Epilog

Was ich an Hunden liebe, ist ihre Fähigkeit zu verzeihen. Diese großmütige Umwandlung der fremden Schuld in die eigene. Tyrann schmiegte sich gegen mein Bein, reckte ab und an den Kopf hoch und stupste gegen meine Hand. In seinem Blick las ich nur eins: »Hast du mir verziehen, Herrchen? Bringst du mich nicht mehr dahin?«

Nein, ich bring dich da nicht mehr hin, bestimmt nicht.

Wenn sich Menschen doch auch so verhalten könnten! Wenn sie einen Fehler nicht in ein Verbrechen verwandeln würden! Wenn sie den ersten Schritt auf den anderen zu machen würden!

Allerdings dürften wir damit wohl auch aufhören, Menschen zu sein. Jeder hat nun einmal seine Stärken und seine Schwächen. Jeder hat seine Schmerzen und seinen Kummer. Der kalte Verstand der Zähler, der passive Gleichmut der Cualcua, die Unbarmherzigkeit der Jentsh – wo wollte man die Waage hernehmen, um zu entscheiden, was schlechter ist?

Wenn wir jedoch all das zerbrächen, was die Natur uns mitgegeben hat, was Evolution, Erziehung und Gewohnheit in uns verankert haben …

Gegen den knarzenden Zaun gelehnt, spähte ich zur Nachbardatscha hinüber. Obwohl es noch nicht neun war, machten sich dort bereits Handwerker zu schaffen. In der Nähe des Hauses wurde etwas Grandioses gebaut. Für mich sah es aus wie ein Hubschrauberlandeplatz mit Hangar. Die Arbeit ging zügig und absolut lautlos voran, wie im Traum. Anscheinend setzten sie einen dieser schalldämpfenden Vorhänge ein, die wir seit einem halben Jahr von Andiana-7 importierten. Teures Zeug. Aber gut, dass wir den jetzt hatten, denn seltsamerweise war der Schlaf meines Großvaters noch immer leicht.

Ob die neureichen Russen bald Startplätze für interstellare Jachten in ihren Vorortvillen errichten würden?

Wahrscheinlich schon.

Möglicherweise würde ich nie wieder in den Kosmos fliegen. Dafür könnte ich dann die startenden Schiffe beobachten. Vom leisen Pfeifen der zerrissenen Luft aufwachen.

Natürlich nur, falls der mir nach den wochenlangen Verhören nun erteilte Hausarrest nicht in ein gemütliches sibirisches Sanatorium umgewandelt wurde …

Die Tür der Nachbardatscha ging auf, und aus dem Haus schoss wie eine Kugel ein zerzauster Junge in Shorts und flatterndem T-Shirt, der offenbar fürchtete, mich zu verpassen. Als er mich an meinem gewohnten Platz sah, verlangsamte Aljoschka den Schritt. Immerhin kam er direkt auf mich zu, ohne seine sonst üblichen Kreise zu ziehen.

»Hallo«, begrüßte ich ihn als Erster. Tyrann sah mich an und verzichtete darauf, Aljoschka anzuknurren.

»Guten Tag …«, brachte der Junge verlegen heraus. Er zögerte eine Sekunde, dann fuhr er energisch fort: »Ihr Haus ist durchsucht worden. Zwei Tage hintereinander!«

»Hmm.« Ich nickte.

Aljoschka druckste herum, konnte sich aber nicht entscheiden, mich auszufragen. Am Ende siegte seine Neugier. »Wo waren Sie denn?«

»Weit weg«, sagte ich. »Sehr weit weg.«

»Auf der Zitadelle?« Aljoschkas Augen leuchteten. Selbstverständlich kannte er sämtliche Neuigkeiten aus dem Kosmos. Über die Versammlung der Starken Rassen des Konklaves hatten alle berichtet, auch wenn niemand wusste, was ihr vorausgegangen war.

»Noch weiter«, antwortete ich einsilbig.

»Kann man es von hier aus sehen?«

Natürlich kann man den Kern der Galaxis von der Erde aus sehen. Aber ich wollte dem Jungen eine Enttäuschung ersparen. »Nein.«

Er blieb weiter bei mir stehen und bohrte die Spitze seines Turnschuhs mit den losen Schnürsenkeln in die Erde. Ich wartete geduldig.

»Pjotr … wollen Sie mir denn keinen Stein schenken?«

Wenn er mich gefragt hätte, ob ich ihm einen Stein mitgebracht hätte, hätte ich den Kopf geschüttelt. Aber so … Ich bückte mich und hob einen kleinen Kiesel auf. Einen grauen, staubigen Stein, der sich durch nichts von den Millionen seiner Artgenossen unterschied.

»Hier.«

Der Junge nahm den Stein verwirrt an sich. Er drehte ihn zwischen den Fingern und sah mich an. Seine Augen funkelten misstrauisch auf. Er hatte nicht erwartet, dass sich sein Idol über ihn lustig machen würde … War am Ende also auch ich wenigstens für einen Menschen ein Idol!

»Das ist ein Stück eines Planeten, Aljoschka«, sagte ich. »Ein kleiner Splitter eines kleinen Planeten, auf dem Menschen leben.«

Er schwieg.

»Ein absolut gewöhnlicher Planet, mein Junge«, fuhr ich geduldig fort. »An ihm ist nichts Besonderes. Es gibt viel Wasser, aber auch genug Festland. Die Wolken ziehen so, wie es ihnen gefällt. Es regnet immer genau dann, wenn es dir nicht passt. Es ist wahnsinnig dreckig, die Wälder gehen ein …«

Mit einem Mal wurde sein Blick fester. Und seine Lippen zuckten, aber nicht in einem halbkindlichen Weinen, sondern in einem zaghaften Lächeln.

»Ein stinknormaler Planet«, sagte ich noch einmal. »Aber vorerst haben wir keinen anderen. Stimmt’s nicht?«

Der Junge nickte.

»Und das Wichtigste ist«, fuhr ich nun im Flüsterton fort, weshalb Aljoschka einen Schritt näher an mich heranrückte, »dass wir nicht alle lieben müssen. Und erst recht nicht alle hassen.«

»Das habe ich verstanden«, sagte Aljoschka, der die Hand mit dem Stein anhob. Er betrachtete ihn so intensiv, als sei es ein schillernder Topas von Attassa oder eine betörende Fälschung von Chalduin-12.

»Das ist der wichtigste Stein in deiner Sammlung«, erklärte ich. »Der allerwichtigste.«

»Ich weiß«, versicherte der Junge. Er sah mir in die Augen. »Pjotr Anrdrejewitsch, was meinen Sie, wird man mich in der Fliegerschule aufnehmen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete ich ehrlich.

»Werden Sie mich empfehlen? Also … wenn ich alt genug bin, meine ich.«

»Ob das etwas nützt?«

»Na und wie!« Aljoschkas Verblüffung war nicht gespielt.

»Dann werde ich dich empfehlen.«

Er nickte. »Kann ich jetzt gehen?«, fragte er.

Nur mit Mühe konnte ich mir ein Lächeln verkneifen. »Geh nur!«

Während ich dem hastig davoneilenden Jungen nachsah, dachte ich darüber nach, dass ich wohl kaum Gelegenheit haben würde, mein Versprechen einzulösen. Meine Empfehlung würde niemandem helfen. Schon gar nicht, wenn es um den Kosmos ging. Eher im Gegenteil.

Trotzdem ist es schön, wenn man dich für einen Helden hält.

In meiner Tasche klingelte das Telefon. Ich holte es heraus und meldete mich: »Hallo?«

»Bist du’s, Pjotr?«, wollte Danilow wissen.

Na so was. Hatten sie ihn also auch gehen lassen? Ich hatte schon befürchtet, der ehemalige FSB-Mitarbeiter würde noch ein, zwei Monate vernommen werden.

»Wer denn sonst?«

»Ich habe dich nicht geweckt?«

»Nein.«

»In fünfzehn Minuten holt dich ein Auto ab. Mach dich etwas frisch. Umziehen kannst du dich im Sternenstädtchen, dein Anzug wird bereits angefertigt.«

Verständnislos schwieg ich.

»Das Konklave schickt ein Ehrenschiff zur Erde!«, schrie Danilow. »Es ist von fünf Torpp umgeben!«

»Und?«, fragte ich, während ich spürte, wie alles in mir drin kalt wurde.

»Hast du’s etwa noch nicht im Fernsehen gehört?«, rief Danilow.

»Ich … nein«, antwortete ich und blickte dem ins Haus schlüpfenden Aljoschka nach.

»Sie kommen, um der Aufnahme der Erde in die Reihen der Starken Rassen beizuwohnen!« Danilows Stimme überschlug sich – und sank plötzlich zu einem Flüstern herab. »Du … du weißt es wirklich nicht?«

Ich schüttelte den Kopf, als hielte ich ein Videofon und kein billiges Handy in der Hand.

»Der Vorsitzende des Konklaves hat erklärt, er möchte die Gespräche bezüglich der Prozedur mit Pjotr Chrumow führen«, sagte Danilow mit einer Stimme, die gleichzeitig feierlich und amtlich klang. »Heute tagt die UNO-Vollversammlung … um deine Vollmachten zu bestätigen.«

Eine geschlagene Minute schwiegen wir beide, als wollten wir die Nerven des anderen testen.

»Pjotr, dir bleiben fünfzehn Minuten zum Packen!«, gab Danilow als Erster nach.

»Eine halbe Stunde«, sagte ich.

»Was?«, schrie Danilow.

»Ich muss noch mit meinem Hund Gassi gehen, Sascha«, teilte ich ihm mit. »Oder hast du was dagegen?«

»Nein …«, sagte er mit einer Stimme, die kaum noch ein Flüstern war.

»Gut«, sagte ich und steckte das Handy weg. »Nicht wahr, Tyrann?«

Der Hund bellte kurz und zustimmend.

»Die sollen auch mal warten«, entschied ich, als ich mit Tyrann die gewohnte Route abging. Zum Zaun, zu den Beeten mit den vertrockneten Astern, zum allerwichtigsten Baum, den es unbedingt zu markieren galt. »Sie können doch ruhig warten, oder?«

Natürlich antwortete mir mein Hund nicht. Aber offensichtlich war er mit mir einer Meinung.

Und als er am Baum geschäftig das Bein hob, musste ich lachen.

Hunderte von Kilometern im Umkreis gab es keinen Hund, der Tyrann sein Revier hätte streitig machen können. Trotzdem bestand er hartnäckig darauf, sein Territorium abzustecken.

Vielleicht war das in der Tat ebenso wichtig wie die feierliche Zeremonie zur Aufnahme der Menschheit in die Reihen der Starken Rassen?

Meinem Großvater würde dieser Vergleich gefallen. Wie falsch er auch sein mochte. Da war ich mir sicher.


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