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Thrall konnte nicht schlafen. Aggra schlummerte ruhig neben ihm auf ihren Schlaffellen. Doch sein Geist kam nicht zur Ruhe. Er lag auf dem Rücken und starrte zu den Fellen hoch, die die Hütte bedeckten. Schließlich stand er auf, warf ein paar Kleidungsstücke und einen Umhang über und ging nach draußen.

Er atmete die feuchte Luft ein und sah zum Nachthimmel empor. Die Sterne zumindest schienen ihm etwas Frieden zu bringen und die beiden Monde – die Weiße Dame und das Blaue Kind – waren nicht beeinflusst von Todesschwinges gewalttätiger Wiedergeburt. Im Moment waren die Elemente so stabil, wie sie sein konnten, hier im Mahlstrom – doch seiner Hilfe war das nicht zu verdanken, wie er wusste, und er runzelte die Stirn.

Er ging ohne bestimmtes Ziel los. Er wollte sich einfach nur bewegen, in Stille und Einsamkeit, und sehen, ob das seine Gedanken weit genug beruhigen würde, damit er schließlich schlafen konnte.

Was sich während des Zaubers und danach ereignet hatte – sowohl mit den Mitgliedern des Rings und mit Aggra im Besonderen –, hatte ihn erschüttert. Er fragte sich, ob sie recht hatten. Half er hier wirklich? Er hatte alles aufgegeben, um hierherzukommen, und dennoch schien es, dass er nicht nur keine Hilfe war, er war auch noch ein Unruhestifter. Er war heute zurückgeblieben, „um sich auszuruhen“, während die anderen ihre Arbeiten erledigt hatten. Das war beschämend und schmerzvoll. Er knurrte tief in der Kehle und beschleunigte seine Schritte.

Er wollte nicht glauben, dass Aggra recht hatte – dass er sich hinter seiner Anführerschaft versteckte und ein Sklave seiner Plichten war. Wenn es so war, warum konnte er sich dann nicht hier in der Arbeit verlieren?

„Was stimmt nicht mit mir?“, murmelte er und schlug mit seiner großen Faust in die Fläche seiner Hand.

„Das“, erklang eine melodische weibliche Stimme, „weiß ich noch nicht. Vielleicht werde ich es aber bald erkennen.“

Erschreckt wandte er sich um. Ein paar Meter entfernt stand eine große, aber schlanke, verhüllte Gestalt. Der Umhang um ihren Körper zeigte, dass sie weiblich war, doch ihr Gesicht blieb im Schatten der Kapuze verborgen. Thrall erkannte die Stimme nicht, runzelte leicht die Stirn und fragte sich, wer die Fremde sein mochte.

„Vielleicht werde ich das auch“, sagte er. Er neigte den Kopf zum Gruß. „Ich bin Thrall.“

„Ich weiß. Euretwegen bin ich hier.“ Ihre Stimme war melodisch, hypnotisierend.

Er blinzelte. „Meinetwegen? Warum? Wer seid Ihr?“

„Das ist... schwer zu erklären“, sagte sie und neigte den Kopf, als lausche sie auf etwas, was er nicht hören könnte.

„Ist es schwer, Euren Namen zu nennen?“

„Oh, das... nein. Es ist etwas anderes, was schwierig ist. Wisst Ihr... ich habe eine kleine Aufgabe für Euch, Thrall.“

Er war eher amüsiert, denn beleidigt. „Eine Aufgabe? Etwas für den Ring?“

„Nein, etwas für die Dorfbewohner.“

„Die Dorfbewohner?“

„In Feralas. Es ist wenig mehr als ein kleines Lager...“ Dabei lachte sie, als würde sie einen Witz machen. „... das Träumersruh genannt wird. Dort leidet das Land, ein Gehölz, das schon viele Jahre alt ist, und die Druiden, die dort leben. Die Elemente dort sind außer Kontrolle, wie sie es in so vielen Teilen dieser armen, verwundeten Welt sind. Und sie werden das Dorf zerstören, wenn man nichts unternimmt. Nur ein Schamane kann mit den Elementen reden und sie zur Harmonie bewegen.“

Thralls Belustigung schwand. Er begann, einen Scherz zu vermuten. Und der gefiel ihm nicht. „Dann soll das der Schamane des Dorfes tun“, sagte er, etwas scharf.

„Dort gibt es keinen Schamanen. Es ist zu klein und es gibt nur Druiden“, sagte die Fremde einfach, als würde das alles erklären.

Thrall atmete tief ein. Was sie von ihm verlangte, war trivial. So etwas konnten Anfänger bewältigen. Er wusste nicht, warum sie mit so einer Aufgabe ausgerechnet zu ihm kam, und es war ihm auch egal.

„Sicherlich gibt es andere, die das tun können“, sagte er, zügelte seinen Ärger und versuchte, Haltung zu bewahren. Es war sicher eine Art bizarrer Test des Irdenen Rings und er wollte nicht vor unbeherrschtem Zorn explodieren. Egal, wie sehr ihn dieses zappelige weibliche Wesen auch ärgerte.

Sie schüttelte energisch den Kopf und trat auf ihn zu. „Nein“, widersprach sie und schien es ernst zu meinen. „Keinen anderen. Niemanden wie Euch.“

Das war absurd. „Wer seid Ihr, um mir so eine Aufgabe anzutragen?“

Ihr Gesicht lag immer noch im Schatten, doch ihre strahlenden Augen beleuchteten ein Lächeln von gespenstischer Süße. War das eine Nachtelfe? „Vielleicht bringt das Klarheit.“

Bevor er zurückweichen konnte, war sie in die Luft gesprungen – hoch – höher als jede echte Elfe springen konnte. Der Umhang fiel von ihr ab, als sie die Arme weit spreizte und ihr Gesicht in den Himmel reckte. Ihr Körper begann sich schneller zu verwandeln, als das Auge folgen konnte, und wo zuvor, wie er dachte, eine Nachtelfe gestanden hatte, blickte nun ein riesiger Drache auf ihn herab, der mit den Flügeln schlug, während er sich zur Landung herabsenkte.

„Ich bin Ysera... die Erwachte.“

Thrall machte einen Schritt zurück und keuchte. Er kannte den Namen Ysera. Sie war die Träumerin gewesen, die Wächterin über den Smaragdgrünen Traum. Doch jetzt träumte sie nicht mehr.

Vieles hatte sich seit dem Kalaklysmus geändert, schien es.

„Tut es, Thrall“, sagte Ysera. Ihre Stimme war immer noch angenehm, doch in ihrer Drachengestalt tiefer und klangvoller.

Er antwortete beinahe: Ja, natürlich. Aber seine bisherigen Fehler erschreckten ihn. Was sie verlangte, schien tatsächlich einfach zu sein. Doch wenn man bedachte, wer sie war, musste die Aufgabe doch sehr wichtig sein. Und er wusste nicht, ob er momentan mit etwas Wichtigem betraut werden konnte.

„Mächtige Ysera... darf ich darüber nachdenken?“

Sie sah enttäuscht aus. „Ich hatte auf ein Ja gehofft.“

„Es ist... nur ein kleines Lager, oder?“

Ihre Enttäuschung schien sich zu vertiefen. „Ja. Es ist ein kleines Lager und eine kleine Aufgabe.“

Scham lief über seine Wangen. „Dennoch möchte ich Euch bitten: Kommt am Morgen wieder, dann habe ich eine Antwort.“

Sie stieß einen schweren, melancholischen Seufzer aus und ihr Atem roch nach frischem Gras und Nebel. Dann nickte Ysera die Erwachte, schoss hoch in die Luft und verschwand mit ein paar Flügelschlägen.

Thrall ließ sich schwer nieder.

Er war gerade von einem Drachen um etwas gebeten worden und er hatte ihn auf den Morgen vertröstet. Wer glaubte er, dass er war? Und dennoch...

Er legte den Kopf in die Hand und presste die Finger fest gegen die Schläfen. Dinge, die leicht sein sollten, waren meist schwierig, zu schwierig. Sein Kopf war nicht klar und es schien, dass das auch für sein Herz galt. Er fühlte sich... verloren und unentschlossen.

Thrall war seit dem Streit mit Aggra gestern für sich geblieben. Nun saß er hier allein, nur mit den Monden und den Sternen als Gesellschaft, und er musste sie suchen. Aggra war klug und lebenserfahren, auch wenn er erst gerade herausgefunden hatte, dass ihm oft nicht gefiel, was sie zu sagen hatte. Aber er war eindeutig nicht in der Position, eine Entscheidung ohne Unterstützung zu fällen. Ansonsten hätte er sofort Ja oder Nein zu dem mächtigen Aspekt sagen können.

Langsam stand er auf und ging zurück zur Hütte.

„Haben dir die Monde Führung gebracht?“, fragte Aggra leise in der Dunkelheit. Er hätte es besser wissen müssen, als zu glauben, dass seine Bewegungen, wie leise sie auch sein mochten, sie nicht aufgeweckt hätten.

„Nein“, sagte er. „Aber... ich würde dich gern um etwas bitten.“ Er erwartete eine sarkastische Antwort, stattdessen hörte er die Felle rascheln, als sie sich aufsetzte.

„Ich höre“, war alles, was Aggra sagte.

Er saß neben ihr auf den Schlaffellen. Ruhig hatte er ihr von der Begegnung erzählt und sie hatte zugehört, ohne zu unterbrechen. Obwohl sich ihre Augen an einigen Stellen geweitet hatten.

„Das scheint... fast schon beleidigend“, sagte Thrall schließlich. „Es ist eine kleinere Aufgabe. Mich hier wegzuholen, wo meine Hilfe dringend benötigt wird, um ein kleines Dorf zu retten, in Feralas...“ Thrall schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob das eine Prüfung ist oder eine Falle oder sonst was. Ich verstehe es nicht.“

„Bist du sicher, dass es Ysera war?“

„Es war ein großer grüner Drache“, zischte Thrall und fügte dann ruhiger hinzu, „und ich spürte, dass sie es war.“

„Es ist egal, ob es eine Prüfung ist oder eine Falle. Es ist egal, dass es wie eine einfache Aufgabe wirkt. Wenn Ysera dich um etwas bittet, solltest du gehen, Thrall.“

„Aber meine Hilfe hier...“

Aggra bedeckte seine Hand mit ihrer. „... wird nicht benötigt. Nicht jetzt. Du kannst nicht tun, was du tun musst, um uns zu helfen. Das hast du gestern ja erlebt – das haben wir alle. Du nutzt momentan niemandem hier. Nicht dem Irdenen Ring, nicht der Horde, nicht mir – und sicher nicht dir selbst.“

Thrall verzog das Gesicht, doch es lag keinerlei Verachtung oder Wut in Aggras Stimme. Stattdessen war sie freundlicher, als er sich seit langer Zeit erinnern konnte, genauso wie ihre Hand auf seiner.

„Go’el, mein Geliebter“, fuhr sie fort. „Geh und erledige diese Sache. Geh und gehorche der Bitte des Aspekts. Und sorge dich nicht, ob es um etwas Großes oder Kleines geht. Geh und gib zurück, was du gelernt hast.“ Sie lächelte ein wenig neckend. „Hast du denn nichts bei deiner Initiation gelernt?“

Thrall dachte an die Tage seiner Initiation in Garadar zurück, was ewig her zu sein schien. Er erinnerte sich an die Kleidung, die er dort getragen hatte, und rief sich ins Gedächtnis, dass ein Schamane Stolz und Demut abwägen musste.

Er war recht sicher, nicht demütig zu sein, wenn er daran dachte, die Bitte des Aspekts abzulehnen.

Thrall holte tief Luft, hielt den Atem einen Moment an, dann stieß er ihn langsam aus.

„Ich werde gehen“, sagte er.


Der Vater des Zwielichts war ein wenig enttäuscht, wie schnell die roten, blauen und grünen Drachen geflohen waren. Er hatte erwartet, dass sie länger kämpfen würden. Dennoch hatte es die Aufgabe leichter gemacht und er wurde von den Kultisten nun noch mehr verehrt, die jedem seiner Befehle gehorchten. Das war gut, selbst wenn ein härter errungener Sieg süßer geschmeckt hätte.

Er hatte mit dem Mädchen zugesehen, wie die Drachen weggeflogen waren. Einige allein, andere zu zweit oder in Gruppen. Die einzigen Drachen, die noch da waren, waren leblos, außer denjenigen, die unter seinem Kommando standen.

Er hatte seine Leute vorausgeschickt, um seine Anhänger zusammenzurufen, und jetzt standen sie am Fuß des Vorgebirges und zitterten in der Kälte. Ihre Gesichter waren so unterschiedlich, gehörten zu Orcs und Trollen, Menschen und Nachtelfen – eigentlich zu den meisten Völkern Azeroths –, und hatten doch eine tiefe Ähnlichkeit in ihrem Ausdruck begeisterter Verehrung.

„Und so kommt unsere lange Reise wenn schon nicht zu ihrem Ende, so doch zumindest an den Ort, wo wir uns ausruhen, unsere Kräfte sammeln und stark werden wollen. Der Wyrmruhtempel wurde einst als Symbol der uneinnehmbaren Macht der vereinigten Drachenschwärme gesehen. Es heißt, er wurde von den Titanen selbst errichtet, und die Drachen betrachteten ihn als unverletzlich und heilig. Heute haben wir erlebt, wie sie ihn aufgegeben haben – darunter zwei Aspekte. Jetzt ist er unsere Heimat, solange wir das wollen. Dieser uralte Ort der Macht muss fallen – wie alles andere auch!“

Jubel brandete aus Hunderten Kehlen auf. Der Vater des Zwielichts hob die Hände und nahm die Welle der Verehrung entgegen, die zu ihm von der Menge hochschlug.

„Das Ende der Dinge ist stets mit uns, selbst im Moment unseres Triumphes. Nun lasst uns in Besitz nehmen, was uns zugefallen ist, damit es unserer Sache dienen kann.“

Einer der großen Zwielichtdrachen, der gehorsam geschwebt war, setzte zur Landung an. Wie ein braves Haustier postierte er sich vor ihm und presste den lilafarbenen Bauch auf den kalten Stein, damit er leichter hinaufklettern konnte. Der Vater des Zwielichts trat vor und die Kette, die das Mädchen fesselte, straffte sich. Mild überrascht drehte er sich um.

Das Mädchen bewegte sich nicht, betrachtete den Drachen mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid.

„Nun, nun, meine Teure“, sagte er und seine Worte klangen spöttisch, „du brauchst nicht zu zögern.“ Der Vater des Zwielichts grinste unter der Kapuze. „Obwohl das vermutlich kaum die Heimkehr ist, die du dir erwartet hast, hm?“

Kirygosa, Tochter von Malygos, Schwester von Arygos, blickte von dem Zwielichtdrachen zum Vater des Zwielichts. Ihre blauen Augen verengten sich vor Verachtung und sie bewahrte ihr eisiges Schweigen.


Als sie zum Wyrmruhtempel kamen, bemerkte Kirygosa, dass etwas anderes sich ebenfalls näherte. Ein riesiger Schlitten, der mehrere Dutzend Menschen aufnehmen konnte, glitt unter ihr durch die Landschaft. Die weißen Schneewehenelche, die ihn zogen, strengten sich sichtbar an. Unter Kirygosas Blicken brach einer zusammen. Der Schlitten kam zum Stehen. Vier Akolythen des Schattenhammers eilten herbei. Sie schnallten die armselige Kreatur los und ersetzten sie durch einen anderen Elch. Das erschöpfte Tier taumelte mehr, als dass es ging, während sie an den Zügeln zogen und es von seinen Artgenossen wegführten. Als es erneut im Schnee zusammenbrach und seinen Kopf flehentlich hob, machte einer der Akolythen eine Handbewegung. Mehrere Orcs stiegen von ihren großen schwarzen Wölfen. Die Tiere warteten gehorsam, die Augen auf ihre Herren gerichtet, bis das Kommando gegeben wurde. Dann sprangen die Wölfe gleichzeitig los und fielen mit erschreckender Geschwindigkeit über den hilflosen Elch her. Weicher weißer Schnee wurde aufgewirbelt, als der Elch sich wehrte. Plötzlich färbte er sich rot und die jämmerlichen Schreie des Tieres erstickten unter wildem Knurren.

Kirygosa sah weg. Zweifellos war dieses Schicksal gnädiger, als den Elch einfach erfrieren zu lassen. Und die Wölfe brauchten Nahrung. Sie waren nicht schuld daran und ganz normale Tiere. Anders als ihre Herren.

Sie konzentrierte sich wieder auf den Schlitten, der von einer Plane bedeckt wurde. Darunter lag eine große, plumpe Gestalt. Kirygosa sah sie zum ersten Mal, doch etwas daran war ihr vertraut...

„Neugierig, meine Teure?“, fragte der Vater des Zwielichts und hob seine Stimme, um über dem Schlagen der Drachenflügel gehört zu werden. „Beizeiten wirst du es erfahren, deshalb sind wir ja hier. Vielleicht erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe: Der weise Mann hat immer noch einen Plan.“

Der Tonfall in seiner Stimme ließ Kirygosa erschaudern. Der Zwielichtdrache trug sie währenddessen in Richtung Wyrmruhtempel. Sie sah über die Schulter zurück zu dem Schlitten, der in der Ferne unter ihr verschwand. Wenn seine Fracht das war, was der Schattenhammer als „noch einen Plan“ bezeichnete, wollte sie gar nicht wissen, was es war.


Der Vater des Zwielichts glitt vom Rücken des Drachen auf den mit Ornamenten verzierten Boden des Wyrmruhtempels, der an einigen Stellen mit rotem Drachenblut bedeckt war. Darin verteilt lagen die kleinen glitzernden Scherben, die von der Kugel der Einheit übrig geblieben waren.

Kirygosa folgte in völliger Stille.

Er übergab Kirygosas Kette einem Akolythen. Sie alle wussten, wie man die Drachenfrau kontrollierte. Ein einzelner Zug, auf eine bestimmte Art, mit einer gewissen Festigkeit, verursachte schreckliche Schmerzen. Zudem verhinderte die Kette, dass sie ihre eigentliche Gestalt annehmen konnte – und die war erheblich schrecklicher als die einer normalen Menschenfrau.

„Stell sicher, dass sie ruhig bleibt, doch verletze sie nicht nur zum Spaß“, fügte er hinzu.

Der Troll blickte enttäuscht. Wenn Kirygosa zu sehr gefoltert wurde, würde sie für den Schmerz unempfindlich werden, und das durfte nicht passieren. Der Troll führte Kirygosa zu einer Säule und drückte sie auf den Boden, dann blieb er stehen und erwartete weitere Befehle vom Vater.

Der Vater des Zwielichts holte eine kleine Kugel unter seinem Umhang hervor und legte sie fast ehrfürchtig auf den blutigen Boden. Sofort begann sie zu pulsieren und dunkel zu leuchten, als ob ein kochender schwarzer Nebel darin gefangen wäre. Plötzlich, als wäre die Kugel zu klein, um so etwas Mächtiges zu beherbergen, platzte sie auf und Nebel stieg auf. Eigentlich war es eher Rauch, dick und schwer, mit orangeroter Asche versehen. Er bildete eine Wolke – schwärzer als die Nacht und so viel unnatürlicher –, die wütend wirbelte, bis sie letztlich Gestalt und Form annahm. Unheilvolle orangegelbe Augen, die wie flüssiges Feuer wirkten, sahen daraus hervor und spießten den Vater des Zwielichts mit ihren Blicken förmlich auf. Ein riesiges Gebiss, aus schwarzem Metall gefertigt, öffnete sich. Das verrückte, verschlagene Lächeln ließ Kirygosa zurückzucken.

Todesschwinge!

Der Vater des Zwielichts kniete vor der Kugel. „Mein Meister“, sagte er unterwürfig.

„Hattest du Erfolg?“, fragte Todesschwinge ohne Einleitung. Die tiefe Stimme schien den Tempel zu erschüttern. Sie durchdrang den Körper, als sei Todesschwinge tatsächlich anwesend.

„Auf... eine gewisse Art“, sagte der Vater des Zwielichts, verzweifelt bemüht, sich das leichte Zittern in der Stimme nicht anmerken zu lassen. „Wir haben die Drachen vom Wyrmruhtempel vertrieben, auch Alexstrasza und Ysera. Ich habe ihn im Namen des Schattenhammerkults übernommen. Er ist nun Eure Feste, Großes Wesen.“

Die großen, irren Augen zogen sich zusammen. „Das war nicht so geplant“, zischte Todesschwinge. „Geplant war etwas anderes. Und du hast versagt. Du solltest die Drachen vernichten und nicht einfach ihren Tempel einnehmen!“

„Das – das stimmt, mein Lord. Dem Plan ist... etwas in die Quere gekommen, was wir nicht voraussehen konnten.“ Schnell erklärte er alles. Todesschwinge hörte schweigend zu, was schlimmer war, als wenn er wütend gebrüllt hätte. Seine Gesichtszüge blieben klar, obwohl der Rauch, der sie bildete, sich ohne Unterlass bewegte. Einmal konnte man das Flattern eines zerfetzten, von Feuer beleuchteten Flügels hören. Als der Vater des Zwielichts geendet hatte, gab es eine lange, unangenehme Pause. Todesschwinge neigte den Kopf, offensichtlich dachte er nach.

„Das ändert nichts. Du hast versagt.“

Der Vater des Zwielichts begann trotz der Kälte zu schwitzen. „Es ist ein Rückschlag, Großes Wesen, nicht mehr. Kein Versagen. Und es könnte positive Auswirkungen haben. Es hat die Drachen vertrieben und die Lebensbinderin – Eure größte Feindin – scheint von den Ereignissen erschüttert zu sein.“

„Das ist bedeutungslos“, donnerte Todesschwinge. „Du musst einen anderen Weg finden, um das Ziel, das ich dir gesteckt habe, zu erreichen. Oder ich ersetze dich durch einen General, der nicht an wichtigen Entscheidungen scheitert.“

„Ich... verstehe, Großes Wesen.“ Die Augen des Vaters des Zwielichts flackerten zu Kirygosa, verengten sich nachdenklich und kehrten dann zu Todesschwinge zurück. „Überlasst das mir. Die Dinge sind bereits in Bewegung. Es wird schon bald beginnen.“

„Glaube ja nicht, du könntest mich hintergehen, du niedere Kreatur“, knurrte Todesschwinge.

Unter seinem Umhang spürte der Vater des Zwielichts, wie er bleich wurde. „Das würde ich nie tun, Großes Wesen. Ich diene Euch gern.“

„Du dienst mir, so wie ich es dir sage, und nicht einen Herzschlag eher. Ist das klar?“

Der Vater des Zwielichts konnte nur noch nicken. Doch obwohl Todesschwinge wütend war, dass er unterbrochen wurde, machte er eine lange Pause, bevor er weitersprach.

„Es könnte sein, dass ein neues Hindernis aufgetaucht ist. Ich hatte erwartet, dass die Drachenschwärme nicht in der Lage sind, gleichzeitig gegen dich, den Schattenhammerkult und den, dem wir helfen wollen, anzukommen. Ich hatte einen Sieg erwartet. Du hast gesagt, Ysera ist geflohen. Es wäre besser gewesen, das wäre nicht passiert.“

„Mylord?“ Der Vater des Zwielichts konnte nicht anders. Er musste schwer schlucken.

„Sie lebt, wegen dir“, zischte Todesschwinge. „Und weil sie lebt, hatte sie die Gelegenheit, mit demjenigen zu reden, der bestimmt ist, mir entgegenzutreten. Sein Eingreifen könnte das Zünglein an der Waage sein.“

Die Gedanken des Vaters des Zwielichts rasten angesichts der Neuigkeiten und ihrer Auswirkungen. Was hatte die erwachte Träumerin getan? Wen oder welche mächtige Macht hatte sie angerufen? Todesschwinge war zutiefst besorgt – und das erschreckte den Vater des Zwielichts. Seine Kehle war trocken, doch er presste heraus: „Mit welcher Art Wesen hat sie sich verbündet?“

„Einer niederen Kreatur“, sagte Todesschwinge und spie die Worte beinahe aus.

Der Vater des Zwielichts war sich nicht sicher, ob er es richtig verstanden hatte. „Was? Aber sicherlich...“

„Ein Orc!“

Beide schwiegen jetzt. Diese beiden Worte sagten dem Vater des Zwielichts alles, was er wissen musste. Vor langer Zeit war Todesschwinge gewarnt worden, dass ein Orc – scheinbar der niedrigste der Niederen – sich erheben würde, um ihn herauszufordern, und ihn möglicherweise besiegen konnte.

Niemand, schon gar nicht der Vater des Zwielichts, hatte viel darauf gegeben. Er versuchte es mit einem Achselzucken abzutun. „Mylord, Prophezeiungen sind stets kryptisch. Ihr seid mächtig, Todesschwinge. Ihr habt die Welt zerfetzt. Wir kämpfen gegen Drachen – und sogar gegen die Aspekte! Mächtige Wesen, keine staubfressenden Orcs. Selbst ein Mächtiger ist kein Gegner für Euch.“

„Dieser ist anders. Das war er schon immer. Er hat bemerkenswerte Erfahrungen, auf die er zurückgreifen kann. Er denkt nicht wie Drachen... und genau deshalb könnte er sie retten.“

Der Vater des Zwielichts war verwirrt, doch er zeigte es nicht. „Sagt mir, wie dieser kurzlebige Feind heißt, mein Lord. Sagt mir, dass ich ihn vernichten soll.“

„Du musst mehr tun, als ihn zu vernichten. Du musst ihn, der Thrall genannt wird, völlig auflösen – oder dieser Orc wird die Auflösung von allem sein. Allem!“

„Es wird geschehen, das schwöre ich.“

„Ja“, stimmte Todesschwinge zu. „So soll es sein. Die Zeit wird dir knapp, Vater.“ Er zeigte die makabre Imitation eines Drachengrinsens. Sein Unterkiefer klappte herab und enthüllte raue, metallische Zähne. „Aber verzweifle nicht. Ich habe vielleicht Hilfe für dich. Ich bin alt, doch meine Geduld hat Grenzen. Melde dich wieder, wenn du bessere Nachrichten hast.“

Der Rauch, der Todesschwinges Bild geformt hatte, verlor seine Festigkeit und wurde wieder zu wirbelndem schwarzem Nebel. Langsam sammelte er sich am Boden, dann zog er sich zu einer schwarzen Sphäre zusammen. Einen Augenblick später war selbst diese Dunkelheit verschwunden. Dort war jetzt wieder eine kleine, kristallene Kugel. Stirnrunzelnd steckte der Vater des Zwielichts sie ein und stand auf.

„Du hast gedacht, es wäre so leicht“, erklang eine klare weibliche Stimme. „Du und dein großer, überkomplizierter Plan. Und wie dein Meister sagte, läuft dir jetzt die Zeit davon, um Thrall auszuschalten. Die Ströme sind in Bewegung, Vater des Zwielichts, und dein Bart ist grau. Du betrügst dich selbst. Du dienst ihm nicht mehr lange. Du wirst nicht gewinnen.“

Er wandte sich an die versklavte Drachenfrau und ging auf sie zu. Sie blickte herausfordernd zu ihm auf, während er sie einen langen Moment ansah.

„Närrischer kleiner Wyrm“, sagte er schließlich. „Du kennst nur einen kleinen Teil meiner Pläne. Thrall ist ein Floh, der schon bald zerquetscht wird. Komm“, sagte er und nahm die Kette. „Ich werde dir etwas zeigen und dann sehen wir ja, ob ich mich selbst betrüge... oder ob du diejenige bist, die verrückt wird.“

Er führte sie zum Rand der Plattform und wies nach unten.

Der mysteriöse Schlitten erreichte den Fuß des Wyrmruhtempels. Nachdem sie nicht mehr zum Ziehen des Schlittens benötigt wurden, waren die Schneewehenelche allesamt den Wölfen überlassen worden. Die Kultisten blickten auf und erwarteten das Signal von ihrem verehrten Vater. Er hob die Hand und auf dieses Zeichen hin zogen die dunkel gekleideten Kultisten die Plane weg, die verborgen hatte, was sich auf dem Wagen befand.

Kirygosa keuchte, ihre Hand flog vor Schreck zu ihrem Mund.

Ausgestreckt auf dem Wagen lag ein Drache. Sein Körper war riesig, noch weit größer als der Drachenaspekt. Und er war missgebildet. Seine stumpfen Schuppen waren von einem hässlichen Lila auf bleicher Haut. Und das Schrecklichste war, dass er nicht nur einen Kopf hatte. Er hatte fünf. Selbst im schwachen Licht konnte sie mit ihren menschlichen Augen erkennen, dass jeder Kopf eine andere Farbe hatte – rot, schwarz, bronzen, grün und blau.

Kirygosa wusste genau, was das war.

„Ein chromatischer Drache“, sagte sie mit gepresster Stimme.

Chromatische Drachen waren eine Abscheulichkeit, eine Verletzung alles Natürlichen. Die Monstrositäten waren von Todesschwinges Sohn geschaffen worden, Nefarian. Ein mächtiger schwarzer Drache, der fast so böse war wie sein Vater. Nefarian hatte versucht, einen neuen Drachenschwarm zu erschaffen, der die Kräfte aller fünf Schwärme vereinigte. Ein Drachenschwarm, der vielleicht alle anderen vernichten konnte. Das Experiment war schiefgegangen. Viele Welpen waren vor dem Schlüpfen gestorben. Die meisten, die lange genug gelebt hatten, waren unberechenbar und missgestaltet gewesen. Nur wenige waren erwachsen geworden, künstlich gealtert durch einen merkwürdigen magischen Prozess.

Doch dieser war definitiv ein erwachsener Drache. Aber er regte sich nicht. „Ich habe gedacht, sie würden nur selten erwachsen“, sagte Kirygosa. „Wie auch immer – er ist tot. Warum sollte ich einen Leichnam fürchten?“

„Oh, Chromatus ist tot“, sagte der Vater des Zwielichts leichthin. „Technisch gesehen. Für den Augenblick. Doch er wird leben. Er war Nefarians letztes Experiment. Es hat viele Fehlschläge gegeben, wie du sicherlich weißt. Aber daraus lernt man schließlich, oder nicht? Durch Versuch und Irrtum.“

Er zeigte ein onkelhaftes Lachen, als sie ihn weiter angewidert anstarrte.

„Chromatus stellt beispielhaft die Spitze all dessen dar, was Nefarian durch verschiedene Experimente herausgefunden hat“, fuhr der Vater des Zwielichts fort. „Nefarian wurde tragischerweise getötet, bevor er Chromatus den Funken des Lebens einhauchen konnte.“

„Eine bessere Tat wurde nie begangen, als Nefarian das Monster zu töten“, murmelte Kirygosa.

Der Vater des Zwielichts warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Du wärst vielleicht überrascht, zu erfahren, dass genau wie die Kreatur auf dem Schlitten auch ihr Schöpfer bereits das Leben wieder gekostet hat. Ja – Nefarian ist wieder da... auf eine gewisse Art und Weise. Er ist untot, doch recht aktiv. Für Chromatus... habe ich andere Pläne.“

Kirygosa konnte die Augen nicht losreißen. „Also dieses... Ding... war der Grund für alles, was du getan hast?“ Ihre Stimme brach. „Ein Monster ins Leben zu bringen, das noch nie ein Recht auf Leben hatte?“

„Komm schon, Kirygosa!“, schalt sie der Vater des Zwielichts spöttisch. „Du solltest mehr Respekt zeigen. Du könntest für diese Aufgabe sehr wichtig sein.“

Ihre Augen weiteten sich. „Nein... keine Experimente mehr.“

Er beugte sich zu ihr, übergab dem Troll-Akolythen die Kette, der aufsprang. „Du siehst, meine Teure“, sagte er freundlich, „Die Einzige, der die Zeit davonläuft, bist du.“

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