III Asche im Wind

31

Kurimah Milani, Nordwestliches Yarim, im Schatten der Zahnfelsen

Die Drachin streckte träge die Klauen aus, schwelgte in Wohlgefühl und dem Nachlassen der Schmerzen, die seit der Mondwende an ihr genagt hatten.

Mit der teilweisen Heilung ihres Körpers ging gleichermaßen eine Rückkehr ihrer Erinnerungsfähigkeit einher. Im Tiefschlaf träumte sie nun, und in diesen Träumen bewohnte sie nicht die Drachengestalt, die ihre gegenwärtige Wirklichkeit darstellte, sondern sie war eine Frau, eine Herrin von sagenhafter Schönheit und Macht, die sie noch vor kurzer Zeit gewesen war.

Die Drachin streckte sich behaglich aus und genoss die Bewegungen ihrer zerrissenen Muskeln, während diese heilten. Sie erinnerte sich an ihre glücklichen Zeiten; es waren Erinnerungsblitze, die sie nicht verstand – die Echos von Kinderlachen gemeinsam mit zwei anderen Gestalten, die junge Mädchen wie sie selbst zu sein schienen und in einem unberührten Wald Fangen spielten. Kein Erwachsener, keine andere Person war zu sehen. Sie erinnerte sich nicht an ihre Schwestern und auch nicht an ihre Drachenmutter, die die drei am Fuß des Großen Weißen Baumes zurückgelassen hatte, sondern nur an einen bitteren Geschmack im Mund, der unwesentlich war angesichts des Hasses, den sie für die Frau namens Rhapsody verspürte. Doch sie erinnerte sich an das Lachen, an das Gefühl von Freiheit und Einsamkeit in jenen Tagen, allerdings kaum an mehr.

Ihre Atemzüge wurden umso tiefer, je leichter sie wurden. Das Bild der ausgelassenen Kinderspiele verblasste in ihrem Kopf, und sie sah sich als junge Frau allein auf einem Felsvorsprung über dem Strand, von wo aus einst ihre Mutter zuerst ihren Vater erspäht hatte, als er aus dem Meer gekommen war. Sie sah die Ankunft von Schiffen, sturmumtost und zerschmettert, die eines nach dem anderen vor den schrecklichen Winden an Land flohen. Die Menschen, die aus diesen Schiffen stiegen, glichen keinen, die sie bisher gesehen hatte. Einige waren groß und blond, einige stämmig und untersetzt, einige hatten nur die Größe von Kindern mit schmalen Händen und gewaltigen Augen, die sich eher mit Blumen als mit Worten ausdrückten; es war eine riesige Bandbreite von Menschen mit allen möglichen Hautfarben. Eines nach dem anderen entluden die Schiffe ihre lebenden Schätze. Atemlos schaute sie zu; ihr goldenes Gesicht mit den winzigen Furchen war zum ersten Mal in ihrem Leben feucht vor Tränen. Mein Schatz, dachte sie dann und wann und war der Liebe auf den ersten Blick so nahe wie nie zuvor.

Die anderen Erinnerungen, welche diese schönen verdrängen wollten, drückte sie beiseite und zuckte unter den Schmerzen zusammen, die sie ähnlich wie die Metallsplitter verursachten, die noch in ihr steckten. Nein, nein, dachte sie benommen, verbannte alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf und kehrte in glücklichere Zeiten zurück. Sie sah Bilder von Festen am Meeresstrand, von fröhlichen Tänzen und einer Zeremonie am Fuß des Großen Weißen Baumes, in der sie über alle anderen erhoben und von dem lebendigen Schatz, an dessen Namen sie sich noch immer nicht erinnern konnte, Herrin genannt worden war. Es waren die Cymrer gewesen, die Flüchtlinge der Ersten Flotte von der toten Insel Serendair.

Ich will weiterschlafen, sann sie, reckte sich erneut und schwelgte in der Erinnerung an eine Zeit, in der sie nicht verabscheut, sondern hoch geachtet, gefeiert und begehrt worden war, statt ausgestoßen und geächtet.

Sie öffnete den Mund, und wie schon zuvor tröpfelte das flüssige Gold des süßen und heiligenden Sonnenscheins hinein. Das Feuer in ihr, das von den Feuersteinen herrührte, die alle Mitglieder ihrer Art im Magen hatten, kühlte ab und verschaffte ihr eine traumlose Ruhe.

Zumindest für den Augenblick.

In der Wüste im fernen Osten Yarims

Die Stille wurde vom plötzlichen Schrei des Kindes und kurz darauf vom hallenden Schlag eines Lederhandschuhs gegen Haut unterbrochen.

Achmed zügelte sein Pferd. Die empfindlichen Nervenenden in seiner Haut brannten unter diesem Geräusch.

»Was ist denn jetzt los, Rhapsody?«, wollte er wissen und warf einen finsteren Blick über seine Schulter, während die cymrische Herrin ihren Nebelmantel ausbreitete. Auf ihrem windzerzausten Gesicht lag ein Ausdruck der Bestürzung. »Du hast ihn doch gerade eben erst gefüttert. Dieser anspruchsvolle Balg wird immer mehr zum Ärgernis. Noch ein einziger grundloser Schrei, und ich werde ihn auf einen Pferdedorn spießen und den Aasfressern überlassen.«

»Woher willst du wissen, dass es grundlos war?«, fragte Rhapsody und untersuchte das Kind.

Achmed schaute hinüber zu Grunthor, der sich den Nacken rieb. »Was ist los?«

»Mich hat was gestochen«, murmelte der Riese.

»Vielleicht eine Mücke«, meinte Achmed. »Sie können ziemlich hinterhältig sein, obwohl man eigentlich glauben sollte, dass deine Bengard-Haut dich ziemlich unverwundbar macht.«

»Sollte man eigentlich glauben«, stimmte der Riese ihm zu und tastete noch immer seinen Hals ab, »aber das war kein kleiner Stich. War’n richtiger Biss. Autsch. Verdammt, autsch.«

»Genau wie bei Meridion«, sagte Rhapsody. Sie zog den Stachel aus einem großen, roten Striemen am Bein des Kindes, fuhr mit dem Finger über die Wunde und wärmte sie sanft mit ihrer Feuergabe, um die Schmerzen zu lindern.

In diesem Augenblick bemerkte Achmed das Summen. Er gab Grunthor ein Zeichen und hielt sein Pferd an. Damit tat er das, was seine gereizte Haut befahl. Er legte die Zügel über Rhapsodys Arm und stieg ab. Das Summen leitete ihn über den Sand, bis er die Quelle gefunden hatte.

Einige kleine Hügel erhoben sich in der ansonsten undurchbrochenen Sandschicht, über denen ein paar Bienen schwebten, während sich andere in den Boden neben den Hügeln bohrten.

»Ich habe deinen Angreifer gefunden, Grunthor«, sagte er, hockte sich nieder und untersuchte die Hügel, die wie große Ameisenhaufen aussahen. »Soll ich dich rächen? Wenn du willst, pinkle ich auf sie. Oder sollen wir weiterziehen?«

»Was machen Bienen hier draußen in der Wüste?«, wunderte sich der riesige Bolg laut. »Gibt doch nichts für sie zu fressen hier, keine Blumen, keine anderen Gewächse. Kein richtiges Wasser. Komisch.«

Achmed stieg wieder auf und ergriff die Zügel. Er schnalzte dem Pferd zu, und sie verfielen erneut in einen sanften Galopp. Achtsam ritten sie über die steigenden und fallenden Dünen nach Osten, während die fernen Berge näher zu kommen schienen. Ihr Rot und Purpur glimmerte am Horizont wie ein Versprechen von Schutz, den sie jedoch nicht vor der kommenden Nacht erreichen würden. Allmählich verblasste das Licht bereits, während die rote Sonne am Firmament sank. Der Wind frischte auf und trieb den Sand in großen, wirbelnden Staubsäulen über die rissige Erde.

Sie waren nicht sehr weit gekommen, als Achmed erneut sein Pferd zügelte. Diesmal griff er rasch nach Rhapsody, damit sie nicht nach vorn kippte. Grunthor hielt ein paar Schritte vor ihnen an und starrte dabei nach Osten.

»Zum Henker«, murmelte der Bolg-Kommandant. »Was is’ denn das da?«

»Gute Götter«, flüsterte Rhapsody und zog den Nebelmantel enger zusammen, um das Kind zu beruhigen.

Achmed sagte nichts, starrte aber mit seinen verschiedenfarbigen Augen auf den Anblick vor ihnen.

Aus der scheinbar endlosen Wüste erhob sich ein zerfallener Turm, ein schräg stehendes Minarett. Es schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein und steckte im roten Sand, in dem sie seit Tagen keine Vegetation und keinerlei andere Anzeichen für Leben entdeckt hatten.

Um den Turm standen weitere, ihm ähnliche Ruinen, Überreste von Kuppeln und Mauern; sie stachen hervor, als ob sie wie Unkraut aus der Erde gezogen und dann weggeworfen worden wären. Die Ruinen waren von gewaltiger Größe, als wären die ursprünglichen Bewohner dieser Stadt Riesen gewesen, oder es war nur die Stadt selbst, die so gewaltig gewesen war. Die Sonne brannte auf den Schutt herab, der in einem unheimlichen, schimmernden Glanz erglühte.

»Sind wir nicht schon vor Jahren hier vorbeigekommen, als wir mit den Sklavenkindern aus der Rabengilde von Yarim nach Ylorc zurückgekehrt sind?«, fragte Rhapsody. »Ich erinnere mich nicht, damals diese Ruinen gesehen zu haben.«

»Sie waren nicht hier«, stimmte Achmed ihr zu. Er starrte weiterhin auf die Überreste, die einst starke Mauern gewesen, nun aber kaum mehr als im Sand verstreute Steinquader waren. Irgendwo in der Nähe wurde das Summen lauter, das er von den im Boden nistenden Bienen gehört hatte. »Diese Ruinen scheinen aus dem Sand aufgetaucht zu sein. Ich vermute, so etwas geschieht von Zeit zu Zeit, besonders wenn es ein Erdbeben oder eine andere Störung in der Erdkruste gegeben hat. Der Grund hier weist viele Spalten auf – man kann die Risse in der Lehmschicht deutlich erkennen.« Er deutete auf einen großen Spalt, der nördlich von ihnen den sonnengebrannten Boden geteilt hatte und allmählich vom Wind wieder mit Sand gefüllt wurde.

»Kann mich nich’ erinnern, kürzlich Erschütterungen gespürt zu haben«, sagte Grunthor ernsthaft. Er zerrte wieder an seinen Zügeln und stieg ab. Der Sand auf dem roten Lehm spritzte in alle Richtungen davon, als er auf den Boden trat. »Sieht ziemlich frisch aus.« Er kniete nieder und legte die Hand auf den Boden. »Hier stimmt was nich’. Ist alles durcheinander geraten, wie bei einem Unglück. Als ob der Ort geschlafen hätte oder sogar tot gewesen wäre, schon bevor wir die alte Welt verlassen haben, und plötzlich wieder aufgewacht wäre.«

Rhapsody und Achmed tauschten einen raschen Blick aus. Das Erdenwissen, das Grunthor in sich aufgenommen hatte, als er durch das Feuer im Erdkern gegangen war, trog niemals. Rhapsody schaukelte das Kind, bis es wieder sanft eingeschlafen war, während Achmed den Horizont absuchte. Der Wind frischte auf; Rhapsody zog sich die Kapuze des Nebelmantels tiefer ins Gesicht, und Achmed senkte den Schleier gegen das Stechen des Sandes bis über die Augen.

»Selbst unsere Patrouillen am nördlichsten Rand unserer Grenze sind weiter als einen Tagesritt von hier entfernt«, sagte er schließlich. »Ich habe keine Ahnung, was hier los ist oder war, doch es scheint sich ein weiterer Sandsturm zusammenzubrauen. Entweder wir reiten sofort los und versuchen, dort drüben in den Bergen Unterschlupf zu finden, oder wir stellen uns ihm hier entgegen. Ich weiß aber nicht, ob ich an diesem Ort von einer Windhose überrascht werden will.«

Grunthor zuckte die Achseln. »Ist doch egal«, sagte er und betrachtete die hoch aufragenden Mauerstücke, die vor ihnen aus dem Sand ragten. »Sieht ziemlich solide aus. Die Trümmer werden standhalten. Geben bestimmt einen guten Schutz ab, falls ein Sandsturm kommt. Vor Einbruch der Nacht können wir sowieso nichts anderes mehr erreichen.« Er schaute hinüber zu der Stelle, wo Rhapsody stand, klopfte Achmed auf die Schulter und zeigte dorthin. Der Bolg-König drehte sich um.

Die cymrische Herrscherin war ein wenig nach Süden gegangen, als ob sie einem Ruf folgte, den nur sie hören konnte. Während die beiden ihr zusahen, hockte sie sich hin und lauschte immer noch. Sie sahen, wie Rhapsody die Hand zwischen den aufgebauschten Falten des Nebelmantels hindurchstreckte und mit ihr über den Boden fuhr. Dann zog sie den Arm wieder in den Mantel zurück. Sie schaute hinunter auf das Kind und dann zu den beiden Männern.

»Wie geht es deinem Nacken, Grunthor?«, fragte sie.

Der Riese zuckte noch einmal die Achseln, griff sich dann an den Hals und betastete ihn. Ein Ausdruck des Erstaunens glitt über seine groben Gesichtszüge.

»So gut wie neu«, murmelte er.

Rhapsody stand auf und ging zu ihnen hinüber. Sie blieb vor Achmed stehen, schob die Falten des Mantels auseinander und zeigte ihm das Bein ihres Kindes.

Der Striemen war verschwunden, als wäre er nie dagewesen.

Sie drehte sich wieder um und betrachtete die weite Wüste und die fernen Berge hinter ihnen und lauschte angestrengt.

»Was ist los?«, fragte Achmed.

»Fühlst du es nicht?«, fragte sie. »Hier gibt es eine sehr tiefe Schwingung, ein vibrierendes Lied, aber ich habe es vorhin wegen des Summens all der Bienen und des Heulens des Windes nicht gehört. Es ist ein uralter Ton; es handelt sich um die Note Lisele-ut, die zur Farbe Rot gehört.«

»Blutbewahrer«, sagte Achmed. »Es heilt?«

»Ja. Aber ich kann nicht ermessen, wie stark es ist. Es ist so tief, dass man es nicht hören kann; ich kann es nur fühlen. Du auch, Grunthor?«

Der Sergeant-Major nickte zustimmend. »Wir sollten heute Nacht hier bleiben«, sagte er laut und sah Rhapsody zu, wie sie mit geschlossenen Augen weiter nach Norden ging und dem Ton folgte. Dann beugte er sich zu Achmed herüber und sagte leise zu ihm:

»Sieh sie an, sieh dir ihr Gesicht an.«

Die beiden Bolg starrten Rhapsody an, wie sie es vor langer Zeit im Licht des Lagerfeuers getan hatten, als sie gerade von ihrer langen Reise durch den Bauch der Erde wieder an die Oberfläche gekommen waren. Damals hatten sie die Auswirkungen des elementaren Feuers erkannt, das sie im Erdkern in sich aufgenommen hatte. Es war eine Reinigung von allen körperlichen Makeln gewesen, ein Erhellen von Augen und Haar, bis diese dieselbe Wärme wie das Element ausgestrahlt hatten. Ihr Anblick war hypnotisierend gewesen; es war so, als starre man in flackerndes Kaminfeuer.

Was sie nun sahen, war zwar anders, aber doch gleichermaßen unwiderstehlich. Die Frau, die mit ihnen von Haguefort losgeritten war, war fahl und blass, dünn und matt von der schwierigen Niederkunft mit dem Drachenkind gewesen. Obwohl sie ihre Schönheit behalten hatte, war sie doch ein Schatten ihrer selbst gewesen – matt, kränkelnd und ohne die Lebenskraft, die früher so sehr ein Teil ihrer selbst gewesen war. Sie schien beinahe vertrocknet und blutleer, als ob die Geburt ihr jede gesunde Farbe geraubt hätte.

Als sie nun aber nordwärts ging, geleitet vom Lied der Erde, das sie an diesem Ort des endlosen Lehms und der gnadenlosen kalten Sonne sang, schien Rhapsody sich zu erholen, als sauge sie alle Farbe aus der Welt um sich herum auf. Das flachsfarbene Haar, das unter der Kapuze des Nebelmantels hervorlugte, wurde heller und wieder zum Gold früherer Tage, ihre bleiche Haut wurde rosiger und ihr Fleisch immer fester, je länger sie ging. Sogar in ihren Schritten lag nun eine größere Kraft und in ihren Bewegungen mehr Energie.

Während sie sich dem Riss in der Erde näherte, kehrte der Sergeant zu den Pferden zurück.

»Was immer das hier für ein Ort ist, er scheint die Herrin zu heilen. Ich glaub, wir sollten hier lagern, bis es ihr was besser geht. Sie wäre ja vorhin beinahe ohnmächtig geworden.«

Achmed sah zu, wie sie sich vor die Spalte kniete, und nickte. »In Ordnung«, rief er Grunthor zu. »Wir sollten uns eine geschützte Stelle innerhalb der Ruinen suchen, wo wir nicht begraben werden, wenn noch ein Sandsturm hier durchfegt.« Dann ging er hinüber zu der Stelle, an der Rhapsody kniete, und stand still da, während sie der Musik lauschte, die nur sie allein hören konnte.

Schließlich schaute sie auf. Ihr Gesicht leuchtete hell im Licht der untergehenden Sonne.

»Ich glaube, ich weiß, was das für ein Ort war«, sagte sie aufgeregt. Ihre Augen leuchteten so grün wie die Blätterbaldachine in Tyrian. »Erinnerst du dich daran, dass wir die Legende einer untergegangenen Stadt namens Kurimah Milani gehört haben, als wir in Yarim Paar waren und unter der Entudenin gebohrt haben, um der Provinz ihr Wasser wiederzugeben?«

Achmed lächelte gequält. »Nein. Als die Handwerker der Bolg in Yarim Paar waren, sind wir nicht gerade mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen worden, und man hat uns auch keine Legenden mitgeteilt. Wir haben Tag und Nacht gebohrt, dabei Blut geschwitzt und das feindselige Starren sowie die Späße der Idioten ertragen, die wir einfach in der Hitze am Durst hätten sterben lassen sollen. Du hingegen warst Gast dieses verrückten Herzogs Ihrman Karsrick, wenn ich mich recht erinnere. Ich nehme daher an, dass du Zeit hattest, Legenden und Sagen zu sammeln.« Er hielt inne, als er sah, wie sich ihre Miene verdüsterte, und erinnerte sich daran, dass nicht er, sondern sie es damals gewesen war, die sich für die bessere Unterbringung und Behandlung der Bolg-Arbeiter eingesetzt hatte. »Erzähl mir die Geschichte.«

Rhapsody stand auf und hielt das Kind eng an sich gedrückt.

»Ich kenne nicht die ganze Geschichte; ich habe nur Bruchstücke gehört. In der ältesten Zeit, lange bevor die Cymrer zu diesem Kontinent kamen, gab es angeblich eine sagenumwobene Stadt namens Kurimah Milani irgendwo hier in der Gegend, im Windschatten der nördlichen Berge. Ich bin mir über den Ursprung des Namens nicht im Klaren, aber die Klänge, aus denen er zusammengesetzt ist, enthalten alle Töne, die zur Heilung beitragen, so wie das rote Spektrum deines Lichtfängers. Ich habe Teile der Geschichte von den Shanouin-Priesterinnen gehört, dem Stamm der Brunnengräber, die allein in der Lage sind, im Wüstenklima von Yarim Wasser aufzuspüren. Die Shanouin stammen angeblich von den Einwohnern Kurimah Milanis ab, aber die Stadt ist schon vor so langer Zeit untergegangen, dass selbst die Shanouin nicht mehr wissen, ob das die Wahrheit oder nur eine Legende ist.

Ansonsten weiß ich nicht viel darüber, außer dass es ein Ort mit heißen, stark mineralhaltigen Quellen gewesen sein soll, die angeblich aus den Manganbergen gespeist wurden. Die Legenden besagen, dass diese heißen Quellen Heilkräfte und andere magische Fähigkeiten für jene bereithielten, die das Glück hatten, darin baden oder davon trinken zu können. Das ist alles; diese Überlieferungen sind so alt, dass niemand, der jetzt noch lebt, sich deutlicher an sie erinnern kann. Vielleicht war das alles nichts als ein Trugbild im Wind, eine Erfindung, die sich die Wüstenbewohner in der heißen Jahreszeit erzählt haben, wenn das Wasser knapp war und der Durst sie ein wenig wirr im Kopf gemacht hatte.

Aber irgendwo hier unten schwingt ein Lied von gewaltiger Macht, das von etwas ausgeht, was nur der All-Gott kennt. Es ist eine angenehme Melodie, tief und langsam, aber schneller als der Herzschlag der Erde, den wir gehört haben, als wir sie durchquerten, und dabei regelmäßig wie die Gezeiten des Meeres – was hier draußen in der Wüste sehr seltsam ist. Die Macht schwingt im Boden. Kannst du sie spüren?«

Achmed hob seinen Schleier, damit sein Hautgewebe dem Wind ausgesetzt war, und zog den Handschuh von seiner linken Hand. Er hockte sich nieder und hielt die Hand über den Spalt.

»Ich kann es«, sagte er nach einem Augenblick.

»Dann sind das hier vielleicht die Ruinen dieses Ortes«, meinte Rhapsody. »Das ist bemerkenswert und möglicherweise sehr nützlich. Ich glaube, Meridion braucht einen Windelwechsel.«

Der Bolg-König zuckte zusammen, als. der Wind wieder zunahm und ihm in die Augen stach. Grunthor lief zu ihnen zurück, nachdem er die Pferde und Vorräte sicher in den Ruinen verstaut hatte.

»Netter Ort, und so windgeschützt«, sagte er fröhlich. »Na los, Herrin, ich hab dir und dem Kleinen ein Plätzchen vorbereitet. Da solltet ihr vor dem Wind sicher sein, zumindest im Wesentlichen.«

Der Bolg-König deutete auf den Boden.

»Grunthor, kannst du mir sagen, was hier unten liegt? Ist da nur Sand und Lehm, so weit du spüren kannst, oder gibt es noch andere Schichten? Liegt dort unten vielleicht eine Stadt?«

Der Sergeant-Major ging zum Rand des Spaltes, ließ sich dort nieder und untersuchte den Boden. »Vielleicht die Ruinen von ’ner Stadt«, erwiderte er. »Kann ich nich genau sagen – da ist was ganz Mächtiges zwischen, das ziemlichen Lärm macht und alles übertönt, was die Erde sagt. Da unten scheint ’ne Menge Schutt zu sein, aber das ist alles, was ich sagen kann. Wir könnten natürlich nachsehen gehen. Da ist ’n großer, breiter Tunnel direkt unter diesem Spalt. Wir könnten da runtergehn. Das haben wir schließlich schon mal gemacht.«

Rhapsody erschauerte. »Bitte erinnere mich nicht daran. Dann werden die Albträume nur noch schlimmer. Wir sollten bei den Pferden zwischen den Ruinen Unterschlupf suchen.«

»Ich hol ’ne Windel und die restlichen Vorräte«, sagte Grunthor und lief zurück zu den Ruinen.

»Willst du nicht wissen, was unter dem Sand steckt?«, fragte Achmed, während sie warteten.

»Nein. Ich will nach Ylorc gehen, aus dem Wind herauskommen und mit der Arbeit an deinem verdammten Lichtfänger beginnen. Ich brauche keine Erinnerungen an unsere Reise entlang der Axis Mundi, vielen Dank.

Ich bin eine Lirin. Wir gehören nicht unter die Erde, und das weißt du sehr genau.«

»Also bitte, du hast doch gesagt, du freust dich auf deine Rückkehr nach Elysian, und das liegt auch unter der Erde«, meinte Achmed gereizt. »Wo ist da der Unterschied? Wie kann eine Benennerin sich die Möglichkeit entgehen lassen, eine der größten Entdeckungen in der bekannten Welt zu machen? Wenn das hier wirklich Kurimah Milani ist, willst du es dann jemand anderem überlassen?«

»Jawoll«, meinte Grunthor, während er ihr Gepäck vor ihr fallen ließ. »Ich frag mich, was wohl Talquist mit diesem Ort anstellen würde.«

»Ich will nicht das Kind in Gefahr bringen, nur weil …«

»Es kann nicht gefährlicher sein, als gut sichtbar in der Wüste herumzulaufen, vor allem, da bald die Nacht hereinbricht«, sagte Achmed.

»Es könnte sogar viel ungefährlicher sein«, sagte Grunthor ernst. »Sieh mal hinter dich.«

Rhapsody und Achmed drehten sich gleichzeitig um. Der sandige Wind schlug ihnen ins Gesicht. Von Westen näherte sich eine hohe Wand aus Staub und trieb die abgestorbenen Sträucher vor sich her, die in der weiten roten Lehmwüste vertrocknet waren; seine Kraft nahm mit jeder Sekunde zu.

Grunthor sprang in den Spalt und fegte den Sand von der Stelle weg, wo er den Beginn eines Tunnel vermutet hatte.

»Beeilt euch«, sagte er. »Kann den verdammten Sand nicht lange zurückhalten. Ich hätte lieber guten alten bolgischen Basalt.«

Achmed kletterte in die Spalte, kauerte sich hinein und kaum einen Augenblick später wieder daraus hervor.

»Es ist in Ordnung, Rhapsody. Die Decke ist hoch, und es scheint so etwas wie eine Kammer oder Höhle zu sein. Wir können darin bleiben, bis der Sandsturm abgezogen ist, und uns dann wieder auf den Weg machen.«

Die cymrische Herrin seufzte auf und kletterte hinter ihm in die Erde, gefolgt von Grunthor. Sie betraten einen Ort gewaltiger, endloser Dunkelheit.

Als der Sandsturm herannahte, folgte ihnen leise ein Schatten in die Tiefe.

32

»Grunthor, kannst du mich in der Dunkelheit sehen?«

»Ja, allerdings, Herrin.«

»Kannst du mir dann vielleicht mein Bündel und ein Licht geben?«

»Na klar.«

Ein kaltes blaues Licht erschien und warf einen schimmernden Glanz auf den Mund des Tunnels. Die drei Gefährten sahen sich um.

Sie befanden sich in einem Korridor mit glatten Wänden, der aus uraltem Lehm geformt war. In die halbrunden Wände waren lange, tiefe Furchen eingegraben. Das Licht der Kugel wurde von den Wänden zurückgeworfen und glitzerte in der Finsternis in demselben unheimlichen Licht wie die zerfallenen Mauern und Türme an der Oberfläche. Eine kühle Brise blies aus der Düsternis am Ende des Korridors herbei.

»Scheint so etwas wie ein Kanal zu sein«, sagte Achmed. Grunthor nickte zustimmend. »Vielleicht der Teil eines Abwassersystems.«

Rhapsody zog ihren Mantel aus und wickelte das Kind hinein.

»Wunderbar«, murmelte sie, während sie ihr Gepäck durchstöberte. »Warum betreten wir eine Stadt eigentlich immer durch die Kanäle? Wenn ich mich recht erinnere, sind wir so auch ins Bolgland gekommen.«

»Ich finde es ziemlich angemessen, wenn man bedenkt, was du in letzter Zeit so getrieben hast«, meinte Achmed giftig, während das Kind leise gurrte. »Gute Götter, Rhapsody, bist du sicher, dass du ihn nicht mit Schwefel fütterst?«

»Ziemlich sicher«, erwiderte sie und sah in der Dunkelheit lächelnd auf das Kind herab. Im Glimmern der kalten Lichtkugel waren sein Haar und seine Haut beinahe durchscheinend; die winzigen senkrechten Pupillen in seinen klaren Augen glitzerten. Sie küsste ihn auf den kleinen Bauch und wickelte ihn rasch, während der Wind an ihnen vorbeiheulte und im Tunneleingang sowie um diesen herum kreischte.

»Gute Sache, dass du deine Angst vor dem Untergrund rechtzeitig überwunden hast«, sagte Grunthor und schaute nach draußen. »Das ist ’n starker Sturm, so stark wie der letzte. Hoffe, die Pferde werden nicht unter dem Sand begraben. Bin froh, dass ich die Vorräte hergebracht hab.«

Rhapsody trat über die Furchen im Tunnelboden, wiegte dabei Meridion im Mantel und setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Achmed und Grunthor wandten sich ab, als sie das Kind stillte, und beobachteten den gewaltigen Sandsturm vor dem Tunnel. Sie lauschten dem harten Kreischen des Windes und den leisen Geräuschen, die das Kind machte, bis beides allmählich verstummte.

Als der Sturm anscheinend vorübergezogen war, wuchtete sich Grunthor aus dem Tunnel und schaute sich um. »Die Spalte hat sich ein bisschen gefüllt«, berichtete er, als er zurückkehrte. »Muss sie vielleicht freilegen, wenn wir gehen.«

Der Bolg-König nickte, drehte sich um und ging an Rhapsody vorbei den Kanal entlang in die immer noch stürmische Finsternis. Er gab den anderen ein Zeichen.

»Da ist eine große Öffnung in der Decke am Tunnelende, wo der Wind herkommt. Bringt das Licht mit, damit wir uns ein wenig umsehen können, bevor wir das Nachtlager aufschlagen.«

Grunthor reichte Rhapsody seine gewaltige Hand und half ihr auf die Beine, dann nahm er die Lichtkugel, und sie folgten dem Bolg-König den Kanal entlang bis zum Ende des Tunnels, wo eine dunkle Öffnung gähnte.

Als sie sich ihr näherten, zuckten sowohl Rhapsody als auch Achmed zurück. Ein Brummen von gewaltiger Lautstärke drang daraus hervor und schlug ihnen gegen Haut und Ohren. Es war nicht das tiefe, langsame Lied, das Rhapsody beschrieben hatte, sondern eher ein misstönendes Summen.

Rhapsodys Augen funkelten nervös im kalten Licht. »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, Achmed«, flüsterte sie. »Stört dich dieses andauernde Brummen denn nicht?«

»Dein andauerndes Brummen stört mich schon seit vierzehnhundert Jahren«, gab er zurück. »Ich werd’s überleben. Es ist besser, wenn wir wissen, was es ist, als wenn wir davon überrascht würden. Bleib hier. Grunthor, gib mir das Licht. Vorsicht, von hier ab sind ölige Pfützen auf dem Boden.«

Der blau-weiße Ball wurde weitergereicht. Der Bolg-König trat an die Öffnung, wobei er den Lachen auf dem Boden auswich, und hielt das Licht über sich. Er beugte sich vor und schaute sich um.

»Nun, das erklärt die Bienen«, sagte er schließlich.

Rhapsody und Grunthor tauschten einen raschen Blick aus und gesellten sich dann zu ihm.

Hinter dem Loch befand sich eine gewaltige Höhle. Es handelte sich um die Überreste dessen, was einmal ein riesiges öffentliches Bad gewesen sein mochte. Gigantische, mit glitzerndem Perlmutt belegte Steinsäulen trugen die Überreste der Decke, die früher einmal mit außergewöhnlichen Fresken bemalt gewesen war. Verschlungene Mosaiken aus gebranntem Glas bedeckten die Wände; ihre Farben waren noch immer leuchtend, wenn auch teilweise mit Ruß beschmiert. Besonders das Rot strahlte hell, sogar in dem kalten blauen Licht. Es war schwer, viel vom Boden zu erkennen, denn er war in den Schatten hinter der Reichweite des Lichts verborgen. Deutlich waren jedoch die Reste eines Bewässerungssystems zu sehen, die von dem Kanal wegführten. Ausgedehnte, von farbigen Kacheln gesäumte Gräben führten zu schon seit langem trockenen Springbrunnen, in denen sich eine Reihe von Steinsitzen befand. Eine gewaltige, an einem Ende zerschmetterte Kuppeldecke reichte bis in die Finsternis. Das Tröpfeln von Wasser war neben dem Brummen zu hören, das hinter der Öffnung zu einem wahren Brüllen anschwoll.

Auf den Wänden und Säulen wuchsen am Rand des Lichtkegels Ausstülpungen von allen Größen; dicke Schimmelsporen und Pilzkulturen überzogen ganze Fresken. Weiter oben erstreckte sich über die Decke etwas, das wie massive Stalaktiten aussah; es waren lange, herabhängende Gebilde, die an Fangzähne in einem gewaltigen Maul erinnerten. Um diese Stalaktiten schwärmten Bienen – mehr Bienen, als ihr Auge aufnehmen konnte.

Das Brummen des gewaltigen Schwarms war so laut wie Donner, der in den Bergen hallt. Die Stalaktiten waren lediglich der äußerste Rand davon. Der Rest war durch Sand und Bienenspeichel während zweier Jahrtausende zementiert worden und breitete sich bedrohlich über die Decke bis hinter die Reichweite der Lichtkugel aus. In der Nähe des Lochs in der Decke war der Bienenstock zerschmettert. Aus zerbrochenen Waben tropften Wachs und Honig auf den Boden, umkreist von Zehntausenden aufgeregter, wütender Insekten. Ihre Schwingungen fuhren über Achmeds Haut und setzten sie in Brand. Rhapsody barg ihr Kind tiefer in den Falten des Nebelmantels und bemühte sich, mit dem Arm beide Ohren zu bedecken.

»Na gut, Herrin, vielleicht sind wir draußen wirklich sicherer«, flüsterte Grunthor.

»Keinen weiteren Laut!«, warnte Achmed mit leiser Stimme. »Wenn du sie erschreckst, werden sie auf uns zuschwärmen, und wir können ihnen nicht davonlaufen.«

Da kannst auch mir nicht davonlaufen, Ysk.

Die Worte krochen über Achmeds Haut und hallten in seinem Blut wider. Obwohl kein Laut seine Ohren erreichte, hörte er sie so deutlich, als ob sie dicht neben ihm ausgesprochen worden wären. Fast unmerklich drehte er sich ein wenig, weil er hinter sich schauen wollte.

Beweg dich nicht.

Der Befehl kratzte über die Innenseiten seiner Augenlider. Der Bolg-König zuckte vor Schmerzen zusammen. In diesen Worten lag etwas Vertrautes, eine unausgesprochene und tonlose Mitteilung, die durch sein Hautgewebe übertragen wurde und für seine oder andere Ohren unhörbar war. So war er bisher nur zweimal in seinem Leben angesprochen worden, einmal von seinem Lehrer in der alten Welt, Pater Halphaison, und das zweite Mal von der Großmutter, der alten Frau, die das Schlafende Kind bewachte, doch sie beide hatten ihm nicht solch rohe Gewalt und solche Schmerzen aufgezwungen. Die Worte wurden in keiner Sprache, sondern nur sinnenhaft mitgeteilt.

Sag ihnen, sie sollen hineingehen.

Achmed schluckte. Es war, als würde mit jedem Befehl ein weiterer unsichtbarer Faden um ihn herum gesponnen, der ihm seine Bewegungsfreiheit nahm. Er sog die Luft ein und versuchte seinen Kirai zu entfesseln, da er sich von seinen Suchschwingungen Aufschluss über den Sprecher erhoffte, doch der Atem blieb ihm in der Kehle stecken.

»Rhapsody«, sagte er auf Alt-Cymrisch, »tritt zur Seite und geh aus dem Kanal heraus. Du auch, Grunthor.«

Die cymrische Herrscherin, die zu seiner Rechten stand und gerade versuchte, die Schwingungen des Bienenschwarms aufzunehmen und einen Komplementärton dazu zu finden, sah ihn von der Seite an und gehorchte, als sie seine ernste Miene bemerkte. Sie trat rechts neben die Öffnung.

Grunthor zu seiner Linken tat ebenfalls, was Achmed gesagt hatte, doch als er vor dem Bolg-König herging, schaute er den Kanal hinter ihm entlang und verlangsamte seine Schritte. Der Schatten eines Mannes stand unmittelbar hinter Achmed, kaum einen Atemhauch entfernt. Er war in Dunkelheit gehüllt. Grunthor ging weiter, doch verstohlen griff er nach seinem Wurfmesser im Gürtel.

Plötzlich erstarb die Brise, die den Kanal entlanggeweht und von Millionen kleiner Flügel verursacht worden war. Die Luft im Tunnel entwich. Die beiden Bolg rangen nach Atem, als ihnen sogar die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Grunthors Hand wanderte zu seiner Kehle, doch Achmed rührte sich nicht. Seine Adern an Hals und Stirn dehnten sich.

Rhapsody wandte sich um, sah ihre beiden Freunde in Not und eilte entsetzt zurück zur Öffnung. Eine Stimme, die diesmal deutlich hörbar war, sprach in leisem Tonfall, der durch das Brummen des Schwarms drang.

»Bleibt stehen, Herrin, es sei denn, Ihr wollt, dass Eurem Kind dasselbe zustößt.«

Die Kugel aus kaltem Licht fiel aus den Händen des Bolg-Königs und prallte dumpf auf den Boden. Rhapsody erstarrte und zog den Mantel sowie ihr Kind enger an sich, während die beiden Bolg auf die Knie sanken und gegen die Bewusstlosigkeit ankämpften.

»Aufhören, bitte«, flüsterte sie in demselben Tonfall, dessen sich auch die Stimme bedient hatte.

Schweigt. Der Befehl stach ihr in die Ohren. Rhapsody presste die Zähne zusammen und lehnte sich gegen die Wand. In tiefstem Grauen sah sie zu, wie ihre beiden Freunde nach vorn fielen, Achmed zuerst, dann der riesige Sergeant-Major. Die Augen quollen ihnen aus den Höhlen, und ihre Gesichter leuchteten purpurfarben im schwindenden kalten Licht.

Sie kämpfte gegen die Tränen an und spürte, wie Hass gleich einem Feuerstrom durch ihre Adern rann, als Grunthors Körper schließlich erschlaffte. Achmed war mit dem Gesicht in ihre Richtung gefallen und sah sie an. Er versuchte, sie ermunternd anzulächeln, aber es gelang ihm kaum. Rhapsody glaubte jedoch, ihn blinzeln gesehen zu haben.

Dann wurde auch sein Gesicht schlaff.

Ein Schatten kam heran und fiel im blauen Licht über die Körper. Rhapsody rührte sich nicht, als eine langknochige und dünne Hand aus einem Gewand hervorgestreckt wurde, Achmed packte und ihn auf die Beine und außer Sichtweite zog. plötzlich frischte die Brise wieder auf. Sie hatte Rhapsody die ganze Zeit umweht, doch nun fuhr sie auch durch Grunthors ölige Haare und seinen Umhang, der sich über dem Rücken des Riesen aufbauschte. Nach einem Augenblick regte sich der Bolg leicht, dann hustete er.


Achmed kam kurz darauf zu sich. In seinem Kopf pochte es. Benommen starrte er auf zwei Nadelspitzen aus Licht unter einer dunklen Kapuze. Die Gestalt, die ihn gepackt hielt, sah ihn kurz an, ließ ihn dann zu Boden fallen und nahm ihre Kapuze ab.

In dem ungewissen Licht sah Achmed Gesichtszüge, die er sofort wieder erkannte, und doch hatte er sie in dieser Form noch nie gesehen. Der Mann, der da vor ihm stand, war dünn wie ein Wispern, größer als Achmed, hatte breite Schultern und sehnige Hände, und seine Haut war überall von bloßliegenden Adern durchzogen, was ihr eine seltsame Zweifarbigkeit verlieh. Sein Kopf war glatt und kahl und verjüngte sich von der Stirn zum kantigen Kiefer. Die Augen waren schwarz wie Tinte, hatten keine sichtbare Iris und wurden von silbernen Pupillen geteilt. In sie zu schauen, war wie innerhalb eines dunklen Raumes in einen Spiegel zu blicken.

Ein Dhrakier. Ein Vollblut.

Aber einer, der sich sehr von denen unterschied, die Achmed bisher gesehen hatte.

Steh auf und tritt ein, befahl der Mann. Diesmal verursachte das Kommando keine Schmerzen, sondern trommelte kurz und knapp gegen seine Haut. Achmed gehorchte. Langsam erhob er sich und erlaubte seinem Körper, sich zu strecken, bis er ganz aufrecht stand. Er taumelte durch die Öffnung, neben der Grunthor lag, und schüttelte diesen, bis der Riese erzitterte und nach Atem rang. Dann half Achmed ihm, sich aufzusetzen.

»Was, zum …?«

»Psst«, warnte ihn der Bolg-König. Grunthor richtete den Blick auf die Gestalt, die vor ihnen stand, und wirbelte dann zu Rhapsody herum, die noch immer gegen die Kavernenwand gelehnt stand. Sie keuchte, hatte ihr Kind fest in den Nebelumhang gewickelt und drückte es an sich. »Kannst du stehen?«

»Natürlich kann ich stehen«, murmelte der Sergeant-Major. »Ist nur ’ne Frage der Zeit, bis ich so weit bin.«

»Steh auf und tritt herein«, sagte der Dhrakier in seiner hörbaren, rauen Stimme. Es war dieselbe sandige Stimme, mit der auch Achmed sprach. »Jeden Moment, den ihr zögert, könnte die Bestie erwachen.«

»Die Bestie?«, flüsterte Rhapsody, während die drei Männer auf sie zukamen.

Der dünne, kahlköpfige Mann nahm die Lichtkugel auf, gab sie ihr und deutete ungeduldig auf das Innere der Höhle. Achmed nickte. Rhapsody drehte sich um und geleitete die drei durch eine nach unten führende Rinne, die einmal einer der Kanäle des Bewässerungssystems gewesen war. Sorgfältig achtete sie darauf, dass sie den Schimmelflecken und den zerbrochenen Teilen des Bienenstocks, die an den Wänden bis auf den Boden der Kaverne hingen, nicht zu nahe kam.

Sie gingen unter langen Fäden tropfenden Honigs dahin und versuchten jeden Kontakt mit ihnen zu vermeiden. Die zähen Fäden dehnten sich aus, wenn abermals ein schwerer Tropfen gefallen war, zogen sich wieder zusammen und vergossen den nächsten goldenen Schatz über dem, was einmal ein Wasserlauf gewesen war. Die Luft um sie herum war durch unzählige Schwingen und den schweren Klang des Brummens in Aufruhr gebracht, der alle anderen Geräusche übertönte.

Schließlich kamen sie zu einem großen Bassin, das einmal ein gewaltiges Bad mit Sitzen aus gebrannten Ziegeln gewesen war, durch welches langsam ein plätscherndes Rinnsal um Hindernisse aus zerborstenen Statuen und zerfallenen Mauern herumfloss. Der Mann in der Robe blieb neben dem Rinnsal stehen und deutete darauf.

»Trinkt«, sagte er zu Achmed und Grunthor. »Es wird euch heilen.«

»Mir geht’s gut, danke«, murmelte der riesige Bolg. »Ich fühl mich bloß ’n bisschen schwindlig.«

Der Dhrakier schnaubte und schaute den Bolg-König an. »Und du?«

Achmed sagte nichts.

Der Dhrakier beobachtete ihn noch einen Augenblick, dann hockte er sich bei dem Rinnsal nieder, schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser und trank es. »Wie du willst«, sagte er. Er drehte sich um und ging hinüber zu einer geschützten Nische mit blauen Marmorwänden, in der sich vermutlich die Badenden entkleidet hatten, bevor sie in die Heilbäder gestiegen waren. Der Bolg folgte ihm, doch Rhapsody blieb neben dem Gewässer und lauschte ihm, während es über den Boden floss. Es war ein musikalischer Laut, ähnlich dem Lied, das sie gehört hatte, als sie noch an der Erdoberfläche gewesen waren. Sie kniete nieder, wobei sie noch immer ihren Nebelumhang festhielt, setzte ihr Gepäck ab und suchte darin herum. Schließlich holte sie eine leere Wasserflasche hervor, die sie rasch mit einer Hand füllte, verschloss und wieder in ihre Tasche steckte. Sie ging zu den Männern in der Nische, die einer der wenigen Orte in dem riesigen Gewölbe war, welchen die Bienen noch nicht besetzt hatten, vermutlich weil die blauen Marmorwände zu glatt für sie waren. In der Abgeschiedenheit dieses Ortes schienen alle Geräusche wie das Pfeifen des Windes oder das Summen der Bienen ausgeblendet zu sein.

Achmed wandte sich an den Dhrakier. »Warum bist du hier? Was willst du?«

Der alte Mann sah ihn ohne Groll an, als schätze er seinen Wert für den Markt ab. Schließlich sagte er mit einer Stimme, die so tonlos wie der Wind in der Kaverne war:

»Ich habe eine Aufgabe für dich.«

Der Bolg-König lachte leise. »Du bist hergekommen, um mir eine Aufgabe zu erteilen? Wieso glaubst du, dass das möglich ist? Bist du wirklich der Ansicht, dass du mich zur Mitarbeit bewegen kannst, indem du mich zu erwürgen versuchst?«

Die dunklen Augen verengten sich.

»Du bist von unserem Blut und fühlst trotzdem nicht den Ruf der Uranfänglichen Jagd?«

Auch Achmed kniff nun die Augen zusammen.

»Ich fühle ihn«, sagte er mürrisch. »Ich habe diesen Ruf mehr als einmal beantwortet und habe mehr als einen scheußlichen F’dor-Geist zurück in die tiefe Kammer der Unterwelt oder in den Äther geschickt. Aber ich verstehe noch immer nicht, warum du glaubst, du kannst mich und meine Leute angreifen und beinahe erwürgen und dann von mir erwarten, dass ich von dir eine Aufgabe annehme, als wäre ich ein Botenjunge. Ich habe meine eigenen Ansichten darüber, wie ich meine Zeit verbringe, um meine sonstigen Verpflichtungen erst gar nicht zu erwähnen – und keine davon bezieht sich darauf, von jemandem eine Aufgabe anzunehmen, und schon gar nicht von dir.« Seine Stimme war voller Hass, und das letzte Wort hallte laut in der Nische wider.

Der alte Dhrakier sagte nichts, sondern stand nur schweigend da und beobachtete Achmed sorgfältig. Schließlich deutete er auf die Stelle in der Decke, wo die Mauern und der Bienenstock zerstört waren.

»Hinter dieser Wand befindet sich ein Wyrmril, eine Bestie, die vor kurzem hergekommen ist und sich Heilung von einem Ort erhoffte, der nichts als eine Erinnerung ist. Sie schläft jetzt – ihr Feuer ist an einem Übermaß von Honig und süßem Wasser erstickt –, doch jeder Laut, jede Ablenkung könnte sie wecken.«

»O Gottchen«, meinte Grunthor leise. »Anwyn. Hab mich schon gefragt, wohin das alte Biest geflohen ist.«

»Ihr mögt euch dazu in der Lage sehen, es mit ihr aufzunehmen, aber was ist mit Eurem Kind, Herrscherin? Kann es den Drachenatem überleben?« Der Dhrakier schaute hoch zu dem ausgedehnten Bienenstock, der die gesamte Decke der gewaltigen Höhle überzogen hatte. »Doch von den Bienen geht für euch noch größere Gefahr aus, auch wenn es ihr Lärm ist, der euch am Leben erhält, denn die Bewegungen ihrer Flügel verbergen eure Gegenwart vor der Drachin«, bemerkte er fast beiläufig. »Als Kurimah noch eine Heimstatt des Heil-Wesens war, wurden die Vorfahren dieser Bienen als Gefangene gehalten und von einem Gefolgsmann des Erbauers dieser Stadt wegen ihres Honigs gezüchtet, der zu Medizin und sanften Salben verarbeitet wurde. Sie sind die einzigen Wesen, welche die Vernichtung der Stadt überlebt haben.« Sein nachdenklicher Blick richtete sich wieder auf die drei. »Damals mögen sie harmlos gewesen sein, doch jetzt könnten sie uns in Windeseile töten – und wie unsere eigene Art sind sie eines Geistes und können still im ganzen Schwarm miteinander in Verbindung treten, als wären sie ein einziges Wesen. Falls sie ausschwärmen und uns angreifen sollten, würden unsere toten Körper wie in Wein getränkte Feigen anschwellen, bevor sie platzen, und die Bienen würden sich von unseren Leichnamen nähren.«

»Bitte erspar dir weitere Beschreibungen«, warf Rhapsody ein. »Ich glaube, wir haben verstanden.«

Der Dhrakier lächelte kalt und sprach wieder zu Achmed. »Das hier ist der einzige Ort auf der ganzen Welt, an dem diese Spezies von Bienen lebt. Sie wurden aus der alten Welt hergebracht, von einem Ort, den es nicht mehr gibt, und während der Jahrhunderte sind sie gewachsen und einzigartig geworden. Wenn jemand in diese Gewölbe hinabsteigen sollte, mit einem Flammenwerfer vielleicht, könnte er alle Bienen dieser Art auf einen Schlag vom Antlitz der Erde tilgen.« Seine Stimme wurde noch tonloser und leiser. »Genauso verhält es sich mit einem anderen Gewölbe.«

»Du sprichst in Rätseln«, sagte Achmed düster. »Vielleicht habe ich vergessen zu erwähnen, dass ich Rätsel hasse. Was willst du?«

Der Dhrakier schenkte ihm einen stechenden Blick. »Ich bin gekommen, um dich zur Jagd zu führen, an der du schon seit langem hättest teilnehmen sollen. Du wirst gebraucht, Ysk. Die Zeit wird knapp.«

Ein sarkastisches Lächeln kroch über das Gesicht des Bolg-Königs. »Und wieder redest du mich mit dem Namen an, der mir verliehen wurde, als man vor mir ausspuckte, und der so schmählich und abstoßend ist, wie ein Name nur sein kann. Warum sollte ich dir helfen? Ich habe meine eigene Verantwortung und muss meine eigenen Lasten tragen. Ein ganzes Königreich erfordert meine Aufmerksamkeit.«

»Ja«, sagte der Mann mit dem kantigen Kiefer. »Du bist der Mörderkönig, wie ich gehört habe. Ich habe dich mit dem einzigen Namen gerufen, den ich für dich hatte, auch wenn du ihn schon vor langer Zeit abgestreift hast, weil derjenige, den du danach erhalten hast – der Bruder –, es dir erlaubte, im Wind nicht mehr aufspürbar zu sein.«

»Das war der Sinn, der dahinter steckte.«

»Mein ganzes Leben lang habe ich nach dir gesucht«, sagte der Dhrakier. »Ich kannte dich schon, bevor du geboren wurdest; so ist es bei allen Brüdern.« Seine Stimme wurde sanfter, als ob der Wind den Sand in ihr fortgetrieben hätte. »Die Zherenditck, die an der Jagd teilnehmen und die Oberwelt auf der Suche nach den F’dor durchstreifen, haben ein gemeinsames Band, das Raum und Zeit übersteigt. Sie sind eines Geistes, und so wissen alle, was einem von ihnen zustößt. Aber du bist kein Zherenditck, du bist ein Dhisrik, einer der Ungezählten, ein Dhrakier, der keine Blutsbande zur Kolonie hat und daher außerhalb des gemeinsamen Geistes steht. Du begreifst das Band zwischen uns nicht, was sehr seltsam für jemanden ist, der in Bruder für alle, doch keinem gleich umbenannt wurde. Du hast Blutsverwandte, Ysk – oder wie immer du jetzt genannt werden willst –, Blutsbrüder, die seit deiner Geburt den Wind nach dir durchstöbern. Deine Mutter war eine von uns, eine der Gefangenen. Wir haben deine Empfängnis beobachtet, sie erfahren, sie genauso durchlitten wie deine Mutter, wenn auch nicht in derselben Stärke.

Wir suchten umsonst all die Jahre und auf der ganzen weiten Welt. Du warst unauffindbar. Dann, als einer der anderen Dhisrik, Halphasion, uns die Nachricht schickte, du seiest bei ihm aufgenommen, umbenannt, ausgebildet und deiner dhrakischen Abstammung und des damit eingehergehenden Blutpaktes bewusst gemacht worden, warteten wir darauf, dass du zu uns kommst und an der Uranfänglichen Jagd teilnimmst. Aber du hast dich trotz des tiefen Rufs in deinem Blut nicht dazu gezwungen gefühlt, obwohl du ihn gehört und seine Macht bei deiner Umbenennung eingesetzt haben magst. Stattdessen hast du einer leichteren Stimme gelauscht, einem Ruf aus der oberen Welt, der dich zu den Belangen der irdischen Menschen hingezogen hat – zu Macht, Bequemlichkeit, Freundschaft, Sicherheit. Wer weiß, welche Freuden und Verbindlichkeiten dich von dem fortgelockt haben, was uranfänglich in dir ist, und dir erlaubt haben, das Unleugbare zu leugnen. Es ekelt mich an, daran zu denken, dass so etwas bei einem von uns möglich ist. Ich habe dir die Atemluft genommen, weil ich sehen wollte, ob auch die letzte Obszönität möglich ist – ob einer der Brüder zum Gastkörper für einen F’dor geworden ist. Ich freue mich, dass dem nicht so ist und kein verdorbener Geist versucht hat, mich anzubetteln oder zu beschwatzen oder in einen anderen Körper zu schlüpfen, als du dem Tode nahe warst. Aber ich muss gestehen, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn dies geschehen wäre, da du das Unleugbare geleugnet und dem, was in deinen Adern kreist, keine Beachtung geschenkt hast. Vielleicht haben dich die Firbolg richtig benannt. Es liegt etwas Scheußliches in einem Bruder, der die Nadeln in seinen Adern spürt, das Brennen auf der Haut und das Rasen des Blutes kennt, das unsere Bürde ist, und der trotzdem nicht an der Jagd teilnimmt.

So bin ich hergekommen, um dies herauszufinden, Mörderkönig: ob du mehr König oder mehr Mörder bist.«

Achmeds Gesicht war eine Maske der Gelassenheit, doch seine verschiedenfarbigen Augen leuchteten mit einer Intensität, die Rhapsody Angst machte.

Seine Antwort ging in einem plötzlichen Schrei aus dem Nebelmantel in ihren Armen unter. Der Laut durchdrang den Lärm der Bienen, übertönte das Plätschern des Rinnsals und hallte in den Ruinen des Bades wider.

Alle drei Männer fuhren zusammen. Rhapsody riss vor Entsetzen die Augen auf. Sie schaukelte das Bündel, griff zwischen die Falten des Mantels und versuchte, das Kind zu beruhigen, doch das Schreien wurde nur noch heftiger und ging in ein hohes Kreischen über, das lauter denn je zuvor war.

»Meridion, Meridion, psst, nein, nein«, flüsterte sie und unternahm den nutzlosen Versuch, ihrem Kind die Brust zu geben. »Gute Götter, bitte nicht, du weckst die Drachin auf.« Aber das Kind kreischte weiter; sein klagendes Geschrei brach sich an den Wänden der Höhle und legte sich über das tiefe Summen.

Denn im Gegensatz zu seiner Mutter wusste das Kind bereits, dass die Drachin erwacht war.

33

Die Drachin hatte bereits das Bewusstsein wiedererlangt, bevor sie ihren Namen hörte.

In ihrem leichten Schlaf waren die Träume, in denen sie anfangs geschwelgt hatte, immer trostloser geworden. Obwohl es Augenblicke des Feierns und Beifalls in ihrem Leben gegeben hatte, waren es doch nur wenige und weit auseinander liegende gewesen, wenn man sie mit den Jahrhunderten des Misstrauens, der Täuschung, Ablehnung, Intrigen, Kriege, Morde und Schändungen verglich, die schließlich zu weiteren Jahrhunderten der Verbannung, des Exils und der Einsamkeit geführt hatten. Bald waren die glücklichen Erinnerungen aufgebraucht und so oft wiederholt, dass sie keinen Trost mehr zu spenden vermochten.

Sie zuckte im Schlaf und kämpfte darum, die unangenehmen Gedanken im Zaum zu halten, doch allmählich versammelten sie sich vor den Toren ihres Geistes wie Rebellenhorden, die auf Eroberung aus waren.

Der Honig und das Wachs, die sie in dem Glauben verschlungen hatte, es handele sich dabei um heilenden Sonnenschein, klumpten in ihrem Magen, überzogen ihre Kehle und würgten sie. Die Bienen, die sie angegriffen hatten, hatten ihrer festen Haut nur geringen Schaden zugefügt; sie verspürte dort keine Schmerzen, aber die Stiche, die in ihre Augen gedrungen waren, hatten diese anschwellen lassen und verursachten in ihr aufs Neue brennende Wut.

Als daher der Name ausgesprochen wurde, wenn auch weit entfernt in einer anderen Kammer des Bades, drang er ihr sofort ans Ohr und klang wie eine Zimbel in ihrem Hirn.

Rhapsody, tritt zur Seite und geh aus dem Kanal heraus.

Die wunden Augen der Bestie öffneten sich weit in der Dunkelheit des zerstörten Bades und warfen ein unheimliches blaues Licht in die Finsternis.

Rhapsody.

Zuerst war das Erwachen ein Kampf. Ihr Geist, in dem der Name der verhassten Frau summte, fing Feuer und brummte vor heftiger Energie, doch der Körper, der von innen durch die Scherben zerrissen worden war, die noch in ihm stecken, reagierte nur langsam; er brauchte weiterhin Ruhe und Heilung. Die Drachin nahm all ihre Willenskraft zusammen und erhielt allmählich die Gewalt über ihre Glieder zurück. Sie streckte die Beine und Unterarme, dann die Klauen, bis sich ihre Muskeln im süßen Schmerz kontrollierter Bewegungen anspannten.

Sie reckte sich langsam; es war nicht die träge Bewegung von Muskeln und Knochen, die sie zuvor in ihrer Apathie so angenehm und geschmeidig gefunden hatte, sondern die vorsichtig abgemessene Wiederbelebung eines schlafenden Körpers. Gleichzeitig lauschte sie angestrengt und hoffte den Namen wieder zu hören oder ein Anzeichen für den Aufenthaltsort dieser Frau herauszufinden. Dieser Ort alter Magie mit seinem leisen, fortdauernden Gesang des Heilens und das dämonische Summen des Schwarms verwirrten sie; es gab keine Möglichkeit für ihre inneren Sinne, die Ruinen abzusuchen.

Sie würde es mit ihren eigenen Augen tun müssen.

Als sie schließlich der Ansicht war, dass ihr Körper wieder so gut wie möglich funktionierte, glitt sie zurück in das Flussbett und begab sich zu dem Loch, das sie in der Höhle hinterlassen hatte. Ihre gespaltene Zunge schmeckte die Luft; sie versuchte, die letzten Reste des süßen Honigs loszuwerden und durch eine viel verlockendere Geschmackserfahrung zu ersetzen.

Durch Blut und Knochen, gewürzt mit Hass.


Die drei Männer erstarrten nur ganz kurz.

Eine Sekunde später befanden sie sich bereits wieder in Bewegung. Der Dhrakier, der sich anscheinend in den Ruinen gut auskannte, übernahm die Führung, lief an zerbrochenen Vasen und Urnen vorbei, die früher einmal Heilwasser und lindernde Öle enthalten hatten, und bahnte den anderen einen Pfad, so gut es ihm eben möglich war. Achmed nahm Rhapsody die Lichtkugel aus der Hand und folgte ihm. Er erhellte den Pfad, während Grunthor Rhapsody und ihr Kind packte und die beiden trug, denn seine Schritte waren mehr als doppelt so lang wie ihre.

Vorsichtig hasteten sie über den Boden des uralten Bades, sprangen den verstreuten Ruinen aus dem Weg oder duckten sich unter ihnen hindurch, kamen an gewaltigen Statuen lächelnder, gewandeter Damen vorbei, welche ihre Hände in segnender Geste ausgestreckt hatten, umrundeten die Bruchstücke von Liegen für Sonnenbäder unter dem Wüstenhimmel und gelangten schließlich zu dem Kanal, durch den sie hergefunden hatten. Sofort stiegen sie den Tunnel hoch.

Als sie ihn zur Hälfte durchschritten hatten, brach die Bestie durch das Loch im zerstörten Gewölbe und stieß ein Brüllen voll beißenden Hasses aus, der sogar Glas zum Schmelzen hätte bringen können.

Die Kuppel des Gewölbes erbebte, und Sand und Kies regneten herab, gefolgt von Teilen des Bienenstocks, die an der Decke geklebt hatten.

Rhapsody drückte den Kopf gegen Grunthors Brust und zog Meridion so eng wie möglich unter ihr Kinn. Sie hoffte, seinen Kopf auf diese Weise vor den fallenden Trümmern zu schützen. Das gewaltige Herz des Riesen schlug wie Donnerhall, als er den Kanal hinauflief. Sie schloss die Augen und bemühte sich, das Kind mit ihrem eigenen Körper abzuschirmen.

In diesem Augenblick brach der gesamte Stock auseinander und sandte einen schwarzen Schauer von Bienen aus, der so dicht wie die Staubmauer eines nahenden Sandsturms war. Die Tiere wirbelten aufgestachelt in alle Richtungen; das tiefe Brummen wurde zu einem wütenden Schrei, der rasch an Lautstärke, Tonhöhe und Wut zunahm.

In diesem Moment blieb der Dhrakier plötzlich stehen. Er beugte sich über den Kanalrand und bedeutete Achmed, dieser solle sich näher an die Wand begeben. Der Bolg-König gehorchte. Er hielt das Licht hoch, damit Grunthor etwas sehen konnte, und suchte Schutz in dem Schleusenkanal, als eine Welle wütender Insekten auf sie zuschoss.

Rhapsody hörte das stärker werdende Summen, ergriff den Saum des Nebelmantels, bedeckte damit die Seite von Grunthors Gesicht, das dem Kanal zugewandt war, und hielt das Gewebe wie ein Zelt über sie. Der Riese brachte den letzten Teil des Kanals hinter sich, huschte in die Schleuse und setzte Rhapsody sanft ab.

»Schützte dich«, sagte er drängend. »Wirf das Ding über dich selbst.«

Achmed beobachtete den Aufruhr des Schwarms. Schwarze Trauben von Insekten wirbelten wütend umher, ihre Verärgerung gipfelte in einem anschwellenden Schrei. Er drehte sich um und sah, dass der Dhrakier noch am Eingang des Kanals stand. Er hatte die Augen geschlossen, seine lange, knochige Hand gehoben und die Innenfläche der Höhle zugedreht. Er sang etwas und wiederholte immer wieder ein bestimmtes Lied. Die Worte ergaben keinen Sinn für Achmed; in seinen Ohren klangen sie wie eine andauernd gleiche Abfolge von Summen und Zischen. Doch in seinem tiefsten Inneren wusste er, was der Mann sang.

Feind. Feind. Feind.

Er wusste auch, dass der Dhrakier auf diese Weise die Bienen auf die Drachin lenkte. Er kannte die Art und Weise, wie ein Ameisenhaufen oder ein Bienenschwarm untereinander in Verbindung trat.

Einen Augenblick später erwies sich seine Vermutung als richtig. Der Insektenzyklon legte seine ziellose Wut ab und flog wie mit einem gemeinsamen Vorsatz auf die Bestie zu, bedeckte sie vom Maul bis zum Stachel an ihrem Schwanz und überzog auch ihre Flügel, bis diese ganz schwarz waren.

Die entsetzte Drachin geriet ins Taumeln und wand sich, als die Stacheln wieder ihre Augen trafen. Geblendet stieß sie ein Röhren der Wut aus, dann bahnte sie sich einen Weg zu dem tröpfelnden Rinnsal, wobei sie heftig gegen den Schwarm ankämpfte.

Der Dhrakier öffnete die Augen und wandte sich an Achmed.

»Lauft«, sagte er mit seiner tiefen, sandigen Stimme. »Sie wird nur einen Moment lang abgelenkt sein.«

Der Bolg-König drehte sich um und floh durch die Öffnung und die Schleuse hinauf, wo Grunthor mit heftigen Bewegungen dort einen Tunnel grub, wo der Sandsturm die Spalte zugeweht hatte. Einen Augenblick später befand sich der Dhrakier hinter ihm. Seine Schritte waren im widerhallenden Kreischen der Drachin unhörbar gewesen, das nun noch lauter wurde und näher kam.

»Bedeck dich und das Kind, Rhapsody. Ich werd dich gleich durchschieben«, sagte Grunthor und schnappte vor Erschöpfung nach Luft. Rhapsody betrachtete ihr Kind, das seit dem Schrei wieder ruhig war, zog sich das Ende des Nebelmantels, das noch auf Grunthor lag, über den Kopf und nickte. Sie war bereit. Der riesige Bolg packte sie und drückte sie durch die letzte Sandschicht. Sie taumelte hinaus in die Dämmerung und den Wüstenwind; ein dünner zunehmender Mond hing drohend am Himmel über ihnen.

»Zu den Pferden!«, rief der Sergeant und tauchte einen Augenblick später hinter ihr auf. Rhapsody gehorchte. Sie schob den Mantel zurück, hielt den Kopf gesenkt und rannte so schnell wie möglich auf die Ruinen zu. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, während sie versuchte, unter allen Umständen ihr Kind festzuhalten.

Der Bolg-König und der Dhrakier kamen gerade aus der Spalte hervor, als der Kanal explodierte.

Eine Woge aus wütenden, wie wahnsinnig herumwirbelnden Bienen umkreiste den Kopf der Drachin, während sie in den Tunnel sprang und dabei dessen Wände zerstörte. Die Drachin spie immer wieder Feuer, das jedoch meist kaum mehr als Rauch war, denn die Feuersteine in ihrem Magen waren durch den Honig und das süße Wasser eingelullt. Mit ausgestreckten Krallen hastete sie auf den Dhrakier zu, während dieser aus der Schleuse stieg, und heulte ihm Drohungen in der Drachensprache hinterher, die nicht einmal sie selbst verstand.

Grunthor hatte Rhapsody beinahe eingeholt, als Achmed und der Dhrakier aus der Spalte hervorkamen und ihnen über die rissigen Lehmdünen in das verdämmernde Tageslicht folgten. Der Wüstenwind erschuf kleine Sandwirbel überall um sie herum, die den Horizont verdeckten.

»Ihr werdet niemals auf den Pferden fliehen können, selbst wenn ihr sie erreicht«, meinte der Dhrakier, während sie liefen. »Sie wird uns alle versengen, vor allem da sie fliegen kann. Wir können ihr nicht entkommen.«

Achmed blieb schwer atmend stehen und nickte. Er holte die Cwellan hervor und lud sie mit drei hauchdünnen Stahlscheiben.

Der Dhrakier hielt ebenfalls inne, wandte sich aber dem Sandsturm zu und begann wieder mit seinem Gesang. Er würgte, als der Sand ihm in Mund und Nase fuhr. Sein Mantel umflatterte ihn, doch da, wo er stand, erstarb der Wind allmählich. Er war nun still wie eine Säule aus Luft, ein Auge im wirbelnden Hurrikan.

Plötzlich wurde die Erde in einem entsetzlichen Ausbruch von Steinen und Sand auseinander gerissen, als die Bestie aus der Spalte auftauchte; ihr massiger Körper zerschmetterte den Boden um die Schleuse. Sie hustete roten Schleim und stieß zusammen mit ihrem widerlichen Feuer tote Bienen aus. Ihr großer Schwanz peitschte über den Sand und schlug blind nach allem, was in ihrer Reichweite war.

Dann entfaltete sie ihre Flügel. Der verkrüppelte heilte allmählich, aber er war schwarz vor Bienen. Dennoch versuchte sie sich in die Luft zu erheben.


Rhapsody hielt auf dem Kamm der Düne an, welche die Ruinen überblickte.

»Wo sind die Pferde?«, rief sie erschöpft Grunthor zu.

Der Sergeant-Major beschirmte die Augen mit den Händen.

»Kann sie nicht sehen«, rief er durch das Kreischen des Windes. »Sind entweder im Sand begraben oder weggelaufen. Hab sie nicht angebunden – für den Fall, dass wir nicht zurückkommen. Duck dich.«

Rhapsody hockte sich hin und hielt das strampelnde Bündel in ihren Armen, als ein gewaltiger Schatten über ihrem Kopf dahinglitt und auf einem zerfallenen Turm einige hundert Fuß entfernt landete. Von der Spitze aus sah sich die Bestie um, suchte den Horizont ab, und ihre böswilligen Absichten waren sogar aus der Ferne deutlich zu erkennen.

»Zurück in deinen Mantel!«, rief Achmed. »Sie sucht dich!« Er zielte mit der Cwellan auf das Biest, doch der peitschende Wüstenwind und die Dunkelheit hüllten es ein und machten einen Schuss schwierig.

»Ich … kann … nicht«, keuchte Rhapsody, während sie darum kämpfte, mit ihrem Kind auf dem Arm im Sturm das Gleichgewicht zu behalten. »Es könnte … Meridion … enthüllen …«

Kommt. Jeder der drei hörte das Wort in seinen Ohren. Es war ein kreischendes Kommando hinter ihnen.

Sie drehten sich um und sahen den Dhrakier, der noch immer die Hände hochhielt. Vor ihm war die Luft windstill; es war eine Flaute inmitten der wirbelnden Strömungen – wie eine Tür in der Luft.

Beeilt euch. Die Bestie kommt.

Grunthor und Rhapsody rannten gleichzeitig auf die Tür im Wind zu. Achmed behielt weiterhin die Bestie in der Ferne im Blick, während der Dhrakier die Tür offen hielt.

Komm, Mörderkönig. Du bist am nächsten.

In diesem Augenblick bemerkte die Drachin die Bewegungen auf der windabgewandten Seite der Ruinen. Sie stieß einen dünnen Feuerstrahl aus, der von den Zinnen herunter in den Boden fuhr und dort die spärliche Vegetation in Brand setzte. Entsetztes Kreischen zerriss die Nacht, als die Pferde Feuer fingen. Ihre Schmerzensschreie hallten durch die Wüste.

Ein schrecklicher Gestank durchwob die Luft; ein Geruch nach Schwefel und brennendem Fleisch. Die Drachin bäumte sich auf und brüllte vor Enttäuschung, dann bemerkte sie eine weitere Bewegung. Noch immer behindert durch ihren zerrissenen Flügel, sprang sie auf und glitt zu einer niedrigeren Ruine hinunter, zu einer geborstenen Kuppel mit Bogenfenstern, und richtete den Blick auf die vier menschlichen Gestalten, die im letzten Licht der untergehenden Sonne in den Wind hineinrannten.

»Mach eine Finte nach rechts, Grunthor!«, rief Achmed, dann feuerte er die Cwellan ab. Die Bestie prallte zurück und sog die Luft ein. Ein tiefes, schreckliches Rasseln in ihrer Brust hallte über die Wüstenebene.

Der Schuss hatte sie am Flügel erwischt, gerade als der Dhrakier den Bolg-König packte und durch die Tür im Wind zerrte. Die Drachin war aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte auf die Kuppel zu und stieß den Atem aus. Diesmal versengte eine größere Welle aus Hitze und Licht den Boden. Der Perlmuttüberzug der Ruinen schimmerte wie im Glanz von Millionen Kerzen auf.

Der riesige Bolg griff nach Rhapsody, wurde aber selbst plötzlich in den wirbelnden Abgrund des Windes gezerrt, gefolgt von dem Dhrakier. Die cymrische Herrscherin bildete die Nachhut und erreichte die Tür gerade noch rechtzeitig, um nicht von den Flammen des Drachenatems eingehüllt zu werden. Ihr goldenes Haar wirkte wie eine brennende Fackel, als das Feuer auf sie zuschoss, ihr aber nichts mehr anhaben konnte. Sie sprang nach drinnen.

Die Windtür schloss sich und ließ die Drachin allein in der Dunkelheit der Ruinen.


Das Einzige, was die drei Gefährten sehen konnten, bevor sich die Tür im Wind wieder öffnete, war der Ausblick von hoher Warte über die Wüstenebene, die in einen starken, von Sand durchsetzten Luftstrom gehüllt war, der nach Südost fegte und den Wüstensand vor sich hertrieb. Dann verdunkelte sich der Anblick im Röhren des Wüstenwindes und dem Wirbeln einer ungeheuren Kraft, die sie entlang der anschwellenden und absteigenden Schallwellen trug, bis schließlich vollkommene Sülle einsetzte.

Als die Brise, die sie fortgetragen hatte, erstarb, standen die vier an der Basis einer hügelartigen Düne, die jenen glich, über die sie auf dem Weg zu den Ruinen geritten waren. Die Berge in der Ferne waren noch da, aber sie waren näher gerückt. Die drei Gefährten und der Dhrakier hatten beinahe schon die Steppe vor den Oberen Zahnfelsen erreicht.

Achmed drehte sich um und sah, wie Grunthor den Kopf schüttelte, als ob er das Kreischen des Windes oder den Sand aus seinen Ohren vertreiben wollte; dann schaute er hinüber zu Rhapsody.

Ihr Gesicht war so bleich wie der aufgehende Mond, und in ihren Armen hielt sie die Asche des Nebelmantels.

Und sonst nichts.

34

»Also, das war ja ’n netter Trick«, sagte Grunthor zu dem Dhrakier, während er sich immer noch den Sand aus den Ohren pulte. »Bin selbst schon mal auf dem Wind gereist, aber nur als …« Er verstummte, als er Achmeds Miene sah, dann drehte er sich um und blickte Rhapsody an, die auf die Asche in ihren Armen herunterstarrte.

Einen Moment lang konnte er nichts mehr sagen. Der Blick in Rhapsodys Gesicht war wie der Blick auf das Ende der Welt. Als ihm schließlich wieder Worte über die aufgeworfenen Lippen drangen, waren sie sehr sanft.

»Was ist denn das, Prinzessin? Wo ist der kleine Prinz?«

Achmed warf ihm einen giftigen Blick zu.

Die cymrische Herrscherin stand stocksteif da und hielt den Atem an. Als der Schock abklang, sah sie sich rasch um. Ihre Arme zuckten, und die Überreste des Mantels glitten sanft zu Boden wie schwarzer Schnee. Ihre Augen nahmen einen wahnsinnigen Glanz an; das Funkeln der Panik in ihnen war beinahe unerträglich.

»Wir … wir müssen zurückgehen«, stammelte sie, drehte sich um und suchte den Boden ab. »Ich muss … ich muss ihn fallen gelassen haben. Bitte … ö … öffne die Tür wieder … bitte … wir müssen zurück …«

»Rhapsody.« Achmeds Stimme war ganz ruhig. »Komm her.«

Aber die cymrische Herrin hörte ihn nicht. Das Herz schlug ihr bis zu den Ohren und drohte zu zerspringen. Die Zeit schien für sie zum Stillstand gekommen zu sein. Benommen hockte sie sich auf den Boden und stöberte mit den Händen nach etwas Festem in der Asche, doch da war nichts, nur verbrannte Gewebefetzen und Ruß.

Schließlich sah sie auf.

»Achmed«, sagte sie leise, »wo ist mein Kind?«

Der Bolg-König streckte ihr die Hand entgegen.

»Steh auf«, sagte er sanft.

Rhapsody schüttelte den Kopf und tastete in der Dunkelheit erneut auf dem Boden herum.

»Nein, nein, er muss hier irgendwo sein … er … Achmed, hilf mir, mein Kind zu finden.«

»Rhapsody …«

»Verdammt, hilf mir … er ist bestimmt hier irgendwo … ich habe ihn doch ganz fest gehalten, Achmed. Bitte hilf mir, ihn zu finden …«

Der Bolg-König hockte sich vor sie, während sich die anderen beiden Männer ansahen. Achmed beobachtete sie schweigend, wie sie auf dem Boden kniete und hilflos mit den Händen in allen Richtungen über die Erde fuhr, bis sie sich schließlich wieder ihm zuwandte. Dann brach sie vor den Augen der Männer zusammen. Achmed fing sie auf, als sie in seine Arme fiel.

»Nein«, flüsterte sie. »Bitte, nein.«

Achmed sagte nichts, sondern fuhr unbeholfen mit seiner knochigen Hand über ihr glänzendes Haar. Er hielt sie fest, als sie zu zittern begann, dann wurde sie plötzlich wieder still und schaute auf in sein Gesicht.

Ihre Wangen waren tränennass und ihre Augen geweitet vor Entsetzen.

Dann schaute sie hinunter auf ihren Bauch.

Der sich zwischen ihnen wölbte.

Rhapsody fuhr sich mit der Hand über den Bauch, der nun gedehnt und geschwollen war. Ihr Blick verschwamm.

»Das ist unmöglich«, murmelte sie.

Achmed zog die Brauen zusammen. Er stand auf und zog sie mit sich hoch.

»Wo ist das Licht?«

Grunthor lief zu ihnen und übergab Achmed die Lichtkugel. »Hast sie vor der Schleuse fallen lassen.«

Achmed hielt die Lichtquelle über Rhapsody. Die Wölbung ihres Leibes war nicht zu übersehen. Zu seinem tiefsten Entsetzen glaubte er einen Augenblick später, dort eine Bewegung zu bemerken.

Verblüffung und Erleichterung flogen über Rhapsodys Gesicht. »Er tritt aus. Ich spüre, wie er austritt.«

»Mir wird übel«, sagte Achmed.

»Na, seht euch das mal an«, meinte Grunthor, der höchst erfreut klang. »Der kleine Bengel hat ’nen sicheren Platz gefunden. Wie hat er das bloß hingekriegt?«

»›Geboren frei von den Fesseln der Zeit« , sagte Rhapsody. »Vielleicht bedeutet das, dass er in jede Zeit gehen kann, die er kennt – und das ist die einzige andere Zeit, die er bisher kennen gelernt hat.«

Achmed seufzte; im scharfen Ausstoßen des Atems war deutlich seine Verärgerung zu spüren.

»Das war ja wohl zu erwarten. Die Geschichte ist voller junger Männer, die nicht widerstehen konnten, so lange wie möglich in Rhapsody zu stecken.«

»Nun, das war nicht nett von dir«, tadelte Grunthor ihn. »Du sprichst schließlich von einer Mutter. Wie lautet jetzt der Plan?« Er sah sich in der Dunkelheit nach dem Dhrakier um, doch der Mann war nirgendwo zu sehen. »Und wo ist dein Freund?«

Er steht hinter dir und hält die Tür auf.

Warum bist du noch hier?, wollte Achmed in der stummen Sprache seiner Art von der Dunkelheit wissen. Es tut mir leid, dich zu enttäuschen, doch ich kann und werde mich nicht an deiner endlosen Suche nach den F’dor beteiligen. Aber wenn ich einem begegne, kannst da sicher sein, dass ich das Ritual kenne und freudig alles tun werde, um ihn zu vernichten. Bist du jetzt zufrieden?

Nein. Es gibt vieles, was du noch nicht weißt.

Ich nehme an, das wird immer so sein, antwortete Achmed. Aber nun muss ich erst einmal in mein Königreich zurückkehren und Vorbereitungen treffen. Wir dürfen hier keine Zeit mehr verschwenden. Wir haben die Pferde verloren und befinden uns zehn Tagesmärsche vom nächsten Außenposten in den nördlichen Zahnfelsen entfernt. Du solltest dich also auf den Weg machen. Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Suche. Es tut mir leid, dass ich dich nach so langer Zeit enttäuschen muss.

Ich werde dich begleiten, sagte die unhörbare Stimme. Ich werde dir die Türen im Wind öffnen, auf dass deine Reise schnell vorüber sein wird. Und ich werde dir von dem Gefängnis und der tiefen Kammer der Unterwelt erzählen. Und von deiner Mutter.

Achmed dachte einen Moment lang nach. Ich will dir nicht verpflichtet sein, antwortete der Bolg-König schließlich. Ich bewache das Schlafende Kind, und ich werde mich weder bedrohen noch beschwatzen lassen, es nicht mehr zu beschützen, auch nicht für eine so würdige Angelegenheit wie die Uranfängliche Jagd. Wir können gern gemeinsam reisen, und ich werde mir anhören, was du zu sagen hast. Aber danach wirst du wieder der Mörder sein und ich der König. Wenn du einverstanden bist, ist das nun unsere Abmachung.

Der Wind umtoste ihn und trieb ihm Sand in die Augen. Die Sterne blinkten hell über ihm, während er auf eine Antwort wartete. Schließlich kam sie.

Einverstanden. Der Dhrakier öffnete eine weitere Tür im Wind, hinter der wirbelnde Luftströmungen zu sehen waren. Ich bin Roth, und so kannst du mich nennen.

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