt alle seine alten Busenfreunde.«
Mendel kam sich verspottet und auf die Seite geschoben vor. Smiley tröstete ihn: »Ich werde Ihnen morgen abend alles beim Dinner erzählen. Ich muß morgen früh hier raus, ganz gleich, was sie sagen. Ich glaube, wir haben den Mörder gefunden und noch eine Menge andere Sachen so nebenbei. Also, was haben Sie zu berichten?« In seinen Augen war kein Triumph. Nur Eifer.
Die Mitgliedschaft in dem Klub, zu dem Smiley gehörte, wurde von den Leuten, die die Spalten von »Wer ist wer?« zieren, nicht gerade zu den erstrebenswertesten Errungenschaften gezählt, eher zu den drittklassigen. Er wurde von einem jungen Renegaten des Junior-Carlton-Klubs namens Steed-Asprey gegründet, den der Sekretär dieses Klubs verwarnt hatte, weil er in Hörweite eines südafrikanischen Bischofs gotteslästerliche Reden führte. Er überredete seine ehemalige Zimmerfrau aus Oxford, ihr ruhiges Heim in Hollywell zu verlassen und am Manchester Square zwei Zimmer und einen Keller zu übernehmen, die ihm ein begüterter Verwandter zur Verfügung gestellt hatte. Seinerzeit hatte der Klub vierzig Mitglieder gehabt, die jeder fünfzig Pfund im Jahr zahlten. Es waren noch einunddreißig am Leben. Es gab keine Damen und keine Regeln, keinen Sekretär und keine Bischöfe. Man konnte Sandwiches nehmen und eine Flasche Bier kaufen, auch Sandwiches nehmen und gar nichts dazu kaufen. Solange man einigermaßen nüchtern war und sich nicht in die Angelegenheiten anderer mischte, kümmerte sich kein Mensch darum, was man anhatte, was man machte oder wen man mitbrachte. Mrs. Sturgeon hantierte nicht mehr an der Bar oder brachte einem das Kotelett auf den Tisch im Keller vor dem Kaminfeuer, sondern regierte in heiterer Behaglichkeit über die Tätigkeit von zwei pensionierten Feldwebeln eines kleinen Grenzregiments.
Natürlicherweise hatten die meisten der Mitglieder zur gleichen Zeit wie Smiley in Oxford studiert. Man hatte darin immer übereingestimmt, daß der Klub nur für eine Generation sein sollte, daß er zusammen mit seinen Mitgliedern alt werden und sterben sollte. Der Krieg hatte mit Jebedee und anderen seinen Tribut verlangt, aber nie hatte jemand angeregt, man solle neue Mitglieder aufnehmen. Im übrigen gehörte das Haus jetzt ihnen, für Mrs. Sturgeons Alter hatte man gesorgt, und der Klub war solvent.
Es war an einem Samstagabend, und nur ein halbes Dutzend Mitglieder waren anwesend. Smiley hatte ihr Essen bestellt, und im Keller war für sie ein Tisch gedeckt. In einem gemauerten Kamin brannte ein helles Kohlenfeuer. Sie waren allein und hatten Filet de boeuf und Rotwein. Draußen regnete es ununterbrochen. Alle drei fanden die Welt an diesem Abend ruhig und ganz erträglich, obwohl sie ein merkwürdiges Geschäft zusammengeführt hatte.
»Damit das, was ich Ihnen erzählen will, verständlich sein soll«, begann Smiley endlich, wobei er sich hauptsächlich an Mendel wandte, »muß ich Ihnen zunächst ausführlich von mir erzählen. Ich bin von Beruf Beamter des Geheimen Nachrichtendienstes, wie Sie wissen, schon seit ewigen Zeiten, und bevor noch das Tauziehen um die Macht mit Whitehall begann. Damals hatten wir zuwenig Leute und waren schlecht bezahlt. Nach der üblichen Lehrzeit und der Bewährungszeit in Südamerika und Mitteleuropa bekam ich eine Stelle als Lektor an einer Universität in Deutschland und sollte begabte junge Deutsche ausfindig machen, die als potentielle Agenten in Frage kamen.« Er hielt inne, lächelte Mendel zu und sagte: »Sie entschuldigen den Fachausdruck.« Mendel nickte feierlich, und Smiley fuhr fort. Es war ihm klar, daß er etwas hochtrabend sprach, und er wußte nicht, wie er dem ausweichen sollte.
»Es war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, damals eine schreckliche Zeit in Deutschland, wo eine wahnsinnige Intoleranz losgebrochen war. Es wäre Irrsinn gewesen, sich persönlich jemandem zu nähern. Meine einzige Chance war, ein so unbeschriebenes Blatt zu sein, wie ich konnte, politisch und gesellschaftlich farblos, und die Kandidaten, die sich für eine Anwerbung eigneten, durch andere weiterleiten zu lassen. Ich versuchte, einige von ihnen für kurze Zeit auf Studentenreisen nach England zu bringen. Ich legte großen Wert darauf, überhaupt keinen Kontakt mit dem Departement zu haben, wenn ich nach Hause kam, denn damals hatten wir überhaupt keine Ahnung von der Schlagkraft der deutschen Gegenspionage. Ich erfuhr nie, an wen man herantrat, und das war natürlich viel besser so. Für den Fall, daß ich hochging, meine ich.
Meine Geschichte beginnt eigentlich im Jahre 1938. Ich war allein in meiner Wohnung. Es war ein warmer und friedlicher Abend nach einem herrlichen Sommertag. Als hätte man vom Faschismus noch nie etwas gehört. Ich arbeitete in Hemdsärmeln an meinem Schreibtisch vor dem Fenster - nicht sehr intensiv, weil es ein so schöner Abend war.«
Er machte eine Pause, aus irgendeinem Grunde aus dem Konzept geraten, und fingerte an seinem Portweinglas herum. Ganz oben auf seinen Wangen erschienen zwei rote Flecken. Er fühlte sich leicht beschwipst, obwohl er sehr wenig getrunken hatte.
»Also, um es zu wiederholen«, sagte er und kam sich idiotisch vor. »Entschuldigen Sie, ich drücke mich wohl etwas unklar aus . . . Also, auf jeden Fall, wie ich so dasaß, klopfte es an die Tür, und ein junger Student kam herein. Er war neunzehn, wie ich später hörte, sah aber jünger aus. Sein Name war Dieter Frey. Er war einer meiner Schüler, ein intelligenter Junge, und er sah bemerkenswert gut aus.« Smiley machte wieder eine Pause und starrte vor sich hin.
Vielleicht war es seine Krankheit, seine Schwäche, daß die Erinnerung ihn so stark überwältigte.
»Dieter war ein hübscher Junge mit einer hohen Stirn und einem nicht zu bändigenden schwarzen Haarschopf. Der untere Teil seines Körpers war krank, ich glaube, durch Kinderlähmung. Er benützte einen Stock und stützte sich schwer darauf, wenn er ging. Naturgemäß gab er an einer so kleinen Universität eine romantische Figur ab, man hielt ihn für eine Art Byron oder so etwas Ähnliches. Ich meinerseits konnte allerdings nie etwas Romantisches an ihm finden. Die Deutschen haben eine Leidenschaft für die Entdeckung junger Genies, wissen Sie, von Herder bis Stefan George, man hat sie praktisch von der Wiege an abgestempelt. Aber Dieter konnte man nicht zur Hoffnung der Nation erklären. In ihm war ein wilder Unabhängigkeitsdrang, eine Rücksichtslosigkeit, die so stark war, daß sie auch den überzeugtesten Förderer abgeschreckt hätte. Diese ablehnende Verteidigungsbereitschaft an Dieter kam nicht nur von seinem Leiden, sondern auch von seiner Abstammung. Er war nämlich Jude. Wie in aller Welt er es fertigbrachte, sich an der Universität zu behaupten, habe ich nie verstanden. Möglicherweise wußten sie nicht, daß er Jude war. Seine Schönheit konnte vielleicht ebensogut aus dem Süden stammen, nehme ich an, aus Italien etwa. Aber ich verstehe es eigentlich nicht ganz, denn für mich war er ganz offensichtlich ein Jude.
Dieter war ein Sozialist. Er machte kein Geheimnis aus dieser seiner Einstellung, nicht einmal in jenen Tagen. Ich überlegte eine Zeitlang, ob ich ihn nicht zur Anwerbung in Betracht ziehen sollte, aber es kam mir sinnlos vor. Er zu flatterhaft, reagierte zu rasch, war zu stark gefärbt und zu eitel. In allen Vereinen-Diskussionsklubs, politischen und literarischen Vereinen und so weiter - gab er den Ton an. In allen Sportvereinen hatte er Ehrenstellungen. Er brachte es fertig, an einer Universität nicht zu trinken, an der man seine Männlichkeit dadurch bewies, daß man die ersten beiden Semester fast ununterbrochen betrunken war.
Das war also Dieter: ein großer, hübscher, intelligenter Krüppel, das Idol seiner Generation - ein Jude. Und das war der Mann, der mich an jenem Sommerabend besuchte.
Ich bat ihn, Platz zu nehmen, und bot ihm etwas zum Trinken an. Das letztere lehnte er ab, deshalb machte ich Kaffee, auf so einem Gaskocher, glaube ich. Wir sprachen flüchtig über meine letzte Vorlesung über Keats. Ich hatte mich darüber beklagt, daß deutsche kritische Methoden auf die englische Literatur angewendet würden, und das hatte zu einer heftigen Diskussion geführt - wie üblich - über die Nazi-Interpretation der »entarteten Kunst«. Dieter brachte das Ganze wieder aufs Tableau, erklärte immer unverblümter, daß er das moderne Deutschland ablehne, und ging auch schließlich auf den Nazismus selbst los. Natürlich war ich auf der Hut - ich glaube, damals war ich nicht so ein Narr wie heute. Schließlich fragte er mich geradeheraus, was ich von den Nazis halte. Ich erklärte ziemlich deutlich, daß ich nicht geneigt sei, meine Gastgeber zu kritisieren, und daß ich überhaupt der Ansicht sei, Politik wäre keine besondere Freude. Seine Antwort werde ich nie vergessen. Er war außer sich, erhob sich mühsam und schrie mir zu: >Von Freude ist nicht die Rede!<« Smiley brach ab und sah über den Tisch hinüber Guillam an: »Tut mir leid, Peter, ich bin wohl ziemlich langatmig.«
»Aber Unsinn, alter Junge. Du erzählst die Geschichte auf deine eigene Weise, und damit basta.« Mendel brummte zustimmend. Er saß ziemlich steif da und hatte beide Hände vor sich auf den Tisch gelegt. Außer der hellen Glut des Feuers war jetzt kein Licht im Zimmer, und die Flammen warfen riesige Schatten auf die grob verputzte Wand hinter ihnen. Die Karaffe mit dem Portwein war zu zwei Dritteln geleert.
Smiley schenkte sich ein und fuhr fort: »Er ging wütend auf mich los. Er konnte nicht verstehen, wie ich einerseits einen unabhängigen Maßstab an die Kunstkritik legen und andererseits der Politik gegenüber gleichgültig sein konnte, wie ich über die Freiheit der Kunst daherreden konnte, wenn ein Drittel Europas in Ketten lag. Bedeutete es mir nichts, daß die Kultur der Gegenwart verblutete? Was war so geheiligt am neunzehnten Jahrhundert, daß ich das zwanzigste wegwerfen konnte? Er sei zu mir gekommen, weil ihm mein Seminar gefalle und er mich für einen aufgeklärten Menschen gehalten habe, aber jetzt sei ihm klar geworden, daß ich ärger sei als alle anderen.
Ich ließ ihn sich austoben. Was sonst hätte ich tun können? Er war ja auf jeden Fall schon von Haus aus verdächtig. Ein rebellischer Jude mit einem Platz an der Universität und rätselhafterweise noch immer auf freiem Fuß. Aber ich beobachtete ihn. Das Semester war schon fast zu Ende, und die großen Ferien standen vor der Tür. Bei der Semesterschluß-Diskussion, drei Tage später, war er fürchterlich offenherzig. Er jagte den anderen direkt eine panische Angst ein, so daß sie schwiegen und sich dachten, das könne nicht gut ausgehen. Nach Semesterschluß verschwand Dieter, ohne mir Lebewohl zu sagen. Ich dachte nicht, daß ich ihn jemals wiedersehen würde.
Es dauerte ungefähr sechs Monate, bevor er mir wieder begegnete. Ich hatte Freunde besucht, in der Nähe von Dresden, wo Dieter zu Hause war, und kam eine halbe Stunde zu früh auf den Bahnhof. Statt auf dem Bahnsteig herumzustehen, beschloß ich, einen kleinen Bogen zu schlagen. Ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt stand ein großes, ziemlich häßliches altes Haus. Vorne war ein kleiner Vorhof mit hohen Eisengittern und einem schmiedeeisernen Tor. Man hatte es offenbar als behelfsmäßiges Gefängnis hergerichtet. Eine Gruppe von geschorenen Gefangenen, Männern und Frauen, wurde in dem Hof im Kreis zu ihrem Spaziergang herumgetrieben. In der Mitte des Kreises standen zwei Wächter mit Maschinenpistolen. Eine bekannte Gestalt, größer als die anderen, die hinkte und Mühe hatte, mit ihnen mitzukommen, fiel mir ins Auge. Es war Dieter. Sie hatten ihm den Stock weggenommen.
Als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, daß die Gestapo den populärsten Studenten der Universität natürlich nicht verhaftet hatte, solange das Semester lief. Ich ließ meinen Zug Zug sein, ging in die Stadt zurück und suchte seine Eltern im Telefonbuch. Ich wußte, daß sein Vater Arzt war, das war also nicht schwer. Ich suchte die Adresse auf, fand aber nur seine Mutter vor. Sein Vater war bereits im Konzentrationslager zugrunde gegangen. Sie lehnte es ab, über Dieter zu sprechen, aber es schien, als ob er nicht in ein Gefängnis für Juden, sondern in ein gewöhnliches gekommen wäre, und offenbar nur für eine gewisse >Korrektionszeit<. Sie glaubte, daß er in etwa drei Monaten wiederkommen würde. Ich trug ihr auf, ihm zu sagen, daß ich noch ein paar Bücher von ihm hätte, die ich zurückgeben würde, wenn er mich besuchen wolle.
Ich fürchte, daß mich die Ereignisse des Jahres 1939 sehr in Anspruch nahmen, so daß ich nicht glaube, Dieter in diesem Jahr noch einen weiteren Gedanken geschenkt zu haben. Bald nachdem ich von Dresden zurückgekommen war, beorderte mich das Department nach England zurück. Ich packte und reiste innerhalb von achtundvierzig Stunden ab. In London war die Hölle los. Man gab mir einen neuen Auftrag, der genaue Vorbereitung, intensives Studium und Training erforderte. Ich sollte sofort nach Europa zurückgehen, um fast nicht erprobte Agenten in Deutschland zu aktivieren, die man für so einen Notfall angeworben hatte. Ich begann, die vielen komischen Namen und Adressen auswendig zu lernen. Meine Reaktion, als ich Dieter unter ihnen fand, können Sie sich wohl vorstellen.
Als ich sein Dossier las, entdeckte ich, daß er sich mehr oder weniger selbst gestellt hatte, indem er im Konsulat in Dresden erschien und Aufklärung darüber verlangte, warum niemand gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland auch nur einen Finger rührte.« Smiley machte eine Pause und lachte in sich hinein. »Dieter hatte eine große Begabung dafür, Leute in Aktion zu setzen.« Er warf Mendel und Guillam einen Blick zu. Beide sahen ihn aufmerksam an.
»Ich glaube, daß meine erste Reaktion Ärger war. Der Junge war gerade vor meiner Nase herumspaziert, und ich hatte ihn nicht für geeignet gehalten. Was für einen Blödsinn hatte da irgend so ein Esel in Dresden gemacht? Und dann war ich erschrocken, so einen Hitzkopf unter meinen Leuten zu haben, dessen impulsives Temperament mein Leben und das anderer kosten konnte. Trotz der leichten Veränderungen meines Äußeren und des neuen Decknamens, unter dem ich arbeitete, würde ich mich Dieter gegenüber einfach nur als George Smiley von der Universität zu erkennen geben müssen, und er konnte mich haushoch auffliegen lassen. Es schien mir ein unglücklicher Anfang zu sein, und ich war schon halb entschlossen, mein Netz ohne Dieter aufzubauen. Ich irrte mich aber. Er war ein großartiger Agent.
Er unterdrückte seine Hitzköpfigkeit nicht, sondern verwendete sie in sehr geschickter Weise zu einem doppelten Bluff. Wegen seiner Invalidität kam er für den Dienst mit der Waffe nicht in Betracht und fand einen Büroposten bei der Bahn. In kürzester Zeit hatte er sich in eine wirklich verantwortliche Stellung hinaufgearbeitet, und die Menge von Informationen, die er lieferte, war einfach phantastisch. Einzelheiten über Truppenverschiebungen und Munitionstransporte, ihr Ziel und das Datum, wann sie durchkamen. Später berichtete er über den Erfolg unserer Bombenangriffe und bezeichnete kriegswichtige Ziele. Er war ein brillanter Organisator, und das, glaube ich, hat ihn gerettet. Er hat bei der Eisenbahn eine erstklassige Arbeit geleistet, machte sich unentbehrlich und schuftete Tag und Nacht. Er wurde fast unangreifbar. Sie haben ihm sogar eine Zivilauszeichnung für besondere Verdienste gegeben, und ich glaube, daß die Gestapo sein Dossier einfach absichtlich verschwinden ließ.
Dieters Theorie stützte sich ganz auf Faustsche Gedanken: Denken allein ist wertlos. Man muß handeln, damit das Denken wirksam wird. Er sagte immer, daß der größte Fehler, den der Mensch je gemacht hätte, der sei, daß er zwischen Geist und Körper unterschied. Eine Ordnung, die nicht beachtet wird, existiert nicht. Er zitierte gerne Kleist: >Wenn alle Augen aus grünem Glas wären und alles, was weiß zu sein scheint, in Wirklichkeit grün wäre, dann wäre man so klug wie vorher<, oder so ähnlich.
Wie gesagt, Dieter war ein hervorragender Agent. Er brachte es sogar fertig, daß gewisse Frachten in Nächten mit guten Flugbedingungen auf den Weg gebracht wurden, so daß unsere Bomber ein leichtes Spiel hatten. Er hatte eine Menge eigener Tricks - war ein Genie für das Drum und Dran der Spionage. Es war absurd, anzunehmen, daß das von Dauer sein konnte, aber die Erfolge unserer Bombardierungen waren häufig so groß und weit verstreut, daß es kindisch gewesen wäre, sie auf den Verrat einer einzigen Person zurückzuführen - ganz zu schweigen von einer Person, die so offensichtlich im Scheinwerferlicht stand wie Dieter.
Wo er seine Hand im Spiel hatte, war meine Arbeit leicht. Er reiste auch eine Menge, hatte einen besonderen Paß, mit dem er das konnte. Die Weiterleitung der Nachrichten war ein Kinderspiel, verglichen mit der Situation bei anderen Agenten. Gelegentlich trafen wir uns sogar persönlich und redeten miteinander in irgendeinem Cafe. Manchmal nahm er mich in einem Wagen des Ministeriums mit, und wir fuhren hundert oder hundertfünfzig Kilometer auf einer Autobahn, als hätte er mich aus Gefälligkeit mitgenommen. Aber häufiger pflegte er die Reise mit meinem Zug zu machen, mit mir auf dem Gang die Aktenmappen auszutauschen oder mit Paketen ins Theater zu kommen und mir den Garderobenzettel zu geben. Er gab mir selten wirkliche Berichte, sondern Durchschläge von Transportaufträgen. Eine Menge machte seine Sekretärin. Er ließ sie eine besondere Sammlung von Durchschlägen anlegen, die er dann alle drei Monate auf die Weise »vernichtete«, daß er sie in der Mittagspause in seine Aktentasche steckte.
Also, im Jahre 1943 wurde ich dann zurückbeordert. Die Tarnung mit den Geschäftsreisen war ziemlich fadenscheinig geworden, glaube ich, und ich hatte doch schon einiges abbekommen.« Er machte eine Pause und nahm sich aus Guillams Etui eine Zigarette.
»Aber wir wollen Dieter nicht aus den Augen verlieren«, fuhr er fort. »Er war mein bester Agent, aber nicht mein einziger. Die anderen machten mir viel Kopfzerbrechen. Mit ihm zu arbeiten war im Vergleich dazu ein reines Vergnügen. Als der Krieg aus war, versuchte ich, von meinem Nachfolger zu erfahren, was aus Dieter und den anderen geworden war. Einige waren nach Australien und Kanada ausgewandert, andere wieder gingen zurück zu dem, was von ihren Heimatstädten übriggeblieben war. Dieter zögerte, vermute ich. In Dresden waren ja die Russen, und er wird wohl seine Zweifel gehabt haben. Schließlich fuhr er doch hin - eigentlich mußte er, wegen seiner Mutter. Die Amerikaner haßte er sowieso. Und dann war er ja Sozialist.
Später hörte ich, daß er dort eine Karriere gemacht hat. Die administrative Erfahrung, die er sich während des Krieges erworben hatte, verschaffte ihm irgendein Amt bei der Regierung der neuen Republik. Ich vermute, daß ihm sein Ruf als Revolutionär und die Leiden seiner Familie den Weg geebnet haben. Er muß eine ganz schöne Stellung erreicht haben.«
»Wieso?« fragte Mendel.
»Er war bis vor einem Monat hier in England und hat die Stahl-Mission geleitet.«
»Das ist noch nicht alles«, unterbrach ihn Guillam. »Falls Sie glauben sollten, Ihr Kelch sei voll: Ich habe Ihnen einen zweiten Besuch in Weybridge erspart, Mendel, und heute morgen Elizabeth Pidgeon besucht. Es war Georges Idee.« Er drehte sich Smiley zu: »Sie ist so eine Art von Moby Dick - etwas wie ein weißer männerfressender Wal.«
»Und was war?« fragte Mendel.
»Ich habe ihr ein Bild von diesem jungen Diplomaten gezeigt, Mundt heißt er, den sie dort im Schlepptau hatten und der die Brocken auflesen sollte. Elizabeth erkannte ihn auf den ersten Blick als den netten jungen Mann, der die Notenmappe geholt hatte. Ist das nicht lustig?«
»Aber . . .«
»Ich weiß schon, was Sie fragen wollen, Sie kluger Knabe. Sie wollen fragen, ob auch George ihn erkannt hat. Ja, das hat er. Es ist derselbe Bursche, der neulich versucht hat, ihn in sein eigenes Haus zu locken. Kommt offenbar ziemlich viel herum.«
Mendel fuhr nach Mitcham. Smiley war todmüde. Es regnete wieder und war kalt. Smiley hüllte sich fest in seinen Wintermantel, und trotz seiner Erschöpfung sah er mit Vergnügen auf das geschäftige Treiben des Londoner Nachtlebens hinaus. Er war immer gerne gereist. Auch jetzt noch würde er, wenn er Gelegenheit hätte, Frankreich lieber mit dem Zug durchqueren als fliegen. Er reagierte noch immer auf die geheimnisvollen Geräusche einer Nachtreise durch Europa, auf die merkwürdige Melodie von Mißtönen und die französisch sprechenden Stimmen, die einen plötzlich aus englischen Träumen rissen. Ann hatte es auch gern gehabt und war zweimal mit ihm Überland gefahren, um die zweifelhaften Freuden einer solchen unbequemen Reise mit ihm zu teilen.
Als sie nach Hause kamen, ging Smiley sofort ins Bett, während Mendel Tee machte, den sie dann in Smileys Schlafzimmer tranken.
»Was tun wir jetzt?« fragte Mendel.
»Ich glaube, ich sollte morgen vielleicht nach Walliston hinaussehen.«
»Sie sollten lieber einen Tag im Bett bleiben. Was wollen Sie denn dort?«
»Elsa Fennan besuchen.«
»Allein sind Sie auf keinen Fall sicher. Sie sollten mich lieber mitnehmen. Ich werde im Wagen sitzen, während Sie mit ihr reden. Sie ist eine Jüdin, nicht wahr?«
Smiley nickte.
»Mein Daddy war auch Jude. Aber ohne so viel verdammtes Getue.«
Ein Traum ist zu verkaufen
Sie öffnete die Tür und sah ihn einen Augenblick schweigend an.
»Sie hätten mich verständigen sollen, daß Sie kommen werden«, sagte sie.
»Ich habe es für sicherer gehalten, das nicht zu tun.«
Wieder war sie einen Moment still. Endlich sagte sie: »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen.« Es schien sie eine ziemliche Anstrengung zu kosten.
»Darf ich hineinkommen?« sagte Smiley. »Wir haben nicht viel Zeit.« Sie sah alt und müde aus oder vielleicht, besser gesagt, weniger elastisch. Sie führte ihn in den Salon und deutete resigniert auf einen Stuhl.
Smiley bot ihr eine Zigarette an und nahm selber eine. Sie stand am Fenster. Als er sie ansah und ihren schnellen Atem und die fiebrigen Augen beobachtete, wurde ihm klar, daß sie die Kraft zur Selbstverteidigung fast verloren hatte.
Als er sprach, war seine Stimme gütig und unaufdringlich. Elsa Fennan mußte sie wie eine Stimme vorkommen, nach der sie sich gesehnt hatte. Eine unwiderstehliche Stimme, die Kraft, Trost, Mitgefühl und Sicherheit verhieß. Langsam bewegte sie sich vom Fenster weg, und ihre rechte Hand, die sie zuerst auf das Fensterbrett gestützt hatte, rutschte, ohne daß sie es gewahr wurde, herunter und fiel schließlich wie in einer Geste der Ergebung an ihre Seite. Sie nahm ihm gegenüber Platz, und ihre Augen hingen in völliger Hingabe an ihm, wie die Augen einer Liebenden.
»Sie müssen schrecklich einsam gewesen sein«, sagte er. »Niemand kann es auf die Dauer alleine aushalten. Mut müssen wir auch haben, und es ist so unendlich schwer, allein mutig zu sein. Das verstehen die Leute nie, nicht wahr? Sie verstehen nie, was sie einen kosten, die gemeinen lügnerischen und betrügerischen Kniffe, die Isolation von anständigen Menschen. Sie glauben, man kann dauernd mit ihrem Treibstoff fahren - mit wehender Fahne und Musik. Aber wenn man allein ist, braucht man einen anderen Treibstoff, nicht wahr? Man wird gezwungen zu hassen, aber es braucht viel Kraft, ununterbrochen zu hassen. Und was man lieben muß, ist so weit weg, so verschwommen, wenn man nicht daran teilhat.« Er machte eine Pause. Gleich, dachte er, gleich wirst du Resonanz finden. Er betete inbrünstig, daß sie auf ihn eingehen, seinen Trost akzeptieren sollte. Gleich würde sie zusammenbrechen.
»Ich habe gesagt, daß uns nicht viel Zeit zur Verfügung steht. Ist Ihnen klar, was ich meine?«
Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah auf sie herunter. Er sah die dunklen Haarwurzeln ihres hellen Haares und konnte nicht verstehen, warum sie es färbte. Kein Zeichen von ihr verriet, daß sie seine Frage gehört hatte.
»Als ich Sie damals an dem Morgen vor einem Monat verließ, fuhr ich nach London nach Hause. Ein Mann versuchte, mich umzubringen. Am Abend desselben Tages gelang es ihm um ein Haar - er hat mich drei- oder viermal auf den Kopf geschlagen. Ich bin gerade aus dem Spital entlassen worden. Ich habe Glück gehabt. Dann ist da der Garagenbesitzer, von dem er den Wagen gemietet hatte. Vor nicht allzulanger Zeit hat die Wasserschutzpolizei seine Leiche aus der Themse gefischt. Zeichen von Gewalt hat man nicht gefunden, er war nur voll Whisky. Man versteht es nicht, denn seit Jahren war er nie in die Nähe des Flusses gekommen. Aber wir haben es eben mit einem fachkundigen Mann zu tun, nicht wahr. Mit einem erfahrenen Mörder. Es sieht so aus, als wolle er jeden beiseite schaffen, der ihn in Verbindung mit Samuel Fennan bringen kann. Oder seiner Frau, natürlich. Da ist dann weiter dieses blonde Mädchen aus dem Theater . . .«
»Was sagen Sie da?« flüsterte sie. »Was wollen Sie mir da einreden?«
Smiley fühlte plötzlich den Wunsch, ihr weh zu tun, um ihren letzten Willen zu brechen, sie als Gegner völlig auszuschalten. Denn schon allzulange hatte sie ihn, als er hilflos im Bett lag, wie ein Gespenst verfolgt, war ein Rätsel und eine Drohung gewesen.
»Was für ein Spiel haben Sie eigentlich gespielt, Sie beide? Haben Sie gedacht, daß Sie mit so einer Macht, wie die sie haben, flirten können, ein bißchen, aber nicht alles geben können? Bilden Sie sich etwa ein, daß Sie den Tanz beenden können - oder denen vielleicht so viel Macht einräumen, wie Ihnen selbst paßt? Was für Hirngespinsten haben Sie eigentlich nachgejagt, Mrs. Fennan, Träumen, denen Hand und Fuß gefehlt haben?«
Sie verbarg ihr Gesicht in beiden Händen, und er sah, wie ihr die Tränen zwischen den Fingern herunterliefen. Sie schluchzte stoßweise, während ihr Körper konvulsivisch zuckte, und ihre Worte kamen langsam und gepreßt.
»Nein, keine Träume. Ich hatte keinen Traum außer ihm. Ja er, er hatte einen Traum . . . einen einzigen großen Traum.« Sie weinte wieder hilflos, und Smiley wartete halb triumphierend, halb beschämt darauf, daß sie weitersprechen würde. Plötzlich hob sie ihren Kopf und sah ihn an, während die Tränen ihr noch immer über die Wangen liefen. »Sehen Sie mich an«, sagte sie. »Was für einen Traum hat man mir gelassen? Ich habe von langem goldenem Haar geträumt - und man hat mir den Kopf geschoren, ich träumte von einem schönen Körper - und man hat ihn durch Hunger verunstaltet. Ich habe erlebt, was menschliche Wesen wirklich sind, wie konnte ich da an eine Formel für menschliche Wesen glauben. Ich habe es ihm gesagt, tausendmal habe ich ihm gesagt: >Mach nur keine Gesetze, keine ausgeklügelten Theorien, keine Werturteile, und die Menschen werden vielleicht lieben, aber gib ihnen eine einzige Theorie, ein einziges Schlagwort, und das alte Spiel beginnt von neuem.< Das habe ich ihm gesagt. Wir haben oft nächtelang miteinander geredet. Aber nein, der kleine Junge mußte einen Traum haben, und wenn eine neue Welt aufgebaut werden sollte, dann mußte es Samuel Fennan sein, der sie baute. Ich sagte zu ihm: >Hör mir doch zu<, habe ich gesagt, >sie haben dir alles gegeben, was du hast, ein Haus, Geld und Vertrauen. Warum willst du ihnen das antun?< Und er hat mir gesagt: >Ich tue es eben gerade für sie.
Ich bin der Arzt, und eines Tages werden sie verstehen.« Er war ein Kind, Mr. Smiley, sie haben ihn wie ein Kind geführt.«
Er wagte es nicht, zu sprechen.
»Vor fünf Jahren hat er diesen Dieter kennengelernt. In einer Skihütte in der Nähe von Garmisch. Freitag sagte uns später, daß Dieter alles ganz genauso geplant hatte - Dieter konnte ja wegen seines Beins gar nicht skilaufen. Damals schien überhaupt nichts wirklich zu sein. Freitag war kein wirklicher Name. Fennan hat ihn Freitag getauft, so wie in Robinson Crusoe der befreite Gefangene Freitag hieß. Dieter fand das so komisch, und später redeten wir nie von Dieter, sondern immer von Robinson und Freitag.« Sie hörte auf zu reden und sah ihn mit einem sehr schwachen Lächeln an. »Es tut mir leid«, sagte sie, »aber ich fürchte, daß ich nicht sehr zusammenhängend erzähle.«
»Ich verstehe es schon«, sagte Smiley.
»Dieses Mädchen - was haben Sie über dieses Mädchen gesagt?«
»Sie lebt, machen Sie sich keine Sorgen. Erzählen Sie ruhig weiter.«
»Fennan hat Sie gern gemocht, verstehen Sie. Freitag hat versucht, Sie umzubringen . . . warum?«
»Weil ich zurückgekommen bin, nehme ich an, und Sie wegen des Anrufes um halb neun ausgefragt habe. Davon haben Sie Freitag doch erzählt, nicht wahr?«
»O Gott«, sagte sie und preßte die Finger an den Mund.
»Sie haben ihn doch wahrscheinlich sofort, als ich weg war, angerufen.«
»Ja, ich bekam Angst. Ich wollte ihn warnen, damit er fortgeht, ihn und Dieter, und nie mehr zurückkommt, denn ich wußte, daß Sie schließlich auf alles kommen würden. Wenn nicht heute, dann später, aber ich war sicher, daß Sie am Ende alles aufdecken würden. Warum konnten sie mich nie in Ruhe lassen? Sie haben Angst vor mir gehabt, denn sie haben gewußt, daß ich keine Träume habe, daß ich nur Samuel wollte, nur wollte, daß er in Sicherheit ist, daß ich nur ihn lieben und nur für ihn sorgen wollte.«
In Smileys Kopf pochte und tobte es. »Also, Sie haben ihn gleich angerufen«, sagte er. »Sie haben zuerst die Primrose-Nummer probiert und sind nicht durchgekommen.«
»Ja«, sagte sie leise, »aber es sind beide Primrose-Nummern.«
»Dann haben Sie also die andere Nummer, die zweite Möglichkeit, angerufen . . .«
Plötzlich erschöpft und schwach, wankte sie zum Fenster zurück. Sie kam ihm jetzt weniger unglücklich vor - nach dem Sturm war sie nachdenklich und irgendwie zufrieden.
»Ja, Alternativen waren Freitags starke Seite.«
»Was war das für eine Nummer, die andere?« bohrte Smiley. Er beobachtete sie gespannt, wie sie zum Fenster in den dunklen Garten hinausstarrte.
»Wozu wollen Sie das wissen?«
Er stand auf, trat neben sie ans Fenster und betrachtete ihr Profil. Seine Stimme war mit einemmal barsch und energisch.
»Ich habe gesagt, daß dem Mädel nichts passiert ist. Auch Sie und ich sind noch am Leben. Aber bilden Sie sich nicht ein, daß es dabei bleiben wird.«
Sie drehte sich mit Angst in den Augen zu ihm um, blickte ihn einen Moment an und nickte dann. Smiley nahm sie am Arm und führte sie zu ihrem Stuhl zurück. Er sollte ihr etwas Heißes zum Trinken machen oder irgend etwas anderes. Sie nahm mechanisch Platz, gleichgültig und unbeteiligt, als wäre sie geistesgestört.
»Die andere Nummer war 9747.«
»Und die Adresse - hatten Sie eine Adresse?«
»Nein, Adresse keine. Nur die Telefonnummer und Kniffe beim Telefonieren. Keine Adresse«, wiederholte sie mit unnatürlicher Betonung, so daß Smiley sie mißtrauisch ansah. Plötzlich kam ihm die Erinnerung an Dieters Geschicklichkeit bei der Schaffung von Verständigungsmöglichkeiten.
»Freitag hat Sie an dem Abend, an dem Fennan gestorben ist, nicht getroffen. Das stimmt doch. Er ist im Theater nicht erschienen.«
»Nein.«
»Das war das erste Mal, daß er nicht gekommen ist, nicht wahr? Sie haben eine panische Angst bekommen und sind früher weg.«
»Nein ... ja ja, ich hatte eine panische Angst.«
»Nein, eben nicht! Sie sind früher weg, weil Sie mußten. So war es nämlich besprochen. Warum mußten Sie früher gehen? Aus welchem Grunde?«
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
»Kommen Sie zu sich!« schrie Smiley. »Glauben Sie noch immer, die Situation im Griff zu haben, die Sie geschaffen haben? Freitag wird Sie ermorden, das Mädchen ermorden, morden, morden, morden. Wen wollen Sie schützen, das Mädchen oder einen Mörder?«
Sie weinte und gab keine Antwort. Smiley neigte sich über sie. Er schrie noch immer.
»Ich werde Ihnen gleich sagen, warum Sie früher weggegangen sind. Ich will Ihnen verraten, was ich mir denke. Deshalb, weil Sie noch die letzte Post in Weybridge erwischen wollten. Er war nicht gekommen, Sie hatten die Garderobenzettel nicht austauschen können, nicht wahr, deshalb sind Sie den Instruktionen gefolgt und haben ihm Ihren Schein mit der Post geschickt. Sie haben eben doch eine Adresse, nicht aufgeschrieben, aber auswendig gelernt, und zwar auf ewige Zeiten auswendig gelernt: >Wenn irgend etwas schiefgeht, wenn ich nicht komme, dann ist das die Adresse.« Hat er das nicht gesagt? Eine Adresse, von der man nie sprechen durfte, die normalerweise nie benützt werden sollte, eine Adresse, die man vergessen sollte und doch eisern im Gedächtnis behalten. Stimmt das? Reden Sie!«
Sie erhob sich, wendete ihren Blick von ihm, ging zum Schreibtisch und nahm ein Stück Papier und einen Bleistift. Sie weinte heftig. Quälend langsam schrieb sie die Adresse. Ihre Hand stockte und hielt zwischen den einzelnen Worten fast still.
Er nahm ihr den Zettel aus der Hand, faltete ihn in der Mitte zusammen und legte ihn in seine Brieftasche.
Jetzt konnte er ihr Tee machen.
Sie sah aus wie ein Kind, das man aus der See gerettet hatte. Sie saß auf der Kante des Sofas, hielt die Teetasse fest zwischen ihren zarten Händen und drückte sie gegen ihren Körper. Ihre mageren Schultern waren nach vorne gesunken, die Beine und Fußknöchel hatte sie fest zusammengepreßt. Smiley sah sie an und verstand, daß er etwas in ihr zerbrochen hatte, das er nie hätte berühren dürfen, weil es so zerbrechlich war. Er kam sich wie ein gemeiner, grober Klotz vor, und daß er ihr Tee gemacht hatte, schien ihm nur ein nichtiger, vergeblicher Versuch zu sein, seine täppische Roheit wiedergutzumachen.
Er wußte nicht, was er ihr sagen sollte. Nach einer Weile meinte sie: »Er hat Sie gemocht. Wirklich, er konnte Sie gut leiden ... er hat gesagt, Sie sind ein gescheiter kleiner Mann. Es war ziemlich selten, daß Samuel jemanden gescheit nannte.« Sie schüttelte langsam den Kopf. Vielleicht war es die Erinnerung, daß sie lächelte: »Er hat immer gesagt, es gibt zweierlei Kräfte in der Welt, die positiven und die negativen. >Was soll ich also tun<, hat er mich immer gefragt, »zusehen, wie sie ihre eigene Ernte vernichten, nur deshalb, weil sie mir Brot geben? Produktivität, Fortschritt, Macht und die ganze Zukunft der Menschheit warten an ihrer Tür. Soll ich sie nicht hereinlassen?« Und ich habe ihm gesagt: »Aber, Samuel, vielleicht sind die Leute ganz glücklich ohne das alles.« Aber, verstehen Sie, er hat nicht so gedacht über die Menschen.
Aber ich konnte ihn nicht stoppen. Wissen Sie, was das Merkwürdigste an Fennan war? Trotz allem Nachdenken und Reden war er schon vor langer Zeit zu dem Entschluß gekommen, was er tun würde. Alles übrige war Poesie. Er war nicht eingeordnet, das habe ich ihm immer gesagt. . .«
». . . und doch haben Sie ihm geholfen«, sagte Smiley.
»Ja, ich habe ihm geholfen. Er hat Hilfe gebraucht, und ich habe ihm geholfen. Er war mein Leben.«
»Ja.«
»Das war ein Fehler. Er war wie ein kleiner Junge, verstehen Sie? Wie ein Kind hat er immer alles vergessen. Und so unrealistisch. Er hatte den Entschluß gefaßt, es zu tun, und er hat es so schlecht getan. Er hat nicht so darüber gedacht wie Sie oder ich. So hat er einfach nicht denken können. Es war seine Aufgabe, und das war alles.
Es hat so simpel begonnen. Eines Abends hat er den Durchschlag eines Telegramms mit nach Hause gebracht und mir gezeigt. Er sagte: >Ich glaube, das sollte man Dieter zeigen« - das war das Ganze. Zuerst konnte ich es nicht glauben - ich meine, daß er ein Spion war. Denn das war er doch, nicht? Langsam ging mir ein Licht auf. Sie fingen an, bestimmte Sachen zu verlangen. Die Notenmappe, die ich von Freitag bekam, begann Aufträge zu enthalten, und manchmal Geld. Ich habe zu ihm gesagt: >Schau, was sie dir da schicken - ist dir das wirklich recht?< Wir wußten nicht, was wir mit dem Geld machen sollten. Wir haben es dann hauptsächlich verschenkt, ich weiß nicht, warum. Dieter war damals im Winter sehr bös, wie ich es ihm erzählt habe.«
»In welchem Winter war das?« erkundigte sich Smiley.
»Im zweiten Winter, den wir mit Dieter verbracht haben - 1956 in Murren. Das erste Mal haben wir ihn 1955 im Januar getroffen. Damals hat das alles angefangen. Und ich will Ihnen etwas sagen: Ungarn hat Samuel nichts ausgemacht, nicht das geringste. Dieter hatte damals Angst seinetwegen, verstehen Sie, das hat mir Freitag erzählt. Als Fennan mir damals im November die Sachen gab, die ich nach Weybridge bringen sollte, bin ich wütend geworden. Ich habe ihn angeschrien: »Siehst du nicht, daß es dasselbe ist? Dieselben Kanonen, dieselben Kinder, die in den Straßen sterben? Nur der Traum ist ein anderer, das Blut hat noch immer dieselbe Farbe. Ist es vielleicht das, was du willst?« habe ich ihn gefragt. »Willst du das auch für die Deutschen? Wenn ich es bin, die auf der Straße liegt, würdest du sie das dann auch mir antun lassen?« Aber er hat nur gesagt: »Nein, Elsa, es ist etwas ganz anderes«, und ich habe weitergemacht mit der Notentasche. Können Sie das verstehen?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich nicht. Oder, ich glaube vielleicht doch.«
»Er war alles, was ich besaß. Er war mein Leben. Zuerst habe ich wohl versucht, mich zur Wehr zu setzen, glaube ich. Aber schließlich wurde ich immer mehr hineinverwickelt, und dann war es zu spät, umzukehren . . . Und dann, verstehen Sie«, sagte sie flüsternd, »gab es Zeiten, wo ich froh war, wo die Welt dem, was Samuel tat, Beifall zu klatschen schien. Das neue Deutschland war für uns kein schöner Anblick. Alte Ausdrücke tauchten wieder auf, Ausdrücke, vor denen wir als Kinder Angst hatten. Der schreckliche alte Stolz kam wieder, man konnte ihn sogar auf den Bildern in den Zeitungen erkennen, sie marschierten im alten Schritt. Fennan hat das auch gefühlt, aber er hatte, Gott sei Dank, nicht das erlebt, was ich erlebt hatte.
Wir waren in einem Lager in der Nähe von Dresden. Mein Vater war gelähmt, und er vermißte seine Zigaretten schrecklich. Ich habe ihm immer welche aus irgendwelchem Mist gerollt, den ich im Lager auftreiben konnte, nur als eine barmherzige Täuschung für ihn. Einmal hat ihn ein Wächter rauchen gesehen und begann zu lachen. Andere kamen dazu und lachten auch. Mein Vater hielt die Zigarette in seiner gefühllosen Hand und verbrannte sich die Finger. Er hat es nicht gemerkt, verstehen Sie.
Ja, wie sie den Deutschen wieder Waffen gegeben haben, Geld und neue Uniformen, dann war ich manchmal - nur für kurze Zeit - damit zufrieden, was Samuel getan hatte. Wir sind Juden, müssen Sie wissen, und deshalb . . .«
»Ja, ich verstehe schon«, sagte Smiley. »Ich habe es auch erlebt, wenigstens ein bißchen davon.«
»Ja, das hat Dieter erzählt.«
»Dieter hat das erzählt?«
»Ja, Freitag hat er es erzählt. Er hat ihm gesagt, daß Sie ein sehr gescheiter Mann sind. Sie haben ihn einmal vor dem Krieg hinters Licht geführt, und er ist erst viel später draufgekommen, hat Freitag gesagt. Er hat gesagt, daß Sie der Beste wären, den er je getroffen hätte.«
»Wann hat Freitag Ihnen das alles gesagt?«
Sie sah ihn lange an. Noch nie hatte er in einem Gesicht solch einen hoffnungslosen Jammer gesehen. Ihm fiel ein, was sie zu ihm gesagt hatte: »Die Kinder meines Schmerzes sind tot.«
Jetzt verstand er es und hörte es in ihrer Stimme, als sie sprach: »Das ist doch leicht zu erraten. In der Nacht, in der er Samuel getötet hat. Das ist ja der irrsinnige Witz, Mr. Smiley. Gerade in dem Augenblick, da Samuel so viel für sie hätte tun können - nicht dann und wann einmal ein Stück, sondern die ganze Zeit - einen ganzen Haufen von Notentaschen -, gerade in diesem Augenblick hat sie ihre eigene Angst geschlagen, hat sie zu wilden Tieren gemacht, die den töteten, den sie sich selber geschaffen hatten.
Samuel hat immer gesagt: >Sie werden siegen, weil sie wissen, was sie tun, und die anderen werden zugrunde gehen, weil sie es nicht wissen. Männer, die für einen Traum arbeiten, werden immer und ewig weitermachen.« - So hat er gesagt. Aber ich habe ihren Traum gekannt. Ich wußte, daß er uns vernichten würde. Was hat schon keine Vernichtung gebracht. Nicht einmal der Traum Christi.«
»Also war es Dieter, der mich mit Fennan im Park gesehen hat?«
»Ja.«
»Und er hat gemeint. . .«
»Ja, er hat geglaubt, daß Samuel ihn betrügt. Und hat Freitag aufgetragen, Samuel zu töten.«
»Und der anonyme Brief?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wer ihn geschrieben hat. Jemand, der Samuel kannte, nehme ich an, einer im Büro, der ihn beobachtet hat und Bescheid wußte. Oder wer aus Oxford von der Partei. Ich weiß es nicht. Samuel wußte es auch nicht.«
»Aber der Abschiedsbrief . . .«
Sie sah ihn an, und ihr Gesicht zuckte. Fast hätte sie wieder zu weinen begonnen. Sie senkte den Kopf: »Ich habe ihn geschrieben. Freitag hat das Papier mitgebracht, und ich habe ihn geschrieben. Die Unterschrift war schon drauf. Samuels Unterschrift.«
Smiley ging zu ihr hinüber, setzte sich neben sie auf das Sofa und nahm ihre Hand. Sie drehte sich wütend zu ihm hin und kreischte: »Nehmen Sie Ihre Hände weg! Glauben Sie vielleicht, daß ich jetzt Ihnen gehöre, weil ich nicht zu denen gehöre? Gehen Sie fort! Gehen Sie, und bringen Sie Freitag und Dieter um, halten Sie das Spiel in Gang, Mr. Smiley. Aber bilden Sie sich nicht ein, daß ich etwa auf Ihrer Seite wäre, haben Sie das gehört! Denn ich bin die wandernde Jüdin, das Niemandsland, das Schlachtfeld für Ihre Spielzeugsoldaten. Sie können mich treten und auf mir herumtrampeln, aber rühren Sie mich nicht an, niemals! Und erzählen Sie mir nie, daß es Ihnen leid tut, hören Sie! Gehen Sie jetzt! Gehen Sie morden!«
Sie saß zitternd da, als wäre es vor Kälte. Als er die Tür erreichte, blickte er zurück. In ihren Augen waren keine Tränen.
Draußen wartete Mendel im Wagen.
Samuel Fennans Unzulänglichkeit
Sie kamen um die Mittagszeit in Mitcham an. Peter Guillam wartete geduldig in seinem Wagen auf sie.
»Also, Leute, was gibt's Neues?«
Smiley übergab ihm das Blatt aus seiner Brieftasche. »Es hat auch eine Ausweichnummer für Notfälle gegeben - Primrose 9747. Sie sollten Erhebungen anstellen, aber ich habe auch in diesem Fall keine besonders großen Hoffnungen.«
Peter verschwand in die Halle und begann zu telefonieren. Mendel machte sich in der Küche zu schaffen und erschien nach zehn Minuten mit Bier, Brot und Käse auf einem Tablett. Guillam kam zurück und setzte sich, ohne etwas zu sagen. Er sah besorgt aus. »Also«, fragte er schließlich, »was hat sie gesagt, George?«
Mendel räumte den Tisch ab, als Smiley mit dem Bericht über das Gespräch am Vormittag zu Ende war.
»Ja«, sagte Guillam, »das ist wirklich sehr traurig. Na gut, George, ich werde das Ganze heute niederschreiben und sofort zu Maston gehen müssen. Tote Spione zu fangen ist wirklich ein schlechtes Vergnügen - und verursacht eine Menge Unglück.«
»Wozu hatte er denn im Außenamt Zutritt?« fragte Smiley.
»Seit kurzer Zeit zu ziemlich viel. Deswegen haben sie gemeint, daß seine Verhältnisse untersucht werden sollten.«
»Was war ihm denn hauptsächlich zugänglich?«
»Ich weiß es noch nicht. Bis vor ein paar Monaten war er mit asiatischen Angelegenheiten beschäftigt, aber seine neue Arbeit war anderer Natur.«
»Amerika, glaube ich mich zu erinnern«, sagte Smiley. »Übrigens, Peter?«
»Ja?«
»Peter, haben Sie je darüber nachgedacht, warum sie eigentlich so darauf aus waren, Fennan umzubringen? Ich meine, wenn man annimmt, daß er sie wirklich verraten hätte, wie sie meinten, warum ihn ermorden? Sie hatten dabei doch nichts zu gewinnen.«
»Nein, nein, ich glaube, Sie haben recht, das bedarf eigentlich tatsächlich einer Erklärung . . . oder nicht? Nehmen wir an, Fuchs oder Maclean hätte sie verraten, was wäre dann wohl passiert? Nehmen Sie an, sie hätten eine Kettenreaktion fürchten müssen - nicht nur hier, sondern auch in Amerika - in der ganzen Welt. Hätten sie nicht wahrscheinlich gemordet, um das zu verhindern? Es gibt so vieles, das wir einfach nie wissen werden.«
»Wie zum Beispiel den Grund des Anrufes um halb neun.«
»Also dann, auf Wiedersehen. Machen Sie hier weiter, bis ich Sie anrufe. Maston wird Sie ganz sicher sehen wollen. Das wird einen Auflauf geben, wenn ich ihnen die frohe Kunde erzähle. Ich werde dieses spezielle Grinsen aufsetzen müssen, das ich für wirklich vernichtende Nachrichten reserviert habe.«
Mendel führte ihn hinaus und kehrte dann in das Wohnzimmer zurück. »Das Beste, was Sie jetzt tun können, ist, in der Klappe zu verschwinden«, sagte er. »Sie sehen wirklich verdammt schlecht aus.«
Entweder ist Mundt noch hier oder nicht, dachte Smiley, als er mit unter dem Kopf verschränkten Armen in seiner Weste auf dem Bett lag. Ist er weg, dann sind wir fertig. Maston wird dann entscheiden müssen, was mit Elsa Fennan geschehen soll, und ich vermute stark, daß er nichts tun wird.
Ist Mundt hiergeblieben, dann aus einem der folgenden drei Gründe: A. Dieter hat ihm befohlen, hierzubleiben und zu beobachten, wie sich der aufgewirbelte Staub setzt. B. Weil er in Ungnade ist und Angst hat, nach Hause zu fahren. C. Weil er hier noch etwas Angefangenes beenden will.
A ist unwahrscheinlich, denn es ist nicht Dieters Art, unnötige Risiken einzugehen. Aber es ist trotzdem eine Möglichkeit.
B ist unwahrscheinlich, denn wenn Mundt vielleicht vor Dieter Angst haben konnte, so mußte er vermutlich andererseits hier im Lande eine Anklage wegen Mordes fürchten. Das Gescheiteste, was er tun konnte, war, in ein anderes Land zu gehen.
C ist wahrscheinlicher. Wenn ich in Dieters Haut steckte, dann würde mir Elsa Fennan schlaflose Nächte bereiten. Das Mädchen Elizabeth ist unwesentlich - wenn nicht Elsa die Lücken schließt, dann bildet sie keine ernste Gefahr. Sie gehörte dem Kreis der Verschworenen nicht an, und es besteht kein Grund, anzunehmen, daß sie sich an Elsas Freund im Theater besonders erinnern würde. Nein, Elsa ist die wirkliche Gefahr.
Es gab natürlich noch eine andere Möglichkeit, die Smiley aber nicht zu beurteilen vermochte, die Möglichkeit nämlich, daß Dieter noch andere Agenten hatte, die Mundt beaufsichtigte. Im großen und ganzen war er geneigt, diese Alternative außer Betracht zu lassen, aber Peter war der Gedanke sicherlich durch den Kopf gegangen.
Nein ... es herrschte noch immer keine Ordnung, es reimte sich noch immer nicht zusammen. Er beschloß, nochmals anzufangen.
Also, was wissen wir? Er setzte sich auf, um sich nach Papier und Bleistift umzusehen, und sofort begann ihm der Kopf wieder zu dröhnen. Halsstarrig stand er von seinem Bett auf und entnahm der Tasche seines Sakkos einen Bleistift. In seiner Aktenmappe war ein Block. Er legte sich wieder auf das Bett, ordnete die Kissen so an, daß er bequem lag, nahm vier Aspirin aus einer Packung, die auf dem Nachttischchen lag, lehnte sich in die Kissen zurück und streckte seine kurzen Beine aus. Dann begann er zu schreiben. Zuerst sorgfältig die Überschrift in einer ordentlichen Gelehrtenschrift:
»Was wissen wir?«
Dann unterstrich er das Ganze und fing an, so objektiv wie er konnte, die bisherigen Ereignisse der Reihe nach noch einmal zu berichten: »Am Montag, dem z. Januar, sah mich Dieter Frey, wie ich im Park mit seinem Agenten redete, und schloß . . .« Ja, was schloß Dieter wirklich? Daß Fennan ein Geständnis abgelegt hätte oder es tun würde? Daß Fennan mein Agent war? ». . . und schloß, daß Fennan gefährlich geworden wäre, und zwar aus bisher unbekannten Gründen. Am folgenden Abend, dem ersten Dienstag im Monat, brachte Elsa Fennan die Berichte ihres Mannes in einer Notenmappe auf die abgemachte, übliche Weise in das Repertoire-Theater in Weybridge und hinterließ die Tasche gegen einen Garderobeschein in der Kleiderablage. Mundt sollte auch eine Mappe bringen und das gleiche tun. Während der Vorstellung sollten Elsa und Mundt dann gegenseitig die Garderobezettel austauschen. Mundt kam nicht. Daher folgte sie ihren Instruktionen für den Notfall und schickte den Schein mit der Post an eine vorher besprochene Adresse, nachdem sie das Theater vorzeitig verlassen hatte, um die letzte Post aus Weybridge noch zu erreichen. Dann fuhr sie nach Hause, wo sie Mundt traf, der ihren Mann schon ermordet hatte, wahrscheinlich auf Befehl Dieters. Er hatte ihn auf kürzeste Entfernung erschossen, als er ihm in der Halle entgegentrat. Wie ich Dieter kenne, vermute ich, daß er schon vor langer Zeit die Sicherheitsmaßnahme getroffen hatte, in London einige Blätter unbeschriebenen Papiers, die mit echten oder gefälschten Unterschriften Fennans versehen waren, für den Fall bereitzuhalten, daß es sich einmal als notwendig erweisen sollte, ihn zu erpressen oder zu kompromittieren. Wenn das also der Fall war, dann brachte Mundt wahrscheinlich so ein Blatt mit, auf dem dann der Abschiedsbrief mit Fennans eigener Schreibmaschine geschrieben werden sollte. Während der grausigen Szene, die sich nach Elsas Rückkehr abgespielt haben mußte, wurde ihm klar, daß Dieter Fennans Zusammentreffen mit Smiley falsch ausgelegt hatte, aber er verließ sich darauf, daß Elsa den guten Ruf ihres toten Mannes würde wahren wollen, ganz abgesehen davon, daß sie ja mitschuldig war. Mundt fühlte sich daher verhältnismäßig wenig gefährdet. Mundt ließ Elsa den Brief schreiben, vielleicht, weil er sich nicht auf sein Englisch verlassen zu können glaubte. (Anmerkung: Aber wer, zum Teufel, hat den ersten Brief, die Denunziation, geschrieben?)
Mundt verlangte dann wahrscheinlich die Notenmappe, die er nicht abgeholt hatte, und Elsa sagte ihm, daß sie den Instruktionen gefolgt sei und den Schein an die Adresse in Hampstead aufgegeben habe und daß die Mappe noch im Theater sei. Mundt reagierte bezeichnend: Er zwang sie, das Theater anzurufen und auszumachen, daß er die Tasche noch am selben Abend auf seinem Rückweg nach London abholen käme. Deshalb kann man annehmen, daß zu diesem Zeitpunkt entweder die Adresse nicht mehr taugte oder daß Mundt in dieser Phase vorhatte, am nächsten Tag zeitig am Morgen nach Hause abzureisen, so daß er keine Zeit mehr hatte, erst den Schein und dann die Tasche zu holen.
Smiley kommt in den frühen Morgenstunden am Mittwoch, dem 4. Januar, nach Walliston, und während des ersten Verhörs nimmt er um halb neun Uhr einen Anruf entgegen, den - das steht außer Zweifel - Fennan fünf Minuten vor acht am vergangenen Abend bestellt hatte. Warum?
Etwas später am selben Vormittag kommt S. noch einmal zu Elsa Fennan zurück, um sie wegen des Anrufes um halb neun zu befragen, von dem sie, wie sie selber zugab, wußte, daß er mich >irritieren würde<. (Ohne Zweifel tat die schmeichelhafte Beschreibung meiner Fähigkeiten, die ihr Mundt gegeben hatte, ihre Wirkung.) Nachdem sie S. eine ungereimte Geschichte von ihrem schlechten Gedächtnis erzählt hat, bekommt sie Angst und ruft Mundt an.
Mundt, vermutlich von Dieter mit einem Bild von mir oder einer Beschreibung meiner Person ausgerüstet, beschließt, S. zu beseitigen. (Ob das wohl im Auftrag Dieters geschehen ist?) Etwas später am Tage gelingt ihm das um ein Haar. (Anmerkung: Mundt hat den Wagen erst am Abend des 4. Januar in Scarrs Garage zurückgebracht. Also wollte er nicht unbedingt früher an diesem Tage abfliegen. Wenn er ursprünglich geplant haben sollte, am Morgen ein Flugzeug zu nehmen, dann hätte er ebensogut den Wagen früher zurückbringen und mit dem Autobus auf den Flugplatz fahren können.)
Es ist wohl ziemlich wahrscheinlich, daß Mundt nach Elsas Anruf seine Pläne geändert hat. Das beweist aber nicht, daß er sie aus diesem Grunde änderte. «
Konnte Elsa Mundt wirklich so in Schrecken versetzt haben? In einen so panischen Schrecken, daß er blieb, daß er Adam Scarr umbrachte? überlegte Smiley.
In der Halle läutete das Telefon . . .
»George! Peter ist am Apparat. Mit der Adresse und der Telefonnummer war es leider Essig. Kein Fisch dran.«
»Was heißt das?«
»Sowohl die Nummer als auch die Adresse führten zu derselben Wohnung. Ein möbliertes Zimmer in Highgate Village.«
»Ja?«
»Der Mieter war ein Pilot der >Lufteuropa<. Er hat am 30. Januar seine zwei Monate Miete vorausgezahlt und ist seither nicht mehr erschienen.«
»Verdammt.«
»Die Vermieterin erinnert sich sehr gut an Mundt, den Freund des Piloten. Ein netter, höflicher Gentleman, wenn man bedenkt, daß er doch ein Deutscher war, und sehr freigebig. Er hat ziemlich oft auf dem Sofa geschlafen.«
»Ach Gott.«
»Ich bin das Zimmer mit dem Dachshaarpinsel durchgegangen. In einer Ecke stand ein Schreibtisch. Alle Laden waren leer mit Ausnahme von einer, in der ein Garderobeschein lag. Wo der wohl hergekommen ist? . . . Also, wenn Sie herzlich lachen wollen, dann kommen Sie her in den Zirkus. Der ganze Olymp kocht vor Aktivität. Ach, übrigens . . .«
»Ja?«
»Ich habe in Dieters Wohnung herumgestöbert. Wieder eine taube Nuß. Er ist am 4. Januar weg. Dem Milchmann hat er nichts gesagt, das heißt, kein Mensch weiß, wo er ist.«
»Was ist mit seiner Post?«
»Hat nie welche bekommen, außer Rechnungen. Auch das kleine Nest des Genossen Mundt habe ich mir angesehen. Zwei Zimmer über der Stahl-Mission. Die Möbel und der ganze Mist sind weg. Schade.«
»Na ja.«
»Aber etwas Komisches muß ich Ihnen erzählen, George. Sie erinnern sich doch, daß ich vorhatte, mir Fennans Sachen, die er bei sich trug - Brieftasche, Notizbuch und so weiter - kommen zu lassen. Von der Polizei.«
»Ja.«
»Also, das habe ich getan. In seinem Notizbuch steht Dieters voller Name im Adressenverzeichnis und die Telefonnummer der Mission daneben. Verdammte Frechheit, was?«
»Das ist noch viel mehr, das ist ja Irrsinn. Du lieber Himmel!«
»Und dann steht da unter dem Datum vom 4. Januar: >G. A. Smiley, Anruf halb neun.< Das wird durch eine Eintragung für den 3. Januar bestätigt, in der es heißt: >Anruf bestellen für Mittwoch morgen<.«
»Also noch immer keine Erklärung.« Es entstand eine Pause.
»Ja, übrigens, George. Ich habe Felix Taverner in das Außenamt geschickt, damit er ein bißchen herumschnüffelt. Einerseits ist es ärger, als wir befürchtet haben, andererseits wieder besser.«
»Wieso?«
»Ja, also Taverner hat sich die Registraturzettel der letzten beiden Jahre durchgesehen. Er konnte feststellen, welche Akten in Fennans Abteilung gegangen sind. Wenn ein Akt von einer Abteilung bestellt wird, haben sie vorgedruckte Bestellzettel auszufüllen.«
»Ja, ich höre.«
»Felix hat herausgefunden, daß Freitag nachmittag gewöhnlich drei oder vier Akten an Fennan ausgefolgt wurden, die dann am Montag vormittag zurückkamen. Man kann annehmen, daß er sie sich über das Wochenende nach Hause genommen hat.«
»Du heiliger Strohsack!«
»Aber das Komische dabei ist, George, daß er seit sechs Monaten, also genau seit er befördert worden ist, eher die Tendenz hatte, Sachen mitzunehmen, die nicht geheim waren und die eigentlich keinen Menschen interessieren konnten.«
»Aber gerade während der letzten Monate hatte er doch in der Hauptsache mit Geheimakten zu tun«, sagte Smiley. »Er hätte nach Hause nehmen können, was ihm paßte.«
»Ich weiß schon, aber er hat es nicht getan. Ich würde fast sagen, daß es mit Absicht geschehen ist. Er hat ganz unwichtige Sachen mitgenommen, die nur mit seiner routinemäßigen Arbeit zu tun hatten. Seine Kollegen können es nicht verstehen, jetzt, wenn sie darüber nachdenken. Er hat sogar Akten mitgenommen, die gar nicht zu seinem Arbeitsgebiet gehörten.«
»Auch nicht geheim?«
»Nein - völlig wertlos für die Spionage.«
»Wie war es denn früher, bevor er in die neue Stellung gekommen ist? Was hat er damals nach Hause genommen?«
»Viel mehr, als man glauben sollte - Akten, die er während des Tages bearbeitet hatte, Politik und so weiter.«
»Geheim?«
»Einige ja, einige nein. Wie sie gekommen sind.«
»Aber doch hoffentlich nichts Unvorhergesehenes - keine besonders delikaten Angelegenheiten, die ihn nichts angingen?«
»Nein. Gar nichts. Er hatte massenhaft Gelegenheit, ganz offen gesagt, hat sie aber nicht benutzt. Irrsinnig, finde ich.«
»Na ja, das mußte er ja sein, wenn er den Namen seines Verbindungsmannes in sein Notizbuch geschrieben hat.«
»Und darauf können Sie sich Ihren eigenen Reim machen: Er hatte sich den Vierten im Außenministerium frei genommen - das war also der Tag, der auf seinen Sterbetag folgte. Anscheinend eine ziemliche Sensation. Sonst hat er die Arbeit direkt gefressen, sagen die Kollegen.«
»Was unternimmt denn Maston in dieser ganzen Sache?« fragte Smiley nach einer Pause.
»Im Augenblick geht er die Akten durch und kommt alle zwei Minuten mit blöden Fragen zu mir. Ich glaube, er fühlt sich einsam da drin in seinem Zimmer bei all den harten Tatsachen.«
»Ach, er wird sie schon unterdrücken, Peter, da brauchen Sie keine Angst zu haben.«
»Ja, er sagt jetzt schon, daß die ganze Anklage gegen Fennan auf der Zeugenaussage einer neurotischen Frau basiert.«
»Danke, daß Sie angerufen haben, Peter.«
»Werde Sie bald besuchen, alter Junge. Schonen Sie Ihren Kopf.«
Smiley legte den Hörer auf und wunderte sich, wo Mendel blieb. Auf dem Tisch in der Halle lag eine Abendzeitung. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeile: »Antisemitische Ausschreitungen. Proteste der Juden aus aller Welt«, und darunter der Bericht über Ausschreitungen gegen einen jüdischen Geschäftsinhaber in Düsseldorf. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer - Mendel war nicht da. Dann erblickte er ihn durch das Fenster im Garten, wie er, seinen Gartenhut auf dem Kopf, wütend mit einer Axt auf einen Baumstrunk im Vorgarten loshackte. Smiley beobachtete ihn einen Moment und ging dann in sein Zimmer hinauf, um sich wieder hinzulegen. Gerade, als er die obersten Stufen erreicht hatte, läutete das Telefon wieder.
»George? Tut mir leid, daß ich Sie wieder stören muß. Es ist wegen Mundt.«
»Ja?«
»Er ist gestern abend mit der BEA nach Berlin geflogen. Zwar unter einem anderen Namen, aber die Stewardeß erkannte ihn ohne Schwierigkeit. Das war's also. Pech, alter Freund.«
Smiley drückte die Gabel einen Augenblick mit der Hand nieder und wählte dann Walliston 2944. Er konnte hören, wie es am anderen Ende der Leitung klingelte. Plötzlich hörte es auf, und er hörte Elsa Fennans Stimme: »Hallo . . . Hallo . . . Hallo, ja, was ist denn?«
Leise legte er den Hörer wieder auf. Sie lebte.
Warum in aller Welt gerade jetzt? Warum reiste Mundt ausgerechnet jetzt ab, fünf Wochen, nachdem er Fennan umgebracht, drei Wochen, nachdem er Scarr liquidiert hatte. Warum hatte er die geringere Gefahr, nämlich Scarr, eliminiert und Elsa Fennan unbehelligt gelassen, die in ihrer neurotischen Verbitterung jeden Augenblick bereit sein konnte, ihre eigene Sicherheit außer acht zu lassen und die ganze Geschichte zu erzählen? Welche Wirkung konnte diese schreckliche Nacht nicht auf sie gehabt haben? Wie konnte Dieter einer Frau vertrauen, die jetzt nur so lose an ihn gebunden war? Der gute Ruf ihres Mannes konnte nicht mehr gerettet werden. Bestand nicht die Gefahr, daß sie, in weiß Gott was für einem Anfall von Rachsucht oder Reue, mit der ganzen Wahrheit herausplatzte? Sicher, zwischen dem Mord an Fennan und dem an seiner Frau mußte man eine gewisse Zeit verstreichen lassen, aber welches Ereignis oder welche Nachricht, welche Gefahr war der Anlaß zu Mundts Abreise gestern abend? Ein skrupelloser und genau ausgearbeiteter Plan zur Bewahrung des Geheimnisses von Fennans Verrat war jetzt offenbar verworfen und unausgeführt gelassen worden. Was war gestern geschehen, wovon Mundt Kenntnis bekommen haben konnte? Oder war der Zeitpunkt seiner Abreise einem Zufall zuzuschreiben? Smiley weigerte sich, das zu glauben. Wenn Mundt nach den zwei Morden und dem Attentat auf Smiley in England blieb, so war das nicht freiwillig geschehen. Er hatte auf irgendeine Gelegenheit oder ein Ereignis gewartet, das ihm die Möglichkeit gab, zu verschwinden. Er war sicher nicht einen Augenblick länger als notwendig geblieben. Aber was hatte er seit Scarrs Tod getan? Hatte er sich in irgendeinem einsamen Zimmer versteckt, verkrochen, ohne Licht und ohne Verbindungen? Und warum war er dann so plötzlich abgeflogen?
Und Fennan wieder - was für ein merkwürdiger Spion war das, der wertlose Nichtigkeiten für seine Auftraggeber aussuchte, während er die kostbarsten Juwelen in Reichweite hatte und nur hätte zugreifen müssen? Eine Gesinnungsänderung vielleicht? Warum hat er es dann nicht seiner Frau gesagt, für die sein Verbrechen ein ewiger Alptraum war und die über seine Bekehrung gejubelt hätte? Es sah so aus, als hätte Fennan nie vorzügliches Geheimmaterial ausgesucht, als hätte er einfach das mit nach Hause genommen, an dem er gerade arbeitete. Ein Nachlassen im Eifer würde die merkwürdige Einladung zu Marlow und Dieters Überzeugung, daß Fennan ihn betrog, erklären können. Und wer hatte den anonymen Brief geschrieben?
Nichts paßte zusammen, rein gar nichts. Auch Fennan selbst war voller Widersprüche. Ein so prächtiger, intelligenter und anziehender Mensch er auch war, hatte er völlig ungezwungen und geschickt Verrat begangen. Smiley hatte ihn wirklich gut leiden können. Warum hatte dieser erfahrene Verräter den unglaublichen Fehler begangen, Dieters Namen in sein Notizbuch zu schreiben, warum hatte er so wenig Verstand oder Interesse bei der Auswahl des Materials gezeigt?
Smiley ging hinauf, um die verschiedenen Kleinigkeiten, die Mendel ihm aus der Bywater Street geholt hatte, einzupacken. Es war alles aus.
Die Figurengruppe aus Meißener Porzellan
Er stand an der Tür, stellte seinen kleinen Koffer hin und tastete nach den Schlüsseln. Als er die Tür aufmachte, erinnerte er sich daran, wie Mundt dort gestanden war und ihn mit seinen fahlblauen Augen fest und abschätzend angesehen hatte. Es war merkwürdig, sich vorzustellen, daß Mundt Dieters Schüler war. Mundt war mit der Unerbittlichkeit eines abgerichteten, gedungenen Söldners vorgegangen - schlagkräftig, zweckmäßig und stur. An seiner Technik war nichts Originelles, in allem war er ein Schatten seines Meisters gewesen. Es kam ihm vor, als wären Dieters brillante und einfallsreiche Methoden in ein Handbuch zusammengefaßt worden, das Mundt auswendig gelernt und dem er nur das Salz seiner eigenen Brutalität hinzugefügt hatte.
Smiley hatte absichtlich keine Adresse für das Nachsenden seiner Post angegeben, und daher lagen ganze Haufen von Briefen auf der Abstreifmatte. Er legte sie auf den Tisch im Vorzimmer und begann mit einem verlorenen Lächeln die Türen zu öffnen und sich umzusehen. Das Haus war ihm fremd. Er fand es kalt und muffig. Als er langsam durch die Zimmer schritt, dämmerte ihm zum erstenmal auf, wie leer sein Leben geworden war.
Er sah sich nach Streichhölzern um, weil er den Gaskamin anzünden wollte, aber er fand keine.
Er setzte sich in einen Lehnsessel im Wohnzimmer, und seine Augen wanderten über die Bücherregale und die verschiedenen Sachen, die er auf seinen Reisen gesammelt hatte. Als Ann ihn verließ, hatte er unbarmherzig alle ihre Spuren getilgt. Sogar ihrer Bücher hatte er sich entledigt. Aber nach und nach waren die wenigen symbolischen Dinge, die sein Leben mit dem ihren verknüpft hatten, wieder zu Ehren gekommen. Hochzeitsgeschenke von engen Freunden, die zuviel bedeutet hatten, als daß man sie hätte weggeben können. Da war eine Skizze von Watteau, ein Geschenk von Peter Guillam, eine Figurengruppe aus Meißener Porzellan von Steed-Asprey.
Er erhob sich aus dem Stuhl und ging hinüber zu dem Eckschrank, wo die Gruppe stand. Er liebte es, die Schönheit dieser Figuren zu bewundern, die kleine Kurtisane im Schäferkostüm, die die Arme nach einem verliebten Bewunderer ausgestreckt hatte, während ihr kleines Gesicht einem anderen zulächelte. Vor dieser zerbrechlichen Vollkommenheit kam er sich so unzulänglich vor wie einst vor Ann, als er damals die Eroberung begann, die die Gesellschaft in Erstaunen gesetzt hatte. Irgendwie trösteten ihn diese kleinen Figuren. Es war ebenso hoffnungslos, von Ann Treue zu erwarten, wie von dieser kleinen Schäferin unter ihrem Glassturz. Steed-Asprey hatte die Gruppe vor dem Krieg in Dresden gekauft, sie war das Glanzstück seiner Sammlung gewesen, und er hatte sie ihnen geschenkt. Vielleicht hatte er vorausgeahnt, daß Smiley eines Tages für die einfache Weisheit Bedarf haben könnte, die sie dem Betrachter suggerierte.
Dresden! Das war von allen deutschen Städten Smileys Lieblingsstadt. Er liebte ihre Architektur, das merkwürdige Durcheinander von mittelalterlichen und klassischen Bauten, die manchmal an Oxford mit seinen Kuppeln, Türmen und Spitzen erinnerten, und seine grünen Kupferdächer, die in der heißen Sonne flimmerten. Der Name bedeutete »Stadt der Waldbewohner«, dort hatte Wenzel von Böhmen die fahrenden Sänger mit Geschenken und Privilegien ausgezeichnet. Smiley erinnerte sich daran, wie er das letztemal dort gewesen war und einen Bekannten von der Universität, einen Professor der Philologie, besucht hatte, mit dem er in England zusammengekommen war. Auf dieser Reise hatte er damals Dieter gesehen, wie er sich im Gefängnishof im Kreis herumschleppte. Er konnte ihn noch immer vor sich sehen; groß und verbissen und durch den geschorenen Schädel grotesk verändert, schien er irgendwie zu groß für das kleine Gefängnis zu sein. Dresden, fiel ihm ein, war übrigens auch Elsas Geburtsort gewesen, wie er festgestellt hatte, als er ihren Akt im Ministerium durchgesehen hatte: Elsa, Mädchenname Freimann, geboren 1917 in Dresden, Deutschland, Kind deutscher Eltern; in Dresden erzogen; 1938 bis 1945 im KZ. Er versuchte, sie vor dem Hintergrund ihres Elternhauses zu sehen, sich die jüdische Patrizierfamilie vorzustellen, die unter Drangsalen und Verfolgungen zugrunde ging. >Ich habe von langem goldenem Haar geträumt, und sie haben mir den Kopf geschoren.< Angeekelt verstand er völlig, warum sie sich das Haar färbte. Sie hätte sein können wie diese kleine Schäferin, hochbusig und hübsch. Aber ihren Körper hatte Hunger zerstört, so daß er jetzt gebrechlich und häßlich war wie der eines kleinen Vogels.
Er konnte sie sich in der furchtbaren Nacht vorstellen, wie sie den Mörder ihres Mannes neben der Leiche stehend angetroffen hatte, konnte im Geiste ihre atemlose, schluchzende Erklärung hören, warum Fennan mit Smiley im Park gewesen war, und Mundt vor sich sehen, der ungerührt auf sie einredete, ihr die Gründe auseinandersetzte und sie endlich dazu bewog, gegen ihren Willen noch einmal an diesem schrecklichsten und unsinnigsten aller Verbrechen teilzuhaben. Wie er sie zum Telefon schleppte und zwang, das Theater anzurufen, und sie schließlich zermartert und erschöpft zurückließ. Mit den unausweichlichen Nachforschungen mochte sie selber fertig werden. Ja sogar den Abschiedsbrief über Fennans Unterschrift hatte er sie zu schreiben gezwungen. Es war über alle Maßen unmenschlich und, dachte er weiter, für Mundt ein ungeheueres Risiko.
Sie hatte sich natürlich andererseits in der Vergangenheit als eine äußerst verläßliche Komplizin erwiesen, die einen kühlen Kopf hatte und ironischerweise in der Technik der Spionage geschickter war als Fennan. Und ihre Leistung bei ihrem ersten Zusammentreffen mit ihm war für eine Frau, die in dieser Nacht so viel Schreckliches durchgemacht hatte, einfach ein Wunder.
Als er so die kleine Schäferin betrachtete, die in unveränderlich schwebender Pose zwischen ihren beiden Bewunderern stand, kam ihm ganz leidenschaftslos der Gedanke, daß es noch eine zweite, ganz andersgeartete Lösung für den Fall Fennan gab. Eine Lösung, die bis ins Detail zu allen Umständen paßte und die irritierenden, scheinbaren Widersprüche in Fennans Charakter zum Verschwinden brachte. Es begann als rein akademische Denkübung, die Personen nicht in Betracht zog. Smiley schob die einzelnen Charaktere wie die Teile eines Zusammenlegspiels hin und her und drehte sie bald in der einen, bald in der anderen Richtung, um zu versuchen, wie sie zu dem schon fertigen Stück der erhärteten Tatsachen paßten - und dann, ganz plötzlich, fügte sich alles zusammen, und zwar so genau, daß ihm klar wurde, daß es jetzt nicht mehr nur ein Spiel mit Gedanken war.
Sein Herz schlug schneller, als Smiley sich die ganze Geschichte noch einmal aufbaute, Szenen und Ereignisse im Lichte seiner Entdeckung rekonstruierte. Jetzt wußte er, warum Mundt England heute verlassen hatte, warum Fennan so wenig gebracht hatte, das für Dieter von Wert war, den Anruf um halb neun bestellt hatte und warum seine Frau der systematischen, wilden Mordorgie Mundts entgangen war. Jetzt wußte er endlich auch, wer den anonymen Brief geschrieben hatte. Er erkannte nun, daß er sich von seinen Gefühlen hatte zum Narren halten lassen, mit seinem Verstand ein falsches Spiel getrieben hatte.
Er ging zum Telefon und wählte Mendels Nummer. Gleich nachdem er mit ihm gesprochen hatte, rief er Peter Guillam an. Dann nahm er Hut und Mantel und ging um die Ecke auf den Sloane Square. Bei einem kleinen Zeitungsstand kaufte er eine Ansichtskarte, die die Westminster Abbey darstellte, ging zur U-Bahn und fuhr nach dem Norden, wo er in Highgate ausstieg. Auf dem Hauptpostamt dort kaufte er eine Marke und adressierte die Karte in steifen, unenglischen Buchstaben an Elsa Fennan. Auf den Platz für den Text schrieb er in spitzen Buchstaben: »Ich wünschte, Du wärest hier!« Er gab die Karte auf, notierte sich die Zeit und fuhr zum Sloane Square zurück. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun.
In dieser Nacht schlief er fest, stand am folgenden Morgen zeitig auf - es war ein Samstag -, ging um die Ecke und kaufte frische Brötchen und Kaffee. Er machte sich eine große Portion Kaffee, setzte sich mit der >Times< in die Küche und verzehrte sein Frühstück. Er fühlte sich merkwürdig ruhig, und als endlich das Telefon läutete, faltete er seine Zeitung sorgfältig zusammen, bevor er hinaufging, um den Hörer abzuheben.
»George, ich bin's, Peter.« Die Stimme klang dringlich, fast triumphierend. »George, sie hat angebissen, da schwöre ich drauf!«
»Was ist passiert?«
»Genau um 8 Uhr 55 war der Briefträger da. Um 9 Uhr 30 ist sie eilig den Weg vom Haus heruntergekommen, gestiefelt und gespornt. Sie ist direkt zur Bahnstation gegangen und mit dem Zug um 9 Uhr 5 z zur Victoria-Station gefahren. Ich habe Mendel in den Zug gesetzt und bin mit dem Wagen nachgefahren, aber ich war zu spät dran, um den Zug einzuholen.«
»Wie werden Sie sich denn mit Mendel wieder in Verbindung setzen?«
»Ich habe ihm die Nummer von dem Hotel in Grosvenor gegeben, wo ich jetzt bin. Er wird mich sofort anrufen, sobald er dazu Gelegenheit hat, und dann werde ich dorthin kommen, wo er ist.«
»Peter, Sie fassen die Sache doch vorsichtig an, nicht wahr?«
»Wie mit Glacehandschuhen, alter Junge. Ich glaube, sie beginnt den Kopf zu verlieren. Rennt wie ein Windhund.«
Smiley legte den Hörer auf. Er nahm wieder seine >Times< und studierte das Theaterprogramm. Er mußte recht haben . . . unbedingt.
Der Vormittag verging dann mit nervtötender Langsamkeit. Manchmal stand er mit den Händen in den Hosentaschen am Fenster und sah zu, wie die schlaksigen Mädchen aus Kensington in Begleitung wunderschöner junger Männer in hellblauen Pullovern einkaufen gingen oder wie die kleine Brigade von Wagenwaschern zuerst fröhlich vor den Häusern drauflos arbeitete, dann eine Weile herumstand, um über Autos zu tratschen, und schließlich zielbewußt die Straße hinunter verschwand, um sich die erste Pulle Bier an diesem Wochenende zu genehmigen.
Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es ihm vorkam, wurde an der Eingangstür geläutet, und Mendel und Guillam kamen herein. Sie grinsten und waren hungrig wie die Raben.
»Wir haben's geschafft«, sagte Guillam. »Aber Mendel soll erzählen. Er hat ja die meiste Plage gehabt. Ich bin nur gerade noch zum Halali zurechtgekommen. «
Mendel berichtete seine Geschichte haargenau und mit allen Details, wobei er, den Kopf leicht zur Seite geneigt, vor sich hin sah.
»Sie ist mit dem Zug weg, der um 9 Uhr 52 nach Victoria-Station fährt. Im Zug habe ich mich unsichtbar gemacht und bin ihr nach, wie sie durch die Sperre ist. Dann hat sie ein Taxi nach Hammersmith genommen.«
»Ein Taxi?« unterbrach ihn Smiley. »Sie muß ja vollständig wahnsinnig sein!«
»Sie ist ganz außer sich. Für eine Frau geht sie sowieso schon schnell, verstehen Sie, aber wie sie da über den Bahnsteig gefegt ist, alle Achtung! Sie ist beim Broadway ausgestiegen und zum Sheridan-Theater gegangen. Hat die Türen zur Kasse der Reihe nach probiert, aber sie waren zu. Einen Augenblick hat sie gezögert und ist dann zurückgegangen in ein Café ein paar hundert Meter weiter die Straße hinunter. Hat sich Kaffee bestellt und sofort bezahlt. Etwa vierzig Minuten später ist sie zum Theater zurück. Jetzt waren die Kassen offen, und ich bin hinter ihr hineingeschlüpft und habe mich auch angestellt. Sie kaufte zwei Sitze für nächsten Donnerstag: Parkett ganz hinten, Reihe T, Platz Nummer 27 und 28. Dann ist sie wieder hinaus aus dem Theater, hat eines der Billetts in einen Briefumschlag getan, ihn zugeklebt und in einen Briefkasten geworfen. Die Adresse konnte ich nicht sehen, aber es war eine Sechspennymarke drauf.«
Smiley saß sehr still da. »Ob er wohl kommen wird?« sagte er. »Ich bin gespannt, ob er erscheint.«
»Ich habe Mendel beim Theater getroffen«, sagte Guillam. »Er ist ihr bis zum Café nachgegangen und hat mich dann angerufen. Dann ist er auch hineingegangen.«
»Ich hatte selber Lust auf eine Tasse Kaffee«, fuhr Mendel fort. »Mr. Guillam hat mich dann gefunden. Als ich mich anstellen ging, ließ ich ihn im Café, und er ist dann erst ein wenig später herausgekommen. Es war alles Maßarbeit, und keine Pannen. Sie hat den Kopf verloren, das ist sicher. Sieht sich nicht vor.«
»Was hat sie dann gemacht?« fragte Smiley.
»Schnurgerade zurück zur Victoria-Station. Dort haben wir sie dann laufen lassen.«
Eine Weile blieben sie stumm, und dann sagte Mendel: »Also, was tun wir jetzt?«
Smiley zwinkerte und blickte ernst in Mendels graues Gesicht.
»Theaterkarten bestellen für die Donnerstagvorstellung im Sheridan.«
Sie gingen, und er war wieder allein. Er hatte noch immer nicht die Berge von Briefen durchgesehen, die sich während seiner Abwesenheit angehäuft hatten. Rundschreiben, Kataloge von Blackwells, Rechnungen und die übliche Kollektion von Reklame für Seifen, tiefgekühlte Erbsen, Fußballtotoscheinen und so weiter. Es waren auch einige Privatbriefe dabei. Er nahm alles ins Wohnzimmer mit, setzte sich in einen Armstuhl und begann zuerst einmal die persönlichen Briefe aufzumachen. Einer war von Maston, und er las ihn fast mit Verlegenheit.
»Mein lieber George,
es tat mir leid, als ich von Guillam hörte, daß Sie einen Unfall hatten, und ich hoffe zuversichtlich, daß Sie sich schon wieder ganz erholt haben. Sie erinnern sich vielleicht, daß Sie mir in der Hitze des Gefechts damals vor Ihrem Unglücksfall ein Rücktrittsgesuch geschickt haben, und ich möchte Ihnen nur mitteilen, daß ich es natürlich nicht ernst nehme. Manchmal verlieren wir den Sinn für die Perspektive der Dinge, wenn die Ereignisse auf uns einstürmen. Aber alte Kampfgenossen, George, wie wir sind, kann man nicht so leicht von der Spur abbringen. Ich freue mich darauf, Sie wieder bei uns zu sehen, sobald Sie gesund sind, und inzwischen betrachten wir Sie weiter als ein altes, treues Mitglied unseres Stabes.«
Smiley legte den Brief weg und wandte sich dem nächsten zu. Im ersten Augenblick erkannte er die Handschrift nicht und starrte einen Moment verständnislos auf die Schweizer Marke und das Briefpapier eines teuren Hotels. Plötzlich wurde er ein wenig schwach, der Brief verschwamm vor seinen Augen, und er hatte kaum die Kraft in den Fingern, den Umschlag aufzureißen. Was wollte sie? Wenn es Geld war, dann konnte sie alles haben, was er besaß. Sein Geld konnte er ja ausgeben, wie es ihm paßte. Wenn es ihm Spaß machte, es auf Ann zu verschwenden, dann würde er es tun. Sonst gab es nichts, was er ihr hätte geben können. Sie hatte es schon vor langer Zeit selber genommen. Seinen Mut, seine Liebe, sein Mitgefühl, alles hatte sie munter in ihrer kleinen Juwelenkassette mitgenommen, um damit gelegentlich einmal am Nachmittag, wenn die Sonne Kubas heiß herunterbrannte, zu tändeln. Sie ließ diese Dinge vielleicht vor den Augen ihres neuen Liebhabers in ihren Fingern baumeln und verglich sie mit ähnlichen kleinen Schmuckstücken, die ihr andere vorher oder später gebracht hatten.
»Mein liebster George,
ich möchte Dir ein Angebot machen, das kein Gentleman annehmen könnte. Ich möchte zu Dir zurückkommen.
Ich bleibe bis Ende dieses Monats im Baur-au-Lac in Zürich. Schreib mir.
Ann«
Smiley nahm den Umschlag und drehte ihn um: »Madame Juan Alvida.« Nein, wirklich, diesen Vorschlag konnte kein Gentleman annehmen. Kein Traum konnte das Tageslicht von Anns Abreise mit ihrem zuckersüßen Lateinamerikaner und sein Orangenschalengrinsen überleben. Smiley hatte einmal im Kino in der Wochenschau einen Bericht gesehen, wie Alvida irgendein Rennen in Monte Carlo gewonnen hatte. Das Widerwärtigste daran waren die Haare auf seinen Armen gewesen, erinnerte er sich. Mit seiner Schutzbrille, dem Motoröl im Gesicht und mit diesem lächerlichen Lorbeerkranz hatte er genau wie ein vom Baum heruntergefallener Orang-Utan ausgesehen. Er hatte ein weißes Tennishemd mit kurzen Ärmeln getragen, das auf rätselhafte Art während des Rennens rein geblieben war, und dadurch fielen einem diese schwarzen Affenarme mit noch größerer Widerwärtigkeit in die Augen.
Ja, das war Ann: Schreib mir! Kauf dein Leben zurück, sieh nach, ob es noch einmal gelebt werden kann, und schreib mir! Ich bin meines Liebhabers müde, mein Liebhaber ist meiner müde, also laß mich wieder deine Welt zertrümmern: meine eigene ist mir langweilig. Ich möchte zu dir zurück ... ich möchte, ich möchte . . .
Smiley stand auf. Noch immer den Brief in der Hand, blieb er vor der Porzellangruppe stehen. Einige Minuten lang betrachtete er die kleine Schäferin. Sie war so entzückend.
Der letzte Akt
Die Vorstellung des dreiaktigen Stückes >Edward II.< fand vor ausverkauftem Haus statt. Guillam und Mendel saßen nebeneinander am äußersten Ende des Bogens, der ein großes U vor der Bühne bildete. Von der linken Seite des Kreisendes konnte man die hinteren Parkettsitze sehen, die sonst unsichtbar waren. Ein leerer Platz trennte Guillam von einer Gruppe junger Studenten, die voll aufgeregter Erwartung miteinander flüsterten.
Sie blickten aufmerksam auf das Meer von dauernd in Bewegung befindlichen Köpfen und flatternden Programmen, durch die plötzlich Wellen auf und nieder gingen, wenn später Ankommende ihre Plätze einnahmen. Die Szene erinnerte Guillam an einen orientalischen Tanz, bei dem winzige Gesten von Hand und Fuß einen bewegungslosen Körper beseelen. Gelegentlich sah er ins hintere Parkett, aber von Elsa Fennan und ihrem Gast war noch nichts zu sehen.
Gerade als die von einem Band wiedergegebene Ouvertüre zu Ende ging, warf er wieder einen kurzen Blick auf die beiden leeren Sitze in der hintersten Reihe, und sein Herz machte einen plötzlichen Sprung, als er dort die schlanke Gestalt Elsas sah, die steif und bewegungslos in das Auditorium starrte, wie ein Kind, das sich zu benehmen lernt. Der Platz zu ihrer Rechten, neben dem Gang, war noch immer leer.
Draußen auf der Straße fuhren die Taxis eines nach dem anderen hastig am Eingang des Theaters vor, die Ankommenden gaben in der Eile den Chauffeuren viel zuviel Trinkgeld und suchten dann fünf Minuten nach ihren Karten. Smiley ließ sich von seinem Taxichauffeur hinter dem Theater, vor dem Hotel Clarendon, absetzen und befahl ihm dann zu warten. Er selbst ging sofort in den Speisesaal und zur Bar.
»Ich erwarte jeden Augenblick einen Anruf«, sagte er. »Mein Name ist Savage. Bitte rufen Sie mich sofort, wenn er kommt.«
Der Mann an der Bar nahm das Telefon und sprach mit der Hauszentrale.
»Und dann einen kleinen Whisky mit Soda, bitte. Wollen Sie selbst einen haben?«
»Danke sehr, mein Herr, ich rühre so etwas nie an.«
Der Vorhang ging vor einer schwach erleuchteten Bühne hoch, und Guillam, der verstohlen nach hinten in den Zuschauerraum sah, versuchte zuerst ohne Erfolg, die plötzliche Dunkelheit zu durchdringen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das spärliche Licht, das die Lampen der Notbeleuchtung verbreiteten, und endlich konnte er in dem schwachen Schimmer Elsa erkennen. Und den noch immer leeren Platz neben ihr.
Von dem Gang, der längs der Hinterseite des Zuschauerraumes verlief, waren die Parkettsitze nur durch eine niedrige Wand getrennt. Dort befanden sich Türen, die zur Bar, dem Foyer und den Garderoben führten. Einen kurzen Augenblick ging eine dieser Türen auf, und ein schräger Lichtstrahl traf Elsa Fennan, als geschähe es mit Absicht. Er beleuchtete in einer schmalen Linie die eine Seite ihres Gesichtes, wobei durch den Kontrast die Schatten ihrer Züge schwarz erschienen. Sie beugte den Kopf ein wenig, als ob sie auf etwas horche, erhob sich halb von ihrem Sitz, setzte sich wieder hin, als hätte sie sich getäuscht, und verharrte in ihrer früheren Stellung.
Guillam fühlte Mendels Hand auf seinem Arm, drehte sich zu ihm und bemerkte, daß sein hageres Gesicht vorgeneigt war und an ihm vorüberschaute. Dem Blick Mendels folgend, sah er auf die Treppen am Eingang hinunter, wo eine hohe Gestalt langsam zu den Parkettsitzen ging. Der Mann bot einen eindrucksvollen Anblick. Er war groß und schön, und in der Stirn hing ihm eine schwarze Locke. Dieser elegante Riese, der da den Gang hinaufhinkte, war es, den Mendel so fasziniert beobachtete. Es war etwas Ungewöhnliches an ihm, etwas Fesselndes und Verwirrendes. Guillam verfolgte durch sein Glas, wie er langsam und entschlossen weiterging, und er bewunderte die Grazie und die Gemessenheit seines ungleichmäßigen Ganges. Es war ein besonderer Mann, einer, an den man sich erinnert, ein Mann, der in unserem Innersten eine Saite zum Schwingen bringt, einer, der überall die Situation zu beherrschen wußte. Guillam kam er wie das lebendige Ebenbild aller unserer Träume vor, er stand am Mast mit Conrad, fand mit Byron das verlorene Griechenland, besuchte mit Goethe die Schatten der klassischen und mittelalterlichen Unterwelten.
In der Art, wie er sein gesundes Bein nach vorn warf, lag ein Trotz und eine Beherrschung, die man nicht übersehen konnte. Guillam beobachtete, wie die Leute im Zuschauerraum nach ihm die Köpfe umdrehten und wie ihm Augen gehorsam folgten.
Guillam drückte sich an Mendel vorbei und ging schnell durch den daneben befindlichen Notausgang hinaus auf den Korridor, der dahinter lag. Er folgte dem Gang und kam schließlich über einige Stufen in das Foyer. Die Kasse hatte schon zu, aber das Mädchen brütete noch über einem Blatt voll mühselig zusammengestellter Zahlen, von denen viele ausgebessert oder durchgestrichen waren.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Guillam, »aber ich muß rasch Ihr Telefon benutzen. Es ist sehr dringend. Darf ich?«
»Psch!« Sie winkte ihm ohne aufzusehen ungeduldig mit dem Bleistift. Ihr Haar war unansehnlich, ihre fette Haut glänzte als Folge der Ermüdung später Abende und einer Diät, die wohl aus Kartoffelchips bestand. Guillam wartete einen Moment. Wie lange es wohl dauern würde, bis sie eine Lösung für das Durcheinander von spinnenhaften Zahlen gefunden hatte, die zu dem Haufen von Noten und Silbergeld in der offenen Handkasse neben ihr paßten.
»Hören Sie zu«, drängte er. »Ich bin Polizeibeamter - da sind ein paar Helden oben, die hinter Ihrer Kasse her sind. Wollen Sie mich also zum Telefon lassen?«
»O Gott«, sagte sie mit müder Stimme und sah ihn zum erstenmal an. Sie trug Augengläser und war sehr häßlich. Sie war weder erschrocken noch beeindruckt. »Das wäre mein größter Wunsch, daß sie das Geld nähmen. Es treibt mich schon die Wände hoch.« Sie schob ihren Abrechnungszettel zur Seite, öffnete eine Tür neben der kleinen Zelle, und Guillam drückte sich hinein.
»Nicht sehr komfortabel, nicht wahr?« sagte das Mädchen und verzog den Mund. Ihre Stimme klang fast kultiviert - wahrscheinlich eine Londoner Studentin, die sich ein Taschengeld verdient, dachte Guillam. Er rief das Hotel Clarendon an und verlangte Mr. Savage. Fast unmittelbar darauf hörte er Smileys Stimme.
»Er ist da«, sagte Guillam. »Die ganze Zeit hier gewesen. Muß sich noch ein zweites Billett gekauft haben. Er ist vorne im Parkett gesessen. Mendel hat ihn plötzlich bemerkt, wie er den Gang hinaufhinkte.«
» Hinkte?«
»Ja, es ist nicht Mundt, es ist der andere, Dieter.«
Smiley antwortete nicht, und nach einer Weile sagte Guillam: »George, sind Sie noch da?«
»Wir sitzen in der Patsche, fürchte ich, Peter. Wir haben nichts gegen Frey vorzubringen. Lassen Sie Ihre Leute nach Hause gehen. Sie werden Mundt heute abend nicht finden. Ist der erste Akt schon vorbei?«
»Es muß gleich Pause sein.«
»Ich bin in zwanzig Minuten drüben. Passen Sie wie der Teufel auf Elsa auf - und wenn sie weggehen und sich trennen, dann soll Mendel sich an Dieter anhängen. Während des letzten Aktes stellen Sie sich im Foyer auf, für den Fall, daß sie früher weggehen.«
Guillam legte den Hörer in die Gabel und wandte sich dem Mädchen zu. »Danke«, sagte er und legte vier Pennies auf ihren Tisch. Sie sammelte sie rasch zusammen und drückte sie ihm in die Hand.
»Um Gottes willen«, sagte sie, »machen Sie mein Unglück nicht noch größer.«
Er ging hinaus auf die Straße und sprach mit einem Kriminalbeamten in Zivil, der auf dem Gehsteig herumbummelte. Dann eilte er zurück ins Theater und kam zu Mendel zurück, gerade als der Vorhang nach dem ersten Akt fiel.
Elsa und Dieter saßen Seite an Seite. Sie redeten ganz fröhlich miteinander, Dieter lachte, Elsa war animiert und gesprächig wie eine Marionette, die ihr Meister zum Leben erweckt hatte. Mendel beobachtete sie fasziniert. Sie lachte über irgend etwas, das Dieter gesagt hatte, beugte sich vor und legte ihre Hand auf seinen Arm. Er sah ihre dünnen Finger auf dem Ärmel seines Smokings und bemerkte, wie Dieter den Kopf neigte und ihr etwas zuflüsterte, das sie wieder zum Lachen brachte. Während Mendel ihnen so zusah, wurde die Beleuchtung langsam schwächer, und das Reden des Publikums verstummte in der Erwartung des zweiten Aktes.
Smiley verließ das Hotel Clarendon und ging langsam auf dem Gehsteig dem Theater zu. Wenn er jetzt darüber nachdachte, leuchtete es ihm ein: Es war nur logisch, daß Dieter gekommen war. Mundt zu schicken wäre ja heller Wahnsinn gewesen. Wie lange wohl Elsa und Dieter brauchen würden, um daraufzukommen, daß es nicht Dieter war, der sie gerufen hatte, nicht Dieter, der die Postkarte durch einen vertrauten Kurier geschickt hatte. Das wird ein interessanter Moment sein. Er wünschte sich aus ganzer Seele die Gelegenheit zu noch einem Gespräch mit Elsa Fennan.
Wenige Minuten später ließ er sich ruhig auf dem leeren Sitz neben Guillam nieder. Es war lange her, daß er Dieter gesehen hatte.
Er hatte sich nicht verändert. Er war noch immer derselbe unwahrscheinliche Romantiker mit dem Zauber eines Scharlatans, dieselbe unvergeßliche Gestalt, die in den Ruinen Deutschlands gekämpft hatte, unerbittlich am Ziel festhaltend, satanisch in den Mitteln, dunkel und schnell wie die Götter des Nordens. Smiley hatte ihnen damals an dem Abend in seinem Klub nicht die Wahrheit gesagt. Dieter war tatsächlich ohne Maß. Seine Schlauheit, seine Ideen, seine Stärke und seine Träume - alles war größer als das Leben selbst und nicht durch den mäßigenden Einfluß der Erfahrung gemildert. Er war ein Mann, der nur in absoluten Begriffen dachte und handelte, ein Mann ohne Geduld oder Kompromißbereitschaft.
Wie Smiley an diesem Abend so in dem dunklen Theater saß und Dieter über die Masse der bewegungslosen Köpfe hin beobachtete, kamen ihm Erinnerungen an frühere Zeiten. Erinnerungen an gemeinsam bestandene Gefahren, an gegenseitiges Vertrauen, als damals jeder das Leben des andern in der Hand gehalten hatte . . . Einen kurzen Augenblick lang dachte Smiley fast, Dieter hätte ihn gesehen, hatte er das Gefühl, daß Dieters Augen auf ihn gerichtet wären und ihn im Halbdunkel beobachteten.
Als der zweite Akt dem Ende zuging, erhob sich Smiley, und als der Vorhang fiel, verschwand er schnell durch den Seitenausgang und wartete, im Korridor versteckt, bis zum letzten Akt geläutet wurde. Mendel kam kurz vor Ende der Pause zu ihm, und Guillam huschte vorbei, um seinen Posten im Foyer einzunehmen.
»Jetzt gibt es Verdruß«, sagte Mendel. »Sie streiten. Sie sieht aus, als ob sie Angst hätte. Sie scheint immer wieder etwas zu sagen, und er schüttelt nur den Kopf. Sie ist ganz aus dem Häuschen, glaube ich, und er sieht beunruhigt aus. Er hat angefangen, im Theater herumzuschauen, als säße er in einer Falle, als prüfte er Möglichkeiten und machte Pläne. Er hat auch dorthin gesehen, wo Sie sitzen.«
»Er wird sie nicht allein gehen lassen«, sagte Smiley. »Er wird warten und zusammen mit dem anderen Publikum hinausgehen. Sie werden nicht vor Schluß verschwinden. Er rechnet wahrscheinlich damit, daß er eingekesselt ist. Er wird sein Heil darin suchen, uns dadurch zu verwirren, daß er sich von ihr plötzlich mitten im Gedränge trennt - sie eben einfach verliert.«
»Was spielen wir eigentlich für ein Spiel? Warum können wir nicht einfach hin und sie festnehmen?«
»Wir warten eben bloß. Ich weiß nicht, weshalb. Übrigens haben wir keine Beweise. Weder für Mord noch für Spionage, bis sich Maston dazu aufrafft, etwas zu tun. Aber behalten Sie eines im Auge: Dieter weiß das nicht. Wenn Elsa nervös ist und Dieter beunruhigt, dann werden sie bestimmt irgend etwas tun - das ist sicher. Solange sie glauben, daß das Spiel aus ist, haben wir eine Chance. Sie sollen nur davonlaufen, in Panik ausbrechen, was sie wollen. Bis sie etwas tun . . .«
Wieder wurde es dunkel im Theater, aber als Smiley heimlich hinsah, bemerkte er, daß sich Dieter zu Elsa beugte und ihr etwas zuflüsterte. Seine Linke hielt ihren Arm, und seine ganze Haltung war so, als versuche er, ihr etwas dringend einzureden und sie zu beruhigen.
Das Stück ging weiter, die Rufe der Soldaten und das Gekreische des wahnsinnigen Königs erfüllten das Theater bis zum fürchterlichen Höhepunkt seines schmählichen Endes, als ein Seufzer aus dem Parkett zu hören war. Dieter hatte jetzt seinen Arm um Elsas Schultern gelegt, er hatte ihren Schal um ihren Hals geschlungen und schien sie wie ein schlafendes Kind zu beschirmen. In dieser Stellung blieben sie bis zum letzten Vorhang. Beide applaudierten nicht. Dieter sah sich nach Elsas Handtasche um, sagte irgend etwas Aufmunterndes zu ihr und stellte sie ihr auf den Schoß. Sie nickte ganz leicht. Ein einleitender Trommelwirbel veranlaßte das Publikum, sich zur Nationalhymne zu erheben - Smiley stand automatisch auf und bemerkte zu seinem Erstaunen, daß Mendel verschwunden war. Dieter stand langsam auf, und dabei wurde es Smiley klar, daß etwas passiert war. Elsa saß noch immer, und obwohl Dieter ihr sanft zuzureden schien, doch aufzustehen, reagierte sie nicht. Sie saß merkwürdig verrenkt da, und der Kopf war ihr nach vorn auf die Brust gesunken . . .
Man spielte gerade die letzten Takte der Nationalhymne, als Smiley zur Tür stürzte und durch den Korridor und über die Stiegen hinunter ins Foyer rannte. Er kam gerade einen Augenblick zu spät, denn der erste Schwall von eiligen Theaterbesuchern, die auf der Suche nach Taxis auf die Straße drängten, kam ihm schon entgegen. Er sah sich in der Menge verzweifelt nach Dieter um, wußte aber, daß es hoffnungslos war. Daß Dieter das getan hatte, was er selbst getan haben würde: nämlich einen der Notausgänge benutzt hatte, die auf die Straße führten, wo er in Sicherheit war. Er arbeitete sich mit seinen breiten Schultern langsam mitten durch die Menschenmenge gegen den Eingang zum Parkett durch. Sich zwischen den Körpern der ihm Entgegenkommenden bald hierhin, bald dorthin wendend und durchdrängend, sah er Guillam, der am Rande des Menschenstromes stand und verzweifelt nach Dieter und Elsa Ausschau hielt. Er rief ihn an, und Guillam drehte sich schnell um.
Smiley schob sich weiter vor und langte schließlich bei der niedrigen Trennwand an, wo er Elsa sehen konnte, die bewegungslos dasaß, während überall die Männer aufstanden und die Frauen nach ihren Umhängen und Handtaschen griffen. Dann hörte er den Schrei. Er kam plötzlich und war kurz und erfüllt von heftigstem Schrecken und Ekel. Ein Mädchen stand im Gang und blickte Elsa an. Sie war jung und sehr hübsch. Die Finger ihrer rechten Hand hatte sie an den Mund gepreßt, und ihr Gesicht war totenbleich. Ihr Vater, ein großer, blasser Mann, stand hinter ihr. Er nahm sie schnell um die Schultern und zog sie weg, nachdem ihm die schreckliche Szene klar geworden war.
Elsas Schal war heruntergefallen, und ihr Kopf tief auf die Brust gesunken.
Smiley hatte recht gehabt. »Sie sollen nur davonlaufen, in Panik ausbrechen, was sie wollen ... bis sie etwas tun . . .« Das war es also, was sie getan hatten. Dieser zerbrochene, arme Körper war ein Zeuge ihrer Panik.
»Es ist wohl am besten, Sie holen die Polizei, Peter. Ich gehe nach Hause. Halten Sie mich aus der Sache draußen, wenn Sie können. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.« Er nickte, als wäre es zu sich selber. »Ich gehe nach Hause.«
Es war neblig, und ein feiner Regen fiel, als Mendel bei der Verfolgung Dieters rasch die Fulham Palace Road überquerte. Die Scheinwerfer der Autos tauchten plötzlich zwanzig Fuß vor ihm aus dem nassen Nebel auf.
Er hatte keine andere Wahl, als immer auf ganz kurze Distanz auf Dieters Fersen zu bleiben, nie mehr als ein Dutzend Schritte hinter ihm. Die Gasthäuser und Kinos hatten schon zu, aber die Café-Bars und Tanzetablissements zogen noch immer lärmende Gruppen von Passanten an, die die Gehsteige bevölkerten. Wie Dieter so vor ihm herhinkte, folgte ihm Mendel im Licht der Straßenlaternen. Seine Silhouette wurde jedesmal plötzlich deutlich, wenn er in den nächsten Lichtkegel kam.
Trotz seines Hinkens ging Dieter schnell. Dadurch, daß er längere Schritte machte, wurde das Hinken auffallender, und es sah aus, als schwinge er sein linkes Bein durch eine plötzliche Anstrengung seiner breiten Schultern nach vorne.
Auf Mendels Gesicht war ein merkwürdiger Ausdruck. Nicht von Haß oder eiserner Entschlossenheit, sondern von offenem Ekel. Für ihn bedeutete das ganze beschönigende Drum und Dran von Dieters Beruf nicht das mindeste. Er sah an dem Wild, das er verfolgte, nur den Schmutz des Verbrechers, die klägliche Feigheit eines Mannes, der andere dafür bezahlte, daß sie für ihn mordeten. Als Dieter sich vorsichtig aus dem Zuschauerraum davongemacht hatte und zum Seitenausgang geschlichen war, hatte Mendel darin das gesehen, was er erwartet hatte: irgendeine Hinterlist eines gemeinen Verbrechers. Das war etwas, das er voraussah und verstand. Für Mendel gab es nur eine Art von Kriminellen, angefangen vom Taschendieb und Einschleichdieb bis zum Großbetrüger, der das Recht zu handeln nach seinem Belieben für sich zurechtbog. Sie befanden sich alle außerhalb des Gesetzes, und es war seine ekelhafte, aber notwendige Aufgabe, ihnen das Handwerk zu legen und sie an einen sicheren Ort zu bringen. Dieser Verbrecher hier war zufälligerweise ein Deutscher.
Der Nebel wurde dick und gelb. Keiner von ihnen hatte einen Mantel an. Was Mrs. Fennan wohl jetzt tun würde, dachte Mendel. Guillam würde sich schon um sie kümmern. Sie hatte Dieter nicht einmal angesehen, als er sich davonmachte. Das war eine merkwürdige Person. Ganz Haut und Knochen und gute Werke, so sah sie aus. Sie lebte wohl von trockenem Toast und Suppenwürfeln.
Dieter bog plötzlich nach rechts in eine Seitengasse ein und dann in eine andere nach links. Sie waren nun schon eine Stunde unterwegs, und er wurde noch immer keine Spur langsamer. Die Straße schien menschenleer zu sein, wenigstens konnte Mendel keine anderen Schritte als ihre eigenen hören, deren knirschendes kurzes Echo im Nebel zerflatterte. Jetzt waren sie in einer schmalen Gasse mit Häusern aus der Zeit der Königin Victoria, die nicht ganz stilreine Regency-Fassaden, große Vorbauten und Schiebefenster hatten. Mendel schätzte, daß sie irgendwo in der Nähe des Fulham Broadway waren, vielleicht noch weiter, näher bei der King's Road. Noch immer ließ Dieters Tempo nicht nach, noch immer glitt der schräge Schatten vorwärts durch den Nebel, zielbewußt und seines Weges sicher.
Als sie sich einer Hauptstraße näherten, hörte Mendel wieder das klägliche Gewinsel des Verkehrs, der durch den Nebel fast zum Stillstand gekommen war. Dann warf von irgendwoher aus dem Nichts ein gelbes Straßenlicht, wie eine Aureole der Wintersonne mit klaren Konturen, einen fahlen Schein. Dieter zögerte einen Augenblick am Straßenrand, und dann, ohne Rücksicht auf den Verkehr, der sich aus dem Nichts an ihnen vorübertastete, überschritt er die Straße und stürzte sich sofort in eine der unzähligen Gassen, die, dessen war Mendel sicher, zum Fluß führten.
Mendels Kleider waren triefend naß, und der feine Regen rann ihm über das Gesicht. Jetzt mußten sie ganz nahe am Fluß sein, denn er konnte den Geruch von Teer und Koks, die heimtückische Kälte des offenen Wassers wahrnehmen. Einen Moment lang dachte er, Dieter wäre verschwunden. Er beschleunigte seine Schritte, stolperte über einen Randstein, rannte weiter und sah das Geländer des Themsekais vor sich. Stufen führten zu einem eisernen Tor im Geländer, das halb offenstand. Er stand an dem Durchgang und sah nach unten ins Wasser. Eine starke Holztreppe führte hinunter, und Mendel hörte das ungleichmäßige Echo von Dieters Schritten, der, durch den Nebel verborgen, seinen merkwürdigen Weg hinunter zum Wasser fortsetzte. Mendel wartete zuerst und ging dann vorsichtig und leise die Holztreppe hinab. Sie war solide gebaut, mit einem starken Holzgeländer beiderseits. Sie war wohl schon ziemlich alt, dachte Mendel. Unten war ein langer schwimmender Steg aus Öltonnen und Planken an der Treppe befestigt. Man konnte drei verwahrloste alte Hausboote durch den Nebel erkennen, die sanft in ihren Vertäuungen schaukelten.
Lautlos schlich sich Mendel auf den Steg und sah sich die Hausboote der Reihe nach genau an. Zwei lagen knapp nebeneinander und waren durch eine Planke verbunden. Das dritte lag etwa fünf Meter weiter vertäut, und in der Kabine vorne brannte ein Licht. Mendel kehrte zum Kai zurück und schloß das Tor sorgfältig hinter sich.
Langsam ging er die Straße entlang. Er wußte noch immer nicht genau, wo er war. Nach ungefähr fünf Minuten bog der Gehsteig plötzlich nach links ab und begann leicht anzusteigen. Er vermutete, daß er auf einer Brücke war. Er entzündete sein Feuerzeug, und die lange Flamme beleuchtete eine Steinmauer zu seiner Rechten. Er bewegte das Feuerzeug hin und her und sah endlich eine nasse, schmutzige Messingplatte, auf der »Battersea Bridge« stand. Dann ging er zum Eisentor zurück, blieb einen Augenblick lang stehen und orientierte sich nach der Erinnerung.
Irgendwo rechts über ihm mußten die vier großen Schornsteine des E-Werkes von Fulham im Nebel verborgen sein: Linker Hand war die Cheyne Walk mit der Reihe von kleinen eleganten Booten, die bis Battersea Bridge reichte. Der Platz, an dem er stand, markierte die Trennungslinie zwischen dem Eleganten und dem Dreckigen, dort, wo die Cheyne Walk auf die Lots Road trifft, eine der scheußlichsten Straßen in ganz London. Die Südseite dieser Straße bilden Lagerhäuser, Werften und Fabriken, während die Nordseite aus einer ununterbrochenen Reihe von schwarzen schmutzigen Häusern besteht, wie sie für die Seitenstraßen von Fulham typisch sind.
Im Schatten der vier Schornsteine, vielleicht zwanzig Meter vom Anlegeplatz an der Cheyne Walk entfernt, hatte also Dieter einen Unterschlupf gefunden. Ja, Mendel kannte den Platz gut. Nur ein paar hundert Meter weiter den Fluß hinauf hatte man die irdischen Überreste von Mr. Adam Scarr aus den nassen Fluten der Themse geborgen.
Echo im Nebel
Es war schon lange nach Mitternacht, als Smileys Telefon läutete. Er stand aus dem Lehnstuhl auf, den er sich vor den Gaskamin gerückt hatte, und ging mühsam die Stiege hinauf, wobei er sich im Gehen mit der rechten Hand fest am Treppengeländer anhielt. Ohne Zweifel war es Peter oder die Polizei, und er würde eine Aussage machen müssen. Vielleicht war es sogar die Presse. Der Mord hatte zu einem Zeitpunkt stattgefunden, daß er gerade noch in die heutigen Zeitungen kommen konnte. Für den Abendbericht im Rundfunk war es ja, Gott sei Dank, zu spät gewesen. Wie würden die Schlagzeilen lauten? »Wahnsinniger mordet im Theater«? oder »Mord durch Würgegriff - das Opfer eine angesehene Dame« ? Er haßte die Presse genauso, wie er die Reklame und das Fernsehen haßte, er haßte diese Massenmedien, die ganzen rücksichtslosen Suggestionsmittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Alles, was er liebte, war das Produkt eines ausgeprägten Individualismus. Deshalb haßte er jetzt Dieter und das, wofür er eintrat, stärker als jemals vorher. Es war die unerträgliche Anmaßung, die Masse vor das Individuum zu stellen. Wann hatten Massenphilosophien je Segen oder Erkenntnis gebracht? Dieter kümmerte das menschliche Leben nicht das geringste. Er träumte nur von Armeen gesichtsloser Menschen, die durch ihren kleinsten gemeinsamen Nenner zusammengehalten wurden. Er wollte die Welt so schaffen, als wäre sie ein Baum, den er nach Belieben zustutzen konnte, damit sie dem liniengetreuen Idealbild entspreche. Zu diesem Zweck hatte er sich leere, entseelte Automaten, wie Mundt einer war, geschaffen. Mundt hatte genauso kein Gesicht wie Dieters Armee, er war ein gedrillter Mörder und entstammte der besten Mörderrasse.
Er hob das Telefon ab und nannte seine Nummer. Es war Mendel.
»Wo sind Sie?«
»In der Nähe vom Chelsea Embankment. In einem Gasthaus, das >Der Ballon< heißt, in der Lots Road. Der Wirt ist ein alter Freund von mir. Ich habe ihn herausgeklopft. . . Hören Sie zu, Elsas Freund ist in einem alten Hausboot bei der Getreidemühle in Chelsea in Deckung gegangen. Es ist ein wahres Wunder, wie er sich in diesem Nebel zurechtgefunden hat. Muß irgendwie mit dem Braillesystem seinen Weg ausfindig gemacht haben.«
»Wer?«
»Ihr Freund, ihre Eskorte im Theater. Wachen Sie auf, Mr. Smiley. Was ist los mit Ihnen?«
»Sie sind Dieter nach?«
»Natürlich hab' ich das getan. Das haben Sie doch zu Mr. Guillam gesagt, nicht wahr? Er sollte sich an die Frau halten und ich den Mann übernehmen . . . Wie ist es denn übrigens Mr. Guillam ergangen? Wo ist Elsa hin?«
»Sie ist nirgends mehr hingekommen. Sie war schon tot, wie Dieter weggegangen ist. Mendel, sind Sie noch da? Hören Sie, wo um Gottes willen kann ich Sie finden? Wo ist das? Weiß die Polizei davon?«
»Sie wird es erfahren. Sagen Sie ihr, daß er in einem umgebauten Landungsboot ist, das Sunset Haven heißt. Es liegt auf der Ostseite der Sennen-Werft, zwischen den Getreidemühlen und dem Kraftwerk von Fulham. Sie wird es schon finden . . . aber der Nebel ist dicht, denken Sie daran, der Nebel ist sehr dicht.«
»Wo kann ich Sie denn treffen?«
»Fahren Sie schnurgerade durch bis zum Fluß. Ich werde Sie am nördlichen Ufer der Battersea Bridge erwarten.«
»Ich komme, so schnell ich kann, sobald ich Guillam angerufen habe.«
Irgendwo hatte er ein Schießeisen, und einen Moment lang dachte er daran, es zu suchen. Aber dann kam es ihm irgendwie sinnlos vor. Außerdem, dachte er grimmig, würde der Teufel los sein, wenn er es benutzte. Er rief Guillam in seiner Wohnung an und erzählte ihm, was Mendel berichtet hatte: »Außerdem, Peter, müssen Sie alle Häfen und Flugplätze überwachen. Verfügen Sie, daß der Verkehr auf dem Fluß und alle Schiffe, die auslaufen, besonders bewacht werden. Sie werden schon wissen, wie.«
Er zog einen alten Regenmantel und ein Paar dicke Lederhandschuhe an und ging schnell in den Nebel hinaus.
Mendel erwartete ihn an der Brücke. Sie nickten einander zu, und dann führte ihn Mendel rasch das Embankment entlang, wobei er sich nahe am Fluß hielt, um den Bäumen auszuweichen, die längs der Straße standen. Plötzlich blieb Mendel stehen und ergriff warnend Smileys Arm. Sie rührten sich nicht und horchten. Dann hörte es auch Smiley. Es war das hohle Echo von Schritten auf einem Bretterboden. Es klang unregelmäßig, wie die Schritte eines Hinkenden. Sie hörten das Knarren eines eisernen Tores, das Geräusch, das beim Schließen entstand, und dann wieder die Schritte, die jetzt auf dem Gehsteig fester klangen, lauter wurden und ihnen entgegenkamen. Keiner der beiden rührte sich. Immer lauter und näher klangen sie, dann wurden sie langsamer, und es war ganz still. Smiley hielt den Atem an und versuchte verzweifelt, einen Meter weiter durch den Nebel zu sehen, die verharrende Gestalt wahrzunehmen, von der er wußte, daß sie da war.
Und dann kam er plötzlich wie ein schweres wildes Tier dahergestürmt, brach zwischen ihnen durch, schleuderte sie wie kleine Kinder zur Seite und rannte weiter. Er war wieder verschwunden, und der ungleichmäßige Takt seiner Schritte wurde mit zunehmender Entfernung immer schwächer. Sie drehten sich um und jagten ihm nach, Mendel voran und Smiley hinterher, so gut er konnte. Das Bild, wie Dieter mit der Pistole in der Hand aus dem nächtlichen Nebel auf sie eingedrungen war, stand noch immer lebhaft vor seinen Augen. Vor ihm bog der Schatten Mendels unvermittelt nach rechts ab, und Smiley folgte blindlings. Plötzlich änderte sich der Rhythmus der Schritte zum Stampfen und Scharren eines Handgemenges. Smiley rannte weiter, hörte den unverkennbaren Ton, wenn eine schwere Waffe einen menschlichen Schädel trifft, und dann war er auf dem Kampfplatz. Er sah Mendel am Boden, und Dieter, der sich über ihn beugte, holte gerade aus, um noch einmal mit dem schweren Knauf einer automatischen Pistole zuzuschlagen.
Smiley war außer Atem. Seine Lungen schmerzten ihn von dem kalten schmutzigen Nebel, sein Mund war heiß und trocken und schmeckte nach Blut. Mühsam nach Atem ringend, schrie er verzweifelt: »Dieter!«
Frey sah ihn an, nickte und sagte: »Servus, George«, während er gleichzeitig Mendel einen brutalen Schlag versetzte. Er erhob sich langsam und hielt die Pistole mit beiden Händen nach abwärts, um sie zu spannen.
Smiley stürzte sich blindlings auf ihn. Er vergaß völlig, wie wenig geschickt er mit seinen kurzen Armen immer im Faustkampf gewesen war, wie schlecht er es verstand, mit der offenen Hand zuzuschlagen. Sein Kopf rammte Dieters Brust, er stieß mit aller Kraft nach vorne und trommelte auf Dieters Rücken und Rippen los. Er war völlig außer sich vor Wut, und als er merkte, daß ihm die Raserei Riesenkräfte gab, drückte er Dieter weiter gegen das Geländer der Brücke hin. Dieter hatte das Gleichgewicht verloren und wich, durch sein schwaches Bein behindert, zurück. Smiley wußte, daß Dieter auf ihn losschlug, aber der entscheidende Hieb kam nicht. »Schwein, du Schwein«, schrie er ihm zu, und als Dieter noch weiter zurückwich, bekam Smiley die Arme frei und bearbeitete sein Gesicht jetzt mit ungeschickten, kindlichen Schlägen. Dieter lehnte nach rückwärts, und Smiley sah die klaren Konturen seiner Kehle und seines Kinns, als er mit ganzer Kraft seine offene Hand nach oben stieß. Seine Finger schlossen sich über Dieters Unterkiefer und Mund, und Smiley drückte ihn weiter und weiter zurück.
Dieters Hände waren an Smileys Kehle, und dann klammerten sie sich plötzlich an seinen Kragen, als er einen verzweifelten Versuch machte, sich zu retten, während er langsam nach rückwärts sank. Smiley schlug wie rasend auf seine Arme los, und dann lösten sich die Hände von ihm, und Dieter fiel, fiel in den brodelnden Nebel unter der Brücke. Es war ganz still. Kein Schrei, kein Aufklatschen im Wasser. Er war dahin, dem Nebel Londons und dem schmutzigen schwarzen Fluß darunter wie ein Menschenopfer dargebracht.
Smiley lehnte sich über die Brücke, in seinem Kopf tobte es wild, Blut rann ihm aus der Nase, und die Finger der rechten Hand konnte er nicht gebrauchen. Sie waren anscheinend gebrochen. Seine Handschuhe waren weg. Er blickte in den Nebel hinunter, konnte aber nichts sehen.
»Dieter«, schrie er in der Qual seines Herzens, »Dieter!«
Er rief es noch einmal, aber die Stimme versagte ihm, und er brach in Tränen aus: »Barmherziger Gott, was habe ich getan, ach, mein Jesus, Dieter, warum hast du mich nicht zurückgehalten, warum hast du nicht mit der Pistole zugeschlagen, nicht geschossen?«
Er preßte seine Hände vor das Gesicht und fühlte den Salzgeschmack des Blutes an seinen Handflächen, vermischt mit dem Salz seiner Tränen. Er lehnte sich gegen die Brüstung und weinte wie ein Kind. Irgendwo unter ihm kämpfte ein Krüppel in dem schmutzigen Wasser um sein Leben. Verloren und erschöpft erlag er endlich dem stinkenden Dunkel, das ihn festhielt und hinunterzog.
Als er erwachte, saß Guillam am Fußende seines Bettes und goß Tee ein.
»Da sind Sie ja, George. Willkommen! Es ist zwei Uhr nachmittags.«
»Und heute nacht. . .?«
»Heute nacht haben Sie mit Kamerad Mendel auf der Battersea Bridge Weihnachtslieder gesungen.«
»Wie geht es ihm ... ich meine Mendel?«
»Entsprechend beschämt. Erholt sich aber rasch.«
»Und Dieter . ..?«
»Tot.«
Guillam reichte ihm eine Tasse Tee und einige Ratafia-Kuchen von Fortnums.
»Wie lange sind Sie schon hier, Peter?«
»Ja, also wir sind hergekommen, nachdem wir eine Reihe von taktischen Haken geschlagen hatten. Der erste Seitensprung war in das Spital in Chelsea, wo sie Ihnen die Wunden geleckt und ein recht anständiges Schlafmittel verpaßt haben. Dann sind wir hierher zurück, und ich habe Sie ins Bett gebracht. Das war scheußlich. Dann habe ich eine Menge telefoniert und bin sozusagen mit einer Mistgabel herum und habe Ordnung gemacht. Gelegentlich habe ich nach Ihnen gesehen. Cupido und Psyche könnte man sagen. Sie haben entweder wie ein Sattelrücken geschnarcht oder Webster zitiert.«
»Um Gottes willen!«
»Ich glaube, es war aus >Die Herzogin von Malfi<: >Ich bat dich, als ich ganz von Sinnen war: Geh hin und morde meinen liebsten Freund, und du hast's getan!< Das ist ein entsetzlicher Blödsinn, George.«
»Wie hat uns denn die Polizei gefunden, Mendel und mich?«
»George, Sie werden es vielleicht nicht wissen, aber Sie haben Dieter Schimpfworte zugebrüllt, als ob . . .«
»Ja, natürlich. Sie haben es gehört.«
»Wir haben es gehört.«
»Was ist mit Maston? Was sagt Maston zu dem Ganzen?«
»Ich glaube, er will Sie sehen. Ich soll Ihnen ausrichten, Sie möchten bei ihm vorbeikommen, sobald Sie sich wieder gesund genug fühlen. Ich weiß nicht, was er darüber denkt. Gar nichts, vermute ich.«
»Wie meinen Sie das?«
Guillain goß frischen Tee ein.
»Strengen Sie Ihre Hirnwindungen an, George. Alle drei Hauptpersonen in diesem kleinen Märchen sind jetzt von den Bären aufgefressen worden. In den letzten sechs Monaten sind keine geheimen Dokumente verraten worden. Glauben Sie wirklich, daß Maston sich für die Details interessieren wird? Glauben Sie wirklich, daß er keinen größeren Wunsch hat, als dem Außenamt die frohe Kunde zu bringen - und gleichzeitig zuzugeben, daß wir Spione nur fangen können, wenn wir über ihre Leichen stolpern?«
Es läutete, und Guillam ging hinunter, um aufzumachen. Erstaunt hörte Smiley, wie er den Chef in die Halle führte, dann ein mit leiser Stimme geführtes Gespräch und Schritte, die die Treppe heraufkamen. Es klopfte, und Maston kam herein. Er hatte einen unsinnig großen Blumenstrauß in der Hand und sah aus, als käme er gerade von einer Garden-Party. Smiley erinnerte sich daran, daß Freitag war. Ohne Zweifel ging er zum Wochenende nach Henley. Er grinste. Mußte wohl den ganzen Weg die Treppe herauf gegrinst haben.
»Na, George, wieder auf dem Kriegspfad?«
»Ja, leider. Ich hatte wieder einen Unfall.«
Er setzte sich auf die Bettkante und lehnte sich über das Bett, indem er sich auf der anderen Seite von Smileys Beinen mit einer Hand aufstützte.
Nach einer Pause sagte er: »Sie haben bereits meinen Brief bekommen, George?«
»Ja.«
Wieder eine Pause.
»Es ist von einer neuen Abteilung im Department geredet worden, George. Wir, also das Department, haben das Gefühl, daß wir dem Studium der Technik größere Aufmerksamkeit zuwenden sollten, besonders mit Rücksicht auf die Satellitenspionage. Das ist auch der Standpunkt des Innenministeriums, wie ich erfreulicherweise sagen kann. Guillam hat sich bereit erklärt, bei der Ausarbeitung der Richtlinien als Berater zur Verfügung zu stehen. Ich überlegte, ob Sie die Sache übernehmen würden. Mit der entsprechenden Beförderung natürlich und der eventuellen Begünstigung, daß Sie nach Erreichen des vorgeschriebenen Pensionsalters noch weiterarbeiten könnten. Unsere Leute von der Personalabteilung sind in dieser Sache ganz auf meiner Seite.«
»Danke . . . vielleicht dürfte ich es mir durch den Kopf gehen lassen. Darf ich das?«
»Selbstverständlich . . . selbstverständlich.« Maston sah ein wenig enttäuscht aus. »Wann werden Sie es mich wissen lassen? Es wird vielleicht notwendig sein, einige neue Leute hereinzunehmen, und da erhebt sich die Platzfrage . . . Benutzen Sie das Wochenende zum Überlegen und verständigen Sie mich am Montag. Meine Sekretärin wird gerne . . .«
»Ja, ich werde mich melden. Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.«
»Aber, ich bitte Sie. Übrigens, ich bin ja nur der Verbindungsmann zum Ministerium, George. Es ist tatsächlich eine Entscheidung interner Natur. Ich bin nur der Überbringer der guten Botschaft, George. In meiner üblichen Funktion als Laufjunge.«
Maston sah Smiley einen Augenblick scharf an, zögerte dann und sagte schließlich: »Ich habe den Minister informiert . . . soweit das notwendig war. Der Innenminister war auch anwesend.«
»Wann war das?«
»Heute vormittag. Wir haben einen Protest an die Ostdeutschen erwogen und Landesverweisung für diesen Mundt.«
»Aber wir haben ja Ostdeutschland nicht anerkannt.«
»Sehr richtig. Das war die Schwierigkeit. Es ist aber möglich, den Protest über einen vermittelnden Staat zu leiten.«
»Wie zum Beispiel Rußland?«
»Sehr richtig. Aber es tauchten verschiedene Gegenargumente auf. Man hatte das Gefühl, daß jede Art von Publizität in dieser Sache sich letzten Endes gegen die Interessen der Nation auswirken würde. Es besteht gegen die Wiederbewaffnung Westdeutschlands sowieso schon eine gewisse feindselige Einstellung hier im Lande. Man meinte, daß jede Nachricht von deutschen Quertreibereien - ob sie nun von den Russen inspiriert sind oder nicht - diese Feindseligkeit verstärken würde. Es gibt ja kein positives Zeugnis dafür, daß Frey für die Russen gearbeitet hat, verstehen Sie. Es könnte der Öffentlichkeit leicht so dargestellt werden, als habe er aus eigener Initiative gearbeitet oder für ein geeintes Deutschland.«
»Aha.«
»Bisher sind die Tatsachen überhaupt nur sehr wenigen Leuten bekannt. Das ist ein außergewöhnlich glücklicher Umstand. Was die Polizei angeht, so hat der Innenminister sich vorläufig damit einverstanden erklärt, daß sie ihren Teil dazu beitragen wird, um die Affäre so weit wie möglich zu vertuschen . . . Übrigens, dieser Mendel, was ist das für ein Mensch? Ist er vertrauenswürdig?«
Smiley hätte ihn dafür erwürgen können.
»Ja«, sagte er.
Maston stand auf. »Gut«, meinte er, »sehr gut. Also, ich muß sehen, daß ich weiterkomme. Hätten Sie gerne irgendwas, oder könnte ich etwas für Sie tun?«
»Nein, danke. Guillam sorgt wunderbar für mich.«
Maston stand an der Tür. »Also, alles Gute, George. Nehmen Sie, wenn möglich, an.« Er sagte es schnell, mit unterdrückter Stimme und einem freundlichen Lächeln, als ob es ziemlich viel bedeute.
»Schönen Dank für die Blumen«, rief Smiley.
Dieter war tot, und er hatte ihn umgebracht. Dafür waren die gebrochenen Finger seiner rechten Hand, sein zerschlagener, steifer Körper, die rasenden Kopfschmerzen 'und das quälende Schuldgefühl das beste Zeugnis. Und Dieter hatte zugelassen, daß er es tat, hatte nicht geschossen, hatte sich ihrer Freundschaft erinnert, während Smiley sie zur Seite gestoßen hatte.
Sie hatten in einer Wolke gekämpft, in der steigenden Flut des Stromes, in der Lichtung eines zeitlosen Hochwaldes. Sie hatten einander getroffen, zwei wiedervereinigte Freunde, und wie wilde Bestien gekämpft. Dieter hatte sich erinnert und Smiley nicht. Sie waren aus verschiedenen Hemisphären der Nacht hergekommen, aus verschiedenen Welten, in denen man verschieden dachte und handelte. Dieter, der schnell Urteilende, der Absolute, hatte gekämpft, um eine neue Welt zu bauen, Smiley, der gründlich Überlegende, der Bewahrer, hatte gekämpft, um ihn daran zu hindern. »Ach Gott«, sagte Smiley laut vor sich hin, »welcher war nun der Gentleman . . .?«
Mühsam stand er aus dem Bett auf und begann sich anzuziehen. Im Stehen war ihm besser.
Lieber Mr. Maston
»Lieber Mr. Maston,
endlich bin ich so weit, daß ich auf das Angebot der Personalabteilung, mir einen höheren Posten im Department anzuvertrauen, antworten kann. Es tut mir leid, daß dies erst so spät geschieht, doch war ich, wie Ihnen bekannt ist, in der letzten Zeit nicht gesund und hatte mich auch mit einer Reihe persönlicher Probleme auseinanderzusetzen, die außerhalb des Bereiches des Departments liegen.
Da ich noch immer unpäßlich bin, habe ich mich zu der Entscheidung durchgerungen, daß es unklug von mir wäre, das Angebot anzunehmen. Ich darf Sie bitten, das der Personalabteilung mitzuteilen.
Ich bin sicher, daß Sie mich verstehen werden.
Ihr George Smiley«
»Lieber Peter,
ich schließe einen Bericht über den Fall Fennan bei. Es ist das einzige Exemplar. Wenn Sie ihn gelesen haben, dann schicken Sie ihn bitte an Maston weiter. Ich dachte, es könnte von Wert sein, den Gang der Ereignisse aufzuschreiben - auch wenn sie nicht stattgefunden haben.
Immer Ihr alter George«
Der Fall Fennan
Am Montag, dem z. Januar, wurde Samuel Arthur Fennan, ein höherer Beamter des Außenministeriums, von mir einvernommen, um gewisse Beschuldigungen klarzustellen, die in einem anonymen Brief gegen ihn erhoben worden waren. Die Einvernahme wurde in der üblichen Weise arrangiert, das heißt, mit Wissen und Einverständnis des Außenministeriums. Über Fennan war uns nichts Nachteiliges bekannt, außer daß er in den dreißiger Jahren, während er in Oxford war, mit den Kommunisten sympathisiert hatte, welcher Tatsache wir allerdings wenig Bedeutung beilegten. In gewissem Sinne war daher die Einvernahme eine reine Routineangelegenheit.
Fennans Zimmer im Außenamt erwies sich dafür als ungeeignet, und wir kamen überein, unser Gespräch im St.-James-Park fortzusetzen, weil so schönes Wetter war.
Es hat sich später herausgestellt, daß wir dabei von einem Agenten des ostdeutschen Spionagedienstes erkannt und beobachtet wurden, der während des Krieges mit mir zusammengearbeitet hatte. Es steht nicht fest, ob er Fennan etwa dauernd beobachtete oder nur zufällig im Park anwesend war.
In der Nacht auf den 3. Februar berichtete die Polizei von Surrey, daß Fennan Selbstmord begangen habe. In einem Abschiedsbrief, den Fennan unterschrieben hatte, wurde behauptet, daß er ein Opfer der Methoden der Sicherheitsbehörden geworden sei.
Während der Untersuchung stellten sich jedoch folgende Tatbestände heraus, die auf ein Verbrechen zu deuten schienen:
1. Um 7 Uhr 55 des Abends, an dem Fennan starb, hatte er die Telefonzentrale in Walliston gebeten, ihn um 8 Uhr 30 am nächsten Morgen anzurufen.
2. Fennan hatte sich kurz vor seinem Tod eine Tasse Kakao bereitet und nicht getrunken.
3. Er hatte sich vermutlich in der Halle am Fuße der Treppe erschossen. Der Brief lag neben der Leiche.
4. Es schien unlogisch, daß er seinen letzten Brief auf der Maschine geschrieben haben sollte, und noch merkwürdiger, daß er die Stiege hinunter in die Halle gegangen wäre, um sich zu erschießen.
5. An seinem Todestag gab er einen Brief auf, in dem er mich dringend bat, am folgenden Tag mit ihm bei >Marlow< zu lunchen.
6. Später stellte sich auch heraus, daß sich Fennan Mittwoch, den 4. Januar, freigenommen hatte. Das hatte er anscheinend seiner Frau gegenüber nicht erwähnt.
7. Es wurde auch festgestellt, daß der Abschiedsbrief auf Fennans eigener Maschine geschrieben worden war - und daß gewisse Schriftmerkmale mit denen des anonymen Briefes identisch waren. Der Bericht des Laboratoriums stellte jedoch fest, daß die beiden Briefe zwar auf derselben Maschine, aber nicht von derselben Person geschrieben worden waren.
Mrs. Fennan, die an dem Abend, an dem ihr Mann starb, im Theater gewesen war, wurde ersucht, den Anruf der Telefonzentrale um 8 Uhr 30 zu erklären, und behauptete fälschlich, daß sie ihn selbst bestellt hätte. In der Zentrale war man ganz sicher, daß das nicht zutraf. Mrs. Fennan behauptete, ihr Mann sei seit der Einvernahme durch den Sicherheitsdienst nervös und deprimiert gewesen, was das Zeugnis seines Abschiedsbriefes erhärtete.
Kurz nach Mittag am 4. Januar, nachdem ich Mrs. Fennan früher am Tage verlassen hatte, kehrte ich in mein Haus in Kensington zurück. Da ich flüchtig jemanden am Fenster sah, läutete ich an der Eingangstür. Diese wurde von einem Mann geöffnet, der später als ein Mitglied des ostdeutschen Spionagedienstes identifiziert wurde. Er bat mich einzutreten, aber ich lehnte ab und kehrte zu meinem Wagen zurück, während ich mir gleichzeitig die Nummern der in der Nähe parkenden Autos merkte.
Am selben Abend besuchte ich eine kleine Garage in Battersea, um mich nach der Herkunft eines dieser Wagen zu erkundigen, der unter dem Namen des Eigentümers dieser Garage registriert war. Ich wurde von einem unbekannten Angreifer attackiert und bewußtlos geschlagen. Drei Wochen später wurde der Garagenbesitzer, ein gewisser Adam Scarr, in der Nähe der Battersea Bridge tot aus der Themse gezogen. Zum Zeitpunkt seines Ertrinkens war er alkoholisiert gewesen. Zeichen von Gewaltanwendung wurden nicht entdeckt, und er war als schwerer Trinker bekannt gewesen.
Es ist von Bedeutung, daß Scarr in den letzten vier Jahren einem Ausländer, dessen Namen er nicht kannte, die Möglichkeit verschafft hatte, einen Wagen zu benutzen, und dafür sehr reichliche Bezahlung erhalten hatte. Ihre Vereinbarung zielte darauf ab, die Identität des Fahrzeugbenutzers zu verbergen, sogar vor Scarr selbst, der von seinem Kunden nur den Decknamen >Blondie< kannte und ihn nur über eine Telefonnummer erreichen konnte. Die Telefonnummer ist wichtig. Es war die der Ostdeutschen Stahl-Mission.
Inzwischen war Mrs. Fennans Alibi für den Abend, an dem der Mord stattgefunden hatte, untersucht worden, und es kamen bedeutsame Tatsachen ans Licht:
1. Mrs. Fennan besuchte zweimal im Monat, immer am ersten und am dritten Dienstag, das Repertoire-Theater in Weybridge. (Notabene: Adam Scarrs Kunde hatte seinen Wagen ebenfalls am ersten und am dritten Dienstag jeden Monats geholt.)
2. Sie brachte immer eine Notenmappe mit, die sie in der Garderobe deponierte.
3. Im Theater traf sie sich immer mit einem Mann, dessen Personenbeschreibung mit der meines Angreifers und der von Scarrs Kunden übereinstimmte. Ein Mitglied des Theaters nahm sogar irrtümlicherweise an, daß dieser Mann Mrs. Fennans Gatte wäre. Auch er brachte eine Notenmappe und ließ sie in der Garderobe.
4. Am Mordabend hatte Mrs. Fennan das Theater früher verlassen, nachdem ihr Freund nicht gekommen war, und vergessen, ihre Notenmappe aus der Garderobe zu holen. Zu einem schon sehr späten Zeitpunkt rief sie das Theater an und sagte, daß sofort jemand kommen würde, der die Mappe holen wolle. Sie habe den Garderobeschein verloren. Die Tasche wurde abgeholt, und zwar von Mrs. Fennans üblichem Begleiter.
In diesem Stadium wurde der Fremde als ein Angestellter der Stahl-Mission namens Mundt identifiziert. Der Chef der Mission war Herr Dieter Frey, der während des Krieges mit unserem Geheimdienst zusammengearbeitet hatte, ein Mann von großer taktischer Erfahrung. Nach dem Kriege war er in Deutschland in der russisch besetzten Zone in den Staatsdienst getreten. Ich möchte noch erwähnen, daß Frey während des Krieges mit mir zusammen auf dem Gebiet des Feindes gearbeitet und sich dabei als ein brillanter, jeder Situation gewachsener Agent erwiesen hatte.
Ich entschloß mich nun, noch einmal mit Mrs. Fennan zu reden. Sie brach zusammen und gestand, bei der Spionage ihres Mannes als Kurier fungiert zu haben. Ihr Mann sei auf einem Skiurlaub vor fünf Jahren von Frey angeworben worden. Sie selber habe nur widerwillig mitgearbeitet, teils aus Loyalität zu ihrem Gatten, teils, um Gelegenheit zu haben, ihn bei der Durchführung seiner Arbeit als Spion vor seiner Zerstreutheit zu schützen. Frey habe mich im Park mit Fennan reden gesehen. Er habe angenommen, daß ich noch immer im Dienst sei, und daraus geschlossen, daß Fennan entweder in Verdacht geraten oder ein Doppelagent sei. Er befahl Mundt, Fennan zu liquidieren, und seine Frau war durch ihre Mitschuld zum Schweigen gezwungen. Sie hatte sogar auf einem Blatt, das schon Fennans Unterschrift trug, den Abschiedsbrief geschrieben.
Das Kommunikationsmittel, das sie bei der Weiterleitung der Ergebnisse der Spionage ihres Gatten an Mundt verwendete, ist von erheblicher Bedeutung. Sie legte die Mitteilungen und Abschriften von Dokumenten in eine Notenmappe, die sie ins Theater mitnahm. Mundt brachte eine ähnliche Mappe, die Geld und Anweisungen enthielt, und deponierte sie ebenso wie Mrs. Fennan in der Garderobe. So brauchten sie nur die Garderobescheine zu tauschen. Als Mundt an dem fraglichen Abend nicht erschien, folgte Mrs. Fennan den erhaltenen Instruktionen und gab den Garderobeschein an eine Adresse in Highgate auf. Sie verließ das Theater, bevor die Vorstellung zu Ende war, um noch die letzte Post aus Weybridge zu erreichen. Als dann Mundt später an diesem Abend die Mappe von ihr verlangte, sagte sie ihm, was sie gemacht hatte. Mundt bestand darauf, die Tasche gleich zu holen, weil er nicht noch einmal aus London nach Weybridge fahren wollte.
Als ich an dem Tag, der auf den Mord folgte, mit Mrs. Fennan gesprochen hatte, versetzte eine meiner Fragen, und zwar die wegen des Anrufes um halb neun, Mrs. Fennan derart in Schrecken, daß sie Mundt anrief. Das erklärt seinen Mordversuch an mir später am gleichen Tage.
Mrs. Fennan gab mir die Adresse und die Telefonnummer, die sie benutzte, wenn sie sich mit Mundt in Verbindung setzen wollte, den sie übrigens unter dem Decknamen Freitag kannte. Beide führten zu dem möblierten Zimmer eines Piloten der »Lufteuropa«, der viel mit Mundt zusammen war und der ihm auch, wenn nötig, Unterkunft gewährte. Der Pilot (vermutlich ein Kurier des ostdeutschen Spionagedienstes) ist seit dem 5. Januar nicht mehr nach England zurückgekehrt.
Das war alles, was Mrs. Fennan verriet, und es führte in gewissem Sinn zu nichts. Der Spion war tot, die Mörder verschwunden. Was man noch tun konnte, war, den entstandenen Schaden zu veranschlagen. Man trat offiziell an das Außenamt heran, und Mr. Felix Taverner wurde beauftragt, aus Aufzeichnungen dieses Amtes festzustellen, welches Material im Verdacht stand, verraten worden zu sein. Eine Liste wurde aufgestellt, in der alle Akten enthalten waren, zu denen Fennan seit seiner Anwerbung durch Frey Zutritt gehabt hatte. Merkwürdigerweise stellte sich dabei heraus, daß er in keiner Weise systematisch Geheimakten angefordert hatte. Fennan hatte sich aus dem Archiv keinerlei geheime Dokumente kommen lassen, außer solchen, die sich auf seine Arbeit bezogen. Während der letzten sechs Monate, in denen seine Vollmacht zum Zutritt zu streng vertraulichem Material bedeutend ausgeweitet worden war, hatte er tatsächlich überhaupt keine Geheimakten mit nach Hause genommen. Die Unterlagen, die er mitnahm, waren alle von geringer Wichtigkeit, und einige davon behandelten Gegenstände, die eigentlich außerhalb des Arbeitsbereiches seiner Abteilung lagen. Das paßte alles nicht zu Fennans Rolle als Spion. Es bestand jedoch die Möglichkeit, daß er nicht mehr Lust hatte weiterzumachen, und daß seine Einladung an mich der erste Schritt zu einem Geständnis gewesen war.
Wenn das der Fall war, dann kann er möglicherweise auch den anonymen Brief geschrieben haben, hinter dem die Absicht stecken konnte, ihn mit dem Department in Kontakt zu bringen.
Zwei weitere Tatsachen sollten an dieser Stelle erwähnt werden: Erstens, am Tage nach Mrs. Fennans Geständnis verließ Mundt auf dem Luftwege das Land unter falschem Namen und mit einem gefälschten Paß. Er entging der Aufmerksamkeit der Behörden auf dem Flugplatz, wurde aber später eindeutig von der Stewardeß identifiziert. Zweitens, Fennans Notizbuch enthielt den vollen Namen und die Adresse von Dieter Frey, was ein flagranter Verstoß gegen die primitivsten Regeln der Spionage ist.
Es war schwer zu verstehen, warum Mundt nach dem Mord an Scarr noch drei volle Wochen in England geblieben war, und noch weniger begreiflich war die Tätigkeit Fennans, wie sie seine Frau dargestellt hatte, wenn man sie mit der offensichtlich völlig planlosen und unergiebigen Auswahl der Dokumente verglich. Eine nochmalige Prüfung der feststehenden Tatsachen führte immer wieder zu folgendem Schluß: Der einzige Beweis dafür, daß Fennan ein Spion war, stammte von seiner Frau.
Wenn es sich so verhielt, wie sie behauptete, weshalb hatte sie dann den Entschluß Mundts und Freys, alle die zu beseitigen, die wegen ihres Wissens gefährlich werden konnten, überlebt?
Aber konnte sie andererseits nicht selbst der Spion sein?
Das wäre eine Erklärung für das Datum der Abreise Mundts gewesen. Er fuhr heim, als ihm Mrs. Fennan versichert hatte, daß ich ihr freimütiges Geständnis akzeptiert hätte. Auch die Eintragung in Fennans Notizbuch wäre dadurch verständlich. Frey war eine zufällige Bekanntschaft beim Skilaufen und ein gelegentlicher Besucher in Walliston. Es würde die Auswahl der Dokumente erklären, die Fennan getroffen hatte - wenn Fennan absichtlich unwichtige Sachen aussuchte, als seine Arbeit hauptsächlich mit geheimen Themen zu tun hatte, dann konnte es nur eine einzige Erklärung geben: Er hatte begonnen, gegen seine Frau Verdacht zu schöpfen. Deshalb die Einladung zu >Marlow<, die ganz natürlich auf unser Zusammentreffen am Vortag folgte. Fennan hatte beschlossen, mir von seinem Verdacht zu berichten, und sich zu diesem Zweck einen Tag freigenommen, was seine Frau offenbar nicht wußte. Es hätte auch erklärt, warum Fennan sich selbst denunzierte. Der Grund war offenbar der, daß er wünschte, sich mit uns in Verbindung zu setzen, was das Vorspiel dazu sein sollte, daß er seine Frau denunzierte.
Wenn man diese Mutmaßungen weiterspann, dann war es auffallend, daß, was das Handwerkliche betrifft, nur Mrs. Fennan effektiv und bewußt arbeitete. Die Technik, die sie und Mundt benutzten, erinnerte an die Freys während des Krieges. Die zusätzliche Vereinbarung, den Garderobeschein mit der Post zu schicken, wenn das Rendezvous nicht geklappt hatte, war bezeichnend für die gewissenhafte Art, mit der er seine Pläne ausarbeitete. Es sah so aus, als hätte Mrs. Fennan mit einer Präzision funktioniert, die kaum mit ihrer Behauptung in Einklang gebracht werden konnte, sie habe bei dem Verrat ihres Mannes widerwillig mitgetan.
Während nun logischerweise Mrs. Fennan in Verdacht geriet, so bestand doch andererseits kein Grund, anzunehmen, daß das, was sie über die Ereignisse in der Nacht der Ermordung ihres Mannes berichtet hatte, notwendigerweise unwahr sei. Hätte sie von der Absicht Mundts, ihren Gatten umzubringen, gewußt, dann hätte sie die Notenmappe nicht ins Theater mitgenommen und noch obendrein den Garderobeschein mit der Post aufgegeben.
Es schien keinen Weg zu geben, Mrs. Fennan etwas nachzuweisen, es sei denn, daß es möglich war, die Verbindung zwischen ihr und ihrem Auftraggeber zu reaktivieren. Während des Krieges hatte sich Frey ein sinnreiches System zur Verständigung in Notfällen ausgedacht, das auf der Verwendung von Fotografien und Ansichtskarten basierte. Der auf dem Foto abgebildete Gegenstand enthielt die Botschaft. Ein religiöses Thema, wie zum Beispiel das Gemälde einer Madonna oder einer Kirche, vermittelte den dringenden Wunsch nach einem Zusammentreffen. Der Empfänger pflegte als Antwort einen mit der eigentlichen Sache in gar keinem Zusammenhang stehenden Brief zu schicken, den er sorgfältig datierte. Das Stelldichein fand dann fünf Tage nach dem auf dem Brief notierten Datum statt.
Es bestand die Möglichkeit, daß Frey, dessen Methoden sich offenbar seit dem Krieg wenig geändert hatten, noch immer dieses System benutzte, das ja auf jeden Fall nur selten gebraucht wurde. Damit rechnend, gab ich an Elsa Fennan eine Ansichtskarte auf, die eine Kirche zeigte, und warf sie in Highgate in den Postkasten. Ich hatte die - allerdings ziemlich kühne - Hoffnung, sie würde annehmen, die Karte käme über Freys Büro. Aber sie reagierte sofort, indem sie eine Karte für eine Vorstellung in einem Londoner Theater an eine unbekannte Adresse abschickte, wobei zu bemerken ist, daß die Vorstellung fünf Tage nach dem Datum, das ich auf die Karte geschrieben hatte, stattfinden sollte. Mrs. Fennans Mitteilung erreichte Frey, der sie für eine dringende Einladung zu einem Rendezvous hielt. Da er wußte, daß Mundt durch Mrs. Fennans »Geständnis« kompromittiert war, entschloß er sich, selbst zu kommen.
Daher trafen sie einander am Donnerstag, dem 15. Februar, im Sheridan-Theater in Hammersmith.
Zuerst nahm jeder von beiden an, der andere habe das Zusammentreffen veranlaßt, aber als Frey klar wurde, daß sie durch einen Trick zusammengebracht worden waren, schritt er zu drastischen Maßnahmen. Vielleicht hatte er auch den Verdacht, Mrs. Fennan habe ihn in eine Falle gelockt, vielleicht bemerkte er, daß er beobachtet wurde. Alles das werden wir nie erfahren. Auf jeden Fall ermordete er sie. Die Methode, deren er sich dabei bediente, ist wohl am besten aus dem Protokoll des Beamten zu entnehmen, der die offizielle Leichenschau vorgenommen hat: »Auf den Kehlkopf ist ein einmaliger, heftiger Druck ausgeübt worden, besonders auf die Schildknorpel, was fast augenblicklich den Tod herbeiführte. Es scheint, als sei der Mörder Mrs. Fennans auf diesem Gebiete kein Laie gewesen.«
Frey wurde bis zu einem Hausboot verfolgt, das in der Nähe der Cheyne Walk vertäut lag, und fiel in den Fluß, als er sich seiner Festnahme heftig widersetzte. Seine Leiche ist geborgen worden.
Zwischen zwei Welten
An Sonntagen kam normalerweise niemand in Smileys drittklassigen Klub, aber Mrs. Sturgeon ließ die Tür offen für den Fall, daß einer ihrer Gentlemen dennoch den Wunsch haben sollte, zu kommen. Sie nahm ihren Herren gegenüber dieselbe strenge, autoritative Haltung ein, wie sie es als Zimmervermieterin in Oxford getan hatte, als sie von den Mietern, die sie beglückte, mehr Respekt verlangt hatte als die ganze Gesellschaft von großen Herren und Pedellen der Universität zusammengenommen. Sie verzieh einem zwar alles, aber irgendwie ließ sie jedesmal durchblicken, daß sie nur in diesem einen und einzigen Fall Pardon gegeben hätte und sich das nie - nie und nimmer wiederholen würde. Sie hatte einmal Steed-Asprey gezwungen, zehn Shilling in die Sammelbüchse für die Armen zu legen, weil er sieben Gäste mitgebracht hatte, ohne ihr das vorher gebührend mitzuteilen. Aber nachher hatte sie das grandioseste Dinner des Jahrhunderts auf den Tisch gestellt.
Sie saßen wie das letztemal am Tisch. Mendel sah um eine Nuance gelber aus, eine Spur älter. Er sprach kaum während des Essens und führte Messer und Gabel mit der gleichen Präzision, die er auf alles verwandte, das er anfaßte. Guillam bestritt den größten Teil der Konversation, denn auch Smiley war weniger gesprächig als sonst. Sie fühlten sich in ihrer Freundesrunde wohl, und keiner spürte in sich den Drang, besonders viel zu reden.
»Warum hat sie es getan?« fragte Mendel plötzlich.
Smiley schüttelte langsam den Kopf: »Ich glaube, daß ich es weiß, aber ich kann auch nur mutmaßen. Ich glaube, daß sie von einer Welt ohne Konflikte geträumt hat, die von der neuen Weltanschauung regiert und erhalten wird. Sehen Sie, ich habe sie einmal in Wut gebracht, und da hat sie mir zugeschrien: >Ich bin die ewige Jüdin, das Niemandsland und das Schlachtfeld für eure Spielzeugsoldaten.< Als sie zu sehen glaubte, daß das neue Deutschland nach dem Muster des alten aufgebaut wurde, sah, wie der protzige Stolz zurückkehrte, wie sie sagte, da, glaube ich, war es ihr einfach zuviel. Ich meine, sie sah die Fruchtlosigkeit ihres Leidens und den Wohlstand ihrer Peiniger und rebellierte ganz einfach. Vor fünf Jahren hatten sie Dieter bei einem Skiurlaub in Deutschland getroffen. Zu dieser Zeit bahnte sich die Wiederherstellung Deutschlands als prominente westliche Macht bereits augenfällig an.«
»War sie eine Kommunistin?«
»Ich glaube, daß sie Etiketten nicht liebte. Aber ich vermute, daß sie dabei mithelfen wollte, eine einzige große Welt aufzubauen, die ohne Konflikte leben konnte. Friede ist zwar heute ein schmutziges Wort, nicht wahr? Aber ich bin der Meinung, daß sie den Frieden wollte.«
»Und Dieter?« fragte Guillam.
»Gott mag wissen, was Dieter wollte. Ehre vermute ich, und eine sozialistische Welt.« Smiley zuckte die Achseln. »Sie haben von Frieden und Freiheit geträumt. Jetzt sind sie Mörder und Spione.«
»Allmächtiger«, sagte Mendel.
Smiley schwieg wieder und sah in sein Glas. Endlich fragte er: »Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich verstehen werden. Sie haben nur das Ende Dieters gesehen, ich aber auch den Anfang. Er hat eine volle Kehrtwendung gemacht. Ich glaube, er ist nie darüber hinweggekommen, während des Krieges ein Verräter gewesen zu sein. Er war ganz einfach gezwungen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Er war einer von diesen Weltbaumeistern, die nichts anderes auszurichten scheinen, als nur zu zerstören. Das ist alles.«
Guillain lenkte das Gespräch elegant auf ein anderes Thema: »Und wie war das mit dem Anruf um halb neun?«
»Das ist wohl ziemlich klar, finde ich. Fennan wollte mich bei >Marlow< treffen und hatte sich einen Tag freigenommen. Er kann Elsa davon nichts gesagt haben, sonst hätte sie es mir mit irgendeiner Ausrede zu erklären versucht. Er hat das mit dem Anruf in Szene gesetzt, um sich eine Ausrede dafür zu verschaffen, daß er zu >Marlow< ging. Das ist jedenfalls meine Vermutung.«
In dem großen Kamin knisterte das Feuer.
Er erreichte noch das Flugzeug, das um Mitternacht nach Zürich abging. Es war eine prachtvolle Nacht, und durch das kleine Fenster an seiner Seite konnte er den grauen Flügel sehen, der sich bewegungslos gegen den sternenhellen Himmel abhob.
Es war, als schaue er zwischen zwei Welten einen Schimmer der Ewigkeit. Diese Vision ließ ihn ruhig werden, besänftigte seine Ängste und Zweifel und versöhnte ihn mit der Unergründlichkeit der Bestimmung des Universums. Alles schien so unwichtig zu sein - das leidenschaftlich sehnsüchtige Suchen nach Liebe oder die Rückkehr in die Einsamkeit.
Bald kamen die Lichter der französischen Küste in Sicht. Während er hinabblickte, ahnte er das ruhige Alltagsleben da unten. Den kräftigen Duft der Gauloises Bleues, Knoblauch und gutes Essen, die lauten Stimmen im bistro. Maston war eine Million Meilen weit weg, eingesperrt mit seinem trockenen Papier und seinen aalglatten Politikern. Für seine Mitpassagiere war Smiley eine merkwürdige Figur - ein kleiner, fetter Mann, der ziemlich trübsinnig dreinsah und dann plötzlich lächelte und sich einen Drink bestellte. Der junge blonde Mann, der neben ihm saß, betrachtete ihn aufmerksam von der Seite. Er kannte diesen Typ: der müde Direktor, der sich einen vergnügten Tag machen will. Widerlich, dachte er.