34

Behutsam bog Warren den schneebeladenen Fichtenzweig für sie zur Seite, und Kahlan spähte durch die Lücke.

»Dort unten«, sagte er mit leiser Stimme. »Seht Ihr?«

Nickend spähte Kahlan mit zusammengekniffenen Augen hinunter in das enge, tief unter ihnen liegende Tal. Das Bild einer mit weißem Raureif überzogenen Landschaft bot sich ihr – weiße Bäume, weiße Felsen, weiße Wiesen. Die feindlichen, durch den weit entfernten Talgrund marschierenden Truppen glichen einer dunklen Ameisenkolonne, die sich ihren Weg durch Puderzucker bahnte.

»Ich glaube, es ist nicht nötig, dass du flüsterst, Warren«, meinte Cara hinter Kahlans anderer Schulter. »Sie können dich nicht hören, nicht auf diese Entfernung.«

Warrens blaue Augen wandten sich der Mord-Sith zu. Wäre sie nicht in einen Wolfspelz gehüllt gewesen, der sie mit dem Hintergrund aus pulverschneebestäubtem Dickicht verschmelzen ließ, ihre rote Lederkleidung wäre einem wie ein Leuchtfeuer ins Auge gesprungen. Kahlans Pelzüberwurf fühlte sich warm und geschmeidig an auf ihren Wangen; manchmal erinnerte das Gefühl auf ihrer Haut an Richards zarte, beschützende und wärmende Liebkosungen, schließlich hatte er ihn für sie gemacht.

»Aber wenn wir uns nicht zusammennehmen, können die mit der Gabe uns hören, Cara, selbst auf diese Entfernung.«

Cara rümpfte die Nase. »Was wollt Ihr damit sagen?«

»Wenn wir zu laut sind«, raunte ihr Kahlan in einer Weise zu, die ihr nahe legte, etwas mehr Vorsicht walten zu lassen und still zu sein.

Der Gedanke an Magie ließ Cara angewidert das Gesicht verziehen. Ihr Gewicht auf den anderen Fuß verlagernd, widmete sie sich wieder der Beobachtung der langsam das Tal hinaufmarschierenden Soldatenkolonne und hielt den Mund.

Als sie genug gesehen hatte, gab Kahlan ein Handzeichen, und die drei machten sich auf den Rückweg durch den knöcheltiefen Schnee. In dieser Höhenlage im Gebirge befanden sie sich unmittelbar unterhalb der bedrückend grauen Wolkendecke, wodurch der Eindruck entstand, als blickten sie aus einer anderen Welt hinunter. Was sie dort unten gesehen hatte, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Sie stapften über den eng mit Föhren und kahlen Espen bestandenen Hang zum dicht bewaldeten Kamm hinauf, wo der felsige Bergrücken an manchen Stellen – einem nur unvollständig verschütteten Gerippe gleich – die Schneedecke durchbrach. Ihre Pferde warteten ein gutes Stück weiter unten am Hang; noch weiter den Berg hinunter, dort wo Warren und Kahlan sie gegen eine Entdeckung etwa durch die Truppen der Imperialen Ordnung sichernden Personen mit der Gabe gefeit glaubten, wartete eine Eskorte d’Haranischer Gardisten, die General Meiffert zum Schutz von Kahlan und den beiden sie ebenfalls beschützenden Begleitern eigenhändig ausgewählt hatte.

»Versteht Ihr jetzt?«, fragte Warren, nur wenig lauter als im Flüsterton. »Sie sind immer noch dabei – sie schaffen immer mehr Truppen auf diesem Weg in die Berge und versuchen uns unbemerkt zu umgehen.«

Kahlan hielt sich den Wolfspelzüberwurf schützend vors Gesicht, als eine leichte Bö einen Schleier aufgewirbelten Schnees an ihnen vorüberwehte. Glücklicherweise hatte es noch nicht wieder angefangen zu schneien.

»Das glaube ich nicht, Warren.«

Er sah sie fragend an. »Und was dann?«

»Ich glaube, sie wollen, dass es so aussieht, als ob sie Truppen in unserem Rücken aufmarschieren lassen, damit wir Soldaten abziehen und bis hier herauf schicken, um ihnen nachzusetzen.«

»Ein Ablenkungsmanöver?«

»Ich glaube, ja. Es findet gerade nahe genug statt, sodass wir es aller Wahrscheinlichkeit nach entdecken werden, andererseits aber immer noch weit genug entfernt und in so unwegsamem Gelände, dass wir unsere Truppen aufteilen müssten, wenn wir in irgendeiner Weise darauf reagieren wollten. Außerdem sind unsere Kundschafter bis auf den letzten Mann unversehrt zurückgekommen.«

»Das ist doch gut.«

»Freilich ist es das. Aber was, wenn sie, wie du vermutest, Personen mit der Gabe bei sich haben? Wie kommt es, dass alle unsere Kundschafter diese massiven Truppenbewegungen melden konnten, ohne dass auch nur ein Einziger auf der Strecke geblieben ist?«

Warren ließ sich das einen Augenblick durch den Kopf gehen, während die drei vorsichtig über einen kleinen Felsgrat kletterten und anschließend die andere Seite des glatten, steil abfallenden Felsens auf dem Hinterteil hinunterrutschten.

»Ich glaube, sie wollen uns damit ködern«, sagte Cara, als ihre Stiefel hinter ihnen mit einem dumpfen Aufprall wieder auf festem Boden landeten. »Die kleinen Fische lassen sie durch die Maschen schlüpfen, in der Hoffnung, damit die größeren anzulocken.«

Kahlan klopfte sich den Schnee vom Hinterteil. »Genau wie wir.«

Warren wirkte skeptisch. »Glaubt Ihr, das Ganze ist ein ausgetüftelter Trick, um Offiziere und Personen mit der Gabe in die Falle zu locken?«

»Das nicht gerade«, erwiderte Kahlan. »Das wäre für sie nur ein angenehmer Nebeneffekt. Ich glaube, ihre eigentliche Absicht besteht darin, uns als Reaktion auf diese – wie sie uns glauben machen wollen – bedrohliche Truppenbewegung zum Aufteilen unserer Truppen zu verleiten.«

Warren wühlte mit einer Hand in seinen blonden, lockigen Haaren. Seine blauen Augen wanderten zurück in die Richtung, aus der die drei vom Kamm herabgestiegen waren, so als wollte er versuchen, das, was er längst nicht mehr sehen konnte, noch einmal in Augenschein zu nehmen.

»Aber sollte uns das nicht zu denken geben, wenn sie ein gewaltiges Truppenkontingent nach Norden marschieren lassen – erst recht, wenn es einen Teil unserer Truppen fortlocken soll?«

»Natürlich sollte es das«, antwortete Kahlan. »Wenn es denn stimmt.«

Warren blickte flüchtig zu ihr hinüber, während sie sich durch tieferen Schnee kämpften, der unter die Felsklippen geweht worden war, unter denen sie auf ihrem Weg einen steilen, kleinen Anstieg hinauf hindurchstapften. Die Anstrengung ließ ihre Beine müde werden, deshalb reichte Warren ihr eine Hand, um ihr eine hohe Stufe hinaufzuhelfen. Dann wiederholte er die Geste bei Cara, doch diese gab ihm gebärdenreich zu verstehen, sie sei auf seine Hand nicht angewiesen, verzichtete allerdings darauf, ihn dabei böse anzufunkeln. Kahlan war froh über jedes Anzeichen dafür, dass Cara lernte, ein bescheidenes Hilfsangebot einfach als Höflichkeit und nicht zwangsläufig als einen Vorwurf der Schwäche aufzufassen.

»Jetzt bin ich aber verwirrt«, meinte Warren keuchend.

Kahlan machte Halt und ließ die anderen wieder zu Atem kommen. Mit dem Arm deutete sie hinter sich auf die feindlichen Truppen jenseits des Kamms.

»Nun wenn es stimmt, dass uns Truppen in großer Zahl umgehen, um nach Norden zu marschieren, dann sollte uns das beunruhigen. Aber ich glaube, in Wirklichkeit tun sie das gar nicht.«

Warren wischte sich eine blonde Locke aus der Stirn. »Ihr glaubt nicht, dass all diese Soldaten Richtung Norden marschieren? Aber wohin dann?«

»Nirgendwohin«, erwiderte Kahlan.

»So viele Soldaten? Ihr macht wohl Scherze.«

Sie musste über seinen Gesichtsausdruck lächeln. »Ich halte das Ganze für ein Täuschungsmanöver. Ich glaube, in Wahrheit handelt es sich nur um eine sehr geringe Anzahl von Soldaten.«

»Aber die Kundschafter berichten von gewaltigen Massen von Soldaten, die seit mittlerweile drei Tagen nach Norden marschieren!«

»Leise«, warnte Cara, sich so mit einer Miene gespielten Tadels revanchierend. Als Warren merkte, dass er geradezu geschrien hatte, schlug er sich beide Hände vor den Mund.

Sie waren wieder bei Atem, also brach Kahlan abermals auf und führte sie, ihren auf dem Hinweg erzeugten Fußstapfen folgend, über eine kleine Anhöhe in ebeneres Gelände.

»Erinnerst du dich noch, was die Kundschafter gestern berichteten?«, fragte sie ihn. »Dass sie versucht hätten, die Berge auf der anderen Seite des Tales zu erklimmen, um die örtlichen Begebenheiten sowie die durchmarschierenden Truppen in Augenschein zu nehmen, die Pässe jedoch zu schwer bewacht gewesen seien?«

»Ich erinnere mich.«

»Ich glaube, soeben bin ich hinter den Grund dafür gekommen.« Sie fuhr fort, mit der Hand einen Kreis beschreibend. »Ich denke, was wir hier sehen, ist eine verhältnismäßig kleine Gruppe der immer selben Soldaten, die einfach in einem großen Kreis herummarschiert. Wir bekommen sie immer nur an jener Stelle zu Gesicht, wo sie durch dieses Tal hinaufmarschieren. Tagelang sehen wir Truppen vorüberziehen und schließen daraus, dass eine große Zahl von Soldaten verlegt wird, ich glaube aber, es handelt sich um die immer selben Soldaten, die ein ums andere Mal im Kreis herumwandern.«

Warren blieb stehen und starrte sie an. Sein Gesicht wurde ernst, als ihm dämmerte, was das bedeutete. »Man will uns also glauben machen, sie verlegen eine Armee hier herauf, damit wir als Reaktion darauf unsere Armee aufspalten und einen Teil von ihr hinter dieser Phantomstreitmacht herschicken.«

»Zahlenmäßig sind wir ihnen jetzt schon unterlegen«, sagte Cara, bei sich nickend, »wir haben allerdings den Vorteil, ein für unsere Zwecke günstiges Gelände zu verteidigen. Sollte es ihnen aber gelingen, unsere Zahl einfach dadurch erheblich zu verringern, dass sie uns dazu verleiten, einen großen Teil unserer Truppen vorher noch auf einen Einsatz zu schicken, würde das ihre gesamte Streitmacht endlich in die Lage versetzen, die geschrumpfte Zahl der zurückgebliebenen Verteidiger glatt zu überrennen.«

»Klingt logisch.« Warren strich sich nachdenklich übers Kinn und schaute zurück zum Kamm. »Und wenn Ihr Euch täuscht?«

Kahlan drehte sich ebenfalls um und schaute zurück zum Kamm. »Nun, wenn ich mich täusche, dann…«

Stirnrunzelnd betrachtete Kahlan den keine zehn Fuß entfernten, mächtigen alten Ahornbaum und glaubte zu sehen, wie sich die Rinde bewegte. Die feine Schicht aus Pulverschnee auf der schuppigen, grauen zerfurchten Borke begann sich aufzulösen und auf einer zusehends größer werdenden Fläche abzuschmelzen. Die Rinde bewegte sich wie der Schaum auf einem brodelnden Kessel.

Kahlan japste erschrocken, als Warren sie und Cara am Kragen packte und sie beide rücklings zu Boden riss. Kahlan hatte es den Atem verschlagen; als sie versuchte sich aufzurichten, warf Warren sich zwischen sie auf die Erde und drückte sie wieder nach unten.

Noch bevor Kahlan Gelegenheit fand, wieder zu Atem zu kommen oder zu fragen, was denn los sei, blitzte ein blendend grelles Licht in der Stille des Waldes auf. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft und erschütterte den Boden unter ihr. Geborstenes Holz, von feinen Splittern bis hin zu zaunpfahldicken Bruchstücken, sirrte heulend wenige Zoll über ihr Gesicht hinweg. Riesige Baumstammteile prallten mit hölzern trockenem Klacken von Felsen ab. Andere kreiselten, von Baumstämmen zurückgeworfen, durch die Luft. Einzelne über den Erdboden polternde Stücke wirbelten mit gefrorenen Erdpartikeln durchsetzten Schnee auf. Die Luft verfärbte sich weiß, als die Druckwelle der Explosion eine Wand aus Schnee in die Höhe schleuderte.

Hätte einer von ihnen aufrecht gestanden, es hätte ihn in Stücke gerissen.

Kaum waren die letzten Holzstücke mit dumpfem Poltern auf dem Boden gelandet, wälzte Warren sich hinüber zu Kahlan. »Das waren die mit der Gabe«, flüsterte er.

Kahlan sah ihn stirnrunzelnd an. »Was?«

»Die mit der Gabe«, wiederholte er ebenso leise. »Sie richten ihre Kraft auf einen gefrorenen Baumstamm und bringen ihn innerlich zum Kochen, bis er explodiert. Deswegen haben wir so hohe Verluste erlitten, als wir uns während der allerersten Schlacht, unmittelbar bevor ihr zu uns gestoßen seid, im Tal gesammelt hatten. Damit haben sie uns überrascht.«

Kahlan nickte. Sie sah sich suchend um, konnte aber niemanden entdecken, schließlich schaute sie zu Cara hinüber, um zu sehen, ob sie wohlauf war.

»Wo ist Cara?«, fragte sie in dringlichem Flüsterton.

Warren spähte vorsichtig nach vorn und ließ den Blick suchend über den Schauplatz der Explosion wandern. Als Kahlan, auf die Ellbogen gestützt, leicht den Kopf hob, sah sie dort, wo eben noch Cara gelegen hatte, nichts als aufgewühlten Schnee.

»Gütiger Schöpfer«, entfuhr es Warren. »Ihr glaubt doch nicht etwa, sie ist entführt worden, oder?«

Kahlan entdeckte Fußspuren, die vorher noch nicht dagewesen waren und sich zur Seite hin entfernten. »Ich glaube…«

Ein Schrei, der selbst einem unerschrockenen Mann die Farbe aus dem Gesicht getrieben hätte, hallte durch die Bäume.

»Cara?«, rief Warren zögernd.

»Das glaube ich nicht.«

Sich vorsichtig aufrichtend sah Kahlan, dass in das dichte Blätterdach des Waldes ein Loch gerissen worden war, sodass grelles Licht in den schattigen, geschützten Wald darunter fiel. Der Boden ringsum war mit zersplittertem Holz, abgeknickten Ästen, umgestürzten Riesenstämmen und von anderen Bäumen abgerissenen Zweigen übersät. Ausgehend von einer trichterförmigen Mulde, wo eben noch der Baum gestanden hatte, reichten rillenförmige Vertiefungen im Schnee strahlenförmig in den dunklen Wald hinein. Überall lagen Bruchstücke von Stämmen und Wurzeln umher, einige waren sogar in den umstehenden Bäumen hängen geblieben.

Warren legte ihr eine Hand auf die Schulter und drängte sie liegen zu bleiben, während er mit einer Körperdrehung in die Hocke ging. Sie wälzte sich auf den Bauch und stemmte sich vorsichtig mit Händen und Knien hoch.

Plötzlich sprang Kahlan auf und zeigte zum Wald. »Dort!«

Sie sah Cara zwischen den Bäumen hindurch zurückkommen. Die Mord-Sith scheuchte einen offensichtlich unter Schmerzen leidenden winzigen Mann vor sich her. Jedesmal wenn er stolperte und hinfiel, trat sie ihm in die Rippen und trieb ihn weiter. Er schrie, seine Worte waren ein weinerliches Wimmern, das Kahlan wegen der großen Entfernung nicht verstehen konnte. Allerdings war es nicht übermäßig schwer, sich vorzustellen, was er sagte.

Cara hatte einen mit der Gabe Gesegneten gefangen genommen. Die Mord-Sith waren für Aufgaben wie diese erschaffen worden; für einen mit der Gabe Gesegneten war der Versuch, Magie gegen eine Mord-Sith einzusetzen, ein schwerer Fehler, der ihn der Kontrolle über seine eigenen Fähigkeiten beraubte.

Sich den Schnee abklopfend, stand Kahlan auf. Warren, dessen violettes Gewand mit Schnee überkrustet war, erhob sich ebenfalls, von dem Anblick wie gebannt. Das also war einer jener Zauberer, die für den Tod so vieler Soldaten verantwortlich waren, als die D’Haraner sich – nach dem Beginn des Vorrückens der Imperialen Ordnung Richtung Norden – im Tal gesammelt hatten; das also war eine jener bösartigen Bestien, die auf Geheiß Jagangs handelten. Jetzt jedoch, da er flennend und flehend vor seiner unerbittlichen, ihn vor sich herscheuchenden Häscherin lag, wirkte er ganz und gar nicht wie eine bösartige Bestie.

Er war nichts weiter als ein um sich schlagendes Lumpenbündel, als ihn ein letzter mächtiger Fußtritt vor die Füße von Kahlan und Warren beförderte. Dort blieb er wie ein kleines Kind wimmernd mit dem Gesicht nach unten liegen.

Cara bückte sich, griff ihm in das verfilzte, dunkle Haar und riss ihn auf die Beine.

Es war ein Kind.

»Lyle?« Warren starrte ihn ungläubig an. »Lyle? Du warst das?«

Tränen strömten aus seinen freudlos kalten Augen. Sich mit der Rückseite seines zerlumpten Ärmels die Nase abwischend, funkelte der Junge Warren wütend an. Der kleine Lyle schien ein Junge von vielleicht zehn oder zwölf Jahren zu sein, doch da Warren ihn kannte, vermutete Kahlan, dass er ebenfalls aus dem Palast der Propheten stammte. Lyle war ein junger Zauberer.

Als Warren sich anschickte, das blutverschmierte Kinn des Jungen in die Hand zu nehmen, hielt Kahlan Warren am Handgelenk zurück. Der Junge warf sich nach vorn, um Warren in die Hand zu beißen, doch Cara war schneller; ihn an den Haaren zurückreißend, rammte sie ihm ihren Strafer in den Rücken.

Vor Schmerzen kreischend, sackte er in sich zusammen. Sie trat dem schwer verletzten Knaben in die Rippen.

Warren breitete flehentlich die Hände aus. »Cara, nicht…«

Sie sah ihn aus ihren eiskalten blauen Augen herausfordernd an. »Er hat versucht, uns umzubringen. Er hat versucht, die Mutter Konfessor zu töten.«

Die Zähne zusammengebissen und Warrens Augen noch immer fest im Blick, versetzte sie dem wimmernden Jungen einen weiteren Tritt.

Warren benetzte sich die Lippen. »Ich weiß … aber…«

»Was aber?«

»Er ist doch noch so klein. Das ist nicht richtig.«

»Und deswegen wäre es besser, wir ließen einfach zu, dass er uns umbringt? Würde es in deinen Augen dadurch vielleicht richtiger werden?«

Kahlan wusste, dass Cara Recht hatte. So schwer es war, es mitansehen zu müssen, Cara hatte Recht. Wenn sie starben, wie viele Männer, Frauen und Kinder würde die Imperiale Ordnung noch dahinmetzeln? Obwohl noch ein Kind, war er bereits ein Handlanger der Imperialen Ordnung.

Nichtsdestoweniger gab Kahlan Cara zu verstehen, dass es reichte. Auf Kahlans Zeichen hin krallte Cara ihre Faust in Lyles verfilzten Schopf aus schmutzigen Haaren und hievte ihn auf die Beine. Caras Schenkel im Rücken, stand er zitternd da, während ihm das Blut über das Gesicht strömte und sein Atem in kurzen, ungleichmäßigen Stößen ging.

Kahlan blickte hinunter in die verängstigten, tränengefüllten Augen und setzte ihr Mutter-Konfessorgesicht auf, jenes Gesicht, das ihre Mutter ihr beigebracht hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, jenes Gesicht, hinter dem sich ihre ganze innere Erregung verbarg.

»Ich weiß, dass Ihr da seid, Jagang«, sagte sie mit leiser Stimme, die jede innere Anteilnahme vermissen ließ.

Der blutverschmierte Mund des Jungen verzog sich zu einem Feixen, das nicht ihm gehörte.

»Euch ist ein Fehler unterlaufen, Jagang. Wir werden in Kürze eine Armee ausgesandt haben, die Eure Truppen aufhalten wird.«

Der Junge lächelte ein ausdrucksloses Lächeln, erwiderte aber nichts.

»Lyle«, versuchte es Warren mit schmerzgequälter, spröder Stimme, »du kannst dich vom Traumwandler befreien. Du brauchst nur Richard die Treue zu schwören, und schon bist du frei. Glaube mir, Lyle. Versuche es. Ich weiß, wie du dich fühlst. Versuche es, Lyle, und ich schwöre, ich werde dir helfen.«

Kahlan dachte, dass er sich in Anwesenheit Warrens, eines Mannes, den er kannte, vielleicht auf das unerwartet durch die offene Tür seines Verlieses fallende Licht stürzen würde. Der Junge hinter dem Lächeln, das nicht sein eigenes war, sah Warren mit einer Sehnsucht an, die langsam zu Abscheu gerann. Dieses Kind hatte mitansehen müssen, dass der Kampf um die Freiheit den Menschen nichts als Grauen und Tod brachte, und hatte gelernt, dass knechtischer Gehorsam Lohn und Überleben bedeutete. Er war noch zu jung, um zu begreifen, dass es um weit mehr ging.

Mit sanftem Druck ihrer Finger drängte Kahlan Warren zurück. Er gehorchte, wenn auch widerstrebend.

»Dies ist nicht der erste Zauberer Jagangs, den wir gefangen genommen haben«, sagte sie ganz beiläufig zu Warren. Ihre Worte galten jedoch nicht ihm.

Kahlan hob den Blick, sah Cara in ihre ernsten, blauen Augen und dann kurz zur Seite, in der Hoffnung, die Mord-Sith würde den Wink verstehen.

»Marlin Pickard«, sagte Kahlan, so als wollte sie Warren den Namen ins Gedächtnis rufen, obwohl ihre Worte noch immer an Cara gerichtet waren. »Er war erwachsen, und obwohl er auf Geheiß seines aufgeblasenen Kaisers handelte, war er nicht im Stande, uns größere Schwierigkeiten zu bereiten.«

In Wirklichkeit hatte Marlin ihnen eine Menge Schwierigkeiten beschert; um ein Haar hätte er sowohl Cara als auch Kahlan getötet. Kahlan hoffte, Cara würde sich erinnern, wie dürftig ihre Kontrolle über einen vom Traumwandler besessenen Menschen war.

Im lautlosen Wald herrschte eine Stimmung angespannter Stille, als der Junge Kahlan wütend anfunkelte.

»Wir haben Eure Machenschaften rechtzeitig durchschaut, Jagang. Es war ein Fehler, zu glauben, Ihr könntet unsere Späher unbemerkt passieren; ich hoffe nur, Ihr befindet Euch bei diesen Männern, damit wir Euch die Kehle durchschneiden können, wenn wir sie vernichten.«

Das Feixen wurde breiter. »Auf Seiten der Schwachen steht eine Frau wie Ihr am falschen Platz«, erwiderte der Junge im drohenden Tonfall eines erwachsenen Mannes. »In den Diensten der Starken und der Imperialen Ordnung hättet Ihr viel mehr Spaß.«

»Ich fürchte, meinem Gemahl gefällt es, wo ich jetzt stehe.«

»Und wo befindet sich Euer Gemahl derzeit, Schätzchen? Ich hatte gehofft, ihn begrüßen zu können.«

»Er ist hier«, antwortete Kahlan im selben leidenschaftslosen Tonfall.

Sie sah Warren auf ihre Bemerkung hin eine Bewegung machen, die seine Überraschung allzu deutlich verriet.

»Ist er das?« Die Augen des Jungen wanderten von Warren zurück zu Kahlan. »Wie kommt es, dass ich Euch nicht glaube?«

Als sie sein grausames Grinsen sah, hätte sie dem Jungen am liebsten die Zähne eingetreten. Kahlans Gedanken überschlugen sich, während sie sich auszurechnen versuchte, was Jagang womöglich bereits wusste, und was er in Erfahrung zu bringen versuchte.

»Ihr werdet Ihn noch früh genug zu sehen bekommen, wenn wir diesen armen Jungen zurück ins Lager bringen. Ich bin sicher, Richard Rahl wird Euch in Eure feige Visage lachen wollen, wenn ich ihm erzähle, wie wir den Plan des großen Kaisers durchschaut haben, heimlich Truppen nach Norden zu verlegen. Ich nehme an, er wird Euch ins Gesicht sagen wollen, was für ein Narr Ihr seid.«

Der Junge versuchte, einen Schritt auf sie zuzumachen, doch Caras Hand in seinem Haar hielt ihn zurück. Er benahm sich wie ein angeleinter Puma, der noch immer an seinen Ketten zerrte. Das blutverschmierte Grinsen verharrte auf seinem Gesicht, war aber nicht mehr ganz so selbstgefällig wie zuvor. Kahlan glaubte in seinen braunen Augen ein leichtes Zögern zu erkennen.

»Ach was, ich glaube Euch kein Wort«, sagte er, als verlöre er bereits das Interesse. »Wir wissen beide, dass er keineswegs dort ist. Nicht wahr, Schätzchen?«

Kahlan beschloss, ein Wagnis einzugehen. »Ihr werdet ihn schon bald mit eigenen Augen sehen.« Sie tat, als wollte sie sich abwenden, drehte sich stattdessen aber noch einmal zu ihm um.

Kahlan ließ ein sarkastisches Lächeln um ihre Lippen spielen. »Ach – Ihr denkt dabei an Nicci?«

Das Lächeln im Gesicht des Jungen erlosch. Seine Brauen zogen sich zusammen, trotzdem gelang es ihm, sich die Verärgerung in seiner Stimme nicht anmerken zu lassen.

»Nicci? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Ihr sprecht, Schätzchen.«

»Eine Schwester der Finsternis? Gute Figur, blonde Haare, blaue Augen, schwarzes Kleid? An eine so betörend schöne Frau würdet Ihr Euch doch gewiss erinnern? Oder seid Ihr, neben all Euren anderen Unzulänglichkeiten, auch noch Eunuch?«

Die Augen starrten sie an, und in ihnen konnte Kahlan deutlich sehen, wie jedes ihrer Worte sorgsam abgewogen wurde. Es waren jedoch Niccis Bemerkungen über Jagang, an die sie sich erinnerte.

»Ich weiß sehr wohl, wer Nicci ist. Ich kenne jeden Zoll ihres Körpers, bis hin zu den intimsten Stellen. Eines schönen Tages werde ich Euch ebenso gut kennen wie sie.«

Irgendwie klang eine solch obszöne Drohung aus dem Mund eines kleinen Jungen noch erschreckender. Ihr wurde speiübel, als sie hörte, wie ein Kind Jagangs abstoßende Gedanken aussprach.

Der Arm des Jungen gestikulierte anstelle seines Herrn und Meisters. »Sie ist eine meiner Schönheiten, und eine überaus tödliche noch dazu.« Kahlan glaubte aus Jagangs kehligem Geknurre einen Hauch der aufgesetzten Prahlerei eines Mannes herauszuhören, der blufft. Fast so, als wäre es ihm erst nachträglich eingefallen, setzte er noch hinzu: »In Wirklichkeit habt Ihr sie gar nicht gesehen.«

Kahlan hörte in dieser Feststellung den leisen Anklang einer Frage, die er nicht zu stellen wagte, was ihr verriet, dass mehr dahinter steckte. Sie hätte nur zu gerne gewusst, was.

Sie zuckte abermals mit den Achseln. »Tödlich? Davon ist mir nichts bekannt.«

Er leckte das Blut von seinen Lippen. »Das dachte ich mir.«

»Und zwar deswegen, weil sie ganz und gar nicht so auf mich gewirkt hat. Sie hat keinem einzigen von uns Schaden zufügen können.«

Das Grinsen kehrte zurück. »Ihr lügt, Schätzchen. Wärt Ihr Nicci tatsächlich begegnet, hätte sie, wenn schon nicht alle, so doch wenigstens ein paar von euch getötet. Diese Frau lässt sich nicht unterkriegen, ohne vorher noch jemandem die Augen auszukratzen.«

»Ach wirklich? Sind wir uns da so sicher?«

Der Junge brach in dröhnendes Gelächter aus. »Ich kenne Nicci ganz genau, Schätzchen.«

Kahlan sah dem Jungen verächtlich lächelnd in seine braunen Augen. »Ihr wisst, dass ich die Wahrheit sage.«

»Ach, ja?«, erwiderte er, immer noch amüsiert in sich hineinlachend. »Und woher?«

»Weil sie eine Eurer Sklavinnen ist und es Euch eigentlich möglich sein sollte, in ihren Verstand einzudringen. Aber das könnt Ihr nicht, und ich weiß auch, warum. Ihr seid zwar nicht sonderlich helle, trotzdem werdet Ihr vermutlich nicht allzu lange überlegen müssen, um auf den Grund zu kommen.«

Blinder Zorn blitzte in den Augen des Jungen auf. »Ich glaube Euch kein Wort.«

Kahlan zuckte mit den Achseln. »Ganz, wie Ihr wollt.«

»Wenn Ihr sie gesehen habt, wo ist sie dann jetzt?« Ihm den Rücken zukehrend, sagte sie ihm die brutale, bittere Wahrheit und überließ es ihm, seine eigenen Schlüsse daraus zu ziehen. »Als ich sie das letzte Mal sah, war sie auf dem Weg in die Vergessenheit.«

Kahlan vernahm das Brüllen hinter ihrem Rücken. Sie wirbelte herum und sah, wie Cara ihn mit ihrem Strafer zurückzuhalten versuchte, hörte, wie der Knochen seines Armes brach. Der Junge hielt nicht einmal inne, sondern stürzte sich, die Hände zu Krallen gebogen und die Zähne gebleckt, völlig außer sich vor Wut auf Kahlan.

Ihm halb zugewandt, hob Kahlan eine Hand, um den Jungen abzuwehren, der ihr mit seinem ganzen Gewicht an den Hals zu springen versuchte. Seine schmächtige Brust streifte ihre Hand. Es fühlte sich nicht so an, als stürzte er sich auf sie, eher glich es dem Flaum einer Pusteblume, den ihr ein zarter Lufthauch entgegenwehte.

Ihr Augenblick war gekommen.

Kahlan brauchte nicht einmal ihr Geburtsrecht zu Hilfe zu nehmen, sie musste lediglich ihre diesbezügliche Zurückhaltung aufgeben. Auf Gefühle konnte sie sich jetzt nicht verlassen, allein die Wahrheit konnte ihr noch weiterhelfen.

Dies war kein kleiner, verletzter Junge, allein gelassen, voller Angst.

Dies war der Feind.

Die Heftigkeit, mit der die angestaute Kraft aus ihrem Inneren hervorbrach und alle Fesseln abstreifte, war atemberaubend; aus dem tiefen dunklen Kern in ihrem Inneren emporwallend überschwemmte sie gehorsam jede Faser ihres Seins.

Sie konnte jede einzelne schmale Rippe mit ihren Fingern zählen.

Sie kannte weder Hass, noch Zorn oder Entsetzen … und auch keinen Kummer. In diesem unendlich kurzen Augenblick war ihr Geist umgeben von einer Leere, in der es keine Gefühle gab, nur den alles verzehrenden Ansturm der außer Kraft gesetzten Zeit.

Er hatte nicht den Hauch einer Chance. Er gehörte ihr.

Kahlan zögerte keine Sekunde.

Sie entfesselte ihre Kraft.

Jene Kraft, die sich als Teil ihres innersten Wesens aus dem Zustand der Geistigkeit zum allumfassenden Sein entfaltete.

Donner ohne Hall ließ – mit einer ungeheuren Heftigkeit und Wucht, und völlig ungehemmt in diesem einen unverfälschten Augenblick – die Luft erzittern.

Das Gesicht des Jungen verzog sich unter dem Hass des Mannes, der von ihm Besitz ergriffen hatte. Wenn sie in diesem einzigartigen Augenblick die völlige Abwesenheit jeglichen Gefühls darstellte, so war er geradezu dessen Verkörperung. Kahlan schaute in das Gesicht dieses verlorenen Kindes und erkannte, dass sie dort nur ihre eigenen erbarmungslosen Augen sah.

Sein Geist, alles, was er war und was ihn einst ausgemacht hatte, existierte längst nicht mehr.

Die Wucht der Erschütterung ließ die Bäume ringsum erzittern, Schnee fiel von Ästen und Zweigen. Die ungeheure Druckwelle erzeugte einen Ring aus Schnee, der um die beiden herum immer weitere Kreise zog.

Kahlan hatte gewusst, dass Jagang zwischen den Gedanken, wo Zeit als solche nicht existierte, in den Verstand eines Menschen hinein- und wieder herausschlüpfen konnte. Sie hatte keine andere Wahl als so zu handeln, wie sie dies soeben getan hatte; ein Zaudern konnte sie sich nicht erlauben. Wenn Jagang im Verstand eines Menschen saß, konnte nicht einmal Cara ihn kontrollieren.

Auf seiner Flucht aus diesem jungen Verstand hatte Jagang sämtliche Brücken hinter sich eingerissen.

Der Junge brach vor Kahlans Füßen tot zusammen.

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