TEIL 2 So endet die Welt

Was Menschen Übles tun, das überlebt sie.

Das Gute wird mit ihnen oft begraben.

William Shakespeare (»Julius Cäsar«)

Acht

Der Konvoi hält zweimal auf dem Weg zur ummauerten Stadt an – zuerst an der Kreuzung der Highways 18 und 109, wo eine bewaffnete Wache sich kurz mit Martinez unterhält, ehe sie ihn durchwinkt. Ein Haufen menschlicher Überreste liegt in einem Graben. Der behelfsmäßige Scheiterhaufen raucht noch. Das zweite Mal werden sie von einer Straßensperre bei einem Stadtschild aufgehalten. Mittlerweile hat sich der Schneeregen zu nassem Schnee verdichtet, den der Wind fast horizontal über den Schotter fegt – ein sehr seltenes Phänomen in Georgia Anfang Dezember.

»Sieht ganz so aus, als ob die Waffen im Überfluss haben«, meint Josh vom Beifahrersitz aus, während sie darauf warten, dass Martinez, der vier Autolängen vor Bobs Truck steht, und die beiden Männer in olivfarbenen Tarnanzügen und M1-Maschinengewehren endlich fertig geredet haben. Ihre Gesichter sind in Schatten getaucht. Der Schneeregen fällt, und die Scheibenwischer von Bobs Truck wischen in einem dumpfen Rhythmus vor sich hin. Lilly und Bob schweigen während des Wortaustauschs, aber man merkt ihnen ihre Nervosität an.

Mittlerweile ist die Dunkelheit hereingebrochen, und das Fehlen des Stromnetzes wie auch das schlechte Wetter verleihen der Stadt etwas Mittelalterliches. Hier und da sieht man Feuer in alten Öltonnen, und Anzeichen eines vor Kurzem stattgefundenen Scharmützels verunstalten die bewaldeten Täler und Kiefernwälder, welche die ummauerte Stadt umgeben. In der Ferne lassen die versengten Dächer, mit Einschusslöchern übersäte Wohnwagen und kaputte Stromleitungen auf eine ganze Reihe scharf ausgetragener Konflikte schließen.

Josh bemerkt, wie Lilly ein mit Rost übersätes grünes Schild unter die Lupe nimmt. Es steckt in der weißen, sandigen Erde, und im Scheinwerferlicht kann man folgende Aufschrift lesen:

WILLKOMMEN IN

WOODBURY

BEVÖLKERUNG 1.102

Tja, diese Zahl dürfte inzwischen nicht einmal mehr annähernd richtig sein, überlegt Lilly. Sie wendet sich an Josh und meint: »Und? Welches Gefühl hast du bei dem Ganzen?«

»Ich weiß noch nicht genau, es sieht aber so aus, als ob wir gleich neue Befehle kriegen werden«, erwidert Josh, als Martinez aussteigt.

Durch den Schnee sehen sie, wie er sich von seinem Kaffeeklatsch abwendet, den Kragen hochschlägt und auf sie zugeht. Er kommt ziel- und selbstbewusst daher, trägt aber noch immer sein 1000-Dollar-Lächeln in dem dunklen, markanten Gesicht. Er schlägt den Kragen erneut auf, als er sich zu Josh ans Fenster lehnt.

Josh lässt es runter. »Und? Wie sieht es aus?«

Martinez lächelt. »Wir brauchen vorerst eure Waffen.«

Josh starrt ihn an. »Tut mir leid, aber das geht unter gar keinen Umständen.«

Das gesellige Lächeln verschwindet nicht. »Spielregeln der Stadt … Du weißt doch, wie so etwas läuft.«

Josh schüttelt langsam den Kopf. »Nie und nimmer.«

Martinez schürzt die Lippen nachdenklich, ehe das Lächeln wieder in Erscheinung tritt. »Hm, kann nicht behaupten, dass ich es euch übel nehme. Einfach so in etwas hineinstolpern. Aber ich mache euch einen Vorschlag. Könnt ihr zumindest das Luftgewehr im Truck lassen?«

Josh stöhnt erleichtert auf. »Hm, das kriegen wir noch hin.«

»Und könnt ihr eure Waffen zumindest irgendwie verstecken? So dass man sie nicht gleich sieht?«

»Geht auch in Ordnung.«

»Okay … Wenn ihr eine kleine Tour haben wollt, könnte ich bei euch mitfahren. Habt ihr noch Platz für mich?«

Josh dreht sich um und nickt Bob zu. Mit einem Achselzucken schnallt der alte Mann sich ab, steigt aus und zwängt sich dann auf die Rückbank neben Lilly.

Josh steigt auf den Fahrersitz, und Martinez nimmt neben ihm Platz. Er riecht nach Rauch und Maschinenöl. »Immer schön langsam, Kumpel«, mahnt er, wischt sich den geschmolzenen Schnee von der Stirn und deutet auf den Pritschenwagen vor ihnen. »Fahr einfach dem da hinterher.«

Josh gibt ein wenig Gas, und sie folgen dem Pritschenwagen durch die Straßensperre. Sie poltern über eine Reihe von Bahnübergängen und dringen von Südosten her in die Stadt ein. Lilly und Bob schweigen auf der Hinterbank, während Josh sich umblickt. Zu seiner Rechten steht PIGGLY IGGLY auf einem zerbeulten Schild vor einem Parkplatz, der mit Leichen und Glasscherben übersät ist. Der Lebensmittelladen ist auf einer Seite eingestürzt, als ob Dynamit ein Loch hineingeschlagen hätte. Entlang der Straße ist hoher Maschendrahtzaun gespannt, der aber bereits ausgebeult und voller Löcher ist. Sie fahren den Woodbury Highway oder die Main Street hinunter – die Schilder behaupten sowohl das eine als auch das andere –, an deren Seiten überall entsetzliche Brocken menschlicher Überreste sowie verbogene und versengte Metallstäbe und -gitter herumliegen. Die weiße, sandige Erde glüht beinahe in der schneebedeckten Dunkelheit – ein unheimlicher Anblick, der an ein Kriegsgebiet in der Wüste erinnert.

»Wir hatten eine recht große Auseinandersetzung mit einem Schwarm Beißer.« Martinez steckt sich eine Viceroy an und kurbelt das Fenster etwas runter. Der Rauch schlängelt durch den Spalt in das Schneegestöber und löst sich beinahe geisterhaft in Luft auf. »Die Sache war kurz davor, außer Kontrolle zu geraten, aber wir können von Glück sagen, dass die Vernunft gesiegt hat. Wir müssen gleich scharf nach links abbiegen.«

Josh folgt dem Pritschenwagen um eine Haarnadelkurve, um dann auf einer schmaleren Straße weiterzufahren.

In mittlerer Entfernung, hinter einem Schleier von Schneegestöber, taucht das Zentrum Woodburys auf. Vier quadratische Häuserblocks aus Ziegel, wohl aus der Jahrhundertwende, und Stromleitungen, die über eine Kreuzung gespannt sind. Daneben eine Ansammlung von Läden, Holz- und Mietshäusern. Alles ist mit Maschendrahtzaun umsäumt und von erst kürzlich verlassenen Baustellen umgeben. Josh erinnert sich an die Zeiten, als man solche Gemeinden noch kleine Nester oder Käffer genannt hat.

Woodbury ist ungefähr ein halbes Dutzend Häuserblocks breit und genauso lang. Größere öffentliche Bereiche sind in die Wälder im Westen und Norden geschlagen. Aus einigen Schornsteinen steigen Schwaden von schwarzem Rauch auf, entweder die Abgase von Generatoren, Holzöfen oder offenen Feuerstellen. Die meisten Straßenlampen gehen nicht, nur einige wenige sind funktionstüchtig und werden offensichtlich mit Notstrom gespeist.

Als der Konvoi sich dem Zentrum nähert, bemerkt Josh einen Truck, der an einer der Baustellen anhält. »Sind schon seit Monaten am Bauen der Barrikaden«, erklärt Martinez. »Haben beinahe vier Häuserblocks umringt, wollen das aber noch ausbauen, die Mauer weiter und weiter nach außen verschieben.«

»Keine schlechte Idee«, murmelt Josh kaum hörbar, während er den riesigen Wall aus hölzernen Planken, Überresten von Blockhütten, Hausverkleidungen und Kanthölzern sieht. Er ist mindestens vier Meter hoch und verläuft entlang der Jones Mill Road. An Teilen der Barrikade sind noch immer Spuren der Zombie-Attacken zu sehen, und selbst im Schneegestöber und der Dunkelheit sind die Kratzer, notdürftig gestopfte Löcher und pechschwarze Blutflecken unverkennbar.

Das Örtchen vibriert förmlich vor latenter Gewalt. Als ob der Wilde Westen lebt.

Josh hält an, als sich die Türen des Pritschenwagens öffnen und ein junger Gehilfe herausspringt. Er eilt zu dem Zaun, der über die Straße verläuft, zerrt an einem Tor, das gerade breit genug ist für die beiden Trucks, öffnet es, und der Pritschenwagen holpert hindurch, mit Josh im Schlepptau.

»Haben so gut an die fünfzig Leute hier«, fährt Martinez fort und zieht genüsslich an seiner Viceroy, um den Rauch dann aus dem Spalt im Fenster zu blasen. »Da drüben rechts, das ist unser Lebensmittelladen. Da sind sämtliche Essens- und Wasservorräte verstaut. Arzneimittel auch.«

Als sie vorbeifahren, sieht Josh ein altes, verblichenes Schild – DEFOREST’S FEED AND SEED. Die Ladenfront ist mit einem Stahlgitter und hölzernen Planken versehen. Davor stehen zwei bewaffnete Wächter und rauchen Zigaretten. Hinter ihnen wird das Tor wieder verriegelt, und sie rollen langsam weiter in die sichere Zone. Manche Bewohner stehen herum und schauen zu, wie sie an ihnen vorbeifahren – Leute, die in Gruppen auf Bürgersteigen oder Eingangsbereichen stehen. Man kann ihnen die Bedrückung in ihren Augen und Mienen ablesen, auch wenn sie hinter dicken Schals und Mützen verschanzt sind. Aber keiner von ihnen scheint erfreut, die neuen Gesichter zu sehen.

»Haben einen Arzt an Bord, eine funktionierende Praxis und so weiter und so fort.« Martinez schmeißt den fertig gerauchten Zigarettenstummel aus dem Fenster. »Wir hoffen, den Wall bis Ende der Woche um einen weiteren Block nach hinten zu verschieben.«

»Gar nicht so schlecht organisiert«, meldet sich Bob von der Rückbank. Seine wässrigen Augen nehmen alles in sich auf. »Aber wenn ich mal fragen darf, was zum Teufel soll das denn da sein?«

Josh folgt seinem ausgestreckten Zeigefinger und sieht das Dach eines riesigen Gebäudes hinter der ummauerten sicheren Zone. In der diffusen Dunkelheit sieht es aus, als ob ein UFO inmitten eines Feldes außerhalb der Stadt gelandet sei. Es ist umsäumt von einem Feldweg, und dunkle Lichter funkeln durch den Schnee über dem runden Dach.

»Das war mal eine Rennstrecke.« Martinez grinst breit. Im grünen Schimmern des Armaturenbretts scheint sein Lächeln beinahe wölfisch, gar teuflisch. »Landpomeranzen mögen halt ihre Motoren.«

»Wie, ›war einmal‹?«, hakt Josh nach.

»Der Boss hat letzte Woche ein Machtwort gesprochen. Keine Rennen mehr, zu viel Lärm. Zieht die Beißer an.«

»Es gibt hier einen Boss?«

Das Grinsen auf Martinez’ Gesicht verändert sich. »Mach dir keine Sorgen, Kumpel. Du wirst ihn schon früh genug kennenlernen.«

Josh wirft Lilly einen Blick zu, die damit beschäftigt ist, wie wild an den Fingerkuppen zu kauen. »Nicht sicher, ob wir lange genug hier bleiben.«

»Das liegt natürlich an euch.« Martinez zuckt unverbindlich mit den Schultern und zieht sich dann fingerlose, lederne Handschuhe an. »Ihr dürft aber auch nicht die Vorteile für beide Seiten vergessen, von denen wir schon geredet haben.«

»Keine Angst, werde ich nicht.«

»Wir haben derzeit keine freien Wohnungen mehr, aber ihr werdet trotzdem irgendwo unterkommen.«

»Gut zu wissen.«

»Sobald wir die Mauer weiter ausgebaut haben, wird es Tausende von Wohnungen geben.«

Josh antwortet nicht.

Martinez hört plötzlich auf zu lächeln. In dem spärlichen grünen Licht macht er auf einmal den Eindruck, als ob er sich an bessere Zeiten erinnert, vielleicht an eine Familie, vielleicht an etwas Schmerzhaftes. »Ich rede über Wohnungen mit weichen Betten, Privatsphäre … Lattenzäune und Bäume und so.«

Eine lange Pause folgt.

»Ich will dich etwas fragen, Martinez.«

»Na dann schieß los.«

»Wie bist du hier gelandet?«

Martinez stößt einen Seufzer aus. »Um ganz ehrlich zu sein, ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern.«

»Wie soll das denn gehen?«

Er zuckt erneut mit den Schultern. »Ich war allein, Exfrau ist gebissen worden. Mein Kind hat sich auf und davon gemacht. Ich habe mich um gar nichts anderes mehr gekümmert, als Beißer ins Jenseits zu befördern. Hab einen ganzen Haufen dieser hässlichen Biester um die Ecke gebracht. Dann wurde ich von ein paar Typen in einem Graben gefunden, und die haben mich hierher geschleppt. Ich schwöre auf das Grab meiner Mutter – das ist alles, an das ich mich erinnern kann.« Er neigt den Kopf etwas zur Seite, als ob er noch einmal über das Geschehene nachdenkt. »Ich bin froh, dass sie es getan haben, insbesondere jetzt.«

»Was soll das denn heißen?«

Martinez wirft ihm einen Blick zu. »Das hier ist nicht gerade perfekt, aber zumindest befinden wir uns in Sicherheit – und es wird immer sicherer. All das verdanken wir großteils dem Typen, der hier das Sagen hat.«

Josh erwidert seinen Blick. »Ist das der Boss, den du gerade erwähnt hast?«

»Genau.«

»Und wann, hast du gesagt, sollen wir ihn treffen?«

Martinez hält eine behandschuhte Hand in die Höhe, was so viel bedeuten soll wie: Wartet es nur ab. Dann holt er ein Handfunksprechgerät aus der Brusttasche seines Flanellhemds, drückt auf einen Knopf und fängt zu reden an. »Haynes, wir fahren zum Gericht … Die warten bereits auf uns.«

Lilly und Josh tauschen erneut einen Blick aus, als der Truck vor ihnen von der Hauptstraße über den Marktplatz abbiegt, auf dem eine Statue von Robert E. Lee eine bewachsene Pagode bewacht. Sie fahren auf ein steinernes Regierungsgebäude am anderen Ende des Platzes zu, dessen Stufen in der schneebedeckten Dunkelheit geisterhaft schimmern.

Der Versammlungssaal befindet sich im hinteren Gebäudeteil am Ende eines langen, schmalen Korridors, von dem verglaste Türen an beiden Seiten den Blick auf das Innere von Büros freigeben.

Josh und seine Truppe finden sich in dem chaotischen Durcheinander des Hauptsaals wieder. Ihre nassen Stiefel verunreinigen den sowieso schon geschundenen, hölzernen Parkettboden. Sie sind erschöpft und nicht in der Laune, auf das Woodbury-Empfangskomitee zu warten, aber Martinez rät ihnen, sich zu gedulden.

Der wässrige Schnee klatscht an die hohen Fenster, und die Minuten verstreichen nur langsam. Der Saal wird von kleinen Heizöfen warm gehalten und von Kerosinlampen erhellt. Es sieht ganz so aus, als ob der Saal als Austragungsort mehrerer heftiger Scharmützel gedient hätte. Der herabfallende Putz weist Anzeichen von vergangenen Gewalttaten auf, der Boden ist mit umgestürzten Stühlen überhäuft, zwischen denen zerfledderte Akten herumflattern. Josh blickt sich um, sieht Blutspuren an der vorderen Wand neben einer ausgefransten Flagge des Staates Georgia. Generatoren brummen im Keller des Gebäudes vor sich hin, wodurch der Boden permanent bebt.

Sie warten etwas über fünf Minuten – Josh wandert auf und ab, Lilly und die anderen sitzen auf Stühlen –, ehe Geräusche schwerer Stiefel im Gang hallen. Dann ertönt ein Pfeifen. Es kommt immer näher.

»Willkommen, Leute! Willkommen in Woodbury.« Die nasale Stimme, die vom Türrahmen an ihre Ohren dringt, ist tief und voll geheuchelter Freundlichkeit.

Sie drehen sich um.

Sie sehen drei Männer, drei lächelnde Gesichter, die sich mit den eiskalten Augen, die sie anstarren, nicht in Einklang bringen lassen. Der Mann in der Mitte besitzt eine merkwürdige Aura, die Lilly an Pfaue und Kampffische erinnert. »Wir können hier immer gute Leute gebrauchen«, sagt er und tritt ein.

Der Mann ist schlank und knochig, trägt einen zerlumpten Matrosenpullover. Sein pechschwarzes Haar hängt fettig von seinem Schädel herunter. Im Gesicht trägt er einen Bartschatten, den er offensichtlich zu einem Fu-Manchu-Schnurrbart heranziehen will. Außerdem hat er einen kaum merkbaren nervösen Tick, blinzelt viel zu oft.

»Ich bin Philip Blake«, stellt er sich vor. »Und das hier ist Bruce. Bruce und Gabe.«

Die anderen Männer – beide sind schon etwas älter – folgen Blake wie Wachhunde. Sie grüßen kaum außer einem flüchtigem Gegrunze und Genicke und halten sich stets hinter dem Mann namens Philip.

Zu seiner Linken steht Gabe. Er ist weiß, ein wahrer Hüne von Mann mit einem dicken Nacken und US-Marine-Haarschnitt. Bruce, zu seiner Rechten, ist ein mürrischer Schwarzer mit Glatze. Beide halten Ehrfurcht gebietende Maschinengewehre vor der Brust, die Finger am Abzug. Für einen Augenblick ist Lilly von den Waffen völlig fasziniert.

»Tut mir leid, das mit den schweren Geschützen«, entschuldigt sich Philip und deutet auf die Waffen hinter sich. »Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung letzten Monat, und es gab einen Augenblick, da sah es nicht so gut aus. Jetzt wollen wir kein Risiko mehr eingehen, steht viel zu viel auf dem Spiel. Und mit wem habe ich die Ehre …?«

Josh stellt die kleine Gruppe vor, geht dabei im Saal herum und endet bei Megan.

»Du siehst wie jemand aus, die ich mal gekannt habe«, sagt Philip zu Megan. Er kann seine Augen nicht von ihr lassen. Lilly mag nicht, wie der Typ ihre Freundin anschaut – er macht es zwar nicht offensichtlich, aber es stört sie trotzdem.

»Das höre ich öfter«, erwidert Megan.

»Oder vielleicht sieht sie aus wie ein Promi. Jungs, sieht sie nicht wie ein Promi aus?«

Die »Jungs« hinter ihm haben keine Meinung. Philip schnippst mit den Fingern. »Die Tusse aus Titanic

»Carrie Winslet?«, rät Gabe.

»Du Vollidiot! Die heißt nicht Carrie, sondern … Kate … Kate … Kate fucking Winslet.«

Megan lächelt Philip schief an. »Mir wurde gesagt, dass ich wie Bonnie Raitt aussehe.«

»Ich liebe Bonnie Raitt«, schwärmt Philip. »Das sollte genügen, um die Leute zum Tratschen zu bringen, die Gerüchteküche anzuheizen.«

Josh meldet sich zu Wort. »Sie sind also der Boss, von dem wir so viel gehört haben?«

Philip wendet sich dem großen Mann zu. »Schuldig im Sinne der Anklage.« Philip lächelt, tritt auf Josh zu und reicht ihm die Hand. »Wollen wir uns nicht duzen? Josh, oder?«

Josh schüttelt ihm die Hand, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht bleibt verhalten, unverbindlich und höflich. »Gern. Ja, Josh. Wir wollen dir danken, dass wir hierbleiben können, wenn wir uns auch noch nicht sicher sind, wie lange das sein wird.«

Philip schenkt ihm erneut ein Lächeln. »Ihr seid doch gerade erst hier angekommen. Entspannt euch. Schaut euch ein bisschen um. Ihr werdet keinen sichereren Ort finden, das könnt ihr mir glauben.«

Josh nickt zustimmend. »Sieht ganz so aus, als ob ihr das Problem mit den Zombies unter Kontrolle habt.«

»Ach, die schauen immer noch oft genug vorbei – da will ich euch gar nicht anlügen. Alle paar Wochen verirrt sich ein Schwarm und geht uns auf die Nerven. War ganz schön böse das letzte Mal, aber die Stadt wird mit jeder Minute sicherer.«

»Sieht ganz so aus.«

»Ich gehe mal gleich ans Eingemachte: Hier herrscht das Tauschsystem.« Philip Blake blickt sich um, mustert jeden der Neuankömmlinge wie ein Coach, der sein neues Team einschätzt. »Wie ich gehört habe, habt ihr heute einiges vom Walmart mitgehen lassen.«

»Hätte schlechter ausgehen können.«

»Ihr seid herzlich eingeladen, euch das zu nehmen, was ihr braucht – der Handel muss fair bleiben, versteht sich.«

»Handel?« Josh schaut Philip verwirrt an.

»Waren, Dienstleistungen … Was auch immer ihr habt, das uns weiterhelfen kann. Solange ihr eure Mitbürger respektiert, euch von Ärger fernhaltet, an die Regeln haltet, mit anpackt … dann könnt ihr so lange bleiben, wie ihr wollt.« Dann mustert er Josh. »Leute mit einem solchen … Körperbau … können wir hier immer gut gebrauchen.«

Josh überlegt. »Dann bist du … irgendwie … gewählt?«

Philip schaut seine beiden Wachhunde an, die zu grinsen angefangen haben. Dann bricht er in schallendes Gelächter aus. Er wischt sich die freudlosen Augen und schüttelt mit dem Kopf. »Nein, ich würde mich eher – wie heißt das noch mal? – vorläufiger Präsident nennen.«

»Und was soll das genau heißen?«

Philip schmettert die Frage kurzerhand ab. »Um es kurz zu halten – vor nicht allzu langer Zeit haben hier machtgeile Arschlöcher geherrscht, die zu viel vom Kuchen für sich behalten wollten. Ich habe gemerkt, dass da eine Machtlücke gefüllt werden musste, und habe mich freiwillig gemeldet.«

»Freiwillig?«

Philips Lächeln verschwindet. »Ich habe mich gestellt, mein Freund. In Zeiten wie diesen müssen die Leute mit starker Hand geführt werden. Wir haben Familien hier, Frauen und Kinder, alte Leute. Da braucht man jemanden, der aufpasst, jemanden, der … handelt. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

Josh nickt. »Klar doch.«

Hinter Philip lacht sich Gabe noch immer ins Fäustchen und murmelt: »Vorläufiger Präsident, das ist so cool!«

Plötzlich meldet sich Scott zu Wort, der sich an ein Fensterbrett gelehnt hat: »Kumpel, du machst schon was her … Mit diesen beiden Geheimdienst-Typen könnte man dir das mit dem Präsident fast abnehmen.«

Nachdem Scotts dünnes Lachen verhallt ist, bleibt ein betretenes Schweigen in der Luft hängen, und Philip dreht sich zu dem Kiffer um. »Und wie heißt du, Jungchen?«

»Scott Moon.«

»Tja, Scott. Mit dem Präsidenten bin ich mir da nicht so sicher, habe mich nie als Chef gesehen.« Er wirft ihm ein kaltes Lächeln zu. »Höchstens Governor oder so.«

Sie verbringen die Nacht in der Sporthalle der Highschool. Das alternde Ziegelsteingebäude außerhalb der ummauerten Sicherheitszone überblickt einen riesigen Sportplatz, der mit Gräbern übersät ist. Die Zäune weisen noch immer die Schäden der letzten Zombie-Attacke auf. Die Sporthalle ist mit behelfsmäßigen Feldbetten vollgestellt, und die Luft stinkt nach Urin, altem Schweiß und Desinfektionsmittel.

Die Nacht zieht sich hin, insbesondere für Lilly. Die übel riechenden Korridore und Gänge, welche die dunklen Gebäude miteinander verbinden, ächzen und knarzen im Wind, während Fremde sich in den Feldbetten in der düsteren Sporthalle hin und her wälzen, husten, keuchen und fiebrig im Schlaf murmeln. Alle paar Sekunden schreckt ein Kind auf.

Irgendwann blickt sie auf das Bett neben sich, in dem Josh ruhig zu schlafen scheint, ehe er schlagartig aus einem Albtraum erwacht.

Lilly streckt den Arm aus und reicht dem großen Mann die Hand, die er dankbar annimmt.

Am nächsten Morgen sitzen die fünf Neuankömmlinge um Joshs Bett. Das fahle Sonnenlicht scheint durch die staubigen Fenster auf die Kranken und Verletzten, die noch in ihren Klappbetten zwischen besudelten Laken und Decken liegen. Lilly kann nicht anders, als an Szenen aus dem Bürgerkrieg zu denken, an notdürftig zusammengeschusterte Feldhospizen und Leichenhallen. »Liegt es nur an mir«, beginnt sie leise, so dass nur ihre Gruppe sie hören kann, »oder kommt euch das Städtchen auch irgendwie komisch vor?«

»Nein, es liegt nicht nur an dir – und das ist noch gelinde ausgedrückt«, antwortet Josh.

Megan gähnt und streckt sich. »Aber immer noch besser als Bobs kleiner Kerker auf Rädern.«

»Da muss ich dir recht geben«, stimmt Scott ein. »Dann doch lieber so ein beschissenes Feldbett in einer stinkenden Sporthalle.«

Bob wirft Josh einen Blick zu. »Du musst schon zugeben, Captain … Allzu viel kann man nicht dagegen einwenden, dass wir uns hier ein wenig umsehen.«

Josh schnürt sich die Stiefel zu und zieht sich seine Holzfällerjacke über. »Also, ich fühle mich hier nicht besonders wohl.«

»Und woran liegt das?«

»Keine Ahnung. Aber ich finde, wir sollten das einen Tag nach dem anderen angehen.«

»Josh hat recht«, stimmt Lilly ihm zu. »Irgendetwas hier behagt mir auch nicht.«

»Was denn?« Megan fährt sich mit den Fingern durch die Haare und löst die Knoten in ihren Locken. »Was kann man hier nicht mögen? Es ist sicher, es gibt genug zu essen und zu trinken. Außerdem haben die Waffen wie Sand am Meer.«

Josh fasst sich nachdenklich an den Mund. »Passt auf. Ich kann euch nicht sagen, was ihr tun und lassen sollt. Aber seid vorsichtig und passt aufeinander auf.«

»Wird gemacht, Captain«, sagt Bob.

»Bob, ich finde, dass wir vorerst den Truck abschließen sollten.«

»Sowieso.«

»Behalte deine .44er immer griffbereit.«

»Okay.«

»Und wir sollten uns alle stets vergegenwärtigen, wo der Truck steht – nur für den Fall, dass …«

Alle stimmen zu und einigen sich dann, das Städtchen in Trupps auszukundschaften, um am helllichten Tag einen Eindruck zu gewinnen. Nachmittags treffen sie sich dann wieder und beraten darüber, was als Nächstes geschehen soll.

Die harsche Sonne scheint Lilly und Josh ins Gesicht, als sie die Sporthalle verlassen. Sie schlagen die Kragen gegen die Kälte hoch. Der Schneesturm hat aufgehört, aber es ist noch immer sehr windig. Lillys Magen beginnt zu knurren. »Was dagegen, wenn wir etwas frühstücken?«, fragt sie Josh.

»Wir können uns etwas von den Sachen aus dem Walmart im Truck machen. Aber nur wenn du nichts dagegen hast, zum hundertsten Mal getrocknetes Rindfleisch und Dosenspaghetti zu essen.«

Lilly zuckt bei dem Gedanken zusammen. »Ich glaube, ich kann diese Dosenpasta nicht mehr sehen.«

»Ich habe eine Idee.« Josh tastet die Brusttasche seines Flanellhemds ab. »Komm mit … Ich lade dich ein.«

Sie biegen nach Westen ab und gehen die Hauptstraße entlang. Das bittere graue Tageslicht eröffnet ihnen einen ganz anderen Blick auf die Stadt. Die meisten Läden stehen entweder leer oder sind verbarrikadiert oder mit Gittern versehen, die Bürgersteige voller Bremsspuren und Ölflecken. Fenster und Schilder weisen Einschusslöcher auf. Passanten grüßen kaum. Hier und da ist der dreckige weiße Sand entblößt – es scheint, als ob das ganze Städtchen auf Sand gebaut ist.

Auch als Lilly und Josh in die sichere Zone gelangen, werden sie nicht gegrüßt. Die meisten Menschen, die um diese Uhrzeit im Freien sind, tragen Baumaterialien oder Proviant und scheinen es extrem eilig zu haben. Überall herrscht eine düstere Atmosphäre, ähnlich wie in einem Gefängnis. Ganze Häuserblöcke sind mit riesigen, behelfsmäßigen Maschendrahtzäunen abgetrennt. Das Brummen von Bulldozern ist überall und jederzeit zu hören. Am östlichen Horizont sitzt ein Mann mit einem Maschinengewehr und patrouilliert auf dem Dach des Stadions, das um den inneren Teil der Rennstrecke gebaut ist.

»Guten Morgen, meine Herren«, grüßt Josh drei alte Männer, die auf Tonnen vor dem Lebensmittellager sitzen und Josh und Lilly neugierig beäugen.

Einer der Alten, ein runzeliger, bärtiger Troll in einem zerfetzten Mantel und Schlapphut, wirft ihnen ein Lächeln zu und entblößt dabei seine verfaulten Zähne. »Morgen, junger Mann. Ihr gehört doch zu den Neuankömmlingen, oder?«

»Gestern Nacht eingetroffen«, erwidert Josh.

»Ihr Glücklichen.«

Die drei Kauze glucksen vor sich hin, als ob es das Lustigste wäre, das seit Jahren passiert ist.

Josh lächelt zurück und wartet, bis sie sich wieder beruhigen. »Das hier ist das Lebensmittellager, oder?«

»Könnte man so nennen.« Mehr Schmunzeln. »Behalte deine Frau im Auge.«

»Danke, das werde ich«, erwidert Josh und nimmt Lillys Hand. Sie klettern die Stufen und gehen hinein.

Der lange, schmale Laden erstreckt sich vor ihnen und ist in ein düsteres, undurchdringliches Licht getaucht. Er riecht nach Terpentin und Schimmel. Die Regale sind herausgerissen und mit Schachteln, Boxen und Kisten voll Trockengut, Kurzwaren, Toilettenpapier, großen Flaschen mit Trinkwasser, Bettwäsche und sonstigen, nicht identifizierbaren Sachen ersetzt, die bis zur Decke aufgestapelt sind. Die einzige Kundin, eine ältere Frau, dick in Jacken und Schalen eingepackt, sieht Josh, drängt sich rasch an ihm vorbei und eilt dann aus der Tür ins Freie. Sie vermeidet jeglichen Augenkontakt. Die kühle Luft und die künstliche Wärme des Heizofens knistern förmlich vor Anspannung.

In der hinteren Ecke des Ladens, zwischen Säcken voller Samengut, das bis zu den Dachsparren gestapelt ist, gibt es einen behelfsmäßigen Tresen. Ein Mann in einem Rollstuhl sitzt dahinter, flankiert von zwei bewaffneten Männern.

Josh geht zu ihm. »Und? Wie läuft es denn so heute Morgen?«

Der Mann im Rollstuhl mustert ihn mit halb geöffneten Augen. »Ach du grüne Neune, das ist aber ein Riese«, entfährt es ihm, und sein langer, strähniger Bart wackelt mit jedem Wort. Er trägt eine ausgebleichte Armee-Latzhose, ein Haarband hält seinen fettigen Pferdeschwanz zusammen. Sein Gesicht ist Zeuge jahrelanger Missachtung jeglicher gesundheitlicher Ratschläge – angefangen mit den rot umrandeten, wässrigen Augen bis hin zu seinem pickligen, vereiterten Zinken.

Josh ignoriert ihn. »Wollte nur wissen, ob man hier etwas Frisches zu essen kriegen kann. Oder vielleicht ein paar Eier? Wir haben auch etwas zu tauschen.«

Der Mann im Rollstuhl starrt ihn an. Josh spürt die argwöhnischen Blicke der Wachen. Die bewaffneten Posten hinter ihm sind schwarz, jung und in Gang-Farben gekleidet. »Und an was hättest du gedacht?«, will er von Josh wissen.

»Die Sache ist die … Wir haben gerade eine ganze Menge Sachen vom Walmart zusammen mit Martinez mitgehen lassen. Und da habe ich mir gedacht, dass wir vielleicht zusammenkommen könnten.«

»Das ist zwischen dir und Martinez, aber was springt für mich dabei heraus?«

Josh will schon antworten, merkt aber, dass alle drei Männer jetzt Lilly anstarren, und die Art, wie sie es tun, lässt ihn aufhorchen.

»Was kriege ich hierfür?«, fragt er endlich, streckt den Arm aus und macht sich an seinem Uhrenarmband zu schaffen. Er nimmt es ab und legt die Uhr auf die Theke. Es ist zwar keine Rolex, aber auch keine billige Timex. Der Chronograf hat ihn vor zehn Jahren dreihundert Dollar gekostet – damals, als er noch gutes Geld verdient hat.

Der Mann im Rollstuhl schielt an seiner gewaltigen Nase vorbei auf die funkelnde Uhr vor sich. »Was zum Teufel soll das denn sein?«

»Eine Movado. Ist locker fünfhundert wert.«

»Hier nicht.«

»Habt Mitleid mit uns. Wir ernähren uns seit Wochen aus Dosen.«

Der Mann nimmt sie in die Hand, mustert sie mit mürrischer Miene, als ob sie ein stinkendes, faules Stück Fleisch wäre. »Ich gebe dir Reis, Bohnen, Bacon und Eier im Wert von fünfzig Dollar für das Teil.«

»Was? Nur fünfzig Dollar?«

»Habe auch weiße Pfirsiche im Lager. Sind gerade reingekommen. Davon kannst du auch noch welche haben. Aber mehr geht nicht.«

»Ich weiß nicht.« Josh wirft Lilly einen Blick zu, die ihn erwidert und mit den Achseln zuckt. Dann wendet er sich wieder dem Mann im Rollstuhl zu. »Ich weiß nicht …«

»Das reicht für euch beide – und zwar eine ganze Woche.«

Josh seufzt. »Das ist eine Movado, verdammt noch mal. Allerfeinste Handwerkskunst.«

»Hey, ich will mich nicht mit dir streiten …«

Plötzlich ertönt ein Bariton hinter den Wachen und unterbricht den Mann im Rollstuhl jäh. »Gibt es etwa ein verdammtes Problem?«

Alle Augen richten sich jetzt auf die Gestalt, die aus der hinteren Ecke des Lagers kommt und sich die Hände an einem blutigen Handtuch abwischt. Der große, hagere Mann mit verwitterter Haut trägt eine völlig verdreckte Metzgerschürze, deren Material vor getrocknetem Blut und Knochenmark von ganz allein aufrecht stehen könnte. Sein markantes, sonnengebräuntes Gesicht wird von seinen eiskalten blauen Augen untermalt. Er starrt Josh finster an. »Problem, Davy?«

»Alles unter Kontrolle, Sam«, erwidert der Mann im Rollstuhl, ohne die Augen von Lilly zu nehmen. »Diese Leute hier sind nicht zufrieden mit meinem Angebot und wollten gerade gehen.«

»Einen Augenblick noch.« Josh hebt zerknirscht die Hand. »Es tut mir leid, wenn ich Sie verärgert habe, habe aber nie behauptet, dass ich nicht …«

»Die Angebote sind nicht verhandelbar«, verkündet Sam der Metzger, wirft das vor Dreck stehende Handtuch auf den Tresen und starrt Josh an. »Es sei denn …« Er scheint es sich anders zu überlegen. »Ach, vergiss es.«

Josh sieht ihn fragend an. »Es sei denn?«

Der Mann in der Schürze lässt den Blick in die Runde wandern und schürzt dann nachdenklich die Lippen. »Hm … Die meisten Leute hier bezahlen ihre Schulden, indem sie bei der Mauer mithelfen, Zäune flicken, Sandsäcke stapeln und so weiter. Und da hast du mit deinen Muskeln keine schlechten Karten.« Dann konzentriert er sich auf Lilly. »Es gibt natürlich allerlei Dienstleistungen, manche flicken, andere ficken.« Er grinst. »Insbesondere solche der weiblichen Art.«

Jetzt erst merkt Lilly, dass die Männer hinter dem Tresen sie anglotzen und ihr lüstern zugrinsen. Zuerst kann sie es kaum fassen und steht einfach ungläubig da. Dann spürt sie, wie ihr das Blut in den Kopf schießt. Ihr wird schwindlig. Sie will um sich treten oder einfach nur raus aus diesem modrig riechenden Laden, alles in ihrem Weg zu Boden reißen und ihnen sagen, dass sie sich selber ficken können. Aber die Angst, diese den Hals zuschnürende Angst – ihre alte Nemesis – lässt sie erstarren. Ihre Füße sind wie an den Boden genagelt. Sie kann nicht verstehen, was mit ihr los ist. Wie hat sie es geschafft, so lange zu überleben, ohne verschlungen zu werden? Sie hat so viel durchgemacht, so viel erlebt, und jetzt kann sie sich nicht einmal gegen ein paar sexistische Arschlöcher wehren?

»Passt auf … Wisst ihr was? All das ist nicht nötig«, hört sie Josh sagen.

Lilly blickt ihn an und sieht, wie sein riesiger Kiefer vor Nervosität zu zucken beginnt. Sie fragt sich, was er wohl damit meint – dass Lilly keine Sexdienste leisten muss, oder dass diese Gangster keine rohen, chauvinistischen Bemerkungen ihr gegenüber machen sollen. Auf einmal ist es ganz still im Laden. Sam der Metzger wendet sich Josh zu.

»Überleg es dir gut, Hüne.« Ein Funke der Verachtung glüht in den Augen des Metzgers. Er wischt sich die schmierigen Hände an seiner Schürze. »Die kleine Lady hat einen Körper an sich, von dem du dich monatelang mit Steak und Eiern ernähren könntest.«

Der Rest der Männer fängt laut zu lachen an, aber der Metzger verzieht kaum seine grimmige Miene. Sein teilnahmsloses Starren ist mit der Intensität eines Schweißers auf Josh gerichtet. Lilly spürt, wie ihr Herz zu rasen beginnt.

Sie legt eine Hand auf Joshs Arm, und sie spürt, wie jeder seiner Muskeln unter der Holzfällerjacke bis aufs Äußerste gespannt ist. »Los, Josh«, haucht sie ihm zu. »Ist schon gut. Nimm deine Uhr, und wir verschwinden von hier.«

Josh lächelt die Kerle an. »Steak und Eier. Der ist nicht schlecht. Aber hört zu, ihr könnt die Uhr behalten. Wir nehmen das Angebot an.«

»Los, holt ihr Essen«, befiehlt der Metzger, ohne die Augen von Josh zu nehmen.

Die beiden Wachen verschwinden für einen Moment im Lager und sammeln alles zusammen. Kurz darauf erscheinen sie mit einer hölzernen Kiste voller fettiger, brauner Papiertüten. »Vielen Dank«, sagt Josh und übernimmt die Kiste. »Dann gehen wir mal wieder. Schönen Tag noch.«

Josh führt Lilly zur Tür, aber sie kann jeden einzelnen Blick der Männer spüren, die jedes Wippen ihres Hinterteils auf dem Weg nach draußen genauestens verfolgen.

Am Nachmittag lockt ein Tumult auf einem der unbebauten Grundstücke die Aufmerksamkeit der Bewohner auf sich.

Außerhalb der sicheren Zone, hinter einem Wäldchen, ertönt eine Reihe ekelerregender Schreie. Auch Josh und Lilly kriegen es mit und rennen den Zaun entlang zum Rand der Bauarbeiten, um zu sehen, was dort vorgeht.

Als sie einen kleinen Schotterhügel erklimmen und in die Ferne schauen, dringen drei Schüsse an ihre Ohren. Sie stammen aus der Richtung hinter dem Wäldchen in circa hundertfünfzig Metern Entfernung.

Sie gehen in Deckung. Die Sonne ist bereits kurz vorm Untergehen. Der Wind weht ihnen ins Gesicht, während sie in die Ferne stieren und fünf Männer in der Nähe eines Lochs im Zaun sehen. Einer der Männer – Blake, der selbst ernannte »Governor« – trägt einen langen Mantel und hält eine Waffe in der Hand. Sie können die Anspannung bis zu ihrem Versteck spüren.

Auf dem Boden vor Blake, in den Maschen und Drähten des kaputten Zauns verheddert, liegt ein Teenager. Das Blut sprießt aus seinen Bisswunden. Er kratzt den Boden mit seinen Fingern auf, versucht verzweifelt, sich zu befreien, endlich wieder nach Hause zu gelangen.

Im Schatten des Waldes, direkt hinter ihm, sind drei tote Zombies auf einen Haufen gestapelt, die Köpfe von Kugeln durchlöchert. Lilly sieht das erst kürzlich Geschehene plötzlich vor ihrem inneren Auge:

Der Junge ist wohl allein in den Wald gegangen, wollte ihn erkunden und ist angegriffen worden. Jetzt, schlimm verletzt und infiziert, versucht er, wieder in Sicherheit zu gelangen, zuckt vor Schmerzen und Entsetzen zusammen, während Blake ohne jegliche Emotionen über ihm steht und ihn mit den teilnahmslosen Augen eines Bestatters anblickt.

Lilly zuckt, als der Schuss von Philip Blakes 9-mm bis an ihre Ohren vordringt. Der Schädel des Jungen explodiert, und der Körper sackt leblos zu Boden.

»Ich mag das hier nicht, Josh. Überhaupt nicht.« Lilly sitzt auf der hinteren Stoßstange von Bobs Truck und nippt an einem lauwarmen Kaffee in einem Pappbecher.

Die Dunkelheit ist hereingebrochen, legt sich über ihren zweiten Abend in Woodbury. Die Stadt hat Megan, Scott und Bob bereits in sich aufgesogen, wie ein komplexer Organismus, der sich von Furcht und Verdacht ernährt und ständig neue Lebensformen akquiriert. Man hat den Neuankömmlingen eine Wohnung angeboten – ein Studio-Apartment über einem mit Brettern verschlagenen Laden an einem Ende der Hauptstraße. Es ist zwar ein gutes Stück von der sicheren Zone entfernt, aber hoch genug, dass sie zumindest vor Zombies sicher sind. Megan und Scott haben bereits die meisten ihrer Sachen hochgeschleppt und ihre Schlafsäcke gegen ein bisschen Gras eingetauscht.

Bob ist indessen über eine Kneipe innerhalb der sicheren Zone gestolpert und hat die Hälfte seiner Walmart-Rationen gegen ein paar Schnäpse und etwas besoffener Gesellschaft verhökert.

»Ich bin auch nicht gerade entzückt, Kleine«, stimmt Josh zu, während er hinter dem Camper-Aufsatz auf und ab geht. Sein Atem ist in der kalten Winterluft sichtbar. Seine Hände sind von dem Bacon ganz fettig, den er zum Abendessen auf dem Camping-Kocher zubereitet hat. Er wischt sie an seiner Holzfällerjacke sauber. Die beiden haben sich den ganzen Tag lang nicht weit vom Truck entfernt und versucht, die Vor- und Nachteile von Woodbury abzuwägen. »Sieht aber nicht so aus, als ob wir gerade viele Optionen oder Alternativen offen haben. Hier ist es immer noch besser als auf der Straße.«

»Glaubst du?« Lilly zittert vor Kälte und schlägt sich den Kragen ihrer Daunenjacke auf. »Bist du dir da sicher?«

»Zumindest befinden wir uns hier in Sicherheit.«

»Sicher? Wovor? Ich mache mir weniger Sorgen um die Zombies als …«

»Ich weiß, ich weiß.« Josh zündet sich einen Zigarrenstumpen an und zieht einige Male daran. »Die sind alle ganz schön aufgedreht hier. Und das ist das Gleiche überall, ganz egal, wohin wir gehen.«

»Verdammt.« Lilly beginnt erneut zu zittern und nimmt einen weiteren Schluck Kaffee. »Wo zum Teufel treibt Bob sich eigentlich rum?«

»Dreimal darfst du raten – hängt mit seinen Saufkumpanen in der Kneipe ab.«

»Hätte ich mir denken können.«

Josh geht rüber zu ihr und legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Lil. Wir ruhen uns jetzt erst einmal vernünftig aus, legen Vorräte an … Ich werde dafür arbeiten … und Ende nächster Woche verschwinden wir von hier.« Er wirft seinen Zigarrenstumpen fort und setzt sich neben sie. »Ich werde schon darauf achten, dass dir nichts passiert.«

Sie blickt ihn flehend an. »Versprochen?«

»Versprochen.« Er küsst sie auf die Wange. »Ich werde dich beschützen, mein Kleines. Für immer. Für immer …«

Sie erwidert seinen Kuss.

Dann legt er die Arme um sie und küsst sie auf die Lippen. Lilly tut es ihm gleich, und schon entwickelt sich etwas, das sie nicht mehr aufhalten können. Seine riesigen und doch so zarten Hände fühlen sich ihren Rücken auf und ab, und ihre Küsse werden immer heißer, immer begehrender. Sie sind ineinander verschlungen, und Josh drängt Lilly in den Camper-Aufsatz, in ihre kleine, dunkle Privatsphäre.

Sie vergessen, die Hintertür zu schließen, sind allem gegenüber taub, konzentrieren sich einzig und allein aufeinander, auf ihre Körper.

Es ist besser, als sie erhofft, geschweige denn sich erträumt hatten. Lilly verliert sich in der verschwommenen Dunkelheit des eiskalten Vollmonds, der durch den Spalt scheint, während Josh seinem ganzen einsamen Verlangen nach ihr mit heftigem Stöhnen Ausdruck gibt. Er streift die Holzfällerjacke ab, zieht das Unterhemd aus – im Mondlicht scheint seine Haut beinahe indigoblau. Lilly wirft ihren BH von sich, und das Gewicht ihrer Brüste lässt sie sanft auf ihren Brustkorb fallen. Gänsehaut breitet sich über ihren Bauch aus, als Josh sanft in sie eindringt und langsam in Fahrt kommt.

Sie lieben einander, verlieren sich ineinander. Lilly vergisst alles um sich herum, auch die brutale Außenwelt außerhalb des Campers.

Eine Minute, eine Stunde – die Zeit hat jegliche Bedeutung verloren – vergeht wie im Nu.

Später liegen sie inmitten des ganzen Mülls in Bobs Camper, die Beine ineinander verschlungen, Lillys Kopf ruht auf Joshs enormem … Bizeps. Sie haben sich eine Decke übergeworfen, wegen der Kälte. Josh drückt seine Lippen gegen Lillys weiches Ohr und flüstert: »Alles wird gut.«

»Yeah«, murmelt sie.

»Wir schaffen das.«

»Genau.«

»Zusammen.«

»Das werden wir.« Sie blickt ihm in die traurigen Augen. Dabei kommt sie sich merkwürdig vor. Heiter, lebhaft und doch benebelt. »Ich habe schon so lange über diesen Moment nachgedacht.«

»Ich auch.«

Sie lassen sich vom Schweigen umhüllen, driften davon, bleiben eine ganze Zeit so liegen – in Unkenntnis der Gefahren, die auf sie warten … in Unkenntnis der brutalen Außenwelt, welche die Schraube um sie herum immer enger dreht.

Aber am wichtigsten ist: Sie bemerken nicht, dass sie beobachtet werden.

Neun

An ihrem dritten Tag in Woodbury zieht der Winter ein und legt eine dunkle graue Decke über die Stadt. Es ist bereits Anfang Dezember, und Thanksgiving ist schon längst vorüber, ohne dass auch nur ein Truthahn geschlachtet worden wäre. Die Feuchtigkeit und Eiseskälte kriechen jetzt in die Knochen. Die sandigen, unbebauten Flächen entlang der Hauptstraße fühlen sich an wie nasser Putz, und die Kanalisation kann mit den Wassermassen nicht mehr mithalten, so dass dreckiges Abwasser aus den Gullis fließt. Aus einem winkt eine aufgedunsene, menschliche Hand …

An jenem Tag tauscht Josh sein gutes Chef-Messer ein – ein japanisches Shun – gegen Bettwäsche, Handtücher und Seife und überredet Lilly, ihre Sachen in die Wohnung über der chemischen Reinigung zu bringen. Dort können sie sie sich endlich richtig waschen und haben mehr Platz als in dem vollgestopften Camper-Aufsatz. Lilly bleibt den Großteil des Tages in der Wohnung, schreibt beflissen auf einer Rolle Geschenkpapier an ihrem Tagebuch und plant ihre Flucht. Josh hält stets ein Auge auf sie. Irgendetwas fühlt sich nicht richtig an. Es ist so schlimm, dass er es gar nicht in Worte fassen kann.

Scott und Megan sind wie von der Bildfläche verschwunden. Lilly ist fest davon überzeugt, dass Megan mittlerweile die Nase voll von Scott hat und sich für Gras prostituiert.

An jenem Nachmittag besucht Bob Stookey die beiden Mediziner im Stadion, das ein Labyrinth aus Kellern und Arbeitsbereichen beherbergt. Eine Reihe von Räumen wurde in eine behelfsmäßige Krankenstation umfunktioniert. Während der eiskalte Regen dumpf und in einem nicht enden wollenden Dröhnen auf die metallenen Träger und Streben prasselt, erhält Bob von einem Mann mittleren Alters und einer jungen Frau eine ausführliche Führung.

»Alice lernt wirklich sehr, sehr schnell. Sie hat sich in sehr kurzer Zeit zu einer bemerkenswerten Schwester gemustert«, erklärt der Mann mit Drahtgestellbrille und dreckigem Arztkittel, als er Bob und die junge Frau durch eine offen stehende Tür in eine unordentliche Praxis bittet. Er heißt Stevens und ist fit, intelligent und recht ironisch, was Bob für irgendwie fehl am Platz hält. Die Ersatz-Schwester trägt einen Kittel älteren Baujahrs, sieht aber selbst noch erstaunlich jung aus. Ihr bleiches blondes Haar ist in Zöpfe geflochten und aus ihrem jugendlichen Gesicht nach hinten gezogen.

»Ich bin noch am Lernen«, sagt sie und folgt den Männern in den spärlich beleuchteten Raum, dessen Boden von einem Generator zum Vibrieren gebracht wird, der irgendwo in den Katakomben des Stadions vor sich hin nagelt. »Und obwohl ich erst die Sachen vom zweiten Studienjahr durchgehe, komme ich einfach nicht weiter.«

»Ach, ich bin mir sicher, dass Sie schon viel mehr wissen als ich«, beteuert Bob. »Ich bin nur ein alter Schlachtfeld-Sani.«

»Sie hat letzten Monat ihre Feuertaufe bestanden«, fährt der Doktor fort und stellt sich neben einem ramponierten Röntgenapparat auf. »Das Geschäft hat ganz schön gebrummt.«

Bob wirft einen Blick um sich, sieht überall Blutspritzer an den Wänden, Anzeichen chaotischer Triage, also will er wissen, was passiert ist.

Der Arzt und die Schwester tauschen mulmige Blicke aus. »Machtwechsel.«

»Wie bitte?«

Der Doktor seufzt. »An einem Ort wie diesem kann man eine Art natürliche Auswahl beobachten. Nur die wahren Soziopathen überleben. Nicht unbedingt nett, das mit anzuschauen.« Er holt tief Luft und lächelt dann Bob an. »Trotzdem, verdammt gut, einen weiteren Kollegen an Bord zu haben.«

Bob fährt sich mit der Hand über den Mund. »Bin mir gar nicht sicher, wie hilfreich ich sein kann, aber ich muss schon zugeben: Es würde mir gut gefallen, mich einmal auf einen echten Arzt berufen zu können.« Bob deutet vage auf eine der alten, mitgenommenen Maschinen. »Wie ich sehe, haben Sie eine Siemens. Mit so einer bin ich durch Afghanistan gekurvt.«

»Tja, wir sind hier nicht gerade auf dem allerneuesten Stand der Dinge, haben aber die Grundbedürfnisse mit Gerätschaften aus umliegenden Krankenhäusern abgedeckt … Spritzen, Infusionen, ein paar Monitore, EKG, EEG … Allerdings fehlt es uns an Arzneimitteln.«

Bob erzählt ihnen von den Pharmazeutika, die er vom Walmart hat mitgehen lassen. »Da können Sie sich ruhig bedienen«, bietet er an. »Obendrein habe ich auch ein paar gut ausgestattete Bereitschaftstaschen, Extraverbände und so weiter und so fort. Nehmen Sie, was Sie brauchen.«

»Das ist wirklich sehr hilfreich, Bob. Von wo stammen Sie?«

»Aus Vicksburg, hab aber in Smyrna gewohnt, als das mit der Plage angefangen hat. Und Sie?«

»Atlanta«, erwidert Stevens. »Hatte eine kleine Praxis in Brookhaven, ehe alles den Bach runtergegangen ist.«

»Auch Atlanta«, meldet sich die junge Frau. »Habe an der Georgia State studiert.«

Stevens schaut Bob gutmütig an. »Heute schon genippt, Bob?«

»Hä?«

Stevens deutet auf den silbernen Flachmann, der aus Bobs Hüfttasche herauslugt. »Ob Sie heute schon etwas getrunken haben.«

Bob senkt niedergeschlagen und beschämt den Kopf. »Ja, das habe ich.«

»Trinken Sie jeden Tag, Bob?«

»Ja.«

»Hartes Zeug?«

»Ja.«

»Bob, ich will Sie nicht in Verlegenheit bringen.« Der Arzt klopft ihm auf die Schulter. »Es geht mich ja eigentlich nichts an. Ich beurteile Sie auch nicht, aber darf ich fragen, wie viel Sie von dem Zeug täglich zu sich nehmen?«

Bobs Brust verkrampft sich vor Schmach. Alice wendet respektvoll den Blick ab, und er schluckt seine Scham hinunter. »Das weiß ich selber nicht so genau. Manchmal eine halbe Flasche, manchmal eine ganze, wenn ich sie kriegen kann.« Bob wagt einen Blick auf den dünnen Arzt. »Ich verstehe schon, wenn Sie nicht wollen, dass ich mich auch nur in der Nähe Ihrer Patienten …«

»Bob, entspannen Sie sich. Sie verstehen nicht. Ich finde es fantastisch.«

»Hä?«

»Trinken Sie nur weiter. Trinken Sie so viel, wie Sie wollen.«

»Wie bitte?«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, etwas davon zu teilen?«

Bob holt langsam seinen Flachmann hervor und starrt Stevens staunend an.

»Vielen Dank.« Er nimmt den Flachmann, nickt Bob dankend zu und nippt daran, ehe er sich mit dem Ärmel über den Mund fährt und den Flachmann Alice reicht.

Die Schwester winkt ab. »Nein, danke. Das ist noch ein bisschen früh für mich.«

Stevens nimmt einen weiteren Schluck, ehe er Bob den Flachmann zurückreicht. »Wenn man länger hierbleibt, ist es absolut notwendig, sich jeden Tag die Birne vollzuknallen.«

Bob steckt den Flachmann wieder ein und sagt kein Wort.

Stevens lächelt ihn an, und es hat etwas Herzzerreißendes an sich. »Ich verordne Ihnen hiermit, stets so betrunken wie möglich zu sein, Bob.«

Auf der anderen Seite der Rennstrecke, hinter der nördlichen Tribüne, erscheint eine drahtige, stark angespannte Gestalt aus einer nicht beschrifteten Metalltür und starrt gen Himmel. Der Regen hat kurzzeitig aufgehört, der Himmel hängt voller niedriger, dunkler Wolken. Der drahtige Gentleman trägt ein kleines Paket, eingewickelt in einer abgenutzten, grasfarbenen Wolldecke. Zusammengehalten wird das Päckchen von einem Lederriemen.

Der drahtige Mann überquert die Straße und geht den Bürgersteig entlang. Sein rabenschwarzes Haar glänzt vor Nässe und ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Während er so vor sich hinspaziert, sucht er mit den Augen sein gesamtes Umfeld ab, ist stets auf der Hut. Ihm entgeht nichts, was um ihn herum passiert. Während der letzten Wochen sind die Emotionen wieder etwas abgeklungen, unter denen er so sehr gelitten hat, die Stimme in seinem Kopf verstummt. Jetzt fühlt er sich stark. Dieses Städtchen ist sein Lebensinhalt, sein Raison d’être, der eigentliche Grund dafür, dass er weiterhin scharfsinnig und in Form bleibt.

Er will gerade um die Ecke der Kreuzung von der Canyon- und der Hauptstraße biegen, als er im Augenwinkel eine Gestalt wahrnimmt. Der ältere Mann – der Saufbruder, der vor ein paar Tagen mit dem Schwarzen und dem Mädchen hier aufgetaucht ist – kommt aus der Krankenstation im Südflügel der Rennstrecke. Der wettergegerbte, alte Mann hält für einen Moment inne, nimmt einen Schluck aus seinem Flachmann, und der drahtige Mann kann die Miene des alten Trinkers sehen, nachdem er die brennende Flüssigkeit die Gurgel hinuntergeschüttet hat.

In der Ferne lächelt der Alte, als der Alkohol seine Kehle benetzt, und der drahtige Mann kennt den Gesichtsausdruck irgendwoher. Die Grimasse – voller Scham und Trostlosigkeit – lässt den drahtigen Mann ganz sentimental, beinahe mitfühlend werden. Der Alte steckt den Flachmann wieder ein und macht sich angetrunken halb gehend, halb stolpernd in Richtung Hauptstraße auf – ein Gang, wie viele Obdachlose ihn nach Jahren auf der Straße haben. Der drahtige Mann folgt ihm.

Bald schon kann er sich nicht mehr zurückhalten, ruft dem Spritti hinterher: »Hey, Kumpel!«

Bob Stookey hört eine Stimme – rau, mit dem typischen Akzent einer südlichen Kleinstadt –, aber er kann nicht ausmachen, woher sie kommt.

Bob hält mitten auf der Hauptstraße inne und schaut sich um. Die Stadt ist wie leer gefegt. Liegt wohl am Regen, der die Bewohner vom Ausgehen abhält.

»Bob, oder?«, fragt die Stimme. Sie ist näher gekommen, und Bob erspäht endlich den Mann, der hinter ihm die Straße entlangläuft.

»Oh, hi … Alles klar?«

Der Mann schlendert zu Bob und schenkt ihm ein gequältes Lächeln. »Mir geht es blendend, Bob. Danke.« Kohlschwarze Strähnen hängen ihm ins markante Gesicht. Er trägt etwas. Es ist nass, tropft auf den Bürgersteig. Die Leute in der Stadt nennen den Mann den »Governor« – zumindest der Name ist ihm geblieben –, und das findet er gut so. »Lebst du dich denn ganz gut ein hier in unserem kleinen Städtchen?«

»Kann man so sagen.«

»Schon Doc Stevens getroffen?«

»Jawohl, ein guter Mann.«

»Nenn mich einfach den ›Governor‹.« Das Lächeln wird etwas herzlicher. »So scheinen mich alle hier zu nennen. Ich will mich nicht beschweren. Hört sich gar nicht so schlecht an, finde ich.«

»O.k., Governor«, meint Bob und schaut auf das Bündel in den Händen des Mannes. Blut tropft auf den Bürgersteig. Bob wendet rasch den Blick ab. Damit hat er nicht gerechnet, will sich aber nichts anmerken lassen. »Sieht ganz so aus, als ob es aufgehört hat zu regnen.«

Das Lächeln scheint dem Mann ins Gesicht geätzt. »Komm, Bob. Komm mit mir.«

»Klar doch.«

Sie gehen den kaputten Bürgersteig entlang auf die Barrikade zu, die zwischen den Läden und den Straßen weiter außerhalb verläuft. Das Geräusch von Kompressoren und Nagelpistolen wird vom Wind an ihre Ohren getragen. Die Barrikade wächst und wächst, führt jetzt schon bis ans südliche Geschäftsviertel. »Du erinnerst mich an jemanden«, sagt der Governor schließlich nach einer langen Pause.

»Hm, Kate Winslet wird es wohl nicht sein, oder?« Bob hat genug Alkohol intus, um locker von der Leber reden zu können. Er gluckst in sich hinein. »Und Bonnie Raitt auch nicht. Wette ich drauf.«

»Touché, Bob.« Der Governor blickt auf sein Bündel, bemerkt das Blut, das immer wieder auf den Bürgersteig tropft. »Ach, ich mache ja alles ganz dreckig.«

Bob schaut woandershin, versucht, das Thema zu wechseln. »Macht ihr euch eigentlich keine Sorgen, dass der ganze Lärm mit dem Mauerbau die Zombies anlockt?«

»Das haben wir unter Kontrolle, Bob. Deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wir haben Wachen am Waldrand stationiert und versuchen, den Lärm so niedrig wie möglich zu halten.«

»Das ist beruhigend … Hört sich an, als ob ihr hier alles recht gut organisiert habt.«

»Wir tun unser Bestes, Bob.«

»Ich habe Doc Stevens gesagt, dass er freie Verfügung über meine sämtlichen Arzneimittel hat.«

»Bist du auch Arzt?«

Bob erzählt dem Mann von Afghanistan, vom Marines-Zusammenflicken und seiner ehrenhaften Entlassung.

»Hast du Kinder, Bob?«

»Nein … Nur Brenda und ich, für eine halbe Ewigkeit – Brenda war meine Frau. Wir hatten einen Wohnwagen kurz vor Smyrna. Ach, das war noch ein Leben.«

»Bob, dich interessiert wohl mein kleines Päckchen hier. Du starrst die ganze Zeit darauf.«

»Äh, nein. Was auch immer es ist, das hat mich nichts anzugehen. Ist mir völlig egal.«

»Wo ist denn deine Frau?«

Bob wird langsamer, als ob das Thema Brenda Stookey ihm zur Last fällt. »Habe sie während einer Zombie-Attacke verloren. Das war kurz nach dem Anfang der Plage.«

»Tut mir leid.« Sie kommen zu einem Tor in der Wand. Der Governor hält an, klopft einige Male, und das Tor öffnet sich einen Spalt. Der Wind wirbelt etwas Müll auf dem Boden auf, als der Arbeiter das Tor aufmacht und die beiden passieren lässt. »Ich wohne in die Richtung«, meint der Governor und neigt den Kopf gen Osten. »Kleines, zweistöckiges Apartment-Gebäude … Komm doch gleich mit, ich spendier dir auch einen Drink.«

»Oha, in der Villa des Governors?«, witzelt Bob. Er kann es nicht lassen. Seine Nerven und der Alkohol drehen mit ihm durch. »Gibt es denn keine Gesetze, die Sie erlassen müssen?«

Der Governor hält inne, dreht sich zu Bob um und lächelt. »Duz mich doch einfach. Und jetzt weiß ich endlich, an wen du mich erinnerst.«

In diesem Augenblick, in dem grauen Licht des bewölkten Tages, erfährt der drahtige Mann – der von nun an sich nur noch als »Governor« wahrnimmt – eine seismische Verlagerung in seinem Gehirn. Er steht einfach da und mustert diesen groben, tief gezeichneten, alkoholkranken Typen aus Smyrna, der ein Abziehbild von Ed Blake ist – dem Vater des Governors. Ed Blake besaß die gleiche dicke Nase, die gleiche hervortretende Stirn und die gleichen Lachfältchen um seine rot umrandeten Augen. Auch Ed Blake hat viel getrunken, genau wie dieser Typ hier, und besaß den gleichen Humor. Er hatte einen sarkastischen Einzeiler nach dem anderen losgelassen, mit den Worten stets den Punkt getroffen – wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, seine Familie mit seinen großen, schwieligen Händen windelweich zu prügeln.

Auf einmal kommt ein anderer Governor zum Vorschein – ein Teil von ihm, den er tief in sich begraben hat. Ihn ergreift eine Welle sentimentalen Verlangens, die ihn beinahe schwindlig werden lässt. Er erinnert sich an Ed Blake zu glücklicheren Zeiten – ein einfaches Arbeiter-Landei, der lang genug gegen seine Dämonen ankämpfte, um auch ein liebender Vater zu sein. »Du erinnerst mich an jemanden, den ich vor langer, langer Zeit einmal gekannt habe«, sagt der Governor mit sanfter Stimme und blickt Bob Stookey in die Augen. »Los. Es wird Zeit, dass wir etwas trinken.«

Den restlichen Weg durch die sichere Zone reden die beiden Männer ruhig, aber vertraut miteinander, ganz wie alte Freunde.

Der Governor fragt Bob, was genau mit seiner Frau passiert ist.

»Wir haben in diesem Wohnwagenpark gewohnt …«, beginnt Bob langsam mit düsterer Stimme, während er über die Straße humpelt und sich an die schweren Zeiten erinnert. »Die sind einfach gekommen, diese Biester, haben uns überrannt … als ich zurückkam, war es bereits zu spät. Sie haben es geschafft, die Tür zum Wohnwagen aufzubrechen.«

Er hält inne, und der Governor sagt nichts, geht einfach still neben ihm weiter, wartet.

»Die haben sich über sie hergemacht. Ich habe sie verteidigt, so gut ich konnte … Und … die haben gerade mal so viel von ihr übrig gelassen, dass sie selbst zum Zombie wurde.«

Noch eine lange Pause. Bob fährt sich mit der Zunge über seine trockenen Lippen. Der Governor erkennt, dass der Mann schnell einen Drink, seine Medizin braucht, damit er die Erinnerungen im Zaum halten kann.

»Ich konnte es nicht über mich bringen, sie zu erlösen.« Das keucht er kaum hörbar raus, seine roten Augen füllen sich mit Tränen. »Ich bin nicht stolz auf die Tatsache, dass ich sie am Leben gelassen habe. Bin mir recht sicher, dass sie danach noch den einen oder anderen gebissen hat. Ihren Arm und Unterleib hat es ganz schön erwischt, aber sie konnte immer noch gehen. Ich bin schuld daran, wenn sie andere Leute gebissen hat.«

Eine Pause.

»Es ist manchmal unmöglich, loszulassen«, gibt der Governor schließlich zu bedenken und blickt auf sein grässliches Bündel. Es tropft jetzt nicht mehr so viel, und das Blut wird dicker, dunkler, wie Molasse. Der Governor merkt plötzlich, wie Bob die Bluttropfen mit gerunzelter Stirn anstarrt. Er sieht beinahe nüchtern aus.

Bob deutet auf das schauerliche Bündel. »Du hast auch jemanden, der zur anderen Seite gegangen ist, richtig?«

»Du bist gar nicht so dumm … Oder, Bob?«

Bob wischt sich nachdenklich den Mund. »Bin nie auf die Idee gekommen, Brenda zu füttern.«

»Komm, Bob. Ich will dir etwas zeigen.«

»Stell dich mal kurz hinter mich, Bob.« Der Governor fummelt mit einem Schlüssel, steckt ihn ins Schloss der Tür im ersten Stock. Die Tür klickt, und ein tiefes Knurren ertönt. »Bob, ich wäre dir dankbar, wenn du das, was du gleich sehen wirst, für dich behalten kannst.«

»Kein Problem.«

Bob folgt dem Governor in eine kleine, spärlich möblierte Dreizimmerwohnung, die nach verwesendem Fleisch und Desinfektionsmittel stinkt. Die Fenster sind mit Rostschutzfarbe bemalt, ein großer Spiegel im Eingangsbereich ist mit Zeitungspapier abgeklebt. Der Spiegel im Badezimmer fehlt. Er muss erst vor Kurzem abgehängt worden sein, denn der helle Fleck hinter ihm an der Wand über dem Waschbecken ist noch sichtbar. In der ganzen Wohnung gibt es keine Spiegel mehr, in denen man sich anschauen könnte.

»Sie bedeutet mir alles in der Welt«, erklärt der Governor. Bob folgt dem Mann durch das Wohnzimmer, einen kurzen Flur entlang und durch eine Tür in eine vollgepackte Wäschekammer, wo der aufrechte Leichnam eines kleinen Mädchens an der Wand festgekettet steht.

»Um Gottes willen.« Bob weicht zurück. Das tote Mädchen – noch immer mit Zöpfen und in einem Schürzenkleid, als ob man sie für die Kirche herausgeputzt hätte – faucht, spuckt und kämpft wild gegen die Ketten an. Bob tritt einen Schritt zurück. »Um Gottes willen!«

»Immer mit der Ruhe, Bob.«

Der Governor kniet sich vor den Mini-Zombie und legt das Bündel auf den Boden. Das Mädchen schnappt mit den Zähnen in der Luft, die schwarzen Zähne klappern. Der Governor packt einen Menschenkopf aus. Die Schädeldecke ist auf einer Seite von einem Schuss zerschmettert.

»Heiliger Bimbam.« Bob sieht, dass der Kopf – die graue Masse in seinem Inneren wimmelt von Maden – mit seiner Igelfrisur einmal einem Soldaten oder einem der Marines gehört hat.

»Das hier ist Penny – sie ist ein Einzelkind«, erklärt der Governor weiter, als er den tropfenden Kopf in Richtung des angeketteten lebenden Kadavers schiebt. »Wir kommen aus einer kleinen Stadt namens Waynesboro. Pennys Mutter – meine wunderbare Frau, Sarah – kam bei einem Autounfall noch vor Ausbruch der Plage ums Leben.«

Das Mädchen beginnt zu fressen.

Bob schaut von der Tür aus zu. Er hört das Geschlabber. »Mein Bruder Brian und ich – zusammen mit ein paar Freunden und Penny –, wir haben uns irgendwann aufgemacht, unser Glück woanders gesucht. Sind nach Westen gezogen, haben uns ein wenig in Atlanta aufgehalten, ein paar Leute getroffen, ein paar Leute verloren, um dann weiter zu ziehen.«

Die kleine Leiche setzt sich und gräbt mit ihren winzigen, rot gefärbten Fingern im Schädel nach den letzten Resten Gehirnmasse.

Die Stimme des Governors senkt sich. »Sind dann auf eine Bande Arschlöcher getroffen, nicht weit von hier.« Es verschlägt ihm die Sprache. Aber keine Träne, und schon bald fängt er sich wieder. »Habe meinem Bruder aufgetragen, sich um Penny zu kümmern, während ich die Bande in Schach halte … Und dann ist eins zum anderen gekommen.«

Bob steht wie angewurzelt da. In dieser stickigen, gekachelten Kammer mit Aufputzrohren und von Schimmel geschwärzten Fugen kriegt er den Mund nicht auf. Er starrt auf die winzige Abscheulichkeit vor ihm, ihr grässliches Gesicht endlich zufrieden. Von ihren wohlgeformten Lippen hängen Fäden von Gehirn, und ihre Augen verschwinden in den Höhlen, als sie sich zurücklehnt.

»Mein Bruder hat richtig Scheiße gebaut, versagt. Ich habe es ihm zu verdanken, dass meine Kleine jetzt so ist, wie sie ist«, fährt der Governor fort. Sein Kopf hängt schlaff nach vorn, das Kinn auf der Brust. Emotionen schwingen in seiner Stimme mit. »Brian war schwach. Mehr gibt es zu dem Thema nicht zu sagen. Aber ich kann einfach nicht loslassen.« Er blickt Bob mit feuchten Augen an. »Ich weiß, dass du das nachvollziehen kannst, Bob. Ich kann mich nicht von meinem kleinen Baby-Mädchen trennen.«

Bob kann das in der Tat nachvollziehen. Seine Brust verkrampft sich, als er voller Trauer an Brenda denkt.

»Ich bin ja selber schuld, dass Penny gestorben und so wiedergekommen ist.« Der Governor starrt zu Boden. »Ich habe sie mit Menschenresten gefüttert, und wir sind weiter gen Westen gezogen. Als wir in Woodbury ankamen, war mein Bruder Brian beinahe wahnsinnig vor Schuldgefühlen.«

Die Kreatur, die einmal ein niedliches Mädchen war, wirft den Schädel zu Boden, als ob es sich um eine aufgegessene Auster handelt. Sie blickt mit ihren milchig-weißen Augen um sich, als ob sie aus einem Traum aufwacht.

»Ich habe meinen Bruder wie einen kranken Hund einschläfern müssen«, murmelt der Governor mehr zu sich selbst als zu Bob. Seine Stimme hat jegliche Farbe verloren. »Ab und zu erkenne ich meine Penny wieder. Gerade wenn sie so ruhig wie jetzt ist.«

Bob schluckt. Widersprüchliche Emotionen schwirren in ihm herum – Ekel, Trauer, Angst, tiefstes Verlangen, sogar Sympathie für diesen kaputten Menschen –, und er lässt den Kopf hängen. »Du hast viel mitgemacht.«

»Schau dir das an, Bob.« Der Governor nickt dem kleinen Zombie zu. Die kindsartige Kreatur neigt den Kopf und starrt den Governor gereizt an. Das Ding blinzelt, und hinter den milchigen Augen scheint für einen Augenblick etwas von Penny zu schimmern. »Mein Baby ist da noch drinnen … Nicht wahr, Kleines?«

Der Governor geht zur angeketteten Gestalt, kniet sich vor sie hin und streift ihr mit der Hand über die bleifarbene Wange.

Bob erstarrt, macht den Mund auf: »Sei vorsichtig, du willst doch nicht …«

»Das ist ein gutes Mädchen.« Der Governor streicht ihr über die Haare. Der winzige Zombie blinzelt erneut. Das blasse Gesicht verändert sich, die Augen werden schmäler, die schwarzen Lippen öffnen sich, um den Blick auf die verrottenden Milchzähne zu gewähren.

Bob nimmt einen Schritt auf ihn zu. »Aufpassen …«

Die Penny-Kreatur schnappt nach dem entblößten Fleisch vor ihrer Nase, aber der Governor zieht das Handgelenk gerade noch rechtzeitig fort. »Hoppla!«

Der kleine Zombie zerrt an den Ketten, rafft sich auf die Beine und greift nach dem Governor, der sich aber schon längst in Sicherheit gebracht hat. Als ob er mit einem Baby spricht, fährt er fort: »Du freches, freches Ding … Hast Daddy beinahe erwischt!«

Bob wird ganz schummrig. Er spürt, wie ihm die Galle hochkommt.

»Bob, bitte tu mir einen Gefallen und greif mal in das Bündel, in dem der Kopf war.«

»Hä?«

»Tu mir den Gefallen und hol den letzten Leckerbissen aus dem Paket.«

Bob schluckt die Kotze wieder runter, dreht sich um, beugt sich zu dem Bündel hinab und schaut hinein. In einer Lache trocknenden Blutes sieht er einen menschlichen Finger, wohl von einem Mann. Haare sprießen von den Knöcheln, und aus einem Ende lugt der Rest eines Knochens hervor.

Irgendetwas passiert mit Bob – es ist, als ob etwas in ihm reißt. Er holt sein Taschentuch hervor, kniet sich hin und holt den Finger aus dem Päckchen.

»Warum gibst du ihn ihr nicht, mein Freund?«, schlägt der Governor vor und stemmt stolz die Hände in die Hüften, während er sich über dem in der Luft schnappenden Zombie-Mädchen aufbaut.

Bob kommt es so vor, als ob sein Körper sich von ganz alleine bewegt. »Yeah, klar.«

»Dann mal los.«

Bob steht nur wenige Zentimeter vor dem Zombie, der sich mit aller Kraft in die Ketten wirft und versucht, Bob zu beißen. »Yeah … warum nicht?«

Dann streckt er den Arm mit dem Finger in der Hand aus und füttert die Kreatur.

Der kleine Leichnam verschlingt den Leckerbissen, fällt auf die Knie, stopft sich den Finger mit beiden Händen in den Mund. Die fürchterlichen Fressgeräusche und das Knacken von Knochen füllen die Wäschekammer.

Die beiden Männer stehen nebeneinander da und schauen zu. Der Governor legt den Arm um seinen neuen Freund.

Am Ende der Woche haben die Männer die Mauer bis an die Ecke des dritten Häuserblocks entlang der Mill Road ausgeweitet, in dem sich das mit Brettern zugenagelte und mit Graffiti besprühte Postgebäude befindet. Auf der gegenüberliegenden Mauer hat irgendein Witzbold, der wohl irgendwann mal einen Literaturkurs am College besucht hat, die Worte UND SO GEHT DIE WELT ZUGRUND, NICHT MIT GEWALT: MIT EINEM BISS – eine ständige Erinnerung daran, dass die Gesellschaft oder die Regierung, so wie es sie einmal gegeben hat, nicht mehr existiert.

Am Samstag fängt Josh Lee Hamilton endlich bei einem Arbeitstrupp an und schafft Bauholz von einem Bürgersteig zum gegenüberliegenden. Damit verdient er sich genügend Essen, dass Lilly und er weiter etwas zwischen die Zähne kriegen. Mittlerweile hat er keine Wertsachen mehr zum Eintauschen. Die letzten Tage hat er damit verbracht, einfache Tätigkeiten zu verrichten, Toiletten sauber zu machen oder Tiere auszuschlachten. Nicht dass es ihm Spaß machen würde, aber für Lilly tut er es gerne.

Josh hat sich so sehr in die Frau verliebt, dass er nachts in der trostlosen Einsamkeit ihrer Wohnung heimliche Tränen weint, nachdem Lilly in seinen Armen eingeschlafen ist. Er kann es kaum fassen, dass er inmitten dieser chaotischen Welt, dieses Armageddons die Liebe gefunden hat. Gefüllt mit einer waghalsigen Hoffnung zusammen mit den träumerischen Begleiterscheinungen seiner ersten wahren Beziehung in seinem Leben, bemerkt Josh kaum, dass die anderen Mitglieder ihrer Gruppe nicht mehr da sind.

Die kleine Clique scheint sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut zu haben. Ab und zu erhascht Josh einen Blick von Megan – normalerweise nachts, wenn sie halb nackt und stoned von einem Balkon zum anderen steigt. Josh weiß nicht, ob sie noch mit Scott zusammen ist, der im Übrigen wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Niemand hat ihn gehört oder gesehen, und die traurige Wahrheit ist, dass ihn auch niemand vermisst. Megan hingegen scheint gut im Geschäft zu sein. Von den ungefähr fünfzig Einwohnern in Woodbury sind weniger als ein Dutzend Frauen – und davon haben nur vier ihre Wechseljahre noch vor sich.

Viel schlimmer aber ist Bobs Aufstieg zum Stadtmaskottchen. Anscheinend hat der Governor – Josh traut diesem Soziopathen von Anführer ungefähr genauso viel wie einem Zombie mit einem Fußballteam Jugendlicher – Gefallen an dem alten Mann gefunden und hält ihn mit Whiskey, Barbituraten und gesellschaftlicher Anerkennung bei Laune.

An diesem Samstagnachmittag jedoch stellt Josh sämtliche Bedenken hinten an, als er eine Palette mit Schindeln und Brettern vor der Barrikade entlädt. Andere Arbeiter nageln das Material fest und bauen die Mauer aus. Manche benutzen Hämmer, andere Nagelpistolen, die an zwei Kompressoren angeschlossen sind. Der Lärm nervt zwar, ist aber erträglich.

»Lad es dahinten ab, bei den Sandsäcken, Kumpel«, weist Martinez Josh an und nickt ihm freundlich zu. An seiner Hüfte hängt ein M1-Maschinengewehr.

Er trägt noch immer sein Kopftuch und das ärmellose Tarnhemd, ist noch immer der gutgelaunte Typ, den sie im Walmart getroffen haben. Josh kann ihn nicht wirklich einschätzen. Er scheint der ausgeglichenste Mann in ganz Woodbury zu sein, aber das soll nicht viel heißen. Er ist verantwortlich für die ständig wechselnden Wachen bei der Mauer. Martinez scheint dem Governor sehr nahe zu stehen, aber man sieht die beiden so gut wie nie zusammen. »Und versuch, so wenig Lärm wie möglich zu machen, Kumpel«, fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Alles klar«, antwortet Josh und nickt, ehe er die Palette ablädt. Er zieht seine Holzfällerjacke aus – in der niedrig stehenden Wintersonne hinterlassen Schweißperlen eine feuchte Spur auf seinem Rücken – und stapelt alles innerhalb von wenigen Minuten auf.

Martinez gesellt sich zu ihm. »Warum holst du dir nicht noch eine Ladung und machst dann Mittag?«

»Wird gemacht«, gehorcht Josh, zieht den Handhubwagen unter der Palette hervor, dreht sich um und geht zurück zur anderen Straßenseite. Seine Jacke samt seiner .38er Police Special lässt er an einem Zaunpfosten baumeln.

Josh vergisst ab und zu, dass die Waffe in der Jacke steckt. Er hat sie nicht mehr benutzt, seitdem sie in Woodbury angekommen sind; die Wachen sind völlig ausreichend.

Während der letzten Woche gab es nur wenige Angriffe – hauptsächlich am Waldrand oder an den Straßen, die aber relativ einfach und schnell von der gut bewaffneten Truppe Wochenendsoldaten abgewehrt wurden. Laut Martinez haben die Anführer von Woodbury ein ganzes Arsenal in einem Gebäude der National Guard gar nicht so weit entfernt gefunden. Lauter Militärzeug, die der Governor weise verteilt hat.

In Wahrheit aber sind die Zombies das kleinste Problem, das der Governor hat. Die Menschen in Woodbury scheinen unter dem Druck des postapokalyptischen Lebens langsam, aber sicher zusammenzubrechen.

Es dauert weniger als fünf Minuten, bis Josh im Lager angekommen ist. Er denkt über Lilly nach, über ihre gemeinsame Zukunft. In Gedanken versunken, bemerkt er nicht den Geruch, der ihn umgibt, als er das hölzerne Gebäude am Rande der Eisenbahngleise erreicht.

Das Lager diente einmal als Vorratsschuppen und Speicher für den südlichen Endbahnhof der Chattooge and Chickamauga Railway. Im zwanzigsten Jahrhundert transportierten sie die gesamte Tabakernte der Umgebung nach Fayetteville zur Weiterverarbeitung.

Josh geht an der Seite des langen, schmalen Gebäudes entlang und lässt den Handhubwagen vor der Tür stehen. Der höchste Punkt des steilen, verwitterten Dachs liegt zehn Meter über der Straße. Der Verschlag ist uralt, heruntergekommen, an einigen Stellen sogar stark beschädigt. Das einzige große Fenster unweit der Tür ist mit Brettern zugenagelt. Das Lager macht eher den Eindruck eines ruinierten Museums, ein Relikt des alten Südens. Jetzt benutzen die Arbeiter es, um das Holz trocken zu halten und Baumaterialien zu lagern.

»Josh!«

Josh hält kurz vor dem Eingang inne, als er eine ihm bekannte Stimme hinter sich hört. Er dreht sich gerade noch rechtzeitig um, um Lilly in ihren abgefahrenen Klamotten – Schlapphut, bunter Schal und Fellmantel, den sie von einer älteren Frau in Woodbury eingetauscht hat – auf ihn zueilen zu sehen. Sie trägt ein müdes Lächeln auf dem Gesicht.

»Meine Kleine! Na, bin ich vielleicht glücklich, dich zu sehen«, begrüßt Josh Lilly und umarmt sie. Sie erwidert seine Geste – nicht unbedingt mit bedingungsloser Hingabe, mehr der platonischen Art –, und Josh überlegt einmal mehr, ob er ihr zu viel zumutet. Oder hat die Tatsache, dass sie nun miteinander schlafen, eine Variable in einer komplexen mathematischen Gleichung verändert? Oder vielleicht wird er einfach nur ihren Anforderungen nicht gerecht? Sie scheint sich ihm gegenüber zurückzuhalten. Nur ein wenig. Aber Josh verdrängt die Zweifel. Vielleicht liegt es ja nur am Stress.

»Können wir reden?«, fragt sie ihn und blickt ihn bedeutungsvoll an.

»Klar doch … Willst du mir währenddessen helfen?«

»Nach dir«, sagt sie und deutet auf den Eingang. Josh dreht sich um und tritt ein.

Der Geruch von totem Fleisch – vermischt mit der schimmligen, stickigen Luft des Lagers – fällt ihnen anfangs gar nicht auf. Auch bemerken sie den Spalt zwischen zwei Balken im hinteren Teil des Lagers nicht, das völlig ungeschützt unweit des Waldrandes steht. Das Gebäude ist mindestens dreißig Meter lang und in Dunkelheit getaucht, überall hängen Spinnweben und Überreste von Gleisen, die bereits so verrostet sind, dass sie den Anschein machen, als ob sie gleich zur Erde bröseln wollen.

»Um was geht es denn, mein Kleines?« Josh geht zu dem in einer Ecke aufgestapelten Bauholz. Die zehn mal fünfzehn Kanthölzer sehen so aus, als ob sie von einer Scheune stammen – Nut und Feder weisen noch Spuren roter Farbe auf und sind mit Matsch verkrustet.

»Wir müssen weiterziehen, Josh, raus aus dieser Stadt … ehe etwas Furchtbares geschieht.«

»Bald, Lilly.«

»Nein, Josh. Ehrlich. Jetzt hör mir mal zu.« Sie zerrt an seinem Ärmel und stellt sich aufrecht vor ihn hin. »Es ist mir ganz egal, was Megan, Scott und Bob machen … Wir aber müssen hier weg. Es sieht vielleicht so aus, als ob alles wunderbar, gemütlich und malerisch ist, aber das ist nur oberflächlich! Darunter ist dieses Kaff am Verwesen.«

»Ich weiß … Ich muss nur …«

Er hält inne, als ein Schatten in seinem Augenwinkel vor dem mit Brettern vernageltem Fenster erscheint.

»O Gott, Josh. Du hast doch nicht …«

»Komm hinter mich, sofort!«, befiehlt er, als er gleich mehrere Sachen auf einmal bemerkt. Zuerst riecht er den Schimmel in dem alten Lager, hört die tiefen, kehligen Geräusche aus dem hinteren Teil des Gebäudes und sieht etwas Tageslicht durch einen Spalt in einer Ecke.

Am schlimmsten aber ist, dass ihm erst in diesem Augenblick einfällt, wo seine Pistole steckt.

Zehn

Genau im gleichen Augenblick ertönt eine MG-Salve vor dem ehemaligen Eisenbahngebäude.

Lilly zuckt in der Dunkelheit des Lagers zusammen, und Josh wirft sich in Richtung des Bauholzes, als das mit Brettern verschlagene Fenster nach innen explodiert.

Drei knurrende Zombies – ihr Gewicht reicht aus, damit die alten Bretter nachgeben – stürzen in das Lager. Zwei Männer und eine Frau, alle mit tiefen Wunden im Gesicht, die Wangen aufgerissen, um das Zahnfleisch und die dunklen Zähne zu entblößen, stolpern in die Dunkelheit. Das Lager wird erfüllt von ihrem lauten Knurren und Geifern.

Josh hat kaum Zeit, das Schlurfen aus den hinteren Ecken wahrzunehmen, das langsam auf sie zukommt. Er dreht sich rasch um und sieht den riesigen Zombie in Latzhose, wahrscheinlich ein ehemaliger Bauer, dessen Gedärme wie schleimige Gebetsperlen aus dem Bauch hängen. Er taumelt durch den aufgewirbelten Staub langsam auf ihn zu, stößt unkontrolliert in die Stapel alter Eisenbahnschwellen.

»LILLY, KOMM! ICH GEBE DIR DECKUNG!«

Josh schnappt sich ein großes Holzbrett und benutzt es als Schild. Lilly drängt sich an seinen Rücken. Ihre Lungen heben und senken sich rasch, sie fängt an, vor Entsetzen zu hyperventilieren. Josh hebt den Schild und macht sich in Richtung des großen Untoten auf. Er nähert sich langsam an, wird dann aber immer schneller.

Der Zombie stößt ein geiferndes Grunzen aus, als Josh ihn mit dem Schild erwischt.

Der Aufprall des Holzbretts wirft den gewaltigen Zombie zu Boden. Josh holt Schwung und wirft sich mit dem Schild zuerst erneut auf ihn, ehe Lilly mit voller Wucht hinterherfliegt. Ihr gemeinsames Gewicht pinnt den Giganten am Boden fest. Seine toten Glieder zucken unter dem Schild, die angeschwärzten Finger krallen sich in das Holz, schnappen nach ihnen.

Draußen ertönen die Alarmglocken im Wind.

»MOTHERFUCKER!«

Josh verliert vor Rage die Kontrolle, fängt an, das schwere Schild mit aller Wucht auf den Zombie zu rammen. Lilly kann sich nicht mehr festhalten und rollt zu Boden, als Josh mit seinen schweren Stiefeln auf den toten Schädel tritt. Dann widmet er sich dem Brett, springt mit voller Wucht darauf. Er fängt an, undeutliche Schreie von sich zu geben, und sein Gesicht ist vor Zorn völlig entstellt.

Endlich platzt der Kopf unter dem Schild, und das Gehirn spritzt hervor, als das grässliche Geräusch zerborstener Knochen an ihre Ohren dringt. Endlich hört der Zombie auf, sich zu bewegen. Unter dem Schild erscheint eine wahre Sintflut schwarzen Bluts.

All dies geschieht innerhalb weniger Sekunden. Lilly schreckt voller Entsetzen zurück. Plötzlich ertönt eine Stimme von der Straße her. Trotz der Lautstärke ist sie ruhig, gesammelt: »RUNTER MIT EUCH, LEUTE! LEGT EUCH AUF DEN BODEN!« Josh nimmt irgendwo in seinem Unterbewusstsein wahr, dass es Martinez ist. Zur gleichen Zeit erinnert er sich, dass drei weitere Zombies vom Eingang her auf sie zustolpern.

Er lässt von dem Schild ab, dreht sich um und sieht, wie die drei auf Lilly zutaumeln, die leblosen Arme nach ihr ausstrecken. Lilly schreit auf. Josh rennt zu ihr, sucht nach einer Waffe, findet aber nichts weiter außer Sägemehl und kleinen Metallstücken auf dem Boden.

Lilly weicht zurück, schreit auf, und ihr Brüllen vermischt sich mit der dröhnenden, autoritären Stimme, die von draußen ertönt: »AUF DEN BODEN MIT EUCH, LEUTE! LEGT EUCH SOFORT AUF DEN BODEN!«

Endlich versteht Josh, und er schnappt sich Lilly und reißt sie mit sich zu Boden.

Die drei toten Dinger stehen jetzt direkt vor ihnen, die Mäuler aufgerissen, Sabber speiend. Sie sind ihnen so nahe, dass Josh ihren grässlichen, faulen Atem riechen kann.

Plötzlich erhellt sich die Vorderwand – eine Salve Maschinengewehrfeuer zerfetzt die Bretter, und durch jedes Loch strömt Tageslicht ein. Die Kugeln treffen die aufrechten Untoten in die obere Körperhälfte, lassen sie unfreiwillig in der Finsternis in einem bizarren Totentanz zucken und zappeln.

Der Lärm ist unvorstellbar. Holzsplitter, Putz und verwesende Stücke Fleisch regnen auf Josh und Lilly herab, die sich die Hände über den Kopf halten.

Josh kann seinen Augen bei dem Anblick der wild umherzappelnden Zombies kaum trauen. Sie hampeln, wackeln und strampeln zu einem arrhythmischen Beat, illuminiert von den Löchern in der Wand.

Schädel explodieren, die Fetzen fliegen – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Untoten sacken in sich zusammen und brechen einer nach dem anderen zu Boden. Die Schüsse hören nicht auf. Dünne Streifen Tageslicht erhellen jetzt das Lager.

Dann legt sich Stille über die Szene. Nur das gedämpfte Klirren der verbrauchten Patronen, die auf den Boden fallen. Das entfernte Klacken der Waffe, die neu geladen wird. Keuchen.

Einen Moment lang passiert nichts.

Er wendet sich Lilly zu, die neben ihm liegt, sich an ihm festhält, beinahe sein Hemd zerreißt. Sie sieht aus wie erstarrt, das Gesicht hart zu Boden gepresst. Josh umarmt sie, streichelt ihren Rücken.

»Alles okay bei dir?«

»Super … Einfach fantastisch.« Sie scheint aus dem Albtraum zu erwachen, schaut auf die immer größer werdende Lache von Blut und Hirnbrei, auf die Überreste der durchlöcherten Leichen. Lilly setzt sich auf.

Josh erhebt sich, hilft ihr auf die Beine und will etwas sagen, als ein Knarzen vom Eingang seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das, was von der Tür noch übrig geblieben ist, öffnet sich.

Martinez lugt in das Lager. Er scheint es eilig zu haben, spricht rasch: »Bei euch alles in Ordnung?«

»Ja, wir sind unverletzt«, antwortet Josh und hört dann ein Geräusch in der Ferne. Wütende Stimmen erheben sich, werden von dem Wind an seine Ohren getragen. Dann ein unterdrücktes Krachen.

»Okay. Wir haben eine weitere Baustelle, um die wir uns kümmern müssen – wenn bei euch alles klar ist.«

»Schon gut, mach man.«

Martinez nickt kurz, dreht sich um und verschwindet aus ihrem Blickfeld.

Zwei Häuserblöcke östlich der Eisenbahnschienen, unweit der Barrikade, ist ein Kampf ausgebrochen. Nicht dass das etwas Besonderes in Woodbury ist. Zwei Wochen zuvor haben sich die beiden Wachen des Metzgers um eine Ausgabe des Playboy geprügelt, und Doc Stevens durfte sich um einen ausgerenkten Kiefer und eine halb zertrümmerte Augenhöhle mehr kümmern.

Die meiste Zeit über finden die Schlägereien nicht im öffentlichen Raum statt, sondern irgendwo in einer Wohnung, oft sehr spät nachts. Die Gründe sind in der Regel so bedeutungslos, so trivial, dass man es kaum glauben mag: Jemand wurde schief angeschaut, hat einen Witz erzählt, den der andere nicht mochte, oder die Menschen gehen einander einfach nur auf die Nerven. Seit Wochen schon zerbricht sich der Governor den Kopf über diese immer häufiger vorkommenden Streitigkeiten mit ernsten Folgen.

Bis heute aber sind sie so gut wie nie in der Öffentlichkeit geschehen.

Jetzt aber passiert es zum ersten Mal am helllichten Tag, direkt an der Essensausgabe vor mindestens zwanzig Schaulustigen … und die Menge scheint an dem Kampf Gefallen zu finden. Die ersten Zuschauer haben sich noch abgewendet, als die beiden Streithähne im eisigen Wind mit bloßen Fäusten aufeinander losgegangen sind, ihre wilden Schläge voller Wut, die Augen blitzend vor Rage.

Aber dann sind immer mehr Leute gekommen, und die Atmosphäre hat sich geändert. Statt verärgerter Rufe sind nun anfeuernde Schreie zu hören. Blutlust macht sich breit. Der Stress der Plage drückt sich in zornigem Brüllen, frenetischem Jubeln und wildem Luftboxen aus.

Martinez und seine Wachen erscheinen mitten im Höhepunkt des Kampfs.

Dean Gorman, ein Prolet aus Augusta, mit Heavy-Metal-Tattoos am ganzen Körper, bringt Johnny Pruitt zu Boden – einen dicken, teigigen Kiffer aus Jonesboro. Pruitt, der es gewagt hat, das Augusta-State-Jaguars-American-Football-Team zu kritisieren, schlägt mit einem Keuchen auf der Erde auf.

»Hey, legt mal einen anderen Gang ein, Jungs!« Martinez nähert sich von Norden, die M1 an der Hüfte. Sie ist noch immer warm von dem Gemetzel im Eisenbahnlager. Drei Wachen sind ihm auf den Fersen, ebenfalls mit gezückten Waffen. Als er die Straße überquert, kann er die Kampfhähne in der Menge der begeisterten Schaulustigen kaum ausmachen.

Vor ihm schwebt eine Wolke Staub in der Luft, ab und zu erscheint eine Faust, alles ist von Zuschauern eingerahmt.

»HEY!«

Im Kreis tritt Dean Gorman mit seinen Stahlkappen dem Widersacher Johnny Pruitt in die Rippen. Der dicke Mann zuckt vor Schmerzen zusammen, rollt zur Seite. Die Meute johlt auf. Gorman stürzt sich auf Pruitt, der sich aber zu helfen weiß und seinem Angreifer ein Knie in die Weichteile rammt. Die Schaulustigen schreien begeistert auf. Gorman stolpert zur Seite, die Hände schützend vor die Leistengegend gehalten, und Pruitt nutzt die Chance und schlägt seinerseits mehrere Male auf Gormans Gesicht ein. Eine Menge Blut schießt dunkel aus Gormans Nase auf die sandige Erde.

Martinez drängt sich durch den Kreis der Schaulustigen zur Mitte durch.

»Martinez! Warte!«

Ein Griff wie ein Schraubstock hält Martinez zurück. Er dreht sich blitzartig um und sieht sich dem Governor gegenüberstehen.

»Warte noch etwas«, sagt der drahtige Mann kaum hörbar. In seinen tief liegenden Augen glitzert Spannung. Sein dunkler Schnauzbart verleiht ihm etwas Raubtierhaftes. Er trägt einen langen schwarzen Mantel über einem weißen Hemd, dazu Jeans und Arbeitsstiefel. Die Rockschöße des Mantels flattern majestätisch im Wind. Er gleicht einem verwahrlosten Paladin aus dem neunzehnten Jahrhundert, einem selbst ernannten Revolverhelden. »Die Zeit ist noch nicht reif.«

Martinez senkt die Waffe, neigt den Kopf zu den Kampfhähnen. »Ich will nur nicht, dass hier etwas schiefgeht und einer ins Gras beißt.«

Mittlerweile hat der dicke Johnny Pruitt seine wurstigen Finger um Dean Gormans Hals gelegt und drückt zu. Gorman ringt nach Luft, erbleicht. Der Kampf wandelt sich innerhalb von Sekunden – erst war er brutal, jetzt ist er tödlich. Pruitt lässt nicht los. Jubelrufe ertönen aus der Menge. Gorman tritt aus, beginnt zu zucken. Er hat keine Luft mehr, sein Gesicht verfärbt sich, seine Augen treten hervor, und blutiger Speichel fließt ihm aus dem Mund.

»Mach dir nicht in die Hose, Großmütterchen«, murmelt der Governor und starrt mit seinen tief liegenden Augen gespannt auf das Geschehen.

Erst dann merkt Martinez, dass der Governor nicht nur am Kampf selbst interessiert ist. Nein, seine Augen streifen über die ganze Runde. Der Governor beobachtet die Beobachter. Er scheint sich jedes Gesicht einzuprägen, jeden begeisterten Aufschrei, jedes Pfeifen.

In der Zwischenzeit wird Dean Gorman in Johnny Pruitts Wurstfingern immer ruhiger. Seine Gesichtsfarbe, vorher noch auberginefarben, erinnert jetzt eher an trockenen Zement. Seine Augen verdrehen sich, und er hört auf, sich zu wehren.

»Okay, das reicht … Kümmer dich um ihn«, befiehlt der Governor Martinez.

»WEG MIT EUCH!«

Martinez drängt sich zur Mitte durch, die Knarre in beiden Händen.

Der dicke Johnny Pruitt lässt angesichts des Maschinengewehrlaufs in seinem Gesicht endlich los, und Gorman beginnt, nach Luft zu ringen. »Los, hol Stevens«, befiehlt Martinez einer seiner Wachen.

Die Menge, noch immer aufgewühlt von dem Spektakel, protestiert. Einige murren, hier und da ertönen sogar Buhrufe. Ein jeder scheint vom Abbruch des Spektakels enttäuscht.

Der Governor, etwas abseits vom Geschehen, saugt die Atmosphäre in sich auf. Als die Schaulustigen sich endlich zerstreuen – manche schütteln noch mit dem Kopf, beschweren sich –, gesellt er sich zu Martinez, der noch immer über dem sich windenden Gorman steht.

Martinez blickt den Governor an. »Mach dir keine Sorgen, er wird’s überleben.«

»Gut.« Dann senkt er den Blick auf den jungen Mann auf dem Boden vor ihm. »Ich glaube, ich weiß, wofür ich die Wachen einteile.«

Zur gleichen Zeit in den Gewölben unter der Rennstrecke flüstern vier Männer aufgeregt im Zwielicht ihrer Zelle.

»Das wird nie gut gehen«, gibt der erste zu bedenken. Er sitzt in seinen vor Urin triefenden Boxershorts in einer Ecke und starrt die anderen Häftlinge an, die sich um ihn gesellt haben.

»Halt doch deine Schnauze, Manning«, fährt der zweite Mann ihn an. Barker, ein schlanker Typ von fünfundzwanzig Jahren, starrt die Anwesenden durch lange Strähnen fettigen Haares düster an. Barker war einmal Major Gene Gavins Musterschüler im Camp Ellenwood, Georgia, gewesen. Er war drauf und dran, bei den Special Ops des 221st Military Intelligence Battalion stationiert zu werden. Jetzt aber, dank dem Psycho Philip Blake, gibt es Gavin nicht mehr, und Barker ist zu einem zerlumpten, halb nackten, kriecherischen Sack im Keller einer gottverdammten Katakombe geworden und muss sich von Haferbrei, mit Würmern verseuchtem, trockenem Brot und Wasser ernähren.

Die vier Wachen sind jetzt schon seit über drei Wochen hier unten unter »Hausarrest« – seit Philip Blake ihren Commanding Officer Gavin am helllichten Tage vor den Augen Dutzender Zuschauer kaltblütig ermordet hat. Das Einzige, was ihnen jetzt noch gehört, sind Hunger und Wut. Barker ist direkt links neben der verschlossenen Tür an die Wand gekettet. Eigentlich ein guter Platz, um jeden, der in die Zelle kommt, anzugreifen … wie zum Beispiel Blake, der in regelmäßigen Abständen vorbeischaut, um sich Gefangene abzuholen und sie ihrem fürchterlichen Schicksal auszuliefern.

»Der ist doch nicht von gestern, Barker«, meldet sich ein dritter Mann namens Stinson von der gegenüberliegenden Ecke zu Wort. Er ist alt und dick, ein typischer Südstaatler mit schlechten Zähnen, der einmal in einer National Guard Station gearbeitet hat.

»Stinson hat recht«, meint Tommy Zorn. Ihm ist nur die Unterwäsche geblieben, die den Blick auf seinen von Ausschlag bedeckten, unterernährten Körper freigibt. Zorn war ebenfalls bei der National Guard Station angestellt. »Der wird das sofort durchschauen.«

»Nicht, wenn wir vorsichtig vorgehen«, kontert Barker.

»Wer zum Teufel soll denn den Toten spielen?«

»Scheißegal. Hauptsache, ich kann ihm den Arsch aufreißen, sobald der die Tür aufmacht.«

»Barker, ich glaube, du bist nicht mehr ganz richtig im Kopf. Irgendetwas hier hat dich verändert. Ich meine es ernst. Willst du denn so wie Gavin enden? Wie Gavin und Greely und Johnson und …«

»DU SCHWANZ LUTSCHENDER FEIGLING! WIR WERDEN ALLE SO ENDEN, WENN WIR NICHTS GEGEN SIE UNTERNEHMEN!«

Die Lautstärke von Barkers Stimme – auch wenn sie so dünn wie ein fein gesponnener Draht ist – lässt die Unterredung stocken. Dann sitzen die vier Wachen eine lange Zeit da, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Endlich meldet sich Barker erneut: »Es ist nur nötig, dass sich einer von euch Schwuchteln tot stellt. Mehr will ich ja gar nicht. Ich knipse ihn dann aus, sobald er reinkommt.«

»Es ist gar nicht so leicht, das so hinzukriegen, dass er es glaubt«, meldet sich Manning.

»Schmier dich mit Scheiße ein.«

»Holla, holla, haben wir gelacht.«

»Verpass dir eine Wunde, schmier dir das Blut ins Gesicht und lass es trocknen. Keine Ahnung. Augen reiben, bis sie bluten … Wollt ihr hier raus oder nicht?«

Schweigen.

»Ihr seid verdammt noch mal Wachen! Wollt ihr hier drin wie Maden verrotten?«

Wieder Schweigen, dann ertönt Stinsons Stimme in der Dunkelheit: »Okay, ich mach’s.«

Bob folgt dem Governor durch eine Tür in den Bauch des Stadions unter der Rennstrecke, dann eine schmale Metalltreppe hinab und durch einen langen Flur. Ihre Schritte hallen in dem düsteren Licht wider. Über ihnen glühen die von einem Generator gespeisten Notlampen.

»Endlich habe ich es geschnallt, Bob«, erklärt der Governor und fummelt an einem Ring mit Dietrichen und Generalschlüsseln herum, der an einer Kette an seiner Hose fest gemacht ist. »Was wir hier brauchen, ist Unterhaltung!«

»Unterhaltung?«

»Bob, die Griechen hatten Theater … Die Römer den Zirkus.«

Bob hat keine Ahnung, was der Mann da faselt, folgt ihm aber gehorsam und wischt sich den trockenen Mund ab. Er braucht einen Drink, und zwar bald. Unwirsch knöpft er seinen olivfarbenen Parka auf, denn auf seiner Stirn erscheinen die ersten Schweißperlen von der stickigen, modrigen Luft in den Gewölben.

Sie kommen an einer verschlossenen Tür vorbei, und Bob hätte schwören können, dass er das eindeutige Schlurfen und Stolpern von wiederbelebten Toten vernommen hat. Außerdem vermischt sich jetzt der Geruch verwesenden Fleisches mit der modrigen Luft. Bobs Magen verkrampft sich.

Der Governor führt ihn zu einer metallenen Tür mit einem schmalen Fenster am Ende des Korridors, das mit einer Blende verdeckt ist.

»Die Bewohner müssen bei Laune gehalten werden«, murmelt der Governor und hält vor der Tür an, sucht nach dem richtigen Schlüssel. »Nur so bleiben sie fügsam, lenkbar, kontrollierbar.«

Bob steht direkt neben dem Governor, als der einen dicken Metallschlüssel ins Schloss steckt. Kurz bevor er ihn umdreht, wendet er sich noch einmal an Bob. »Wir hatten so unsere Probleme mit der National Guard. Gar nicht so lange her. Die haben gedacht, die könnten hier herrschen, nach Herzenslust schalten und walten, die Leute wie Dreck behandeln … Die haben gedacht, die könnten sich hier ihr eigenes Königreich aufbauen.«

Bob nickt zwar, sagt aber nichts. Er ist verwirrt, außerdem ist ihm übel.

»Habe ein paar von ihnen hier unten auf Eis gelegt.« Der Governor zwinkert ihm zu, als ob er einem Kind verrät, wo die Süßigkeiten versteckt sind. »Am Anfang waren es noch sieben«, seufzt der Governor. »Jetzt sind nur noch vier übrig … Die gehen weg wie warme Semmeln.«

»Wie warme Semmeln?«

Der Governor schnieft und schaut plötzlich betreten zu Boden. »Die haben ihr Leben für etwas Höheres gegeben, Bob. Mein Baby … für Penny.«

Plötzlich weiß Bob, was der Governor damit sagen will, und es wird ihm ganz anders.

»Wie auch immer …« Der Governor dreht sich wieder der Tür zu. »Ich hab schon immer gewusst, dass sie so oder so von Nutzen sein könnten … Jetzt aber ist mir schlagartig klar geworden, wozu sie bestimmt sind.« Der Governor lächelt. »Gladiatoren, Bob. Zum Wohl unserer kleinen Gesellschaft.«

Dann passiert eine ganze Reihe von Sachen auf einen Schlag: Der Governor nimmt die Blende vom Fenster und schaltet das Licht an. Durch das Sicherheitsglas beginnen die Neonröhren an der Decke zu flackern und tauchen eine dreißig Quadratmeter große Zelle in ekliges Licht. Ein riesiger Mann, der nichts weiter trägt als zerrissene Unterwäsche, liegt von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt am Boden. Sein Mund ist schwarz, die Zähne aufgerissen. Mit grässlicher Grimasse schnappt er in der Luft, beißt, was nicht zu beißen ist.

»Das ist aber schade.« Der Governor runzelt die Stirn. »Sieht ganz so aus, als ob es einen von ihnen erwischt hat.«

In der Zelle – die Geräusche werden durch die dicke Metalltür gedämpft – machen die anderen Gefangenen einen Aufstand, reißen an ihren Ketten, flehen darum, von diesem Zombie befreit zu werden. Der Governor greift in die unergründlichen Tiefen seines schwarzen Mantels und bringt einen mit Perlen bestückten .45er Colt hervor. Er vergewissert sich, dass er noch genügend Munition hat, und murmelt: »Bob, du bleibst hier. Bin gleich wieder da.«

Er öffnet die Tür, tritt in die Zelle, als ihn plötzlich ein Mann von hinten anspringt.

Barker stößt einen Urschrei aus, als er den Governor anfällt. Die Kette lässt nicht nach, aber Barker zerrt mit einer solchen Wucht daran, dass der Ankerstein in der Wand lose wird. Der Governor, völlig überrascht, stolpert, lässt den .45 Colt aus der Hand gleiten, fällt zu Boden. Er keucht, und die Waffe bleibt in unerreichbarer Ferne liegen.

Bob stellt sich unter den Türrahmen, als Barker zum Governor kriecht, seine Fersen umklammert, seine dreckigen, langen Fingernägel in das Fleisch bohrt. Er versucht, dem Governor den Schlüsselbund abzunehmen, vermag es aber nicht, ihn unter dem drahtigen Mann hervorzuziehen.

Der Governor brüllt auf und versucht, auf allen vieren zur Waffe zu gelangen.

Die anderen Männer feuern Barker an, als er den Rest seines Verstandes verliert, geifert und schnappt und schließlich die Zähne um die Achillessehne des Governors legt und zubeißt. Der Governor heult auf.

Bob steht wie angewurzelt vor der halb offenen Tür, schaut wie vom Blitz getroffen zu.

Barker hat Blut geleckt. Der Governor tritt nach dem Gefangenen aus und tut sein Bestes, um die Pistole zu ergreifen. Die beiden anderen Männer versuchen, sich loszureißen, brüllen irgendwelche nicht verständlichen Warnungen, während Barker sich über die Beine vom Governor hermacht, der noch immer krampfhaft versucht, in Richtung Waffe zu krabbeln. Jetzt sind es nur noch wenige Zentimeter … Endlich legen sich seine langen, sehnigen Finger um den Colt.

Mit einer einzigen, fließenden Bewegung dreht sich der Governor und zielt mit der halb automatischen Waffe auf Barkers Gesicht. Er drückt ab, leert das ganze Magazin.

Eine Reihe trockener, heißer Knattertöne erfüllt die Zelle. Barker wird nach hinten geworfen wie ein Welpe, an dessen Halsband man reißt.

Die Männer machen jetzt einen derartigen Aufstand, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht – ein panisches Betteln –, als der Governor auf die Beine kommt.

»Bitte, bitte!!! Ich bin kein Zombie – ICH BIN KEIN ZOMBIE!« Der große Mann, Stinson, setzt sich auf, zeigt auf sein blutverschmiertes Gesicht. Seine bebenden Lippen sind mit Schimmel von den Wänden und Schmiere von den Scharnieren geschminkt. »Das war ein Trick! Ein Trick!«

Der Governor wirft das leere Magazin aus dem Colt, lässt es zu Boden fallen. Er keucht, schnappt nach Luft, zieht ein neues Magazin aus der Gesäßtasche und stopft es in den Griff. Er entsichert die Waffe und zielt in aller Ruhe auf Stinson. »Für mich siehst du aber wie ein Scheißzombie aus!«

Stinson fummelt noch immer in seiner Visage rum. »Das war Barkers Idee. Das war dumm. Bitte … Ich wollte gar nicht mitmachen, aber Barker war total verrückt! Bitte … BITTE!!!«

Der Governor drückt ein halbes Dutzend Mal ab. Die Schüsse lassen die anderen Männer zusammenzucken.

Die gegenüberliegende Wand explodiert wenige Zentimeter über Stinsons Kopf, ein Stein nach dem anderen löst sich in Luft auf, Staub erfüllt die Luft. Der Lärm ist ohrenbetäubend, die Funken fliegen, und einige Querschläger lassen Putz von der Decke rieseln.

Eine Neonröhre zerbirst und schickt eine Sturzflut an Scherben von der Decke herab, so dass sich alle zu Boden werfen, um in Deckung zu gehen.

Endlich hört der Governor auf, steht einfach nur da, holt tief Luft und blinzelt, ehe er mit Bob unter dem Türrahmen spricht. »Bob, was sich uns hier bietet, ist die Chance, etwas zu lernen.«

Stinson hat sich in die Hose gemacht. Er ist noch immer zu Tode erschrocken, obwohl ihm nichts passiert ist. Er sitzt einfach nur da und weint sanft in seine Hände.

Der Governor humpelt zu dem großen Mann, hinterlässt eine Blutspur hinter sich auf dem Boden. »Verstehst du, Bob … Genau das, was in diesen Männern schwelt, die Tatsache, dass sie so einen Scheiß wie eben gerade versuchen, wird ihnen dazu verhelfen, Superstars in der Arena zu werden.«

Stinson blickt mit rotzverschmiertem Gesicht zum Governor auf, der über ihm steht.

»Sie verstehen es noch nicht, Bob«, fährt der Governor fort und zielt mit dem Lauf erneut auf Stinsons Gesicht, »aber sie haben gerade den ersten Test der Gladiatorenschule von Woodbury bestanden.«

Der Governor starrt Stinson finster an. »Öffne deinen Mund.«

Stinson schluckt auf, zuckt vor Schluchzen und Angst zusammen, ehe er atemlos bettelt: »Bitte, biiittttteeeee …«

»Öffne deinen verkackten Mund!«

Stinson tut, wie ihm geheißen. Bob Stookey wendet sich ab angesichts des drohenden Unheils.

»Siehst du, Bob?«, sagt der Governor langsam und steckt Stinson den Pistolenlauf zwischen die Zähne. Es herrscht totale Stille, und die anderen Männer schauen entsetzt und doch fasziniert zu. »Gehorsam … Mut … Dummheit. Ist das nicht das Motto der Pfadfinder?«

Ohne Vorwarnung zieht der Governor den Lauf aus Stinsons Mund, dreht sich um und humpelt zu Bob. »Was hat Ed Sullivan immer gesagt …? Gonna be a really big sssshooooow!«

Die Anspannung verpufft im Nu und macht drückendem Schweigen Platz.

»Bob, tu mir doch bitte einen Gefallen … Bitte!«, drängt der Governor, als er auf dem Weg zu ihm über die durchlöcherte Leiche des Master Gunnery Sergeant Trey Barker steigt. »Mach hier sauber … Ich will aber nicht, dass du diesen Schwanzlutscher hier zum Krematorium bringst. Lade ihn auf der Krankenstation ab.« Er zwinkert Bob zu. »Ich kümmere mich dann schon um ihn.«

Noch vor Sonnenaufgang am folgenden Tag liegt Megan Lafferty nackt auf dem Rücken in einem kaputten Bett in einem verwahrlosten Studio-Apartment. Ihr ist kalt. Wie heißt die Wache noch mal, die hier wohnt? Denny? Daniel? Megan war letzte Nacht zu stoned, um sich noch irgendwelche Namen merken zu können. Jetzt stößt der junge, schlanke Mann mit dem Kobra-Tattoo zwischen den Schulterblättern mit rhythmischer Regelmäßigkeit in sie, dass das Bett stöhnt und ächzt.

Megan lässt die Gedanken schweifen, starrt zur Decke, konzentriert sich auf die toten Fliegen in der Lampe. Alles, um die schmerzvolle Reibung zu ignorieren, die der Mann mit seinem steifen Pimmel erzeugt.

Im Zimmer befindet sich ein Bett, eine heruntergekommene Kommode, von Motten zerfressene Vorhänge vor dem offenen Fenster, durch das der eisige Dezemberwind pfeift, und Kisten über Kisten mit Proviant. Einige davon sind für Megan, gegen Sex, versteht sich. Von einem Haken an der Tür hängt eine Reihe fleischiger Objekte. Zuerst glaubt sie, es sind getrocknete Blumen.

Nach genauerer Untersuchung jedoch merkt sie, dass es sich um menschliche Ohren handelt. Wohl Trophäen von sämtlichen Untoten, die ihm über den Weg gelaufen sind.

Megan versucht, Lillys letzte Worte zu verdrängen, die sie ihr erst gestern Nacht an der brennenden Öltonne gesagt hat. »Das ist mein Körper, Freundin, und das sind verfickt schwierige Zeiten«, rechtfertigte Megan sich gegenüber Lilly, die aber angewidert antwortete: »Da verhungere ich lieber, als so eine Schlampe zu werden.« Und dann hat Lilly ihr die Freundschaft offiziell gekündigt. Für immer. »Megan, es ist mir egal, du bist mir egal. Ich bin fertig mit dir, will nichts mehr von dir hören, nichts mehr mit dir zu tun haben.«

Jetzt hallen diese Worte in der riesigen Leere wider, die in Megans Seele herrscht. Das Loch in ihrem Inneren ist schon Jahre alt, ein gigantisches Vakuum der Trauer, ein bodenloses Fass von Selbsthass aus den Zeiten ihrer Jugend und Kindheit. Sie hat es nie geschafft, diese Leere auszufüllen, und jetzt, zusammen mit der Plage, hat es sich wie eine eiternde, faulende Wunde geöffnet.

Sie schließt die Augen und stellt sich vor, wie sie in einem dunklen, tiefen Ozean ertrinkt, als ein Geräusch an ihre Ohren dringt.

Sie öffnet die Augen. Das Geräusch ist unverkennbar, kommt von draußen, direkt vor dem Fenster. Leise, aber doch eindeutig ertönt es über dem Wind, wird über die Dächer getragen: Schritte. Schritte von zwei Personen, heimliche Schritte. Zwei Bewohner schleichen sich durch die Dunkelheit.

Das Kobra-Tattoo hat sich mittlerweile abgestoßen, wohl müde von seinen Bemühungen, und ist von Megan heruntergestiegen. Er riecht nach getrockneten Samen, hat schlechten Atem. Kaum hat er sich auf die uringetränkte Matratze gelegt, fängt er zu schnarchen an. Megan steht langsam auf, achtet darauf, den erschöpften Kunden nicht zu wecken.

Vorsichtig schleicht sie sich über den kalten Boden zum Fenster und wagt einen Blick nach draußen.

Der Ort ist noch ganz verschlafen, es herrscht eine graue Finsternis. Man kann die Silhouetten der Schornsteine gegen das dämmrige Morgengrauen erkennen. Dann sieht sie zwei Gestalten, kaum sichtbar durch den Nebel, die sich gen Westen die Mauer entlang bewegen. Ihr Atem ist sichtbar in der kalten Morgenluft. Einer der beiden ist wesentlich größer als der andere.

Dann erkennt Megan Josh Lee Hamilton und Lilly, wie die beiden geisterhaften Gestalten an einer Ecke der Mauer in hundertfünfzig Meter Entfernung innehalten. Wellen der Wehmut durchfluten Megan.

Als die beiden hinter der Barrikade verschwinden, zwingt ein Gefühl des Verlusts Megan auf die Knie, und sie heult in der stinkenden Finsternis für eine halbe Ewigkeit leise vor sich hin.

»Wirf es mir zu, Kleines«, flüstert Josh und blickt zu Lilly auf, die auf der Mauer herumbalanciert – ein Fuß in der Mitte, der andere unterstützend an der Seite. Josh ist sich der schlummernden Wache hundert Meter östlich von ihnen nur zu bewusst. Sie sitzt im Bulldozer, die direkte Sichtlinie ist von einer riesigen Eiche versperrt.

»Hier!« Lilly streift den Rucksack ungeschickt von der Schulter und wirft ihn dann zu Josh auf der anderen Seite. Er fängt ihn mit einer Hand. Darin sind Joshs .38er, ein Spitzhammer mit faltbarem Griff, ein Schraubenzieher, einige Schokoriegel und zwei Flaschen Wasser. Das Ding wiegt mindestens fünf Kilo.

»Sieh dich vor!«

Lilly klettert die Mauer runter und kommt auf der harten Erde auf.

Sie verschwenden keine Zeit und machen sich so schnell wie möglich auf die Socken. Die Sonne geht schon auf, und sie wollen außer Sicht sein, wenn Martinez und seine Kumpane ihre Positionen einnehmen. Josh hat kein gutes Gefühl, was das Leben in Woodbury betrifft. Es scheint so, als ob er durch Arbeiten immer weniger verdient beziehungsweise einzutauschen hat. Gestern hat er mindestens drei Tonnen Material durch die Gegend gewuchtet, und trotzdem behauptet Sam der Metzger, dass Josh noch immer Schulden bei ihm hat, dass er sich durch das Tauschsystem einen unfairen Vorteil einhandeln will, und dass er nie und nimmer den Speck und das Obst abarbeiten kann, das er tagtäglich verschlingt.

Umso mehr Grund für Josh und Lilly, sich aus der Stadt zu schleichen. Vielleicht finden sie ja ihre eigenen Vorräte.

»Bleib bei mir, Kleines«, ermahnt Josh sie, und führt sie den Waldrand entlang.

Sie halten sich trotz der aufgehenden Sonne stets im Schatten, arbeiten sich an der einen Seite des riesigen Friedhofs zu ihrer Linken vor. Uralte Weiden überdachen mit ihren Ästen die Bürgerkriegsdenkmäler, und das geisterhafte Licht der ersten Morgenstrahlen verleiht dem Ort einen unheimlichen, trostlosen Touch. Viele der Grabmäler liegen umgestürzt am Boden, einige der Gräber sind geöffnet. Der Anblick des Friedhofs stellt Josh die Nackenhaare auf, und er drängt Lilly, endlich zur Kreuzung von Main und Canyon Drive zu gelangen.

Sie biegen nach Norden ab, hin zu den Pekannussfeldern vor den Stadtgrenzen.

»Halte Ausschau nach Verkehrsspiegeln«, bittet Josh sie, als sie eine sanfte Steigung zu den bewaldeten Hügeln emporsteigen. »Oder Briefkästen. Oder sonstigen Anzeichen von einer privater Auffahrt.«

»Und was ist, wenn wir nichts weiter als noch mehr Bäume finden?«

»Da muss irgendwo ein Bauernhof sein … oder sonst etwas.« Josh sucht ständig die Bäume auf beiden Seiten der schmalen, geteerten Straße ab. Die Sonne ist nun endgültig über dem Horizont aufgegangen, doch die Wälder um Canyon Drive sind noch düster und voll tanzender Schatten. Geräusche vermischen sich, und raschelndes Laub klingt wie taumelnde Schritte. Josh hält inne, steckt die Hand in den Rucksack, holt seine Pistole hervor und überprüft, ob sie geladen ist.

»Was ist denn?«, will Lilly wissen, die Augen fragend auf die Waffe gerichtet, ehe auch sie den Wald absucht. »Hast du etwas gehört?«

»Alles ist gut, Kleines.« Er steckt sich den Revolver in den Gürtel und klettert weiter die Steigung hinauf. »Solange wir uns schön ruhig verhalten, nicht anhalten … Alles wird gut.«

Sie marschieren einen halben Kilometer, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Im Entenmarsch, einer hinter dem anderen, stets auf der Hut. Sie beäugen die schwingenden Äste im Wald, beobachten selbst die Schatten hinter den Schatten. Seit dem Vorfall im Eisenbahnlager haben sich die Zombies nicht mehr in Woodbury sehen lassen, und Josh kann das Gefühl nicht abschütteln, dass es mal wieder Zeit für einen Angriff ist. Er wird schon nervös, dass sie so ungeschützt im Freien sind, als er einen Hinweis auf ein bebautes Grundstück sieht.

Der riesige, metallene Briefkasten in Form einer kleinen Blockhütte steht am Ende einer unbeschilderten Auffahrt. Lediglich die Buchstaben L. HUNT verraten die Identität des Besitzers. Daneben sind die Zahlen 20034 in das rostige Metall geprägt.

Circa fünfzig Meter hinter dem bizarren Briefkasten finden sie weitere, über ein Dutzend an der Zahl – an einer Einfahrt stehen gleich sechs auf einmal –, und Josh glaubt, den Jackpot getroffen zu haben. Er holt den Hammer aus dem Rucksack und reicht ihn Lilly. »Den Hammer immer schön griffbereit haben, Baby. Wir schauen uns mal diese Auffahrt mit den vielen Briefkästen an.«

»Ich folge dir auf Schritt und Tritt«, antwortet sie und geht dann mit ihm die Auffahrt hoch.

Das erste Ungetüm wird gleich einer Fata Morgana im Morgenlicht hinter den Bäumen sichtbar, steht inmitten einer Lichtung, als ob es aus dem All stammt. Wenn das Haus irgendwo an einem von Bäumen gesäumten Boulevard in Connecticut oder Beverly Hills stünde, würde es gar nicht erst auffallen, aber hier, mitten auf dem Land, verschlägt es Josh beinahe die Sprache. Das Haus erstreckt sich über drei Stockwerke, ist von einem englischen Rasen umgeben, auf dem sich mittlerweile Unkraut ausgebreitet hat, und stellt ein architektonisches Wunder aus frei tragenden Räumen und Balustraden dar. Es weist mehr Dachschrägen auf, als man an zwei Händen abzählen kann, sieht aus wie ein verschollenes Meisterstück von Frank Lloyd Wright. Im Hinterhof kann man gerade so einen mit Laub bedeckten Infinity-Pool mit verdeckter Wasserkante erspähen. Auch den riesigen Balkons sieht man die Vernachlässigung an – Eiszapfen hängen von ihnen herab, und überall liegt dreckiger Schnee. »Das ist wohl die Sommerresidenz von irgendeinem großen Macker«, mutmaßt Josh.

Sie folgen der Straße, die weiter in den Wald führt, und finden noch mehr verlassene Häuser.

Eins sieht aus wie ein viktorianisches Museum mit gigantischen Türmchen, die aus den überall auf dem Grundstück verstreut stehenden Pekannussbäumen zu schießen scheinen. Ein weiteres Haus scheint aus Glas gebaut zu sein. Außerdem besitzt es eine Veranda, die sich über einen Hügel erstreckt und eine atemberaubende Aussicht bietet. Jede Villa besitzt ihren eigenen Pool und Remise, eine Garage groß genug für sechs Autos und einen riesigen Rasen. Außerdem sind alle verlassen, dunkel, verschlossen, verbarrikadiert und tot wie Mausoleen.

Lilly hält vor dem in dunklem Glas gerahmten Wunder inne und starrt hinein. »Glaubst du, dass wir da reinkommen?«

Josh grinst. »Reich mir doch mal den Hammer, Kleines … und geh in Sicherheit.«

Sie finden sich in einem Schlaraffenland wieder. Trotz all der verdorbenen Lebensmittel und Anzeichen früherer Einbrüche – wahrscheinlich auf Anlass des Governors und seiner angeheuerten Schläger – finden sie noch immer halb volle Speisekammern, Bars und Wäscheschränke, die bis zum Rand mit frischer Bettwäsche vollgestopft sind. Sie stolpern über Werkstätten mit mehr Werkzeug und Ausrüstung als in einem Handwerkerladen. Sie finden Waffen, Schnaps, Benzin und Arzneimittel. Sie können es kaum glauben, dass der Governor und seine Schergen diese Oasen der Fülle noch nicht vollständig ausgeraubt haben. Und das Beste an allem ist, dass weit und breit keine Zombies zu sehen sind.

Später schaut sich Lilly im Eingangsbereich eines noch völlig intakten, einstöckigen Holzhauses um und bestaunt die kunstvollen Tiffany-Lampen. »Weißt du, was ich denke?«

»Keine Ahnung, Liebes. Was denkst du denn?«

Sie wirft ihm einen ernsten Blick zu. »Wir könnten hier wohnen, Josh.«

»Hm, ich weiß nicht …«

Sie sieht sich um. »Wir können ruhig sein, kein Aufsehen erregen. Wir müssen es doch nicht in die Welt hinausposaunen, dass wir hier sind.«

Josh überlegt einen Augenblick. »Vielleicht sollten wir das langsam angehen. Dumm spielen, schauen, ob jemand anders Wind davon bekommen hat.«

»Aber das ist doch das Coole an der Sache, Josh. Die sind schon hier gewesen … und kommen nicht wieder.«

Er seufzt. »Lass mich darüber nachdenken, Kleines. Vielleicht sollten wir Bob zurate ziehen.«

Sie schauen sich in den Garagen um und finden eine Handvoll Luxuskarossen unter Planen, schmieden Zukunftspläne, überlegen, ob sie wieder auf die Straße sollten. Sie einigen sich darauf, erst mit Bob zu reden und dann eine Entscheidung zu treffen.

Abends kehren sie in die Stadt zurück, schleichen sich unbemerkt durch die Bauarbeiten am südlichen Ende der Barrikade hindurch, bis sie sich wieder in der sicheren Zone befinden.

Von ihrer Entdeckung teilen sie niemandem etwas mit.

Unglücklicherweise ist weder Josh noch Lilly der eine entscheidende Nachteil ihrer Luxusenklave aufgefallen. Die meisten Gärten reichen gute dreißig Meter bis an den Rand eines Abhangs. Dahinter geht es dann steil und steinig bergab in einen tiefen Canyon. In seinem trockenen Flussbett, inmitten toter Kletterpflanzen, stolpert eine Horde Zombies umher, mindestens hundert an der Zahl.

Die Kreaturen brauchen keine achtundvierzig Stunden – wenn sie erst mal Menschenfleisch gerochen und den Lärm von oben mitgekriegt haben –, um einen Zentimeter nach dem anderen an der Canyonwand hochzuklettern.

Elf

Ich will es immer noch nicht einsehen, dass wir nicht einfach hierbleiben können«, fängt Lilly am nächsten Nachmittag erneut an und wirft sich auf das butterweiche Ledersofa, das an ein riesiges Panoramafenster in der gläsernen Villa gestellt ist. Die Fensterfront verläuft entlang der gesamten hinteren Hälfte und gibt den Blick auf den nierenförmigen Pool im Garten frei, der mit einer schneebedeckten Plane versehen ist. Der eiskalte Wind lässt die Fenster knarzen, gegen die Scheiben schlägt ein feiner Eisregen.

»Ich will ja nicht sagen, dass wir es nicht in Betracht ziehen sollten«, entgegnet Josh, der gerade feines Silber aus der Anrichte in die Tasche packt. Der Abend bricht herein, und sie haben mittlerweile genug Proviant, Werkzeuge und Sonstiges, um ein eigenes Haus damit auszurüsten. Den Großteil ihrer Beute haben sie außerhalb der sicheren Zone von Woodbury versteckt, in Hütten und Scheunen. Waffen und Werkzeuge sowie Dosen mit Lebensmitteln sind in Bobs Camper, und sie wollen eine der Luxuskarossen zum Laufen bringen.

Josh seufzt, geht zu Lilly und setzt sich neben sie. »Ich kann mir immer noch nicht sicher sein, dass uns hier nichts passieren kann.«

»Was soll denn das? Schau dich doch nur um … Diese Häuser sind wie Festungen gebaut. Die Besitzer haben sie hermetisch abgeriegelt, ehe sie in ihren Privatjets geflüchtet sind. Josh, ich kann nicht eine einzige weitere Nacht in dieser unheimlichen Stadt verbringen.«

Josh wirft ihr einen traurigen Blick zu. »Baby, ich verspreche dir … Eines Tages wird das alles vorbei sein.«

»Ehrlich? Glaubst du das wirklich?«

»Dessen bin ich mir sicher, Kleines. Irgendjemand wird der Sache auf den Grund kommen … herausfinden, was schiefgelaufen ist. So ein Eierkopf im Gesundheitsministerium wird ein Gegenmittel erfinden, damit die Leute in ihren Gräbern bleiben.«

Lilly reibt sich die Augen. »Ich wünschte, ich hätte die gleiche Zuversicht.«

Josh legt seine Hand auf die ihre. »Auch das wird vorübergehen, Baby. Es ist genau so, wie Mama immer gesagt hat: ›Das Einzige, worauf du dich in dieser Welt verlassen kannst, ist, dass nichts so bleibt, wie es ist, dass alles sich ständig ändert.‹« Er schaut ihr in die Augen und lächelt. »Das Einzige, was sich nie ändern wird, sind meine Gefühle für dich, Baby.«

Sie sitzen noch einen Augenblick lang da, lauschen dem Haus, wie es sich im Wind bewegt, hier und da knarzt, wie der Eisregen gegen die Scheiben prasselt, als sich plötzlich etwas im Garten bewegt. Mehrere Dutzend Köpfe erscheinen langsam am Rande des Abhangs, eine ganze Reihe verwesender Gesichter – unbemerkt von Lilly und Josh, die mit dem Rücken zum Fenster auf der Couch sitzen. Die Zombies kriechen langsam aus den Schatten.

Lilly, noch immer nichts ahnend und in Gedanken verloren, legt den Kopf auf Joshs breite Schulter. Sie verspürt Schuldgefühle, denn mit jedem Tag verliebt sich Josh mehr in sie. Sie merkt es daran, wie er sie berührt, wie seine Augen jeden Morgen aufleuchten, wenn sie auf der kalten Palette in ihrer kleinen Wohnung im ersten Stock aufwachen.

Ein Teil von Lilly lechzt nach Zuneigung und Intimität … aber ein anderer Teil fühlt sich noch immer unbeteiligt, fremd, schuldig dafür, dass sie diese Beziehung überhaupt erlaubt hat, eine Beziehung, die vielleicht auf Angst und Zweckmäßigkeit beruht. Sie fühlt sich Josh gegenüber verpflichtet, aber das ist doch keine vernünftige Basis für eine Beziehung. Was sie tut, ist falsch. Sie ist ihm die Wahrheit schuldig.

»Josh …« Sie blickt ihn an. »Ich muss dir etwas sagen … Du … Du bist einer der wundervollsten Männer, den ich je getroffen habe.«

Er grinst, hört gar nicht die Traurigkeit, die in ihrer Stimme mitschwingt. »Du bist auch gar nicht schlecht.«

In freier Sicht vom Fenster krabbeln und kriechen jetzt mindestens fünfzig Kreaturen über den Vorsprung auf den Rasen, krallen mit ihren Fingern in das Grün, zucken und zappeln. Einige kommen unbeholfen auf die Beine und fangen an, mit hungrigen, aufgerissenen Mäulern auf den Glaskäfig zuzuhumpeln. Ein toter Greis in Krankenhauskittel mit langen weißen Haaren, die im Wind wehen, führt das Pack an.

In dem luxuriösen Haus hinter dem Sicherheitsglas, noch immer nichts ahnend, sucht Lilly die passenden Worte: »Du bist immer so gut zu mir gewesen, Josh Lee … Ich weiß gar nicht, wie lange ich alleine überlebt hätte … Und dafür werde ich dir für immer dankbar sein. Weißt du, seitdem diese verfluchte Scheiße angefangen hat, weiß ich gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich will aber auch nicht, dass du denkst, ich benutze dich nur, weil du mich beschützt … Um zu überleben …«

Tränen steigen jetzt in Joshs Augen auf. Er schluckt und ringt nach Worten.

Normalerweise hätte er den grässlichen Gestank schon längst gerochen, der durch die Luftschächte ins Haus eindringt. Auch das gemeinsame Stöhnen und Ächzen hätte er längst gehört, das jetzt von allen Seiten des Hauses ertönt. Es ist so tief, dass es selbst die Fundamente erbeben lässt. Und die zuckenden Bewegungen in den Augenwinkeln bemerkt er auch nicht, ob von der Seite oder hinter dem Vorhang im Wohnzimmer oder woher auch immer sie stammen. Josh weiß einzig und allein, dass sein Herz in Gefahr schwebt. Alles andere in der Welt scheint ihm egal.

Er ballt die Fäuste. »Wieso um alles in der Welt sollte ich auf einmal so etwas denken, Lilly?«

»Weil ich ein Feigling bin!« Sie starrt ihn an. »Weil ich dich zurückgelassen habe, ZUM STERBEN! Und nichts und niemand kann die Tatsache ändern.«

»Lilly, ich bitte dich …«

»Okay … Hör mir gut zu.« Sie schafft es, ihre Emotionen wieder unter Kontrolle zu kriegen. »Ich will damit nur sagen, dass wir es nicht ganz so angehen sollten, sondern …«

»O NEIN – O SCHEISSE – SCHEISSE, SCHEISSE, SCHEISSE!!«

Innerhalb weniger Sekundenbruchteile verdrängt die Panik in seinem Gesicht sämtliche Gedanken in Lillys Kopf.

Josh bemerkt die ungebetenen Gäste erst, als er einen von ihnen in einem gerahmten Familienbild am anderen Ende des Raums gespiegelt sieht – die übliche Ansammlung steifer, gut gekleideter Väter, Mütter, Kinder und Verwandter samt dem dazugehörigen Pudel mit Schleifchen im Haar, die über einem Spinett hängen. Das Spiegelbild, so schwer erkennbar es auch ist, lässt den Hintergarten erahnen, den hinter dem Sofa. Der Hintergarten, durch den sich gerade ein Bataillon Zombies auf das Haus zukämpft.

Josh springt auf und dreht sich gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie das Sicherheitsglas die ersten Risse kriegt.

Die Zombies an der Scheibe – ihre toten Fratzen werden von den Dutzenden anderer Untoten, die von hinten drängen, gegen das Glas gedrückt – sabbern das Glas unfreiwillig mit ihrem schwarzen Speichel voll. Alles passiert im Handumdrehen. Die feinen Risse breiten sich im Zeitraffer wie ein Spinnennetz aus, während immer mehr lebende Leichen gegen das Fenster stolpern und einen gewaltigen Druck darauf ausüben.

Josh reißt Lilly just in dem Augenblick vom Sofa, als die Scheibe gänzlich nachgibt.

Sie zerplatzt mit einem lauten Scheppern, als ob es im Wohnzimmer zu donnern angefangen hätte. Zugleich wird der Raum mit Hunderten von Armen erfüllt, die wild grapschend nach Frischfleisch suchen. Zähne beißen, Leichen fallen über das Sofa, auf die Scherben. Im soeben noch luxuriösen Wohnzimmer weht jetzt der eisige Wind von draußen.

Ohne zu überlegen, zerrt Josh Lilly an einer Hand durch den gewölbten Flur zum Haupteingang, während hinter ihnen der Höllenchor toter Stimmbänder zischt, das stattliche Haus mit Zoogeräuschen und dem Gestank von Verwesung füllt. Ohne jegliche Gefühle, die Mäuler vor Hunger aufgerissen, brauchen die Zombies nicht lange, um wieder auf die Beine zu kommen, raffen sich auf und taumeln rasch weiter, die Arme an den Seiten schwingend, auf ihre flüchtende Beute zu.

Josh hat bereits den Eingangsbereich durchquert, legt die Hand auf die Tür und reißt sie auf …

… um von einer Wand aus Untoten angeglotzt zu werden!

Er zuckt zusammen, Lilly schreit auf und weicht zurück, als die Batterie von ausgestreckten Armen und krallenartigen Fingern sich nach ihnen ausstreckt. Hinter den Armen ist ein Mosaik toter Gesichter zu sehen. Sie fauchen, knurren, geifern. Scheinen im Gegensatz zu ihrer aschfahlen Haut regelrecht zu glänzen. Eine Hand vergräbt sich in Lillys Jacke. Josh schlägt sie weg und brüllt: »FICKPACK!!« Vollgepumpt mit Adrenalin wirft Josh sich gegen die Tür.

Die Wucht zusammen mit der Beschaffenheit der Tür – immerhin solide Handwerksarbeit – durchtrennt jeden der sechs Arme, die noch in der Öffnung stecken.

Die abgetrennten Glieder liegen jetzt auf den teuren Terrakottafliesen vor ihnen und zucken noch immer wild vor sich hin.

Josh schnappt sich Lilly und will schon zurücklaufen, hält aber abrupt am Fuß der Treppe inne, als er den Flur vor sich voller Untoter sieht. Sie sind durch die Nebentür an der Ostseite gebrochen, haben sich an der Westseite durch die Hundeklappe gezwängt. An der Nordseite haben sie den Wintergarten vor der Küche zertrümmert. Jetzt starren sie Josh und Lilly von allen Seiten an, die Mäuler mahlend.

Josh ergreift Lilly am Kragen ihrer Jacke und zerrt sie die Stufen hinauf.

Noch während sie die breite Treppe hocheilen, zückt Josh seine .38er aus dem Gürtel und fängt zu schießen an. Der erste Schuss verfehlt sein Ziel bei Weitem und zertrümmert einen Mauerbogen im Flur. Mit Lilly im Schlepptau und drei Stufen auf einmal nehmend, fällt es Josh schwer, mit der Waffe auf die Zombies zu zielen, die ihnen zuckend, taumelnd und stolpernd folgen.

Einige Untote können die Stufen nicht bewältigen, fallen nach hinten und reißen andere mit sich, die auf allen vieren kriechend die Verfolgung wieder aufnehmen. Auf halbem Weg feuert Josh erneut und trifft einen toten Schädel, so dass das feuchte Gewebe das Geländer und den Kronleuchter besudelt. Manche Zombies fallen jetzt wie Kegel die Treppe hinab, aber mittlerweile klettern so viele der Verfolger übereinander, dass sie die Treppe Zentimeter um Zentimeter erklimmen. Josh drückt erneut ab, aber es nützt nichts. Es gibt viel zu viele von ihnen. Josh weiß es, und Lilly weiß es auch.

»HIER ENTLANG!«, brüllt Josh, sobald sie das erste Stockwerk erreicht haben.

Der Plan hat sich von ganz alleine entworfen, kommt Josh völlig ausgearbeitet in den Kopf. Er schleppt Lilly den Flur bis zur letzten Tür hinter sich her. Er weiß noch, wie er beim letzten Erkundungstrip im Elternschlafzimmer gestanden, die Aussicht vom Erkerfenster genossen und den Arzneimittelschrank bewundert hat. Und jetzt erinnert er sich an die riesige Eiche, die neben dem Haus steht.

»HIER ENTLANG!«

Die Zombies haben die Treppe bewältigt. Einer stößt gegen das Geländer, stolpert rückwärts und stößt mehr als ein halbes Dutzend Untote um. Drei davon fallen die Treppe wieder runter, hinterlassen Bäche von schwarzem, schmierigem Blut.

Josh hat bereits die Schlafzimmertür erreicht, reißt sie auf und zerrt Lilly in das große Zimmer. Er wirft die Tür hinter ihr ins Schloss. Die Stille und Ruhe im Schlafzimmer mit seinen Louis-XIV.-Möbeln, dem imposanten Himmelbett mit seiner luxuriösen Daunenbettdecke und Bergen von mit Spitzen bestückten Kopfkissen bilden einen surrealen Kontrast zu der stinkenden, dröhnenden Gefahr hinter der Tür am anderen Ende des Flurs. Die schlurfenden Schritte kommen näher, der Gestank dringt durch die Ritzen des Türrahmens.

»Komm rasch her, zum Fenster, Kleines! Ich bin gleich wieder da!!« Josh dreht sich um und eilt in das Badezimmer. Lilly tut währenddessen wie ihr geheißen und wartet bei dem riesigen Erkerfenster. Sie kauert auf dem Boden, ringt nach Luft.

Josh öffnet die Badezimmertür und stürzt in den opulenten, nach Seife duftenden Raum, der mit italienischen Kacheln, Chrom und Glas ausgestattet ist. Zwischen der Sauna und dem Whirlpool steht ein Schrank, in dem Josh eine riesige, braune Flasche voll Reinigungsalkohol findet.

Innerhalb von Sekundenbruchteilen hat er sie geöffnet und steht wieder im Elternschlafzimmer, schüttet den reinen Alkohol auf die Vorhänge, das Bett, den Teppich und das antike Mobiliar. Der Druck der Untoten gegen die Tür lässt das Holz knarzen – man kann ihr Zischen und Fauchen bereits hören –, so dass Josh noch schneller arbeitet.

Er wirft die leere Flasche zu Boden und springt mit einem Satz zum Fenster.

Vor dem wunderbar gearbeiteten Bleiglas, das in Samtvorhängen mit Quasten eingerahmt ist, steht eine riesige alte Eiche, die bis über das Dach hinausragt. Ihre knorrigen Äste haben bereits ihr Laub abgeschüttelt und erstrecken sich majestätisch in alle Himmelsrichtungen. Und einer von ihnen reicht bis auf wenige Zentimeter an das Erkerfenster heran.

Josh kämpft mit dem Fenster, aber die geschmiedeten Scharniere wollen sich zuerst nicht öffnen. Dann schafft er es und brüllt: »Los, meine Liebe! Zeit, das sinkende Schiff zu verlassen!« Er tritt gegen das Fliegengitter, reicht Lilly die Hand, zieht sie auf die Beine und über die Fensterbank hinaus in die Eiseskälte. »Klettere den Ast zum Stamm entlang!«

Lilly streckt sich ungeschickt nach dem Ast aus, der so dick wie ein Schinken und dessen Rinde so rau wie Elefantenhaut ist. Verzweifelt hält sie sich fest und beginnt zaghaft, Richtung Stamm zu robben. Der Wind pfeift. Die sechs Meter bis zum Boden scheinen so weit entfernt, als wenn man falsch herum durch ein Fernglas schaut. Das Dach der Remise ist nicht weit weg, sie könnte beinahe draufspringen, und Lilly arbeitet sich Zentimeter um Zentimeter näher zum Baumstamm vor.

Hinter ihr verschwindet Josh gerade wieder im Schlafzimmer, als die Tür endlich nachgibt.

Zombies strömen in den Raum, stolpern hinein, fallen wie trunken übereinander, strecken die Gliedmaßen nach Josh aus, zischen und knurren. Einer, ein Mann mit nur noch einem Arm und einer kraterähnlichen Augenhöhle, taumelt auf den großen schwarzen Mann zu. Josh steht noch immer am Fenster und fummelt krampfhaft in seiner Tasche herum. Die Luft bebt vor hungrigem Grunzen. Endlich findet Josh sein Zippo.

In dem Augenblick, als der Zombie sich auf ihn werfen will, zündet Josh das Feuerzeug und wirft es auf das mit Alkohol getränkte Bett. Es fängt sofort zu brennen an, und Josh wehrt den Zombie ab, tritt auf ihn ein.

Die Kreatur poltert auf das brennende Bett und wälzt sich über den mit Alkohol getränkten Boden. Die Flammen wandern bereits das Himmelbett hinauf. Mehr und immer mehr Untote drängen sich in das Schlafzimmer, angespornt durch das flackernde Licht, die Hitze und den Lärm.

Josh verschwendet keine Zeit, dreht sich um und springt durch das offene Fenster.

Es dauert keine Viertelstunde, ehe das obere Stockwerk der gläsernen Villa gänzlich den Flammen zum Opfer gefallen ist, und weitere fünf Minuten, bis das ganze Haus in einer gewaltigen Feuersbrunst in sich zusammenbricht. Die Horde Zombies im Haus fällt den züngelnden und emporschießenden Flammen zum Opfer, die von dem Methan ihrer verwesenden, untoten Körper nur noch weiter genährt werden. Nach rund zwanzig Minuten sind mehr als achtzig Prozent der Schar aus dem Canyon der Feuersbrunst erlegen und zu verkohlten, brutzelnden Überresten in der noch rauchenden Villa zusammengeschrumpft.

Während dieser zwanzig Minuten wird klar, dass die Architektur des Hauses mit seinen eindrucksvollen Eckfenstern als Schornstein fungiert und das Feuer derart anfacht, dass es alles im Haus innerhalb noch nicht einmal einer halben Stunde verschlingt. Im Zentrum herrschen die höchsten Temperaturen. Die Flammen sengen die Blätter der umliegenden Bäume an, verhindern aber auch gleichzeitig, dass das Feuer sich weiter ausbreitet. Die anderen Häuser in der Umgebung werden verschont, der Wind weht keinen einzigen Funken in die Nachbarschaft, und der eigentlich so auffällige Rauch bleibt hinter den Hügeln verdeckt, wird rasch verweht, so dass die Einwohner von Woodbury von dem Spektakel nichts mitbekommen.

Während das Haus verbrennt, bringt Lilly genügend Mut auf, sich von dem niedrigsten Ast auf das Dach der Remise zu schwingen, ehe sie von dort die Hinterseite hinunterklettert, um vor der Hintertür der Garage zum Stehen zu kommen. Josh folgt ihr. Es gibt nur noch wenige Zombies, die von dem Inferno verschont worden sind, und Josh erledigt die gelegentlichen Streuner ohne weitere Probleme mit seiner .38er.

Er lädt die Waffe neu, benutzt seine letzten sechs Kugeln. Dann schleichen sie sich fort, halten sich dabei stets an der Mauer. Josh hat den Rucksack über der Schulter. Sie kauern inmitten des Unkrauts in der Nähe der Garage und warten, bis auch der letzte Untote in Richtung Feuer und Lärm getaumelt ist, ehe sie durch den Garten und in den angrenzenden Wald türmen.

Puh, Schwein gehabt!

Sie laufen von Baum zu Baum, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Die Zugangsstraße verläuft südlich von ihnen und wird vom schwindenden Tageslicht erhellt. Josh und Lilly halten sich aber stets im Schatten des ausgetrockneten Bachlaufs, der sich parallel zu der sich windenden geteerten Straße zieht. Sie arbeiten sich nach Osten vor, die sanfte Böschung hinab zur Stadt.

So laufen sie zwei Kilometer, verhalten sich wie lang verheiratete Eheleute, die sich gerade gestritten haben. Angst und das Adrenalin in ihren Adern werden jetzt von einer enormen Erschöpfung abgelöst.

Die Tatsache, dass sie gerade noch einmal davongekommen sind, zusammen mit der Feuersbrunst – all das hat Lilly in Panik versetzt. Sie zuckt bei jedem Geräusch zusammen, scheint nie genügend Luft in ihre Lungen saugen zu können. Ständig liegt ihr der Geruch von Untoten in der Nase, und sie glaubt, Schlurfgeräusche hinter jedem Baum zu hören – die aber vielleicht auch nur das Echo ihrer eigenen, müden Schritte sind.

Endlich biegen sie in die Canyon Road ein, und Josh sagt: »Das eine will ich noch klarstellen: Hast du gesagt, dass du mich nur ausnutzt?«

»Josh, das habe ich nie …«

»Weil ich dich beschütze? Und das war es? Mehr Gefühle hast du für mich nicht?«

»Josh …«

»Oder … oder hast du gesagt, dass du nur nicht willst, dass ich nicht denke, dass du es tust?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Doch, Baby. So leid es mir tut, aber genau das hast du.«

»Das ist doch Schwachsinn.« Lilly steckt die Hände in die Taschen ihrer Cordjacke. Rauch, Asche und Dreck lassen das Material in der Spätnachmittagssonne in einem fahlen Grau erscheinen. »Ich will nicht mehr darüber reden. Ich hätte gar nicht erst damit anfangen sollen.«

»Nein!« Josh schüttelt langsam den Kopf und geht weiter. »So einfach kommst du mir nicht davon.«

»Was soll denn das schon wieder heißen?«

Er wirft ihr einen Blick zu. »Glaubst du, dass das mit uns nur so eine vorübergehende Sache ist?«

»Wie bitte?«

»Wie bei einem Zeltlager? Wir gehen nach den Sommerferien einfach nach Hause, haben unsere Unschuld verloren, und das war’s?« In seiner Stimme klingt eine Schärfe mit, die Lilly noch nie zuvor bei Josh Lee Hamilton vernommen hat. Sein tiefer Bariton bewegt sich am Rande der Wut, sein bebendes Kinn lässt den Schmerz erahnen, der ihn tief im Innersten erschüttert. »Du kannst doch nicht einfach eine solche Bombe legen und dann so tun, als ob nichts gewesen wäre.«

Lilly seufzt genervt auf, weiß nicht, was sie dazu sagen soll, und stapft weiter. Die Woodbury-Barrikade erscheint in der Ferne, dann das westliche Ende der Bauarbeiten, wo ein Bulldozer und ein kleiner Kran tiefe Schatten werfen. Die Arbeiter haben auf die harte Tour gelernt, dass Zombies – wie Fische – am liebsten in der Dämmerung beißen.

»Was zum Teufel soll ich denn sagen, Josh?«, fährt Lilly ihn schließlich an.

Er starrt zu Boden, geht weiter und grübelt. »Wie wäre es mit einer Entschuldigung? Dass du lange darüber nachgedacht hast, und du vielleicht nur Angst hast, dass du jemandem sehr nahe kommst, weil du nicht willst, dass du ihm wehtust, weil dir schon einmal wehgetan wurde. Und dass du alles zurücknimmst und mich genauso liebst wie ich dich? Wie wäre es damit?«

Sie starrt ihn an. Ihr Rachen brennt vor Rauch und dem erlebten Horror. Sie hat einen solchen Durst. Sie ist müde, durstig, verwirrt und hat Angst. »Und woher hast du die Idee, dass mir schon einmal wehgetan wurde?«

»Habe nur geraten.«

Sie lässt den Blick nicht von ihm ab. Jetzt schnürt Wut ihr den Magen zusammen. »Du kennst mich doch nicht einmal.«

Jetzt erwidert er ihren Blick. Seine Augen sind weit aufgerissen, drücken seinen Schmerz aus. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Wir sind jetzt seit – was – zwei Monaten zusammen? Wenn überhaupt. Ein paar Leute, die sich vor Angst in die Hose machen. Niemand kennt niemanden. Wir versuchen alle nur, das Beste daraus zu machen.«

»Du willst mich also auf den Arm nehmen. Nach all dem, was wir durchgemacht haben? Und ich soll dich nicht kennen?«

»Josh, so habe ich das nicht …«

»Du siehst mich also im gleichen Licht wie Bob und den Junkie? Megan und die Typen in der Zeltstadt? Bingham?«

»Josh …«

»Die ganzen Sachen, die du mir diese Woche ins Ohr geflüstert hast … Was soll das? Hast du etwa gelogen? Hast du all das nur gesagt, damit ich mich besser fühle?«

»Ich habe jedes Wort so gemeint«, murmelt sie leise. Die Schuld in ihr macht ihr zu schaffen. Für einen Moment erinnert sie sich an den grässlichen Moment, als sie Sarah Bingham verloren hat – wie die Untoten sich vor dem gottverlassenen Zirkuszelt über sie hergemacht haben. Die Hilflosigkeit. Sie war wie gelähmt gewesen, den ganzen Tag lang. Der Verlust, die Trauer, der Gram, so tief wie ein Brunnen. Und Josh hat recht. Lilly hat ihm so manches während ihrer nächtlichen Liebesakte ins Ohr geflüstert, das nicht unbedingt der Wahrheit entspricht. Auf irgendeine Art liebt sie ihn, sorgt sich um ihn, besitzt starke Gefühle für ihn … Aber sie projiziert etwas Krankes tief aus sich heraus, etwas, das mit Angst verbunden ist.

»Super, einfach super«, meint Josh Lee Hamilton schließlich und schüttelt den Kopf.

Sie kommen zur Lücke in der Barrikade. Der Eingang, ein breites Loch zwischen zwei unfertigen Mauerteilen, ist nichts weiter als ein hölzernes Tor, das an einer Seite mit etwas Seil gesichert ist. In etwa fünfzig Metern Entfernung sitzt eine Wache auf dem Dach eines Bauwagens und starrt in die entgegengesetzte Richtung, das Maschinengewehr an der Hüfte.

Josh marschiert zum Tor und zerrt wütend am Seil, ehe er das Tor aufreißt. Bei dem Geräusch zuckt Lilly zusammen, kriegt Gänsehaut vor Panik. »Josh, sei vorsichtig, die werden uns noch hören«, flüstert sie.

»Mir doch scheißegal«, entgegnet er und hält ihr das Tor auf. »Ist das denn ein Gefängnis hier? Die können uns nicht davon abhalten, rein- und rauszuspazieren, wie und wann wir es für richtig halten.«

Sie folgt ihm durch das Tor und entlang einer Seitenstraße Richtung Hauptstraße.

Zu dieser Zeit ist kaum noch jemand unterwegs. Die meisten Bewohner Woodburys sind jetzt in den eigenen vier Wänden und essen zu Abend oder knallen sich die Birne mit irgendeinem Schnaps voll. Hinter der Rennstrecke ertönt das unheimliche Surren der Generatoren. Einige der Flutlichter beginnen zu flimmern. Der Wind pfeift durch die nackten Bäume auf dem Marktplatz, fegt die toten Blätter auf dem Bürgersteig vor sich her.

»Aber du sollst es genau so kriegen, wie du es haben willst«, meint Josh schließlich, als sie rechts in die Hauptstraße abbiegen und auf ihre Wohnung zusteuern. »Wir sind einfach nur Fickfreunde. Ab und zu poppen, zur Entspannung. Bloß keinen Stress …«

»Josh, das will ich …«

»Dasselbe könntest du dir natürlich mit einer Flasche Schnaps und einem Vibrator besorgen … Aber was soll’s? So ein warmer Körper hat doch auch was, oder?«

»Josh, was soll das? Warum müssen wir uns jetzt so benehmen? Ich will doch nur …«

»Ich will nicht mehr darüber reden«, unterbricht er sie und beißt die Zähne zusammen. Er meint es ernst.

Als sie zum Lebensmittellager kommen, steht eine Gruppe Männer davor und wärmt sich die Hände über einem Feuer in einer alten Tonne. Sam der Metzger ist unter ihnen, trägt seine mit Blut verdreckte Schürze, darüber einen abgewrackten Mantel. Sein hageres Gesicht zieht sich vor Abneigung zusammen. Er kneift seine diamantblauen Augen zusammen, als er die beiden von Westen her näher kommen sieht.

»Okay, Josh, wie du willst.« Lilly steckt die Hände noch tiefer in die Taschen und stapft neben dem großen Mann her. Kopfschüttelnd sagt sie: »Was immer du auch sagst.«

Sie passieren die Gruppe.

»Hey! Green Mile!« Das war Sam der Metzger, die Stimme so kratzig, hart, unnachgiebig wie ein Messer, das auf einem Wetzstein geschliffen wird. »Komm mal kurz her, Großer.«

Lilly hält inne, die Haare sträuben sich ihr im Nacken.

Josh geht zu ihm. »Ich habe auch einen Namen«, ermahnt er ihn ohne Emotion in der Stimme.

»Oha! Tja, da werde ich wohl auf Knien um Vergebung bitten müssen«, gibt der Metzger zum Besten. »Wie lautet der gleich noch mal? Hamilburg? Hammington?«

»Hamilton.«

Der Metzger lächelt ihn kalt an. »Gut, sehr gut. Mr. Hamilton, Sir. Dürfte ich Sie ganz kurz stören, wenn Sie gerade einen Moment Zeit für mich hätten?«

»Was wollen Sie?«

Das kalte Lächeln des Metzgers verharrt in seinem Gesicht. »Nur so aus Neugier – was haben Sie denn da in Ihrem Rucksack?«

Josh starrt ihn an. »Nichts … Nur dieses und jenes.«

»Dieses und jenes? Wie soll ich mir das vorstellen, dieses und jenes?«

»Nur Sachen, die wir gefunden haben. Nichts, das für irgendjemanden von Interesse sein könnte.«

»Sie sind sich schon der Tatsache bewusst, dass Sie noch immer Schulden bei mir haben – für all ›dieses und jenes‹, das ich Ihnen während der letzten Tage überlassen habe.«

»Von was reden Sie?« Josh starrt ihn weiterhin an. »Ich habe jeden Tag hart dafür gearbeitet.«

»Aber nicht genug, Junge. Das Heizöl wächst nicht auf Bäumen, nur dass Sie wissen, woher der Wind weht.«

»Sie haben gesagt, vierzig Stunden würden reichen.«

Der Metzger zuckt die Achseln. »Sie haben mich wohl missverstanden. Soll vorkommen.«

»Wie bitte?«

»Ich habe gesagt, vierzig Stunden plus. Also vierzig Stunden außer dem, was Sie schon gearbeitet haben. Jetzt verstanden?«

Die beiden starren sich noch eine Weile an, und jegliche Unterhaltung bei der Tonne verstummt. Sämtliche Augen haben sich jetzt auf die beiden Männer gerichtet. Lilly kriegt eine Gänsehaut, als sie bemerkt, wie Joshs Schulterblätter sich unter seiner Holzfällerjacke anspannen.

Endlich zuckt Josh mit den Achseln. »Dann arbeite ich noch etwas mehr.«

Sam der Metzger neigt sein hageres, markantes Gesicht in Richtung Tasche. »Und ich danke Ihnen sehr, dass Sie uns ›dieses und jenes‹ für die Sache spenden.«

Der Metzger streckt die Hand nach dem Rucksack aus.

Der aber dreht sich zur Seite, außer Reichweite des anderen Manns.

Die Stimmung kippt abrupt, als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte. Die anderen Männer, hauptsächlich älteren Baujahrs mit ausgelaugten Augen und grauen Strähnen im Gesicht, ziehen sich langsam zurück. Die Spannung steigt. Die Stille heizt die Lage nur noch mehr an, kochende Wut brodelt unter der vermeintlichen Ruhe. Man kann lediglich das vereinzelte Prasseln der Flammen im Wind hören.

»Josh, ist gut …« Das kommt von Lilly. Sie steht jetzt neben Josh und versucht, die Situation zu entschärfen, legt eine Hand auf den Rucksack. »Wir brauchen doch nicht …«

»Nein!« Josh zerrt ihn ihr aus der Hand, lässt den Metzger aber keinen Augenblick aus den Augen. »Niemand nimmt den Rucksack!«

Die Stimme des Metzgers verwandelt sich in ein Brummen, wird tief und düster: »Das solltest du dir lieber zweimal überlegen, Jungchen. Mit mir spielt man nicht.«

»Die Sache ist, dass ich gar nicht mit Ihnen spiele«, erwidert Josh. »Ich will damit nur eine Tatsache ausdrücken. Die Sachen im Rucksack gehören uns. So ist das nun mal. Und niemand wird sie uns stehlen.«

»Wer es findet, dem gehört’s?«

»Genau so sieht es aus.«

Die alten Männer ziehen sich jetzt noch weiter zurück, so dass Lilly sich vorkommt, als stünde sie in einem flackernden, eiskalten Boxring zusammen mit zwei in die Enge getriebenen Tieren. Sie sucht händeringend nach einer Möglichkeit, die Situation zu entspannen, aber die Worte bleiben ihr in der Kehle stecken. Sie ergreift Joshs Schultern, aber er schüttelt sie einfach ab. Der Metzger wirft Lilly einen Blick zu. »Sag deinem Freund hier, dass er gerade im Begriff ist, den größten Fehler seines Lebens zu machen.«

»Sie hat damit überhaupt nichts zu tun«, mischt sich Josh ein. »Das hier, das ist eine Sache zwischen uns beiden.«

Der Metzger beißt sich nachdenklich auf die Backen. »Ich schlag dir etwas vor … Bin ein fairer Mann … Ich gebe dir noch eine Chance. Gib mir einfach, was du gefunden hast, und ich streiche deine Schulden. Wir tun so, als ob das hier nie passiert wäre.« Etwas, das als Lächeln verstanden werden soll, huscht über sein wettergegerbtes Gesicht. »Das Leben ist zu kurz, weißt du, was ich damit sagen will? Insbesondere hier.«

»Los, Lilly«, sagt Josh, ohne die Augen vom Metzger abzuwenden. »Wir haben Besseres zu tun, als hier herumzustehen und unsere Zeit zu vergeuden.«

Josh wendet sich ab.

Sam Metzger will ihm den Rucksack entreißen. »GIB MIR DAS VERFICKTE ZEUG!«

Lilly muss mit ansehen, wie es mitten auf der Straße zu einem Kampf zu kommen droht.

»JOSH! NEIN!«

Der große Mann dreht sich, lässt die Schulter fallen und rammt sie dem Metzger in die Brust. Die Bewegung ist so plötzlich und schnell, erinnert ihn sogar an seine Tage als American-Football-Spieler, an damals, als er das gesamte Feld von hinten aufgeräumt hat. Der Mann in der blutigen Schürze wird so heftig zurückgeworfen, dass es ihm den Atem verschlägt. Er stolpert über die eigenen Beine und landet hart auf dem Hintern, blinzelt dann vor Schock und Empörung.

Josh tut so, als ob nichts geschehen wäre, dreht sich um und geht weiter die Straße entlang, ruft über die Schulter: »Lilly, ich habe gesagt, wir gehen!«

Lilly sieht nicht, wie der Metzger sich plötzlich auf dem Boden wälzt, versucht, etwas aus dem Gürtel unter seiner Schürze zu holen. Sie sieht nicht das Schimmern des blauen Stahls in seiner Hand, auch hört sie nicht das verräterische Klicken, als er die Waffen entsichert. Und sie sieht nicht den Wahnsinn in den Augen des Metzgers, bis es zu spät ist.

»Josh, warte!«

Lilly macht einige Schritte, ist jetzt nur noch drei Meter hinter Josh, als der Schuss ertönt, der Knall die Luft erschüttert. Die 9-mm ist so laut, dass die Fenster selbst einen halben Block weit entfernt scheppern. Instinktiv sucht Lilly Deckung, stürzt sich auf den Schotter, so dass ihr die Luft wegbleibt.

Als sie endlich wieder atmen kann, fängt sie an zu schreien. Eine Schar Tauben erhebt sich von dem Dach des Lebensmittellagers, verbreitet sich im immer dunkler werdenden Himmel wie schwarze Spitze.

Zwölf

Für den Rest ihres Lebens wird Lilly Caul sich an diesen Tag erinnern. Der rote Kranz aus Blut und Gewebe schwebt ihr ständig vor Augen, er wächst aus Josh Lee Hamiltons Kopf wie eine Blume. Die Wunde erscheint eine Nanosekunde später, ehe Lilly den Knall der Glock wahrnimmt. Sie erinnert sich daran, dass sie gestolpert, auf den Bürgersteig gefallen ist, keine zwei Meter hinter Josh, und sich einen Backenzahn angebrochen hat. Ein Schneidezahn bohrte sich durch ihre Zunge. Danach hat es in ihren Ohren geklingelt, und ein feiner Regen von Blut hat sich auf ihre Handrücken und Unterarme gelegt.

Aber am deutlichsten kann sie sich an den Anblick von Josh Lee Hamilton erinnern, wie er zu schwanken begann, wie seine Beine wie die einer Flickenpuppe nachgaben. Und das war vielleicht das Merkwürdigste an der ganzen Sache: wie der Riese seine Standhaftigkeit verlor. Man stellt sich vor, dass ein solcher Gigant nicht einfach so aufgeben, wie ein Mammutbaum umfallen oder wie ein Wahrzeichen unter einer Abbruchbirne zusammenbrechen würde, so dass die Erde bebt. Tatsache aber war, dass Josh Lee Hamilton an jenem Tag im schwindenden blauen Licht sang- und klanglos dahinging.

Er ist einfach zu Boden gegangen und leblos liegen geblieben.

Direkt danach wird Lillys Körper von Schüttelfrost ergriffen. Sie kriegt am ganzen Körper Gänsehaut. Alles wird unscharf, verschwommen und doch kristallklar, als ob ihr Geist sich von ihrer irdenen Hülle trennen würde. Sie verliert die Kontrolle über ihr Handeln, steht auf, ohne es wirklich zu merken.

Sie bewegt sich auf den zu Boden gegangenen Mann zu, tut einen unfreiwilligen Schritt nach dem anderen, wie ein Roboter. »Nein, warte … Nein, nein, warte, warte, warte«, brabbelt sie, als sie zu dem sterbenden Riesen kommt. Sie fällt auf die Knie. Tränen strömen ihre Wangen hinab, als sie seinen riesigen Kopf in die Hände nimmt und stammelt: »Jemand … Ruft einen Arzt … Nein … Nun los, holt endlich einen VERFICKTEN ARZT, IRGENDJEMAND!«

Josh ringt mit dem Tod. Blut läuft über ihre Ärmel. Sein Gesicht in Lillys Händen beginnt unkontrolliert zu zucken. Seine Augen verdrehen sich, er blinzelt noch ein, zwei Mal, blickt in Lillys Gesicht, wird ein letztes Mal zum Leben erweckt. »Alicia … Mach das Fenster zu.«

Eine Synapse feuert, eine Erinnerung an eine ältere Schwester verblasst in dem traumatisierten Gehirn wie verlöschende Glut.

»Alicia, schließ das …«

Die Zuckungen in seinem Gesicht ebben ab, die Augen erstarren gleich Murmeln in ihren Höhlen.

»Josh, Josh …« Lilly schüttelt ihn, als ob sie einen Motor per Kickstarter wieder zum Laufen bringen wollte. Aber das geht nicht mehr. Sie ist blind vor Tränen, alles wird milchig. Sie spürt, wie sie ihr auf die Handgelenke tropfen, als sich plötzlich etwas um ihr Genick legt.

»Lass ihn«, ertönt eine raue Stimme hinter ihr. Ihr Eigentümer vermag es kaum, seine Wut zu unterdrücken.

Lilly verspürt, wie jemand sie von dem leblosen Körper zieht. Eine große, männliche Hand hat sie am Kragen gepackt und reißt sie fort.

Etwas tief in ihr gibt nach.

Die Zeit vergeht nur sehr langsam, ist irgendwie kaputt wie in einem Traum, als der Metzger sie von dem Toten wegreißt. Er zerrt sie zurück, und sie bricht an der Mauer zusammen, stößt sich den Hinterkopf, liegt still auf dem Boden und starrt auf den schlaksigen Mann mit der Schürze. Der Metzger ragt über ihr, schnauft, sein ganzer Körper zittert vor Adrenalin. Hinter ihm stehen die alten Männer in einer Gruppe vor dem Lebensmittellager, scheinen in ihren Mänteln verschwinden zu wollen. Ihre verwaschenen Augen sind weit aufgerissen.

Aus den Häusern erscheinen Köpfe, Augen schauen aus Fenstern und Eingängen.

»Nun seht, was ihr beide angerichtet habt!«, brüllt der Metzger und richtet die Pistole auf Lilly. »Ich habe versucht, vernünftig mit euch umzugehen!«

»Tu es.« Sie schließt die Augen. »Tu es einfach … Nun mach schon.«

»Du dumme Schlampe, ich werde dich nicht umbringen!« Mit der freien Hand verpasst er ihr eine Ohrfeige. »Hörst du mir überhaupt zu? Passt du jetzt auf?«

In der Ferne ertönen Schritte – jemand rennt auf sie zu, anfangs noch unbemerkt. Lilly öffnet die Augen. »Du bist ein Mörder«, stammelt sie, der Mund voller Blut. Auch aus ihrer Nase schießt jetzt der dickflüssige Lebenssaft. »Du bist schlimmer als ein Scheißzombie!«

»Du kannst glauben, was du willst.« Er schlägt erneut zu. »Und jetzt will ich, dass du mir zuhörst.«

Der Schmerz belebt Lilly, sie wacht wieder auf. »Was willst du?«

Stimmen ertönen, Schritte kommen immer näher, aber der Metzger hört nichts weiter als seine eigene Stimme. »Du wirst mir noch den Rest von Green Miles Schulden bezahlen, Kleines!«

»Fick dich.«

Der Metzger beugt sich zu ihr herab und grapscht sie am Kragen. »Du wirst deinen kleinen Arsch für mich abarbeiten, bis ich …«

Lillys Knie schießt mit voller Wucht in die Höhe, hart genug, um des Metzgers Eier in sein Becken zu befördern. Der Mann keucht überrascht auf. Es hört sich an wie Dampf, der aus einem kaputten Ventil entweicht.

Lilly springt auf und krallt sich in seinem Gesicht fest. Ihre Fingernägel sind bis aufs Letzte abgekaut, so dass sie nicht viel Unheil mit ihnen anrichten kann, aber es treibt den Mann noch weiter zurück. Er holt aus, will sie wieder schlagen. Sie duckt sich, so dass er lediglich ihre Schulter erwischt. Sie tritt ihm erneut in die Weichteile.

Der Metzger taumelt, greift nach der Pistole.

Mittlerweile ist Martinez nur noch einen halben Häuserblock entfernt und sprintet auf sie zu. Zwei Wachen sind ihm dicht auf den Fersen. »WAS ZUM TEUFEL …?«, brüllt er.

Der Metzger hat die Glock wieder aus dem Gürtel geholt und dreht sich zu dem heranstürmenden Martinez um.

Der vor Kraft strotzende, wendige Martinez stürzt sich auf ihn, schlägt den Kolben seines Maschinengewehres mit aller Wucht auf des Metzgers Handgelenk. Der Ton brechender Knochen ist über dem Wind hörbar. Die Glock fliegt dem Mann aus der Hand, und er jault wehklagend auf.

Eine der Wachen, ein schwarzer Junge in einem zu großen Kapuzenpullover, schnappt sich Lilly und zerrt sie aus der Gefahrenzone. Sie windet und wehrt sich in seinen Armen, während er sie in Sicherheit zieht.

»Gib auf, Arschloch!«, brüllt Martinez und zielt mit dem Maschinengewehr auf den noch taumelnden Metzger, der aber schneller als Martinez ist und den Lauf umfasst.

Die beiden Männer kämpfen um die Waffe. Sie stolpern in Richtung der Tonne mit dem Feuer, werfen sie um, so dass die Glut sich auf den Bürgersteig ergießt. Die beiden kommen ins Wanken, stürzen gegen die Glastür vom Lebensmittellager. Als Martinez dem Metzger mit dem Maschinengewehr ins Gesicht schlägt, gibt das Glas leicht nach, und ein feiner Haarriss zieht sich über die Scheibe.

Der Metzger brüllt vor Schmerz auf, reißt Martinez die M1 aus den Händen. Sie fliegt durch die Luft, landet auf dem Bürgersteig. Die alten Männer flüchten panisch, während von allen Seiten Bewohner herbeieilen. Die zweite Wache, ein älterer Mann mit Pilotenbrille und einer heruntergekommenen Daunenweste, hält die Schaulustigen in Schach.

Martinez verpasst dem Metzger einen rechten Haken, so dass der dürre Mann mit der Schürze durch das berstende Glas der Tür stürzt.

Der Metzger landet im Lager, bricht auf dem gekachelten Boden zusammen, der mit Glassplittern übersät ist. Martinez klettert hinterher.

Ein wahres Feuerwerk von Schlägen hagelt jetzt auf den Metzger ein. Er kann sich nicht mehr verteidigen, nicht mehr flüchten, kommt nicht mehr vom Boden weg. Sabber und Blut fliegen durch die Luft. Er versucht panisch, sein Gesicht zu schützen, hält die Arme zur Verteidigung hoch, aber Martinez drischt unentwegt auf ihn ein.

Er schlägt den Mann mit einem harten Kinnhaken bewusstlos, der den Kiefer knirschen lässt.

Niemand sagt ein Wort oder gibt einen Laut von sich, während Martinez nach Luft schnappt. Er steht über dem Mann in der Schürze, reibt sich die Fingerknöchel, versucht, sich zu orientieren. Jetzt fängt die Menge draußen an, begeistert zu rufen, aber er hört es gar nicht richtig. Die ganze Situation gleicht irgendwie einer perversen Mobilmache oder Wahlveranstaltung.

Martinez versteht nicht, was gerade passiert ist. Er hat sich nie viel aus Sam dem Metzger gemacht, kann sich aber auch nicht vorstellen, was passiert sein muss, damit er die Waffe auf Hamilton richtet.

»Was zum Teufel ist bloß in dich gefahren?«, fährt Martinez den Mann auf dem Boden an. Nicht dass er eine Antwort erwartet, aber er muss sich abreagieren.

»Der Mann will offensichtlich im Mittelpunkt stehen, ein Star sein.«

Die Stimme ertönt von dem zerborstenen Glas hinter Martinez.

Er dreht sich um und sieht den Governor in der Tür stehen. Drahtig, die Arme vor der Brust verschränkt, die langen Rockschöße seines Mantels im Wind flatternd, steht er mit rätselhaftem Gesichtsausdruck da, einer Mischung aus Verwirrung, Abscheu und unheilvoller Neugier. Gabe und Bruce befinden sich wie immer hinter ihm wie missmutige Totempfähle.

Martinez versteht die Welt nicht mehr. »Was will er sein?«

Die Miene des Governors verändert sich schlagartig – seine dunklen Augen leuchten mit einer Eingebung auf, sein Schnauzbart ist jetzt voll gewachsen und zuckt um seine Mundfalten. All das verrät Martinez, dass es besser sei, ihn nicht unnötig zu reizen. »Zuerst«, fährt der Governor unbeirrt mit teilnahmsloser Stimme fort, »musst du mir sagen, was genau passiert ist.«

»Er hat nicht gelitten, Lilly … Das darfst du nicht vergessen … Keine Schmerzen … War einfach nur dahin, wie eine Lampe, die man ausschaltet.« Bob hockt auf dem Bordstein neben Lilly, die mit hängendem Kopf dasitzt, die Tränen kullern ihre Wangen hinab. Bobs Erste-Hilfe-Kasten steht geöffnet neben ihm auf dem Bürgersteig, und er tupft ihr malträtiertes Gesicht mit Desinfektionsmittel ab. »Das ist mehr, als wir alle uns in dieser verkackten Welt erhoffen können.«

»Ich hätte eingreifen sollen«, murmelt Lilly mit tonloser, ausgelaugter Stimme, die klingt, als ob sie bereits auf dem Zahnfleisch gehe. Ihre Tränensäcke sind leer geweint. »Ich hätte es tun können, Bob. Ich hätte es verhindern können.«

Es folgt ein langes Schweigen, der Wind zieht und zerrt an den Dachstühlen und Hochspannungsleitungen. So gut wie die gesamte Bevölkerung von Woodbury hat sich auf der Hauptstraße versammelt, um das Nachspiel der Tragödie zu erleben.

Josh liegt auf dem Rücken neben Lilly. Man hat ihn mit einem Laken bedeckt. Ohne dass Lilly es bemerkte, wurde das behelfsmäßige Leichentuch kurzerhand über ihn geworfen und saugte sich schnell voller Blut von Joshs Kopfwunde. Lilly streichelt ihm zärtlich das Bein, zwickt es ab und zu, massiert es, als ob er von ihrer Berührung wieder aufwachen würde. Einige Strähnen haben sich von Lillys Pferdeschwanz gelöst und hängen jetzt über ihr gezeichnetes, niedergeschlagenes Gesicht.

»Ruhig jetzt, meine Kleine«, versucht Bob sie zu beruhigen und steckt eine Flasche mit Jod zurück in den Erste-Hilfe-Kasten. »Es gibt nichts, was du hättest machen können. Rein gar nichts.« Bob wirft einen raschen, besorgten Blick auf die zerbrochene Glastür des Lebensmittellagers, in der noch Scherben stecken. Drinnen kann er gerade noch den Governor und sein Gefolge ausmachen, der sich mit Martinez unterhält. Der bewusstlose Metzger liegt im Schatten. Der Governor macht einige ausholende Gesten in Richtung des Metzgers, scheint Martinez etwas zu erklären. »Das ist eine gottverdammte Schande«, meint Bob und wendet sich ab. »Eine gottverdammte Schande.«

»Er hat niemals einer Fliege etwas zuleide getan«, sagt Lilly und blickt auf das blutbefleckte Laken. »Ich würde gar nicht leben, wenn er nicht gewesen wäre … Er hat mir das Leben gerettet, Bob, und er wollte nur …«

»Miss …?«

Lilly schaut auf, als sie eine ihr unbekannte Stimme vernimmt und erblickt einen älteren Mann mit Brille. Er trägt einen weißen Kittel, steht hinter Bob. Dazu gesellt sich eine junge Frau, vielleicht um die zwanzig, mit blonden Zöpfen. Auch sie trägt einen abgewetzten Kittel. Um den Hals hängt ein Stethoskop, und sie hat ein Blutdruckmessgerät in der Hand.

»Lilly, das ist Doc Stevens«, stellt Bob ihr den Mann vor und nickt in seine Richtung. »Und das hier ist Alice, unsere Krankenschwester.«

Die Frau nickt Lilly zu und packt das Blutdruckmessgerät aus.

»Lilly, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns Ihr Gesicht mal etwas genauer ansehen würden?«, fragt der Arzt, kniet sich neben sie hin, nimmt das Stethoskop von der Schwester und steckt es sich in die Ohren. Lilly antwortet nicht, blickt erneut zu Boden. Der Arzt tastet vorsichtig ihr Genick ab, arbeitet sich um den Hals in Richtung Brustbein und nimmt dann schließlich ihren Puls. Er untersucht ihre Wunden, checkt ihre Rippen. »Es tut mir wirklich sehr leid, dass Sie Ihren Partner verloren haben, Lilly«, murmelt der Arzt.

Lilly sagt nichts.

»Einige der Verletzungen sind schon alt«, erklärt Bob, steht auf und geht etwas zur Seite.

»Sieht nach einer Haarfraktur an Nummer acht und neun sowie dem Schlüsselbein aus«, schließt er. »Alle verheilt. Auch die Lungen hören sich gut an.« Er nimmt das Stethoskop aus den Ohren und legt es um den Hals. »Lilly, bitte lassen Sie uns wissen, falls Sie irgendetwas brauchen.«

Sie nickt.

Der Arzt sucht nach den richtigen Worten. »Lilly, ich möchte, dass Sie …« Er hält inne, überlegt. »Nicht jeder hier ist … ist so. Ich weiß, dass es Sie kaum trösten wird.« Er wirft Bob einen Blick zu, schaut dann auf die zertrümmerte Lebensmittellagertür, ehe er sich wieder Lilly zuwendet. »Was ich damit sagen möchte … Wenn Sie jemals über etwas reden wollen, wenn Ihnen etwas nicht passt, wenn Sie was auch immer brauchen … kommen Sie einfach zu uns in die Klinik.«

Als Lilly nicht reagiert, seufzt der Arzt und steht auf. Er tauscht einen nervösen Blick mit Alice und Bob aus.

Bob gesellt sich wieder zu Lilly, kniet sich hin und haucht: »Lilly, Kleines – wir müssen jetzt den Leichnam beiseiteschaffen.«

Zuerst hört sie ihn kaum, nimmt überhaupt nicht wahr, was er sagt.

Sie starrt einfach weiterhin auf den Bürgersteig, streichelt das Bein des Toten und fühlt sich leer. In Anthropologie an der Georgia Tech hat sie gelernt, dass ein wichtiger Teil der Mythologie der Algonkinstämme die Beschwichtigung der Totengeister beinhaltet. Nach der Jagd haben sie ihre Beute bei den letzten Atemzügen beatmet, sie damit geehrt, in ihren eigenen Körper aufgenommen, ihr die letzte Ehrerbietung erwiesen. Lilly aber verspürt lediglich eine Trostlosigkeit, ein Gefühl des Verlusts von dem immer kälter werdenden Leichnam von Josh Lee Hamilton zu ihren Füßen.

»Lilly?« Bobs Stimme hört sich an, als stamme sie von einem weit entfernten Ort, aus einem anderen Universum. »Wir kümmern uns jetzt um Josh. Ist das okay?«

Lilly antwortet nicht.

Bob nickt Stevens zu. Der Arzt nickt wiederum der Krankenschwester zu, die ihrerseits zwei Männern zu verstehen gibt, dass sie jetzt mit der Trage kommen können. Die Männer – beide Saufkumpane von Bob mittleren Alters – gehen zu Josh, nur Zentimeter von Lilly entfernt, und stellen die Trage auf dem Boden ab. Der erste Mann versucht vorsichtig, den Riesen auf die Bahre zu hieven, als Lilly ihn plötzlich anstarrt, die Tränen wegblinzelt.

»Lassen Sie ihn«, brummt sie kaum hörbar.

Bob legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Lilly, Kleines …«

»ICH HABE GESAGT, DASS IHR IHN IN FRIEDEN LASSEN SOLLT! HAUT AB!!!«

Ihr gequälter Schrei durchbricht die windgepeitschte Stille der Straße, zieht jedermanns Aufmerksamkeit auf sich. Schaulustige in hundert Metern Entfernung horchen auf. Leute in Eingängen schauen um die Ecke, um zu sehen, was passiert ist. Bob winkt den beiden Bahrenträgern zu, und Stevens und Alice entfernen sich, gehüllt in Schweigen.

Der Aufruhr hat einige Neugierige aus dem Lebensmittellager angelockt. Sie stehen in der Tür und starren auf das Schauspiel, das sich ihnen bietet.

Bob blickt auf, sieht den Governor, die Arme vor der Brust verschränkt. Er steht breitbeinig da und nimmt alles mit seinen cleveren, düsteren Augen auf. Schüchtern gesellt sich Bob zu ihm an der Tür.

»Die wird schon wieder«, flüstert Bob dem Governor zu. »Aber das geht ihr gerade ganz schön an die Nieren.«

»Und wer kann ihr das schon übel nehmen?«, gibt der Governor zu bedenken. »Einfach so den Beschützer und Ernährer zu verlieren ist schon kacke.« Er kaut einen Augenblick auf der Innenseite der Wange, überlegt. »Lasst sie in Ruhe. Wir räumen später auf.« Dann grübelt er weiter, ohne die Augen von dem Toten neben dem Bürgersteig zu nehmen. Endlich ruft er: »Gabe! Komm mal her.«

Der untersetzte Mann im Rollkragenpulli und dem Bürstenhaarschnitt tut, wie ihm geheißen.

Leise befiehlt der Governor: »Ich will, dass du das Arschloch von Metzger aufweckst und in eine Zelle verfrachtest. Am besten zusammen mit den Wachen.«

Gabe nickt, dreht sich um und verschwindet wieder im Lebensmittellager.

»Bruce!«, ruft der Governor und meint damit seine Nummer eins. Der schwarze Mann mit dem rasierten Kopf und Kevlar-Weste tritt mit einer AK-47 an der Hüfte zu ihm.

»Yeah, Boss?«

»Ich will, dass du alle zusammentrommelst und sie zum Marktplatz bringst.«

Der schwarze Mann neigt den Kopf ungläubig zur Seite. »Wie, alle …«

»Du hast schon richtig gehört – alle.« Der Governor zwinkert ihm zu. »Wir werden heute Nacht ein kleines Meeting abhalten.«

»Wir leben in einer brutalen Zeit, sind ständig unter viel Druck – und das in jeder Minute unseres Daseins.«

Der Governor brüllt in ein Megafon, das Martinez in einem verlassenen Lager gefunden hat. Seine rauchige, kehlige, heisere Stimme dröhnt über die kahlen Bäume und brennenden Fackeln. Die Sonne ist untergegangen, und die gesamte Bevölkerung von Woodbury ist jetzt in der Dunkelheit vor dem Pavillon auf dem Marktplatz versammelt. Der Governor steht auf den steinernen Stufen des Rathauses und richtet das Wort an seine Bürger in der unverkennbaren Tonlage eines Politikers und mit den Augen eines Wilden.

»Ich verstehe den Stress, den ihr alle verspürt«, fährt er fort und geht die Stufen auf und ab, genießt jeden Augenblick seines Auftritts. Seine Stimme hallt über den mit Gebäuden umsäumten Platz, wird von den mit Brettern beschlagenen Läden zurückgeworfen. »Jeder Einzelne von uns hat in den letzten Wochen und Monaten trauern müssen … Jeder hat jemanden verloren, der ihm nahe stand.«

Er hält inne, lässt seine Worte wirken, schaut sich um und sieht viele zu Boden gerichtete Gesichter, die Augen schimmern im Licht der Fackeln. Er spürt den Schmerz förmlich, der seine Zuhörer erdrückt. Innerlich lächelt er, wartet auf den richtigen Augenblick, um fortzufahren.

»Was heute vor dem Lebensmittellager passiert ist, war völlig unnötig. Ihr lebt mit Waffen … das verstehe ich. Aber es war trotzdem unnötig. Es war ein Symptom von etwas anderem, einer Krankheit, und ich werde mich um diese Krankheit kümmern … Ich werde sie heilen!«

Er blickt gen Osten, wo Lilly noch immer auf dem Bürgersteig neben dem zugedeckten Leichnam des Riesen sitzt. Bob kniet neben ihr, streicht ihr mit der Hand über den Rücken und starrt auf das blutige Laken, unter dem sich die körperliche Hülle von Josh Lee Hamilton befindet.

Der Governor wendet sich erneut seinem Publikum zu. »Wir müssen uns impfen … Und damit fangen wir gleich heute Nacht an. Von jetzt ab wird hier ein anderer Wind wehen, das verspreche ich euch … Es wird neue Regeln geben.«

Er geht erneut die Stufen auf und ab und starrt finster in die Menschenmenge.

»Was uns von den Monstern da draußen unterscheidet, nennt man Zivilisation!« Er brüllt das Wort Zivilisation so laut, dass es von den Dächern hallt. »Ordnung! Gesetze! Schon die alten Griechen wussten, wie das geht! Die haben Ahnung gehabt, dem Baby sogar einen Namen gegeben. Sie nannten es ›Katharsis‹.«

Einige Gesichter schauen ihn jetzt nervös, aber auch voller Erwartung an.

»Seht ihr die Rennstrecke da drüben?«, bellt er die rhetorische Frage ins Megafon. »Seht euch das Stadion gut an!«

Er dreht sich um und gibt Martinez ein Zeichen, der im Schatten des Pavillons steht und auf den Knopf seines Walkie-Talkies drückt und einen Befehl hineinspricht. Jetzt kommt der Teil, auf dessen genaues Timing der Governor gepocht hat.

»Von heute Abend an«, fährt der Governor fort und schaut zu, wie viele Köpfe sich jetzt zu dem riesigen, UFO-ähnlichen Gebäude im Westen drehen. Die Silhouette des Stadions ragt in den Sternenhimmel. »Ab sofort! Das ist unser neues griechisches Theater!«

Mit Glanz und Gloria eines spektakulären Feuerwerks gehen auf einmal die riesigen Flutlichter an, eines nach dem anderen. Das Geräusch kann man bis auf den Marktplatz hören. Sie senden ihre silbernen Lichtkegel in die Arena hinab. Das Spektakel erntet einen allgemein hörbaren Luftzug, ein paar Leute beginnen sogar zu klatschen.

»Der Eintritt ist frei!« Der Governor spürt, wie der Energiepegel der Masse steigt. Die Atmosphäre beginnt förmlich zu knistern. Jetzt stellt er sich in Pose. »Wollt ihr im Ring kämpfen? Kein Problem! Ihr müsst nur die Regeln brechen, und schon seid ihr dabei! Einfach nur die Regeln brechen!«

Er blickt in die Menge, während er auf und ab stolziert, fordert sie mit seinem Blick heraus. Einige schauen einander an, andere nicken, wieder andere machen den Eindruck, als ob sie ihn für den Erlöser halten.

»Jeder, der gegen die Regeln verstößt, muss kämpfen! Ganz einfach. Und wenn ihr nicht wisst, wie die Regeln lauten, könnt ihr fragen, das Scheißgesetzbuch lesen, in der Bibel nachschauen. ›Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.‹ Die goldene Regel und so weiter. Aber hört mir gut zu: Sobald ihr auch nur ein bisschen zu viel Scheiße baut … steht ihr im Ring.«

Ein paar Männer brüllen vor Begeisterung auf, und der Governor nimmt dies als Anlass, die Flammen noch weiter anzufachen. »Von jetzt an: Wenn ihr jemanden ficken wollt – wenn ihr gegen die Regeln verstoßt, dann kämpft ihr!«

Immer mehr Menschen stimmen in das Gegröle ein, das sich jetzt bis zum Himmel erhebt.

»Wenn ihr von jemandem stehlt, dann kämpft ihr!«

Mehr Johlen, jetzt ein Chor redlichen Zorns.

»Wenn ihr die Alte vom Nachbarn fickt, dann kämpft ihr!«

Noch mehr Brüllen, die ganze Angst und Frustration kommt aus ihnen heraus.

»Ihr tötet jemanden? Ihr steht im Ring!«

Das Jubeln schlägt um, und wütende Rufe hallen jetzt durch die Luft.

»Wenn ihr euch irgendwie Ärger mit jemandem einhandelt – insbesondere, wenn jemand dabei umkommt –, dann kämpft ihr in der Arena. Vor Gott. Bis zum Tod.«

Die Schreie legen sich und machen einer Mischung aus Beifall und Brüllen Platz. Der Governor wartet, bis auch diese Welle der Begeisterung abebbt.

»Es fängt heute Abend an«, verkündet er, kaum lauter als ein Flüstern, so dass das Megafon knackst. »Es fängt mit diesem Verrückten an, dem Typen, der das Lebensmittellager unter sich hatte – Sam der Metzger. Er glaubt, er ist Richter, Geschworene und Henker in einem.«

Plötzlich deutet der Governor zur Arena und ruft dann mit einer Organ, auf das ein Massenprediger stolz gewesen wäre: »Wer möchte Vergeltung sehen? WER WILL RECHT UND ORDNUNG?«

Die Menge flippt aus.

Lilly blickt auf und sieht, wie plötzlich an die vierzig Menschen sich vom Marktplatz wegbewegen. Die Menge zieht laut durch die Straßen – wie eine gigantische menschliche Amöbe, die Fäuste gen Himmel gestreckt, grölend und jaulend. Sie wälzt sich in Richtung der Arena, die im Halbschatten des grellen, silbernen Lichts in zweihundert Metern Entfernung im Westen liegt. Lilly wird schon beim Anblick der Meute schlecht.

Sie wendet den Kopf ab und stammelt: »Bob, du … du kannst dich jetzt um die Leiche kümmern.«

Er steht noch immer neben ihr, beugt sich zu ihr hinab und legt die Hand sanft auf ihre Schulter. »Bei uns ist er gut aufgehoben, Kleines.«

Lilly starrt ins Nichts. »Sag Stevens Bescheid, dass ich mich um die Beerdigung kümmere.«

»Wird gemacht.«

»Wir bringen ihn morgen unter die Erde.«

»Hört sich gut an, meine Liebe.«

Lilly richtet den Blick wieder auf den Mob, der sich jetzt in die Arena drängt. Einen fürchterlichen Augenblick lang kommen ihr Szenen aus alten Horrorfilmen in den Sinn, in denen wütende Bürger mit Fackeln und Heugabeln Frankensteins Schloss stürmen, um das Monster zu lynchen.

Sie zuckt zusammen. Ihr wird klar, dass sie alle zu Monstern geworden sind – jeder Einzelne – inklusive Lilly und Bob. Genauso wie ganz Woodbury.

Dreizehn

Bob Stookey erliegt seiner Neugier. Nachdem er Lilly zurück in ihre Wohnung über der Chemischen Reinigung gebracht und ihr zehn Milliliter Schlafmittel gespritzt hat, schaut er bei Stevens vorbei. Sie schaffen Joshs Leichnam an seinen vorübergehenden Aufbewahrungsort in der behelfsmäßigen Leichenhalle unter der Arena. Danach schleppt Bob sich zurück zu seinem Camper, schnappt sich eine neue Flasche Whiskey und kehrt zur Arena zurück.

Als er am südlichen Eingang ankommt, schwellen die Rufe und das Getöse der Menge an und ab wie Wellen, die am Ufer brechen. Der Lärm wird durch die metallenen Streben und das Dach nur noch verstärkt. Bob kriecht durch den dunklen, feuchten Tunnel in Richtung Licht. Kurz bevor er ins Freie kommt, hält er inne, holt die Whiskeyflasche hervor und nimmt einen tiefen Schluck, um seine Nerven zu beruhigen. Der Whiskey brennt im Rachen, und seine Augen werden ganz wässrig.

Dann tritt er in die Arena.

Zuerst kann er nichts richtig erkennen, alles ist unscharf. In der Mitte sieht er verschwommene Gestalten hinter einem hohen Zaun, der sie von den Zuschauern trennt. Die Ränge zu seiner Linken und Rechten sind so gut wie leer. Die meisten Leute sitzen ganz oben, klatschen, johlen und strecken die Hälse, um so viel wie möglich von dem Geschehen mitzukriegen. Das grelle Flutlicht brennt in Bobs Augen, und er muss blinzeln. Die Luft riecht nach verbranntem Gummi und Benzin, und Bob schielt in Richtung Rennstrecke, um zu sehen, was los ist.

Er geht zum Zaun und lugt durch den Maschendraht.

In der Mitte stehen sich zwei große Männer gegenüber. Sam der Metzger, halb nackt in seiner mit Blut bespritzten Sporthose – mit Hühnerbrust und über den Gürtel hängender Wampe. Er holt mit einem extra präparierten hölzernen Stock aus und versucht, seinen Gegner damit zu treffen. Stinson, die große, teigige Wache mittleren Alters, trägt eine Tarnhose, die von verschiedensten Körperflüssigkeiten ganz dunkel geworden ist. Er stolpert, weicht aber dem Prügel aus. In seiner schmierigen Hand hält er eine fünfzig Zentimeter lange Machete. Jetzt erwischt der Metzger Stinsons Gesicht mit dem Stock, in dessen einer Seite ein Haufen rostiger Nägel steckt, verpasst ihm damit tiefe Fleischwunden.

Stinson fällt hintenüber, und tiefdunkles Blut und rosafarbener Speichel fliegen durch die Luft.

Die Menge brüllt empört, als Stinson über die eigenen Beine stolpert. Staub fliegt in die Lichtkegel der Flutlichter auf, als er auf dem Boden aufkommt. Die Machete gleitet ihm aus den Fingern, landet unerreichbar im Sand. Der Metzger stürzt sich mit seiner Keule auf ihn. Nägel brechen durch Stinsons Haut, Hals, Halsschlagader und linke Brust, ehe er es schafft, beiseite zu rollen. Die Menge tobt.

Bob wendet sich ab. Er fühlt sich nicht gut, ihm ist schlecht und schwindlig. Also nimmt er einen weiteren riesigen Schluck Whiskey. Der Alkohol lindert sein Entsetzen, das Brennen in der Kehle lenkt ihn ab. Dann setzt er erneut an. Und noch einmal. Endlich hat er genug, fasst genügend Mut, um sich das Gemetzel in der Mitte wieder anzuschauen. Der Metzger drischt auf Stinson ein, dass das Blut spritzt – so schwarz wie Teer im Flutlicht – und das braune Gras in der Arena wird immer dunkler.

Auf der breiten Sandbahn, die den Zaun umgibt, stehen an jedem Ausgang bewaffnete Wachen, die dem Abschlachten eifrig zuschauen. Sie tragen ihre Maschinengewehre stets schussbereit an den Hüften. Bob nimmt einen weiteren Schluck und wendet sich von dem grässlichen Schauspiel ab, konzentriert sich stattdessen auf die oberen Ränge. Die riesige Leinwand bleibt dunkel. Sie wird nicht mit Strom versorgt, funktioniert wahrscheinlich auch gar nicht mehr. Die Glasscheiben der VIP-Boxen sind alle dunkel, die Boxen leer. Alle bis auf eine.

Der Governor und Martinez stehen in der mittleren Box und schauen sich das Spektakel mit undurchdringlicher Miene an.

Bob setzt erneut an, trinkt, bis er die halbe Flasche intus hat. Er weiß, dass er keinen in der Menge direkt anblicken will. Also mustert er die Gesichter der Bewohner Woodburys im Augenwinkel. Alle sind da, alt und jung, Mann und Weib, und jeder Einzelne ist von dem blutigen Gemetzel in den Bann gezogen. Viele von ihnen machen Fratzen, spiegeln die Manie wieder, die hier herrscht. Einige Schaulustige sind aufgestanden und wirbeln mit den Händen in der Luft herum, als ob sie zu Jesus gefunden hätten.

In der Mitte verpasst der Metzger Stinson einen letzten Hieb in die Nieren. Blut quillt, sprudelt hervor, und Stinson beginnt zu zucken, ist dem Todeskampf nahe. Keuchend, vor psychotischer Freude sabbernd, hebt der Metzger die Keule und wendet sich der Menge zu, welche mit begeisterten Rufen und Brüllen antwortet.

Angeekelt, benommen und beinahe taub vor Entsetzen nimmt Bob Stookey noch einen Schluck Whiskey und senkt dann den Kopf zu Boden.

»ICH GLAUBE, WIR HABEN EINEN SIEGER!«

Die Stimme schallt durch das Stadion, wird von schrillem Feedback und elektronischem Knacken begleitet. Bob schaut zum Governor hoch, der sich jetzt hingesetzt hat und in ein Mikrofon spricht. Selbst aus dieser großen Entfernung kann Bob die bösartige Befriedigung des Mannes sehen, die in dessen Augen leuchtet. Bob wendet sich wieder ab.

»ABER NEIN! FREUEN WIR UNS NICHT ZU FRÜH! MEINE DAMEN UND HERREN, ICH GLAUBE, WIR ERLEBEN GERADE EIN COMEBACK!«

Bob hebt erneut den Kopf.

In der Mitte hat sich der große, teigige Mann, der gerade noch leblos auf dem Boden lag, wieder erhoben. Er torkelt zur Machete, ergreift sie mit seiner blutigen Hand und wackelt unstet auf den Metzger zu, der ihm den Rücken zugedreht hat. Stinson stürzt sich mit jedem ihm verbleibenden Quäntchen Kraft auf seinen Kontrahenten. Der Metzger dreht sich um und versucht, sein Gesicht zu schützen, als die Machete auf ihn zuschnellt.

Die Klinge bohrt sich tief in den Hals – so tief, dass sie stecken bleibt.

Der Metzger kommt ins Wanken, fällt auf den Rücken. Die Machete steckt noch immer in seinem Hals. Stinson wirft sich voller Wut auf ihn, der Blutverlust lässt ihn wie betrunken durch die Gegend taumeln, beinahe so wie ein Zombie. Die Menge grölt vor Aufregung. Stinson zieht die Machete aus Sams Hals, um erneut auszuholen, diesmal gezielt und mit aller Kraft, und die Wucht seines Hiebs durchtrennt den Hals zwischen dem fünften und sechsten Halswirbel. Oder sonst wo, egal.

Das Publikum kann kaum noch an sich halten, als der herrenlose Kopf des Metzgers über den Rasen rollt.

Bob wendet sich ab. Er fällt auf die Knie, hält sich mit einer Hand am Zaun fest. Sein Magen verkrampft sich, und er übergibt sich auf dem Betonboden. Die Flasche gleitet ihm aus den Händen, zerbricht aber nicht. Bob kotzt seinen gesamten Mageninhalt aus. Er würgt und würgt, und immer wieder kommt etwas aus seinem Mund. Der Lärm der Menschenmenge tritt in den Hintergrund. Er kann nichts mehr erkennen vor lauter Tränen in den Augen. Er kotzt und kotzt, bis nur noch Gallensaft übrig bleibt, der ihm in langen Fäden aus dem Mund hängt. Er fällt mit dem Rücken zuerst gegen eine Bande, tastet nach der Flasche, findet sie und leert den Rest des Inhalts.

Dann ertönt erneut die Stimme: »UND DAS, LEUTE, IST, WAS WIR GERECHTIGKEIT NENNEN!«

In diesem Augenblick sind die Straßen von Woodbury wie ausgestorben. Man könnte denken, dass man in einem x-beliebigen Kaff irgendwo in Georgia gelandet ist. Als ob die Plage hier ebenfalls alles Leben ausgerottet hätte.

Auf den ersten Blick scheint jeder einzelne Bewohner wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Aber das ist nicht der Fall – sie sind noch alle in der Arena, in den Bann des Kampfes gezogen. Selbst der Bürgersteig vor dem Lebensmittellager ist bereits wieder aufgeräumt. Sämtliche Anzeichen des Mordes wurden von Stevens und seinen Leuten beseitigt, und Josh liegt ja längst in der Leichenhalle.

Lilly Caul spaziert in der Dunkelheit umher, hört die von dem Wind an ihre Ohren getragenen Schreie der Menschen. Sie trägt ihr Fleece, die kaputten Jeans und ihre abgewetzten Basketballschuhe. Sie kann nicht schlafen, kann nicht denken, kann nicht mit dem Weinen aufhören. Sie kriegt eine Gänsehaut von dem Lärm aus der Arena, als ob Scharen von Insekten ihr über den Körper krabbeln. Das Schlafmittel, das Bob ihr gespritzt hat, scheint nicht zu wirken, dient lediglich dazu, den Schmerz zu dämpfen. Es kommt ihr beinahe so vor, als ob ihre Gedanken in Verbandsmull eingewickelt sind. Sie zittert vor Kälte und hält vor der mit Brettern verschlagenen Drogerie inne.

»Es geht mich ja nichts an«, ertönt eine Stimme aus den Schatten. »Aber eine junge Frau wie Sie sollte um diese Zeit nicht allein durch die Straßen wandern.«

Lilly dreht sich um, sieht den Schimmer einer metallenen Brille. Sie seufzt, wischt sich die Augen und blickt zu Boden. »Das ist mir jetzt auch egal.«

Dr. Stevens tritt in das flackernde Fackellicht, die Hände in den Taschen seines Arztkittels, der bis zum Kragen zugeknöpft und von einem Schal gekrönt ist. »Wie geht es Ihnen, Lilly?«

Sie blickt ihn durch Tränen an. »Wie es mir geht? Na, wunderbar.«

Sie versucht zu atmen, aber es ist, als ob ihre Lungen voller Sand sind. »Nächste dumme Frage.«

»Sie sollten sich ausruhen.« Er geht zu ihr, untersucht ihre Verletzungen. »Sie stehen noch immer unter Schock, Lilly. Sie müssen schlafen.«

Sie bringt ein müdes Lächeln zustande. »Ich werde schon genug schlafen, wenn ich tot bin.« Sie zuckt zusammen, starrt erneut zu Boden. Die Tränen brennen in ihren Augen. »Das Merkwürdigste ist, dass ich ihn kaum gekannt habe.«

»Er scheint ein guter Mann gewesen zu sein.«

Sie schaut ihn an. »Aber, ist so etwas denn überhaupt noch möglich?«

»Was denn?«

»Gut zu sein.«

Der Arzt seufzt: »Wahrscheinlich nicht.«

Lilly schluckt und konzentriert sich wieder auf den Boden zu ihren Füßen. »Ich muss hier weg.« Sie spürt, wie sich das Schluchzen erneut in ihr aufbaut. »Ich werde damit einfach nicht mehr fertig.«

»Willkommen im Club.«

Eine unbehagliche Stille.

Lilly reibt sich die Augen, fragt dann: »Wie schaffen Sie es denn?«

»Wie schaffe ich was?«

»Hierzubleiben … Diese ganze Misere über sich ergehen zu lassen. Sie machen den Eindruck, als ob Sie noch einigermaßen normal sind.«

Der Arzt zuckt die Schultern. »Manchmal trügt der Schein. Aber wie auch immer … Ich bleibe aus dem gleichen Grund wie die anderen auch.«

»Und der soll sein?«

»Angst.«

Lilly zählt die Pflastersteine, sagt kein Wort. Was gibt es auch zu sagen? Die Fackeln von der anderen Straßenseite nähern sich dem Ende, die Dochte sind aufgebraucht. Die Schatten vertiefen sich zwischen den Gebäuden. Lilly kämpft gegen einen Schwindelanfall an, der droht, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie will nie wieder schlafen, nie wieder.

»Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie kommen«, gibt der Arzt zu bedenken und nickt in Richtung Arena. »Sobald sie genug von der kleinen Horrorshow haben, die Blake für sie aufgetischt hat.«

Lilly schüttelt mit dem Kopf. »Das hier ist ein Irrenhaus, und der Typ, dieser Governor, ist der Krankeste von allen.«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Lilly«, fährt Stevens fort und deutet in die andere Richtung. »Warum machen wir nicht einen kleinen Spaziergang … Weg von der Menschenmenge.«

Sie atmet gequält aus, zuckt dann die Achseln und murmelt: »Wie auch immer …«

In jener Nacht laufen Dr. Stevens und Lilly über eine Stunde lang durch die kalte, erfrischende Luft, gehen mehrmals an der Barrikade im Osten der Stadt entlang, ehe sie den stillgelegten Schienen folgen, aber nur innerhalb der Sicherheitszone. Während sie spazieren und sich unterhalten, verliert sich die Meute, verschwindet in ihren Häusern und Wohnungen, die Blutlust ist vorerst gestillt. Der Arzt ist es, der die meiste Zeit erzählt in jener Nacht, stets mit gedämpfter Stimme, denn die Wachen mit ihren Maschinengewehren, Ferngläsern und Handsprechfunkgeräten sind überall entlang der Barrikade an strategischen Orten positioniert.

Sie halten ständigen Kontakt mit Martinez, der seine Männer extra darauf hingewiesen hat, insbesondere bei den Schwachstellen der Mauer und vor allem im Süden und im Westen Vorsicht walten zu lassen. Martinez macht sich Sorgen, dass der Lärm der Spiele mit den Gladiatoren die Zombies anlocken könnte.

Auf ihrem Spaziergang belehrt Stevens Lilly über die Gefahr, sich mit dem Governor anzulegen. Steven gibt ihr zu verstehen, dass sie ihr Mundwerk unter Kontrolle halten muss, und er benutzt Redewendungen und Analogien, die Lilly ganz schwindlig werden lassen – von Kaiser Augustus über diverse Beduinenherrscher aller Jahrhunderte und darüber, wie die widrigen Umstände in einer Wüste stets brutale Regime, Coups und blutige Aufstände hervorgebracht haben.

Schließlich kommt Stevens auf die grässlichen Tatsachen der Zombie-Plage zu sprechen und gibt zu bedenken, dass blutrünstige Anführer wohl ein notwendiges Übel in diesen Zeiten und somit überlebenswichtig sind.

»So will ich aber nicht leben«, erwidert Lilly, als sie langsam durch eine Allee kahler Bäume gehen. Der Wind weht ihnen einen leichten Schneeregen ins Gesicht, der die Haut in ihren Gesichter brennen lässt. Es sind nur noch zwölf Tage bis Weihnachten – aber das merkt hier niemand.

»Da hat man keine Wahl, Lilly«, murmelt der Arzt mit gesenktem Kopf. Er hat den Schal über das Kinn gezogen und starrt weiter auf den Boden.

»Man hat immer eine Wahl.«

»Glauben Sie das? Da wäre ich mir nicht so sicher, Lilly.« Sie gehen stillschweigend weiter. Der Arzt schüttelt den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Sie blickt ihn an. »Josh Hamilton ist nie zu einem schlechten Menschen geworden. Mein Vater hat sein Leben für mich geopfert.« Lilly holt tief Luft, versucht, gegen die Tränen anzukämpfen. »Das ist doch nur eine Ausrede. Man wird böse geboren. Die ganze Scheiße, die uns hier gerade um die Ohren fliegt … Das ist doch nur ein Auslöser, bringt das wahre Ich in jedem zum Vorschein.«

»Dann möge Gott uns helfen«, raunt der Arzt mehr zu sich selber als zu Lilly.

Am nächsten Tag wird Josh Lee Hamilton unter stahlgrauem Himmel von einer kleinen Gruppe Trauernder in einem behelfsmäßigen Sarg begraben. Lilly, Bob, Stevens, Alice und Megan sowie Calvin Deets, einer der Arbeiter, der sich während der letzten Wochen mit Josh angefreundet hat, sind anwesend.

Deets ist schon etwas älter, ein abgemagerter Kettenraucher, der deshalb schon an fortgeschrittener Lungenaufblähung leidet. Sein Gesicht gleicht einer alten Satteltasche, die man in der Sonne liegen gelassen hat. Ehrerbietig steht er in der hinteren Reihe hinter Joshs engeren Freunden. In den schwieligen Händen hält er seine Baseballmütze. Lilly ergreift das Wort.

»Josh ist in einem religiösem Umfeld, einer religiösen Familie aufgewachsen«, beginnt sie mit gebeugtem Haupt und kann vor Rührung kaum sprechen. Es ist, als ob sie mit dem gefrorenen Grund am Rande des Spielplatzes spricht, auf dem sie steht. »Er hat geglaubt, dass wir im Tod alle an einen besseren Ort kommen werden.«

Der Platz zeigt eine Reihe weiterer frischer Gräber auf. Einige sind mit handgearbeiteten Kreuzen oder sorgfältig aufgeschichteten, polierten Steinen versehen. Die Erde auf Joshs Grab ragt einen guten Meter über den Boden. Sie haben seinen Leichnam in die Überreste eines Pianos stecken müssen, das Deets in einem Lager gefunden hat. Es war der einzige Container, der groß genug für den toten Giganten war, und Bob und Deets haben viele Stunden damit verbracht, das Loch in den gefrorenen Boden zu graben.

»Hoffen wir also, dass es Josh gut geht, denn …« Lillys Stimme will nicht mehr. Sie kriegt keinen Ton mehr heraus. Sie schließt die Augen, und Tränen kullern ihr die Wangen hinab. Bob geht auf sie zu, legt einen Arm um sie. Lilly schluchzt, erbebt am ganzen Körper. Sie kann nicht weitermachen.

Bob ergreift das Wort: »Im Namen des Vaters … des Sohnes … und des Heiligen Geistes. Amen.« Die anderen wiederholen die letzten Worte. Niemand macht Anstalten, das Grab verlassen zu wollen. Der Wind fegt über den Spielplatz und weht feinen, trockenen Schnee über den Boden und in ihre Gesichter.

Bob versucht, Lilly behutsam vom Grab zu drängen. »Los, Kleines … Ab in die Wärme mit dir.«

Lilly wehrt sich kaum, schlurft neben Bob her, als die anderen sich still mit gesenkten Köpfen und niedergeschlagenen Mienen abwenden. Einen Moment lang hat es den Anschein, als ob Megan hinter Lilly her eilen, ihr vielleicht ein paar tröstende Worte sagen will. Sie trägt eine abgewetzte Lederjacke, die ihr wohl irgendein Freier im drogengeschwängerten Liebesrausch überlassen hat. Aber Megan mit ihren Korkenzieherlocken und grünen Augen seufzt nur gequält und hält Abstand.

Stevens nickt Alice zu; die beiden biegen in die Seitenstraße in Richtung Arena ein, und jeder schlägt den Kragen gegen den Wind nach oben. Sie haben den halben Weg hinter sich gebracht, weit genug, um von den anderen nicht mehr gehört zu werden, als Alice Stevens fragt: »Haben Sie es auch gerochen?«

Er nickt. »Jawohl … Der Wind … Es kommt von Norden her.«

Alice seufzt und schüttelt den Kopf. »Ich wusste doch, dass diese Idioten eine ganze Horde mit ihrem Lärm anlocken würden. Sollten wir jemandem Bescheid geben?«

»Martinez weiß es schon.« Der Arzt deutet auf den Wachturm hinter ihnen. »Die rasseln schon mit den Säbeln. Möge Gott uns helfen.«

Alice stößt erneut einen Seufzer aus. »Wir werden in den nächsten Tagen wohl einiges zu tun haben, nicht wahr?«

»Die Wache, Stinson, hat gestern Abend unsere halben Blutreserven aufgebraucht. Wir brauchen neue Spender.«

»Sie können mich nehmen«, bietet Alice an.

»Wirklich sehr nett, aber wir haben genug A positiv, um die Wände damit zu streichen. Und wenn ich tatsächlich noch mehr von dir abzapfe, dann kannst du dich gleich neben den Riesen da legen.«

»Was brauchen wir dann? 0 positiv?«

Der Arzt zuckt die Achseln. »Das ist, wie wenn man eine Stecknadel in einem Heuhaufen sucht.«

»Ich habe Lilly noch nicht gecheckt – und den anderen Jungen auch noch nicht. Wie hieß er noch mal?«

»Scott? Der Junkie?«

»Genau.«

Der Arzt schüttelt den Kopf. »Der hat sich die letzten Tage überhaupt nicht mehr blicken lassen.«

»Ach, das wird schon.«

Der Arzt schüttelt noch immer den Kopf, die Hände tief in die Taschen gesteckt, während er forschen Schrittes auf die Arena zuläuft. »Ja, ja … Man kann nie wissen.«

Lilly, zurück in ihrer kleinen Wohnung im ersten Stock über der mit Brettern verschlagenen Chemischen Reinigung, fühlt sich wie betäubt. Sie ist Bob dankbar, dass er noch ein Weilchen bei ihr geblieben ist. Er kocht ihr Abendessen – zwar genau das, was er immer macht, nämlich getrocknetes Rindfleischgulasch mit Gewürzen aus der Tüte –, und sie teilen sich genug von Bobs Single-Malt-Scotch gemischt mit Schlafmittel, dass Lillys Gedanken nicht mehr ganz so unablässig mit ihr durchgehen.

Die Geräusche von draußen werden jetzt immer leiser, scheinen sich weiter zu entfernen. Bob aber ist noch immer sehr nervös, als er Lilly zu Bett bringt. Irgendetwas passiert da draußen auf der Straße, wahrscheinlich, nein, mit ziemlicher Sicherheit ist es nichts Gutes. Aber Lilly kann sich nicht mehr darauf konzentrieren, hört die Stimmen, den Aufruhr, die Schritte kaum.

Es kommt ihr vor, als ob sie in der Luft schwebte, und kaum hat sie den Kopf auf das Kissen gelegt, gleitet sie in einen Dämmerzustand. Die nackten Böden und mit Laken behangenen Fenster der Wohnung verschwinden hinter einer weißen Wand. Aber ehe sie in einen traumlosen Schlaf fällt, sieht sie Bobs wettergegerbtes Gesicht über ihr.

»Warum hauen wir nicht zusammen ab, Bob?«

Die Frage hängt für eine Weile im Raum. Dann zuckt er die Achseln und antwortet: »Hab mir noch keine Gedanken darüber gemacht.«

»Hier gibt es nichts mehr für uns.«

Er wendet den Blick ab. »Der Governor meint, dass sich bald alles zum Besseren wenden wird.«

»Was läuft eigentlich zwischen euch beiden?«

»Was soll das denn?«

»Er hat dich in der Hand, Bob.«

»Stimmt doch gar nicht.«

»Ich verstehe es einfach nicht.« Lilly dämmert vor sich hin. Sie kann den alten Mann auf der Bettkante kaum noch ausmachen. »Der bringt einem nur Scherereien, Bob.«

»Er versucht doch nur …«

Lilly kriegt das Klopfen an der Tür kaum mit. Sie versucht, die Augen offen zu halten. Bob geht hin, und Lilly bemüht sich, lange genug wach zu bleiben, um zu sehen, wer sie besucht. »Bob? … Wer ist es denn …?«

Schritte. Dann erscheinen zwei Gestalten über ihrem Bett, wie Geister. Sie tut ihr Bestes, um sie auszumachen, aber ihre Augenlider sind so schwer.

Bob steht neben einem ausgemergelten, dunkeläugigen Mann mit kohlschwarzen Haaren und einem penibel geschnittenen Fu-Manchu-Schnurrbart. Er lächelt, als Lilly die Augen zumacht.

»Schlaf gut«, wünscht ihr der Governor. »Du hast einen langen Tag gehabt.«

Die Verhaltensmuster der Zombies hören nicht auf, die Grübler und Denker von Woodbury zu faszinieren. Einige glauben, dass sich die Untoten wie Bienen in einem Bienenstock verhalten und von etwas viel Komplexerem als bloßem Hunger angetrieben werden. Es gibt Theorien, die behaupten, dass sie sogar von unsichtbaren, pheromonähnlichen Signalen gesteuert werden und ihr Verhalten der chemischen Substanz ihrer Beute anpassen. Andere wiederum sind der Meinung, dass es nichts mit bloßen Sinnesorganen wie den Augen oder der Nase zu tun hat, sondern dass es viel tiefer geht und sie ihr Verlangen überhaupt nicht steuern können. Keine einzelne Mutmaßung hat sich bisher als besser als die anderen erwiesen, aber die meisten Bewohner Woodburys sind sich einer Sache sicher, was das Verhalten der Untoten angeht: Man sollte vor jeder Herde – ganz gleich wie groß – Angst haben und muss sie mit der größtmöglichen Vorsicht behandeln. Sie versammeln sich wie aus dem Nichts und haben fatale Auswirkungen. Eine Herde, selbst eine kleine, wie die paar Zombies, die sich jetzt etwas nördlich von Woodbury versammeln und von dem Geschrei und Getöse gestern Abend in der Arena angelockt wurden, kann einen Truck umwerfen, Zaunpfosten wie Streichhölzer zerknicken oder selbst die höchsten Mauern zum Einsturz bringen.

Die letzten vierundzwanzig Stunden hat Martinez damit verbracht, seine Truppen zusammenzutrommeln und sich auf den bevorstehenden Angriff vorzubereiten. Wachen auf den nordöstlichen und -westlichen Wachtürmen haben die Zombies keine Minute aus den Augen gelassen, die sich erst circa eineinhalb Kilometer vor Woodbury zu einer Herde zusammengefügt haben. Weiterhin haben sie berichtet, dass aus den anfangs noch circa zehn Zombies mittlerweile fünfzig geworden sind, und dass sie im Zickzack durch die Bäume entlang der Jones Mill Road taumeln und dabei etwa zweihundert Meter die Stunde zurücklegen. Und es werden immer mehr. Sie konnten auch beobachten, dass eine Herde immer langsamer als ein einzelner Untoter ist. Diese Herde hier hat fünfzehn Stunden gebraucht, um sich bis auf vierhundert Meter zu nähern.

Jetzt stolpern die Ersten aus dem Wald hervor, trauen sich auf die brach daliegenden Felder, die den Wald von Woodbury trennen. Im diesigen Licht der Abenddämmerung gleichen sie kaputten Puppen, erinnern an mechanische Spielsoldaten zum Aufziehen, die ständig übereinanderpurzeln. Ihre schwarzen Mäuler öffnen und schließen sich wie Augenlider. Selbst aus dieser Entfernung wird das entfernte Mondlicht von ihren milchig-weißen Augen geisterhaft reflektiert.

Martinez hat dank des geplünderten National-Guard-Lagers drei Browning .50-Kaliber-Maschinengewehre zu seiner Verfügung, die er an strategisch günstigen Punkten entlang der Barrikade aufgestellt hat. Eine befindet sich auf der Motorhaube eines Baggers am westlichen Ende, die andere auf einer hydraulischen Arbeitsbühne im Osten. Die dritte wartet auf dem Dach eines Sattelschleppers neben der Baustelle auf die Zombies. Alle drei Maschinengewehre sind bemannt mit Schützen und verbunden über Sprechfunk.

Schier unendlich lange, glitzernde Patronengurte mit Munition, die Stahl durchschlagen könnte, hängen von jeder Waffe weg. Daneben stehen Stahlboxen mit weiteren Munitionsvorräten.

Weitere Wachen haben sich bereits entlang der Mauer aufgestellt – auf Leitern und in Bulldozerschaufeln. Ausgerüstet mit MGs oder Scharfschützengewehren Kaliber 7.62, die Metallbleche oder Trockenbauplatten durchschlagen wie Butter. Diese Männer haben keine Headsets, achten aber auf jedes Handzeichen von Martinez, der auf einem Kran in der Mitte des Parkplatzes mit einer Sprechfunkanlage sitzt. Zwei riesige Bühnenlampen, früher mal im örtlichen Theater, sind an den Generator angeschlossen, der im Schatten der Ladebühnen der Post vor sich hin rattert.

Eine Stimme ertönt in Martinez’ Ohr. »Martinez, bitte melden.«

Martinez drückt auf den Knopf. »Alles klar, Chef. Wir sind bereit.«

»Bob und ich sind jetzt auf dem Weg zu euch, wollen noch ein wenig Frischfleisch abholen.«

Martinez runzelt seine mit einem Kopftuch bedeckte Stirn. »Frischfleisch?«

Der Governor ignoriert die Nachfrage. »Wie lange haben wir, ehe der Spaß beginnt?«

Martinez wirft einen Blick zum Horizont. Die Zombies sind noch knappe dreihundert Meter entfernt. Er drückt erneut auf den Sprechknopf. »Wird wohl noch eine Stunde oder so dauern, bis sie nahe genug sind, um ihnen die Köpfe wegzuballern. Vielleicht ein bisschen weniger.«

»Gut«, antwortet die Stimme. »Wir sind in fünf Minuten da.«

Bob folgt dem Governor die Hauptstraße entlang in Richtung der Wagenburg, die in einem Kreis vor dem ausgeplünderten Menards Hobby & Garten Center steht. Der Governor geht schnellen Schrittes durch die eisige Winterluft. Er scheint richtiggehend beflügelt. »In Zeiten wie diesen«, meint der Governor zu Bob, »mit dem ganzen Scheiß, der abgeht, kann man beinahe denken, man wäre zurück in Afghanistan. Meinst du nicht, Bob?«

»Da hast du recht. Ich muss zugeben, dass es mir manchmal beinahe so vorkommt. Ich kann mich noch erinnern, als ich zur Front fahren musste. Ich sollte ein paar Marines abholen, die gerade von der Wachablösung kamen. Es war mitten in der Nacht, kalt genug, dass einem ums Schamhaar die Eier abgefroren sind. Genau wie jetzt. Plötzlich heulten die Sirenen auf, Luftangriff. Alle sprangen aus ihren Löchern hervor, bereit zu kämpfen. Habe den Jeep in einen verfickten Graben gefahren. Dachte schon, ich wäre in Sicherheit, aber was finde ich? Afghanische Huren, die unseren Soldaten gerade die Schwänze blasen!«

»Mach keinen Scheiß!«

»So wahr ich hier stehe.« Bob schüttelt missmutig den Kopf, während er neben dem Governor herstapft. »Mitten während eines Luftangriffs. Also sage ich ihnen, dass sie es sein lassen und lieber mit mir mitfahren sollen, sonst lasse ich sie zurück. Eine der Huren steigt mit ein, und ich kann es kaum glauben. Ich meine, was soll das? Aber egal, ich wollte einfach nur weg.«

»Durchaus verständlich.«

»Ich fahre los, und die beiden treiben es noch immer auf der Rückbank. Aber du wirst nie raten, was dann passiert ist.«

»Spann mich nicht auf die Folter, Bob«, entgegnet der Governor und grinst ihn an.

»Plötzlich höre ich einen enormen Knall von hinten. Erst dann fällt der Groschen … Die Schlampe war eine Rebellin und hat sich selbst in die Luft gesprengt.« Bob schüttelt erneut den Kopf. »Gott sei Dank hatte ich eine gepanzerte Wand hinter mir, sonst wäre ich jetzt nicht mehr hier. Der Jeep sah vielleicht aus … Einer unserer Jungs hat ein Bein verloren.«

»Unglaublich!« Der Governor staunt, als sie zum Kreis der Sattelschlepper kommen. Mittlerweile ist es stockduster, und der Governor richtet den Schein seiner Taschenlampe auf eine LKW-Plane von einer Fleischfirma – ein Schwein schielt sie glücklich durch die Dunkelheit an. »Warte mal eine Sekunde, Bob.« Der Governor schlägt mit den Fäusten gegen die Plane. »Travis? Du da? Hey! Ist irgendjemand zu Hause?«

Plötzlich öffnet sich ein Spalt in der hinteren Klappe, und eine Wolke Zigarrenrauch entweicht in die frische Luft. Ein dicklicher schwarzer Mann steckt den Kopf hinaus. »Hey, Boss … Was gibt es?«

»Fahr einen leeren LKW zur nördlichen Mauer, und zwar sofort. Wir treffen uns da, und ich sag dir, was es sonst noch zu tun gibt. Verstanden?«

»Klar doch, Boss.«

Der schwarze Mann hüpft aus dem Anhänger und verschwindet hinter dem Truck. Der Governor holt tief Luft und führt Bob dann um den Kreis Sattelschlepper in eine Seitenstraße, die gen Norden zur Barrikade führt. »Schon ganz schön verrückt, was ein Mann nicht alles für ein bisschen Sex tut«, wundert sich der Governor.

»Kann man wohl sagen!«

»Diese beiden Mädchen, die bei dir waren, als du gekommen bist, Bob. Wie heißen sie? Lilly und …?«

»Megan?«

»Genau, die. Die Kleine lässt es ganz schön krachen, was? Die ist heiß. Hab ich recht?«

Bob wischt sich den Mund. »Jep, ist eine ganz Süße.«

»Und flirtet, was das Zeug hält … Aber was soll’s? Ich will sie nicht verurteilen.« Ein laszives Grinsen macht sich in seinem Gesicht breit. »Wir alle tun, was wir tun müssen, um zu überleben. Hab ich nicht recht, Bob?«

»Schon.« Bob sagt eine Weile lang nichts, fährt dann aber fort: »Nur zwischen uns beiden … die Kleine gefällt mir.«

Der Governor blickt den alten Mann mit einer Mischung aus Überraschung und Mitleid an. »Diese Megan? Na und, Bob? Deswegen muss man sich doch nicht schämen.«

Bob blickt zu Boden. »Würde so gerne eine Nacht mit ihr verbringen, nur eine Nacht.« Dann noch einmal, leiser: »Nur eine Nacht.« Dann wendet er sich an den Governor. »Aber was zum Teufel, ich weiß, dass es für immer ein Traum bleiben wird.«

Philip neigt den Kopf, schaut dem alten Mann in die Augen. »Vielleicht aber auch nicht, Bob … Vielleicht aber auch nicht.«

Ehe Bob antworten kann, ertönt eine Reihe lauter Schüsse. Die gewaltigen Lichtkegel der Bühnenlampen schneiden plötzlich durch die dunkle Nacht zur Linken und Rechten der Barrikade. Die silbernen Strahlen fahren über die angrenzenden Felder und den Waldrand, so dass Martinez und die Wachen die immer näher kommende Herde von Zombies sehen können.

Der Governor führt Bob durch das Postgelände zum Parkplatz mit dem Kran, auf dem Martinez sitzt und gerade den Befehl geben will zu feuern.

»Noch nicht, Martinez!« Die laut gellende Stimme des Governors zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.

Martinez blickt nervös zu den beiden hinab. »Sicher, Chef?«

Hinter dem Governor erscheint plötzlich ein Sattelschlepper-Anhänger, und das typische Piepen beim Rückwärtsfahren dringt an ihre Ohren. Bob wagt einen Blick über die Schulter und sieht einen Neunachser, der sich langsam dem nördlichen Tor nähert. Aus dem senkrecht in die Luft ragenden Auspuff erscheinen schwarze Abgase, und Travis lehnt sich aus dem Fahrerfenster. Er kaut auf seiner Zigarre und kämpft mit dem Lenkrad.

»Gib mir mal dein Walkie-Talkie!«, fordert der Governor Martinez auf, der gerade die metallene Leiter des Krans heruntergeklettert kommt, die zur Führerkabine führt. Bob wartet in respektvoller Entfernung hinter dem Governor und schaut dem Geschehen zu. Irgendetwas an diesem merkwürdigen Treiben behagt dem alten Mann nicht.

Draußen haben sich die hin und her stolpernden Zombies bis auf zweihundert Meter genähert.

Martinez hält auf der letzten Stufe inne und reicht dem Governor die Sprechfunkanlage. Der Governor drückt auf den Knopf und ruft: »Stevens! Kannst du mich hören? Hast du überhaupt dein Radio an?«

Nach etwas elektrischem Knistern ertönt die Stimme des Arztes: »Ja, ich höre Sie, und ich möchte nicht, dass Sie …«

»Halt mal kurz die Klappe und hör zu. Ich will, dass du den fetten Wachmann, Stinson, zur nördlichen Mauer bringst.«

Die Stimme kommt unklar rüber: »Stinson muss sich noch erholen. Der Mann hat in eurem kleinen Spiel eine Menge Blut verloren, und …«

»Ich will mich nicht mit dir streiten, Stevens … TU EINFACH, WAS ICH DIR SAGE, UND ZWAR JETZT!«

Der Governor schaltet das Walkie-Talkie wieder aus und wirft es Martinez zu.

»Öffnet das Tor!«, ruft der Governor zwei Arbeitern zu, die mit Äxten in der Nähe stehen und unentschlossen dreinblicken.

Die beiden blicken einander an.

»Ihr habt mich gehört!«, brüllt der Governor. »Öffnet das verdammte Tor!«

Die Arbeiter tun, wie ihnen geheißen, und öffnen den Bolzen. Das Tor schwingt auf und lässt eine Brise kalter, nach Verwesung stinkender Luft herein.

»Also, meiner Meinung nach ist das ganz schön riskant, was wir hier machen«, murmelt Martinez in seinen Bart und lädt sein Maschinengewehr.

Der Governor ignoriert ihn und brüllt: »Travis! Nimm deine Position ein!«

Der Motor heult auf, und der Truck ruckelt rückwärts in die Öffnung.

»Rampe runter!«

Bob schaut zu, ist total verwirrt, als Travis stöhnend aus der Fahrerkabine hüpft und um den Truck stiefelt. Er öffnet die Scharniere und lässt die Rampe herunter, bis sie auf dem Bürgersteig aufkommt.

Im Schein der Bühnenlampen kommen die Zombies immer näher, sind jetzt nur noch hundert Meter entfernt.

Bob hört schlurfende Schritte hinter sich und wirft einen Blick über die Schulter.

Aus den Schatten des Stadtzentrums, im flackernden Schein brennender Mülltonnen, erscheint Dr. Stevens mit dem Arm um den verwundeten Wachmann, der mit größter Mühe neben ihm her humpelt.

»Zieh dir das rein, Bob«, ruft der Governor ihm zu und blinzelt ihn über die Schulter an. Dann meint er: »Das ist tausendmal besser als Afghanistan oder der Nahe Osten!«

Vierzehn

Die Schreie aus dem leeren Anhänger werden immer lauter und lauter. Der metallene Boden und die Wände wirken wie ein Verstärker, der die Arie der Furcht und der Angst noch präsenter machten. Bob steht hinter dem Kran und fühlt sich dazu veranlasst, den Blick abzuwenden, während die verwesenden Leichen auf die Öffnung in der Barrikade zustolpern. Der Lärm und der Geruch der Angst scheint sie magisch anzuziehen. Bob braucht jetzt einen Drink, mehr als je zuvor. Er braucht viele Drinks. Er will den Alkohol förmlich einatmen, bis er blind ist.

Mindestens neunzig Prozent der Herde – sie kommen in allen Größen und Formen und in verschiedensten Stadien der Verwesung, ihre Mienen durch die Blutgier völlig verunstaltet – taumeln jetzt in Richtung Anhänger. Der erste Untote stolpert über die Rampe und klatscht mit dem Gesicht zuerst in einem feuchten Bums auf das Metall. Die anderen folgen ihm, drängen sich die leichte Steigung hinauf, während Stinson im Anhänger wie ein Ferkel kreischt. Der Verstand hat ihn schon lange verlassen.

Der dicke Wachmann ist mit Packband und Seil an die hintere Wand des Anhängers gebunden. Er macht sich in die Hose, als die ersten Untoten in den Anhänger schlurfen, um sich an ihm gütlich zu tun.

Draußen kontrollieren Martinez und seine Männer, dass die Zombies, die es nicht in den Anhänger schaffen – die meisten irren ziellos im Scheinwerferlicht umher – nicht in die sichere Zone kommen. Sie neigen die grauen Köpfe und starren mit ihren milchig-weißen Augen gen Himmel, als ob das Schreien von dort kommt. Es handelt sich lediglich um ein Dutzend Zombies, die kein Stück von Stinson abbekommen. Die Männer haben sie mit ihren .50er Kalibern im Visier und warten auf den Befehl, sie zu erledigen.

Der Anhänger füllt sich mit den Kreaturen, Laborratten des Governors, bis beinahe drei Dutzend der Untoten vor Stinson stehen. Das Festmahl beginnt, ungesehen vom Rest der Bewohner, und das Brüllen und Kreischen ebbt zu wässrigen, erstickenden Todesschreien ab, als auch der letzte Zombie die Rampe hinaufklettert und im fahrbaren Schlachthaus verschwindet. Die Geräusche, die jetzt aus dem Anhänger ertönen, wirken geradezu animalisch, als Stinson von den verfaulenden Zähnen und Fingernägeln der Untoten zu einem quakenden, quiekenden Stück Etwas reduziert wird.

Draußen in der kalten Dunkelheit spürt Bob, dass sich seine Seele wie eine Pupille zusammenzieht. Er braucht jetzt einen Drink, und zwar so sehr, dass sein Schädel zu zerplatzen droht. Er nimmt kaum die dröhnende Stimme des Governor wahr.

»Alles klar, Travis! Mach die Rampe hoch, jetzt! Schließ die Sackgesichter ein!«

Vorsichtig schleicht der Fahrer sich um den wackelnden Totenanhänger, ergreift das Seil, das von der oberen Klappe hängt, und gibt ihm einen raschen, schnellen Ruck. Die Klappe fällt mit einem rostigen Quietschen herab. Travis verriegelt rasch das Schloss und nimmt dann Abstand von dem Anhänger, als ob es sich um eine Zeitbombe handeln würde.

»Und jetzt zum Stadion damit, Travis! Ich bin auch gleich da!«

Der Governor dreht sich um und geht zu Martinez, der noch immer auf den ersten Stufen des Krans wartet. »Okay, jetzt könnt ihr euren Spaß haben«, meint er.

Martinez drückt auf den Sprechknopf. »Alles klar, Leute – dann kümmert euch mal um das, was übrig geblieben ist.«

Bob fährt vor Schreck zusammen, als der Lärm der schweren Geschütze und die Funken der .50-Kaliber-Einheiten die Nacht erschüttern. Das Mündungsfeuer hinterlässt in der Dunkelheit heiße, blitzende Strahlen, die kreuz und quer vor den Bühnenlichtern durch die Luft sausen und beim Aufprall schwarze, ölige Blutwolken verursachen. Bob wendet sich erneut ab. Er will gar nicht mit ansehen, wie die Zombies abgeknallt werden. Beim Governor jedoch ist das anders.

Er klettert den Kran bis zur Hälfte hinauf, damit er auch ja alles genau verfolgen kann.

Es dauert nicht lange, bis die panzerbrechende Munition auch den letzten Untoten vernichtet hat. Schädel explodieren, Gehirnmasse fliegt hoch in die nächtliche Luft, Zähne, Haare, Knorpelmasse und Knochen werden zerfetzt. Einige der Zombies bleiben noch eine Weile stehen, während sie im Kugelhagel mit erhobenen Armen einen makabren Totentanz im Schein der Bühnenlampen veranstalten. Bäuche platzen, und glitzerndes Gewebe schießt durch die erhellte Luft.

Die Salve hört genauso schnell wieder auf, wie sie angefangen hat. Die Stille dröhnt in Bobs Ohren.

Für einen Augenblick genießt der Governor das Nachspiel. Die fernen Echos der Schüsse verebben langsam im Wald. Die letzten noch stehenden Untoten sacken in elendigen Haufen blutiger Masse und toten Fleisches zusammen. Bei manchen kann man kaum noch erkennen, dass es sich hier einmal um menschliches Gewebe gehandelt hat. Aus anderen Überresten steigen dampfende Gase von den heißen Kugeln in die kalte Luft auf. Der Governor klettert die Leiter wieder hinunter.

Während der ehemalige Schweinetransport mit seiner Ladung untoter Kadaver den Gang einlegt, muss Bob sich konzentrieren, um nicht zu kotzen. Die grässlichen Geräusche, die aus dem Anhänger kamen, sind jetzt etwas leiser geworden, da Stinson mittlerweile zu einem ausgehöhlten Trog aus Fleisch und Knochen reduziert worden ist. Jetzt verschwindet das Klappern von Zähnen und Kiefern der sich den Bauch vollstopfenden Zombies, und der Truck rumpelt langsam in Richtung Stadion.

Der Governor gesellt sich zu Bob. »Sieht so aus, als ob du einen Schluck vertragen könntest.«

Bob schafft es nicht einmal, den Mund aufzumachen.

»Komm, auf geht’s.« Der Governor klopft dem alten Mann auf den Rücken. »Ich spendier dir ein Bier.«

Am nächsten Morgen schon ist der gesamte nördliche Bereich bereits wieder sauber gemacht, und jegliche Anzeichen des nächtlichen Massakers sind verschwunden. Die Leute gehen ihrem Alltag nach, als ob nie etwas passiert sei, und das soll auch für den Rest der Woche so bleiben.

Während der nächsten fünf Tage streunt der eine oder andere Zombie, angezogen vom allgemeinen Tumult, in die Reichweite der .50er Kaliber, aber ansonsten passiert nicht viel. Weihnachten kommt und geht, ohne dass viel Aufhebens drum gemacht wird. Die meisten Einwohner Woodburys haben sich abgewöhnt, auf den Kalender zu schauen, geschweige denn sich nach ihm zu richten.

Die wenigen Versuche, Weihnachten zu feiern, lassen die nackte, grausame Wahrheit nur noch schlimmer erscheinen. Martinez und seine Männer schmücken einen Baum im Foyer des Verwaltungsgebäudes und hängen Lametta an die Pagode auf dem Marktplatz, aber das war es auch schon. Der Governor benutzt die Stadionlautsprecher, um Woodbury mit Weihnachtsmusik zu beschallen, aber es geht eher auf die Nerven als alles andere. Das Wetter bleibt weiterhin einigermaßen mild – kaum Schnee, zumindest nicht erwähnenswert, und die Temperaturen fallen so gut wie nie unter null Grad.

Heiligabend geht Lilly endlich zu Dr. Stevens, um ihre Wunden vernünftig untersuchen zu lassen, und der Arzt erkundigt sich, ob sie nicht noch etwas bleiben möchte, damit sie zumindest privat ein wenig feiern können. Alice ist mit dabei, und sie öffnen Dosen mit Fleisch und süßen Kartoffeln – sie brechen sogar eine Kiste Cabernet an, die Stevens die ganze Zeit versteckt gehalten hat. Zusammen trinken sie auf die Vergangenheit, auf bessere Zeiten und auf Josh Lee Hamilton.

Lilly kann das Gefühl nicht abschütteln, dass der Arzt sie genau beobachtet, nach Anzeichen posttraumatischer Belastungsstörungen oder sonstiger mentaler Entgleisung sucht. Aber komischerweise ist Lilly noch nie fokussierter, verankerter in ihrem Leben gewesen. Sie weiß genau, was sie zu tun hat. Sie weiß, dass sie dieses Leben nicht mehr lange durchhält, und sie wartet einfach darauf, bis sich ihr eine Möglichkeit bietet, etwas zu ändern. Vielleicht ist es auf einer tieferen Ebene aber auch Lilly selbst, die alles analysiert.

Vielleicht sucht sie im Unterbewusstsein nach Verbündeten, Komplizen, Kollaborateuren.

Nach einer Weile gesellt Martinez sich zu ihnen, Stevens hat ihn auf einen Drink oder zwei eingeladen gehabt, und Lilly lernt, dass sie nicht die Einzige ist, die weg von hier will. Nach ein paar Cocktails beginnt Martinez zu reden, äußert die Befürchtung, dass der Governor sie eines Tages über die Klinge springen lassen wird. Sie streiten sich darüber, was wohl das geringere Übel ist: entweder den Wahnsinn des Governors über sich ergehen zu lassen oder raus in die große, weite Welt ohne Sicherheitsnetz zu ziehen. Aber sie kommen zu keinem Ergebnis, und der Wein fließt weiter ihre Kehlen hinab.

Der Abend beschert noch eine angetrunkene Einlage schief gesungener Weihnachtslieder, gefolgt von wehmütigen Erinnerungen an bessere Tage – was nur dazu dient, dass sie sich noch schlechter, noch depressiver fühlen, und je mehr sie trinken, desto schlimmer wird es. Lilly aber lernt während des gesamten Zechgelages sowohl belanglose als auch interessante Tatsachen über diese drei verlorenen Seelen. Zum einen weiß sie jetzt, dass Dr. Stevens der schlechteste Sänger der Welt ist, dass Alice auf Martinez steht, der es aber überhaupt nicht mitkriegt, weil er sich noch immer nach seiner Exfrau in Arkansas sehnt.

Das Wichtigste, was der Abend bringt, ist, dass die vier sich verstehen und trotz ihres gemeinsamen Elends eine Art Gemeinschaft gründen, was später von großem Nutzen sein könnte.

Am darauffolgenden Tag, nachdem sie es gerade noch so auf eine Bahre im Krankenhaus geschafft hat, zwingt Lilly Caul, sich mit dem ersten Tageslicht aufzustehen und hinauszugehen. Sie starrt auf die frühen, harschen Sonnenstrahlen. Es ist der erste Weihnachtstag, und der hellblaue Himmel scheint Lillys Gefühl, dass sie im Fegefeuer gefangen ist, nur noch zu vervielfachen. Ihr Schädel will mit jeder Bewegung zerbersten, als sie den Windschutz ihres Fleece über das Kinn zieht, um sich dann nach Osten aufzumachen.

Um diese Zeit ist so gut wie niemand auf der Straße. Wer schon wach ist, kümmert sich um die letzten Feiertagsvorbereitungen. Lilly fühlt sich verpflichtet, den Spielplatz am östlichen Rand der Stadt zu besuchen. Der trostlose Fleck liegt direkt hinter einer Reihe nackter Holzapfelbäume.

Lilly geht zu Joshs Grab. Die sandige Erde ist noch immer frisch und nackt und bildet einen Hügel. Sie kniet sich daneben und senkt den Kopf. »Frohe Weihnachten, Josh«, bringt sie schließlich hervor. Ihre Stimme klingt belegt, verkatert und vor Müdigkeit beinahe rostig.

Lediglich das Rauschen der Äste antwortet. Sie holt tief Luft. »Ein paar Sachen, die ich getan habe … Wie ich dich behandelt habe … Da bin ich nicht stolz drauf.« Sie schluckt, damit sie nicht zu weinen anfängt, aber die Trauer nimmt Besitz von ihr. Sie kämpft gegen die Tränen an. »Ich wollte dir nur sagen … Du bist nicht umsonst gestorben, Josh … Du hast mir etwas sehr Wichtiges beigebracht … Du hast Großes in mir bewegt.«

Lilly starrt auf den dreckigen, weißen Sand unter ihren Knien und weigert sich, den Tränen nachzugeben. »Du hast mir beigebracht, wie man keine Angst mehr hat.« Sie stammelt diese Worte mehr zu sich selbst, zu dem Boden, dem kalten Wind. »Das können wir uns heutzutage nicht mehr leisten … Das soll heißen … Ich bin so weit.«

Ihre Stimme verstummt, und sie kniet eine scheinbare Unendlichkeit einfach nur da, ist sich gar nicht bewusst, dass sie mit der Hand ihr Bein gepackt und sich daran so festkrallt, dass sie zu bluten beginnt.

»Ich bin so weit …«

Silvester steht vor der Tür.

Der Mann, der sich Governor nennen lässt, schließt sich in die gekachelte Kammer seiner Wohnung im ersten Stock ein. Er leidet an Wintermelancholie. In der einen Hand hält er eine teure Flasche französischen Champagner, in der anderen einen Eimer mit einer Kollektion menschlicher Organe.

Der winzige Zombie an den Ketten geifert und faucht ihn an, sobald er die Tür aufmacht. Ihr ehemals engelhaftes Gesicht ist jetzt von Totenstarre gezeichnet, ihr Fleisch so gelb wie uralter Stiltonkäse, und sie knurrt und entblößt ihre schwarzen Milchzähne. Zwei bloße Glühbirnen, die von der Decke hängen, erleuchten die Wäschekammer nur spärlich. Der gesamte Raum stinkt nach Verdorbenem und Schimmel.

»Immer mit der Ruhe, Kleine«, murmelt der Mann mit vielen Namen sanft und setzt sich auf den Boden vor ihr. Neben sich stellt er die Flasche Champagner und auf die andere Seite den Eimer mit den Organen. Er zieht einen Chirurgenhandschuh hervor und greift mit der rechten Hand in ihren Fressnapf. »Daddy hat dir ein paar Leckerbissen mitgebracht, damit du dir schön den Bauch vollschlagen kannst.«

Er holt einen glitschigen braun und purpurnen Fleischlappen aus dem Eimer hervor und wirft ihn ihr hin.

Die kleine Penny Blake stürzt sich auf die menschliche Niere, die mit einem nassen Klatschen auf den Fliesen aufgekommen ist, und zieht und zerrt an ihren Ketten. Sie schnappt sich das Organ mit ihren zwei kleinen Händen und schlingt das menschliche Gewebe mit wilder Hingabe hinunter, bis das braune Blut ihre Finger hinabläuft und ihr Gesicht die Farbe von Schokolade hat.

»Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr, Schatz«, sagt der Governor und macht sich an den Korken der Champagnerflasche. Zuerst will er nicht herauskommen, aber der Governor bearbeitet ihn so lange, bis er die Flasche endlich offen hat. Die sprudelnde goldene Flüssigkeit schäumt über den Rand und tropft zu Boden. Er hat keine Ahnung, ob es wirklich Silvester ist, weiß nur, dass es während der nächsten paar Tage so weit ist. Es könnte also auch heute Nacht sein.

Er starrt auf die sich ausbreitende Pfütze Champagner auf dem Boden. Der Schaum verschwindet in den Fugen. Er erinnert sich an das Silvester, das er aus seiner Kindheit kennt.

Damals hat er sich schon Monate vorher auf diesen Abend gefreut. In Waynesboro haben er und seine Kumpel immer ein ganzes Schwein bestellt, es sich am dreißigsten liefern lassen, um es dann ganz langsam in der Erde hinter dem Haus mit heißen Steinen im hawaiianischen Luau-Stil garen zu lassen. Das Fest hat sich stets über zwei Tage hingezogen. Die örtliche Bluegrass-Band, die Clinch Mountain Boys, spielten die ganze Nacht durch, und Philip hat sich immer das beste Gras besorgt. Die erste Nacht wurde überhaupt kein Auge zugemacht, und Philip hat immer eine Frau gefunden, die sich seiner erbarmte …

Der Governor blinzelt. Er kann sich nicht daran erinnern, ob das jetzt Philip Blake oder Brian Blake war. Er weiß nicht mehr, wo ein Bruder aufhört und der andere beginnt. Er starrt zu Boden, blinzelt erneut, sieht sein trübes, milchiges, verzerrtes Spiegelbild in der Lache Champagner. Sein Schnurrbart hat die Farbe von Lampenruß, die Augen liegen tief im Schädel, glitzern mit einem Anflug von Wahnsinn. Er schaut sich selbst an, sieht, dass Philip Blake zurückstarrt. Aber irgendetwas stimmt nicht. Philip sieht nämlich auch eine geisterhafte Maske, die über sein Gesicht gestülpt ist – ein fahles, ängstliches Scheinbild namens Brian.

Pennys wässrige, verzerrte Fressgeräusche treten in den Hintergrund, verschwinden beinahe, als Philip die Flasche ansetzt. Die Flüssigkeit und die Kohlensäure brennen in der Kehle. Der Geschmack erinnert ihn an bessere Zeiten, an Feiertage und Ferien, an Feste, an Familienfeiern, an denen man Nahestehende nach langer Zeit endlich wieder sieht. Es zerreißt ihn innerlich. Er weiß, wer er ist: Er ist der Governor, er ist Philip Blake, der Mann, der die Sachen anpackt.

Aber.

Aber …

Brian beginnt zu weinen. Er lässt die Flasche los, und mehr Champagner fließt über die Kacheln hin zu Penny. Sie hat keine Ahnung von dem unsichtbaren Krieg, der in diesem Moment im Kopf ihres Wärters tobt. Brian schließt die Augen, die Tränen strömen trotzdem über seine Wangen, bilden Rinnsale.

Er weint all den vergangenen Silvestertagen nach, den freudigen Momenten, die er mit Freunden verbracht hat … mit seinem Bruder. Er weint für Penny, für ihren traurigen Zustand, für den er sich die Schuld gibt. Er kann sich des Bildes nicht erwehren, das ihm jetzt immer wieder vor Augen schwebt: Philip Blake liegt in einem kalten, blutigen Haufen neben einem Mädchen – am Waldrand etwas nördlich von Woodbury.

Während Penny frisst, schlürft und schmatzt und Brian vor sich hin weint, ertönt ein unerwartetes Geräusch aus der Wohnung.

Jemand klopft an seine Tür.

Es dauert eine Weile, ehe der Governor das Geräusch überhaupt wahrnimmt. Das Klopfen hat einen kurzen, zögerlichen Rhythmus, lässt aber nicht nach, bis Philip endlich aus seiner Erstarrung gerissen wird.

Seine Identitätskrise ist wie weggeblasen. Der Vorhang vor seinem Gehirn hat sich zurückgezogen.

Jetzt ist es definitiv Philip, der sich auf die Beine rafft, den Chirurgenhandschuh von der Hand pellt, sich abklopft, das vollgesabberte Kinn mit dem Pulloverärmel abwischt, die Stiefel anzieht, die langen Strähnen aus den Augen streift, die Emotionen runterschluckt, aus der Kammer geht und die Tür hinter sich abschließt.

Es ist Philip, der mit seinem typischen Schritt durch das Wohnzimmer geht. Sein Puls wird wieder langsamer, er saugt frische Luft in die Lungen. Jetzt ist er wieder ganz der Governor – mit klaren, scharfen Augen. Beim fünften Mal Klopfen öffnet er die Tür. »Was zum Teufel ist so verdammt wichtig, dass ich um diese Zeit …«

Obwohl er die Frau noch gar nicht richtig einordnen kann, hält er inne. Er hat einen seiner Männer erwartet, Gab oder Bruce oder Martinez, die ihn wegen irgendeiner Kleinlichkeit wie einem Feuer oder mal wieder einem Kampf zwischen den Stadtbewohnern nerven.

»Passt es vielleicht gerade nicht? Soll ich ein anderes Mal wiederkommen?«, schnurrt Megan Lafferty. Ihr Kopf ist träumerisch zur Seite geneigt. Sie lehnt am Torpfosten. Die Bluse unter ihrer Jeansjacke ist aufgeknöpft und gibt den Blick auf einen üppigen Ausschnitt frei.

Der Governor starrt sie mit seinem steten Blick an. »Schätzchen, ich habe keine Ahnung, was du vorhast, aber ich bin gerade sehr beschäftigt.«

»Hab mir nur gedacht, dass du vielleicht ein bisschen Gesellschaft vertragen könntest«, gibt sie mit gespielter Unschuld zum Besten. Sie sieht aus wie das typische Flittchen: Ihre weinfarbenen Locken hängen in verlockenden Strähnen über die von Drogen entspannten Gesichtszüge. Außerdem trägt sie zu viel Make-up, beinahe wie ein Clown. »Aber ich verstehe das durchaus, wenn du so viel zu tun hast.«

Der Governor seufzt. Ein Lächeln zieht seine Mundwinkel ein wenig in die Höhe. »Irgendwie machst du nicht den Eindruck, als ob du gekommen bist, um dir ein bisschen Mehl zu leihen.«

Megan wirft einen Blick über die Schulter. Die Angst steht ihr im Gesicht geschrieben. Außerdem blickt sie sich immer wieder um, lässt ihn von den Schatten des leeren Korridors bis zur Tür wandern und kratzt sich ihr Tattoo mit dem chinesischen Charakter an ihrem Ellenbogen. Niemand kommt jemals hierher. Die Wohnung vom Governor ist tabu, selbst für Gabe und Bruce.

»Ich … Ich habe nur gedacht … Ich …«, stottert sie.

»Musst keine Angst haben, Schätzchen«, beruhigt der Governor sie endlich.

»Ich wollte nicht …«

»Jetzt komm schon rein«, lädt er sie ein und nimmt ihren Arm. »Ehe der Tod dich da draußen holt.«

Er zieht sie in den Flur und schließt dann die Tür hinter ihr. Das Geräusch des Bolzens erschreckt Megan. Sie fängt schneller an zu atmen, und der Governor kann nicht anders, als das Heben und Senken ihrer überraschend üppigen Brüste unter der Bluse, ihre kurvenreiche Figur und ihre drallen Hüften zu bemerken. Dieser kleine Flitzer ist zum Fortpflanzen bereit. Der Governor überlegt, wann er das letzte Mal ein Kondom benutzt hat. Wann hat er das letzte Mal überhaupt welche gekauft? Liegen vielleicht noch welche im Medizinschrank herum? »Kann ich dir vielleicht etwas zu trinken anbieten?«

»Gerne.« Megan schaut sich um, nimmt die spartanisch eingerichtete Wohnung in sich auf – die Überreste von Teppichen auf dem Boden, die nicht zueinanderpassenden Stühle, das Sofa, das aus irgendeinem Diakonie-Laden hätte stammen können. Für einen kurzen Augenblick runzelt sie die Stirn, rümpft die Nase, riecht vielleicht sogar den Gestank aus der Wäschekammer. »Hast du Wodka?«

Der Governor grinst sie an. »Könnte sein, dass ich noch etwas finde.« Er geht zur Bar neben dem mit Brettern verschlagenen Fenster, holt eine Flasche hervor und gießt zwei Finger breit Wodka in zwei Pappbecher. »Habe auch irgendwo Orangensaft«, murmelt er und findet dann den angebrochenen Karton.

Er gesellt sich mit den Getränken wieder zu ihr. Megan gießt sich den gesamten Inhalt des Bechers in einem Schluck die Kehle runter. Sie macht den Eindruck, als ob sie tagelang in der Wüste verschollen war und dies die erste Flüssigkeit zwischen ihren Zähnen ist. Sie wischt sich den Mund ab, rülpst und entschuldigt sich: »Oh … Tut mir leid.«

»Du bist ja eine ganz Süße«, kokettiert der Governor grinsend. »Weißt du was? Bonnie Raitt ist nichts gegen dich.«

Sie senkt den Blick zu Boden. »Der Grund, warum ich bei dir vorbeigekommen bin …«

»Yeah?«

»Der Typ im Lebensmittellager hat mir gesagt, dass du vielleicht ein bisschen Weed oder ein paar Downer hast.«

»Duane?«

Sie nickt. »Hat behauptet, dass du gutes Zeug hättest.«

Der Governor nimmt einen Schluck. »Jetzt muss ich glatt überlegen, woher Duane so etwas wissen will.«

Megan zuckt die Achseln. »Wie auch immer. Die Sache ist nämlich die …«

»Und warum kommst du zu mir?« Der Governor hält sie mit seinem starren Blick fest. »Warum nicht bei deinem Kumpel Bob anklopfen? Der hat doch einen ganzen Medizinschrank in seinem Camper-Truck.«

Wieder Achselzucken. »Ich weiß nicht. Habe nur gedacht, du und ich, wir könnten … tauschen.«

Jetzt blickt sie zu ihm auf, beißt sich auf die Unterlippe, und der Governor spürt, wie ihm das Blut in die Lenden schießt.

Megan reitet ihn in im Mondlicht, das durch das Fenster des Nebenzimmers dringt. Völlig nackt, mit einem Film von kaltem Schweiß bedeckt, die Haare kleben ihr im Gesicht, fährt sie auf seiner Erektion mit der impotenten Wucht eines Spielpferdes auf einem Karussell auf und ab. Sie verspürt nichts außer Schmerz, keine Angst, keine Emotion, keine Reue, keine Scham. Nichts. Nur die mechanische Gymnastik von Sex.

Alle Lichter sind aus. Die einzige Lichtquelle kommt von hinter der Gardinenstange. Das silbrige Licht des Wintermondes erhellt die Staubmäuse, wird von der nackten Wand hinter dem abgewetzten Liegesessel reflektiert.

Der Mann hat sich auf den Sessel gelegt. Sein nackter, schlaksiger Körper krümmt und windet sich unter Megan. Sein Kopf schnellt zurück, die Venen in seinem Hals pulsieren, aber er macht kaum Geräusche, macht nicht den Eindruck, als ob es ihm großartigen Spaß machen würde. Megan kann lediglich das stete Rasseln seines Atems hören, während er immer wieder wütend in sie fährt.

Der Liegesessel steht so im Raum, dass Megans Aufmerksamkeit auf die Wand dahinter gezogen wird. Es ist ihr egal, dass der Governor sich zum Orgasmus hocharbeitet. Im Zimmer hängen keinerlei Bilder, steht kein Kaffeetisch, sind keine Lampen mit Schirmen – sie kann nur das blasse Schimmern irgendwelcher rechteckiger Kästen an der Wand ausmachen. Zuerst ist Megan sich nicht ganz sicher, um was es sich handelt. Vielleicht Fernseher? Es sieht aus wie so eine Fernsehwand, die früher in den großen Läden aufgestellt wurden. Aber was will der Typ mit zwei Dutzend Fernsehern anfangen? Schon bald hört sie ein leises Gurgeln oder Rauschen, das aus ihnen stammt.

»Was zum Teufel ist denn los?«, grunzt der Governor unter ihr.

Megan hat sich umgedreht. Ihre Augen gewöhnen sich an das Schimmern des Mondes. Sie sieht, wie sich etwas in den rechteckigen Kästen bewegt. Sie zuckt zusammen, kneift den Governor beinahe. »Nichts … Nichts … ’tschuldigung … Ich hab nur … «

»Verdammt, Frau!« Er lehnt sich zur Seite und schaltet eine batteriebetriebene Campinglampe auf einer Kiste neben dem Stuhl ein.

Im Licht sieht Megan endlich, um was für Kästen es sich handelt: Reihen von Aquarien stehen an der Wand, in denen abgehackte, menschliche Köpfe herumschwimmen.

Megan keucht, steht von ihm auf und stolpert zu Boden. Sie versucht, Luft zu holen, liegt mit dem Bauch auf dem Boden, Gänsehaut bedeckt ihren gesamten Körper. Sie starrt noch immer auf die Aquarien, die sauber gegen die Wand gestapelt sind. Zombiehafte Gesichter auf unterschiedlich langen Halsstumpen zucken in der Flüssigkeit. Münder schnappen auf und zu wie Fische auf Land, ihre milchig-weißen Augen rollen in ihren wässrigen Höhlen hin und her.

»Ich bin noch nicht fertig!« Der Governor wirft sich auf sie, reißt ihre Beine auseinander. Er ist noch immer hart und stößt mit Wucht in sie. Die schmerzvolle Reibung fährt ihr ins Rückenmark. »Jetzt halt endlich still, verdammt noch mal!«

Dann erkennt Megan eines der Gesichter im letzten Aquarium links in der zweiten Reihe von oben, und die Erkenntnis lässt sie erstarren. Sie liegt mit dem Rücken auf dem Boden, wie vom Blitz getroffen. Sie dreht den Kopf zur Seite und starrt entsetzt auf das, was da in dieser merkwürdigen Flüssigkeit in einem Aquarium schwimmt, während der Governor ohne Rücksicht auf Verluste weiter in sie hineinknallt. Sie erkennt das mit Wasserstoff gebleichte Haar, das wie eine Krone aus Seetang über seinen jungenhaften Gesichtszügen schwebt, seinen schlaffen Mund, die langen Wimpern und die spitze, kleine Nase.

Als sie endlich Gesicht und Namen zusammenfügt und merkt, dass sie Scott Moon anstarrt, kriegt der Governor endlich seinen Orgasmus.

Irgendetwas tief in Megan Lafferty geht für immer und unwiederbringlich kaputt – wie ein Sandschloss, das der Kraft einer Welle nachgibt.

Einen Augenblick später meint der Governor: »Du kannst jetzt aufstehen, dich sauber machen.«

Er sagt die Worte ohne Groll oder Hass in einer Stimme, wie ein Lehrer, der am Ende der Klassenarbeit verkündet, dass es Zeit ist, die Stifte abzulegen.

Dann erst merkt er, dass sie auf das Aquarium mit Scott Moons Kopf starrt, und er weiß, dass der Augenblick der Wahrheit gekommen ist: Es ist entweder eine Möglichkeit oder aber ein kritischer Augenblick. Als entscheidungsfähiger Mann weiß Philip Blake, wann er einer Möglichkeit begegnet. Er weiß, wie man einen Vorteil aus einer besseren Situation zieht. Er zögert nie, zieht sich nicht in eine Höhle zurück, ist sich nicht zu gut, die Drecksarbeit selbst zu machen.

Der Governor greift nach unten, findet den Gummi seiner Unterhose, die ihm noch immer um die Fesseln hängt, und zieht sie hoch. Er stellt sich aufrecht hin und schaut auf die Frau, die jetzt mit den Armen die angewinkelten Beine umklammert. »Los, Kleine … Jetzt machen wir dich erst mal schön sauber und dann unterhalten wie zwei uns ein wenig.«

Megan fleht und wimmert nur: »Bitte, bitte, bitte, tu mir nichts an.«

Der Governor beugt sich zu ihr hinab und kneift sie ins Genick, nicht gemein oder so, dass es wehtut, sondern nur, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, und meint: »Ich werde dich nicht noch mal bitten … Jetzt beweg’ deinen Arsch ins Badezimmer.«

Sie rappelt sich auf die Beine, hält sich den Bauch, als ob er jeden Augenblick platzen könnte.

»Hier entlang, Schätzchen.« Er schnappt sie sich unsanft am Arm und führt sie durch das Zimmer, durch die Tür zum angrenzenden Badezimmer.

Als er so im Türrahmen steht und ihr zuschaut, verspürt der Governor auf einmal Reue. Er hätte sie nicht so grob behandeln sollen. Gleichzeitig weiß er aber, dass Philip Blake jetzt nicht nachlassen würde. Philip hat immer das gemacht, was getan werden musste. Er war stark und entschlossen; und der Teil des Governors, der früher einmal »Brian« geheißen hat, muss es jetzt zu Ende bringen.

Megan ist über das Waschbecken gebeugt und nimmt sich den Waschlappen mit zitternden Händen. Sie lässt das Wasser laufen, benetzt ihn und wischt sich dann zaghaft ab, noch immer bebend. »Ich schwöre bei Gott, ich werde niemandem etwas sagen«, murmelt sie inmitten von Tränen. »Ich will nur noch nach Hause … Ich will alleine sein.«

»Genau darüber möchte ich mit dir reden«, meint der Governor von unter dem Türrahmen.

»Ich werde niemandem …«

»Sieh mich an, Süße.«

»Ich werde niemandem …«

»Jetzt beruhige dich doch. Hol mal tief Luft und schau mir in die Augen. Megan, ich habe gesagt, du sollst mir in die Augen schauen!«

Sie gehorcht. Ihr Kinn bebt, die Tränen kullern ihr die Wangen hinab.

Er fixiert sie mit seinem Blick. »Du bist ab jetzt mit Bob zusammen.«

»Wie bitte? Was?« Sie wischt sich die Augen. »Was soll ich sein?«

»Du bist ab jetzt mit Bob zusammen. Bist du schwerhörig?«, wiederholt der Governor. »Erinnerst du dich an Bob Stookey, den Typ, mit dem du hier aufgekreuzt bist?«

Sie nickt.

»Du bist jetzt mit ihm zusammen. Verstehst du? Von jetzt ab seid ihr ein Paar.«

Sie nickt langsam.

»Ach, und noch etwas«, fügt der Governor sanft hinzu, beinahe als Nachsatz. »Wenn du irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen hiervon erzählst, kommt dein Kopf in das Aquarium neben dem Junkie.«

Kurz nachdem Megan Lafferty abgehauen ist, in die Schatten des Ganges getaucht, sich zitternd und hyperventilierend den Mantel übergezogen hat, verschwindet der Governor im Nebenzimmer. Er lässt sich mit einem Plumps auf den Liegesessel fallen und starrt auf die Aquarien.

Er sitzt eine ganze Weile da, starrt auf die Fischtanks, verspürt eine große Leere. Gedämpftes Grunzen hallt durch die Zimmer hinter ihm. Die Kreatur, die einmal seine Tochter gewesen ist, hat wieder Hunger. Dem Governor kommt die Gallenflüssigkeit hoch. Sein Magen verkrampft sich, und seine Augen beginnen zu tränen. Er fängt zu zittern an. Alles, was er getan hat, steigt in ihm auf, und er erleidet einen Schock, einen Schock des Entsetzens, der seine Sehnen zu Eis werden lässt.

Einen Augenblick später stürzt er nach vorne, fällt vom Stuhl auf die Knie und beginnt zu kotzen. Abendessensüberreste fliegen über den dreckigen Teppich. Er stützt sich jetzt mit den Händen ab, entleert den Rest seines Mageninhalts und lehnt sich dann mit dem Rücken gegen den Liegesessel und keucht nach Luft.

Ein Teil von ihm – der tief begrabene Teil namens Brian – verspürt die Welle des Ekels, die ihn ertränkt. Er kann nicht mehr atmen, kann nicht mehr denken. Und trotzdem zwingt er sich dazu, die aufgedunsenen Gesichter anzuschauen, die sich langsam in den Aquarien heben und senken und Blasen werfen.

Er will sich abwenden, will aus dem Zimmer flüchten, weg von diesen zuckenden, gurgelnden, abgetrennten Köpfen. Aber er weiß genau, dass er sie weiter anstarren muss, bis all seine Sinne taub sind. Er muss stark sein.

Er muss darauf vorbereitet sein. Auf das, was kommt.

Fünfzehn

Im Westen, innerhalb der Sicherheitszone, in einer Wohnung im ersten Stock nahe der Post hört Bob Stookey ein Klopfen. Er setzt sich auf, lehnt sich gegen das Kopfende aus Messing und legt das Taschenbuch mit Eselsohren beiseite – einen Louis-L’Amour-Western namens Die Geächteten von Mesquite. Dann steigt er in seine Hose, hat aber Probleme mit dem Reißverschluss und fummelt wild in der Gegend herum. Zuletzt schlüpft er in seine abgewetzten Pantoffeln.

Weil er sich nach dem Schauspiel besinnungslos vollgesoffen hat, fühlt er sich immer noch sehr labil und nicht ganz bei Sinnen. Ein Schwindelgefühl zerrt an seinem Bewusstsein, und sein Magen macht Purzelbäume, als er aus dem Schlafzimmer schlurft und durch die Wohnung zum Nebeneingang geht, der in einem hölzernen Treppenabsatz endet. Bob rülpst und schluckt den Gallensaft hinunter, als er die Tür öffnet.

»Bob … Etwas Furchtbares ist gerade … O mein Gott, Bob«, schluchzt Megan Lafferty aus den Schatten des Treppenhauses. Ihr Gesicht ist über und über nass vor Tränen, ihre Augen liegen tief in den Höhlen und sind stark gerötet. Sie sieht so aus, als ob sie im nächsten Augenblick zerbirst wie eine Glasfigur. Sie zittert in der Kälte und hält den Kragen ihrer Jeansjacke hoch, um den eisigen Wind abzuhalten.

»Komm rein, Schätzchen, komm ruhig rein«, begrüßt Bob sie und öffnet die Tür vollends. Sein Herz beginnt heftig zu pochen. »Was zum Teufel ist denn passiert?«

Megan stolpert in die Küche. Bob nimmt sie an den Armen und hilft ihr zu einem Küchenstuhl neben dem mit Krimskrams überhäuften Tisch. Sie lässt sich mit einem Plumps auf den Stuhl fallen und versucht, etwas zu sagen, kriegt aber vor lauter Schluchzen kein Wort heraus. Bob kniet sich vor sie, streichelt ihr die Schulter, und Megan hält sich mit beiden Händen den Kopf und weint.

»Ist schon gut, Schätzchen … Was immer auch los ist … Wir werden das Kind schon schaukeln.«

Sie stöhnt, es ist ein Stöhnen voller Schmerz und Bestürzung. Ihre Tränen benetzen ihr ärmelloses Top unter der Bluse. Er nimmt ihren Kopf in die Hände, streichelt die feuchten Locken. Nach einer Weile blickt sie zu ihm auf. »Scott ist tot.«

»Was

»Ich … habe … ihn … gesehen, Bob.« Sie bringt jedes Wort zwischen heftigem Keuchen und Stöhnen hervor. »Er ist … Er ist tot und … Er ist einer von denen geworden.«

»Jetzt mal ganz von vorne. Hol mal tief Luft, und erzähl mir, was passiert ist.«

»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist!«

»Wo hast du ihn gesehen?«

Sie schnieft, versucht, das Schluchzen unter Kontrolle zu bringen, und erzählt Bob dann in halb geformten Satzbrocken von den abgetrennten Köpfen, die sich in der Dunkelheit im Wasser heben und senken.

»Und wo hast du das gesehen?«

Sie ist am Hyperventilieren. »Im … Drüben, beim … Beim Governor.«

»Beim Governor? Du hast Scott beim Governor gesehen?«

Sie nickt, will gar nicht mehr aufhören. Sie will alles erklären, aber die Worte bleiben ihr im Hals stecken.

Bob streichelt ihren Arm. »Schätzchen, was hast du denn beim Governor zu suchen?«

Sie versucht zu antworten, das Schluchzen beginnt erneut, und sie legt den Kopf wieder in die Hände.

»Ich hole dir ein Glas Wasser«, sagt Bob schließlich. Er eilt zum Waschbecken und füllt einen Plastikbecher mit Wasser aus dem Wasserhahn. Die Hälfte der Häuser in Woodbury hat keinerlei Strom, Wasser oder Gas. Die wenigen Privilegierten, die sich dessen rühmen können, gehören zum inneren Kreis des Governors – die behelfsmäßigen Machtstrukturen haben ihnen ein paar Vorteile verschafft. Bob ist aus sentimentalen Gründen zum Günstling des Governors aufgestiegen, und seine Wohnung reflektiert diesen Status. Sie ist voll mit leeren Flaschen, Essensverpackungen, Dosen, Pfeifentabak, Softpornoheftchenen, warmen Decken und elektronischem Spielzeug, also ein wahrhaftiges Vorzeigemodell einer Junggesellenwohnung.

Bob reicht Megan das Glas Wasser, und sie trinkt es in zwei großen Schlucken halb aus. Rinnsale laufen ihr die Mundwinkel hinunter, auf ihre Jacke. Bob hilft ihr, den Mantel auszuziehen, und sie setzt erneut an und gießt den Rest hastig in sich hinein. Er wendet den Blick ab, als er bemerkt, dass ihre Bluse schief zugeknöpft ist. Der Bauchnabel ist zu sehen, und sie gibt einen Blick auf eine Reihe roter Flecken und tiefer Kratzer auf ihrem Brustbein zwischen ihren blassen Brüsten frei. Der BH sitzt schief, und einer ihrer Nippel ist erigiert.

»Hier, Kleine«, versucht er, sie zu beruhigen, und geht zum Wäscheschrank im Flur. Er holt eine Decke, kehrt zurück und legt sie Megan fürsorglich um die Schultern. Sie fängt sich wieder, bis das Schluchzen zu einer Reihe keuchender, stoßender Atemzüge abgeebbt ist. Sie starrt zu Boden. Ihre kleinen Hände liegen mit den Handflächen nach oben auf ihrem Schoß, als ob sie vergessen hatte, wozu man sie benutzen kann.

»Ich hätte nie …«, beginnt sie und hält dann inne. Ihre Nase läuft, und sie wischt sie ab, schließt die Augen. »Was habe ich bloß getan … Bob … Was zum Teufel ist bloß los mit mir?«

»Nichts ist los mit dir«, tröstet er sie sanft und legt den Arm um sie. »Ich bin jetzt hier, Süße. Ich passe auf dich auf.«

Sie schmiegt sich an ihn, legt den Kopf an seine Schulter, und atmet jetzt regelmäßiger. Bald schon holt sie in langen Abständen Luft, als ob sie einschläft. Bob erkennt sofort die typischen Schocksymptome. Ihre Haut ist eiskalt. Er deckt sie vernünftig zu, und sie schmiegt sich enger an seinen Hals.

Bob wird von einer Flutwelle von Emotionen heimgesucht, gibt sich einem Seufzer nach dem anderen hin.

Er hält Megan eng an sich, sucht nach den richtigen Worten. Sein Kopf schwirrt vor lauter widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits ekelt ihn ihre Geschichte von den abgehackten Köpfen und Scott Moons geschändetem Leichnam an. Zudem kommt ihm die Frage in den Sinn, was sie überhaupt beim Governor zu suchen hatte. Aber Bob überkommt auch ein Gefühl des unerwiderten Verlangens. Die Nähe ihrer Lippen, die Wärme ihres Schlüsselbeins, der Glanz ihrer Locken, die ihr Kinn streifen – all das benebelt Bob schneller und stärker, als eine ganze Kiste zwölf Jahre alten Bourbons. Er kämpft gegen das Verlangen an, sie auf die Stirn zu küssen.

»Das wird schon wieder«, flüstert er ihr sanft ins Ohr. »Wir machen das schon.«

»Oh, Bob …« Ihre Stimme klingt benommen, vielleicht ist sie noch high. »Bob …«

»Alles wird gut«, wiederholt er, fährt ihr über die Haare mit seiner schmierigen, knorrigen Hand.

Sie reckt den Hals in seine Richtung und küsst ihn auf das unrasierte, grauhaarige Kinn.

Bob schließt die Augen, und eine Welle des Begehrens schwappt über ihn hinweg.

Sie verbringen die Nacht zusammen. Zuerst versetzt Bob der Gedanke in Panik, dass er sich eine so lange Zeit in Megans unmittelbarer Nähe aufhalten wird. Bob hat seit elf Jahren keinen Sex mehr gehabt, nicht seitdem er das letzte Mal mit Brenda, seiner verstorbenen Frau, zusammen gewesen war. Jahrzehntelanger Alkoholmissbrauch hat Bobs Manneskraft mehr als nur angeschlagen. Aber das Verlangen glüht noch immer in ihm wie ein schwelendes Stück Kohle. Er will sie so sehr, dass sein Hals rau wird wie Sandpapier und ihm heiße Schauer den Rücken rauf und runter laufen.

Aber die beiden schlafen nur ruhelos ineinander verschlungen, liegen unter den vollgeschwitzten Decken im Doppelbett im hinteren Zimmer. Bob ist erleichtert, dass sie nicht einmal annähernd dazu kommen, Sex zu haben.

Während der gesamten Nacht schweben in Bobs fiebrigen Gedanken halb geformte Bilder herum, wie sie auf einer einsamen Insel umgeben vom zombiesicheren Meer miteinander schlafen. Allerdings wird diese Vorstellung immer wieder von der harschen Realität der kleinen Wohnung unterbrochen, in der sie sich befinden. Bob wundert sich nicht schlecht über die unglaubliche Tatsache, dass er Megans unregelmäßiges Atmen an seiner Seite hört, die Wärme ihrer Hüften an seinem Bauch spürt, Strähnen ihrer Haare sein Gesicht kitzeln, ihr moschusartiger, süßer Geruch seine Sinne betört. Merkwürdigerweise fühlt er sich zum ersten Mal, seitdem die Plage ausgebrochen ist, wieder als ganzer Mensch. Er verspürt einen beinahe wahnwitzigen, alles belebenden Schimmer der Hoffnung. Die verstörenden Untertöne des Verdachts und gemischter Emotionen, was den Governor angeht, schmelzen in dem dunklen Loch des Schlafzimmers dahin, und ein Gefühl des Friedens, wie kurz auch immer, schwappt über Bob Stookey hinweg und lullt ihn in einen tiefen Schlaf.

Kurz nach Morgengrauen wird er von einem alles durchdringenden Schrei aufgeweckt.

Zuerst glaubt er, er sei noch am Träumen. Der Schrei stammt von draußen, und Bob nimmt ihn als ein geisterhaftes Echo wahr, als ob gerade das Ende eines Albtraums sein waches Bewusstsein gestreift hat. In seinem noch schlaftrunkenen Zustand streckt er den Arm nach Megan aus, aber sie ist nicht mehr da. Die Decken sind am Fußende zusammengeknüllt. Megan ist verschwunden. Er setzt sich wie vom Blitz getroffen auf.

»Megan? Schätzchen?«

Er steht auf und geht barfuß zur Tür, spürt nicht die Kälte des Bodens. Dann erneut ein Schrei, der durch die Winterwinde an sein Ohr dringt. Er bemerkt nicht den umgestoßenen Stuhl in der Küche, die aufgerissenen Schubladen, die offenen Schranktüren – alles Anzeichen, dass jemand sein Hab und Gut inspiziert hat.

»Megan?«

Er geht weiter, durch die Tür, stolpert auf den Treppenabsatz im ersten Stock und blinzelt in das harsche Licht des bedeckten Winterhimmels, spürt den eisigen Wind in seinem Gesicht.

»MEGAN!!«

Zuerst versteht er den Tumult nicht, der unten auf der Straße herrscht. Er sieht Leute auf den Treppen, auf der Straße und entlang des Parkplatzes bei der Post – insgesamt vielleicht ein Dutzend –, und sie deuten alle auf Bob oder vielleicht auf etwas auf dem Dach. Schwer zu sagen. Mit wild pochendem Herzen rennt Bob die Treppe hinunter. Er bemerkt den Strick nicht, der um das Geländer geknotet ist, bis er auf der Straße steht.

Bob dreht sich um und erstarrt. Sein Körper wird zu Granit, eiskalt. »O Gott, nein«, stammelt er und blickt auf den leblosen Körper, der neben ihm baumelt, vom Wind hin und her geschaukelt wird. »O nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein …«

Megan hängt mit einer improvisierten Schlinge ums Genick vom Treppenabsatz. Ihr Gesicht ist farblos und bleich wie altes Porzellan.

Lilly Caul hört den Aufruhr von ihrem Fenster über der Chemischen Reinigung und wuchtet sich aus dem Bett, um den Vorhang aufzuziehen. Vor den Hauseingängen haben sich Trauben von Leuten versammelt und deuten in Richtung Post. Ihre Mienen lassen nichts Gutes ahnen, und sie flüstern hinter vorgehaltener Hand. Lilly weiß, dass etwas Fürchterliches passiert ist. Als sie den Governor erspäht, der raschen Schrittes den Bürgersteig entlangkommt, wirft sie sich ihre Klamotten über. Hinter dem Mann mit dem langen Mantel eilen Gabe und Bruce her, versuchen, Schritt zu halten, die geladenen Maschinengewehre schussbereit.

Sie braucht keine drei Minuten, um fertig angezogen die Treppe hinunterzulaufen, eine Gasse zwischen zwei Gebäuden hindurch zu eilen und die zwei Häuserblocks zur Post zurückzulegen.

Am Himmel hängen bedrohliche Wolken, und der Wind bringt Schneeregen mit sich. Als Lilly die Menge erblickt, die sich um Bobs Treppe versammelt hat, ist ihr bewusst, dass sie dem Nachspiel von etwas Schrecklichem beiwohnt. Es ist in den Gesichtern der Anwesenden geschrieben, und die Art, mit der der Governor und Bob sich etwas abseits unterhalten – jeder der beiden starrt zu Boden, die Mienen zu finsteren Grimassen verzogen, voller Besorgnis und unerbittlicher Entschlossenheit.

Mitten im Kreis der Schaulustigen knien Gabe und Bruce auf dem Bürgersteig neben einem mit einem Laken bedeckten Bündel. Der Anblick lässt Lilly erstarren. Sie steht am Rande der Menge, und es fährt ihr eiskalt den Rücken hinunter. Der Anblick eines weiteren, auf dem Bürgersteig liegenden Leichnams erschüttert sie zutiefst.

»Lilly?«

Sie dreht sich um und sieht Martinez neben ihr stehen. Über seiner Lederjacke trägt er Patronengurte, als ob es Schärpen wären. Er legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Das war doch eine Freundin von dir, oder?«

»Wer ist es denn?«

»Du hast es noch nicht gehört?«

»Ist es Megan?« Lilly drängt sich an Martinez vorbei, stößt einige Schaulustige beiseite. »Was ist passiert?«

Bob Stookey geht auf sie zu, stellt sich ihr in den Weg und nimmt sie sanft bei den Schultern. »Lil’, so warte doch. Du kannst nichts mehr machen.«

»Was ist passiert, Bob?« Lilly blinzelt, als ihre Augen zu brennen anfangen und ihr Herz schwer wird. »Hat ein Beißer sie erwischt? Lass mich los!«

Bob hält sie an den Schultern fest. »Nein, Lilly. Das nicht.« Erst jetzt sieht sie Bobs Augen, rot umrandet und voller Trauer. Sein Gesicht zittert vor Schmerz. »Diese Leute werden sich um sie kümmern.«

»Ist sie …«

»Sie ist von uns gegangen, Lil’« Bob starrt zu Boden und schüttelt langsam den Kopf. »Hat sich ihr eigenes Leben genommen.«

»Was … Was ist passiert?«

Bob aber starrt nur weiter auf die Erde und faselt, dass er keine Ahnung hat.

»Lass mich los, Bob!« Lilly drängt sich weiter durch die unzähligen Reihen von Schaulustigen.

»Hallo! Hey – immer mit der Ruhe, Schwester!« Gabe stellt sich Lilly in den Weg. Der schwer gebaute Mann mit dem Stiernacken und dem Bürstenschnitt ergreift Lillys Arm. »Ich weiß, dass sie eine Freundin von Ihnen war …«

»Ich will sie sehen!« Lilly reißt sich los, aber Gabe schnappt sie sich von hinten und legt ihr den Arm um. Lilly versucht krampfhaft, sich aus der unmöglichen Situation zu befreien. »LASS MICH VERDAMMT NOCH MAL IN RUHE!«

In drei Metern Entfernung auf dem versengten braunen Gras des Parks kniet Bruce, der große schwarze Mann mit der Glatze neben dem mit dem Laken bedeckten Leichnam. Er lädt sein MG mit einem neuen Magazin. Seine Miene ist finster, er atmet langsam und tief, bereitet sich offensichtlich auf etwas Unangenehmes vor. Er ignoriert alles um ihn herum.

»LASS MICH IN RUHE!« Lilly will nicht aufhören, sich zu wehren, die Augen ständig auf den Leichnam gerichtet.

»Jetzt führen Sie sich doch nichts so auf«, zischt Gabe. »Sie machen es doch viel schlimmer, als …«

»Lass sie los!«

Die tiefe, von zu vielen Zigaretten gezeichnete Stimme ertönt hinter den beiden, und sowohl Lilly als auch der schwere Mann erstarren, als ob sie eine Hundepfeife gehört hätten.

Sie blicken beide über die Schulter und sehen den Governor im Kreis der Schaulustigen, die Hände auf die Hüften gestemmt. Seine beiden mit Perlen bestückten .45er aus Armeebeständen stecken links und rechts im Gürtel im Stil eines echten Revolverhelden, seine langen Rockstar-Haare – so schwarz wie Tusche – sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, mit dem der Wind spielt. Die Krähenfüße um seine Augen und die Linien, die seine eingefallenen Wangen zeichnen, werden immer größer und tiefer, je finsterer er dreinblickt. »Ist schon gut, Gabe … Lass die Lady sich von ihrer Freundin verabschieden.«

Lilly eilt zu dem Leichnam auf dem Boden, kniet sich nieder und starrt auf das zugedeckte Etwas. Sie hält sich die Hand vor den Mund, als ob sie die angestauten Emotionen nicht herauslassen will. Bruce entsichert das Maschinengewehr und geht ein paar Schritte zurück. Er steht einfach nur da und starrt auf Lilly, während die Menge um sie herum immer leiser wird.

Der Governor geht zu ihr, hält aber aus Respekt Abstand.

Lilly zieht das Laken von dem Leichnam und beißt die Zähne zusammen, als sie in das purpurgraue Gesicht der Frau blickt, die einmal Megan Lafferty war. Ihre Augen sind so angeschwollen, dass sie nicht mehr zu öffnen sind, der Kiefer von der Totenstarre wie festzementiert, und das blutlose Puppengesicht aus Porzellan macht den Eindruck, als ob es von Millionen von Haarfrakturen durchzogen sei. Die dunklen Äderchen sind offenbar schon in einem fortgeschrittenen Stadion der Verwesung. Das Gesicht ist für Lilly sowohl fürchterlich anzuschauen als auch unerträglich ergreifend. Es beschwört die ganzen Erinnerungen an die verrückten Sprayberry-Highschool-Tage herauf, als die beiden Mädchen Joints auf der Toilette geraucht haben, auf das Schuldach geklettert sind, um Steinchen auf die spielenden Sportskanonen auf dem Basketballplatz zu werfen. Megan und Lilly waren über Jahre hinweg beste Freundinnen, und trotz all ihrer Fehler – und es waren nicht zu wenige an der Zahl – hat Lilly sie stets als genau das in Erinnerung. Jetzt kann sie nicht mehr aufhören, dieses Überbleibsel ihrer frechen Freundin anzustarren.

Lilly verschlägt es den Atem, als Megans geschwollene purpurne Lider plötzlich aufgehen und milchig-weiße Augen sie anstarren.

Lilly verharrt, während der schwarze Mann mit dem rasierten Schädel auf sie zueilt. In den Händen hält er seinen .45er, den er schussbereit auf den Schädel des Kadavers richtet. Aber ehe er eine Chance hat, abzudrücken, ertönt die Stimme des Governors: »Nicht schießen, Bruce!«

Bruce wirft einen Blick über die Schulter, als der Governor auf ihn zukommt und meint: »Sie soll es tun.«

Lilly schaut zu dem Mann in dem langen Mantel, blinzelt, sagt aber kein Wort. Ihr Herz fühlt sich an, als ob es aus Asche wäre, das Blut in ihren Venen scheint zu gefrieren. Aus der Ferne dringt gewaltiges Donnern an ihre Ohren.

Der Governor geht auf sie zu. »Los, Bruce, mach schon. Gib ihr die Waffe.«

Eine schier unendlich lange Zeit scheint zu vergehen, aber irgendwie hält Lilly auf einmal das Schießeisen in der Hand. Neben ihr windet und krümmt sich das Ding, das einmal Megan Lafferty gewesen ist. Ihr Nervensystem kommt in Fahrt, ihr Mund öffnet sich, um schimmlige, graue Zähne zu entblößen. Lilly kann vor lauter Tränen kaum etwas sehen.

»Befördere deine Freundin ins Jenseits, Lilly«, drängt der Governor sanft.

Lilly hebt die Waffe. Megan reckt den Kopf hoch, will Lilly an die Kehle, wie ein Embryo, der aus dem Mutterkuchen schlüpft. Ihre Zähne klappern vor Hunger, schnappen nach ihr. Lilly hält die Mündung gegen ihre Stirn.

»Tu es, Lilly. Erlöse sie.«

Lilly schließt die Augen. Der Hahn brennt ihr am Finger wie ein Eiszapfen. Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie, wie die Kreatur plötzlich zu ihr hochschnellt, den Mund aufgerissen und bereit, die Zähne in Lillys Halsschlagader zu versenken.

Es passiert so schnell, dass Lilly beinahe nichts von allem mitkriegt.

Ein Schuss ertönt.

Lilly fällt auf den Hintern. Die Waffe gleitet ihr aus der Hand, Megans Schädeldecke explodiert in einer dunkelroten Wolke, und der Bürgersteig wird mit Gehirnfetzen übersät. Der reanimierte Leichnam sackt zusammen und liegt noch immer halb vom Laken verdeckt auf dem Boden. Die haiartigen Augen starren gen Himmel.

Einen Augenblick lang liegt Lilly auf dem Rücken, die Wolken über ihr. Sie ist völlig verwirrt. Wer hat den tödlichen Schuss abgegeben? Hat Lilly nicht abgedrückt? Wenn nicht sie, wer dann? Sie reibt sich die Augen, versucht, den Governor anzublicken, der über ihr steht, aber er starrt auf etwas oder jemanden zu seiner Rechten, die Miene wie versteinert.

Dann steht Bob Stookey über dem Leichnam Megan Laffertys, den .38er noch immer in der Hand. Sein Arm hängt jetzt beinahe leblos von der Schulter herab. Die Waffe raucht noch.

Die Trostlosigkeit ist in Bobs wettergegerbtes, mit tiefen Falten versehenes Gesicht geschrieben. Der Anblick droht Lilly das Herz zu brechen.

Während der nächsten Tage achtet niemand auf das sich ändernde Wetter.

Bob ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich ins Nirwana zu saufen, um etwas so Nebensächliches wie Kalt- oder Warmfronten zu bemerken, während Lilly den Großteil ihrer Zeit damit verbringt, eine vernünftige Beerdigung für Megan zu organisieren. Sie soll ein Grab neben Josh erhalten. Der Governor verbringt die meiste Zeit damit, die nächste Schlacht in der Arena vorzubereiten. Er hat große Pläne für die nächsten Shows, bei denen auch Zombies kämpfen sollen.

Gabe und Bruce verarbeiten die toten Wachen in einem Nebenlager hinter der Rennbahn und zerlegen sie in ihre Einzelteile. Der Governor braucht sie, um sie an seine immer größer werdende Sammlung von Zombies zu verfüttern, die in einem geheim gehaltenen Raum tief in den Katakomben des Stadions eingesperrt sind. Die beiden Handlanger des Governors kommen kaum noch hinterher und werben einige der jüngeren Männer von Martinez’ Bande an, um mit Kettensägen die menschlichen Überreste in dem dreckigen, dunklen Schlachthaus neben der Leichenhalle in Zombiefutter zu verwandeln.

Während jeder seiner Arbeit nachgeht, ziehen die für den Januar so typischen Regenfälle mit langsamer, beinahe tückischer Art über das Land hinweg.

Anfangs verbreiten die Ausläufer des Sturms noch wenig Besorgnis – hier und da ein Schauer, der die Gullis mal überlaufen lässt oder die Straße mit Eis bedeckt. Die Temperaturen halten sich um den Gefrierpunkt. Aber das Blitzen in der Ferne und der aufgewühlte schwarze Himmel am westlichen Horizont tun das Ihre, damit die Leute zu reden beginnen. Niemand weiß genau, warum gerade dieser Winter ein außergewöhnlicher für Georgia werden sollte. Eigentlich herrschen in dem Bundesstaat für gewöhnlich milde Winter. Ab und zu gibt es sintflutartige Regenfälle, sogar Schnee oder vielleicht in seltenen Fällen einen Eissturm, aber niemand ist auf das vorbereitet, was in den kommenden Tagen über den Obstgürtel der Vereinigten Staaten hereinbrechen wird. Ein Tief aus Kanada nähert sich mit gewaltigen Schritten.

Das Wetteramt in Peachtree City, das noch immer mithilfe von Generatoren und Kurzwellenradio läuft, hat vorige Woche Wetterberichte auf allen Frequenzen ausgegeben, die sie belegen konnten. Aber kaum ein Zuhörer zieht Nutzen aus Barry Goodens – so heißt der gestresste Wettermann – hastig vorgetragenen Warnungen, in denen er an den Blizzard von ’93 und die Überflutungen von 2009 erinnert.

Laut Gooden wird die bitterkalte Front, die in den nächsten Tagen den amerikanischen Süden heimsuchen wird, in den kommenden vierundzwanzig Stunden mit der feuchten, milden, warmen Luft über Central Georgia zusammentreffen. Das resultierende Chaos soll die »normalen« Winterstürme wie ein Kinderspiel aussehen lassen. Mit Winden bis zu hundertdreißig Stundenkilometern, gefährlichen Gewittern und einer Mischung aus Regen, Schnee und Eis verspricht der resultierende Sturm den von der Plage heimgesuchten Staat ins Chaos zu stürzen. Die hohen Temperaturunterschiede drohen, sämtliche Flüsse, Bäche und Abwasserkanäle in reißende Fluten zu verwandeln, und wie man erst vor zwei Jahren lernte, ist der Staat Georgia, insbesondere durch die Plage, völlig unvorbereitet für jegliche Art von Flutschäden.

Vor ein paar Jahren hat ein großes Unwetter den Chattahoochee River über die Ufer steigen lassen und das bevölkerungsreiche Gebiet von Roswell, Sandy Springs und Marietta unter Wasser gesetzt. Schlammlawinen haben Häuser aus den Fundamenten gerissen. Highways wurden unter- und überspült, und die Katastrophe endete mit Dutzenden Toten und Schäden in neunstelliger Höhe. Dieses Jahr aber – das Monster formiert sich derzeit über dem Mississippi und entwickelt sich schneller als für möglich gehalten – verspricht alles Dagewesene in den Schatten zu stellen.

Die ersten Anzeichen, dass etwas Außergewöhnliches auf sie zukommt, bemerken die Bewohner von Woodbury am Freitagnachmittag.

Bei Nachteinbruch gießt der Regen in einem Winkel von fünfundvierzig Grad auf sie herab, angetrieben von Böen mit bis zu achtzig Stundenkilometern. Er prasselt gegen Woodburys Mauer und lässt Hochspannungsleitungen über dem Marktplatz im Wind singen und wie Peitschen knallen. Blitzsalven erhellen die dunklen Gassen mit silbrigem Licht wie Fotonegative, und in der Hauptstraße laufen sämtliche Gullis über. Die meisten Einwohner überdauern das Unwetter bei sich zu Hause, so dass Bürgersteige und verbarrikadierte Läden wie leer gefegt sind …

… aber nicht alle, denn eine Gruppe von vier Bewohnern hat sich raus in den Regen gewagt, um sich heimlich in einem Büro unterhalb des Stadions zu treffen.

»Alice, bitte lassen Sie das Licht aus«, ertönt eine Stimme von hinter dem in Schatten getauchten Schreibtisch. Eine Drahtbrille schimmert in der Dunkelheit. Es ist der einzige Hinweis, dass es sich um Dr. Stevens handelt. Das gedämpfte Getöse des Sturms unterstreicht die Stille, die im Raum herrscht.

Alice steht neben dem Lichtschalter und nickt. Nervös reibt sie sich die kalten Hände. Ihr Kittel sieht geradezu geisterhaft in der bedrückenden Atmosphäre des fensterlosen Büros aus, das Stevens als Lager benutzt.

»Du hast uns hier zusammengetrommelt, Lilly«, murmelt Martinez von der gegenüberliegenden Ecke. Er sitzt auf einem Stuhl und raucht einen Stumpen. Die Glut tanzt hin und her wie ein Glühwürmchen in der Finsternis. »Warum das Ganze? Was hast du auf dem Herzen?«

Lilly geht im Schatten beim Aktenschrank auf und ab. Sie trägt einen von Joshs Mänteln, Ausschussware von der Armee. Er ist so groß, dass sie beinahe wie ein Kind aussieht, das Zugang zum Kleiderschrank der Eltern bekommen hat. »Was ich auf dem Herzen habe? Mir wird langsam klar, dass ich nicht mehr länger so leben möchte.«

»Und das soll heißen?«

»Das soll heißen, dass das alles hier bis aufs Mark verdorben ist, und dieser Governor-Typ ist der krankhafteste von allen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das in der nächsten Zeit ändert.«

»Und …?«

Sie zuckt die Schultern. »Ich wäge die Alternativen ab.«

»Und die sind?«

Sie geht wieder auf und ab, wählt ihre Worte mit Bedacht: »Meine Sachen zu packen und einfach alleine abzuhauen gleicht einem Suizid … Andererseits versuche ich lieber mein Glück da draußen, als für immer und ewig hierzubleiben.«

Martinez wirft Stevens einen Blick zu. Der aber lauscht gebannt, während er seine Brille mit einem Tuch putzt. Die beiden Männer tauschen einen unbehaglichen Blick miteinander aus. Endlich erhebt Stevens das Wort: »Sie haben von Optionen geredet.«

Lilly hält inne und starrt Martinez an. »Diese Typen, mit denen du auf der Barrikade arbeitest … Vertraust du ihnen?«

Martinez nimmt einen weiteren Zug von seinem Stumpen, und der Rauch formt einen Kranz um seinen Kopf. »Mehr oder weniger.«

»Einigen mehr, anderen weniger?«

Er zuckt die Achseln. »Könnte man so sagen, ja.«

»Aber du vertraust diesen Typen mehr als anderen? Sie würden hinter dir stehen, wenn es hart auf hart kommt?«

Martinez starrt sie an. »Wovon reden wir hier, Lilly?«

Lilly holt tief Luft. Sie hat keine Ahnung, ob sie den Anwesenden hier im Raum trauen kann, aber sie scheinen die einzig vernünftigen Menschen in ganz Woodbury zu sein. Also entscheidet sie sich, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Nach einer langen Pause verkündet sie mit leiser Stimme: »Wir reden hier davon, die Macht zu übernehmen.«

Martinez und Stevens tauschen eine weitere Reihe von unbehaglichen Blicken aus, und jetzt ist auch Alice mit dabei. Die nervöse Stille wird von dem Unwetter draußen nur noch unterstrichen. Die Winde werden immer heftiger, und Donner schüttelt das Gebäude in immer kürzeren Abständen.

Endlich meldet sich Doc Stevens zu Wort: »Lilly, Sie wissen doch gar nicht, was Sie …«

»Nein!«, unterbricht sie ihn, schaut zu Boden und spricht in mit gefühlloser, monotoner Stimme: »Kein Geschichtsunterricht mehr, Doc. Die Zeiten sind vorbei. Es bringt nichts mehr, immer auf Nummer sicher zu setzen. Dieser Typ, dieser Philip Blake muss weg … Und das weiß jeder hier im Raum genauso gut wie ich.«

Unbeeindruckt schaut sie Martinez in die Augen: »Ich kenne Sie so gut wie gar nicht, Martinez, aber Sie scheinen den Kopf richtig herum aufgeschraubt zu haben … Sie scheinen der Mann zu sein, der eine Revolte anführen und Woodbury wieder auf Kurs bringen kann.«

Martinez erwidert ihren Blick. »Hey, jetzt mal immer mit der Ruhe, sonst tun Sie sich am Ende selbst noch weh.«

»Was auch immer … Keiner von Ihnen ist dazu verpflichtet, mir zuzuhören … Ist mir auch völlig egal.« Sie lässt die Augen jetzt von Martinez über Alice bis hin zu Stevens wandern. »Aber jeder hier weiß, dass ich recht habe. Das wird noch alles viel schlimmer werden in Woodbury, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Und wenn Sie mich jetzt wegen Verrat denunzieren – egal, machen Sie, was Sie nicht lassen können. Aber das ist vielleicht unsere letzte Chance, diesen Freak zu beseitigen. Ich habe nicht vor, auf meinem Allerwertesten zu sitzen, während hier eine Bombe nach der anderen hochgeht und immer mehr unschuldige Leute sterben. Jeder hier weiß, dass ich recht habe.« Sie blickt zu Boden. »Der Governor muss weg.«

Eine weitere Donnersalve rüttelt an den Grundfesten des Stadions, während keiner wagt, das Wort zu erheben. Endlich meldet sich Alice zu Wort.

»Sie hat recht, es führt kein Weg daran vorbei.«

Sechzehn

Am nächsten Tag wütet der Sturm über Georgias Südosten mit all seiner Macht, und Woodbury erfährt ein wahres Bombardement von peitschendem Regen und eiskalten Graupelschauern. Telefonmasten geben unter dem Gewicht nach, fallen krachend auf Highways voller verlassener Autowracks. Gullis und Bachläufe überfluten, leere Bauernhöfe stehen unter Wasser, während die höheren Gefilde mit einer tückischen Eisschicht bedeckt sind. Fünfzehn Kilometer südöstlich von Woodbury, in einem bewaldeten Talkessel in der Nähe des Highway 36, zieht der Sturm über den größten Friedhof im Süden der Vereinigten Staaten.

Das Edward Nightingale Memorial Gardens and Columbarium grenzt über eine Länge von eineinhalb Kilometer an eine Allee an, die südlich des Sprewell State Park verläuft. Der Friedhof beherbergt Zehntausende historischer Gräber. Die gotische Kapelle und das Besucherzentrum befinden sich im Osten der Anlage, ein Katzensprung vom Woodland Medical Center entfernt, das eines der größten Krankenhäuser von Georgia ist. Seit den ersten Wochen ist es quasi zur Hochburg dieser grässlichen Reanimationen geworden. Das Personal ist schon vor langer Zeit getürmt. Jetzt wimmelt der gesamte Gebäudekomplex mitsamt der Leichenhalle und dem riesigen Labyrinth von Aufbahrungshallen in den gewaltigen Kellergeschossen von Nightingale von Zombies. Einige warteten auf Autopsien, andere auf ihre Beerdigung. Alle von ihnen sind bis zu diesem Zeitpunkt in ihren Kühlfächern eingeschlossen.

An jenem Samstag um vier Uhr siebenunddreißig Eastern Standard Time tritt der nahe gelegene Flint River über seine Ufer. Unter Blitzen, die in stroboskopartigen Abständen die Erde erhellen, strömen die Wassermassen über die Ufer, machen Bauernhöfe dem Erdboden gleich, stürzen Werbetafeln um und spülen zurückgelassene Autos über Feldwege wie Spielzeug, das von einem wütenden Kind zur Seite geworfen wird. Die Schlammlawinen beginnen eine Stunde später. Der gesamte Hang nördlich des Friedhofs bricht zusammen und stürzt auf den Flint River zu. Auf seinem Weg deckt er Gräber ab, spült alte Särge mit sich, die aufreißen und ihren grässlichen Inhalt in den Ozean von Schlamm, Eisregen und Wind entleeren. Die meisten Skelette brechen einfach auseinander wie Streichhölzer, aber viele der nicht so alten Leichen, insbesondere diejenigen, die noch intakt und frisch genug sind, um zu krabbeln oder zu kriechen, arbeiten sich langsam, aber stetig in Richtung Land.

Verzierte Fenster entlang des Nightingale Besucherzentrums zerbersten vom Druck der Schlammlawine, implodieren, und die orkanartigen Winde bewerkstelligen den Rest, blasen Teile gotischer Turmspitzen fort und reißen ganze Dächer auf. Einen halben Kilometer weiter östlich treffen die Fluten auf das Krankenhaus und bringen Trümmer und Treibgut mit sich, denen die Türen und Fenster nicht standhalten können.

Die Untoten, die bis vor Kurzem noch in der Leichenhalle gefangen waren, tauchen jetzt aus allen erdenklichen Öffnungen hervor, werden von den Luftströmungen und den Winden erfasst.

Um fünf Uhr ist eine Unmenge von Zombies – es sind genug an der Zahl, um eine ganze Totenstadt zu bevölkern – gleich einer gestrandeten Schule von Fischen an Land gespült worden und verteilt sich über die angrenzenden Tabakfelder und Obstplantagen. Sie stolpern neben- und übereinander her, hängen in Bäumen, andere treiben weiter, Kilometer über Kilometer unter Wasser, dreschen im düsteren Nass vor unfreiwilligem, instinktivem Urhunger um sich. Tausende sammeln sich in den Moränen, Tälern und geschützten Landstrichen nördlich des Highway. Sie klettern aus dem Schlamm wie Pantomimen von Urmenschen aus einer paläolithischen Suppe.

Noch bevor die Regenstürme vorbei sind, sie ziehen weiter gen Osten Richtung Küste, übertrifft die noch verstreute Zahl der Toten sogar die Menge der Lebenden, die zu Zeiten vor der Plage in der Stadt Harrington lebten.

Das Nachspiel dieses Jahrhundertsturms endet in beinahe tausend Zombies, die sich langsam zusammenfinden und die größte Herde seit Beginn der Plage bilden. In der verregneten Dunkelheit sammeln sie sich mühsam und unbeholfen, bis sie sich in einem riesigen Pulk zwischen dem Crest Highway und der Roland Road gefunden haben. Die Herde ist so dicht, dass ihre verwesenden Köpfe aus der Ferne wie eine dunkle, brackige Flut aussehen, die unaufhaltsam über das Land strömt.

Aus keinem ersichtlichen Grund, außer vielleicht der unerklärlichen Verhaltensweise der Toten, rollt die Herde vielleicht aus Instinkt, vielleicht wegen des Geruchs, der Pheromone oder einfach nur aus Zufall nach Nordwesten direkt auf die am dichtesten bevölkerte Stadt der Gegend zu: Woodbury. Sie haben noch fünfzehn Kilometer vor sich.

Der Sturm hinterlässt Bauernhöfe und Felder im Südosten Georgias in riesigen Seen schwarzen, dreckigen Wassers. Die flachen Teiche gefrieren, die höher gelegenen Landstriche bilden ein einziges Schlammfeld.

Die immer schwächer werdende Regenfront zieht über das Land, verwandelt die Wälder und Hügel um Woodbury in ein Wunderland glitzernder Äste, Stromleitungen, die unter dem Gewicht der unzähligen Eiszapfen nachzugeben drohen, und kristalliner Pfade. Das alles wäre vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt ein wunderbarer Anblick, aber jetzt, inmitten dieser alles verwüstenden Plage und verzweifelter Menschen, ist es alles andere als das.

Am nächsten Tag mühen sich die Bewohner von Woodbury ab, die Stadt wieder auf Vordermann zu bringen. Der Governor weist seine Männer an, eine nahe gelegene Meierei nach Salzblöcken zu durchsuchen. Sie werden fündig und transportieren sie auf Pritschenwagen zurück, um sie dann mit Motorsägen in leichter zu hantierende Brocken zu schneiden, klein zu machen und schließlich auf die Straßen und Bürgersteige zu streuen. Sandsäcke werden südlich der Stadt aufgestapelt, um das Wasser abzuhalten. Den ganzen düsteren grauen Tag lang schöpfen, hacken, streuen und schaufeln die Bewohner die Stadt wieder frei.

»Die Show muss weitergehen, Bob«, meint der Governor am späten Nachmittag im Stadion. Die grellen Flutlichter scheinen durch den Nebel auf ihn herab, und das Nageln der Generatoren dröhnt in der Ferne. Die Luft riecht nach Gas, Alkalien und brennendem Müll.

Die Oberfläche der Rennbahn wiegt sich im Wind, der Schlamm ist so dick wie Haferbrei. Der Regen hat auch das Stadion und die Rennbahn nicht verschont, und das Wasser steht teilweise einen halben Meter hoch. Die mit Eis überzogenen Tribünen funkeln vor sich hin und werden von ein paar Arbeitern mit Gummiwischern und Schaufeln freigekratzt.

»Hä?« Bob Stookey hockt fünf Meter hinter dem Governor auf einer der Tribünen.

Gedankenverloren entkommt ihm ein Rülpser, der Kopf rollt im Vollrausch auf seinen Schultern hin und her. Bob sieht wie ein verlorener, kleiner Junge aus. Neben ihm liegt eine ausgetrunkene Flasche Jim Beam auf der mit Eis überzogenen, stählernen Sitzbank. Eine weitere, noch halb voll, hält er in seiner schmierigen, klammen Hand. Er hat die letzten fünf Tage durchgesoffen, seitdem er Megan Lafferty aus dieser Welt befördert hat.

Ein unverbesserlicher Säufer kann den Rausch besser aufrechterhalten als ein x-beliebiger Gelegenheitstrinker, denn die erreichen den Höhepunkt ihrer Trunkenheit, indem sie dieses Prickeln verspüren und sich in Gesellschaft wohlfühlen, kurz bevor ihnen der Vollrausch jeglichen Verstand raubt. Bob jedoch kann das Delirium erst nach einer Flasche Whiskey erreichen und für Tage aufrechterhalten.

Aber jetzt hat Bob Stookey das Ende seines Saufgelages erreicht. Nachdem er täglich vier Flaschen geleert hat, fängt er an, ständig einzunicken. Die Realität entgleitet ihm immer mehr, er beginnt zu halluzinieren, beinahe ohnmächtig zu werden.

»Ich habe gesagt, dass die Show weitergehen muss«, wiederholt der Governor etwas lauter und klettert über den ersten Maschendrahtzaun, der ihn von Bob trennt. »Die Leute kriegen langsam Hüttenkoller, Bob. Sie brauchen wieder etwas Ablenkung.«

»Wohl wahr«, grunzt Bob lallend. Er kann kaum den Kopf gerade halten und lugt unstet zum Governor hinab, der jetzt direkt vor der Tribüne steht und Bob unheilvoll durch den Maschendrahtzaun anblickt.

In Bobs fiebrigen Augen sieht der Governor unter dem kalten Flutlicht wie ein Dämon aus. Über seinem Kopf mit den nach hinten gezogenen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen schwarzen Haaren schwebt ein silberner Heiligenschein. Sein Atem ist als silbriger Rauch sichtbar, und sein schwarzer Fu-Manchu-Schnauzer wippt auf und ab, als er weiter auf Bob einredet: »So ein kleiner Wintersturm kann uns nichts anhaben, Bob. Ich habe da eine Idee … Das wird die Leute umhauen. Warte es nur ab. So etwas hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«

»Hört sich … gut an«, stammelt Bob. Sein Kopf fällt nach vorne, und ein dunkler Schatten legt sich über seine Augen.

»Morgen Abend, Bob.« In Bobs schummrigem Blick scheint das Gesicht des Governors wie ein Geist in der Luft zu schweben. »Das wird allen eine Lehre sein, Bob. Von jetzt ab wird hier ein anderer Wind wehen. Recht und Ordnung, Bob. Da kann man so viel lernen, dass einem der Schädel platzen mag. Aber gleichzeitig liefern wir auch eine Supershow, ist doch klar. Das wird ihnen die Zehennägel aufrollen. Das werden wir genau hier erreichen, in diesem Schlamm und der ganzen Scheiße. Bob? Hörst du mir überhaupt zu? Bob? Alles klar bei dir? Hey, alter Mann, immer schön bei mir bleiben!«

Bob wird schwarz vor Augen. Er verliert das Bewusstsein, fällt vom Sitz, und das Letzte, was er sieht, ist das Gesicht des Governors, das von den rostigen, geometrischen Maschen des Zauns zwischen ihnen in Einzelteile zerschnitten wird.

»Wo zum Teufel steckt eigentlich dieser Martinez?« Der Governor wirft einen Blick über die Schulter. »Habe schon seit Stunden weder Haut noch Haare von dem Arschloch gesehen.«

»Jetzt hört mir mal zu«, fordert Martinez die Männer auf und schaut jedem der Mitverschwörer der Reihe nach tief in die Augen. Die fünf sitzen in einem Halbkreis in einer Ecke des düsteren, alten Eisenbahnlagers um ihn herum. Überall hängen alte Spinnweben, und es ist so dunkel wie in einem Grab. Martinez zündet sich einen Zigarillo an, und sein markantes, intelligentes Gesicht wird von Rauch umhüllt. »Man stülpt einen Eimer nicht langsam und vorsichtig über eine Scheißkobra – man tut es so schnell und gezielt wie nur möglich.«

»Wann?«, will der Jüngste namens Stevie von ihm wissen. Er hockt neben Martinez, ist groß und schlank, halb schwarz, halb weiß, trägt eine glänzende, schwarze Jacke, hat etwas Flaum über der Lippe und blinzelt nervös mit seinen langen Wimpern in die Runde umher. Stevies scheinbare Arglosigkeit wird nur von seiner Lust getrübt, Zombies zu ermorden.

»Bald.« Martinez zieht an seinem Stumpen. »Ich lasse es euch heute Abend wissen.«

»Wo?«, fragt ein weiterer Mitverschwörer, ein älterer Mann in einer Wolljacke und einem Schal, der auf den Namen Schwede hört. Sein wilder Schopf blonder Haare, das lederne Gesicht und die breite Brust, die zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Patronengurten behängt ist, verleihen ihm den Anschein, als ob er gerade aus der französischen Résistance des Zweiten Weltkrieges kommt.

Martinez wirft ihm einen Blick zu. »Das werdet ihr schon früh genug erfahren.«

Der Schwede seufzt genervt. »Wir spielen hier mit dem Feuer, Martinez. Zumindest könntest du uns ein paar Hinweise geben, auf was genau wir uns da einlassen.«

Ein weiterer Mann erhebt die Stimme, ein Schwarzer in einer Daunenweste namens Broyles. »Schwede, der hat schon seine Gründe, warum er uns nichts erzählt.«

»Yeah? Dann klär mich mal auf.«

Der schwarze Mann mustert den Schweden. »Fehlertoleranz.«

»Was meinst du?«

Der Schwarze schaut Martinez an. »Es steht zu viel auf dem Spiel. Nur einer von uns muss gefasst werden, gefoltert und so Zeug.«

Martinez nickt und zieht an seinem Stumpen. »So in der Art … Genau.«

Ein vierter Mann, ein ehemaliger Mechaniker namens Taggert, ergreift das Wort. »Und was ist mit den beiden Kletten?«

»Du meinst Bruce und Gabe?«, vergewissert sich Martinez.

»Ja … Glaubst du, dass wir sie überzeugen können?«

Martinez zieht erneut an seinem Stumpen. »Was glaubst du denn?«

Taggert zuckt die Achseln. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass sie damit etwas zu tun haben wollen. Die kriechen Blake derartig in den Arsch, dass sie ihm oben wieder rauskommen.«

»So sieht es aus«, stimmt Martinez zu und holt tief Luft. »Und genau deswegen müssen wir die beiden als Erste aus dem Weg schaffen.«

»Also, wenn ihr mich fragt«, murmelt Stevie, »haben die meisten Leute in der Stadt nichts gegen den Governor.«

»Er hat recht«, pflichtet der Schwede dem Jungen mit nervösem Nicken bei. »Ich würde schätzen, dass sogar neunzig Prozent der Menschen hier das Arschloch mögen und nichts dagegen haben, wie er die Stadt regiert. Solange es genug zu essen gibt, die Barrikade hält und die Show weiter geht … Genau wie die Deutschen in den Dreißigerjahren, als der Sack Adolf Hitler …«

»Alles klar, das reicht.« Martinez wirft den ausgerauchten Zigarillo auf den Boden und tritt ihn aus. »Jetzt hört mal zu … alle Mann.« Er blickt jeden an und spricht mit leiser, monotoner Stimme, in der seine Nervosität mitklingt. »Diese Sache wird abgehen, und zwar schnell und durchgreifend … Sonst enden wir genau wie alle anderen irgendwann im Schlachthaus und werden an Zombies verfüttert. Er wird einen Unfall haben. Mehr braucht ihr im Augenblick nicht zu wissen. Wenn ihr nichts damit zu tun haben wollt, bitte, da ist die Tür. Ich nehme es euch nicht übel. Das ist eure letzte Chance.« Er wird ein wenig persönlicher. »Ihr wart immer gute Arbeiter, gute Männer, ehrlich … Und jemandem vertrauen zu können ist Gold wert, insbesondere hier. Wenn ihr raus wollt, schütteln wir uns jetzt die Hände und das war es. Damit habe ich überhaupt kein Problem. Aber tut es jetzt. Denn wenn das alles erst einmal abgeht, gibt es keine Notbremse mehr, die wir ziehen können.«

Martinez wartet.

Niemand sagt etwas, niemand steht auf und verlässt das Lager.

In jener Nacht sinken die Temperaturen, und die eisigen Nordwinde nehmen zu. Aus den Schloten qualmt Rauch von den vielen Holzfeuern in Woodbury, und die Generatoren brummen sonor vor sich hin. Im Westen leuchten noch immer die Flutlichter des Stadions, und die Vorbereitungen für die große Weltpremiere am folgenden Abend sind in vollem Gang.

Lilly Caul ist allein in ihrer Wohnung über der Chemischen Reinigung. Sie legt zwei halb automatische Handfeuerwaffen mit extra Munition auf ihrem Bett zurecht – zwei .22-Kaliber Ruger Lite, ein extra Magazin und eine Schachtel 32er-Korn Hohlspitzgeschosse. Martinez hat ihr die Waffen gegeben und ihr im Schnelldurchlauf gezeigt, wie man sie neu lädt.

Sie tritt einen Schritt zurück, starrt auf die vergoldeten Pistolen und kneift die Augen zusammen. Ihr Herz schlägt schneller, ihr Schlund wird ganz trocken, und sie weiß, dass ihre alten Wegbegleiter, Panik und Selbstzweifel, wieder mit von der Partie sind. Sie hält inne, schließt die Augen und schluckt die Angst mit Mühe und viel Selbstkontrolle wieder hinunter. Dann öffnet sie die Augen, hält die rechte Hand in die Höhe und betrachtet sie, als ob sie jemand anderem gehörte. Die Hand zittert nicht, ist völlig ruhig.

Sie wird diese Nacht kein Auge mehr zutun. Die nächste vielleicht auch nicht.

Lilly holt einen großen Rucksack unter dem Bett hervor, packt die Waffen, die Munition, eine Machete, eine Taschenlampe, Nylonleine, Schlafmittel, Panzerband, eine Dose Red Bull, ein Feuerzeug, eine Rolle Plastikplane, fingerlose Handschuhe, ein Fernglas und eine extra Daunenweste ein. Dann schließt sie den Rucksack und stopft ihn wieder unter das Bett.

Sie hat weniger als vierundzwanzig Stunden, bis die Mission beginnt, die ihr Leben entscheidend verändern wird.

Lilly zieht einen Daunenmantel, ihre Fellstiefel und eine Mütze an. Dann blickt sie auf die Uhr auf ihrem Nachttisch.

Fünf Minuten später, um kurz vor Mitternacht, lässt sie die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich ins Schloss fallen und macht sich auf den Weg.

Die Stadt ist in der eiskalten Nacht wie leer gefegt, die Luft beißt vor Schwefel und gefrorenem Salz. Lilly muss sich vorsehen, um auf den gefrorenen Bürgersteigen nicht auszurutschen. Ihre Stiefel knirschen bei jedem Schritt. Sie blickt über die Schulter. Die Straßen sind leer. Sie schleicht um die Post herum und geht direkt auf Bobs Wohnung zu.

Die hölzerne Treppe, an der Megan sich aufgehängt hat, ist völlig mit Eis bedeckt. Als Lilly die Stufen hochsteigt, knarzt es unter ihr, und das Eis bricht unter ihren Stiefeln.

Sie klopft an Bobs Tür. Keine Antwort. Sie klopft erneut. Nichts. Sie flüstert Bobs Namen, aber keine Reaktion, kein Laut von innen. Sie legt die Hand auf die Klinke, drückt sie nieder. Zu ihrer Überraschung ist sie nicht abgeschlossen. Lilly öffnet die Tür und tritt ein.

Die Küche ist in Dunkelheit getaucht. Der Boden ist mit zerbrochenen Tellern und Tassen übersät, hier und da erkennt sie Lachen irgendeiner Flüssigkeit. Einen Augenblick lang wundert Lilly sich, ob sie nicht besser mit einer Waffe eingetreten wäre. Sie checkt das Wohnzimmer zu ihrer Rechten, sieht umgestoßene Möbel und Haufen dreckiger Wäsche.

Sie findet die batteriebetriebene Laterne auf der Arbeitsplatte, nimmt sie in die Hand und schaltet sie an. Lilly geht den Flur entlang und ruft: »Bob?«

Der Laternenschein spiegelt sich in den Scherben auf dem Boden. Eine von Bobs Arzttaschen liegt umgedreht im Flur, sämtlicher Inhalt über den Boden verstreut. An den Wänden schimmert etwas Klebriges. Lilly schluckt erneut ihre Angst hinunter und geht weiter.

»Irgendjemand zu Hause?«

Sie lugt in das Schlafzimmer am Ende des Flurs und sieht Bob. Er sitzt auf dem Boden, den Rücken gegen das ungemachte Bett gelehnt, der Kopf hängt schlaff nach vorn. Er trägt ein dreckiges Unterhemd und Boxershorts. Seine dünnen Beinchen sind weiß wie Alabaster, und er ist so still und ruhig, dass Lilly ihn für tot hält.

Aber dann sieht sie, dass seine Brust sich kaum merkbar hebt und senkt und sieht eine halb leere Flasche Jim Beam in seiner rechten Hand.

»Bob!«

Sie eilt zu ihm, hebt vorsichtig den Kopf und lehnt ihn gegen das Bett. Seine fettigen, schütteren Haare hängen schief von seinem Schädel herunter. Mit Lidern auf Halbmast, so dass man seine blutunterlaufenen, glasigen Augen nur schwerlich sieht, stammelt er kaum verständlich: »Zu viele … Die werden …«

»Bob, ich bin es, Lilly. Kannst du mich hören? Alles ist gut, ich bin hier.«

Sein Kopf fällt wieder nach vorne. »Die werden alle sterben … Wenn wir nicht die schlimmsten Fälle sichten …«

»Bob, wach auf! Du träumst. Alles ist gut, ich bin doch hier!«

»Voller Maden … Zu viele … Grässlich …«

Sie stellt sich auf, dreht sich um und verlässt das Schlafzimmer, um im verwahrlosten Badezimmer einen dreckigen Becher mit Wasser zu füllen. Mit dem Becher in der Hand kehrt sie zu Bob zurück. Sanft löst sie seine Finger von der Flasche Jim Beam und wirft sie dann mit Wucht gegen die Wand. Die Flasche zerbirst in tausend Scherben und hinterlässt einen feuchten Fleck auf der Blumentapete. Bob zuckt bei dem Lärm zusammen.

»Hier, trink«, fordert sie ihn auf und flößt ihm etwas Wasser in den Mund. Er hustet, schluckt es aber. Seine Hände zucken, und sein ganzer Körper schüttelt sich. Er versucht, Lilly anzuschauen, aber seine Augen spielen nicht mit. Sie legt ihm eine Hand auf seine fiebrige Stirn. »Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, Bob. Aber das wird schon wieder. Ich bin ja da. Los, komm.«

Sie greift ihm unter die Arme, hebt ihn mit Mühe auf das Bett und legt ihm ein Kissen unter den Kopf. Dann deckt sie ihn zu und redet sanft auf ihn ein: »Ich weiß, dass der Verlust von Megan dir zu schaffen macht, aber lass dich nicht gehen, Bob. Das Leben geht weiter.«

Er runzelt die Stirn, und der Schmerz steht ihm im Gesicht geschrieben. Er schaut zur Decke auf, erweckt den Anschein, als ob er lebendig begraben wurde und zu atmen versucht. Endlich lallt er: »Ich wollte doch nicht … Nie … Das war doch nicht meine Idee, dass …«

»Es ist okay, Bob. Du musst dich nicht erklären.« Sie streichelt ihm die Stirn und sagt dann mit ruhiger Stimme: »Du hast das gut gemacht. Alles wird gut. Hier wird sich einiges ändern, und zwar zum Guten.« Sie streichelt seine Wange, spürt seine kalte Haut und beginnt, leise Joni Mitchells »The Circle Game« zu singen. Wie in den alten Zeiten.

Bob lässt den Kopf auf das von Schweiß durchtränkte Kissen sinken. Sein Atmen wird ruhiger. Er schließt die Augen. Wie in alten Zeiten … Er fängt zu schnarchen an, aber Lilly singt noch etwas weiter.

»Wir … entfernen ihn«, haucht Lilly dem schlafenden Mann zu.

Sie weiß, dass er nichts mehr hört, aber sie redet mit sich selbst, mit einem tief begrabenen Teil ihrer Psyche.

»Es ist zu spät, um noch etwas zu ändern … Wir entfernen ihn …«

Lillys Stimme verstummt, sie sucht und findet eine Decke und verbringt den Rest der Nacht sitzend neben Bob, während sie auf den Anfang des neuen Tags wartet, der ihr Schicksal bestimmen wird.

Siebzehn

Am nächsten Morgen steht der Governor früh auf, um die letzten Vorbereitungen für die große Show zu treffen. Er ist bereits vor Morgengrauen auf den Beinen, zieht sich rasch an, macht sich Kaffee und verfüttert die letzten menschlichen Eingeweide, die er zuhause hat, an Penny. Um sieben ist er bereits auf dem Weg zu Gabes Wohnung. Die Salzstreuer sind ebenfalls schon bei der Arbeit, obwohl das Wetter angesichts der Geschehnisse der vergangenen Woche überraschend mild ist und die Temperaturen weit über dem Gefrierpunkt liegen. Der Himmel macht auch keinen bedrohlichen Eindruck mehr, sondern ist nur noch mit einer blassgrauen Decke von zementfarbenen Wolken bedeckt. Es weht eine schwache Brise, und der anbrechende Tag scheint dem Governor wie perfekt für den kommenden Abend und die neuen und verbesserten Gladiatorenspiele.

Gabe und Bruce überwachen den Transport der gefangenen Zombies in den Katakomben unter dem Stadion. Es dauert einige Stunden, die Kreaturen aus den Untergeschossen in den Sammelraum zu lotsen, da die Zombies nicht nur widerspenstig sind, sondern der Governor auch will, dass niemand etwas davon mitkriegt. Allein bei dem Gedanken der Enthüllung des Rings des Todes läuft dem Governor das Wasser im Mund zusammen, und er will, dass die Zuschauer am Abend das Gleiche empfinden. Er verbringt den Großteil des Nachmittags in der Arena, überprüft immer wieder Vorhänge, die Beschallungsanlage, die Musikeinsätze, Lampen und Scheinwerfer, Tore, Schlösser, die Sicherheitsmaßnahmen und zu guter Letzt die Kämpfer selbst.

Die beiden übrig gebliebenen Wachen, Zorn und Manning, siechen noch immer in ihrer Zelle dahin und haben so gut wie alle Muskeln und sämtliches Körperfett verloren. Sie ernähren sich schon seit Monaten von nichts weiter als Überbleibseln alter Cracker und Wasser, sind ununterbrochen an die Wand gekettet und besitzen kaum noch einen klaren Gedanken. Ihre einzige Rettung ist ihr Training beim Militär – und ihre Wut, die während ihrer wochenlangen, qualvollen Gefangenschaft an ihnen genagt, immer mehr von ihnen Besitz ergriffen und sie in wild dreinblickende Monstern verwandelt hat, die nur darauf warten, Rache zu üben.

Mit anderen Worten: Wenn sie ihre Wärter nicht töten können, dann stürzen sie sich dankbar auf alles andere, was sich ihnen in den Weg stellt, einschließlich einander.

Die Wachen sind das letzte Schlüsselstück, und so wartet der Governor bis zum letzten Augenblick, um sie aus der Zelle zu geleiten. Gabe und Bruce schnappen sich drei der kräftigsten Arbeiter und weisen sie an, in die Zelle zu gehen, um den Wachen ein Beruhigungsmittel zu spritzen, damit man sie leichter transportieren kann. Sie haben es so oder so nicht weit. Mit Lederriemen um den Hals, über die Münder, um die Handgelenke und Fersen gebunden, werden sie die metallenen Treppen hinauf in einen Warteraum gezerrt.

Vor langer Zeit wurden diese Korridore einmal von Racing-Fans benutzt, die T-Shirts, Hamburger, Bier und Zuckerwatte kauften. Jetzt aber liegen sie in immerwährender Finsternis, sind mit Brettern verschlagen, mit Schlössern versehen und als behelfsmäßige Lager für alles, von Kraftstoffbehältern bis zu Kartons, mit gestohlenen Wertsachen der Toten benutzt.

Um halb sieben am frühen Abend ist es so weit. Der Governor befiehlt Gabe und Bruce, sich einander gegenüber in der Arena aufzustellen und etwaige widerspenstige Wettkämpfer oder Zombies in Schach zu halten, die es sich in den Kopf gesetzt haben zu fliehen. Zufrieden mit den Vorbereitungen, macht der Governor sich auf den Weg nach Hause, um sich für die Show anzuziehen: schwarze Lederweste, schwarze Lederhose und schwarze, lederne Motorradstiefel. Zudem bindet er sich eine Feder in den Pferdeschwanz. Er fühlt sich wie ein Rockstar. Das i-Tüpfelchen bildet sein langer, schwarzer Ledermantel.

Kurz nach sieben machen sich die Einwohner Woodburys auf den Weg ins Stadion. Während der vorigen Woche hat der Governor sogar Poster an Laternen und in Ladenfenster anbringen lassen, und ein jeder weiß, dass die Show erst um halb acht beginnt. Aber alle möchten einen guten Platz haben, es sich mit Decken und Kissen gemütlich machen und etwas zu trinken holen, ehe das Spektakel anfängt

Das milde Wetter trägt dazu bei, dass alle mit freudiger Erregung auf die Geschehnisse des Abends warten.

Zwei Minuten vor halb acht wird es plötzlich so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Die Zuschauer sitzen und stehen auf den Tribünen, die Gesichter gegen den Zaun gepresst. Die jungen Männer sind ganz unten, während Frauen, Paare und ältere Bewohner es sich weiter oben mit Decken um die Beine eingerichtet haben, um der Kälte zu trotzen. Jedem Gesicht kann man den Hunger eines Junkies im Entzug ablesen – ausgemergelt, abgemagert, nervös. Sie wissen, dass gleich etwas Außergewöhnliches vor ihren Augen passieren wird. Sie riechen Blut.

Und der Governor wird sie nicht enttäuschen.

Punkt halb acht, zumindest laut der automatischen Fossil-Armbanduhr des Governors, ertönt Musik aus dem Beschallungssystem des Stadions. Sie ist neben dem kontinuierlichen Rauschen des Windes zuerst gar nicht zu hören, lediglich ein Hauch, ein unterirdisches Beben. Die Melodie kennt so gut wie jeder, wenn auch niemand weiß, was es ist: Also sprach Zarathustra von Richard Strauss. Die meisten kennen das Stück von dem Film 2001: Odyssee im Weltraum. Die anschwellenden Töne der Blechbläser erklingen einer nach dem anderen und bauen sich zu einer dramatischen Fanfare auf.

Im Licht der Flutlichter kann man den leichten Schneefall sehen, der jetzt auf sie niederfällt. Die Mitte der schlammigen Arena ist in beißend grelles Licht getaucht. Die Menge stößt begeisterte Rufe aus, als der Governor in den Lichtkegel schreitet.

Er hebt eine Hand, eine majestätische, melodramatische Geste. Die Musik erreicht jetzt ihren Höhepunkt, und der Wind spielt mit den Rockschößen seines Ledermantels. Er taucht fünfzehn Zentimeter tief in den Matsch ein. Die gesamte Arena ist ein einziger Morast, und der Governor glaubt, dass der Schlamm die Show nur noch dramatischer machen wird.

»Freunde! Mitbewohner von Woodbury!«, spricht er mit dröhnender Stimme ins Mikrofon, das an eine PA-Anlage hinter ihm angeschlossen ist. Sein Bariton steigt in den Nachthimmel, das Echo hallt in den leeren Rängen wider. »Ihr habt hart gearbeitet, damit diese Stadt besteht! Und gleich werdet ihr dafür belohnt! Seid ihr bereit, knallharte Action zu erleben?«

Von den Rängen erschallen schrille Schreie und wildes Gegröle.

»Dann raus mit den Kriegern!«

Auf das Stichwort hin fahren riesige Spotlights über die Dächer, werden von unglaublichem Lärm begleitet, ehe sie durch die Arena leuchten. Eins nach dem anderen kommt auf einer Reihe riesiger, schwarzer Vorhänge zum Stehen, die jeweils den Eingang der fünf Tunnel bedecken, welche aus den Katakomben des Stadions in die Arena führen.

Am gegenüberliegenden Ende der Arena öffnet sich ein Garagentor, und Zorn, der jüngere der beiden Wachen, erscheint im Schatten des Tunnels. Gekleidet in behelfsmäßige Schulterpolster und Schienbeinschoner, hält er eine große Machete in der vor latentem Wahnsinn zitternden Hand. Er tritt in die Arena, geht auf die Mitte zu. In seinem Gesicht kann man die wilde, manische Entschlossenheit sehen. Er bewegt sich steif, ruckartig, ein Kriegsgefangener, der sich das erste Mal seit Wochen wieder bewegen darf.

Beinahe gleichzeitig öffnet sich das gegenüberliegende Tor, und Manning, der ältere Soldat, erscheint aus dem Schatten. Er hat wildes graues Haar und blutunterlaufene Augen und trägt eine riesige Streitaxt in der Hand. Seine Bewegungen, als er auf die Mitte zustolpert, gleichen denen eines Zombies.

Als die beiden Kämpfer aufeinander zutaumeln, brüllt der Governor: »Sehr geehrte Damen und Herren, ich präsentiere Ihnen hiermit voller Stolz den ›Ring des Todes‹!«

Die Menge stöhnt wie eins auf, als die restlichen Vorhänge in der Arena plötzlich fallen, erneut wie auf ein Stichwort, und den Blick auf einen Ring zischender, halb verwester, hungriger Zombies freigibt. Einige der Zuschauer springen auf, wollen instinktiv fliehen, als die Beißer die ersten Schritte tun, die Hände nach dem menschlichen Fleisch ausgestreckt.

Die Zombies legen circa die halbe Strecke zur Mitte der Arena in ihrer eigenartigen, schlurfenden Gangart zurück, ehe die Ketten sich zu spannen beginnen. Einige verlieren durch die plötzliche Bewegungsunfreiheit das Gleichgewicht und stürzen in Slapstick-Manier in den Schlamm, während andere vor Empörung über die Ungerechtigkeit ihrer Gefangenschaft wütend zu knurren anfangen und wild mit den Armen fuchteln. Die Menge johlt begeistert auf.

»LASST DIE SCHLACHT BEGINNEN!«

In der Mitte der Arena stürzt Zorn sich auf seinen Widersacher, ehe Manning weiß, wie ihm geschieht. Selbst der Governor bringt sich nur mit Mühe und Not in Sicherheit, und Manning schafft es gerade noch, die Streitaxt in die Höhe zu halten, um den Schlag zu blockieren.

Die Machete trifft mit voller Wucht auf das Metall der Axt, dass die Funken fliegen.

Die Menge grölt, als Manning nach hinten durch den Matsch torkelt, ins Rutschen kommt und nur wenige Zentimeter vor einem der Zombies zu Boden geht. Der Beißer, die Augen vor Blutrausch weit aufgerissen, schnappt mit den Zähnen nach Mannings Fersen und reißt dabei fast die Kette aus der Verankerung. Manning rafft sich wieder auf, das Gesicht vor Terror und Wahnsinn völlig verzerrt.

Der Governor lächelt, als er die Arena verlässt und durch einen der Tunnel verschwindet.

Das Getöse der Zuschauer hallt in dem Gang wider, umhüllt ihn, während er durch die Finsternis eilt und bei dem Gedanken, dass eine der Wachen gebissen und vor den Augen der Menge selbst zum Zombie wird, vor sich hin kichert. Das wäre Entertainment allererster Klasse.

Er kommt um eine Ecke und sieht einen seiner Männer, der neben einem verlassenen Essensstand steht und ein neues Magazin in seine AK-47 steckt. Der junge Mann, ein groß gewachsener Bauernjunge aus Macon, trägt einen abgewetzten Daunenmantel und eine Mütze. Er blickt auf. »Hey, Gov … Wie läuft es denn da draußen?«

»Nervenkitzel pur, Johnny. Nervenkitzel pur«, erwidert der Governor und blinzelt ihm im Vorbeigehen zu. »Ich schau mal nach Gabe und Bruce an den Ausgängen … Pass du drauf auf, dass die Zombies in der Arena bleiben. Wir wollen schließlich nicht, dass sie in den Tunneln verschwinden.«

»Wird gemacht, Boss.«

Der Governor geht weiter, verschwindet um die nächste Ecke und geht einen weiteren leeren Gang hinunter.

Der gedämpfte Lärm der Zuschauer hallt ihm noch immer nach, als er nach Osten zum Ausgang eilt. Er beginnt zu pfeifen, fühlt sich wie auf Wolke neun, als er plötzlich verstummt und langsamer wird. Instinktiv holt er seine .38er hervor, die in seinem Gürtel steckt. Irgendetwas stimmt auf einmal nicht mehr.

Er hält mitten im Tunnel inne. Der östliche Ausgang, er kann ihn gerade um die Ecke in sechs Metern Entfernung ausmachen, ist völlig unbewacht. Gabe ist weit und breit nicht zu sehen. Das äußere Tor – es ist aus Holz gefertigt – ist geschlossen, und Lichtstreifen von einem Auto scheinen durch die Spalten zwischen den Brettern.

Dann erblickt er den Lauf eines M1-Maschinengewehres. Es kann sich nur um Gabes Waffe handeln, die auf dem Boden liegt.

»Schweinehund!«, schimpft der Governor, hebt seine Waffe und dreht sich um.

Die blauen Funken eines Elektroschockers erwischen ihn mitten im Gesicht, und der Schock lässt ihn rückwärtstaumeln.

Martinez verschwendet keine Zeit, hält den Taser in der einen Hand und einen mit Leder überzogenen Schlagstock in der anderen. Als der fünfzigtausend Volt starke Stromschlag den Governor gegen die Wand wirft, fliegt ihm die Waffe aus der Hand.

Martinez holt aus und trifft den Governor mit dem Schlagstock gegen die Schläfe. Der Aufprall hört sich wie eine tonlose Glocke an, die geschlagen wird. Der Governor krümmt sich, schlägt wild um sich, gibt nicht so schnell auf. Vor ohnmächtiger Wut brüllt er wie ein Stier. Die Venen an Hals und Schläfen schwellen an, als er blindlings in Martinez’ Richtung tritt.

Der Schwede und Broyles stehen links und rechts hinter Martinez und warten darauf, den Governor mit Panzerband und Seil zu fesseln. Martinez holt erneut aus, triff den Governor noch einmal am Kopf, und diesmal funktioniert es.

Der Governor erstarrt und sinkt zu Boden. Seine Augen rollen nach hinten. Der Schwede und Broyles nähern sich dem zuckenden, bebenden Körper, der zusammengekrümmt auf dem Boden liegt.

Sie fesseln und knebeln ihn in weniger als einer Minute. Martinez pfeift kurz, und kurz darauf öffnet sich das Tor.

»Ich zähle bis drei«, murmelt Martinez, steckt den Taser weg und verstaut den Schlagstock in seinem Gürtel. Dann schnappt er den gefesselten Governor an den Fesseln. »Eins … zwei … drei!«

Broyles greift unter die Achselhöhlen, und der Schwede führt sie durch das Tor hinaus in den kalten Wind, wo sie den gefesselten Mann zu einem wartenden Lieferwagen tragen.

Die Ladentür steht bereits offen, so dass sie den Governor schnurstracks auf die Ladefläche werfen können.

Innerhalb von Sekunden sind auch die Männer in dem fensterlosen Lieferwagen verschwunden und haben sämtliche Türen geschlossen. Nach einem Klopfzeichen fährt der Wagen rückwärts weg vom Tor.

Nach wenigen Metern hält er an, der erste Gang wird eingelegt, und er schießt davon.

Kurz darauf ist bereits nichts mehr von ihnen zu sehen, und lediglich eine sich in Luft auflösende Wolke von Abgasen bleibt als Hinweis auf das, was gerade geschehen ist.

»Aufwachen, du krankes Arschloch!« Lilly gibt dem Governor eine Ohrfeige, und seine Augen öffnen sich langsam, während der voll besetzte Lieferwagen aus der Stadt verschwindet.

Gabe und Bruce sind ebenfalls gefesselt und geknebelt und liegen weiter vorne. Der Schwede hält einen .45er Smith & Wesson auf die beiden gerichtet. Sie haben die Augen aufgerissen, wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Der Wagen ist mit Kartons voller militärischer Ausrüstung beladen. Es ist alles dabei, von stahldurchschlagender Munition bis hin zu Brandbomben.

»Immer mit der Ruhe, Lilly«, warnt Martinez sie, der weiter vorne an der Wand zur Fahrerkabine hockt. Er hält ein Walkie-Talkie in seiner behandschuhten Hand. Das Gesicht ist vor Nervosität ganz verzerrt. Er kommt sich vor wie ein Ketzer, der gegen die Kirche aufbegehrt. Martinez dreht sich um, drückt auf den Knopf und sagt mit leiser Stimme: »Folgt einfach dem Jeep. Fahrt ohne Licht und sagt Bescheid, sobald ihr Zombies seht.«

Der Governor kommt langsam zu Bewusstsein, blinzelt, schaut sich um. Er zerrt an dem Seil, checkt, wie belastbar seine Fesseln sind.

»Jetzt hör mal gut zu, Blake«, erhebt Lilly das Wort und blickt hinunter zu dem Mann, der auf dem Wellblechboden liegt. »›Governor‹ … ›Präsident‹ … ›König‹ und all diese Scheiße … Wie auch immer du dich nennst. Glaubst du etwa, dass du ein gutmütiger Diktator bist?«

Die Augen des Governors schwirren ruhelos durch den Lieferwagen, wie ein gefangenes Tier, das darauf wartet, abgeschlachtet zu werden.

»Meine Freunde hätten nicht sterben müssen«, fährt Lilly fort und baut sich über dem Mann auf. Ihr steigen Tränen in die Augen, und sie hasst sich dafür. »Du hättest hier etwas Großes schaffen können … Einen Ort, an dem die Menschen friedlich und in Eintracht leben können … Und was hast du gemacht? Eine kranke Freak-Show hast du ins Leben gerufen!«

Weiter vorne drückt Martinez erneut auf den Sprechknopf: »Stevie, siehst du schon etwas?«

Man hört ein Rauschen und Knistern, ehe die Stimme des jungen Mannes ertönt: »Negativ … Noch nichts … Halt!« Wieder Rauschen, dann Rascheln. Dann nicht ins Mikrofon gesprochen: »Was zum Teufel ist denn das?«

Martinez drückt auf den Knopf. »Stevie, bitte wiederholen. Wir haben hier nichts verstanden.«

Rauschen … Gefolgt von Knistern.

»Stevie? Hörst du mich? Ich will nicht zu weit von der Stadt weg!«

Ab und zu kann man Stevie zwischen dem ganzen Rauschen und Knistern hören: »Stopp, Taggert! … Stopp! … Was zum Teufel! WAS ZUM TEUFEL …!«

Lilly wischt sich die Augen trocken und starrt dann erneut den Governor an. »Sex gegen Essen? Ehrlich? Wirklich? Ist das deine wunderbare neue Gesellschaftsordnung …«

»Lilly!«, ruft Martinez von vorne. »Hör auf damit! Wir haben ein Problem!« Er drückt erneut auf den Knopf. »Broyles, halt sofort an!«

Jetzt ist der Governor wieder bei vollem Bewusstsein. Er erwidert Lillys Blick, starrt sie mit einer stillen Wut an, die Löcher in ihre Seele brennen müsste, aber Lilly stört es kein bisschen. Sie merkt es nicht einmal.

»All das Kämpfen, die Suizide und die Furcht, die jeden dumpf vor sich hin vegetieren lässt …?« Sie würde ihn am liebsten anspucken. »Das ist deine Idee einer perfekten GESELLSCHAFT …?«

»Lilly! Verdammt noch mal!« Martinez dreht sich zu ihr um, schaut sie an. »Würdest du bitte …«

Der Truck hält plötzlich ruckartig an, so dass Martinez gegen die Wand zur Fahrerkabine geworfen wird und Lilly über den Governor hinweg gegen einen Stapel Munition fliegt. Die Kartons kommen ins Wanken und fallen zu Boden. Das Handsprechfunkgerät gleitet Martinez aus der Hand und endet neben einer auf dem Boden liegenden Tasche. Der Governor rollt sich von einer Seite zur anderen, bis das Panzerband über seinem Mund sich löst.

Dann ertönt Broyles Stimme inmitten von Rauschen: »Habe Sichtbestätigung eines Beißers!«

Martinez kriecht zum Handsprechfunkgerät, schnappt es sich und drückt auf den Knopf. »Was zum Teufel war denn das, Broyles? Warum hast du …«

»Und noch einer!«, krächzt die Stimme aus dem winzigen Lautsprecher. »Da kommen ein paar aus … Oh, fuck … Oh, fuck … OH, FUCK!«

Martinez drückt erneut auf den Knopf. »Broyles, was zum Teufel geht da vor?«

»Da sind mehr, als wir …«

Dann Rauschen, ehe Stevies Stimme erneut ertönt: »Verdammte Scheiße, da kommt ein ganzer Haufen aus dem …« Wieder Rauschen. »Die kommen aus dem Wald. Man … Die kommen und kommen und kommen …«

Martinez brüllt ins Handsprechfunkgerät: »Stevie! Sprich mit mir! Sollen wir sie einfach rausschmeißen und abhauen?«

Rauschen als Antwort.

Martinez brüllt: »Stevie! Hörst du mich noch? Sollen wir umkehren?«

Plötzlich meldet sich Boyles wieder: »Viel zu viele, Boss! Ich habe noch nie so viele …«

Wieder Rauschen gefolgt von einem Schuss und brechendem Glas, sie können es sogar durch das Blech des Lieferwagens hören. Lilly rafft sich auf. Sie weiß genau, was draußen vor geht, holt ihre Ruger hervor, entsichert sie und wirft einen Blick über die Schulter. »Martinez, hol deine Männer da raus!«

Martinez drückt wieder auf den Knopf. »Stevie! Kannst du mich hören? Zieht Leine, zurück mit euch! Dreht um! Wir finden schon etwas anderes! Kannst du mich hören? STEVIE!«

Stevies qualvoller Schrei ertönt aus dem Handsprechfunkgerät, ehe eine weitere Salve Schüsse aus einem Maschinengewehr das Rauschen ablöst … gefolgt von einem fürchterlichen Reißen von Metall … und dann einem gigantischem Knall.

Broyles meldet sich wieder: »Scheiße! Die haben den Wagen einfach umgeworfen! Es sind zu viele, es sind einfach viel zu viele! Wir sind im Arsch! WIR SIND VÖLLIG IM ARSCH!«

Der Wagen vibriert, und der Motor heult auf. Kurz darauf schießen sie rückwärts, und sie werden allesamt gegen die Wand zur Fahrerkabine geworfen. Lilly stößt mit der Schulter gegen einen Waffenständer und stößt dabei ein halbes Dutzend Maschinengewehre um. Gabe und Bruce prallen mit Wucht gegeneinander, und ohne dass jemand anderes etwas davon mitkriegt, hakt Gabe die Finger in Bruces Fesseln und zieht und zerrt daran. Das Panzerband über Bruces Mund ist abgegangen, und er brüllt: »IHR MOTHERFUCKER! JETZT WERDEN WIR ALLE STERBEN!«

Der Lieferwagen holpert über etwas drüber. Schon wieder und immer wieder, und sie können feuchte, gedämpfte Schläge vernehmen, die die Karosserie erschüttern. Lilly hält sich mit der freien Hand fest und blickt sich um.

Martinez krabbelt auf allen vieren zum Handsprechfunkgerät, während der schwarze Mann weiter flucht, bis der Schwede den Lauf seines .45er auf seinen kahlen Schädel richtet. »HALT VERDAMMT NOCH MAL ENDLICH DEINE SCHNAUZE!«

»IHR MOTHERFUCKER KÖNNT DOCH NICHT MAL …«

Das Heck des Trucks rammt gegen irgendetwas und bleibt stecken. Die Hinterreifen drehen auf etwas Rutschigem, Schleimigem durch, und alle Insassen werden von dem Aufprall in eine Ecke geworfen. Waffen fliegen durch die Luft, und der Governor rollt gegen einen Stapel Kartons, die durch den Stoß umfallen und auf ihm landen. Er stößt einen wütenden Schrei aus, das Panzerband hängt ihm vom Kinn, und verstummt dann.

Jeder ist still, als der Lieferwagen zur Ruhe kommt. Sehr still.

Plötzlich fängt der Wagen an zu ruckeln. Von einer Seite zur anderen Seite. Boyles Stimme ertönt aus dem Handsprechfunkgerät und stammelt irgendetwas von »zu viele« und »abhauen!«, als auf einmal die Schüsse von Broyles AK-47 von der Fahrerkabine die Stille unterbrechen. Kurz darauf hört man, wie Glas zerbricht und ein Mensch aufschreit.

Dann herrscht erneut Stille. Grabesstille. Sie wird abgelöst von dem tiefen, monoton brummenden und schleimigen Stöhnen Hunderter toter Stimmen, die durch die Wände der fensterlosen Ladefläche dringen. Plötzlich fängt das Ruckeln wieder an, und der Lieferwagen schaukelt erneut wild von einer Seite auf die andere.

Martinez schnappt sich ein Maschinengewehr, entsichert die Waffe, springt zur Hintertür, legt eine Hand auf den Griff, als er auf einmal eine tiefe, von Whiskey gezeichnete Stimme hinter sich vernimmt.

»Das würde ich an deiner Stelle schön sein lassen.«

Lilly dreht sich um und sieht den Governor, das Panzerband noch immer von seinem Kinn hängend, wie er sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnt. Seine dunklen Augen funkeln. Sie hält ihm die Ruger an die Stirn. »Du hast hier nichts mehr zu sagen«, fährt sie ihn an.

Das Ruckeln wird immer stärker, und die Stille um sie herum dröhnt ihr in den Ohren.

»Euer kleiner Plan geht ganz schön in die Hose«, spottet der Governor mit offensichtlicher Schadenfreude. Sein Gesicht zuckt noch nervös von der Misshandlung mit dem Schlagstock.

»Halt den Mund!«

»Hab schon gedacht, dass ihr uns einfach hier rausschmeißt, und den Beißern den Rest überlasst. Somit hätte niemand etwas von dem Ganzen mitgekriegt.«

Lilly richtet den Lauf ihrer .22er gegen seine Schläfe. »Ich habe gesagt, du sollst die Schnauze halten!«

Erneut ein Ruckeln. Martinez steht da, vor Unschlüssigkeit wie erstarrt. Er dreht sich um, will etwas zu Lilly sagen, als eine rasche Bewegung vorne auf der Ladefläche alle überrascht.

Bruce hat die Hände frei und schlägt auf den Schweden ein, schafft es, ihm die Waffe aus der Hand zu reißen und zu Boden zu werfen. Der .45er schlittert über das Metall und löst sich dabei selber aus. Die Schüsse in dem kleinen Raum reißen Metallsplitter aus der Karosserie, und einer streift den Stiefel vom Schweden, so dass er aufschreit und mit dem Rücken gegen die Wand fällt.

In einer flüssigen Bewegung, noch ehe Martinez oder Lilly reagieren können, ergreift der große Mann den .45er und versenkt drei Kugeln in die Brust vom Schweden. Blut spritzt über die Seitenwand hinter ihm, und er keucht und windet sich und sinkt dann langsam zu Boden.

Martinez dreht sich rasch um, zielt auf den schwarzen Mann und lässt zwei kurze, kontrollierte Salven in Bruces ungefähre Richtung ab. Aber er ist zu spät, denn der Schwarze ist schon längst hinter einem Stapel Kartons in Deckung gesprungen, so dass die Kugeln auf Pappe, Metall und Glasfaser treffen und eine ganze Reihe gedämpfter Explosionen in den Schachteln auslösen. Auf einmal fliegen Holzsplitter, Funken und Papier durch die Luft wie Meteoren …

… und jeder wirft sich zu Boden. Bruce schnappt sich sein Bowiemesser, das er um die Wade geschnallt hat, und will Gabes Fesseln durchschneiden. Jetzt überschlagen sich die Geschehnisse in der Ladefläche … Lilly richtet ihre Ruger auf die beiden Schurken, während Martinez sich auf Bruce stürzt. Die Stimme vom Governor übertönt den Tumult: »IHR DÜRFT SIE NICHT TÖTEN!« Schon ist Gabe frei und krabbelt auf ein Gewehr zu, das auf dem Boden liegt. Bruce will mit dem Messer auf Martinez einstechen, der ihm ausweicht und dabei Lilly rammt, die gegen die Hintertür stürzt, und …

… die Wucht des Aufpralls stößt sie auf. Jetzt ist der Weg für den Zombie-Schwarm in den Lieferwagen frei.

Achtzehn

Ein großer Beißer in einem zerrissenen Arztkittel greift nach Lilly und schafft es beinahe, seine verrotteten, schwarzen Zähne in ihr Genick zu versenken, aber Martinez drückt gerade noch rechtzeitig ab und bläst ihm mit dem Schuss die Schädeldecke weg.

Ranziges, schwarzes Blut spritzt über den Fahrzeughimmel und in Lillys Gesicht, während sie verzweifelt versucht, wieder in den vorderen Teil des Fahrzeugs zu klettern. Mehr und mehr Untote strömen jetzt durch die offenen Türen. Lillys Ohren versagen wegen des Lärms, als sie nach vorne stürzt.

Der Governor, noch immer gefesselt, arbeitet sich ebenfalls fieberhaft mit den Beinen zur Vorderwand vor, und Gabe ergreift brüllend eine Waffe vom Boden und entlädt sie in Richtung der Zombies. Die Kugeln schlagen durch verwesendes Fleisch, lassen verfaulende Köpfe explodieren. Gehirnmasse sprüht wie schwarze Chrysanthemen in die Luft, und das Innere des Lieferwagens wird von Rauch und Totengestank erfüllt. Immer mehr Beißer schwärmen auf die Ladefläche, lassen sich von den Schüssen nicht abschrecken.

»BRUCE! SCHNEIDE MIR DIE FESSELN DURCH!«

Lilly kann die Stimme des Governors kaum über dem Ringen in ihren Ohren und dem tosenden Lärm hören. Bruce aber hat bereits das Messer in der Hand, während sie und Martinez eine Salve nach der anderen auf die Horde abfeuern. Die Geschosse schlagen in Augenhöhlen und Unterkiefer ein und treffen schleimige Glatzköpfe, so dass schwarzes Gewebe, Blut und sonstige Körperflüssigkeiten durch die Gegend spritzen.

Bruce schlitzt die Fesseln vom Governor auf, der sich in Sekundenschnelle eine Waffe schnappt.

Der Laderaum leuchtet im Mündungsfeuer auf, und schon bald kauern die fünf Überlebenden gegen die Wand zur Fahrerkabine und schießen auf die heranstürmenden Zombies, was das Zeug hält. Der Lärm ist enorm, geradezu ohrenbetäubend; und er wird von dem engen Raum noch mehr verstärkt. Die Kugeln, die ihr Ziel verfehlen, prallen an den Wänden und Türen in einer wahren Funkenpracht ab.

Zerfetzte Zombies fallen zu Boden wie Dominosteine. Einige rutschen bereits auf dem schleimigen Glibber unter ihren Füßen aus, während andere es nicht mehr über den Berg ihrer zerstörten Artgenossen schaffen. Das Trommelfeuer hält noch weitere zehn Sekunden an, und an den fünf kleben überall Gewebe, schwarzes Blut, Organe und sonstige Körperfetzen. Ein Splitter trifft Lilly in den Oberschenkel und gräbt sich in ihr Fleisch. Eine Welle von Schmerz ergreift sie, bringt sie wieder zurück in die Realität.

Während einer einzigen Minute, schier endlosen sechzig Sekunden, die Lilly wie ein ganzes Leben vorkommen, haben sie jede einzelne Kugel verschossen, in totem Fleisch vergraben, und alle Zombies, die vor den Türen des Lieferwagens gestanden haben, sacken in einem Feuerwerk aus Blut und Körperflüssigkeiten zu Boden, um glitschige, schleimige Spuren zu hinterlassen.

Die letzten paar Zombies verkeilen sich in der Öffnung, und in der unheimlichen Stille, die folgt, laden Gabe, Martinez und der Governor nach. Bruce aber stürzt sich auf die Öffnung und tritt auf die im Weg liegenden Zombies ein, bis auch der letzte von ihnen auf den Asphalt gleitet. Lilly wirft das leere Magazin aus ihrer Ruger. Es poltert zu Boden, aber ihre geschundenen Ohren nehmen den Aufprall gar nicht mehr wahr. Ihr Gesicht, ihre Arme sind voller Blut und Fleischfetzen. Sie lädt nach. Das Einzige, was sie noch hört, ist ihr pochender Puls.

In der Zwischenzeit zerrt Bruce wie wild an den beiden Hintertüren. Die verbogenen Scharniere ächzen und stöhnen und geben schließlich nach. Aber selbst dieser Lärm dringt nicht bis zu Lillys geschundenen Ohren vor.

Endlich hat Bruce es geschafft, und die fünf sind wieder in der mit Blut besudelten Todeskammer eingeschlossen. Während die Türen offen standen, haben alle gesehen, dass das Schlimmste noch auf sie wartet. In der Ferne, in den Wäldern, welche die Straße umsäumen, sowie entlang der Serpentinen, die sich zu dem Plateau hinaufschlängeln, tummeln sich unzählige Schatten.

Was sie in dem kurzen Augenblick erspäht haben, ist kaum zu begreifen. Jeder Einzelne von ihnen hat genügend Erfahrungen mit Zombies gesammelt, Scharen erlebt, selbst große Scharen, aber das hier spottet jeder Beschreibung. Es handelt sich um eine Horde, wie es sie seit Ausbruch der Plage noch nicht gegeben hat. Es müssen an die tausend untote Leichen sein, die in allen nur erdenklichen Zuständen der Verwesung auf sie zutaumeln. Wohin das Auge auch blickt, überall sind Beißer. Reihen über Reihen von ihnen, so dicht aneinandergedrängt, dass man ohne Probleme auf ihren Schultern spazieren gehen könnte. Sie säumen beide Seiten des Highway 85. Langsam und lethargisch, aber in einer unerschöpflichen Anzahl, die nichts anderes als Massenvernichtung verheißt, erinnert der Anblick an einen schwarzen Gletscher, der sich wahllos durch die Wälder wälzt, über Straßen und Felder strömt. An einigen hängt kaum noch ein Fetzen Fleisch, ihre Totengewänder sind zerfleddert und baumeln herab wie Moos in der Finsternis. Andere klappern mit den Zähnen, schnappen hungrig in der Luft wie zuckende Schlangen, die aus ihrem Nest verscheucht wurden. Ihre schiere Anzahl, jedes einzelne Gesicht so blass wie Perlmutt, vermittelt den Eindruck einer Flut von schwärendem Eiter.

Im Lieferwagen geht es jedem Einzelnen der fünf Überlebenden so, als ob sie lebendig begraben seien – eine Urangst packt sie. Gabe hebt seine Waffe und richtet sie auf Martinez. »Du verdammter Hurensohn! Siehst du, was du angerichtet hast? Siehst du, in welche Lage du uns gebracht hast?«

Ehe irgendjemand reagieren kann, richtet Lilly ihre Waffe auf Gabe. Mit dem Dröhnen in ihren Ohren hört sie nicht, was er antwortet, aber sie weiß, dass er es ernst meint. »Ich verpasse dir eine Kugel in den Kopf, wenn du nicht sofort Ruhe gibst, Arschloch!«

Bruce stürzt sich auf Lilly und hält ihr das Messer an die Kehle. »Schlampe! Du hast genau drei Sekunden, um die Knarre fallen zu lassen, sonst …«

»BRUCE!«, fährt der Governor dazwischen und zielt auf Bruce. »Lass sie in Ruhe!«

Bruce rührt sich nicht vom Fleck, hält die Klinge weiterhin gegen Lillys Hals gedrückt, während sie mit der Pistole Gabe im Visier hat. Martinez richtet seine Waffe auf den Governor. »Philip, hör zu«, sagt Martinez leise. »Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dich mit in den Tod nehmen werde, falls hier jemand die Nerven verliert.«

»Jetzt kommt alle mal runter! Beruhigt euch!« Die Fingerknöchel des Governors sind ganz weiß, so fest umklammert er seine Waffe. »Es gibt nur eine Möglichkeit, wie wir aus dieser Zwickmühle mit Haut und Haaren davonkommen – wir müssen zusammenarbeiten!«

Der Lieferwagen beginnt erneut zu ruckeln, als mehr und mehr Zombies auf sie zukommen.

»Woran denkst du?«, will Lilly wissen.

»Zuerst runter mit den Waffen.«

Martinez starrt Bruce an. »Bruce, nimm das Messer runter und geh zwei Schritte zurück.«

»Tu, was er dir sagt, Bruce.« Der Governor zielt weiterhin auf Bruce, und eine einzelne Schweißperle rollt ihm den Nasenrücken herab. »NIMM ENDLICH DAS MESSER RUNTER, ODER ICH WERDE DEINEN SCHÄDEL WEGPUSTEN!«

Widerwillig, die Wut lässt seine dunklen, mandelförmigen Augen noch immer funkeln, senkt Bruce das Messer.

Die Zombies lassen nicht vom Wagen ab, schütteln ihn erneut, während einer nach dem anderen langsam die Waffe senkt.

Martinez lässt den Lauf seines Maschinengewehrs zuletzt zu Boden sinken. »Wenn wir es in die Fahrerkabine schaffen, könnten wir uns durchpflügen.«

»Negativ!« Der Governor blickt ihn finster an. »Wir würden diesen verfickten Ansturm direkt zurück nach Woodbury locken!«

»Und was schlägst du vor?«, verlangt Lilly vom Governor. Es kommt ihr vor, als ob kalte Säure durch ihre Venen schießt. Allein der Gedanke, dass sie diesem Verrückten die Zügel wieder in die Hand geben soll, lässt ihre Seele in das kleine schwarze Loch tief in ihrem Inneren verschwinden. »Wir können nicht einfach hier warten und Däumchen drehen.«

»Wie weit sind wir von der Stadt entfernt? Ein oder zwei Kilometer?«, erkundigt sich der Governor eher rhetorisch in die Runde und schaut sich in dem mit Blut verschmierten Inneren des Lieferwagens um, lässt die Augen von Karton zu Karton wandern. Sie fallen auf Magazine, Patronenhülsen und Munition. »Ich hätte da eine Frage«, beginnt er und wendet sich an Martinez. »Du scheinst diesen kleinen Putschversuch gut durchdacht zu haben wie ein richtiger Soldat. Haben wir zufällig auch Panzerfäuste dabei? Oder irgendetwas mit einem bisschen mehr Bumms als eine stinknormale Granate?«

Es dauert keine fünf Minuten, ehe sie die Geschütze ausfindig gemacht, die Panzerfaust geladen, eine Strategie ausgeheckt und sich in Stellung gebracht haben. Während der ganzen Zeit ist es der Governor, der die meisten Anweisungen gibt und alles am Laufen hält, während die Horde Beißer den Lieferwagen wie ein Bienenschwarm umzingelt. Als die Überlebenden alles so weit vorbereitet haben, um den Gegenschlag einzuleiten, sind sie bereits von unzähligen Zombies umzingelt. Das Ruckeln wird immer stärker, und der Wagen droht umzukippen.

Drinnen erklingt die gedämpfte Stimme des Governors: »Drei, zwei, eins.« Der Sinn dieser Worte ist den Kreaturen draußen völlig unverständlich, da ihre toten Gehirne zwischen ihren fauligen Ohren nicht fähig sind, ihn zu entschlüsseln.

Die erste Explosion sprengt die Hintertüren in die Luft, als ob sie auf Sprengkörpern montiert gewesen wären.

Sie reißen ein halbes Dutzend Zombies mit sich. Die von Raketen angetriebenen Granaten sausen durch die Menge wie glühend heiße Schürhaken durch Butter. Nach zehn Metern gehen sie in die Luft.

Die Explosion zerfetzt mindestens hundert, wenn nicht mehr Untote in der Nähe des Lieferwagens. Der Knall ähnelt dem eines Düsenjägers, der gerade die Schallmauer durchbricht. Der Boden bebt, die Schallwelle erhebt sich in den Himmel und hallt über den Baumwipfeln wider.

Die anschließende Rauchgasexplosion breitet sich aus und schnellt in den Himmel empor. Eine Flamme so groß wie ein Basketballfeld verwandelt die Nacht in Tag. Zombies, die das Pech haben, in ihrem Pfad zu stehen, verglühen oder gehen in Flammen auf. Das Inferno macht eine Fläche von fünfzig Quadratmetern im Umkreis des Lieferwagens platt.

Gabe springt als Erster aus dem Wagen, Schal um Mund und Nase gebunden, um die beißenden Dämpfe toten Fleisches nicht einzuatmen, das in dem napalmartigen Feuerwirbel zu Asche verbrennt. Kurz hinter ihm kommt Lilly, die den Mund mit einer Hand bedeckt und mit der anderen drei Kugeln in ein paar Zombies versenkt, die ihnen im Weg stehen.

Sie schaffen es bis in die Fahrerkabine, reißen die Tür auf und klettern hinein, müssen Broyles deformierten, blutigen Leichnam beiseiteschieben. In Sekundenschnelle finden die Hinterreifen Halt, und der Lieferwagen schnellt davon.

Sie mähen Reihen von Zombies um, verwandeln die aufrechten Kadaver in verfaulendes Gelee, das auf der Straße kleben bleibt. Sie brechen durch eine Schwade nach der anderen, bis sie zu einer Haarnadelkurve kommen. Dort führt Gabe den letzten Teil ihres Fluchtplans aus.

Er reißt an dem Lenkrad, und der Wagen kommt von der Straße ab und schießt die bewaldete Anhöhe hinauf.

Der raue Untergrund zieht Reifen und Stoßdämpfer in Mitleidenschaft, aber Gabe nimmt den Fuß nicht vom Gas, so dass sich die Hinterreifen durch den weichen Schlamm graben. Sie schleudern wie wild, und die Leute im Laderaum haben mehr als nur ein bisschen Mühe, sich festzuhalten.

Als sie auf den Kamm des Hügels kommen, steigt Gabe auf die Bremsen, und der Wagen hält schlitternd an.

Es dauert eine Minute, den Mörser auszurichten, nichts weiter als eine Metalltrommel, die Martinez hastig an einem Gestell befestigt. Die Öffnung deutet in einem Winkel von fünfundvierzig Grad in den Himmel. Als sie feuerbereit sind, klettern, stolpern und rutschen bereits mindestens zweihundert Zombies die Anhöhe zu ihnen herauf, angezogen von dem Lärm und den Scheinwerfern.

Martinez bereitet alles vor und zündet den Mörser.

Das Projektil schießt aus der Trommel gen Himmel, fliegt in hohem Bogen über das Tal, hinterlässt einen grell leuchtenden Kondensstreifen. Der Mörser landet mitten in der Menge Untoter. Die kleine Pilzwolke einer Flamme in einem halben Kilometer Entfernung erhellt die Nacht, ehe keine zwei Sekunden später ein gewaltiger Knall an ihre Ohren dringt. Erst dann erscheint ein Blitz, der die Wolken über ihnen in heißes Orange taucht.

Brennende Teile fliegen in Richtung Himmel, eine Mischung aus Erde, Trümmer und totem Gewebe. Die Detonationswelle rollt mindestens hundert Meter in alle Himmelsrichtungen und verkohlt Hunderte von Zombies, die ihr im Weg stehen. Nicht einmal eine riesige Verbrennungsanlage könnte die Toten schneller und effizienter in Asche verwandeln.

Die restlichen Beißer wenden sich von dem Hügel ab auf das feurige Spektakel zu, taumeln unbeholfen in Richtung des Lichts.

Fort von Woodbury.

Sie holpern mit kaputter Hinterachse, zerborstenen Fenstern und ohne Hintertüren in die Stadt zurück, halten unentwegt von der Ladefläche aus Ausschau nach der gewaltigen Herde, nach Anzeichen, dass man ihnen folgt, aber außer dem einen oder anderen scheinbar verlorenen Zombie in den Obstplantagen ist nichts von ihnen zu sehen. In der Ferne, am westlichen Horizont, glüht es noch orange von den Nachfolgen des Schwarms.

Martinez bemerkt nicht, wie Gabe hinter seinem Rücken dem Governor eine Knarre in die Pfote drückt. »Wir beide haben noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen, Martinez«, haucht der Governor gleich darauf Martinez wölfisch ins Ohr und hält ihm den Lauf der Waffe in den Nacken, als der Lieferwagen um eine Ecke holpert.

Martinez stöhnt gequält auf. »Nun, dann. Rede nicht lange, sondern bring es hinter dich.«

»Du hast aber ein Kurzzeitgedächtnis, Junge«, meint der Governor. »Mit der Scheiße, die außerhalb dieser Mauern abläuft, werde ich dich doch nicht einfach den Wölfen zum Fraße vorwerfen, Martinez … Zumindest noch nicht … Für den Augenblick sind wir noch aufeinander angewiesen.«

Martinez antwortet nicht, sondern blickt auf den Wellblechboden des Laderaums und wartet darauf, dass sein Leben ein Ende nimmt.

Sie fahren von Westen nach Woodbury hinein, und Gabe hält vor dem Stadion in einem speziell für Sonderfahrzeuge ausgewiesenen Parkplatz. Der Lärm der Zuschauer hallt von den Tribünen bis an ihre Ohren, aber die Pfiffe und Buhrufe lassen schließen, dass die Kämpfe mittlerweile ins Chaos abgesunken sind. Die Show hat jetzt bereits mehr als eine Stunde ohne ihren charismatischen Ankermann auskommen müssen, aber anscheinend hat niemand den gesunden Menschenverstand an den Tag gelegt, um es entweder zu merken oder nach Hause zu gehen.

Gabe und Lilly steigen aus der Fahrerkabine aus und gehen um den Wagen zum Laderaum. Von Kopf bis Fuß mit Überresten von Zombies bedeckt, das Gesicht voller Blutspritzer, verspürt Lilly ein Gefühl des Unbehagens – irgendetwas stimmt nicht. Sie legt die Hand um den Griff ihrer Ruger, die immer noch in ihrem Gürtel steckt. Sie kann kaum noch richtig denken, scheint von einem Tagtraum in den anderen zu torkeln und ist vor Schock noch immer groggy und außer Atem.

Als sie um die Ecke biegt, sieht sie, wie Martinez ohne Waffe dasteht. Seine Unterarme sind dunkel vor Ruß von dem Mörser, und sein markantes Gesicht ist mit schwarzem Zombie-Blut verschmiert. Hinter ihm steht der Governor und hält ihm den Lauf einer .45er in den Nacken.

Lilly zückt automatisch ihre Ruger, doch ehe sie die Waffe richtig hochheben und zielen kann, faucht der Governor sie an: »Noch eine Bewegung, und dein Freund hier hat die längste Zeit gelebt. Gabe, nimm dem Äffchen das Wäffchen ab.«

Gabe schnappt sich die Ruger, und Lilly starrt den Governor entsetzt an. Plötzlich ertönt eine Stimme aus der Finsternis weit über ihnen.

»Hey!«

Der Governor duckt sich. »Martinez, sag deinem Kumpel da oben, dass hier alles im Lot ist.«

Auf dem Dach des Stadions, in einer Ecke am höchsten Punkt, ist ein Maschinengewehr aufgebaut. Ein langer, mit Kühllöchern versehener Lauf ist auf den Parkplatz gerichtet. Ein junger Mann, ein groß gewachsener Schwarzer aus Atlanta namens Hines, zielt von oben auf sie, hat keine Ahnung von den geheimen Putschplänen gehabt.

»Was zum Teufel geht da vor?«, ruft er. »Ihr seht ja aus, als ob ihr im Krieg wärt!«

»Alles senkrecht, Hines!«, ruft Martinez zurück. »Sind nur auf ein paar Beißer gestoßen!«

Der Governor hält seine .45er außer Sicht, aber weiter auf Martinez gerichtet. »Hey, Kleiner!« Er deutet mit einem Nicken in Richtung Wald. »Tu mir doch den Gefallen und kümmere dich um die letzten paar Streuner, die noch zwischen den Bäumen herumlungern! Wenn du damit fertig bist, warten hier im Lieferwagen noch zwei Leichen auf dich, die einen Kopfschuss brauchen, ehe du sie in die Leichenhalle verfrachten kannst.«

Der Lauf hebt sich, schwenkt, und alle drehen sich schlagartig um, als ein paar Silhouetten unbeholfen von der Baumgrenze ins Freie torkeln – die letzten Zombies, die sich in die Richtung von Woodbury verirrt haben.

Hines drückt ab, und die Mündung des Maschinengewehrs scheint in Flammen aufzugehen. Millisekunden später dringt der Lärm der Schüsse an ihre Ohren. Der Governor benutzt die Ablenkung und drängt Martinez zum Stadion, während die anderen vor Schreck zusammenzucken.

Panzerbrechende Munition zerfetzt die Untoten in tausend Stücke. Anfangs tanzen sie noch wie Marionetten bei einem Erdbeben. Riesige Blutwolken erscheinen, wo gerade noch ihre Köpfe waren. Hines entleert einen ganzen Patronengurt .762er Munition, um auf Nummer sicher zu gehen. Als sie endlich in einem unförmigen, dampfenden Haufen zu Boden sacken, stößt er einen Siegesschrei aus, dreht sich um schaut zum Lieferwagen hinunter.

Aber Martinez und die anderen sind wie vom Erdboden verschwunden.

Neunzehn

Glaubt ihr etwa, dass wir hier eine Scheißdemokratie haben?« Der mit Blut besudelte Mantel des Governors streift auf dem Boden, während seine wütende, heisere Stimme von den Wänden in den Katakomben der Arena widerhallt.

Was einmal als Tresorraum für die Rechnungsstelle der Arena diente, beherbergt noch immer den alten, metallenen Safe in der Ecke, der ein Loch an der Seite aufweist. Ansonsten befinden sich noch ein langer, mit unzähligen Kratzern versehener Konferenztisch, ein paar Kalender mit halb nackten Frauen an der Wand, der eine oder andere Schreibtisch und ein paar umgestürzte Stühle im Raum.

Martinez und Lilly sitzen mit dem Rücken gegen die Wand. Sie sind ganz ruhig, scheinen verstört, während die bis an die Zähne bewaffneten Bruce und Gabe sie bewachen. Man kann die Spannung in der ehemaligen Rechnungsstelle förmlich knistern hören.

»Ihr scheint vergessen zu haben, dass es nur einen Grund gibt, warum das Ganze hier läuft – einen einzigen Grund!« Der Monolog des Governors wird von nervösem Gesichtszucken begleitet, Nachwirkungen von dem herben elektrischen Taser-Schock. Getrocknetes Blut klebt an seinem Gesicht, an seinen Kleidern und in seinen Haaren. »Es funktioniert, weil ich es zum Funktionieren bringe! Seht ihr, was da draußen los ist? Das steht auf der Speisekarte, wenn es euch hier nicht gefällt! Ihr wollt irgendein utopisches Paradies, eine Art Oase, warm und fluffig, einer für alle und alle für einen? Die Leute hier sind keine Musketiere! Nein, wir befinden uns mitten im Krieg!«

Er hält inne, um seinen Worten Nachdruck zu geben. Die Stille liegt über dem Raum.

»Fragt doch irgendeinen Motherfucker da draußen auf den Tribünen, ob sie eine Demokratie wollen! Ob sie es warm und fluffig möchten! Oder ob es ihnen lieber ist, jemanden zu haben, der alles in die Hand nimmt … Und sie davor beschützt, dem nächsten dahergelaufenen Beißer als Mittagessen zu dienen!« Seine Augen funkeln. »Ihr scheint wohl vergessen zu haben, wie es war, als Gavin und seine Wachen noch das Sagen hatten! Erst jetzt gehört die Stadt wieder uns! Wir haben …«

Ein Klopfen an der Tür unterbricht seinen Redeschwall. Der Governor dreht sich genervt um. »WAS?«

Der Türknauf dreht sich, und ein zehn Zentimeter breiter Spalt öffnet sich. Ein schüchtern dreinblickendes Gesicht erscheint, das dem Bauernjungen aus Macon gehört. Seine AK-47 hängt an einem Gurt an seiner Seite. »Boss, die Situation wird langsam brenzlig da draußen.«

»Was?«

»Die beiden Kämpfer sind gleich am Anfang draufgegangen. Jetzt haben wir nur noch Leichen und Beißer an Ketten. Aber die Leute bleiben alle da, besaufen sich mit Whiskey und weiß Gott was und schmeißen alles, was nicht niet- und nagelfest ist, auf die Zombies.«

Der Governor fährt mit den Fingern über seinen Fu-Manchu-Schnurrbart. »Sag ihnen, dass es bald eine wichtige Durchsage geben wird.«

»Aber was ist mit …«

»SAG EINFACH BESCHEID!«

Der Bauernjunge nickt schüchtern und schließt dann die Tür wieder hinter sich.

Der Governor dreht sich um und wirft einen Blick auf den großen schwarzen Mann, dessen Jeansklamotten unter dem ganzen Blut und Fetzen von Gewebe und Organen kaum noch auszumachen sind. »Bruce, hol Stevens und sein kleines Schoßhündchen. Ganz gleich, was sie gerade tun. Ich will, dass sie herkommen, und zwar pronto!«

Bruce nickt, steckt seine Pistole in den Gürtel und eilt davon.

Dann wendet sich der Governor Martinez zu. »Ich weiß nämlich, woher du den Scheißtaser hast …«

Lilly sitzt neben Martinez. Die Zeit scheint still zu stehen, während sie darauf warten, dass Bruce den Doc und Alice anschleppt. Sie ist von oben bis unten mit diversen Zombieüberresten übersät. Die Wunde in ihrem Bein pocht heftig, und sie erwartet jeden Augenblick eine Kugel durch ihren Kopf. Sie spürt Gabes Körperwärme hinter sich, er kann nur Zentimeter von ihr entfernt stehen. Sie riecht seinen Schweiß, hört sein schweres Atmen, aber er gibt während der ganzen Zeit, während sie auf Bruce warten, keinen einzigen Ton von sich.

Auch Martinez sagt kein Wort.

Der Governor verbringt seine Zeit damit, unablässig auf und ab zu gehen.

Lilly macht es nichts mehr aus, ob sie stirbt oder nicht. Etwas Unerklärliches geht in ihr vor. Sie denkt an Josh, wie er im Boden verrottet, aber sie verspürt keinen Funken Emotion. Dann stellt sie sich Megan vor, wie sie an ihrem behelfsmäßigen Galgen baumelt, aber auch der Gedanke lässt sie völlig kalt. Sie taucht in einen Schleier der Vergessenheit ein, ähnlich wie Bob, der sich allerdings bis zur Bewusstlosigkeit besaufen muss, um den gleichen Zustand zu erreichen.

Aber selbst das kratzt sie nicht mehr.

Und das Schlimmste überhaupt ist: Tief in ihrem Inneren weiß sie, dass der Governor recht hat. Sie brauchen einen Wachhund, der auf die Barrikaden geht. Sie brauchen ein Monster, das die anderen in Schach hält.

Endlich bewegt sich der Knauf, öffnet sich die Tür, und Bruce erscheint mit Stevens und Alice. Der Arzt tritt mit seinem knittrigen Kittel ein, gefolgt von Bruce, der seine Waffe auf den Doc gerichtet hält. Alice folgt ihnen dicht auf den Fersen.

»Immer hereinspaziert! Je mehr wir sind, desto lustiger wird es!«, begrüßt der Governor sie mit einem eisigen Lächeln. »Setzen Sie sich doch, entspannen Sie sich. Einfach die ganze Anspannung abfallen lassen und mal richtig durchatmen.«

Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, gehen Alice und Stevens zu den Stühlen neben Lilly und Martinez und setzen sich hin – wie Kinder, die vor den Schulrektor geschickt wurden. Der Arzt sagt kein Wort, starrt nur auf den Boden.

»Jetzt haben wir also alle beisammen«, meint der Governor und geht durch den Raum auf die vier zu. Er hält Zentimeter vor ihnen inne wie ein Trainer beim Halbzeitdonnerwetter. »Ich hätte da einen Vorschlag. Wir treffen ein Abkommen … schließen einen verbalen Vertrag. Ganz einfach. Schau mich an, während ich mit dir spreche, Martinez!«

Es verlangt Martinez ungeheure Selbstbeherrschung ab, den Blick zum Governor zu heben …

… dessen dunkle, funkelnde Augen ihn anstarren. »Und unsere Abmachung lautet wie folgt: Solange ich die Wölfe abhalte und das Volk mit Brot und Spielen bei Laune halte … so lange werde ich nicht hinterfragt.«

Er macht eine Pause, stellt sich vor ihnen auf, wartet, Hände in die Hüften gestemmt. Er blickt einen Verschwörer nach dem anderen mit seinem düsteren, blutverschmierten Gesicht an.

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Vor ihrem inneren Auge sieht Lilly, wie sie aufspringt, den Stuhl umstößt und so laut wie nur irgend möglich aufschreit, sich eine Waffe schnappt und den Governor mit einer Salve ummäht.

Aber sie starrt weiterhin auf den Boden.

Niemand rührt sich.

»Ach, und eins noch«, fügt der Governor hinzu und lächelt, aber seine Augen sind wie tot und völlig freudlos. »Sollte sich irgendjemand nicht an die Abmachung halten, die Nase dort reinstecken, wo sie nicht hingehört, wird Martinez sterben und der Rest von euch vor die Tür gesetzt. Habt ihr alle verstanden?« Er wartet, aber niemand öffnet den Mund. »Antwortet mir, ihr Schwanzlutscher! Versteht ihr die Konsequenzen der Abmachung? Martinez?«

Die Antwort ertönt kaum hörbar: »Yeah.«

»Ich habe dich nicht gehört!«

Martinez starrt ihn an. »Yeah, ich habe verstanden.«

»Und wie steht es mit dir, Stevens?«

»Ja, Philip.« In der Stimme des Docs klingt völlige Verachtung mit. »Ein wirklich geniales Schlussplädoyer. Du hättest Anwalt werden sollen.«

»Alice?«

Sie nickt rasch, nervös.

Dann wendet der Governor sich an Lilly. »Und wie steht es mit dir? Verstehen wir uns?«

Lilly starrt weiterhin auf den Boden und gibt keinen Ton von sich.

Der Governor geht einen Schritt auf sie zu. »Ich will, dass wir alle einander verstehen. Lilly, ich werde dich noch einmal fragen. Verstehst du die Abmachung?«

Lilly hält noch immer den Mund.

Der Governor zieht seine mit Perlmutt versehene .45er, entsichert ihn und hält Lilly den Lauf an die Schläfe. Aber ehe er noch den Mund aufmachen oder ihr eine Kugel durch den Kopf jagen kann, schaut sie zu ihm auf.

»Ja, ich verstehe.«

»MEINE LIEBEN DAMEN UND HERREN!« Die näselnde Stimme des Bauernjungen ertönt aus der Beschallungsanlage und hallt durch das Chaos in der Arena. Die Zuschauer haben sich über die Tribünen verteilt. Niemand hat die Arena verlassen. Ein paar Zuschauer liegen im Vollrausch auf dem Rücken und starren in den mondlosen Himmel. Andere reichen Flaschen mit Schnaps durch die Gegend, versuchen, sich von den Bildern des Schreckens und der Verstümmelung zu befreien, die sie gerade mit eigenen Augen in der Arena gesehen haben.

Einige der Besoffenen werfen Müll und leere Flaschen in die Arena, um die angebundenen Beißer weiter anzustacheln, die ihre Arme nach ihnen ausstrecken und an ihren Ketten reißen. Aus ihren Mündern fließt schwarzer Speichel. Die beiden toten Kämpfer liegen zusammengesackt außer Reichweite der Zombies, während die Menge sie unentwegt niederpfeift und ausbuht. So geht das schon beinahe eine Stunde lang.

Jetzt ertönt die Stimme wieder. »DER GOVERNOR HAT EINE SONDERDURCHSAGE FÜR SIE!«

Bei der Ansage hören sie auf, und ihr Gegröle verstummt auf einen Schlag. Die aufgeputschten Zuschauer wanken ungelenk zurück zu ihren Plätzen. Manche stolpern, raffen sich aber wieder auf, und in wenigen Minuten sitzt die gesamte Meute auf den vorderen Rängen der Tribünen vor dem Maschendrahtzaun, der einst die Zuschauer vor Autotrümmern und brennenden Reifen schützte.

»UND JETZT EINEN WUNDERBAREN APPLAUS FÜR UNSEREN FURCHTLOSEN ANFÜHRER, DEN GOVERNOR!«

Dann erscheint eine Gestalt in einem langen Mantel, tritt aus dem Schatten des mittleren Tunnels in den grellen Schein der Flutlichter. Die matschigen, blutbesudelten Rockzipfel seines Mantels wehen im Wind. Er macht den Eindruck eines trojanischen Generals, der gerade von der Belagerung zurückgekommen ist. Er schreitet in die Arena, hält bei den auf dem Boden liegenden, toten Wachen inne, reißt an dem Mikrofonkabel hinter sich, hebt das Mikro hoch und brüllt: »FREUNDE, DAS SCHICKSAL HAT JEDEN EINZELNEN VON EUCH HIERHER VERSCHLAGEN … UND ES IST UNSER SCHICKSAL, DIE PLAGE GEMEINSAM ZU ÜBERLEBEN!«

Die Zuschauer, die meisten von ihnen total besoffen, brüllen begeistert.

»UND ES IST MEIN SCHICKSAL, EUER ANFÜHRER ZU SEIN … UND ICH AKZEPTIERE DIESE AUFGABE UND FÜLLE SIE VOLLER STOLZ AUS! UND FALLS IRGENDJEMAND VON EUCH AUF DEN BILLIGEN PLÄTZEN ES NICHT MAG, DANN KANN ER JEDERZEIT ZU MIR KOMMEN UND DIE HERRSCHAFT AN SICH REISSEN! JEDERZEIT! HAT JEMAND VON EUCH GENÜGEND MUMM, UM UNSER STÄDTCHEN HIER AM LAUFEN ZU HALTEN?«

Die trunkenen Stimmen verstummen, die Gesichter hinter dem Maschendrahtzaun erschlaffen. Jetzt hat er ihre Aufmerksamkeit. Der Wind, der durch das Dach pfeift, untermalt das Schweigen auf den Rängen.

»JEDER EINZELNE VON EUCH SOLL HEUTE ABEND ZEUGE EINER GROSSEN VERÄNDERUNG IN WOODBURY WERDEN, DENN AB SOFORT IST DAS TAUSCHSYSTEM ABGESCHAFFT!«

Jetzt herrscht totale Stille. Die Zuschauer haben so etwas nicht erwartet und starren ihn mit offenen Mündern an, als ob sie an jedem seiner Worte hängen.

»VON NUN AN WERDEN VORRÄTE AUSSCHLIESSLICH FÜR DAS GEMEINWOHL GESAMMELT UND GERECHT AN ALLE VERTEILT! UND SO WERDEN DIE LEUTE IN ZUKUNFT SICH IN UNSERE GEMEINDE INTEGRIEREN – INDEM SIE VORRÄTE SAMMELN UND DEM GEMEINWOHL DIENEN!«

Ein älterer Herr einige Reihen über den anderen steht etwas unstet auf wackligen Beinen. Sein Heilsarmee-Mantel hält den Wind eher schlecht als recht ab. Der Mann beginnt zu klatschen, nickt mit dem Kopf und reckt sein haariges, unrasiertes Kinn stolz in die Höhe.

»ICH WERDE DAFÜR SORGEN, DASS DIE NEUEN REGELN DURCHGESETZT WERDEN! ABER SOLLTE SICH HERAUSSTELLEN, DASS JEMAND ETWAS TAUSCHT, UM SICH SOMIT MEHR ESSEN ZU BESCHAFFEN, WIRD ER ALS STRAFE IM RING DES TODES KÄMPFEN!« Der Governor hält inne, lässt den Blick über die Menge schweifen und sieht, welchen Eindruck seine Worte auf sie haben. »WIR SIND KEINE BARBAREN! WIR KÖNNEN AUFEINANDER AUFPASSEN! WIR! SIND! UNSERER! BRÜDER! HÜTER!!«

Jetzt stehen immer mehr Zuschauer auf und beginnen zu klatschen. Einige von ihnen scheinen auf einen Schlag auszunüchtern und beginnen vor Begeisterung laut zu rufen.

Die Predigt des Governors nähert sich dem Höhepunkt: »DAS WIRD EIN NEUES ZEITALTER FÜR WOODBURY EINLÄUTEN. AB JETZT ARBEITEN WIR ZUSAMMEN! WIR WERDEN EINE GLÜCKLICHERE, GESUNDERE, BESSERE GEMEINSCHAFT BILDEN!«

Jetzt steht so gut wie jeder auf den Beinen, und der Klang ihrer Rufe steigt über die Tribünen hinauf in den Nachthimmel. Das Klatschen wird nur von ihren enthusiastischen Rufen übertönt. Sie blicken einander erleichtert an, die Gesichter von angenehmer Überraschung gezeichnet … Vielleicht sogar Hoffnung.

Tatsache aber ist, dass die Zuschauer aus dieser Entfernung und hinter dem Maschendrahtzaun das blutrünstige Funkeln in den Augen ihres gutmütigen Anführers nicht bemerken.

Am nächsten Morgen befindet sich die schlanke junge Frau mit Zöpfen im übel riechenden Schlachthaus tief in den Katakomben des Stadions.

Sie ist in ein zu großes Georgia-Tech-Sweatshirt gekleidet, trägt antiken Schmuck und kaputte Jeans. Lilly zittert nicht, verspürt weder das Verlangen, auf ihren Fingernägeln zu kauen, noch fühlt sie irgendeinen Abscheu oder auch nur den geringsten Ekel angesichts der fürchterlichen Arbeit, die sie als Strafe für ihren Putschversuch auferlegt bekommen hat.

Das Einzige, was ihr durch den Kopf geht, ist eine tief verankerte, brodelnde Wut, als sie mit der großen, mit Teflon überzogenen Axt in dem schummrigen Licht des unterirdischen Schlachthauses ausholt.

Sie schlägt zu, trifft hart und genau und hackt den Knorpel vom bereits abgetrennten Bein des Schweden, das direkt über dem Bodenablauf auf einem Holzblock liegt. Ein feuchtes Geräusch füllt den Raum, als ob man den Deckel eines Dampfkochtopfs unter Druck öffnet. Die Schneide fährt durch das Knie gleich einem Küchenmesser, das einen Hähnchenschenkel durchtrennt. Das Blut spritzt und trifft Lilly an Hals und Kinn, aber sie merkt es kaum, als sie die beiden Hälften in einen Eimer wirft, der neben ihr steht.

Broyles, Manning und Zorn sind bereits verarbeitet, in einzelne Portionen von Eingeweiden, Organen, haarigen Skalps, schleimigen weißen Kugelgelenken und abgetrennten Gliedmaßen aufgeteilt, die anschließend auf Eis gelagert werden, um die Spiele aufrechtzuerhalten, die Zombies in der Arena nicht zu wild werden zu lassen.

Lilly trägt Gummihandschuhe. Während der letzten Stunden hat sich ihre Farbe in ein dunkles Violett verwandelt. Sie benutzt ihre Wut, um härter zuzuschlagen, hat schon drei Leichen zerlegt, ohne es wirklich wahrzunehmen, bemerkt die anderen beiden Personen in dem Schlachthaus, Martinez und Stevens, überhaupt nicht, die in den hinteren Ecken des fensterlosen, dreckigen, stinkenden Raums ihrer grässlichen Arbeit nachgehen.

Die Ausgestoßenen unterhalten sich nicht, hacken und schneiden eine weitere halbe Stunde an den Leichen, ehe gegen Mittag gedämpfte Schritte aus dem Korridor ertönen. Die Tür wird aufgeschlossen.

»Wollte nur mal sehen, wie ihr vorankommt«, begrüßt sie der Governor. Er trägt eine schicke, lederne Weste. Am Bein ist ein Pistolenhalfter befestigt. Er hat seine Haare aus dem markanten Gesicht nach hinten über die Ohren gestreift. »Sehr beeindruckend«, lobt er, geht zu Lilly und schaut in ihren Eimer voll mit menschlichen Überresten. »Könnte sein, dass ich später noch einmal vorbeikomme, um mir ein wenig davon abzuholen.«

Lilly blickt nicht zu ihm auf, sondern hackt weiter, schmeißt Teile in den Eimer und wischt die Axt an ihrer Jeans ab. Dann zerrt sie einen Torso, an dem noch ein Kopf hängt, auf ihren Hackblock.

»Macht schön weiter so, ihr fleißigen Arbeiter«, ermutigt der Governor sie mit einem beifälligen Nicken, ehe er wieder zur Tür geht. Als er im Korridor verschwindet, murmelt Lilly etwas zu sich selbst, das niemand sonst hören kann.

Die Stimme in ihrem Kopf – nichts anderes scheint sie mehr am Leben zu erhalten – dringt bis zu ihren Lippen vor, als sie flüstert: »Bald … Sobald du nicht mehr gebraucht wirst … Endest du hier. Versprochen.«

Sie holt erneut aus und schlägt wieder und immer wieder zu.

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