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Sham begann zu rennen, als sie die Tür der Hütte des Alten Mannes zerbrochen auf dem dreckigen Kopfsteinpflaster der Straße liegen sah. Sie rannte immer noch, mittlerweile mit dem Dolch in der Hand, als sie hörte, wie Maur mit einer Mischung aus Wut und Grauen aufschrie, die heiser durch die Nacht hallte.

Als sie den dunklen Eingang erreichte, hielt sie inne. Tief in ihr verwurzelte Vorsicht zwang sie, mit Bedacht einzutreten, obwohl sie hineinstürmen wollte wie ein Uriah auf der Jagd. Sham lauschte einen Augenblick, aber nach dem ursprünglichen Schrei herrschte in der Hütte Stille.

Als sie über die Schwelle trat, bestürmte sie der durchdringende Geruch von Blut. Beim Gedanken, den alten Zauberer so zu verlieren, wie sie alle anderen verloren hatte, flutete sie den kleinen Raum unbesonnen mit Magierlicht. Weil ihre Augen noch an die Dunkelheit gewöhnt waren, konnte sie zuerst kaum etwas erkennen, doch schnell stellte sie fest, dass überall Blut war, als hätte es in Form einer Wolke die Wände überzogen.

Der Alte Mann kauerte in einer Ecke auf den Knien, einen Arm über das Gesicht erhoben. Er blutete aus Hunderten kleinen Schnitten, die sowohl seine Kleidung als auch seine Haut zerfetzt hatten. Niemand sonst befand sich im Raum.

»Meister!«, rief sie.

Beim Klang ihrer Stimme drehte er sich ihr zu. Eindringlich sagte er: »Geh, Kind, beeil dich! Das ist nicht dein Kampf.«

Als er sprach, erschien auf seinem erhobenen Arm ein breiter roter Schlitz, wie von einem unsichtbaren Künstler gemalt. Wenngleich sie den flüchtigen Eindruck einer Bewegung erhascht hatte, war es verschwunden, bevor sie feststellen konnte, worum es sich handelte.

Sein Befehl klang so vehement, dass Sham unwillkürlich einen Schritt zurückwich, bevor sie sich fasste.

Das letzte Mal hatte ihr Meister vor zwölf Jahren Magie gewirkt. Blind und verkrüppelt war er so hilflos wie ein Kind – sie würde ihn auf keinen Fall im Stich lassen.

Ihr Mund bildete eine scharfe Linie, als eine weitere Wunde erschien und Blut seitlich an seiner verunstalteten Hand hinabtroff. Sham vollführte eine Geste und wob in der Hoffnung, den unsichtbaren Verursacher zu entdecken, einen einfachen Erkennungszauber, aber die Magie im Raum war stark und erstickte ihren Versuch. Der Angreifer schien überall und nirgendwo zugleich zu sein.

Sie versuchte es mit einem Zauber, der die Art der Magie, die der Unbekannte benutzte, erkennen sollte, damit sie versuchen könnte, dem entgegenzuwirken. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als ihr Zauber ihr mitteilte, dass das hier nichts Menschliches war, was immer es sein mochte. Ebenso wenig handelte es sich um eine der Kreaturen, die natürliche Magie verwenden konnten, denn was sie gespürt hatte, besaß keine Verbindung zu den Kräften, die von der Geistebbe aufgerührt worden waren. Somit blieb nur eine Hand voll Wesen als Möglichkeit, und keines von denen war besonders ermutigend.

Sie ließ den nutzlosen Dolch fallen. Als die Klinge klirrend auf dem Boden landete, glitt die Flöte in ihre Hand, als hätte das Instrument ihre Unaufmerksamkeit genützt, um aus der Tasche in ihrem Ärmel zu rutschen.

Als sich ihre Finger um die geschnitzte Oberfläche schlossen, kam ihr der Gedanke, dass ein Gegenstand nicht unbedingt scharf sein musste, um als Waffe zu dienen. Zum zweiten Mal an diesem Abend setzte sie das Mundstück an die Lippen und blies leise ins Instrument, ließ Musik die Luft erfüllen. Sie würde zwar als Musikerin nie das Können einer Bardin erreichen, trotzdem war sie dankbar für die Jahre, die sich der Alte Mann bemüht hatte, ihr seine Liebe zur Musik einzuflößen.

Als die ersten Noten im Raum erklangen, konnte sie fühlen, wie sich die Magie scharte, weit mehr, als sie allein heraufzubeschwören vermocht hätte. Magie umgab sie, setzte ihr Blut wie strömendes Wasser mit einem berauschenden Strudel von Macht in Wallungen. Natürlich würde sie später dafür bezahlen – darin bestand das Geheimnis der Flöte. Schon mehr als ein Magier war gestorben, nachdem er sie benutzt hatte, weil er zu spät erkannt hatte, welch hohen Preis die Macht dieses Instruments einforderte. Andere waren gestorben, als die Magie zu stark anschwoll und für sie nicht mehr beherrschbar wurde.

Sie bemühte sich, nicht auf das von der rasch anschwellenden Flut der Magie erzeugte Hochgefühl zu achten. Als sie spürte, dass die Macht an ihre Grenze der Beherrschbarkeit stieß, löste sie das Mundstück von den Lippen.

Ihr Körper fühlte sich taub von den Kräften an, die sie hielt, und es bedurfte größerer Anstrengung, als nötig sein sollte, um die Arme zu heben und mit einem Abwehrzauber zu beginnen. Sham beobachtete, wie sich ihre Hände bewegten, konnte beinahe den Schimmer der Magie sehen, die sie wob. Als ihr Zauber zu zerfallen begann, war sie so in ihre Aufgabe vertieft, dass sie die Ursache dafür nicht sofort erkannte.

Der Alte Mann hatte sich auf die Beine gerappelt und sich ihr weit genug genähert, um sie mit einer seiner vernarbten, krummen Hände am Hals zu berühren.

»Wenn du gestattest, meine Liebe«, sagte der alte Hexer leise, als er die Magie von ihr abzog, die sie gebündelt hatte.

Einen Augenblick lang erschreckte sie seine Handlung.

Alle Lehrlinge waren an ihre Meister gebunden. Das war nötig, um die Gefahr zu verringern, dass unerfahrene Magier die Herrschaft über die von ihnen heraufbeschworene Macht verloren und alles um sie herum niederbrannten.

Die Bande der Lehrzeit waren nicht gekappt worden, als sie zur Gesellin wurde, wie es sonst üblich war, denn nur der Meister konnte solche Bande lösen, und der Alte Mann war seit seiner Verkrüppelung außerstande gewesen, Magie zu beschwören. Sham hatte nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er in der Lage sein könnte, mit bereits gebündelter Magie zu arbeiten.

»Nimm, so viel du willst«, sagte sie und ließ die Hände an die Seiten sinken.

Als sich die von ihr angesammelte Macht in den Händen ihres Meisters konzentrierte, lächelte der greise Magier. Einen Atemzug lang sah sie ihn so wie beim ersten Mal: Macht vereint mit Weisheit und Güte.

Mit größter Bewunderung beobachtete sie, auf welch geschickte Art der Magier des Königs einen Abwehrbann wob, der ihrem ähnelte und doch unendlich vielschichtiger war – und das, ohne auf offensichtliche Bewegungen zur Unterstützung seiner Arbeit auszuweichen. Die weiteren auf seinem Körper erscheinenden Schnitte konnten ihn nicht aus der Konzentration reißen. Als er den Zauber beendete, erzitterte die Hütte unter der Gewalt des verärgerten, durchdringenden Aufschreis seines Angreifers. Zweimal noch versuchte der, gegen den Abwehrbann anzukämpfen, bevor Sham seine Magie nicht mehr wahrnahm.

Der Alte Mann brach auf dem Boden zusammen. Sham kniete sich fast so schnell hin, wie er gefallen war, und tastete ihn behutsam mit den Händen ab. Sie fand keine Wunden, die verbunden werden mussten, nur eine Vielzahl winziger, dünner Linien, aus denen sich das Lebensblut des alten Mannes auf den Boden ergoss. Ihre Bewegungen wurden verzweifelter, als sie die Unausweichlichkeit seines Todes erkannte – sie wurde ersichtlich durch das Blut, das gegen die Wände und auf den Boden gespritzt worden war.

Es gab keine ihr bekannte Magie, die ihn zu heilen vermochte. Die Heilrunen, die sie auf seine Brust zeichnete, würden zwar den Heilungsprozess beschleunigen, doch sie wusste, dass er längst tot wäre, bevor sein Körper damit beginnen könnte zu genesen. Sham versuchte es trotzdem. Die Anstrengung, die es sie kostete, so kurz nach dem Spielen der Flöte erneut Magie zu wirken, brachte ihre Hände zum Zittern, während sie die Runen zeichnete, die vor ihrer tränenverschleierten Sicht verschwammen.

»Genug, Shamera, genug.« Die Stimme des Alten Mannes hörte sich sehr schwach an.

Sie zog die Hände zurück und ballte sie zu Fäusten. Sham wusste, dass er recht hatte. Vorsichtig bettete sie seinen geschundenen Kopf in ihren Schoß. Ohne auf das Blut zu achten, streichelte sie zärtlich die ledrige Haut seines Gesichts.

»Meister«, hauchte sie leise, und der Alte Mann verzog die Lippen erneut zu einem Lächeln.

Er würde es bedauern, sein kleines, trotziges Lehrlingsmädchen zu verlassen. Für ihn war sie noch so, wie er sie zuletzt gesehen hatte: ein Kind an der Schwelle zur Frau. Wenngleich ihm bewusst war, dass sie mittlerweile längst erwachsen und selbst eine Meisterin geworden war. Ihre Kindheit war zu Ende gegangen, als sie ihn aus dem Verlies gerettet hatte, in dem er blind, verkrüppelt und dem Tode nah gelegen hatte. Er musste sie warnen, bevor es zu spät war. Mit hart erkämpfter Stärke fasste er hoch und ergriff ihre Hand.

»Kleines«, sagte er. Aber seine Stimme klang zu leise – es machte ihn wütend, so schwach zu sein, und aus dieser Wut bezog er Kraft. »Shamera, Tochter meines Herzens.« Es ertönte kaum lauter als ein Flüstern, doch aus ihrer Reglosigkeit konnte er ablesen, dass sie ihn trotzdem gehört hatte. »Es war der Chen Laut, der hier gewesen ist. Du musst ihn finden, Kind, oder er zerstört …« Kurz verstummte er, um genug Kraft für den Rest zu sammeln. »Er ist … diesmal nahe dran, sonst wäre er nicht das Wagnis eingegangen, mich anzugreifen. Hast du verstanden?«

»Ja, Meister«, antwortete sie leise. »Chen Laut.«

Er entspannte sich in ihrer Umarmung. Dabei geschah etwas Wundersames. Die Magie – seine eigene Magie –, die sich ihm so viele Jahre entzogen hatte, kehrte durch den Wall der Schmerzen zurück, als wäre sie ihm nie entrissen worden. Als er aufhörte, um Atem zu ringen, umgab ihn die Macht und tröstete ihn, wie sie es immer getan hatte. Mit einem Seufzen der Erleichterung, der Erlösung gab er sich ihrer Umarmung hin.

Shamera beobachtete mit ausdrucksloser Miene, wie der alte Magier sie verließ, wie sein Körper in ihren Armen erschlaffte. Kaum war er fort, legte sie seinen Kopf behutsam auf den Boden und begann, seinen Körper gerade auszurichten, als spiele es eine Rolle, in welcher Haltung der Alte Mann für seinen Scheiterhaufen dalag. Als sie damit fertig war, kniete sie zu seinen Füßen nieder und neigte das Haupt, um ihre Achtung zu zeigen.

Dann ließ sie das Magierlicht erlöschen und saß in der Dunkelheit beim Leichnam ihres Meisters.


Das Geräusch von Stiefeln auf Bodenbrettern riss Shamera aus ihrem Dämmerzustand. Wie betäubt beobachtete sie, wie vier Stadtgardisten den kleinen Raum mit Fackellicht fluteten.

Zu spät wurde ihr klar, dass sie hätte verschwinden sollen, als es ihr noch möglich war. Blut durchtränkte ihre Kleidung, und ohne weitere Zeugen war sie die wahrscheinlichste Verdächtige. Aber sie befand sich hier in Fegfeuer; sie konnte sich den Weg freikaufen. Geld stellte kein Problem dar. Der Alte Mann würde das Gold aus der Höhle ohnehin nicht mehr brauchen.

Vorsichtig stand Sham auf und drehte sich den Eindringlingen zu.

Drei stammten aus dem Osten, der vierte war ein Südwäldler, der sich anhand seiner langen Haare und dem Bart einfach von den anderen unterscheiden ließ. Alle vier hatten vertraute Gesichter, obwohl Shamera Mühe gehabt hätte, ihre Namen zu benennen, abgesehen vom offenkundigen Anführer – er wurde wegen des dreckigen Tuchs, das er über seinem fehlenden Auge trug, ›Lappen‹ genannt. Sie entspannte sich ein wenig: Man munkelte, dass er sich leichter als die meisten anderen kaufen ließ.

Lappen und einer der anderen aus dem Osten – hochgewachsen für seinesgleichen und skelettartig dünn, mit großen schwarzen Augen – betrachteten das Blut, das beinahe den gesamten Raum besudelt hatte, mit wachsendem Respekt. Während die anderen zwei sich umsahen, fixierten der Südwäldler und der Dritte aus dem Osten Sham weiterhin. Sie achtete darauf, die Arme weit vom Körper entfernt zu halten, um nicht den Anschein einer Bedrohung zu erwecken.

Lappen steckte seine Fackel in eine der leeren Wandhalterungen und bedeutete dem Südwäldler, es ihm mit der zweiten Fackel gleichzutun. Dann kratzte sich der Truppführer an der Stirn, drehte sich einmal um sich selbst und ließ den Raum auf sich wirken, bevor sich sein Blick wieder auf Sham richtete.

»Bei Altis’ Blut, Sham – wenn du beschließt, einen Mistkerl umzubringen, dann machst du es aber ordentlich.« Er räusperte sich und spuckte aus – eine Art von Anerkennung, glaubte Sham, als es ihr gelang, sein bruchstückhaftes Südwäldisch zu verstehen.

Bevor sie etwas erwidern konnte, betrat ein fünfter Mann den Raum, der die Gewänder eines Adeligen trug. Das breite Lächeln in seinem Gesicht ließ Sham unwillkürlich einen Schritt zurückweichen.

Lappen schaute auf und bediente sich seiner Muttersprache Cybellisch. »Lord Hirkin, ich denke, der hier könnte nützlicher als die anderen sein, Herr. Das ist Sham, der Dieb – ich habe gehört, dass der Hai auf ihn aufpasst.«

»Gut, gut«, erwiderte Lord Hirkin, der Mann, der die Gardisten von Fegfeuer befehligte.

Er zeigte mit einer Geste in Shams Richtung, und Lappen trat hinter sie. Der sicherte sie, indem er die riesigen Hände um ihre Oberarme schlang.

Bei den Gezeiten, dachte Sham, das würde doch nicht so einfach werden. Sie hob sich ihre Trauer für später auf und widmete alle Aufmerksamkeit ihrer gegenwärtigen Lage.

»Nach genau so einem mordenden Dieb habe ich gesucht«, fuhr Hirkin fort und wechselte dabei für Sham ins Südländische. »Dieser Mann, der sich ›der Hai‹ nennt – du wirst mir sagen, wo ich ihn finde.«

Sham zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß nicht, wo er sich aufhält – das weiß niemand. Wenn du ihn haben willst, dann hinterlasse eine Nachricht für ihn bei einem der Flüsterer.«

In Wirklichkeit war sie vermutlich die einzige Person außerhalb der Bande des Hais – den sogenannten Flüsterern der Straße –, die wusste, wo sich der Hai meistens herumtrieb. Doch sie hatte nicht die Absicht, dieses Wissen mit irgendjemandem zu teilen. Der Hai hatte eigene Wege und Mittel, sich solcher Probleme anzunehmen – Vorgehensweisen, die in der Regel weit unangenehmer waren als alles, was sich dieser Mann vor ihr ausdenken könnte. Abgesehen davon betrachtete sie den Hai als einen Freund.

Hirkin schüttelte vor gespieltem Bedauern den Kopf, wandte sich ab und sprach zu den drei Gardisten hinter ihm. »Es dauert immer so lange« – er wirbelte auf dem Absatz herum und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht –, »die Wahrheit aus Südwald-Abschaum herauszubekommen. Die sind einfach dümmer, als gut für sie ist.« An Sham gewandt meinte er: »Vielleicht sollte ich dich einfach diesem Mann dort überlassen.« Er nickte in Richtung des wandelnden Skeletts, das dabei ein boshaftes Grinsen aufsetzte und eine Zahnlücke zur Schau stellte. »Er mag Jungen deiner Größe. Den letzten, den er zum Spielen hatte, habe ich danach getötet – aus Barmherzigkeit.«

Sham zeigte sich von Hirkins Drohungen angemessen beeindruckt – nämlich gar nicht. Sie schnaubte nur verächtlich und lächelte mit aufgeplatzten Lippen. Schon früh hatte sie gelernt, dass der Geruch von Angst Schakale nur erregte und noch wilder werden ließ.

»Von dem da hab ich schon gehört«, sagte sie und deutete mit dem Kinn in Richtung des Gardisten, den Hirkin gemeint hatte. »Man munkelt, dass er sich ohne fremde Hilfe nicht mal die Schuhe zubinden kann. Gib mich ruhig zu ihm, und du findest danach vielleicht noch ein paar kleine Stückchen von ihm.«

Den nächsten Hieb erwartete sie, und sie drehte den Kopf mit dem Schlag, um einen Teil der Kraft abzulenken. Man hatte sie nicht nach Waffen durchsucht. Ihr Dolch lag zwar dort, wo sie ihn hingeworfen hatte, aber mehrere der Werkzeuge ihres Diebeshandwerks waren beinahe genauso scharf. Und Lappens Griff war nicht so fest, wie er glaubte – nicht für eine Magierin. Sham musste nur den günstigsten Augenblick wählen, um zu handeln.

Talbot, der einzige Südwäldler unter den Gardisten, beobachtete das Geschehen zähneknirschend. Es handelte sich um das vierte derartige Verhör dieser Nacht. Von den ersten beiden hatte er nur gehört. Zum dritten war er gestoßen, als das Opfer bereits tot war. An sich hatte er kein Problem mit Schlägen und Gewalt im Namen der Gerechtigkeit, doch dieses Verhör hatte nichts mit der Leiche zu tun, die vergessen in der Ecke des Raumes lag – ein so schmächtiger Bursche hätte unmöglich eine Tür einfach so aus dem Rahmen reißen können. Zudem beschwor der Anblick von Besatzern aus dem Osten, die einen Südwäldler schlugen, eine Wut herauf, die er längst begraben gewähnt hatte.

Auch wenn es sich um die erste feste Anstellung handelte, die er in fünf Jahren gefunden hatte, würde er nicht tatenlos dabei zusehen, wie Lord Hirkin einen Jungen zu Tode prügelte, nur um seine Stelle zu behalten. Mit einer stummen Entschuldigung an seine Frau drehte er sich um und stahl sich in einem Augenblick zur Tür hinaus, in dem die Aufmerksamkeit der anderen dem kleinen Dieb galt.

Kaum befand er sich in der stillen Gasse, steuerte Talbot mit forschen Schritten und der groben Idee, einige Gardisten aus Südwald zu suchen, auf die nächstbeste größere Straße zu. Hirkins Befehlsgewalt über sie war nicht so gefestigt, wie er glaubte, und Talbot kannte mehrere, die sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen würden, ein paar Cybeller zu töten, seien es Gardisten oder Adelige.

Kurz spielte er mit dem Gedanken, dem Hai eine Botschaft zukommen zu lassen, verwarf diesen Einfall jedoch. Der Hai mied in der Regel die unmittelbare Begegnung mit Gardisten; er würde den Tod des Jungen vielleicht rächen, aber Talbot hoffte, ihn stattdessen zu retten. Vergeltung war es nicht wert, darüber eine feste Anstellung zu verlieren.

Die nächste Straße, auf der Betrieb herrschte, lag mehrere Häuserblöcke entfernt. Um diese nachtschlafende Zeit trieben sich dort zwar weniger Menschen herum, aber völlige Ruhe kehrte in Fegfeuer nie ein. Als er die breitere Durchzugsstraße erreichte, verschnaufte Talbot und sah sich nach ihm bekannten Gardisten um, erblickte jedoch nur einen cybellischen Soldaten. Talbot stieß einen leisen Fluch aus.

»Schwierigkeiten?«, fragte eine Stimme in seiner Nähe auf Südwäldisch.

Talbot wirbelte herum und sah sich von Angesicht zu Angesicht einem Schlachtross gegenüber. Besonnen wich er aus der Reichweite der gebleckten Zähne des Hengstes, legte den Kopf in den Nacken und begegnete dem Blick eines Mannes, bei dem es sich der Aufmachung nach nur um den Vogt von Südwald handeln konnte.

»Ja, Herr.« Seine Stimme ertönte mit festem Klang. Talbot hatte als Matrose auf dem Schiff gedient, das unter dem Sohn des alten Königs gesegelt war. Er war an Menschen von Rang gewöhnt, und den Flüsterern zufolge war Lord Kerim nicht so hochnäsig wie die meisten seiner Kaste. Talbot hatte sogar gehört, er kümmere sich um alle Menschen in Südwald, um Oststämmige und Einheimische gleichermaßen.

Zum ersten Mal verspürte Talbot das Aufflackern der Hoffnung, dass er die Nacht überstehen würde, ohne seine Arbeit zu verlieren. »Falls Ihr eine Minute Zeit habt, Herr, es ist ein Verbrechen geschehen, das Euch interessieren könnte.«

»Tatsächlich?« Lord Kerim lehnte sich auf dem Pferd ein wenig zurück und wartete darauf, dass der Gardist fortfuhr.

Talbot räusperte sich und sprang über seinen Schatten. »Ein Mord hat sich ereignet, Herr. Als wir die Leiche gefunden haben, war dort ein Junge. Der gewöhnliche Ablauf wäre so gewesen, Herr, dass wir ihn für ein Verhör und ein Gerichtsverfahren mitgenommen hätten. Aber Lord Hirkin ist aufgekreuzt und hat das Verhör gleich selbst übernommen. Ich glaube nicht, dass er vorhat, den Jungen für ein Gerichtsverfahren in Gewahrsam zu nehmen, falls Ihr versteht, was ich meine.«

Kerim musterte den Gardisten kurz, bevor er ihn leise aufforderte: »Dann geh voraus, Mann, und ich kümmere mich darum.«

Mit Kerim im Rücken schaffte Talbot den Weg zurück zu der kleinen Hütte binnen kürzester Zeit. An der Tür befreite Kerim die Füße aus den Steigbügeln und schwang ein Bein über den Sattel, bevor er vom Pferd glitt. Er ließ die Zügel auf den Boden sinken, damit der Hengst an Ort und Stelle blieb, und folgte Talbot durch den offenen Eingang.


»Wenn du ein artiger Junge bist, besteht keine Notwendigkeit, den Scharfrichter kennenzulernen«, gurrte Lord Hirkin.

Er hatte begonnen, seine Drohungen mit unverhohlener Bestechung abzuwechseln. Sham wusste nicht genau, weshalb er den Hai jagte, aber angesichts der Dringlichkeit, die aus dem Auftreten des Mannes sprach, musste es sich um eine Angelegenheit von großer Bedeutung handeln.

»Ich würde lieber ihn kennenlernen, als noch länger dich zu ertragen«, gab sie etwas undeutlich durch ihre geschwollenen Lippen zurück. »Er würde wenigstens nach ehrlicher Arbeit riechen. Das ist besser als der Gestank, der an dir haften wird, wenn der Hai mit dir fertig ist. Er mag keine Leute, die in seinen Belangen herumstochern – die enden in der Regel als Futter für seine Brüder im Meer.«

Am Rande nahm sie wahr, dass jemand von draußen den Raum betreten hatte, doch sie vermutete, dass es sich lediglich um weitere Gardisten handelte.

Der nächste Hieb hinterließ bei ihr eine blutige Nase. Shameras Augen tränten vor Schmerz. Sie wusste, dass sie bald eine Möglichkeit finden musste, um den Mann abzulenken. Wenn sie nicht handelte, bevor die Schmerzen zu schlimm wurden, würde sie nicht in der Lage sein, ihre Magie gefahrlos einzusetzen.

Offensichtliche Magie kam nicht infrage, es sei denn, ihr Leben stünde auf dem Spiel. Sie hatte keine Lust, verantwortlich für eine der gelegentlichen Hexenjagden zu sein, die Fegfeuer immer noch heimsuchten. Dennoch gab es Dinge, die sie tun konnte, um die Kräfteverhältnisse ein wenig auszugleichen.

Dann schaute sie zur Tür und erstarrte, hörte Lord Hirkins Erwiderung auf ihre Beleidigung gar nicht mehr. Sie war zu beschäftigt damit, den Vogt von Südwald anzustarren, der dort am Eingang stand – unmittelbar vor dem Südwäldler-Gardisten, den sie vor Kurzem die Hütte hatte verlassen sehen. Als Hirkin ihren eindringlichen Blick bemerkte, drehte er sich zur Seite, um zu erfahren, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

»Also«, sagte Lord Kerim leise.

Als er sprach, drehten sich die Gardisten, die Sham im Auge behalten hatten, ebenfalls um. Shamera beobachtete, wie einer von ihnen zwei schnelle Schritte vorwärtsging und sich platzierte, dass er Schulter an Schulter mit dem Südwäldler unmittelbar hinter Lord Kerim stand – womit er stillschweigend zum Ausdruck brachte, wem seine Gefolgstreue galt.

»Lord Kerim, was führt Euch hierher?«, fragte Lord Hirkin.

»Habt Ihr gesehen, wie der Junge diesen Mann getötet hat?« Der Vogt schaute beiläufig zu der regungslosen Gestalt am Boden.

»Nein, Herr«, antwortete Hirkin. »Einer der Nachbarn hat Schreie gehört und seinen Sohn zum nächsten Gardisten-Posten geschickt. Ich war zufällig dort und habe mich meinen Männern angeschlossen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Als wir hier eingetroffen sind, haben wir diesen Jungen neben der Leiche des alten Mannes vorgefunden.«

Sham wunderte sich über den Mangel an Respekt im Tonfall des jungen Lords. Zwar hatte sie gehört, dass Kerim bei den Händlern und unteren Schichten beliebter als bei den Adeligen war, aber dies war deutlicher, als sie erwartet hatte.

Lappen ließ sie los und trat etwas zurück, den Blick abwechselnd auf Hirkin und den Vogt gerichtet. Sham rappelte sich auf die Knie und wischte sich Blut aus dem rechten Auge. Sie nutzte die Bewegungen, um ein scharfes kleines Werkzeug in ihre Hand gleiten zu lassen. Es mochte klein sein, trotzdem war es schwer genug und hatte eine nahezu gleichmäßige Gewichtsverteilung – fast so gut wie ein Wurfmesser.

Der Vogt schüttelte leicht den Kopf in Hirkins Richtung und sagte mit derselben gefährlich leisen Stimme: »Ich bin dem jungen Burschen vor weniger als einer Stunde draußen auf den Docks begegnet. Er kann es unmöglich rechtzeitig hierher geschafft haben, um solchen Schaden anzurichten.«

»Das konnte ich nicht wissen«, verteidigte sich Lord Hirkin. »Es ist meine Pflicht, alle offensichtlichen Verdächtigen eines Verbrechens zu verhören. Dies hier mag ein etwas ruhigerer Winkel sein, trotzdem liegt er noch in Fegfeuer. Die Menschen hier würden ohne ein wenig Überredung nicht mal der eigenen Mutter die Wahrheit sagen, geschweige denn einem Gardisten.«

»Mag sein.« Kerim nickte nachdenklich. »Aber was ich gerade gehört habe, klang so, als sei Euch gar nicht allzu sehr an der Schuld oder Unschuld des jungen Mannes gelegen. Ein Zuhörer könnte mit Fug und Recht sogar glauben, es gehe Euch gar nicht wirklich um dieses Verbrechen.«

»Herr …« Hirkin verstummte, als er dem Blick des Vogts begegnete.

»Es klingt eher so, als ob Ihr ihn wegen eines völlig anderen Verbrechens verhört. Vielleicht wegen des Diebstahls eines Fahrtenbuchs?« Lord Kerim sah Hirkin mit mildem Interesse an und lächelte humorlos. »Ich glaube, bei diesem Verbrechen kann ich Euch behilflich sein. Jemand hat unmittelbar nach dem heutigen Abendessen ein höchst bemerkenswertes Geschenk bei meinem Kammerdiener hinterlassen.«

Hirkin erbleichte und ließ die Hand auf den Griff des an seinem Gürtel hängenden Schwertes sinken.

Kerim schüttelte voll gespielter Traurigkeit den Kopf. »Ich hatte noch keine Zeit, alles zu lesen, aber jemand war ausgesprochen hilfreich und hat bestimmte Einträge gekennzeichnet. Am verheerendsten, was Euer Schicksal angeht, sind wohl die Aufzeichnungen über die Entführung von Lord Tybers Tochter und ihren anschließenden Verkauf an einen Sklavenhändler. Lord Tyber war alles andere als erfreut darüber, zu erfahren, dass Ihr darin verwickelt wart. Ich glaube nicht, dass ich an Eurer Stelle in die Feste zurückkehren würde.« Die Lippen des Vogts weiteten sich zu einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, und seine Stimme wurde noch leiser, als er fortfuhr. »Auf viele dieser Dinge war ich bereits aufmerksam geworden, nur fehlten mir die Beweise, die mir nun jemand so großzügig zur Verfügung gestellt hat. Und da Lord Tyber dafür sorgen würde, dass Ihr nicht lange genug lebt, um Euch einem Gerichtsverfahren zu stellen, habe ich mit Zustimmung des Rates bereits ein Urteil gefällt: Ihr seid aus Südwald verbannt.«

Hirkins Gesicht wurde vor Wut noch bleicher. »Ihr wollt mich verbannen? Ich bin der zweitgeborene Sohn des Lords der Marschen! Unser ältester Titel reicht achthundert Jahre zurück. Ihr seid nichts! Habt Ihr gehört? Nichts weiter als der uneheliche Sohn einer hochwohlgeborenen Hure!«

Kerim schüttelte den Kopf. Es gelang ihm sogar, bedauernd zu wirken, als er sein Schwert aus der Scheide auf seinem Rücken zog. Seine Stimme jedoch wurde schlagartig eisig, als er sagte: »Sie mag eine hochwohlgeborene Hure sein, aber Euch steht es nicht zu, dieses Urteil zu fällen. Ich fordere Euch heraus.«

Der Anblick des Schwertes lenkte Sham kurzzeitig ab. Sie hatte gehört, dass der Leopard mit einem blauen Schwert kämpfte, aber sie hatte angenommen, es sei blau lackiert – ein unter den Besatzern aus dem Osten recht verbreiteter Brauch.

Stattdessen jedoch erwies es sich als gebläut, wie man es manchmal mit Stahl tat, der für Verzierungen benutzt wurde. Shamera hatte noch nie von Bläuen in einem solchen Ausmaß gehört, wie man es bei der mächtigen Klinge des Vogts angewandt hatte. Ein vereinfachtes Verfahren wurde gelegentlich eingesetzt, um Rost an Schwertern zu verhindern, aber dabei wurden die Klingen eher schwarz. Das Schwert des Vogts wies jedoch ein dunkles Indigoblau auf, das im trüben Licht der kleinen Hütte gefährlich funkelte. Wo die Bläue abgezogen worden war, schimmerten die Ränder silbrig. Dünne Male, wo andere Klingen die Beschichtung beschädigt hatten, legten Zeugnis davon ab, dass es sich nicht um einen Ziergegenstand, sondern um ein echtes Todeswerkzeug handelte.

Hirkin lächelte und zog sein eigenes Schwert. »Ihr macht es mir zu einfach, mein lieber Herr Vogt. Früher einmal hättet Ihr mich vielleicht besiegen können, aber mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr an zwei von drei Tagen Euer Schwert nicht einmal anheben könnt. Ihr habt hier niemanden, der Euch hilft – das sind meine Männer.«

Anscheinend zählte er Sham nicht mit, die entschieden gegen Hirkin war – allerdings überraschte sie, dass er nicht bemerkt hatte, wie sich zwei seiner Gardisten ebenfalls auf die Seite des Vogts geschlagen hatten, sodass ihm selbst nur Lappen und der Skelettmann blieben.

Kerim lächelte mild. »Der Verbannungsbefehl ist bereits im Tempel und beim Rat hinterlegt. Mein Tod würde ihn nicht aufheben.« Er schwang das Schwert hin und her, sodass es einen flimmernden, tödlichen Vorhang glich, dann lächelte er wild und fügte hinzu: »Und wir haben Glück – wie es scheint, ist heute der eine von drei Tagen, an denen ich in der Lage bin zu kämpfen.«

Hirkin, der die Drohgebärden offenbar leid war, knurrte plötzlich, griff Kerim unvermittelt an und stieß mit dem Schwert tief und kräftig zu. Ohne erkennbare Mühe fing Kerim die kleinere Klinge mit der eigenen Waffe ab, lenkte sie zur Seite und zerstörte dabei einen an der Wand stehenden Tisch.

Als Sham vom Kampfplatz zurückwich, erregte eine unscheinbare Bewegung zu ihrer Linken ihre Aufmerksamkeit. Ohne den Kopf von den blitzenden Schwertern wegzudrehen, beobachtete sie aus dem Augenwinkel, wie Lappen mit einem großen Messer in den Händen langsam vorwärtsschlich. Sham runzelte verächtlich die Stirn über seine Waffenwahl – in den richtigen Fingern tötete ein kleiner Dolch genauso zuverlässig und ließ sich wesentlich einfacher verbergen.

Angesichts des spärlichen Wissens, das sie über Lappen besaß, hätte sie eher vermutet, dass er abwarten würde, wer sich als Sieger abzeichnete, bevor er sich für eine Seite entschied. Doch vielleicht hegte er an Lord Hirkin ein größeres Interesse, als sie ahnte. Sie zuckte zusammen, als Hirkins Schwert in einen der billigen kleinen Töpfe krachte, die eine schlichte, in die Wand eingebaute Holzablage säumten.

Sham wusste, dass sie sich den Kampf zunutze machen und verschwinden sollte. Die Hintertür der Hütte befand sich in ihrem Rücken, und niemand schenkte ihr Beachtung.

Sie wartete, bis sich Lappen für eine Position entschied, bevor sie selbst in Stellung ging. Mit erfahrenem Auge schätzte sie die Entfernung ab, fasste den Griff ihres Diebeswerkzeugs mit zwei Fingern und achtete darauf, es in dem breiten Ärmel zu verbergen, der über ihre Hand baumelte. Dann wartete sie darauf, dass Lappen dazu ansetzte, einzugreifen.

Sie verpasste dadurch einen Großteil des Kampfes, aber sie konnte das Geschehen hören. Das Klirren von Metall auf Metall wurde von Hirkins lauten Schreien übertönt. Im Gefecht hatte ihr Vater dasselbe getan. Kerim hingegen kämpfte lautlos.

Langsam wich Lord Hirkin in die Ecke zurück, in der Lappen lauerte, und zum ersten Mal seit den Eröffnungshieben war der Kampf nun deutlich in Shams Blickfeld.

Immer wieder prallten die Klingen aufeinander, und im flackernden Fackelschein stoben Funken auf. Lord Kerim bewegte sich mit der tödlichen Anmut einer mächtigen Raubkatze – ungewöhnlich für einen so großen und kräftigen Mann. Sham fragte sich nicht mehr, wie ein so stattlicher Hüne die Bezeichnung ›Leopard‹ erlangt hatte. Obwohl Hirkin unübersehbar einen hervorragenden Schwertkämpfer verkörperte, war er dem Vogt genauso unübersehbar nicht gewachsen. Hirkin stolperte nach links, und Kerim folgte ihm, wodurch er die verletzliche Seite seines Halses zu einem einfachen Ziel für Lappens Messer machte.

Sham wartete, bis der Gardist mit dem Arm ausholte, dann ließ sie ihr Werkzeug wirbelnd durch die Luft schnellen. Lautlos schlug es in Lappens heiles Auge ein – gleichzeitig mit einem anderen Messer, das bis zum Heft in seinem Hals versank.

Verwundert schaute Sham auf und begegnete dem Blick ihres südwäldischen Landsmanns, der die Hand zu einem förmlichen Salut erhob. In seiner Nähe rang der Cybeller, der sich auf Kerims Seite gestellt hatte, auf dem Boden mit Hirkins verbliebenem Handlanger. Da die Lage unter Kontrolle zu sein schien, wandte sich Shamera beruhigt wieder dem Schwertkampf zu.

Hirkins Waffe bewegte sich mit derselben Kraft wie jene Kerims, allerdings ohne dieselbe Präzision zu erreichen. Wieder und wieder traf sie auf Holz und Verputz, während das blaue Schwert ausschließlich Hirkins Klinge berührte.

Mittlerweile atmeten beide Männer schwer, und der Geruch von Schweiß vermischte sich mit dem von Tod, der immer noch erstickend in der Luft hing. Die Waffen wurden zunehmend langsamer, und immer mehr kurze Pausen unterbrachen ihren Takt, bevor das wilde Klirren erneut begann.

Und dann, als bereits sicher zu sein schien, dass Hirkin verlieren würde, wendete sich das Blatt schlagartig. Der Vogt stolperte über einen der Pantoffel des Alten Mannes und fiel auf ein Knie. Hirkin stürmte vorwärts, um sich sein Missgeschick zunutze zu machen, und stieß das Schwert mit dem Handrücken nach oben direkt auf den verwundbaren Hals des Vogts zu.

Kerim unternahm keinen Versuch, sich auf die Beine zu rappeln. Stattdessen stützte er sich mit beiden Knien am Boden ab und riss die Silberschneide der Klinge mit unmöglich anmutender Geschwindigkeit hoch. Hirkins Schwert traf auf sie mit voller Kraft.

Doch allein durch seinen starken Oberkörper fing der Vogt die Wucht von Hirkins Hieb ab und lenkte sie um, drehte sich dabei geringfügig zur Seite. Hirkin schlitzte ein Loch in den Waffenrock des Vogts, bevor sich seine Schwertspitze in die Bodenbretter bohrte.

Nach wie vor auf den Knien, stach Kerim nach oben, als hielte er ein Messer statt eines schweren Schwertes in der Hand. Es drang unmittelbar unter dem Brustkorb in Hirkin hinein und glitt mühelos nach oben. Der Adlige war tot, bevor sein Körper den Boden berührte.

Der Vogt wischte seine Klinge an Hirkins samtenem Waffenrock ab. Als er sich langsam auf die Beine mühte, ließ er wenig von der Geschmeidigkeit erkennen, mit der er soeben noch im Kampf geglänzt hatte.

»Ich habe den Eindruck, Ihr werdet langsamer, Befehlshaber.« Der ostländische Gardist, der Kerim geholfen hatte, sprach unbeschwert, während er noch auf dem Mann kauerte, den er besiegt hatte. Er drückte die verkrümmten Beine des Skelettkerls mit einem Knie nieder und benutzte beide Hände, um seinen Arm zu sichern, den er ihm auf dem Rücken nach oben gebogen hatte. Für Sham sah diese Haltung für beide Männer sehr ungemütlich aus, aber sie ging solchen Tätigkeiten nur selten nach.

Kerim musterte den Mann, der ihn angesprochen hatte, mit verengten Augen, dann grinste er. »Schön, dich wiederzusehen, Lirn. Wieso arbeitet ein Bogenschütze deines Ranges in Fegfeuer?«

Der Gardist zuckte mit den Schultern. »Man muss nehmen, was man an Arbeit kriegen kann, Befehlshaber.«

»Ich könnte dich gebrauchen, um die Gardisten der Feste auszubilden«, bot der Vogt an. »Aber ich muss dich warnen: Der Letzte, der den Posten des Hauptmanns innehatte, hat gekündigt.«

Der Gardist zog die Augenbrauen hoch. »Ich hätte nicht gedacht, dass der Umgang mit den Gardisten der Feste so schwierig ist.«

»Ist er auch nicht«, erwiderte Kerim. »Der mit meiner Frau Mutter hingegen schon.«

Der Gardist lachte und schüttelte den Kopf. »Ich bin dabei. Was soll ich mit dem hier machen?« Er verdrehte das Handgelenk seines Gefangenen, und der Mann unter ihm stieß einen spitzen Schrei aus.

»Was wollte er denn gerade tun, als du ihn dir geschnappt hast?«, fragte Kerim.

»Wegrennen.«

Der Vogt zuckte mit den Schultern. »Lass ihn laufen. Es gibt kein Gesetz dagegen, wegzurennen, und er ist nicht schlimmer als die meisten Gardisten in dieser Gegend.«

Der Ostländler löste sich von seinem Gefangenen und ließ ihn zur Tür hinaushasten.

»Wie heißt du, Gardist?«, wollte der Vogt von dem Südwäldler erfahren.

»Talbot, Herr.« Sham beobachtete, wie der ältere Mann angesichts des Respekts, den ihm Lord Kerim entgegenbrachte, ein wenig die Schultern straffte.

»Wie lange bist du schon Gardist in Fegfeuer?«, wollte Kerim wissen.

»Fünf Jahre, Herr. Davor war ich Seemann auf dem Schiff, das dem Sohn des letzten Königs gedient hat. Danach habe ich als Maat auf mehreren Frachtkähnen gearbeitet, aber die Händler ziehen es vor, die Besatzung nach jeder Reise auszuwechseln. Ich habe eine Frau und eine Familie, deshalb brauche ich eine geregelte Arbeit.«

»Hm«, brummte Kerim und lächelte mit einer plötzlichen Verschmitztheit, die seine markanten Züge überraschend anziehend wirken ließen. »Das bedeutet, du bist daran gewöhnt, dich denjenigen gegenüber zu beweisen, die du befehligst. Das ist gut. Meine gesundheitlichen Probleme haben mich davon abgehalten, Lord Hirkin die Aufmerksamkeit zu widmen, die notwendig gewesen wäre. Ich brauche jemanden, der Leute wie ihn im Auge behalten kann und dabei keinen politischen Erwägungen unterliegt. Ich würde mich freuen, wenn du die Stellung des Sicherheitsleiters annimmst – Hirkins soeben frei gewordener Posten nebst einiger zusätzlicher Pflichten.« Lord Kerim hob die Hand, um dem zuvorzukommen, was Talbot entgegnen wollte. »Ich muss dich allerdings warnen, dass damit Reisen in die abgelegenen Gebiete einhergehen, um zu überwachen, wie die Adeligen ihre Anwesen verwalten. Hinzu kommt die Betreuung der Stadtgarden. Du würdest zur Zielscheibe von reichlich Feindseligkeit – sowohl aufgrund deiner Volkszugehörigkeit als auch deiner bürgerlichen Geburt. Ich statte dich mit einem Pferd, mit Kleidung und mit Waffen aus, biete dir Unterkunft für dich und deine Familie und bezahle dir fünf Goldstücke pro Quartal. Und ich kann dir schon jetzt sagen, dass du dir jedes Kupferstück davon wirst verdienen müssen.«

Talbot musterte den Cybeller, und langsam trat ein Lächeln in seine Züge. »Das würde mir gefallen.«

Der Vogt drehte sich um, weil er mit Sham sprechen wollte, und trat stattdessen zwei Schritte vor, bis er ins fensterlose Schlafzimmer spähen konnte. »Habt ihr gesehen, wohin der Junge verschwunden ist?«

Der frisch ernannte Hauptmann der Garde schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte Talbot, »aber der Bursche ist recht gewitzt.«

Als der Vogt ihn fragend ansah, fuhr er mit einer Erklärung fort. »Ich meine damit, dass er den Ruf hat, Magier zu sein. Ich sehe ihn gelegentlich und habe mich über ihn erkundigt. Die meisten Leute in Fegfeuer – auch die Gardisten – lassen ihn in Ruhe, weil er ziemlich geschickt im Umgang mit Magie ist.« Talbot zögerte, dann nickte er in Richtung der ausgemergelten Gestalt des alten Mannes. »Er schien ziemlich aufgebracht über den Tod des Alten zu sein. Ich möchte nicht in der Haut des Mörders stecken. Ich persönlich würde es ja lieber mit einem tollwütigen Keiler aufnehmen, als ausgerechnet einen Hexer zu erzürnen.«

Sham beobachtete das Geschehen aus einem Winkel des Raumes, dem die drei Männer dank ihrer Magie keine Beachtung schenkten. Sie wünschte, sie würden sich beeilen und gehen, denn sie war sich nicht sicher, wie lange sie den Bann noch aufrechterhalten konnte.

Der Vogt kniete sich hin, um Hirkins Leiche zu überprüfen. »So, wie er dieses Ding auf Hirkin geschleudert hat, würde ich eher sein Messer fürchten.«

Talbot schüttelte den Kopf und murmelte etwas, das wie ›Ostländler‹ klang.


Noch lange nachdem die drei Männer aufgebrochen waren, kauerte Sham in der Nähe auf einem Dach und beobachtete, wie die Hütte des Alten Mannes zu Asche verbrannte, ohne eines der Gebäude daneben auch nur anzusengen. Müde schloss sie die Augen und zitterte in der Wärme ihrer magischen Flammen.

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