Denn jede Zeit ist ein Traum, den der Tod befreit,
Oder einer, der Neues gebiert.
Blutretter, Blutgeber
Liseleut
Die Mitglieder von Lord Gwydions Rat hatten sich erneut in Hagueforts reich bestückter Bibliothek getroffen und in Grüppchen zu zweit oder dritt zusammengefunden. Sitzend studierten sie Schriftstücke oder redeten leise miteinander. Wie ein Mann standen sie auf und verfielen in wohlmeinendes Schweigen, als der Herrscher und die Herrscherin eintraten.
Der Erste, der die heimgekehrte Herrin begrüßte, war Tristan Steward, der Prinz von Bethania, Rolands mächtigster Provinz. Er hatte sich allein, fern von den anderen Ratgebern, in der Nähe der Tür herumgetrieben und war Rhapsody rasch in den Weg getreten, wobei er sich höflich über dem Ring an ihrer linken Hand verneigte.
»Willkommen zu Hause, meine Herrin«, sagte er mit einer Stimme, die vom feinen Branntwein aus den Kellern Hagueforts geölt war. Das Licht aus den Laternen in der Bibliothek fleckte sein kastanienbraunes Haar und verhalf ihm zu einem rot-goldenen Glanz ähnlich dem von Ashe, obgleich es nicht dasselbe seltsame metallische Leuchten hatte, das ein Erbe des Drachenblutes war. Rhapsody küsste den Prinz auf die Wange, als er sich wieder aufgerichtet hatte. »Hallo, Tristan«, sagte sie freundlich und wand die Hand aus seinem Griff. »Ich hoffe, Madeleine und dem jungen Malcolm geht es gut?«
Tristan Stewards Augen, die ihr Grün-Blau der königlichen Linie verdankten, blinzelten, als sie Rhapsody ansahen.
»Ja, recht gut, vielen Dank, Herrin«, sagte er feierlich nach einer kurzen Pause. »Madeleine wird sich geehrt fühlen, wenn sie erfährt, dass Ihr Euch nach ihr erkundigt habt.«
»Der junge Herr Malcolm wird bald seine ersten Schritte tun«, sagte Rhapsody, als sie den Weg in die Bibliothek fortsetzte, wobei ihre Hand auf Ashes Oberarm ruhte.
»Es kann jeden Tag so weit sein. Wie freundlich von Eurer Hoheit, sich daran zu erinnern.«
»Ich erinnere mich an jedes Kind, bei dessen Namensgebung ich gesungen habe. Guten Abend, Martin«, begrüßte Rhapsody Ivenstrand, den Herzog von Avonderre, der sie anlächelte und sich knapp vor ihr verbeugte. Dann nickte sie allen anderen Ratgebern zu und setzte sich rasch auf einen leeren Stuhl am langen Tisch aus poliertem Holz, an dem Ashe und seine Berater zusammengefunden hatten. Die Herzöge von Roland und die Botschafter von Manosse und Gaematria, der Insel der See-Weisen – allesamt Mitglieder des cymrischen Bündnisses – folgten dem Herrn der Cymrer und nahmen ebenfalls wieder ihre Plätze ein.
»Wie ich sehe, hast du diese guten Ratgeber in meiner Abwesenheit viel zu lange und bis in die Nacht hinein beansprucht«, sagte Rhapsody zu ihrem Gemahl, während sie behutsam einen halb aufgegessenen Putenschenkel zur Seite schob, der auf einem Tablett inmitten zerknüllter Pergamente und leerer Freundschaftsbecher auf dem Tisch vor ihr lag. Dann betrachtete sie den Unrat, der in Haufen auf dem Rest des Tisches und an etlichen anderen Stellen der Bibliothek lag. Ashe rollte mit den Augen und seufzte theatralisch. »Die Revision der orlandischen Zollgebührenstruktur«, sagte er mit gespielter Verzweiflung.
»Aha. Nun, das erklärt alles.« Sie wandte sich an den jungen Gwydion Navarne, der zu ihrer Linken saß. »Wo wart ihr in euren Beratungen, als ich euch unterbrochen habe, Gwydion?«
»Wir waren an einem toten Punkt bei der Frage angekommen, ob Nahrungsmittel vom Zoll ausgenommen sind, wie es die Provinz Yarim beantragt hat, weil während der letzten zwei Wachstumsperioden dort Dürre geherrscht hat«, sagte der junge Mann.
»In der Tat«, stimmte Ashe ihm zu. »Canderre, Avonderre und Bethania sind gegen einen Verzicht auf solche Zölle, während Bethe Corbair ihm zustimmt.«
»Bethe Corbair hat eine gemeinsame Grenze mit Yarim und infolgedessen nicht die Transportkosten, die Avonderre hat«, wandte Martin Ivenstrand ein, dessen Küstenprovinz am weitesten von Yarim entfernt lag.
»Ich erinnere mich nicht, dass Yarim bereit gewesen wäre, in der Vergangenheit die Zölle auf Opale und Salz herabzusetzen, als Beschränkungen im Seehandel unsere Staatseinkünfte bedrohten«, sagte der alte Cedric Canderre, der Herzog jener Provinz, die seinen Namen trug und bekannt für die Herstellung von Luxusgütern, feinen Weinen und Delikatessen war. »Ich begreife nicht, warum diese Dürre etwas anderes sein soll als die Hindernisse, denen Canderre und die anderen Provinzen von Roland gegenüberstanden.«
»Weil diese Dürre meine Provinz zum Armenhaus macht, du Narr«, brummte Ihrman Karsrick, der Herzog von Yarim. »Diese so genannten Hindernisse haben euren fetten Staatsschätzen nicht einmal eine Kerbe zugefügt, und das wisst ihr. Yarim hingegen sieht sich einem Massenweisen Hungertod gegenüber.«
Rhapsody lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sah Tristan Steward an. »Und wie ist Bethanias Position, Tristan?«
»Wir haben gewiss Verständnis für Yarims Notlage«, sagte der Prinz sanft. »Daher sind wir mehr als geneigt, ihnen großzügige Zahlungsfristen hinsichtlich der Zölle einzuräumen.«
Belustigung flackerte in Rhapsodys grünen Augen auf, doch ihr Gesicht und ihre Stimme blieben teilnahmslos. »Wie freundlich von Euch.«
Tristan Stewards milder Blick verhärtete sich ein wenig. »Mehr als das, Rhapsody. Bethania ist es zu verdanken, dass dieser Punkt überhaupt innerhalb des cymrischen Bündnisses zur Sprache gebracht wurde«, sagte er. Eine gewisse Heftigkeit stahl sich in seine ansonsten warme Stimme. »Bisher hatte jede Provinz Rolands das Recht, ihre eigenen Zölle festzusetzen, wie es ihr geraten erschien, ohne Einmischung einer, äh, höheren Autorität.« Sein Blick begegnete dem von Ashe. »Auf dem Konzil, das Euch zum Herrn und zur Herrin der Cymrer bestimmte, wurde uns versichert, die Souveränität unserer Gebiete werde innerhalb des Bündnisses respektiert.«
»Ja, diese Versicherung wurde ausgesprochen, und daran hat sich nichts geändert«, sagte Rhapsody rasch und bemerkte den düster werdenden Gesichtsausdruck ihres Gemahls. Sie wandte sich wieder an den jungen Mann, der bald seinen Platz an diesem Tisch als Herzog von Navarne einnehmen würde.
»Was ist deine Meinung dazu, Gwydion?«
Gwydion Navarne rutschte auf seinem Stuhl hin und her und lehnte sich dann vor.
»Es ist wichtig, die örtlichen Zollrechte anzuerkennen, doch ich glaube, es gibt manchmal noch wichtigere Dinge«, sagte er schlicht. Seine junge Stimme klang heiser. »Nahrungsmittelknappheit ist eines davon. Warum sollten diejenigen von uns, die mit fruchtbarerem Land und reichlich Nahrungsgütern gesegnet sind, übermäßig vom Leid einer orlandischen Schwesterprovinz profitieren, anstatt ihr in Zeiten der Not beizustehen?«
Der Herr der Cymrer lächelte schwach. »Dein Vater hätte dieselbe Lösung angeboten«, sagte er zu Gwydion Navarne, während er noch immer dem Blick Tristan Stewards standhielt. »Du bist ein genauso mitleidsvoller Mann wie er.«
»Nun, es tut mir Leid, wenn ich mich an einer heiklen Stelle der Beratung einmische, doch vielleicht kann ich eine andere Lösung für das Zolldilemma anbieten«, sagte Rhapsody und drückte Ashes Hand.
»Teilt es uns bitte unter allen Umständen mit, Herrin«, bat Quentin Baldasarre, der Herzog von Bethe Corbair.
»Yarim braucht Wasser.« Rhapsody legte die Hände zusammen.
Die Ratgeber sahen einander verständnislos an, warfen dann Blicke über den Tisch und räusperten sich. Ihrman Karsrick runzelte die Stirn; er vermochte seine Verärgerung kaum zurückzuhalten.
»Hat Eure Hoheit eine Möglichkeit gefunden, die Wolken um Regen anzuflehen, wo Ihr doch eine Himmelssängerin seid? Oder macht Ihr Euch nur auf meine Kosten lustig, indem Ihr das Offensichtliche in Worte fasst?«
»Ich würde mich niemals in einer so wichtigen Angelegenheit über Euch lustig machen, das wäre grausam«, sagte Rhapsody rasch und hielt Ashe zurück, der hatte aufstehen wollen. »Doch Yarim hat in seiner Mitte eine große Wasserquelle, von der Ihr augenblicklich keinen Gebrauch macht, die Euch aber sicherlich vor einigen Auswirkungen der Dürre schützen würde.«
Karsricks Gesichtsausdruck wechselte von Verärgerung zu Verwirrung. »Eure Hoheit weiß, dass der Erim Rus ausgetrocknet ist, und als er im Frühling noch floss, war er mit Blutfieber vergiftet.«
»Das weiß ich.«
»Wisst Ihr auch, dass die Shanouin-Quellengräber immer seltener Oberflächenadern mit Wasser finden?«
»Ja«, sagte Rhapsody erneut. »Ich meinte die Entudenin.«
Schweigen legte sich über die dunkle Bibliothek. Das Lampenlicht wurde schwächer, als die Ölvorräte allmählich schwanden. Das Feuer im Kamin jedoch brannte stetig und heftig und warf Licht und Schatten auf die Gesichter der verblüfften Ratgeber.
Die Entudenin war vor langer Zeit ein Geysir gewesen, ein Wunder aus leuchtendem Wasser, das aus einem vielfarbigen Obelisken aus mineralischen Ablagerungen herausquoll und aus dem roten Lehm Yarims in Zyklen herausschoss, die ungefähr mit den Mondphasen übereinstimmten. Zwanzig Tage lang begoss sie die trockene Erde mit süßem Wasser, unter dem die Gegend wie eine Blume in der Wüste aufblühte. Damals hatte die Entudenin die Provinz mit flüssigem Leben beschenkt und es ermöglicht, dass die Hauptstadt Yarim Paar gebaut wurde, ein Juwel in der Ödnis am nördlichen Vorgebirge der Zahnfelsen. Außerdem hatte sie die Minenlager und Gehöfte weiter draußen gespeist. Doch vor langer Zeit war sie plötzlich versiegt. Eines Tages war die wunderbare Lebensarterie ohne Grund und Vorwarnung zu einer vertrockneten Hülle geworden, die kein Wasser mehr von sich gab. Jahrhunderte waren seitdem vergangen; der Obelisk verwitterte in der Hitze und war zu einer einfarbigen Felsformation zusammengesunken, welche die vielen Passanten auf dem Platz von Yarim Paar nicht einmal mehr wahrnahmen.
»Die Entudenin ist schon seit Jahrhunderten tot«, sagte Ihrman Karsrick so freundlich wie möglich.
»Vielleicht. Vielleicht schläft sie auch nur.« Rhapsody lehnte sich vor. Die Feuerschatten glitzerten in ihren Augen, die vor Anteilnahme leuchteten.
»Kennt Eure Hoheit ein Lied, mit dem man die Entudenin aus ihrem dreihundertjährigen Schlaf aufwecken kann?« Karsrick kämpfte wacker darum, nicht die Geduld zu verlieren.
»Vielleicht. Es ist das Lied des Bohrens.« Rhapsody faltete die Hände. »Ich bin nicht die Sängerin, die dieses Lied singen kann, aber im cymrischen Bündnis gibt es solche Sänger.«
»Führe das bitte weiter aus«, meinte Ashe, als er die Verblüffung auf den Gesichtern der Ratgeber bemerkte.
Rhapsody setzte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Die Entudenin war die Verkörperung eines Wunders. Das frische Wasser mitten aus dem trockenen Lehm von Yarim galt als Geschenk des All-Gottes und der Götter, welche die einheimische Bevölkerung verehrte, bevor die Cymrer kamen. Daher nahm man an, dass es eine Art von göttlicher Strafe war, als die Entudenin plötzlich schwieg. Was ist, wenn das nicht stimmt?«
Das Schweigen auf ihre Worte wurde nur vom Knistern des Kaminfeuers durchbrochen.
»Bitte fahrt fort«, sagte Tristan Steward.
»Es ist möglich, dass das Wasser der Entudenin aus dem Meer kam«, meinte Rhapsody. »Das würde den Mondzyklus erklären. Die Phasen des Mondes haben ähnliche Auswirkungen auf die Gezeiten des Ozeans. Ich war vor kurzem bei den Lavaklippen an der Südküste der See-Lirin, die ähnlich denen an der Küste bei Avonderre sind. In diesen Klippen gibt es tausende von Spalten und Höhlen, von denen einige nicht tief sind, andere aber sich meilenweit erstrecken.
Da habe ich mich nach der Quelle für das Wasser der Entudenin gefragt. Es ist denkbar, dass eine schmale Bucht dort oder weiter nördlich Wasser durch ein unterirdisches Flussbett bis nach Yarim leitet. Die Gesteinsformationen, aus denen sich die Erde zusammensetzt, sind ungeheuer komplex.«
Rhapsody holte tief Luft, denn vor langer Zeit war sie durch solche Formationen gereist. »Es ist möglich, dass das richtige Zusammenspiel von unterirdischen Erhebungen und Tälern, Flussbetten, Buchten und filterndem Sand zu diesem Süßwassergeysir führte, der tausend Meilen vom Meer entfernt liegt und trotzdem den Gezeiten sowie dem Mondzyklus unterworfen war. Falls sich all das so verhält, dann ist es auch möglich, dass dieser Weg des Wassers irgendwie versperrt wurde. Wenn man ihn wieder öffnen kann, wird das Wasser vermutlich zurückkehren.«
»Wie sollten wir das je wissen?«, fragte Quentin Baldasarre ungläubig. »Falls, wie Ihr zu bedenken gebt, wirklich irgendwo in diesem tausend Meilen langen unterirdischen Tunnel eine Sperre ist, wie sollen wir sie je entdecken?«
Rhapsody lehnte sich vor. »Mann muss diejenigen fragen, die die unterirdische Welt kennen, die täglich durch solche Korridore laufen und die Werkzeuge haben, um sie aus dem Fels zu hauen.«
Verständnis machte sich auf den Gesichtern der Ratgeber breit. Die Herzöge von Roland hingegen sahen finster drein.
»Bitte sagt mir, dass Ihr damit die Nain meint«, bettelte Martin Ivenstrand.
»Ich meine damit natürlich die Bolg«, erwiderte Rhapsody gereizt. »Und ich schätze weder Euren Ton noch Eure Andeutungen. Die Nain wünschen nur so viel Kontakt mit dem cymrischen Bündnis, wie er zur Aufrechterhaltung guter nachbarschaftlicher Beziehungen unbedingt notwendig ist. Die Bolg hingegen sind Vollmitglieder, was den Handel und die Unterstützung des Bündnisses angeht.« Sie wandte sich an Ihrman Karsrick, dessen Gesicht eine ungesunde purpurrote Färbung angenommen hatte. »Es scheint Euch plötzlich nicht mehr gut zu gehen, Ihrman. Ich hatte geglaubt, diese Möglichkeit brächte Euch große Freude und Hoffnung und nicht eine Magenverstimmung.« Sie warf einen kurzen Blick auf den Putenschenkel. »Obwohl es mich nicht überraschen würde, wenn Ihr auch daran leiden solltet.«
Der Herzog von Yarim hüstelte trocken. »Sicherlich halten Eure Hoheit mich nicht für so blöde, dass ich mich mit den Bolg abgebe.«
Die Herrscherin der Cymrer kniff die Augen zusammen.
»Warum nicht, Ihrman? Es gibt schon seit vier Jahren ein Handelsabkommen zwischen Roland und Ylorc. Ihr verkauft ihnen Salz, Ihr kauft ihre Waffen, und sie sind Mitglieder des cymrischen Bündnisses. Warum solltet Ihr sie nicht um ein Gutachten zur Lösung Eures größten Problems bitten?«
»Weil ich keine Lust habe, dem Firbolg-König dankbar sein zu müssen – das ist der Grund«, zischte Karsrick. »Wir teilen eine gemeinsame Grenze. Ich will ihm nicht den Eindruck vermitteln, dass er diese Grenze überschreiten und seine Belohnung von Yarim einfordern kann, wann immer es ihm gefällt.«
»Ich will keinesfalls, dass Ihr Euch in eine solche Lage bringt«, erwiderte Rhapsody. »Wenn er so etwas tun sollte, kann das nicht hingenommen werden. Ich schlage vor, dass Ihr Euch seine Kunsthandwerker vertraglich verpflichtet, wie Ihr es mit denen aus Roland, Sorbold und sogar aus dem fernen Manosse haltet. Habt Ihr etwas dagegen, die Talente der Firbolg-Handwerker zu nutzen?«
»Ich will nicht Horden von Bolg... von Handwerkern nach Yarim einladen. Nein, Eure Hoheit, das mache ich nicht«, gab Karsrick zurück. »Die möglichen Auswirkungen sind eine entsetzliche Vorstellung für mich.«
»Das ist sicherlich keine unvernünftige Haltung«, warf Tristan Steward ein. »König Achmed ist auch nicht glücklich über die orlandischen Handwerker, die in sein Reich kommen. Die Hand voll, die zur Wiedererrichtung von Canrif eingeladen wurden, sind einer unglaublich genauen Prüfung unterzogen worden, und von ihnen hat man nur einen oder zwei wirklich eingestellt. Warum sollten wir Einladungen an die Bolg aussprechen, wenn er unsere Leute auch nicht willkommen geheißen hat?«
»Vielleicht liegt der Grund für König Achmeds Mangel an Gastfreundschaft darin, dass Euer Volk bei seinem letzten Besuch Fackeln und Keulen mitbrachte, Tristan«, bemerkte Ashe. Er hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Hände vor dem Kinn gefaltet und Rhapsodys Erörterungen zugehört.
»Es wird einige Zeit dauern, bis die Bolg das jährliche Ritual des Frühjahrsputzes vergessen haben, das so viele Jahrhunderte auf ihre Kosten durchgeführt wurde.«
»Wenn ich mich recht erinnere, habt Ihr selbst an einem dieser Überfälle teilgenommen, als Ihr noch ein junger Mann in der Heeresausbildung wart, Gwydion«, sagte Tristan Steward dunkel. »Wir sind im selben Regiment geritten.«
»Ihr habt es nicht begriffen«, sagte Rhapsody. »Die Bolg könnten dabei helfen, das Wasser nach Yarim zurückzubringen und es vor der Dürre zu schützen, die das Volk nu bedroht. Wenn es eine Möglichkeit dazu gibt, besteht dann nicht die Verpflichtung, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen?«
»Besteht für mich nicht die Verpflichtung, für die Sicherheit der Leute zu sorgen, Euer Hoheit?«, fragte Karsrick mit einem Anklang von Verzweiflung in der Stimme.
»Ja«, entgegnete Rhapsody, »genau wie für mich. Deshalb biete ich an, die Verantwortung für das Betragen und die Arbeit aller bolgischen Handwerker, Minenarbeiter oder Künstler zu übernehmen, die nach Yarim kommen und die Entudenin untersuchen. Mir ist wohl bewusst, dass sie zumindest in historischer Hinsicht ein heiliges Relikt ist und Ihr sehr darum bemüht seid, es zu erhalten.«
»Ja.«
»Noch einmal: Ich übernehme die Verantwortung für alles, was bei diesem Unternehmen vorfallen sollte.«
Der Herzog von Yarim warf stumm die Hände in die Höhe und setzte sich dann mit einem dumpfen Geräusch auf seinem Stuhl zurück. Die übrigen Ratsmitglieder sahen sich verwundert an. Schließlich seufzte Karsrick ergeben.
»In Ordnung, Euer Hoheit.«
Rhapsody lächelte strahlend, als sie vom Tisch aufstand. »Gut! Vielen Dank. Wir werden König Achmed und seine Männer in vier Wochen am Fuß der Entudenin treffen.« Sie schaute in die ausdruckslosen Gesichter vor und neben ihr. »Nun, gute Ratgeber, wenn Ihr nichts Dringendes mehr an diesem Abend zu beraten habt, werde ich meinen Gemahl nun für mich beanspruchen und Euch verlassen, damit wir alle etwas Ruhe bekommen.«
Ashe war sofort auf den Beinen. »Ja, vielen Dank für Eure Geduld. Ich werde mich darum kümmern, dass Ihr morgen alle lange schlafen könnt. Wir werden uns erst übermorgen wiedersehen. Frühestens.
Gute Nacht, Gwydion.« Er schob den Stuhl unter den Tisch, verneigte sich vor seinen Ratgebern und geleitete Rhapsody rasch aus der Bibliothek. Auf dem Weg quer durch den Raum beugte er sich zu ihr nieder und flüsterte sanft: »Nun, meine Liebe, willkommen zu Hause. Es ist gut zu sehen, dass die Erzeugung von Hader unter den Ratsmitgliedern immer noch ein Merkmal der Familie ist.«
Als sie an dem großen offenen Kamin vorbeigingen, brüllten die Flammen zum Gruß und fielen gleich darauf wieder in ein ruhiges Brennen zurück. Rhapsody blieb stehen und schaute rasch über die Schulter.
Sie blickte in die Feuerschatten, die auf den farbenfrohen Fäden der feinen Webteppiche tanzten, und schließlich auf die Balkontüren an der gegenüberliegenden Seite der Bibliothek. Regentropfen klatschten in Schüben gegen das Glas.
»Hat... hat gerade jemand den Raum betreten?«, fragte sie Ashe leise.
Der Herr der Cymrer hielt ebenfalls inne. Seine Drachenhaften Augen verengten sich ein wenig, als er sich konzentrierte und mit seinen Drachensinnen bis in die hintersten Winkel der gewaltigen Bibliothek drang. Sein Bewusstsein dehnte sich zwischen zwei Herzschlägen aus. Unvermittelt erspürte er jede Faser der Teppiche, jede Kerzenflamme, jede Seite in jedem Buch, den Atem eines jeden Ratsmitgliedes und jeden Regentropfen draußen vor der Festung in allen Einzelheiten. Er bemerkte keine Veränderung. Aber nun war sein Blut abgekühlt.
»Nein«, sagte er schließlich. »Hast du etwas Verwirrendes gespürt?«
Rhapsody seufzte und schüttelte dann den Kopf. »Nichts Greifbares.« Sie hielt die Hand ihres Gemahls. »Vielleicht habe ich es nur sehr eilig, diesen Raum zu verlassen und mit dir allein zu sein.«
Ashe lächelte und küsste ihre Hand.
»Wie immer, Euer Hoheit, beuge ich mich Eurer Weisheit.«
Mit beachtlicher Beherrschtheit wartete er, bis sich die Türen der Bibliothek hinter ihnen geschlossen hatten, bevor er Rhapsody hochhob und sie mit weiten Schritten zu ihren Turmgemächern trug. In der Bibliothek bewegten sich sanft die Damastvorhänge vor der Glastür zu jenem Balkon, welcher auf das cymrische Museum im Hof hinausging. Die Ratgeber, die sofort zu ihren Streitgesprächen zurückgekehrt waren, bemerkten nicht einmal den heulenden Sturm vor den Fenstern der Bibliothek. Einen Herzschlag später hingen die Vorhänge wieder so still herab wie der Tod selbst.
Feuerleger, Feuerlöscher
Frithre
Der nächtliche Regen fiel in schwarzen Schleiern und wurde in Schauern aus dunklen Nadeln durch die Straßen gepeitscht, bevor er auf die schlammigen Pflastersteine fiel, die zur Halle der Tugend führten – jenem sich hoch auftürmenden Steingebäude, welches das Gericht von Argaut beherbergte. Der Seneschall hielt am oberen Ende der Marmortreppe inne und schien fernen Stimmen in dem tosenden Wind zu lauschen.
Über den Straßen der Stadt lag Schweigen, das wohl von dem kalten Wind und dem hartnäckigen Regen herrührte. Sogar die Tavernen am Hafen und die Bordelle hatten ihre Lichter gelöscht und die Fensterläden vor dem Sturm geschlossen, der vom Wasser herkam.
Der Seneschall warf einen Blick über den Hafen bis zum hinteren Ende der Bucht, wo die Leuchttürme selbst in diesem Regen zu sehen waren. Sie dienten als Orientierungspunkt für die Schiffe auf See, gegen die der Sturm anbrandete. Wir könnten heute Nacht durchaus eines verlieren, dachte er, als er die Signale aus dem Turm beobachtete. Das Licht ergoss sich in gebrochenen Strahlen und schimmerte in größerer Helligkeit, als der Flamme mehr Öl zugegeben wurde. Er atmete tief durch. Wenn der Tod in den Seewinden lauerte, war dies kräftigend für die Lunge. Er schloss die Augen und wandte das Gesicht dem schwarzen Himmel über ihm zu. Der eisige Wind umwehte seine Lider, und der Regen stach ihm in die Haut. Dann schlug er die Augen wieder auf, streifte sich das Wasser von Gesicht und Mantel und stieg die letzten Stufen zur Halle der Tugend hoch.
Die großen Eisentüren der Halle waren gegen Nacht und Sturm verriegelt. Der Seneschall hob den kleinen Leinwandsack, den er in der linken Hand gehalten hatte, ergriff den Klopfer und betätigte ihn. Es klang wie eine Totenglocke, deren Echo kurz widerhallte und dann vom Heulen des Windes verschluckt wurde.
Mit einem metallischen Kreischen wurde eine der gewaltigen Türen aufgezogen, und Licht floss durch die entstehende Öffnung. Die Wache trat rasch beiseite. Der Seneschall klopfte dem Mann auf die Schulter, während er aus der Wut des Sturms in die stille Wärme des hallenden Foyers trat.
»Guten Abend, Euer Ehren«, sagte der Wächter, während er die schwere Eisentür hinter dem Seneschall schloss.
»Hat Seine Hoheit nach mir gerufen?«
»Nein, Herr. Alles ist ruhig.«
Es sind jeden Abend dieselben Worte, dachte der Soldat, als ihm der Seneschall seinen regennassen Mantel und den dreispitzigen Richterhut übergab. Seine Hoheit rief nie nach dem Seneschall; er rief nie nach irgendjemandem. Der Baron von Argaut war ein Einsiedler, der in einem abgesonderten Turm lebte und in tiefster Heimlichkeit nur von einer Hand voll vertrauenswürdiger Ratgeber versorgt wurde, deren Haupt der Seneschall war. Der Soldat stand schon seit vier Jahren hier Wache und hatte den Baron noch nie gesehen.
»Gut. Dann wünsche ich dir einen angenehmen Abend«, meinte der Seneschall. Der Wächter nickte und kehrte auf seinen Posten bei der Tür zurück. Dort lauschte er den schwächer werdenden Schritten des Seneschalls, der das Foyer aus poliertem Marmor durchmaß und durch den langen Korridor zu den Gerichtsräumen ging. Als das letzte Echo erstorben war, erlaubte sich der Soldat wieder den Luxus zu atmen. Die Kerzenflammen in den Wandhalterungen entlang des breiten Korridors zum Gerichtssaal flackerten, als der Seneschall an ihnen vorbeiging, und die Seen von Licht, die sich auf den dunklen Fliesen gebildet hatten, tanzten wild; dann kehrten sie zu einem sanften Pulsieren zurück. Am Ende des langen Hauptkorridors öffnete er die Tür zum dunklen Gerichtssaal und trat ein. Seine Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Leise schloss er die Tür hinter sich. Die Augen des Seneschalls brannten an den Rändern, als er liebevoll den Ort betrachtete, an dem so viele Männer und Frauen als Angeklagte gestanden hatten und verurteilt worden waren. Die Bank der Angeklagten und das Podium der Anwälte lagen nun schweigend in der Dunkelheit, doch das Echo des Wehklagens, das heute und an jedem vorangegangenen Tag hier angestimmt worden war, hing noch unsichtbar in der Luft und hinterließ ein köstliches Summen von Schmerz. Der Seneschall ging rasch über den Boden des Schattenumwobenen Raumes, an der verwaisten Zeugenbank vorbei, und hielt kurz am Platz des Gerichtsschreibers an, einem zweigeteilten, käfigähnlichen Tisch mit hölzerner Platte. Darauf lag ein Pergament, das an den Enden eingerollt und ansonsten ausgebreitet war, damit die Tinte trocknen konnte. Viele Namen waren auf diesem Dokument verzeichnet. Es handelte sich um die morgige Prozessliste der verdammten Seelen, die nicht wussten, dass sich ihr Schicksal schon entschieden hatte, lange bevor sie angeklagt worden waren. Der Seneschall betastete das Pergament mit einer Gebärde belustigter Melancholie. Keine Zeit dafür. Nun gut.
Seine Gedanken wanderten zu dieser Straßenhure, die er in der vergangenen Nacht unter der Pier getötet hatte. Zweifellos schlug die rauschende Sturmesbrandung ihren Körper nun gegen die Mole. Dann schweiften seine Gedanken zu dem Seemann ab, den er morgen für dieses Verbrechen zum Tod durch Verbrennen verurteilen würde und der im Augenblick bewusstlos im Rumrausch lag und das Blut einer Frau, die er nie zuvor gesehen hatte, in dunklen, klebrigen Flecken an der Kleidung trug. Es würde ein aufregender Prozess und eine noch aufregendere Verbrennung werden, besonders wenn die Rumdünste noch frisch aus dem Atem des entsetzten Mannes quollen.
Welche Schande, dass er nicht dabei sein würde, um es zu genießen.
Der Seneschall stieß vernehmlich die Luft aus und brachte den anschwellenden Lärm der dunklen Stimmen zum Schweigen, die in den Tiefen seiner Ohren klangen.
Eine leichte Bewegung in dem Leinensäckchen richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die vor ihm liegende Aufgabe.
Die Bank, auf der er täglich zu Gericht saß, wurde hinter seinem Platz von einem roten Vorhang aus schwerem Damast eingerahmt, der nach Moder und Erde roch. Der Seneschall stieg die Stufen zur Bank hoch, zog den Vorhang zur Seite und enthüllte die Steinwand dahinter. Er fuhr mit dem Finger über eine kaum sichtbare Spalte, tastete nach dem Griff, zog die Tür beiseite und trat in die Dunkelheit des Tunnels hinter der Wand. Dann schloss er die Tür sorgfältig hinter sich.
Er ging den vertrauten Gang entlang; seine Füße fanden von selbst den Weg in der Schwärze. Eine Drehung nach links, dann drei weitere nach rechts. Er hatte die Augen zu Schlitzen verengt. Wärme durchströmte seinen Körper, als das grünliche Glimmen in der Ferne sichtbar wurde. Er wurde schneller und rief in die Dunkelheit hinein: »Faron?«
Nun stieg Dunst vom Boden der Katakombe auf; dünne, gewundene Ranken aus Rauch schwebten über einem leuchtenden Teich.
Der Seneschall lächelte und spürte, wie die Hitze in seinem Körper anstieg.
»Tritt näher, mein Kind«, flüsterte er.
Der schimmernde Nebel verdichtete sich und zuckte in Wellen nach oben, zur Seite und in die Schwärze der Umgebung.
Der Seneschall spähte in den Dunst.
Schließlich stiegen in dem schimmernden Teich Luftblasen an die Oberfläche. Die gleißende Wasseroberfläche kochte, brach auf, und der geisterhafte Nebel verwirbelte und verschwand. Aus der Mitte des Teichs kam ein Kopf hervor, menschlichen Umrisses, doch nicht menschlichen Aussehens. Große, fischartige Augen, getrübt von milchig grauem Star, blinzelten, als sie aus dem Wasser auftauchten, gefolgt von einer platten Nase ohne Rücken. Dann kam der Mund des Geschöpfes, oder vielmehr das Fehlen des Mundes. Die Lippen waren miteinander verschmolzen und nur über den Backenzähnen offen – schwarze, waagerechte Schlitze, durch die kleine Rinnsale tropften. Die blassgoldene Haut schien beinahe ein Teil des Teichs zu sein, aus dem das Wesen gerufen worden war.
Das gleißende Wasser wogte, als das Geschöpf mit großer Anstrengung die Unterarme aufstemmte, die sich unter dem Gewicht des Torsos bogen. Die Glieder waren missgestaltet und dehnbar, als ob sie nicht aus Knochen, sondern nur aus Knorpel bestünden. Das seidige Gewand, das seinen Leib bedeckte, bauschte sich an einigen Stellen auf und bedeckte sowohl knospende männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale, die von einem schmalen, grotesk verkrümmten Knochengestell gehalten wurden.
Ein stolzer Ausdruck stahl sich in den Blick des Seneschalls. Seine Augen brannten an den Rändern rot vor Aufregung. Der Geistdämon, der sich in seinem Körper festgesetzt hatte, erkannte die Gegenwart seinesgleichen. Er krähte vor Freude und kratzte sich die Rippen.
»Guten Abend, Kleiner«, sagte er sanft. »Ich bringe dir das Abendessen.«
Die umwölkten Augen des Wesens brannten zur Antwort rot an den Rändern. Mit einer Vorwärtsbewegung der verdrehten Arme zog es sich näher heran. Der Unterleib schwebte noch in dem leuchtend grünen Wasser des Teichs.
Der Seneschall zog den Dolch, den er an seiner Seite trug, und öffnete den Leinensack. Er griff hinein und zog zwei Aale heraus – blinde, ölige und fette Geschöpfe aus schwarzem Fleisch, die wild in Richtung seines Unterarms bissen und ausschlugen, als sie über dem Teich schwebten. Er riss ihnen die Köpfe ab, warf sie in die Dunkelheit und kicherte, als sich die Augen des Geschöpfes vor Hunger weiteten.
Mit außerordentlicher Sorgfalt schnitt er die noch immer zuckenden Aalleiber in dünne Scheiben und steckte sie der Kreatur durch die seitlichen Öffnungen in den Mund. Sie machte schreckliche schlürfende und schmatzende Laute, während die weichen Zähne das Fleisch zermahlten. Als das Geschöpf die Aale verspeist hatte, drückte es sich vom Rand des Wasserlochs fort und versank langsam wieder in der grünen Tiefe.
Die Hand des Seneschalls schoss hervor und packte das Geschöpf sanft unter dem Kinn. Die Schichten loser, verschrumpelter Haut zitterten und sandten kleine Wellen durch das leuchtende Wasser.
»Nein, Faron, bleib.«
Er schaute hinunter auf das von ihm selbst gezeugte Kind, das Endergebnis einer seiner liebsten und grausamsten Eroberungen, einer alten serenischen Frau, die ihm vor tausend Jahren buchstäblich in die Hände gefallen war. Die Scheußlichkeiten, die er an ihr begangen hatte, wärmten sein Blut immer noch mit Vergnügen. Sie geschwängert zu haben war die Verringerung seiner Macht wert gewesen, an der er in der Folge gelitten hatte. Die Magie, die ihr und allen aus ihrer Rasse eigen war – das Element des Äthers, übrig geblieben aus den Tagen der Schöpfung, als die Erde nichts anderes als ein flammendes Sternenstück in der Leere des Universums gewesen war -, brannte in Farons Blut ebenso wie das Feuer, dem seine eigene dämonische Seite entsprang. Es lag eine widernatürliche Schönheit in diesem missgestalteten Sprössling, in dieser unnatürlichen Wesenheit, in seinen Zügen, die gleichzeitig alt und jung und beinahe knochenlos waren. Es war sein Kind, ganz allein seines.
Die Gestalt richtete die großen, starren Augen auf das Gesicht des Seneschalls.
»Ich benötige deine Gabe«, sagte der Seneschall.
Faron starrte ihn noch einen Augenblick länger an und nickte dann.
Der Seneschall ließ das Gesicht der stummen Kreatur los und liebkoste es dabei zärtlich. Dann holte er aus einer Innentasche seiner Robe ein gefaltetes Samttuch hervor und öffnete es vorsichtig, ja beinahe ehrerbietig.
In den Stofffalten lag eine Haarlocke verborgen, brüchig und trocken wie Stroh – Haar, das einmal golden wie Weizen auf einem Sommerfeld, nun aber mit den Jahren weißlichgelb geworden war. Ein schwarzes Samtband, das schon beinahe zu Staubfäden verfallen war, hielt es zusammen. Er bot es dem Geschöpf in dem Teich aus grünem Licht und wässerigem Dunst dar.
»Kannst du sie sehen?«, flüsterte er.
Die Kreatur starrte ihn noch ein wenig länger an, als wolle sie seine Kraft abschätzen. Der Seneschall spürte, wie sie sein Gesicht absuchte und sich fragte, was über ihn gekommen sei. Auch er stellte sich diese Frage; seine Hände zitterten in Vorfreude, und in seiner Stimme lag eine heisere Note von Aufregung und Furcht, die er noch nie zuvor empfunden hatte.
Möglicherweise weil er seit hunderten von Jahren nicht mehr an die Möglichkeit gedacht hatte, dass sie nach dieser langen Zeit noch leben könnte.
Bis zu dieser Nacht.
Das Geschöpf schien gefunden zu haben, was es in seinem Gesicht gesucht hatte. Es nahm die alte Haarlocke an sich, nickte noch einmal und glitt unter den Wasserspiegel. Einen Augenblick später tauchte es wieder auf.
In einer seiner grotesk verkrümmten Hände hielt es ein dünnes blaues Oval mit ausgefransten Rändern, das in dem Licht des Wassers schimmerte und leuchtete. Auf jeder Seite des Gegenstandes befand sich eine Einritzung; es war das Bild eines Auges, auf der einen Seite umwölkt, auf der anderen Seite klar, doch die Gravur war durch die Zeit beinahe unsichtbar geworden.
Der Seneschall lächelte breit. Es lag etwas so Befriedigendes darin, diese Schuppe in den Händen seines Kindes zu sehen, dass er seine Gefühle kaum verbergen konnte. Farons Mutter war die Letzte einer langen Ahnenreihe von serenischen Seherinnen gewesen und hatte einige dieser Schuppen besessen. Ihre Fähigkeit, in ihnen zu lesen, hatte sie durch ihr Blut an Faron weitergegeben. Als sich der Dämon in der Seele des Seneschalls vorstellte, welches Grauen sie im Nachleben erleiden musste, schrie er vor Lust auf.
Er sah ehrfurchtsvoll zu, wie Faron die uralte Schuppe unter die Oberfläche des gleißenden grünen Wassers drückte. Dampfwolken stiegen unter der Feuerhitze auf, die in Farons Blut brannte; weißer Dunst erfüllte die Luft wie schwebende Gespenster, die es nach einem freien Blick gelüstete.
Die Erde, die in der Schuppe verkörpert ist, dachte der Seneschall, während er in den wogenden Nebel starrte. Feuer und Äther, für immer gegenwärtig in Farons Blut, und das Wasser aus dem Teich. Der Kreislauf der Elemente war vollständig, bis auf eine Ausnahme. In Anbetracht der Entfernung, die Faron überblicken sollte, bedurfte er großer Kraft.
Langsam tastete der Seneschall nach dem Griff des Schwertes an seiner Seite und zog Tysterisk mit großer Vorsicht. Ein Windstoß peitschte durch die Katakomben und wirbelte Wolken aus Schimmelsporen vom Boden auf, als die Klinge aus der Scheide glitt – unsichtbar bis auf einen Funkenschauer wie von einem Reisigfeuer in einer steifen Brise.
Ein dumpfes Zerren ging durch das menschliche Fleisch wie auch durch den dämonischen Geist. Es war das gemeinsame Band der beiden zu dem Elementarschwert der Luft, das sich regte, wann immer die Waffe blankgezogen wurde. Tysterisk in den Händen zu halten war das mächtigste fleischliche Vergnügen, das er verspüren konnte, ein orgiastisches Gefühl, das alle anderen körperlichen Genüsse überragte. Er hielt es über den glimmenden grünen Teich. Wellen überspülten Faron, wo vor einem Augenblick nur sanfte Kräuselungen gewesen waren.
Der Kreis der Elemente war vollständig.
Unter der grünen Wasseroberfläche erglühte die Schuppe.
Die Wolken in Farons geschwollenen Augen stoben davon. Die hellblaue Iris leuchtete sternengleich in der spiegelnden Helligkeit des Wassers. Der Seneschall bemerkte die Veränderung; der Dämon in ihm kreischte vor Erregung.
»Kannst du sie sehen?«, fragte er das uralte, missgebildete Kind erneut und bemühte sich um einen möglichst ruhigen Tonfall.
Die verkrümmte Gestalt starrte in das windgepeitschte Wasser, blinzelte im Dunkeln und schüttelte dann den Kopf. Die herabhängenden Hautfalten unter dem Kinn zitterten.
Ungeduldig wühlte der Seneschall in der Tasche herum, in welcher die Aale gewesen waren, und zog eine weiche Talgkerze hervor, die aus ätzender Lauge und menschlichem Fett bestand, das er aus kranken, alten Leuten und Kindern gewonnen hatte, dem nutzlosen Ausschuss gekaperter Schiffe, auf denen sich wertvollere menschliche Beute befunden hatte. Er betastete den Docht, rief das schwarze Feuer aus den Tiefen seiner dämonischen Seele hervor und erschuf eine Flamme. Als der Docht glomm, hielt er die Kerze über den Teich und warf mehr Licht auf die untergetauchte Schuppe.
»Kannst du sie sehen?«, verlangte er abermals zu wissen. Das Feuer brannte dunkel und bedrohlich in seiner Stimme.
Faron blinzelte argwöhnisch und schaute die Orakelschuppe eingehend an. Wenig später hob er das ungeheuerliche Gesicht wieder. Er schaute in die wilden, blauen Augen seines Vaters und nickte. Brennende Erregung durchfuhr den Seneschall und wurde schon einen Augenblick später durch Ungeduld ersetzt.
»Was siehst du? Sag es mir.«
Die stumme Gestalt schaute ihn hilflos an.
»Was macht sie? Ist sie allein?«
Die Kreatur schüttelte den Kopf.
Die brennende Erregung wurde zu blendender Raserei.
»Nein? Sie ist nicht allein? Wer ist bei ihr? Wer?«
Das Geschöpf zuckte die Achseln.
Der tosende Sturm im Blick des Seneschalls erstarb wie die Windgepeitschten Wellen unter der Brise. Er drückte beide Hände bis zu den obersten Fingerknöcheln in den weichen Schädel der missgestalteten Kreatur und drehte sie, bis sich der fischartige Mund vor Schmerzen öffnete. Ein stiller Schrei brach in Strömen entweichender Luft zwischen den zitternden Lippen hervor. Als Farons Körper steif vor Entsetzen wurde, schloss der Seneschall die Augen und konzentrierte sich. Er richtete all seine Aufmerksamkeit nach innen, löste das metaphysische Band, durch das seine unsterbliche dämonische Natur mit der körperlichen Gestalt verbunden war, und suchte nach den Schwingungen in Farons Blut, die mit seinen eigenen übereinstimmten. Er fand sie rasch. Wie Fäden aus gesponnenem Stahl dehnten sich die winzigen Stricke zwischen Körper und Seele. Peinlich genau löste er einen nach dem anderen und verband sie mit der verkrüppelten Masse menschlichen Fleisches, die sich unter seinen Händen wand und deren Blut im gleichen Takt wie seines pulste.
Als das Feuer seines innersten Wesens in Faron glitt, kühlte sich sein eigener Körper ab und sackte wie ein mumifiziertes Skelett in sich zusammen. Er klammerte sich weiterhin an Faron; die versteinerten Finger ragten noch immer aus dem Haupt des Kindes hervor.
Farons verkrümmte Gestalt beherbergte nun die unsterbliche Seele des Dämons. Er wurde gerader und fester; der Knorpel verhärtete sich zu Stein. Der Dämon schaute jetzt durch Farons klare blaue Augen. Er schaute auf die blauen Lichtwellen, die sich in der Schuppe unter der Oberfläche des Wassers spiegelten.
Zuerst sah er nichts als einen fernen Schatten, dann eine Bewegung. Der Blick wurde klarer. In den gekräuselten Wellen des Teichs erkannte er das wässerige Bild eines Gesichts, das ihm zugleich fremd und ungemein vertraut war. Es war ein Gesicht, das er in einem vergangenen Zeitalter eingehend studiert hatte. Er hatte es auf Porträts angestarrt und genau betrachtet, wenn er in dessen Nähe gewesen war. Er kannte jede Linie, jede Kante, auch wenn es in den Dampfschwaden nicht genauso aussah, wie er es in Erinnerung hatte.
Vielleicht war es der Gesichtsausdruck, der ihn verwirrte. Das Gesicht, das er gekannt hatte, war sehr verschlossen gewesen und hatte nur selten ein schiefes Lächeln gewagt. Die smaragdenen Augen hatten hinter einer kühlen Maske der Gleichgültigkeit vor Verachtung gebrannt, besonders wenn sie auf ihn gerichtet gewesen waren.
Nun aber trug dieses vertraute, fremde Gesicht, das in dem blauen Licht eine halbe Welt entfernt war, einen Ausdruck, den er nicht deuten konnte.
In diesem eingefangenen Moment lag ein Lachen in ihren Augen, und noch etwas anderes, das er nicht zu benennen vermochte, das ihm aber nicht gefiel, was immer es auch war. Ihr Gesicht leuchtete im Glanz von Kerzenlicht, doch es leuchtete auch aus sich selbst heraus.
Sie redete mit jemandem.
Mit mehr als einer Person, wie es den Anschein hatte. Sie bewegte den Kopf nach links zu jemandem, der von gleicher Größe war wie sie, und nach rechts zu einer Person, die größer zu sein schien. Als sie ein weiteres Mal zu Letzterem schaute, lag in ihrem Blick eine Erregung, die wie Elementarfeuer brannte – rein und heiß aus dem Herzen der Erde. In diesem Gesicht lag etwas so Einladendes, so Unwiderstehliches, dass er unwillkürlich in das gleißende Wasser griff und die Hinterseite ihres Halses berührte, wo das goldene Haar, von dem er seit mehr als tausend Jahren träumte, in seidigen Locken herabhing. Er zog Farons verkrüppelten Finger in einer unbeholfenen Liebkosung durch das gekräuselte Wasser.
Eine halbe Welt weit entfernt erstarrte sie. Ein Ausdruck von Ekel, vielleicht auch von Furcht, wusch das Lächeln aus ihrem Gesicht und machte es blass und ausdruckslos. Sie warf einen raschen Blick über die Schulter, fuhr sich dann mit der Hand an die Kehle, als ob sie sich vor einem bitteren Wind oder den Fängen eines Wolfes schützen wollte.
Sie erschauerte unter seiner Berührung.
Noch einmal.
Hure, flüsterte er in Gedanken. Elende, brünstige Hure.
Seine Wut explodierte. Farons Körper zuckte hin und her und erbebte unter den körperlichen Auswirkungen des Zornes. Mit einer bösen Bewegung seiner schuppigen Hand schlug er auf die Wasseroberfläche. Die Schuppe flog aus dem Teich und in die feuchte Dunkelheit der Katakombe. Er atmete flach und versuchte sich zusammenzureißen.
Als die Vernunft zurückkehrte, schloss er die himmelblauen Augen, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die metaphysischen Bande, die ihn an Farons Gestalt fesselten, löste sie und knüpfte sie neu.
Während die dämonische Essenz in den Körper des Seneschalls zurückfloss, füllte sich die zusammengefallene Mumie mit neuem Leben. Das wütende Licht kehrte in die ausgetrockneten Augenhöhlen zurück. Farons Körper hingegen wurde wieder biegsam und verdrehte sich, bis er unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrach.
Der Seneschall atmete flach, zog dann die Finger aus dem weichen Schädel seines Kindes und stillte das Blut, das aus den Löchern tropfte. Zärtlich nahm er den leise weinenden Faron, dessen missgebildeter Mund an den Rändern offen stand, in den Arm, liebkoste die Haarsträhnen, die Hautfalten am Kinn und küsste ihn sanft auf den Scheitel.
»Es tut mir Leid, Faron«, flüsterte er sanft. »Vergib mir.«
Als die lautlosen Seufzer des Geschöpfs zu leichtem Keuchen wurden, nahm der Seneschall Farons Gesicht in die Hände und drehte es so, dass er ihm in die Augen sah, die jetzt wieder umwölkt, aber noch immer von demselben Blau waren wie seine eigenen.
»Ich habe wunderbare Neuigkeiten für dich, Faron«, sagte er und streichelte die schlaffen Wangen.
»Ich gehe auf eine lange Reise, weit übers Meer ...« Er legte den Zeigefinger gegen die verschlossenen Lippen der Gestalt, in deren Blick sich Panik schlich.
»Und ich werde dich mitnehmen.«
Die dunkle Treppe, die in den Turm des Barons von Argaut führte, bestand mit Ausnahme der letzten Stufen aus poliertem grauem Marmor mit schwarzen und weißen Adern. Die Stufen waren schmal;
Tritte waren hier nichts als leises, dunkel dräuendes Klacken, im Gegensatz zu den Echos, welche die Halle der Tugend in allen anderen Räumen und Korridoren hervorrief.
Die letzten Stufen waren aus Blutkoralle gehämmert, einer stechenden, versteinerten Meerespflanze – wenn sie sich im Meer befand, sei sie ein lebendes Wesen, sagte man -, die fern von hier giftige, tausende Meilen lange Kolonien entlang des Feuerriffs bildete. Sie passte sich dem Marmor der übrigen Stufen an und bildete eine tödliche Barriere für jeden, der nicht gegen den Biss des Feuers und den Stich des Giftes immun war.
Der Seneschall stieg die letzte Stufe hoch und blieb vor einer schwarzen, eisenbeschlagenen Tür aus Walnussholz stehen. Er klopfte ehrerbietig und öffnete die Tür dann langsam.
Ein feuchter Windstoß und alles verschlingende Dunkelheit hießen ihn willkommen. Er trat schnell in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Guten Abend, mein Herrscher«, sagte er.
Zuerst antworteten ihm nur das Trippeln von Mäusen und das Flattern von Fledermausschwingen in der Traufe über ihm.
Dann hörte er die Stimme tief in seinem Kopf. Die Worte brannten in ihm wie dunkles Feuer.
Guten Abend.
Der Seneschall räusperte sich und schaute sich rasch in dem schwarzen Turmzimmer um. Die Dunkelheit war undurchdringlich. »Alles läuft gut in Argaut. Wir hatten einen erfolgreichen Tag bei Gericht.«
Sehr gut.
Er räusperte sich erneut. »Ich werde noch heute Nacht auf eine weite Reise gehen. Gibt es etwas, das ich für Euch tun soll, bevor ich aufbreche?«
Die Dunkelheit um ihn herum wurde dichter. Als die Stimme wieder sprach, brannte sie vor Bedrohlichkeit und stach ihm in die Ohren und Gedanken.
Zunächst einmal benötige ich eine Erklärung.
Der Seneschall holte tief Luft. »Ich habe heute erfahren, dass jemand, der mir noch einiges schuldet und mir auf der Insel Serendair vor der großen Flut einen Eid leistete, das Erwachen des Schlafenden Kindes überlebt hat.« Zusammen mit den Worten stieß er seinen Atem aus.
»Ich muss diese Schuld eintreiben.«
Warum?, wollte die brennende Stimme wissen. Schicke doch einen Lakaien.
Klugerweise schluckte der Seneschall die Entgegnung herunter, die sich ungebeten auf seine Lippen stahl. Es war nicht angeraten, den Baron zu erzürnen.
»Das ist nicht möglich, mein Gebieter«, sagte er mit wohl abgemessenem, achtungsvollem Ton. »Es ist etwas, um das ich mich persönlich kümmern muss. Ich versichere Euch aber, dass der Schatz, mit dem ich zurückkehren werde, meine Abwesenheit mehr als aufwiegen wird.«
Deiner Einschätzung nach vielleicht. Aber möglicherweise sehe ich das anders. Die Wut in der Stimme versengte das Hirn des Seneschalls. Wer soll die Sklaven beschaffen, wenn du fortgehst? Wer sorgt für Angst und Schrecken? Wer sitzt zu Gericht? Wer kümmert sich um die Verbrennungen? Wer wird das Gesetz erfüllen?
Die Augen des Seneschalls brannten rot an den Rändern, als er hart darum kämpfte, seinen Zorn im Zaum zu halten.
»Im Innern des Reiches ist alles geregelt, mein Herrscher. Alle Arbeit wird getan werden, und mehr noch.« Impulsiv fiel er auf ein Knie und neigte das Haupt. Als er sprach, lag in seiner Stimme eine Erregung, welche die ausgedehnte Dunkelheit des Raumes völlig ausfüllte. »Doch um meinem Herrn zu gefallen, werde ich Euch zu Willen sein, bevor ich gehe. Ich werde eine so große Zahl von Verbrennungen bewirken, dass der Himmel in einem karmesinroten Licht erstrahlt, welches tagelang zu sehen sein wird! Ich werde die Prozesslisten verlängern, die Flotte auslaufen lassen und alles tun, was Eure Herrschaft begehrt. Doch ich muss mit der Flut vor dem Morgen auslaufen. Ich muss die Erfüllung eines Vertrages geltend machen.« Er hob die Augen wieder zur Dunkelheit. »Eines Eides, der jemanden an mich bindet.«
Um ihn herum hallte das Schweigen. Der Seneschall blickte in die endlose Finsternis und wartete. Wie nach einer Ewigkeit ergriff die Stimme endlich wieder das Wort. Sie war erfüllt von Widerstreben und greifbarer Enttäuschung.
Sehr gut Doch du musst sofort zurückkehren, wenn du das erhalten hast, was du beanspruchst.
Der Seneschall erhob sich rasch und verneigte sich tief.
»Das werde ich, mein Herrscher. Vielen Dank.«
Als die dunkle Stimme wieder sprach, verklangen die Worte allmählich in der Düsternis.
Du kannst jetzt gehen.
Der Seneschall verneigte sich ein weiteres Mal. Er ging rückwärts durch die Dunkelheit und tastete nach dem Türknauf. Sobald er ihn gefunden hatte, öffnete er die Tür, trat rasch hindurch, schloss sie hinter sich und nahm Abschied.
Von einem vollständig leeren Raum.
Lichtbringer, Lichtersticker
Mertemi
Slith wunderte sich immer wieder darüber, wie viel Macht in einem einzigen Wort stecken konnte – einem Wort, das lediglich der Name einer Person war.
Besonders in Estens Name.
Als er nun Bonnards zitternder Gestalt folgte, dessen Speckrollen bei jedem Schritt über die Kopfsteingepflasterten Gassen des Marktes der Diebe erzitterten, fragte er sich, ob es klug gewesen war, diesen Namen zu nennen.
Bonnards höhnisches Lächeln, als er Slith gefunden hatte, wie er sich auf dem Abort vor seinen Pflichten gedrückt hatte, war rasch zu einem Ausdruck an der Grenze von Verärgerung zu Angst geronnen, als er den Wunsch geäußert hatte, zur Herrin der Gilde gebracht zu werden. Slith senkte den Blick auf die staubigen, roten Pflastersteine und lächelte in sich hinein, als er an das kurze Gespräch zurückdachte.
Warum – warum will jemand wie du Esten sehen?
Das möchtest du bestimmt wissen, Bonnard, nicht wahr? Dann wärest du neben mir der einzige andere.
Der Geselle hatte zehn Herzschläge lang über diese Frage nachgedacht, dann finster dreingeblickt, den Kopf mit dem massigen Kiefer nach oben und unten bewegt und Slith bedeutet, er solle ihm folgen. Als sie nun tiefer in den Markt der Diebe eindrangen, fragte sich Slith, ob die Nennung des Namens wohl das Dümmste gewesen war, das er je getan hatte. Als kleines Kind hatte er sich einmal bis zum Äußeren Markt vorgewagt, dem Handelsplatz der Kaufleute aus der ganzen bekannten Welt – und sicherlich auch aus Teilen der unbekannten Welt. Er bestand aus Ladentheken unter freiem Himmel und kleinen Buden entlang der Straßen. Exotische Tiere schlichen in der Nähe der Waren herum, die aus Seidenballen in kräftigen Farben und Kräutersäckchen mit durchdringenden Aromen bestanden, die sich mit Weihrauch, Parfüms und dem fettigen, schweren Geruch von Fleisch mischten, welches über Torffeuern gebraten wurde. Seine Mutter hatte ihn damals auf der vergeblichen Suche nach einem Heilmittel für seinen kranken Vater mitgenommen. Nachdem Slith beobachtet hatte, wie sie ihre letzten Münzen für eine Flasche mit einer schimmernden Flüssigkeit ausgegeben hatte, die sich als völlig wirkungslos herausstellen sollte, hatte er mit dem Instinkt eines Sechsjährigen verstanden, woher der Markt der Diebe seinen Namen hatte. Er war jedoch noch nie so tief in den Inneren Markt eingedrungen, war noch nie den vergiftenden Gefahren so nahe gekommen. Hier spürte er die Bedrohung in der Luft liegen; sie war irgendwie schwerer in diesen Hinterstraßen und dunklen Gassen, wo Farbglanz und Prunk den verborgenen Nischen und schattigen Höfen gewichen waren. Die Lehmziegelgebäude, die wie in ganz Yarim zur Farbe von Blut getrocknet waren, die Verkaufsbuden aus Stroh und die Öltücher, die wie Flecken über die Straße verteilt hingen, waren durchtränkt von Geheimnissen.
Verschwunden waren die Händler, die lauthals ihre Waren anpriesen, die Sänger und die kreischenden Anreißer. Der Innere Markt war ein Ort dichter Stille und verstohlener Blicke, wo verborgene Augen jeder Bewegung folgten.
Slith hielt den Blick gesenkt, wie ihm befohlen worden war, und betrachtete die Absätze von Bonnards bäuerlichen Stiefeln. Er spürte die Blicke von tausenden dieser verborgenen Augen, doch er wusste, dass es tödlich sein konnte, einen dieser Blicke zu erwidern.
Schließlich blieb Bonnard stehen. Slith schaute auf.
Vor ihnen erhob sich ein breites einstöckiges Lehmgebäude. Es war dunkel vom Kohlenstaub, mit dem sich der yarimesischen Lehm beim Brennen vermischt hatte. Wie die meisten Gebäude in Yarim befand es sich in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls. Lehm und Kohlenstaub blätterten von dem Haus ab und deuteten eine tiefer liegende Fäulnis an. Die unregelmäßigen Flecke erweckten den Eindruck, als blute das Gebäude.
Auf der Tür befand sich ein Wappenschild: das Zeichen des Raben, der eine Goldmünze in den Krallen hielt. Slith unterdrückte ein Schaudern. Er hatte dieses Gildezeichen schon einmal gesehen – an dem Tag, als sein Lehrvertrag abgeschlossen worden war und ihn seine Mutter in das Zählhaus der Rabengilde gebracht hatte, damit Esten ihn in Augenschein hatte nehmen können. Die Rabengilde im Stadtzentrum von Yarim Paar war ein prachtvolles Gebäude und beherbergte die größte Handelsorganisation der Provinz, einen Zusammenschluss von Ziegelbrennern, Keramikern und Glasbläsern sowie Schmieden aller Art. Außerdem unterhielt die Gilde ein Botensystem zwischen den einzelnen Provinzen. Es war das am schlechtesten gehütete Geheimnis von Yarim, dass es sich bei dieser Gilde um einen beachtlichen Zirkel von Berufsdieben, Verbrechern und Räubern handelte, welche die nächtlichen Herrscher von Yarim waren.
Und Esten war ihre unangefochtene Anführerin.
Kalte Fäden aus Schweißperlen rannen ihm am Hals herunter, als Bonnard die Tür öffnete und ihn ungeduldig in das Innere schob. Slith folgte dem Gesellen in einen Alkoven links neben der Tür und sah nervös zu, wie Bonnard in der Dunkelheit vor ihm verschwand.
Er zwinkerte und versuchte seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Raum hatte keine sichtbaren Begrenzungen. Ein zerschmetterter Tisch, grob aus geborstenem Holz gezimmert, stand in einiger Entfernung rechts von der Tür; wenigstens schien es ein Tisch zu sein. Darum war eine Reihe nicht zueinander passender Stühle verschiedener Größen und Stile gruppiert. Er glaubte einen kalten Kamin hinter dem Tisch zu erkennen. Der beißende Geruch von Kohlen und ranzigem Fett hing dick in der abgestandenen Luft.
»Du wolltest mich sprechen?«
Slith wich vor Entsetzen zurück. Betäubende Kälte durchströmte ihn.
Das Gesicht war ihm fast so nahe wie die Luft, die er atmete. Die Züge verschwammen in der Dunkelheit. Es schien körperlos zu sein. Dunkle Augen starrten ihn an.
Slith schluckte und nickte wortlos. Sein Mund war so trocken, dass er kein Wort herausbrachte. Die schwarzen Augen zwinkerten wie vor Belustigung.
»Dann rede.«
Slith öffnete den Mund, aber kein Laut drang heraus. Die Augen in der Dunkelheit verengten sich ein wenig; ein Ausdruck der Verärgerung kroch in sie. Er räusperte sich und zwang die Worte heraus.
»Ich habe etwas gefunden. Ich glaube, Ihr solltet es sehen.«
Das Gesicht neigte sich ein wenig.
»Nun gut. Zeige es mir.«
Slith tastete in seiner Hemdtasche herum und zog ein Bündel aus Lappen hervor, in das er die blauschwarze Scheibe eingewickelt hatte. Bevor er das Bündel übergeben konnte, war es schon aus seiner Hand verschwunden.
Die dunklen Augen blickten nach unten, dann wandte sich das Gesicht ab und verschwand. In der Ferne pulsierte ein glimmendes Licht und verstärkte sich zu einem Ring, als nacheinander ein Kreis von Lampen enthüllt wurde.
Als der Raum erhellt war, bemerkte Slith, dass er viel kleiner war, als er in der Dunkelheit angenommen hatte. Aus den Ecken beobachteten ihn die grauhaarigen Männer, die das Zimmer erhellt hatten.
Esten stand vor ihm und drehte die blau-schwarze Scheibe vorsichtig in ihren langen, zarten Händen. Im Gegensatz zu den meisten yarimesischen Frauen war ihr Gesicht unverhüllt. Im flackernden Lichtschein erkannte er, dass sie nicht größer als er selbst war. Sie hatte langes, rabenschwarzes Haar, und ihre Kleider waren von der Farbe einer sternenlosen Nacht, sodass sie sich noch vor einem Augenblick vollkommen der Dunkelheit hatten anpassen können. Sie trug die geflochtenen Haare zu einem Knoten hochgesteckt, was die scharfen Linien ihres Gesichts noch betonte. Slith vermutete, dass sie von gemischtem Geblüt war, denn ihr Gesicht besaß zwar einige, aber nicht alle Eigentümlichkeiten einer Yarimesierin. Kurz überlegte er, woher sie stammen mochte, doch die Gedanken verschwanden sofort wieder, als sie den Blick auf ihn richtete.
»Du bist einer von Bonnards Lehrlingen?«
Sliths Vater hatte nur wenige weise Worte gesprochen, die ihm im Gedächtnis geblieben waren, doch an einen oft wiederholten Satz erinnerte er sich deutlich: Sieh jedem Menschen ins Auge, sei er Freund oder Feind. Deine Freunde verdienen Respekt, und deine Feinde sollen ihn vor dir bekommen. Er erwiderte ihren Blick so hochachtungsvoll und gleichzeitig so direkt wie möglich.
»Ja.«
Esten nickte. »Dein Name?«
»Slith.«
»In welchem Jahr bist du?«
»Im vierten.«
Sie nickte wieder. »Dann bist du ... elf? Zwölf?«
»Dreizehn.«
Ein Ausdruck von Neugier stahl sich in ihren Blick. »Hmm.
Dann warst du schon ziemlich alt, als ich dich eingestellt habe, nicht wahr?«
Slith schluckte. Er war fest entschlossen, standhaft zu bleiben, und zuckte die Achseln. Esten sah belustigt aus. »Den hier mag ich, Dranth. Er hat Stahl in seinen Eingeweiden. Kümmere dich darum, dass er genug zu essen bekommt.« Die blau-schwarze Scheibe erschien zwischen ihren langen, dünnen Fingern. »Woher hast du sie?«
»Ich habe sie in einem gebrannten Topf auf dem hinteren Lagerregal im Brennraum gefunden.«
»Weißt du, was das ist?«
»Nein«, sagte Slith. Er beobachtete Esten, als sie den Blick erneut auf die Scheibe richtete. »Wisst Ihr es?«
Sie wirkte entsetzt über seine Unverfrorenheit; es war, als habe er sie angegriffen. Beim nächsten Atemzug hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie bedeutete den Männern mit einer Handbewegung, dass sie nicht eingreifen sollten, und sah Slith wieder an.
»Nein, Slith, ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie mit fester Stimme und hielt die Scheibe gegen das Licht, das aus den beschirmten Lampen drang. »Aber heute Nacht kannst du in tiefstem Frieden ruhen und sicher sein, dass ich es herausfinden werde.«
»Zuerst habe ich geglaubt, es sei ein Nahtglätter«, meinte Slith und beobachtete, wie das Licht in Wellen über die Scheibe in Estens Händen lief. »Dann ist mir der Gedanke gekommen, dass es schon sehr lange in diesem Topf gesteckt haben könnte.«
Als Slith die Frau wieder ansah, glitzerten ihre Augen vor grausamer Erregung und schauten an ihm vorbei.
»Du magst Recht haben«, sagte sie sanft. »Vielleicht sogar drei Jahre lang.« Sie wandte sich an einen der Männer in der Ecke. »Yabrith, gib Slith eine Belohnung von zehn Goldkronen und ein gutes Mahl für seine scharfen Augen. Sag Bonnard, er wird in die Ziegelei zurückkehren, wenn er gegessen hat.«
Sie sah Slith noch einmal an. »Deine Aufmerksamkeit hat uns beiden gute Dienste geleistet. Weiter so! Erzähl niemandem, was du entdeckt hast.«
Slith nickte und folgte dann dem mürrischen Mann, der ihm ein Zeichen gab.
Dranth, der Kronprinz der Gilde, sah dem Jungen nach und wandte sich dann an die Anführerin.
»Willst du, dass er entfernt wird?«
Esten schüttelte den Kopf, während sie die Scheibe in den Händen drehte. »Nicht, bevor wir herausgefunden haben, was das hier ist. Es wäre eine Schande, vier Jahre gute Ausbildung einfach wegzuwerfen, falls es wirklich nur ein Nahtglätter ist.«
Dranths Augenlider zuckten nervös im Lampenlicht. »Und wenn es mehr ist? Wenn es wirklich etwas ist, das wir übersehen haben, wenn es ein Überrest aus ... jener Nacht ist?«
Esten hielt die Scheibe erneut gegen das Licht. Blaue Wellen spiegelten sich in der dunklen Iris ihrer Augen wider.
»Bonnard weiß, wo der Junge schläft. Und du weißt, wo Bonnard schläft.«
Schließlich riss sie sich von dem Anblick der Scheibe los und nickte den verbliebenen Männern zu, die durch die Hintertür hinausgingen und im dunkelsten Teil des Inneren Marktes verschwanden. Alle Lampen bis auf eine waren gelöscht worden, und die Nacht hielt bereits Einzug in den Räumen der Gildenhalle, als die Männer mit Mutter Julia zurückkehrten.
Esten lächelte schief, als sie zuschaute, wie die verhutzelte Vettel das Vorzimmer der Halle betrat. Sie wirkte wie eine vertrocknete alte Pflaume, hatte einen Buckel und war in unzählige farbenfrohe Schals gewickelt, doch sie war die zweitmächtigste Frau auf dem Markt und gewohnt, jene, die Informationen von ihr haben wollten, in ihrem eigenen Nest und zu ihren eigenen Bedingungen zu empfangen. Es hellte ihre für gewöhnlich schrullige und herrische Art nicht gerade auf, mitten in der Nacht herbeigerufen und in die Tiefen des Inneren Marktes geführt zu werden, doch wie jeder andere im Reich der Diebe konnte sie sich Esten nicht widersetzen und wagte es auch nicht, Anzeichen von Verärgerung zu zeigen.
Ein falsches Lächeln, in dem etliche Zähne fehlten, legte sich über das zerfurchte Gesicht.
»Guten Abend, Gildenmeisterin. Möge das Schicksal es gut mit Euch meinen.«
»Mit dir auch, Mutter.«
»Was kann ich für Euch tun?«
Esten betrachtete das verwitterte Gesicht. Die gealterten Züge gaben eine täuschende Bühne für die hellen, flinken Augen ab, die ihren Blick erwiderten. Mutter Julia war Hellseherin von Beruf und führte ein sehr angenehmes Leben vom Geld der Narren, die bei ihr um Rat suchten. Obwohl ihre Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, nicht besser als die irgendeines beliebigen Menschen war, stellte sie doch eine Quelle meist recht zuverlässiger Informationen über die Vergangenheit und, wichtiger noch, die Gegenwart dar, die sie hauptsächlich ihrem großen Netzwerk von Spionen verdankte, welche sich sowohl in Yarim als auch in den anderen Provinzen und Ländern aufhielten und zum überwiegenden Teil aus Mitgliedern ihrer eigenen Familie bestanden. Esten wusste, dass sie nach der letzten Zählung siebzehn lebende Kinder und mehr Enkel, Vettern und angeheiratete Verwandte hatte, als Sterne am Nachthimmel standen.
Esten wusste auch, dass sie besorgt war. Das gefurchte Gesicht wirkte ruhig, doch in den dunklen Augen brannte ein nervöses Licht. Gewöhnlich schlug sich Mutter Julia beim Spiel der Informationen besser als alle anderen auf dem Markt, aber sie hatte sich zu früh preisgegeben, hatte schon beim zweiten Atemzug versucht, Esten in ihre Schuld zu zwingen. Sie wird alt, dachte die Gildenmeisterin und verschloss diese Einsicht wie alles andere tief in ihrem Innern. Sie drehte sich um und ging zum Feuer, wobei sie Mutter Julia einen offenen Blick verweigerte.
»Gar nichts, Mutter.«
Die alte Frau hustete. Es war ein schwindsüchtiger Laut voller rasselndem Schleim und Angst. »Oh?«
Esten lächelte innerlich, setzte dann eine Maske des Ernstes auf und wandte sich der alten Frau zu.
»Ich bin außerordentlich enttäuscht über dein Schweigen in einer Angelegenheit, in der ich dich um Hilfe gebeten hatte.«
Die Wahrsagerin fuhr sich mit ihrer arthritischen Hand an die Kehle. »Ich... ich habe ... habe die Zukunft sorgfältig vorhergesagt, Gildenmeisterin, und durch den... den roten Sand der Zeit geblickt, um herauszufinden ...« Ihre Worte erstarben, und sie versank in Schweigen, als Esten die Hand hob.
»Erspare mir deine Taschenspielerkunst und Effekthascherei. Ich bin keiner von den Narren, die so etwas von dir verlangen. Du hattest mehr als drei Jahre Zeit, um mir eine Antwort auf eine einfache Frage zu geben, Mutter: Wer hat meinen Tunnel zerstört, meine Sklaven gestohlen und meine Gesellen getötet? Wer hat mir das schlafende Wasser der Entudenin aus den Händen genommen, Yarim verdurstend zurückgelassen und mich des Reichtums und der Macht beraubt, die es mir gebracht hätte? Es hätte einfach sein sollen, wenigstens eine Spur zu finden, doch du hast mir nichts geliefert – rein gar nichts.«
»Ich schwöre Euch, Gildenmeisterin, ich habe eifrig gesucht, eine Nacht nach der anderen, aber es gibt keine Spuren!«, stammelte die Alte mit schwankender Stimme. »Niemand in Yarim weiß etwas. Außerhalb des Marktes weiß ja nicht einmal jemand etwas von dem Tunnel. Die Zerstörung muss das Werk böser Götter gewesen sein – wie, außer durch die Hand eines Dämons, könnte all der Lehm zu hartem Ton gebrannt worden sein, wo doch all Eure Öfen zusammen das nicht hätten vollbringen können?«
Eine nur verschwommen wahrgenommene Bewegung reichte aus, und Estens Augen befanden sich nur noch einen Hauch von denen der Alten entfernt. Sie hatte eine gleißende Klinge in der Hand, die so fest gegen Mutter Julias Kehle drückte, dass winzige Blutstropfen bei jedem nervösen Zittern in die Luft spritzten.
»Du alte Närrin«, brummte Esten mit leiser Stimme. »Götter? Ist das alles, was du mir nach dieser langen Zeit zu bieten hast?« Sie schlug heftig und verächtlich zu und drückte Mutter Julia gegen den Tisch hinter ihr, an dem sie mit einem Schmerzensseufzer zusammenbrach. »Es gibt keine Götter, Mutter Julia, und keine Dämonen. Ein Scharlatan wie du, der den Dummen die Münzen für farbigen Rauch und körperlose Stimmen aus der Tasche zieht, sollte das doch am besten wissen, denn wenn es sie gäbe, würdest du schon in der Gruft der Unterwelt schmoren.«
»Nein, nein«, jammerte die Frau und versuchte aufzustehen, doch es gelang ihr nur, die Tischplatte zu umfassen, bevor sie wieder auf den schmutzigen Boden fiel. »Ich bete den All-Gott an, den Schöpfer, der mich gemacht hat.« Sie vollführte mit zitternden Armen ein Zeichen über Herz und Ohren. Esten seufzte. Sie ging hinüber zu der Stelle, wo die Frau auf dem Boden hockte, packte sie am Arm und drückte sie auf einen Stuhl.
»Die Götter machen uns nicht, Mutter Julia. Wir machen die Götter. Wenn du das verstündest, wärst du eine viel mächtigere und höher geachtete Frau, statt nur eine pathetische Betrügerin zu sein, die die Leichtgläubigen beschwindelt und mit Manwyns Narreteien wetteifert.«
Als die alte Frau den Namen des Orakels der Zukunft hörte, machte sie wieder das Zeichen und riss die Augen vor Schreck weit auf. »Beschwört sie nicht«, flüsterte sie. »Bitte, Gildenmeisterin.«
Esten schnaubte verächtlich. »Zu spät. Nur Manwyn sieht die Zukunft. Sie wusste, was du hören würdest, noch bevor ich es aussprach, doch jetzt kann sie sich nicht mehr daran erinnern.« Sie hockte sich vor die entsetzte Wahrsagerin und bewegte sich langsam und berechnend wie eine Spinne, die auf ihr Opfer zukriecht. »Sie weiß nur, was vor dir liegt.« Sie neigte den Kopf; ihre dunklen Augen glänzten. »Glaubst du, sie hat Angst um dich?«
»Bitte...«
»Bitte? Bittest du mich jetzt um einen Gefallen?« Esten lehnte sich weiter vor; ihre Glieder bewegten sich in einem tödlichen Tanz. »Hast du geglaubt, du hättest unbegrenzt Zeit? Hast du geglaubt, meine Geduld sei grenzenlos? Dann bist du ein noch größerer Narr als dieses Gewürm, das dich aufsucht, um Antworten auf seine unbedeutenden Fragen zu erhalten.« Sie hielt um Haaresbreite vor der zitternden Alten inne, und das Glimmen in ihren Augen wurde härter; es war wie Lehm, der im Ofen zu Keramik brennt.
»Ich benutze dich, weil dein Netzwerk – deine lepröse Familie – so viele Augen hat«, sagte sie mit fester, leiser und tödlich harter Stimme. »Offenbar sind diese hunderte von Augen blind, wenn sie in den drei Jahren keine Spur finden konnten, oder etwa nicht, Mutter?« Ein erschreckendes Lächeln breitete sich langsam auf ihrem zarten Gesicht aus. »Vielleicht brauchen sie diese Augen nicht mehr.«
Sie wandte sich an den Kronprinzen Dranth: »Gib den Befehl an die Rabengilde heraus, dass jedem Mitglied der Familie dieser einfältigen Frau die Augen herauszureißen sind, sobald man ihm begegnet, eingeschlossen die verfluchten Enkel, die durch die Straßen streichen, den Unrat vermehren und die Luft atmen, die all jenen vorbehalten ist, welche von wirklichem Wert sind.«
»Gnade«, flüsterte die alte Frau und krallte die arthritischen Hände ineinander. »Bitte, Gildenmeisterin, ich flehe Euch an...«
Esten entfernte sich ein wenig von ihr und betrachtete Mutter Julia, deren Gesicht grau und schweißüberströmt war.
»Gnade? Nun, ich vermute, ich kann deine Bitte überdenken und dir eine letzte Gelegenheit geben, deine bedauernswerte Familie zu retten. Doch wenn ich das tue und du schon wieder versagst, wird die ganze Welt deinen Klan als Missgeburten ansehen, weil all das, was an ihren Köpfen nutzlos ist -
Augen, Ohren und Zunge -, ihnen genommen und in die Gassen geworfen wird, damit sich meine Hunde daran mästen können. Haben wir uns verstanden, Mutter?«
Die Alte konnte nur schwach nicken.
»Gut.«
Esten zog aus ihren Kleidern das Lumpenbündel hervor, das Slith ihr gegeben hatte. Mit großer Vorsicht entfernte sie die Stoffschichten und enthüllte den blau-schwarzen Stahl der hauchdünnen Scheibe. Sie leuchtete in dem unbeständigen Licht der Lampen.
»Weißt du, was das ist?«
Mutter Julia schüttelte den Kopf.
Esten seufzte. »Betrachte sie genau, Mutter Julia. Gebrauche deine Augen vielleicht zum letzten Mal. Ich will, dass innerhalb dieses Mondzirkels dein ganzer Klan, so weit dein Einfluss reicht, nach dem Ursprung dieses Gegenstands sucht. Und was noch wichtiger ist: Ich will wissen, wem er gehört. Wenn du mir diese Informationen bringst, werde ich euch weiter unter meinen Schutz stellen. Wenn nicht...«
»Ich werde nicht versagen«, sagte die Alte leise. »Vielen Dank, Gildenmeisterin.«
Esten streichelte sanft die verrunzelte Wange der Frau. »Das weiß ich, Mutter.« Sie holte zwischen den Falten ihres Hosenstoffs eine Goldmünze mit dem aufgeprägten Kopf des cymrischen Herrschers auf der einen Seite und dem Wappen des Bündnisses auf der anderen hervor. »Gib diese Goldkrone deinem neugeborenen Enkel. Wie heißt er noch gleich?«
»Ignacio.«
»Ignacio – welch ein schöner Name. Gib es bitte Ignacios Mutter für ihn und übermittle ihr meine besten Wünsche zu seiner Geburt.«
Die alte Frau nickte zitternd, als zwei von Estens Männern sie bei den Armen nahmen und auf die Beine stellten.
»Kümmert euch bitte darum, dass Mutter Julia sicher nach Hause kommt«, befahl Esten ihnen, während sie die Alte zur Tür führten. »Ich möchte nicht, dass dieser armen Dame etwas Unvorhergesehenes zustößt.«
Sie wartete, bis die Tür wieder fest geschlossen war, setzte sich dann vor die Lampe und beobachtete die wässerigen Muster der leichten Kräuselungen, die über die glatte Oberfläche der Scheibe und den rasiermesserscharfen Rand liefen wie helle Wellen über eine leuchtende Klippe in das dunkle Meer.
Bald, dachte sie. Ich werde dich bald gefunden haben.
Gasverberger, Lichtungskenner
Kurh-fa
Auch wenn ihn einmal das königliche Gespür verließ, das ihm alle Bewegungen und Veränderungen im Gebirge kundtat, hatte Achmed doch immer gewusst, wann Grunthor in den Kessel zurückgekehrt war.
Vor Jahrhunderten, im alten Leben, hatte Achmed einen Fjord in der Nähe des Feuerriffs überquert, eine schmale Bucht mit schäumenden Strömungen zwischen hoch aufragenden schwarzen Basaltklippen. In den dichten Wäldern oberhalb dieser Klippen, die voller wildem Leben, aber von Menschen unbewohnt waren, lebten Feuerwürmer, gigantische drachenähnliche Tiere mit einer Chamäleonhaften Haut, die der Legende nach aus lebendiger Lava bestanden und Zähne aus Schwefel hatten. Diese Schlangen schliefen die meiste Zeit, aber wenn sie auf die Jagd gingen, krochen sie recht leise durch das Unterholz; er hatte jedoch immer bemerkt, wenn sie sich näherten, denn dann verschwanden alle Tiere in der Umgebung. Die unablässigen Vogelgesänge, die sonst über seine überempfindliche Haut liefen, endeten plötzlich, als halte der Wald den Atem an und hoffe, die Jäger würden vorüberziehen.
Genauso war es in Ylorc, wenn Grunthor zurückkehrte.
Achmed hatte nie genau sagen können, wie es dem Sergeant-Major gelang, solch tiefe Furcht in den Herzen der Firbolg-Soldaten unter seinem Kommando zu erregen, doch was immer es war, er hatte es nur ein einziges Mal anwenden müssen.
Von dem Augenblick an, da man ihn sichtete, wurde in den Korridoren und auf den Bergpässen Habt-Acht-Stellung eingenommen, auch wenn Grunthor noch drei oder vier Meilen entfernt war. Alle Narreteien wurden eingestellt, die Uniformen angezogen und das Benehmen umgestellt. Die Firbolg spürten sein Herannahen aus großer Entfernung wie die Vögel und Tiere des Fjords, die sich vor den Feuerwürmern versteckten, und wie sie unternahmen sie große Anstrengungen, seine Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken.
Trotz der offensichtlichen Angst vor dem Kommandanten, die er beständig hegte und pflegte, war das Firbolg-Heer Grunthor in einer Weise ergeben, wie es bei den Bolg bisher nie vorgekommen war. Für Achmed war es eine Quelle der Erheiterung zu sehen, wie die primitiven Nomaden, die er, Grunthor und Rhapsody hier vorgefunden hatten, in kaum mehr als vier Jahren wie die Soldaten aus Roland, Sorbold oder Tyrian gelernt hatten, stramm Wache zu stehen. In Taktik und Waffengebrauch waren sie sogar noch besser ausgebildet; solche Fähigkeiten konnte man nur bedingt durch Übung erwerben. Zum größten Teil sprossen sie aus reiner Loyalität.
Grunthors drohende Ankunft an diesem Tag aber schien mehr als die übliche Besorgnis zu erregen. Die Firbolg-Soldaten nahmen nicht ihre gewohnten Stellungen ein, sondern stoben vor den Spähern davon, die seine Ankunft mitteilten.
Das bedeutete nichts Gutes. Was mochte Grunthor bei seiner Grenzpatrouille entdeckt haben? Einige Augenblicke später wurde Achmeds Vorahnung bestätigt. Vom Rand der Steppe, die bis zum Vorgebirge der Manteiden reichte – wie die Zahnfelsen offiziell von den Kartographen genannt wurden -, kam eine Gruppe von acht Reitern herangeprescht; ein gewaltiges Kriegspferd hatte die Führung übernommen. Mit seiner außergewöhnlichen Wahrnehmungsgabe erkannte Achmed den Sergeant-Major, hinter dessen Rücken die vielen Griffe seiner gesammelten Waffen hervorragten. Er trieb Felssturz, sein Pferd, heftig an, erreichte die Befestigungen und preschte durch die Tore der jüngst aufgetürmten Mauern aus gebrannten Ziegeln und Erdpech.
Der Bolg-König lief hinüber zum Quartiermeister, der bereit stand, um das Pferd des Sergeanten zu übernehmen, und wartete.
Der Boden unter seinen Füßen bebte Unheil verkündend, als die Gruppe eintraf. Der Staub stieg unter ihnen auf wie Rauch aus auflodernden Feuern. In Grunthors Augen lag ein Blick, den Achmed sogar aus der Ferne erkennen konnte und der ihm gar nicht gefiel. Diese bernsteinfarbenen Augen hatten so viel Vernichtung und Tod gesehen, hatten menschlichen und dämonischen Feinden gegenübergestanden und immer ihren festen Blick behalten. Doch nun drückten sie Verwirrung aus, was bei Grunthor mehr als ungewöhnlich war.
»Was ist geschehen?«, rief Achmed in den Bergwind, als der Sergeant sein Tier zum Stehen brachte und die Zügel dem Quartiermeister zuwarf.
Der riesige Bolg starrte auf den König herunter und schüttelte den Kopf. »Wollte dir grade dieselbe Frage stellen«, sagte er, während er sich vom Pferd schwang. »Hatte schon fast erwartet, hier alles in Flammen stehen zu sehn.« Er saß mit einem Erderschütternden Donnern ab.
Achmed sah ihn stumm an, bis der Quartiermeister das Kriegspferd weggeführt hatte. »Was hat dich so aufgeregt?«
Grunthor beugte sich vor und berührte mit der Hand ehrerbietig den Boden. Die Erde, mit der er durch ein elementares Band verknüpft war, jammerte nicht länger vor Angst, sondern war wieder ruhig.
»Auf dem Pass stimmte was nicht – was Schlimmes«, murmelte er und fuhr mit den dicken Fingern durch den Staub und die Kiesel auf dem Boden.
Der Bolg-König sah schweigend zu, wie sich der Sergeant erhob, mehrfach um die eigene Achse drehte und dann mit den Schultern zuckte.
»Als ob da plötzlich ’n Riss oder so was wie ’ne Höhlung gewesen wäre«, sagte er wie zu sich selbst.
»Kann’s nich’ besser erklären. Als ob die Erde verbluten würde.«
»Ist es noch da?«
Der Riese schüttelte den Kopf. »Nee. Jetzt ist alles ruhig.«
Achmed nickte. »Hast du eine Ahnung, was es gewesen sein könnte?«
Grunthor sog die Luft ein und stieß sie langsam wieder aus. Dabei spürte er den Herzschlag der Erde in seinem Blut. Die Verbindung mit diesem Element war zustande gekommen, als er, Achmed und Rhapsody aus ihrer dem Untergang geweihten Heimat hatten fliehen und durch die Tiefen der Welt entlang den Wurzeln der Sagia, des Weltenbaumes, hatten kriechen müssen. Im Verlauf dieser scheinbar endlosen Reise durch die Zeit hatte er den uralten Rhythmus der Erde in sich aufgenommen und die Geheimnisse eingeatmet, die in ihren Tiefen verborgen lagen. Er hatte sie durch und durch kennen gelernt, auch wenn er dem, was er in jener Zeit gelernt hatte, keinen Ausdruck verleihen konnte.
Grunthor, stark und verlässlich wie die Erde selbst, hatte Rhapsody ihn genannt, kurz nachdem sie durch das reinigende Feuer im Herzen der Erde geschritten waren. Dieser Name hatte das Band zwischen ihm und dem Element geknüpft. Sich über der Erde aufzuhalten verschaffte ihm ein gewisses Gefühl der Verlorenheit, weil er fern der tröstenden Wärme seines Elements war. Daher hatte die Wunde der Erde in seiner Seele widergehallt, was immer die Verletzung auch herbeigeführt haben mochte. Nun hatte er Angst – ein Gefühl, das er in seinem Leben selten verspürt hatte. Er schüttelte wieder den Kopf. »Nee.«
Achmed schaute durch das Tor über die Zinnen hinweg auf die Steppe dahinter. Die Morgendämmerung kam heran und hüllte die Welt in kaltes Licht. Der Wind peitschte über die wüste Ebene, und das Gras bog sich in Demut. Undurchbrochene Wellen von Vegetation verbargen ein Bollwerk aus versteckten Zinnen, Gräben und Tunneln, welche die erste Verteidigungslinie der Firbolg bildeten. Es lag etwas Bedrohliches in der Luft.
Als er den Blick abwandte, schaute er in Grunthors Augen. Zwischen den beiden Männern flog ein unausgesprochener Gedanke hin und her.
Gemeinsam eilten sie in den Kessel.
Achmed untersuchte sorgfältig den Korridor vor seiner Schlafkammer, bevor er die Tür versperrte. Er nickte Grunthor zu, der vorsichtig die komplizierten Schlösser an der schweren Truhe vor dem Bett des Bolg-Königs öffnete. Dann hob er den Deckel an und enthüllte ein dunkles Portal. Er kletterte in die Truhe, und einen Atemzug später folgte ihm Achmed, der den Deckel hinter sich schloss. Schweigend gingen sie durch den dunklen Korridor; die grob behauenen Basaltwände schluckten das Geräusch ihrer Schritte. Die Luft der Oberwelt, die klar von der relativen Frische des Morgens gewesen war, wurde umso stickiger und feuchter, je tiefer sie in den Berg eindrangen. Das Atmen bereitete ihnen immer größere Schwierigkeiten. Der schwere Geruch von Zerstörung, die rauchgeschwängerte Luft waren auch nach drei Jahren noch nicht verschwunden. Das Feuer, das tief in den Eingeweiden des Berges getobt hatte, war schon lange erloschen, hatte aber beißenden Ruß und bitteren Staub hinterlassen, der in Augen und Lunge brannte.
Keiner der beiden Bolg sprach ein Wort, als sie den Tunnel durchschritten, den Grunthor zum Loritorium gegraben hatte. Gespenster steckten in diesen Gängen, Geister von Menschen und Träumen, die beide einen schrecklichen Tod erlitten hatten. Sie richteten ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, den Fallen auszuweichen, die Grunthor aufgestellt hatte und die den Tunnel versiegelten, falls jemand anderes als sie beide oder Rhapsody eindringen sollte, die einmal im Jahr hierher kam und sich um das Kind kümmerte.
Tief im Innern des Berges, am Ende des Tunnels, erhob sich drohend ein Geröllhaufen in der Dunkelheit, der als Bollwerk und letzte Barriere vor dem Loritorium diente. Achmed blieb kurz stehen und wartete darauf, dass Grunthor einen Durchgang durch den Schutt schuf.
Während er wartete, schaute er hoch zur Decke, die sich in der Finsternis bis zur Kuppel des Loritoriums erstreckte. Wenn er diesen Ort sah, musste er unweigerlich an den traurigen Verlust denken, an den Untergang dessen, was einst ein Meisterwerk gewesen war, eine tief im Berg verborgene Stadt der Gelehrsamkeit, einst ein leuchtendes Beispiel für das Genie Gwylliams, des cymrischen Königs, der Canrif und die umliegenden Lande vor vielen Jahrhunderten begründet hatte. Nun war all das nur mehr ein Sinnbild für die Vernichtung, die eintritt, wenn die Vision dem Ehrgeiz und der Ehrgeiz dem gierigen Hunger nach Macht Platz machen muss.
Verdammt, dachte er. Wut versengte ihm die Kehle. Ich kann nur das wieder aufbauen, was dieser Narr zerstört hat.
Kaum hatte sich der Gedanke gebildet, verschwand er bereits wieder. Es gab kein Ende der Bauarbeiten in diesen Bergen, denn schließlich war nicht die Vollendung, sondern der Prozess des Bauens der Sinn des Ganzen. Die Erneuerung von Canrif und die zusätzlichen Projekte wurden allesamt aus einem einzigen Beweggrund unternommen: um des Aufbaus der Bolg willen, der unbekannten Rasse seines Vaters, die von primitiven, halb menschlichen Höhlenbewohnern zu einer richtigen Gesellschaft heranwachsen sollten – natürlich zu einer derben kriegerischen Gesellschaft, doch immerhin zu einer Kultur mit Wert, zu einem wesentlichen Beitrag der Geschichte. Und er hatte eine unendliche Lebensspanne zur Verfügung, um das zu bewirken. Wie sonst sollte er die Ewigkeit verbringen?
Aber nicht dieser Ort, dachte er. Niemals dieser Ort. Er bleibt, wie er ist: ungestört. Er untersuchte die verborgenen Einrichtungen, die die Heiligkeit dieses Ortes bewahren würden, falls ihnen beiden etwas zustoßen sollte, und dachte über die Geräte nach, die ihrem Herzschlag und ihren inneren Schwingungen angepasst waren und den Tunnel im Fall eines unerlaubten Eindringens versiegeln würden.
Wenn Grunthor stürbe, müsste ich eine ganze Schar von Arbeitern herführen, damit sie den Tunnel öffnen und säubern, und sie danach töten, dachte er. Welch eine schreckliche Verschwendung von Lebenskraft.
Ein orange-roter Schimmer fesselte seinen Blick. Er drehte sich um und sah, dass die Wand aus Schiefer und Staub um Grunthors ausgestreckte Hände wie geschmolzene Lava glimmerte und sich ein Eingang in den Berg öffnete. Es war ein Tunnel mit Wänden so glatt wie Glas. Achmed schüttelte seine Gedanken ab und folgte dem Bolg-Riesen durch die Öffnung.
Auf der anderen Seite des Hügels befanden sich die Überreste des Loritoriums, die nun unter völliger Stille lagen. Ein schwacher Dunst aus altem Rauch schlängelte sich unter die Kuppeldecke, aufgewirbelt vielleicht durch die Schwingungen ihrer Bewegungen und das Eindringen von Luft aus der oberen Welt.
Im Mittelpunkt der Überbleibsel des alten Hofes stand der Altar aus Lebendigem Gestein. Er schien unberührt zu sein. Das Schlafende Kind, das aus derselben elementaren Erde gebildet war, lag mit dem Rücken darauf.
Achmed und Grunthor näherten sich still dem Altar und achteten sorgfältig darauf, das Erdenkind nicht zu stören. Über der Kammer, in der es vor deren Zerstörung geruht hatte, war in großen Buchstaben die folgende Warnung angebracht gewesen:
LASS DAS, WAS IN DER ERDE SCHLÄFT,
UNGESTÖRT RUHEN, SEIN ERWACHEN KÜNDET VON EWIGER NACHT
Die beiden Bolg hatten diese Warnung immer beachtet, denn sie hatten bei ihrer Reise durch den Mittelpunkt der Erde mit eigenen Augen die Bedrohung gesehen, auf welche die Zeilen sich bezogen. Sie war weitaus tödlicher als das Schlafende Kind.
Das Kind lag immer noch so da, wie sie es beim ersten Mal angetroffen hatten; die Augen waren in ewigem Schlummer geschlossen. Wie der Altar, auf dem es schlief, so war auch seine Haut eine polierte, durchscheinende graue Oberfläche, unter der die purpurnen, grünen, dunkelroten, braunen und zinnoberroten Venen zu sehen waren. Der Körper war so groß wie der eines Erwachsenen und schien nicht zu dem süßen, jungen Gesicht zu passen, einem Gesicht mit Zügen, die zugleich hart und lieblich waren – roh behauen und sanft geglättet. Es sah aus wie die lebende Statue eines menschlichen Kindes, gemeißelt von einem Wesen, das nie einen Menschen aus der Nähe gesehen und keinen Sinn für Perspektive hatte.
Das Haar des Kindes war lang und rau, grün wie Frühlingsgras und passte zu den Wimpern. Diese Wimpern zuckten bisweilen, doch die Lider blieben geschlossen, genau wie die schweren Lippen. Die beiden Bolg seufzten. Unausgesprochene Erleichterung zeichnete sich in ihrer Haltung ab. Sie näherten sich dem Altar.
»Sieht sie nich vielleicht... kleiner aus?«, fragte Grunthor nach langem Schweigen. Achmed blinzelte und betrachtete eingehend die Umrisse auf dem Altar. Es gab keine Anzeichen dafür, dass ihr Körper an Größe verloren hatte, dennoch hatte sich etwas verändert. Es war eine Zerbrechlichkeit um sie, die er nicht festmachen konnte und die ihm nicht gefiel. Schließlich zuckte er die Achseln. Grunthor verschränkte die Arme vor der Brust und schaute das Erdenkind aufmerksam an. Auch er zuckte die Schultern.
»Ich mein, sie hat was verloren, aber es kann nur wenig sein«, sagte er und runzelte sorgenvoll die riesige Stirn. Er legte die Decke aus Eiderdaunen, auf der das Kind ruhte, fest um dessen Körper und liebkoste dabei sanft seine Hand.
»Mach dir keine Sorgen, Kleines«, sagte er leise. »Wir hol’n dich zurück.«
»Es sieht doch nicht krank oder verletzt aus?«
»Nee.«
Achmed seufzte. Grunthors Beschreibung der Wunde, die er in der Erde gespürt hatte, machte ihn nervös und hatte in ihm die Befürchtung ausgelöst, das Erdenkind könne berührt oder verletzt worden sein – oder Schlimmeres. Es war eine immerwährende Sorge. Dieses Mädchen war nach seinem Wissen das letzte lebende Erdenkind; ein Wesen, das vor langer Zeit aus dem reinen Element gebildet und von einem unbekannten Drachen ins Leben gerufen worden war.
Eine der Rippen seines Körpers war ein lebender Steinschlüssel, der die Gruft der Unterwelt öffnete, in der vor aller Zeit die F’dor, die Dämonen des elementaren Feuers, eingesperrt worden waren. Die Dhrakier, die Rasse von Achmeds Mutter, hatten einen Bluteid geleistet, diese Gruft zu bewachen, damit die F’dor für alle Zeiten weggesperrt blieben, und jeden, der trotzdem entkommen konnte, zu jagen und zu erlegen. Genauso bestand die endlose Suche der oberweltlichen F’dor darin, einen Weg zu finden, ihre Brüder aus der Gruft zu befreien und Chaos und Zerstörung über die Welt zu bringen, wonach sie, die Kinder des Feuers, sich so sehr verzehrten. Das Erdenkind war also der Katalysator, der eine Ereigniskette in Gang setzen konnte, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Das Schicksal der Erde hing von seiner Sicherheit ab, und Achmed hatte als ewiger Wächter geschworen, sich darum zu kümmern, dass das Kind unverletzt blieb, versteckt für alle Zeiten in dieser dunklen Gruft, die einst eine glänzende Stätte der Gelehrsamkeit und Weisheit gewesen war.
Es war ein geringer, aber kein leicht zu zahlender Preis.
»Schlafe in Frieden«, sagte er ruhig zu dem Erdenkind und nickte dann in Richtung des Durchgangs. Als sie den Tunnel durchquerten, den Grunthor in der Gerölllawine geöffnet hatte, schaute Achmed ein letztes Mal hoch zur Kuppel, die sich über der Schwärze des Loritoriums wölbte. Sie schien unbeschädigt zu sein. Er warf einen Blick zurück zu dem Altar aus Lebendigem Gestein. Das Erdenkind schlummerte weiter, anscheinend war es sich der Welt um es herum und der möglichen Bedrohung nicht bewusst.
Der Firbolg-König betrachtete es einen Augenblick lang, dann wandte er sich ab und ging vor Grunthor zurück durch den Tunnel; seine schwarze Robe umwisperte ihn. Der Bolg-Riese verschloss das Loch in den Steinen hinter ihnen.
»Was glaubst du – wieso hat die Erde so geschrien?«, fragte der Sergeant und warf einen letzten Blick über die Schulter, bevor er dem König durch den Korridor folgte.
»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Achmed. Seine Stimme hallte seltsam von den unregelmäßigen Wänden des ansteigenden Tunnels wider. »Ansonsten können wir kaum etwas tun, als uns vorbereiten, denn früher oder später wird es mich finden, um was es sich auch immer handeln mag. Komm, wir gehen von der einen Ruine zur anderen.« Grunthor nickte und schloss zu ihm auf. Den Rest des Weges zur Oberwelt legten sie in kameradschaftlichem Schweigen zurück.
Sie hatten bereits die Hälfte des Rückweges hinter sich gebracht; daher konnten sie nicht sehen, wie in der Dunkelheit der Begräbniskammer eine einzelne sandige Träne am Gesicht des Erdenkindes herablief.
Grunthor trat behutsam über die verstreuten Scherben farbigen Glases und schaute hoch zur dünnen Kuppel, die in den Gipfel des Gurgus, was auf Bolgisch Klaue hieß, eingelassen war. Auf den Gerüsten, welche die Wände umringten, war es nun still. Die Handwerker waren fort und hatten ihn und den König allein zurückgelassen.
Und einen beständig anwachsenden Haufen aus zerbrochenem Glas.
»Geht wohl nicht allzu gut voran, was?«, meinte Grunthor gutmütig und trat den Abfall beiseite. Er bückte sich und hob ein zerknittertes Stück Pergament auf, das unter den Scherben gelegen hatte und alle Anzeichen eines architektonischen Plans trug.
»Schlage es nicht auf«, riet Achmed ihm säuerlich. »Es ist voller Spucke. In der letzten Woche habe ich nach einem besonders schwierigen Tag jedermann ermuntert, sein Glück daran zu versuchen. Du solltest dich auch von den übrigen Papierknäueln fern halten. Mit fortschreitender Zeit haben die Körperflüssigkeiten darauf immer deutlicher unseren Fortschritt – oder eher dessen Gegenteil – widergespiegelt. Du kannst dir also vorstellen, womit es geendet ist.«
Grunthor grinste; seine säuberlich polierten Hauer glänzten in dem schwachen Licht. Er warf das Pergament zurück auf den Haufen.
»Warum machst du dich so verrückt damit?«, fragte er; sein Tonfall war sowohl leicht als auch ernst.
»Wenn du wirklich den Eindruck hast, du musst dich bis zum Wahnsinn ärgern, warum schickst du dann nicht einfach nach der Herzogin? Sie hat doch normalerweise denselben Effekt auf dich, und sie ist billiger als die Restaurierung einer Kuppel in einem Berg, wenigstens wenn du sie stundenweise bezahlst.«
Achmed grinste. »Wir sollten die schmuddelige Vergangenheit unserer cymrischen Herrscherin besser nicht zur Sprache bringen. Wir werden sie bald genug sehen. Ich habe letzte Nacht durch einen geflügelten Boten von ihr gehört. Sie will uns in vier Wochen in Yarim treffen.«
»Oh, gut«, erwiderte der Riese und schaute wieder den Turm hinauf. »Und was jetzt?«
»Sie will unsere Hilfe – deine Hilfe, um genau zu sein – bei der Wiederbelebung der Entudenin, dieses toten Geysir-Obelisken.«
Grunthor nickte und schob die farbigen Glasscherben mit der Stiefelspitze zusammen.
»Hab ihr schon vor langer Zeit gesagt, das ist möglicherweise ’ne Blockierung irgendwo in den Gesteinsschichten. Glaubt sie’s jetzt auch und will uns bohren lassen?«
»Anscheinend.«
»Und du willst alles liegen und stehen lassen und ihr zu Hilfe eilen?«
Achmed zuckte die Achseln und ging dann zurück zu dem Haufen aus farbigem Abfall. Der Riese hob eine Augenbraue, sagte aber nichts, sondern richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Turm.
Als Gwylliam Canrif gründete, schien er eine Vorliebe für das Aushöhlen von Berggipfeln gehabt zu haben. Die Zahnfelsen waren voll damit – zerklüftete Spitzen, die sich bis in die Wolken erhoben, vielfarbig, bedrohlich, dunkel vor Schönheit und Geheimnis. Für den überheblichen cymrischen König mussten sie eine Herausforderung dargestellt haben, denn er verbrachte viel Zeit damit, sie äußerlich zu verstärken, während er die inneren Gesteinsschichten abraspelte und sie mit nutzlosen Räumen und großartigen Kuppeln füllte. Der erdverbundene Grunthor empfand dies als abstoßend, ja sogar als Vergewaltigung. Als er, Achmed und Rhapsody nach Ylorc gekommen waren, hatten sie im westlichen Gipfelmassiv des Griwen einen verfallenen Wachtturm entdeckt und restauriert, der neben einer Festung und Kasernen stand, die mehr als zweitausend Bolg-Soldaten beherbergt hatten. Über der großen Halle hatten sie ein gewaltiges Observatorium gefunden, von dem aus man die Krevensfelder außer nach Osten in alle Richtungen dreißig Meilen weit überblicken konnte.
Als Soldat verstand er die Notwendigkeit all dieser Renovierungsarbeiten. Er konnte sich auch mit der Wiedererrichtung der Städte im Bergesinnern und der Restaurierung der Statuen und Kunstwerke abfinden, auch wenn er dafür wenig Verständnis hatte. Aber keines dieser Projekte schien so wichtig zu sein und hatte schon so viel Ärger verursacht wie das gegenwärtige Unternehmen des Bolg-Königs. Er konnte es beim besten Willen nicht begreifen.
Der Sergeant blinzelte, als er zur Spitze des verfallenen Turmes schaute und herauszufinden versuchte, was so Besonderes an diesem cymrischen Artefakt, dieser ausgehöhlten Bergspitze war, dass sie Achmeds Aufmerksamkeit derart gefangen nahm. Jedes Mal, wenn er von einem Manöver zurückkam, war die Stimmung des Königs düsterer. Inzwischen hatte sie ungefähr die Farbe von Pech angenommen.
In den Bolglanden gab es endlose Möglichkeiten für Restaurierungsarbeiten. Es war früher einmal beinahe ein ganzes Land gewesen, ein Siedlungsort vieler Völker, die sich in die schützenden Arme der Berge zurückgezogen und sowohl in der Erde als auch oberirdisch hinter der Schlucht gelebt hatten. Hier waren dreihundert ungestörte Jahre lang die größten Geister ihrer Zeit zu Hause gewesen; alle Arten von Wissenschaft und Kunst hatten unbelästigt Wachstum und Gedeih gefunden. Selbst die folgenden siebenhundert Jahre Krieg hatten die mechanischen Errungenschaften und architektonischen Wunder nicht vollends zerstören können. Außerdem, so dachte Grunthor, hatte Achmed doch alle Zeit der Welt für die Aufbauarbeiten.
Alle Zeit der Welt.
»Was ist an diesem Ding dran, dass es dich so aus dem Häuschen bringt?«, fragte er schließlich und deutete auf den Turm. »Ich glaub, es ist ’ne gute Idee, wenn wir uns nach Yarim aufmachen, damit du von hier fortkommst. Das hier knechtet deinen Verstand zu sehr. Du siehst richtig schrecklich aus.«
»Ich bin ein Dhrakier. Ich sehe immer richtig schrecklich aus.«
»Noch schrecklicher als sonst.«
»Kannst du das trotz der Schleier sehen?«
»Ja. Deine Augen sind ganz gelb und rot. Hab schon geglaubt, du wärst zum F’dor geworden, während ich weg war.«
»Das wäre doch interessant: ein dhrakischer F’dor. Ich frage mich, was geschehen würde, wenn ein Dämon in mich zu dringen versuchte. Ich vermute, ich würde mich entweder auflösen oder explodieren, denn unsere beiden Rassen sind zu gegensätzlich. Eigentlich wäre es einen Versuch wert. Wenigstens würde ich dann einen von ihnen mitnehmen. Doch nein, ich bin nicht besessen; wir haben hier bloß immer nur Misserfolg gehabt. Die gewölbte Decke widersetzt sich mir, und ich hasse es, wenn Glas sich mir widersetzt.« Achmed seufzte und bückte sich. Mit der behandschuhten Rechten fuhr er durch den farbigen Sand und die Scherben. »Omet sagt, wir müssen einen Glaskünstler mit viel größerer Erfahrung finden, einen verbrieften Meister.«
»Na, er muss es wissen.«
»Ja, und er hat sogar zugegeben, dass Yarim der Ort ist, wo wir einen finden können.«
Grunthor stieß einen Pfiff aus. »Er muss ja richtig verzweifelt sein.«
»Oder er weiß, dass ich es bin.« Die beiden Freunde tauschten ein Lächeln aus. Omets Angst vor Yarim und sein Widerstreben, diesen Ort auch nur zu erwähnen, hatten in den letzten drei Jahren für viele unterhaltsame Momente gesorgt. Für die Bolg war es eine Quelle der Belustigung zu sehen, wie ein ruhiger junger Mann, der in Frieden unter ihnen lebte und immer eine schlagfertige Antwort auf der Zunge hatte, bei jeder Erwähnung der Provinz sofort verstummte, blass wurde und regelrecht zitterte. Die Gildenmeisterin, für die er dort gearbeitet und deren Name er nur ein einziges Mal erwähnt hatte, musste schrecklich sein. Als Omet noch ein junger, kahlköpfiger Mann gewesen war, den sie aus der Ziegelbrennerei gerettet hatten, hatte er ihnen zugeflüstert, dass es keine reinere Form des Bösen gebe.
Aber natürlich hatte Omet nichts von der Welt gesehen. Achmed wusste, dass das Böse eine ganze Reihe von reineren Formen annehmen konnte, wie furchtbar die Gildenmeisterin auch sein mochte. Er war etlichen von ihnen persönlich begegnet.
»Ich vermute, das heißt, wir gehen dorthin«, sagte Grunthor.
»Ja, es sei denn, du hast keine Zeit dafür.«
»Nee«, sagte der Riese, trat über den Abfallhaufen und stellte sich unmittelbar unter den Turm.
»Hagraith und die anderen kommen schon klar, wenn ich kurz weg bin. Wird schön sein, die Herzogin wiederzusehen, ist schon so lange her.«
»Allerdings«, pflichtete Achmed ihm bei.
»Ist das wirklich der Grund, warum du gehen willst?«, fragte Grunthor und vermied es, dem König in die Augen zu sehen. »Bisher ist es fast unmöglich gewesen, dich von diesem Glasprojekt loszueisen.«
Achmed atmete flach, ging zum Tisch des Konstruktionszeichners und holte aus einer Schachtel darunter eine Lage alter, knitteriger Pergamentblätter hervor.
»Das sind die Pläne, die ich für diesen Ort gefunden habe«, sagte er mit leiser Stimme, als spräche er zu sich selbst. »Sie sind unvollständig, an manchen Stellen unleserlich und in einem Code oder einer alten Schrift verfasst. Die grundsätzlichen Zeichnungen verstehe ich, aber es fehlt so vieles, das ich weder in Gwylliams Bibliothek noch in der Gruft gefunden habe. Ich weiß, dass die Kuppel aus farbigem Glas bestehen soll – das steht in Gwylliams Aufzeichnungen, und es gab sieben Glasblöcke in der Gruft, einen von jeder Farbe, die wohl als Muster gedient haben -, aber welche Farben wo angebracht werden sollen, wird nirgendwo klar ausgesprochen. Es gibt ein Manuskript – dieses hier« – er holte ein einzelnes Blatt hervor -, »das sich auf den Turm zu beziehen scheint, aber ich kann es nicht entziffern. Vielleicht gelingt es Rhapsody. Sie kann Serenne lesen und hat als Benennerin Kenntnisse in der Kunst der Schwingungsleiter. Einiges in diesem Manuskript sieht wie Notenschrift aus.«
»Aha.« Grunthor nickte. »Wusste doch, dass es ’ne Verbindung zwischen dem und Yarim gibt, weil du so gern gehen willst, und zwar nicht nur, um die Herrin wiederzusehen.« Er seufzte, als Achmed die beschädigten Diagramme nahe vor die Augen hielt. »Vielleicht könntest du mir endlich mal sagen, was an diesem Turm so verdammt wichtig ist.«
Achmed blinzelte. »Wie bitte?«
»Entschuldige, aber du bist regelrecht besessen von ihm. Und ich kann mir nich vorstellen, warum.«
Der Sergeant verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab noch nie so was bei dir erlebt, außer wenn du auf der Jagd bist. Die Truppen sind gut ausgebildet, die Grenze ist sicher, das Bündnis scheint zu gedeihen, soweit es ’n einfacher Soldat wie ich beurteilen kann. Wir haben ’ne Menge Verteidigungsanlagen, Außenposten, Späher. Warum hält dich das hier so im Griff?«
Die olivfarbene Haut des Bolg-Königs wurde noch dunkler, als er über diese Frage nachdachte. Grunthor wartete geduldig, bis Achmed seine Gedanken so weit geordnet hatte, dass er sie aussprechen konnte.
»Als Gwylliam und Anwyn sich während des cymrischen Krieges bekämpft haben, dauerte es fünfhundert Jahre, bis sie die Strecke von der Westküste bis zu den Zahnfelsen zurückgelegt hatte«, sagte er schließlich. »Ihre Söhne waren unfreiwillig getrennt und von jedem Elternteil in dessen Dienst gezwungen worden, weswegen Anwyn beinahe während des ganzen Krieges die Zahnfelsen nicht angreifen konnte. Anborn hielt die Heere seiner Mutter mit großem Erfolg für seinen Vater zurück. Überall auf dem Kontinent gab es ein Patt. Llauron nahm manchmal eine Stadt oder eine Provinz für Anwyn ein, und Anborn eroberte sie für Gwylliam zurück. Solange die Brüder Generäle waren, handelte es sich kaum um einen richtigen Konflikt. Man darf behaupten, dass sie den Krieg nicht sonderlich eifrig vorantrieben, wenn man die Zeitspanne bedenkt, in der nichts Wesentliches erreicht wurde. Das ist nicht überraschend, zumal beide zunächst nicht daran teilnehmen wollten.«
Grunthor nickte. Er hatte die Aufzeichnungen über den Krieg studiert.
»Aber was war Anwyns erstes Ziel, als sie schließlich zu den Zahnfelsen zurückkehrte?«
Der Riese stieß laut die Luft aus. »Der Gurgus«, sagte er.
»Richtig. Dieser Gipfel, dieser Turm war das Erste, was sie angegriffen hat. Warum?« Der Firbolg-König schritt nun auf und ab und ließ dabei kaum eine Spur im vielfarbigen Staub des Bodens zurück.
»Sie kümmerte sich nicht darum, ihre Randstellungen zu befestigen und ihre Grenzen hinauszuschieben. Sie strafte den Griwen, Xaith und die westlichen Außenposten mit Nichtachtung, ließ ihr Heer weit hinter der Kampflinie zurück und schickte stattdessen heimlich eine Brigade, drei Kohorten aus ihren besten Truppen, in die Tiefen der Zahnfelsen, wobei sie wusste, dass keiner von ihnen lebend zurückkehren würde, nur um diesen Turm zu zerstören. Aber warum? Er enthielt keine Waffen, hatte keine Befestigungen, nichts als eine Decke aus regenbogenfarbenem Bleiglas, ein verstärkendes Metallrohrwerk und ein Rad. Was konnte so wichtig an diesem Turm sein, dass Anwyn ihre strategische Stellung aufs Spiel setzte und ihre besten Soldaten opferte, nur um diesen Turm zu zerstören, bevor sie sich Gwylliam im Kampf stellte?«
»Keine Ahnung«, sagte Grunthor und schüttelte den Kopf. »Ist schon lange her, dieser Krieg. Die ganze verdammte Sache war vor vierhundert Jahren zu Ende. Du hast sie doch auf dem cymrischen Konzil getroffen, da war sie ganz schön daneben. Vielleicht war sie auch damals schon nicht mehr ganz dicht. Ich hab sie in Aktion gesehn und würde daher sagen, sie hatte wohl irgendeinen verrückten Grund, hat vielleicht die Farben der Dachfenster gehasst oder der alte Gwylliam hat mal gesagt, dass er sie sehr mag. Diese Leute waren bekloppt. Jetzt sind sie beide tot, und das ist gut so.«
Er richtete sich auf und warf einen gewaltigen Schatten in den Raum. »Aber du bist kein Narr, und ich auch nicht. Sag mir einfach den wahren Grund dafür, warum du etwas wiederaufbaust, von dem du nicht einmal weißt, was es ist.«
Achmeds verschiedenfarbige Augen betrachteten seinen alten Freund für eine lange Zeit, dann wandte er den Blick ab.
»Ich habe schon einmal so etwas gesehen«, sagte er. Seine Stimme klang eine Welt weit entfernt.
»Den gleichen zylindrischen Turm, die gleichen Verstrebungen. Die gleiche farbige Glasdecke. Das gleiche Rad.«
Grunthor wartete lange in Schweigen, bis er es nicht mehr aushielt. »Wo?«, fragte er schließlich.
»In der alten Welt. Jemand in Serendair hatte so etwas.«
»Wo?«
Der Bolg-König stieß leise den Atem aus, als ob er versuchte, das Wort so lange wie möglich zurückzuhalten.
»In Glyngaris«, meinte er schließlich.
Es war ein Name, den er vor Grunthor bisher nur ein einziges Mal ausgesprochen hatte, und nie in der neuen Welt.
Der Sergeant stand lange unbeweglich da und schüttelte dann den Kopf, als ob er den Schlaf vertreiben wolle. Er nickte.
»Wenn es das ist, geh ich los und mach mich für die Abreise bereit.«
Achmed erwiderte nichts darauf. Er stand totenstill da, als der Sergeant den Raum verließ.
Wolkenfänger, Wolkenrufer
Brige-sol
Die Brise aus Wind und Sonne, die das Turmfenster aufgestoßen hatte, weckte Ashe, erfasste seine Augen und veranlasste ihn, sich einen Moment lang von der Wärme neben ihm fortzudrehen. Er schirmte das Gesicht vor der Helligkeit des Morgens ab, die in seine Gemächer und seinen Schlaf eindrang. Dabei murmelte er in einigen bekannten und vielen unbekannten Sprachen unterdrückte vulgäre Flüche, die er nicht ernst meinte, dann rollte er sich wieder hinüber und schaute auf Rhapsody hinunter, die noch tief schlief und von dem gefilterten Licht nicht gestört wurde. Seine gute Laune kehrte zurück, während er sie betrachtete. Die Spitzengardinen vor dem Fenster, die im Wind der Morgendämmerung flatterten, warfen fließende Muster auf ihr zartes Gesicht und streiften die Wangenknochen und die Stirn mit flüchtigen Schatten, die einen Moment später über ihr Haar schössen, das sich wie ein goldener See in seidigen Wellen über das Kissen und die weißen Leinenlaken ausbreitete.
In seiner zweigeteilten Seele spürte er das Aufkeimen uneinheitlicher Gefühle. Es war Liebe, was der Mann für sie empfand, doch sie wetteiferte um Oberherrschaft mit der Befriedigung darüber, dass sie sicher zurückgekehrt war, wonach es seine Drachennatur so verlangte. Es war ein bemerkenswerter Unterschied. Seine drachenhafte, begehrliche Natur sah sie als Schatz an und kämpfte mit Eifersucht und Verlustangst, wenn sie aus seiner Sinnensphäre trat, und auf der anderen Seite war da die einfache, unkomplizierte Verehrung, mit der seine menschliche Seite sie als die andere Hälfte seiner Seele betrachtete.
Wie dem auch sei, er war sehr glücklich darüber, dass sie endlich wieder zu Hause war. Er dämpfte seinen Atem und bewegte sich leise, damit sie nicht geweckt wurde. Gemächlich lehnte er sich gegen die Kissen und beobachtete ihr Gesicht, während sie schlief.
Wenn sie die Augen geschlossen hatte und schlief, erschien sie jünger und leichter als in wachem Zustand – beinahe wie ein Kind. Die Hitze des reinen Feuers, das sie vor langer Zeit während ihrer Reise durch die Erde von ihrer Heimatinsel zu diesem Ort auf der anderen Seite der Welt in sich aufgenommen hatte, brannte verborgen in ihren Wangen, viel schwächer aber als in ihren Augen, wo man es deutlich sehen konnte, wenn sie wach war. Die elementare Magie, die in ihr lebte, hatte eine machtvolle Wirkung auf die Leute in ihrer Umgebung. Manche starrten sie an wie hypnotisiert, andere kauerten sich wie in Angst vor einem flammenden Inferno zusammen. Ihr Anblick wurde von den Massen oft als einschüchternde Schönheit missverstanden, denn sie kannten nicht die Macht, die dahinter lag.
Im Gegensatz zu ihnen war er von ihrer Schönheit nicht verzaubert, sondern erkannte sie als das, was sie war, weil seine Drachennatur die Kraft in ihr spürte, ja sogar beinahe sah. Weil er so machtvoll an das Element des Wassers gebunden war wie sie an das Element des Feuers, verstand er auf der höchstmöglichen Ebene die Gabe und den Fluch eines solchen elementaren Bandes. Daher bestand ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen ihnen, das ihn bereits vor dem ersten Blick unausweichlich in den Bann gezogen hatte. Als sie noch Meilen von ihm entfernt gewesen war, hatten seine Drachensinne schon ihre Magie gespürt und sich ihr unrettbar ergeben. Der Mann jedoch, der große natürliche Kräfte besaß, aber in seiner Menschlichkeit unvollkommen war, konnte hinter diese Magie und Schönheit auf die unvollkommene Frau dahinter blicken. Sein Herz verspürte für sie die Liebe, die jeder Mann der Frau gegenüber fühlt, welche die andere Hälfte für ihn darstellt. Fehler und Stärken wurden ertragen und geschätzt, Streit und kleinerer Ärger wurden durchkämpft und vergeben, und gemeinsam wurde an dem gewoben, was der Teppich eines geteilten Lebens war. In Anbetracht seiner Abstammung und seiner schrecklichen und gewaltigen Vergangenheit war es diese gewöhnliche Liebe, diese übliche, gänzlich unvollkommene Verbindung, die er über alles schätzte. Sie hatte ihm ein Gefühl für Normalität und Wirklichkeit geschenkt. Und sie war wieder zu Hause.
Von dem Augenblick an, als er sie in der vergangenen Nacht vorsichtig auf das Ehebett gelegt und sie die Kerze mit einer einfachen Geste ausgelöscht hatte, waren Worte zwischen ihnen unnötig gewesen. Die Feuerschatten aus dem Kamin an der gegenüberliegenden Wand hatten im Einklang mit ihrer Liebesumarmung getanzt und waren zu glühenden Kohlen herabgesunken, als ihre Leidenschaft befriedigt war und sie in den zufriedenen Schlaf glücklich vereinigter Liebender gesunken waren. Und nun schlief sie ruhig, blass, ungestört vom Morgenwind, der ihr Haar kräuselte. Er beobachtete sie und war mit der Welt zufrieden.
Als sich die Sonne schließlich ganz über den Horizont und den Fenstersims erhoben hatte und die Schlafkammer mit Licht erfüllte, regte sie sich, öffnete die tiefgrünen Augen und lächelte.
»Du bist schon wach?«
»Ja.«
»Du bist schon wach.«
»Anscheinend.«
»Du wachst nie vor mir auf.«
»Das ist aber eine beleidigende Verallgemeinerung.«
Rhapsody rollte herüber, streckte sich und legte ihre kleine, narbige Hand in seine. »Na gut, ich glaube, ich habe dich vor dem heutigen Morgen nie vor mir aufwachen sehen. Du befindest dich meistens im Winterschlaf eines Drachen, und man kann dich höchstens mit dem überwältigenden Gestank von scheußlichem Kaffee wecken, den du so liebst.«
Ashe nahm sie in die Arme und drückte seine Nase gegen ihre. »Das leugne ich vollkommen. Es ist bemerkenswert, wie leicht es sich bei mir regt, wenn du hier bist, meine Herrin. Falls du dich beschweren willst, bestehe ich darauf, dass du die Wahrheit meiner Behauptung überprüfst.«
»Von mir wirst du keine Beschwerden hören«, meinte Rhapsody. »Im Gegenteil, ich bin wie immer beeindruckt von deiner Tüchtigkeit, besonders nach der letzten Nacht. Bestimmt hast du während meiner Abwesenheit geübt. Ich hoffe, du warst dabei allein.« Sie lachte, als sich Ashes Gesicht rötete, dann küsste sie ihn herzlich.
»Ich bin froh zu hören, dass du nicht enttäuscht warst, nachdem du die lange Reise nach Hause auf dich genommen hast.« Er drückte sie an seine Brust und legte sich mit einem zufriedenen Seufzen rücklings auf die Kissen. Er genoss den Kontrast zwischen der Wärme unter dem Laken und dem kühlen, beißenden Wind darüber. »Hast du in Tyrian all deine Staatsangelegenheiten regeln können?«
»Ja.«
»Gut. Ich bin froh, das zu hören, weil ich nicht beabsichtige, dich ihnen in absehbarer Zukunft zurückzugeben. Wie du weißt, können Drachen ziemlich weit in die Zukunft sehen. Daher hoffe ich, dass Rial deine Unterschrift unter alles bekommen hat, was er in den nächsten Jahren brauchen wird.«
Rhapsody kicherte, richtete sich auf und bedachte Ashe mit einem nachdenklichen Blick. »Ich habe in der Tat sichergestellt, dass alle Angelegenheiten in Tyrian erledigt sind, weil ich hoffe, als Nächstes ein Projekt durchzuführen, das meine Anwesenheit hier in Navarne für einen langen Zeitraum erfordert. Das heißt, natürlich erst nach dem Ausflug nach Yarim, um dort die Entudenin wieder zu beleben.«
Ashe setzte sich ebenfalls auf. »Ach, wirklich? Was für ein Projekt könnte das sein?«
»Die Pflege und Erziehung eines Kindes.«
»Du hast ein weiteres Enkelkind adoptiert? Wie viele sind es inzwischen? Schon über hundert?«
Rhapsody schüttelte den Kopf. Ihre grünen Augen nahmen einen dunkleren, smaragdenen Ton an.
»Nein, nur siebenunddreißig. Aber das habe ich nicht gemeint.«
»Oh.« Ashe spürte, wie ihm beim Klang ihrer Stimme eine leise Kälte über die Haut lief. »Was meinst du dann, Aria?«
Die Kohlen im Kamin, die noch vor einem Augenblick nichts als abkühlende graue Asche gewesen waren, glühten rot auf und glichen sich der Farbe ihrer Wangen an.
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir ein eigenes Kind haben«, sagte sie mit fester Stimme, auch wenn Ashe ein leichtes Zittern in ihrer Hand spürte.
Er starrte sie an und versuchte, ihre Worte von den Ohren zum Gehirn zu zwingen, bis er sah, dass sie vor Schmerz zusammenzuckte. Rasch ließ er ihre Finger los, die er unbewusst allzu sehr gedrückt hatte.
Langsam setzte er sich ganz auf, schwang die Beine über den Rand des Bettes, lehnte sich vor und stützte das Kinn auf die Hände. Aus der Veränderung ihrer Herzschläge, ihrem flachen, raschen Atmen und einem Dutzend anderer körperlicher Anzeichen, deren sich seine Drachensinne bewusst waren, schloss er, dass seine Reaktion sie unglücklich machte, doch ihre Worte hatten ihn so aufgeregt, dass er nichts tun konnte, um ihre Besorgnis zu lindern. Stattdessen richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf sein Innerstes und versuchte, das Durcheinander von widerhallenden Worten aus der Vergangenheit zurückzudrängen.
Unter einem plötzlichen Wirbel aus Muskeln und Bettlaken sprang Ashe auf und ging zum Kleiderschrank. Er versuchte, den Ausdruck des Erstaunens und Schmerzes auf dem Gesicht seiner Frau nicht wahrzunehmen. Er zog Hemd und Hose an und drehte sich schließlich um, wobei er es vermied, ihr in die Augen zu sehen.
»Ich muss zurück zu meinen Ratgebern gehen«, sagte er nur. »Es tut mir Leid, wenn ich dich geweckt habe. Nach dieser langen Reise hätte ich dich ausschlafen lassen sollen.«
»Ashe...«
Er schritt schnell durch den Raum und ergriff die Türklinke. »Schlaf weiter, Aria«, sagte er sanft. »Ich werde dafür sorgen, dass dir in etwa einer Stunde das Frühstück ans Bett gebracht wird.«
»Du hast doch gesagt, heute sei keine Zusammenkunft.«
»Das war unüberlegt von mir. Sie werden schon seit Wochen wie Gefangene hier gehalten. Bestimmt wollen sie bald zum Ende kommen und in ihre Provinzen zurückkehren.«
Rhapsody warf die Decke zurück, stand auf und zog ihren Morgenmantel über.
»Sei doch kein Feigling«, sagte sie fest, aber ohne Groll. »Sag mir, was dich so verängstigt hat.«
Die senkrechten Pupillen in Ashes Augen dehnten sich, als ob sie das Licht und ihre Worte einsaugten. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, dann öffnete er die Schlafzimmertür.
»Ruh dich aus«, sagte er nur.
Rasch und leise schloss er die Tür hinter sich.
Später am Nachmittag fand sie ihn auf der Spitze eines der Glockentürme, welche das Haupttor von Haguefort flankierten.
Rhapsody war sich bewusst, dass ihr Gemahl ihre Gegenwart bemerkt hatte. Er musste sie schon aus großer Entfernung gespürt haben, also nahm sie an, dass er nichts gegen ihre Anwesenheit einzuwenden hatte. Sie wartete im Türrahmen am oberen Ende der Turmtreppe und folgte seinem Blick über die gewellten Hügel von Navarne, auf denen die Sonne das hohe Gras in einem hellen Gelb und dunklen, kühlen Grün anmalte. Als sie schließlich sah, wie sich seine Schultern hoben und senkten und er tief ausatmete, unterbrach sie die Stille, die bisher nur durch eine gelegentliche pfeifende Brise gestört worden war.
»Ist es die verrückte Manwyn? Ist es das, wovor du Angst hast?«
Ashe erwiderte nichts darauf, sondern schaute weiterhin über das Vorgebirge zu den Krevensfeldern. Rhapsody trat durch die Tür und stellte sich neben ihn. Sie legte die Hände auf die glatten Verzierungen im Stein der Brustwehr, die neu errichtet worden war, nachdem der Turm vor drei Jahren durch heftiges Feuer und brennendes Pech zerstört worden war. So wartete sie in Schweigen, atmete die süße Sommerluft ein und folgte seinem Blick über die Berge.
Als er endlich etwas sagte, schaute er noch immer auf die scheinbar endlose See aus grünen Wiesen hinter den Mauern der Festung.
»Stephen und ich sind in unserer Kindheit endlos über diese Felder gelaufen«, sagte er ruhig.
»Manchmal ist es, als könnte ich ihn dort noch immer sehen, wie er nur in der Phantasie vorhandene Krieger jagt, Drachen steigen lässt, auf dem Rücken liegt, in die Wolken starrt und aus ihnen die Zukunft liest.« Er schüttelte den Kopf, als wolle er ein Gefühl von Kälte abstreifen. Dann drehte er sich um und sah sie ernsthaft an. »Hast du gewusst, dass seine Mutter wie meine gestorben ist, als er noch sehr jung war?«
»Nein.«
Ashe nickte und schaute wieder über die Felder. »Auszehrung. Es hat sie von innen her zerfressen. Danach war sein Vater nie mehr so wie früher. Sie hat etwas von seinem Geist mitgenommen, als sie ging. Stephen konnte sich kaum an sie erinnern. So wie Melisande sich nicht an Lydia erinnert.«
Rhapsody seufzte. »Ich werde nicht sterben, Sam«, sagte sie, wobei sie den Namen gebrauchte, den sie ihm vor langer Zeit gegeben hatte – in ihrer eigenen Jugend, als sie sich auf der anderen Seite der Zeit getroffen hatten. »Manwyn hat es dir ebenfalls gesagt. Sie sagte auf sehr direkte Weise: Gwydion ap Llauron, deine Mutter starb bei deiner Geburt, aber die Mutter deiner Kinder wird bei deren Geburt nicht sterben.«
Ashe schüttelte leicht den Kopf in dem vergeblichen Versuch, die Worte in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen, die ihm der Drache in seinem Blut in allen quälenden Einzelheiten immer wieder vorsagte. Es war mehr als drei Jahre her, seit er in dem dunklen Tempel von Manwyn, dem Orakel von Yarim gestanden hatte, der wahnsinnigen Seherin der Zukunft, die durch den Fluch der Geburt auch seine Großtante war, und er erschauerte unter der seltsamen Modulation ihrer Stimme, als sie eine Vorsehung ausgesprochen hatte, um die sie nicht gebeten worden war.
Ich sehe ein widernatürliches Kind, empfangen in einem widernatürlichen Akt. Rhapsody, du solltest dich vor der Geburt hüten: Die Mutter wird sterben, aber das Kind wird leben.
Rhapsody legte ihm zart die Hand auf die bloße Schulter, doch er schüttelte sie ab und versuchte, in seinem Kopf den Griff der Worte zu lösen, die sein Vater gesprochen hatte.
Ich vermute, du weißt, was deiner eigenen Mutter passiert ist, als sie dem Kind eines Drachen das Leben geschenkt hat? Ich habe dir die Einzelheiten bis jetzt erspart. Willst du sie hören? Willst du wissen, wie es ist, einer Frau, die man zufälligerweise auch noch liebt, zuzusehen, wie sie unter Schmerzen stirbt, während sie versucht, dein Kind zur Welt zu bringen? Ich will es dir gern beschreiben. Da das Drachenjunge instinktiv die Eierschale durchbrechen und sich mit den Krallen einen Weg hinaus bahnen will...
Halt.
Dein Kind wird noch drachenähnlicher sein als du; also sind die Aussichten der Mutter auf ein Überleben nicht groß. Wenn schon deine eigene Mutter es nicht geschafft hat, wie wird es dann wohl deiner Gemahlin ergehen?
Ohne seine Frau anzusehen, schüttelte er erneut den Kopf und beobachtete das rollende grüne Meer aus Gras unter ihm.
»Ich habe zu viel vom Tod gesehen, um ihn zu riskieren, Aria. Ich habe zu viele Weissagungen gehört, die missverstanden worden sind. Mit seinen letzten Worten hat mich mein Vater gewarnt, ich solle den Prophezeiungen nicht trauen, denn ihre wahre Bedeutung ist nicht immer das, was es zu sein scheint.«
»Wenn du den Prophezeiungen nur geringen Wert beimisst, warum beunruhigt dich die erste dann überhaupt?«, fragte Rhapsody und ergriff seine Hand. »Mir scheint, du glaubst all denen, die uns davon abhalten wollen, unser Leben so zu leben, wie wir es wünschen, damit wir nicht in Gefahr geraten. Dabei beachtest du diejenigen nicht, die diese ernsten Warnungen für nichtig erklären. Entweder du nimmst beide oder keine an, aber du solltest nicht die einen fürchten und den Trost der anderen verschmähen.«
Ashes Haut wurde im Licht der Nachmittagssonne dunkler. »Es gibt so viele Kinder in deinem Leben, Rhapsody – in unserem Leben. Wohin du auch immer gehst, von dieser Festung aus, in der du lebst, bis zu den Bergen von Ylorc, vom lirinischen Wald bis zum Hintervold hast du ›Enkel‹, die du liebst und um die du dich kümmern kannst. Ich glaube nicht, dass es weise ist, das Schicksal herauszufordern, indem du dem Kind eines Drachen das Leben schenken willst, das doch ebenfalls Drachenblut in den Adern hat. Es gibt genügend mütterlose Kinder, um die du dich sorgen kannst; du musst nicht noch ein weiteres in die Welt setzen.« In seiner Stimme saß ein bitterer Stachel.
Rhapsody nahm seine Arme, drehte ihn um und schlüpfte in seine Umarmung.
»Ich weigere mich, meine Entscheidungen auf der Grundlage der wahnsinnigen Rasereien deiner Großtante zu treffen«, sagte sie spöttisch. »Aus diesem Grund lege ich auch nie die scheußlichen Tischdecken aus Brokat auf, die sie uns zur Hochzeit geschickt hat.« Nun wurde ihre Stimme ernster, und sie streichelte ihm zärtlich den Nacken. »Ich will mit dir das Leben führen, das wir uns ausgedacht haben, Sani. Ich will mein Blut mit deinem mischen, deine Kinder in mir tragen und mit dir eine Familie gründen, die uns ganz allein gehört. Ich war der Meinung, du willst das auch.«
Ashe wandte den Blick nicht von der Windumtosten Ebene ab. Mehr, als du es dir vorstellen kannst, dachte er.
»Wenn es einen guten Grund gibt, keine Kinder zu haben, will ich diese Idee sofort begraben, aber angesichts zweier widersprechender Prophezeiungen sehe ich keinen Anlass, in Angst vor etwas zu leben, das angeblich nicht eintreten wird. Außerdem ist die Prophezeiung, die du fürchtest, schon eingetreten. Sie war nicht an mich gerichtet, sondern an die Mutter des letzten Kindes, das von dem F’dor gezeugt wurde, den wir vernichtet haben.« Bei dieser Erinnerung verdunkelten sich ihre Augen.
»Ich habe die Geburt und den Tod beobachtet. Die Mutter ist gestorben. Das Kind hat überlebt. Es ist vorbei. Die Prophezeiung ist erfüllt.«
»Dessen kannst du dir nicht sicher sein, Rhapsody.«
Sie warf die Hände in Verzweiflung hoch und wandte sich von ihm ab. »Wessen kann man sich schon sicher sein, Ashe? Das Leben ist jeden Moment ungewiss. Du kannst nicht in andauernder Furcht davor leben.« Ihr kam ein neuer Gedanke. Sie kehrte zurück zu ihm. »Manwyn kann nicht lügen, oder?«
»Nicht direkt, aber sie kann verwirren und ausweichen, und sie kennt die ferne Zukunft so gut wie die unmittelbar bevorstehende. Daher kann sie eine Antwort auf eine Frage geben, die sich zwar als wahr herausstellen wird, aber möglicherweise erst in tausend Jahren. Deshalb kann man ihr nicht trauen.«
»Aber wenn sie unmittelbar antwortet und ja oder nein sagt, kann sie nicht falsch liegen, oder?«
Ashe schüttelte den Kopf. »Vermutlich nicht.«
»Nun, da ich in den nächsten Tagen nach Yarim reise und Manwyns Tempel in Yarim liegt, werde ich Gelegenheit haben, sie direkt zu fragen, ob mir ein Kind von dir den Tod oder eine unheilbare Krankheit bringen wird oder nicht. Vielleicht kann sie mit ihrem Spruch alle Zweideutigkeiten klarstellen.«
Ashes Gesicht wurde zuerst blass, dann rot. »Eben noch war ich über alle Maßen dankbar, dass du nach Hause zurückgekehrt bist«, sagte er mit steinerner Miene. »Jetzt wünschte ich, du wärst in Tyrian geblieben, wo du wenigstens vor deiner eigenen Narrheit in Sicherheit warst. Rhapsody, hast du nicht bei unserem letzten Besuch in Manwyns Tempel gelernt, dass dies eine Erfahrung ist, die man besser nicht wiederholt?«
»Anscheinend nicht«, sagte sie schnippisch, machte sich von ihm los und ging auf die Tür zu.
»Anscheinend habe ich mich auch geirrt, als ich annahm, du würdest mein Verlangen nach einem Kind teilen. Wenn es so wäre, würdest du dich nicht von einer so fadenscheinigen Andeutung abschrecken lassen.« Sie ging die ersten Stufen hinunter, wurde sofort am Arm gepackt und herumgerissen.
Ashe starrte lange auf sie hinab. Rhapsodys Wut, die noch vor einem Atemzug glutheiß gewesen war, kühlte sich beim Anblick des Schmerzes in seinen Drachenhaften Augen ab.
Sie wusste, wie tief der Schmerz war, den er erlitten hatte, und dass seine Liebe sogar noch tiefer war. Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass sie ihm diese Qualen verursachte, die ihrer Eigensüchtigkeit entsprangen. Sie öffnete den Mund, um eine Erwiderung zu geben, doch sie kam nicht dazu, denn er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen.
»Wir gehen zusammen«, sagte er und nahm sanft ihr Gesicht zwischen die Hände. »Wir werden ihr die Frage gemeinsam vorlegen, und ich will versuchen, mit ihrer Antwort zu leben. Das ist der einzige Weg, auf dem wir die Oberherrschaft über unser Leben wiedererlangen können.«
»Bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch. »Wenn ich mich recht erinnere, warst da derjenige, den sie beim letzten Mal angegriffen hat. Mir hat sie keinerlei Schwierigkeiten gemacht.«
»Nun, wir stammen halt aus derselben Familie«, entgegnete Ashe. Eine Spur von Humor kehrte in seinen Blick zurück. »Wenn man nicht mit der Familie streiten kann, mit wem dann? Sieh dir doch bloß meine Großeltern an. Ihr Ehezwist führte zu einem Krieg, unter dem ein ganzes Reich zusammenbrach.«
»Hmm. Vielleicht sollten wir es uns doch noch einmal überlegen, diese Familie zu vergrößern«, meinte Rhapsody. Sie schaute über das windgepeitschte Steppengras und lächelte, als ein heller Papierdrachen in der Form einer Kupferschlange von einer Windbö eingefangen wurde und plötzlich auf der starken Strömung hochstieg. Sie winkte der kleinen Person in der Ferne zu, und Melisande winkte zurück.
Ashe seufzte. »Nein, du hast Recht«, sagte er schließlich. »Falls es wirklich möglich ist, würde ich gern zusehen, wie die Kinder des Hauses Navarne und die Nachkommen von Gwylliam und Manosse wieder auf diesen Feldern miteinander spielen.«
»Nun, in gewisser Hinsicht hängt das allein von dir ab.« Rhapsody sprach diese Worte sanft aus. Jeder andere Tonfall hätte ihn verletzt. Als Abkömmling einer Rasse von Erstgeborenen musste Ashe die bewusste Entscheidung treffen, Nachkommen zu zeugen. »Aber sobald du dich dafür entschieden hast, wann immer das sein mag, verspreche ich dir, dass du deine Entscheidung nicht bereuen wirst.«
Ashe lachte und küsste ihr die Hand, dann ging er zurück und beobachtete gedankenverloren Stephens Tochter dabei, wie sie mit ihrem Drachen Bilder in die Luft malte.
Die Dunkelheit im inneren Heiligtum von Manwyns Tempel wurde in unregelmäßigen Abständen von den winzigen Flammen unzähliger Kerzen und von Feuern durchbrochen, die in verfallenden Gefäßen loderten. Ein schwerer Geruch nach brennendem Fett lag in der Luft, der kaum von dem stechenden Weihrauch überlagert wurde.
Mutter Julia starrte über die schartige Quelle im Boden zu dem darüber hängenden Thronsessel. Sie versuchte, dem Blick der Seherin standzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Die Augen der wahnsinnigen Prophetin waren vollkommene Spiegel wie aus Quecksilber, hatten keine Iris, keine Pupillen, keine Netzhaut. In ihnen tanzte der Schein der unzähligen Flammen wider. In Mutter Julia drehte sich alles wie verrückt.
»Wie ... wie lange werde ich leben?«, flüsterte sie und betupfte sich die graue Stirn mit den Fransen ihres farbenfrohen Schals.
Die Seherin lachte. Es war ein irrer, durchdringender Laut. Plötzlich rollte sie sich auf den Rücken und deutete mit dem alten Sextanten in ihrer Hand auf die schwarze Kuppel des Tempels über ihr. Sie schaukelte mit dem Sessel wild über dem zerklüfteten Abgrund und sang verrückte, tonlose Worte. Schließlich richtete sie sich wieder auf und lehnte sich über den Rand der Plattform, wobei sie ihren nachdenklichen Blick auf die zitternde alte Frau richtete.
»Bis dein Herz zu schlagen aufhört«, verkündete sie selbstgefällig. Sie winkte Mutter Julia fort. Ihre mit vielen kleinen Schuppen durchsetzte, rosig-goldene Haut schimmerte im Zwielicht.
»Warte«, ereiferte sich die alte Frau, als sich die Türen des inneren Heiligtums öffneten. »Das ist keine Antwort! Ich habe ein großzügiges Opfer dargebracht, und du hast mir gar nichts gesagt!«
Ein Schatten der Verwirrung flog über das Gesicht der Seherin. Mutter Julia wandte sich von den Wachen ab, die sie zu sich winkten. Sie begriff, dass sie ihren Einwand falsch ausgedrückt hatte. Manwyn verstand die Vergangenheit nicht, sondern nur die Zukunft und so viel von der Gegenwart, wie es ihr als Sprungbrett in die Zukunft diente. Mit zitternder Hand griff sie zwischen die Falten ihres Kleides und holte ihre letzte Goldkrone hervor. Sie hielt sie hoch; das Licht fiel auf die Oberfläche und spiegelte sich in den Augen der Prophetin wider.
»Du hast mir gar nichts gesagt. Du hast mir für alle Zeiten ein Schnippchen geschlagen, wenn du mir keine bessere Antwort gibst. Du wirst auf immer in meiner Schuld stehen.«
Manwyn legte den Kopf auf die Seite. Ihre verfilzte Mähne aus flammenfarbenem Haar bauschte sich in der Luftströmung aus der dunklen Quelle. Die Streifen aus metallischem Silber fingen einen Moment lang den Kerzenschein ein und erglitzerten. Mutter Julia zuckte vor Schmerz zusammen. Als Manwyn nachdachte, schürzte sie die Lippen und nickte dann lebhaft wie ein Kind.
»Sehr gut. Noch eine Frage. Denke gut nach. In diesem Leben werde ich dir keine weiteren Antworten mehr geben.«
Die alte Frau erbebte. Sie zermarterte ihr Hirn, um all ihre Fragen zu einer einzigen zu verbinden, während die alte Seherin an dem Rad des Sextanten drehte und unmelodisch summte. Schließlich holte Mutter Julia tief Luft und machte die Schultern breit.
»Wer wird mir sagen, worum es sich bei der Scheibe aus blau-schwarzem Stahl handelt?«, stammelte sie.
Die Prophetin schaute in den Sextanten und richtete den Blick dann wieder auf die Alte. Als sie sprach, war ihre Stimme deutlich und von allem Wahnsinn und Singsang befreit.
»Dein Sohn Thait wird dir sagen, was du in Erfahrung bringen sollst«, sagte sie nur. »In fünf Wochen und zwei Tagen, gerechnet ab dieser Nacht.«
Die alte Frau stieß einen Seufzer aus, der aus den Tiefen ihres Bauches kam. Erleichterung zeigte sich in ihren Augen und auf ihrer Stirn. Sie verneigte sich vor Manwyn, warf die Münze in die Quelle, murmelte ihren Dank und eilte an den Wachen vorbei durch die kunstvoll beschnitzte Zederntür. Sie wollte den Tempel so schnell wie möglich verlassen.
Als sich die Zederntür hinter der Frau schloss, schaute Manwyn auf, als verwirre sie etwas. Sie nickte sich selbst zu und rief dann leise in die ferne Dunkelheit: »Er wird es dir durch seine Tränen zuflüstern, wenn er neben deinem Grab sitzt und die Steine zurechtrückt.«
Nachtbleiber, Nachtrufer
Luasa-ela
Der Geruch von Feuer im Wind ist immer aufregend, dachte der Seneschall und sog tief die Luft ein. Beißende Asche mischte sich mit dem Tang in der salzigen Seeluft und war für ihn wie ein Parfüm, besonders nach den Ereignissen des Morgens, als der weiße Rauch des Infernos dem gleichmütigen grauen Miasma Platz machte, das wie schmutzige Wolle im Wind über den schwelenden Kohlen hing, dem schäbigen Verursacher so vieler wunderbarer Flammen der vergangenen Nacht. Diesen Geruch hatte er sein ganzes Leben lang geliebt, doch in den letzten tausend Jahren hatte er für ihn eine ganz besondere Anziehungskraft angenommen, besonders wenn er mit dem Duft menschlichen Fleisches versetzt war, was ihm eine angenehme Beize verlieh.
In der vergangenen Nacht hatte er in der Dunkelheit des Ausgucks gestanden und die Scheiterhaufen beobachtet, die wie Signalfeuer entlang einer Schlachtlinie entzündet worden waren. Es war ein unvergleichliches Inferno gewesen; der Chor des Jammers, der im Sommerwind angeschwollen und verebbt war, war besonders melodisch gewesen – eine Sinfonie des Schmerzes, die Erregung in seiner Seele entflammt hatte.
Der Nervenkitzel war selbst im bitteren Licht der Morgendämmerung, die er vom schwankenden Deck der Basquela aus beobachtete, noch nicht vergangen. Die Feuer waren zu glimmender Asche heruntergebrannt, kühlten aus und warteten darauf, dass die Bauern des Inneren Halbmondes herbeikamen und die Überreste fortschafften, mit denen sie ihre Felder düngten.
Darüber dachte der Seneschall eine Weile lang nach. Unter seiner Herrschaft war ein wohltätiges Gleichgewicht eingetreten. Die Schiffslinien hatten noch nie so viel Gewinn abgeworfen. Argauts Handelsflotte war eine der eindrucksvollsten und geachtetsten in der ganzen zivilisierten Welt. Sie durchfuhr die Ozeane in immer größeren Zirkeln und meisterte dabei einige der gefährlichsten Küstenlinien: den felsigen Archipel des Feuerriffs, die Haiverseuchten Gewässer von Iridu und Groß-Overward, wo die Räuberfische hundert Fuß lang werden konnten, die brennende Dünung, die noch immer über dem nassen Grab der versunkenen Insel Serendair im südlichen Meer brodelte und deren frühere Berggipfel Briala, Balatron und Querel nun trügerische Riffe mit kochenden vulkanischen Ausbrüchen bildeten.
Die wahre Gefahr an diesen Orten bestand nicht in den Naturphänomenen, sondern in den Piraten, die sie als Jagdgründe benutzten. Kaperer aus uralten Familien kreuzten mit ihren schnellen und leisen Schiffen in den Untiefen und Strömungen, als wären sie immun gegen die Gefahren des Meeres, und beherrschten den Wind mit gnadenloser Tüchtigkeit. Die Überreste der geplünderten Schiffe wurden nie gefunden. Die Fähigsten der Mannschaft und Passagiere verkauften sie als Sklaven in einer Vielzahl von Häfen auf der ganzen Welt, besonders aber auf den Diamantenfeldern des unteren Heraat in Groß-Overward und in den Gladiatorarenen von Sorbold. Die Alten, Kranken und Schwachen wurden als Haifutter hergenommen.
Die Briganten des Meereswindes, wie sich die Piraten gern selbst nannten, waren die Geißel der Schifffahrtslinien, der Schrecken der Meere und machten die Reiseverbindungen und Handelsrouten gefährlich. Selbst jene Nationen, die ihren Handelsschiffen eine Militäreskorte mitgaben, waren bei deren Rückkehr regelmäßig erschüttert. Eine starke, verlässliche Flotte aus schnellen Schiffen, die in der Lage war, den Blockaden der Kaperer auszuweichen, ihnen davonzusegeln und mit Mannschaft und Ladung zu entkommen, war eines der wertvollsten Besitztümer, das eine Kaufmannsgilde oder Nation haben konnte. Argauts Kaufmannsflotte und Marine waren ohnegleichen auf der Welt.
Denn dem Baron von Argaut gehörten sowohl die Flotte als auch die Piraten.
Das ergab einen vollkommenen Kreis, und es war eine einträgliche Art, jeden Wettbewerb zu unterbinden. Der Seneschall war außerordentlich stolz auf die schöne Einfachheit und Verkettung all dessen. Die Briganten griffen zuweilen auch Schiffe in den Gewässern nahe dem Nordland an, doch im Allgemeinen blieben sie so weit vom Hafen entfernt, dass sie keinen Verdacht erregten. Der Sklavenhandel förderte die Freundschaft von Orten wie Druverille, der vereisten Wüste nördlich von Manosse, und Sorbold, einer Schlüsselnation auf dem westlichen Kontinent an der Südgrenze des Drachenlandes. Die nördliche Küstenlinie des Drachenlandes wurde seit Jahrtausenden von der Drachin Elynsynos geschützt, die keinem Schiff die Annäherung an die neblige Küste erlaubte. Die Sklavenhändler von Sorbold waren Argauts bevorzugte Handelspartner, denn sie bezahlten hohe Summen für Gefangene, die in ihren berühmten Arenen kämpfen konnten.
Und so hatte sich der Kreislauf Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert fortgesetzt. Die Schifffahrtslinien füllten Argauts Schatztruhen mit den Segnungen des ehrenhaften Handels der Kaufmannsflotte und mit der Kaperbeute der Briganten. Der Sklavenhandel bildete einen leichten Abladeplatz für alle Opfer der Piraterie, die überlebt hatten und zu einer Aussage in der Lage waren. Die weniger wertvollen Gefangenen wurden gemeinsam mit einigen örtlichen Emporkömmlingen angeklagt, selbst Piraten zu sein, und in großen Feuern verbrannt, welche den Nachthimmel erleuchteten und die rechtschaffene Entrüstung der Bevölkerung abkühlten, während sie auf diese Weise gleichzeitig von der Tüchtigkeit der Regierung überzeugt wurde. Die Überreste der Unglücklichen wurden auf die Felder gestreut, um eine reichliche Ernte hervorzubringen, oder ihr Fett diente für die Talgkerzen. Beides waren Erzeugnisse für den Seehandel.
Und vor allem befriedigten sie die Blutlust des Seneschalls und des Barons, die es beide nach dem Nervenkitzel des Feuers verlangte.
Ich verspüre wirklich nicht den Wunsch, all das aufzugeben.
Der Seneschall wirbelte herum. Die Stimme des Barons hatte ihn überrascht.
»Mein Herrscher...«
Geh von Bord. Wir reisen nicht.
Die angenehmen Gedanken verschwanden und hinterließen das Gefühl von brennender Säure in den Augäpfeln des Seneschalls.
»Vergebt mir, mein Herr, aber wir werden reisen.« Unwillkürlich zuckte er unter dem stechenden Schmerz in seinem Kopf zusammen.
Als die Stimme wieder flüsterte, war sie leise und sanft. Der Seneschall konnte unter dem Übelkeit erregenden Hämmern im Kopf und dem Schreien der Möwen kaum die Worte verstehen.
In sechzehn Jahrhunderten hast du es nur einmal gewagt, dich mir zu widersetzen. Erinnere dich daran, wozu es geführt hat.
»Zweimal«, berichtigte der Seneschall. Vor Pein fasste er sich an die Stirn und schüttelte den Kopf wie ein Eber, der die Jagdhunde in seinem Nacken abwerfen will. Er schaute benommen in Richtung des dunklen Laderaums, in dem Faron verängstigt in seinem mitgebrachten Teich aus gleißendem grünem Wasser wartete. Er war mitten in der Nacht heimlich in weichen Tüchern an Bord gebracht worden, während die Feuer allmählich herunterbrannten und der Seewind an den Tauen zerrte. Das Entsetzen in den Augen des Kindes schmerzte ihn wieder, und Gefühle beschützender Wut erhoben sich in seiner Brust. »Erinnert Euch daran, dass ich Euch ein Weiterleben ermöglicht habe.«
Die Drohung in der Antwort war unmissverständlich.
Du erinnerst dich ebenfalls daran.
»Euer Ehren? Seid Ihr schon seekrank? Wir haben doch noch gar nicht abgelegt.«
Der Seneschall schlug heftig nach hinten aus und schickte den Mann zu Boden.
»Lass mich in Ruhe.«
Der Matrose, der schon seit langem einen starken Arm gewohnt war, erhob sich rasch vom Deck und huschte fort. Als er verschwunden war, richtete der Seneschall seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stimme in seinem Kopf – auf den Dämon, mit dem er seine Seele teilte.
»Ich will nicht daran erinnert werden«, sagte er mit leiser Stimme und kämpfte gegen den Druck hinter den Augen an.
Du führst uns von unserem Ort der Macht weg, wo unsere Herrschaft nicht in Frage gestellt wurde.
»Man schuldet mir etwas. Es ist eine Schuld, die ich schon vor einem ganzen Leben und in einer anderen Welt abgeschrieben hatte.«
Wenn du diese Schuld vor einem ganzen Leben abgeschrieben hast, warum verfolgst du sie gerade jetzt wieder?
Der Seneschall fuhr sich mit den Fingern wütend durch die Haare, als wollte er sich die bohrende Stimme aus dem Kopf reißen.
»Vor allem weil ich es will«, spuckte er aus. »Ich werde darüber keine Rechenschaft ablegen.«
Das dunkle Feuer des F’dor-Geistes, der an seinem Innersten haftete, brannte noch schwärzer und verursachte ihm Übelkeit.
Ich sehe, dass ein Missverständnis über unsere Rollen besteht.
»Ja«, stimmte der Seneschall zu. »Auch wenn ich mir sicher bin, dass wir verschiedene Meinungen darüber hegen, wer die Regeln bricht, die wir für unser Zusammenleben aufgestellt haben.«
Die Stimme des Dämons schwieg eine Weile. Nun waren nur noch der Wind und das Meer, die Schreie der Möwen und der ferne Lärm des Hafens zu hören, der allmählich zu morgendlichem Leben erwachte. Als die Stimme wieder sprach, lag ein knisternder Unterton wie von einem Feuer in ihr – wie von zischenden Flammen unter den Kohlen.
Ich habe dir mehr Freiheit und Selbstständigkeit erlaubt, als es bei den meisten anderen mit einer Vereinbarung wie der unseren der Fall wäre.
Der Seneschall stieß scharf die Luft aus.
»Vielleicht ist das so, weil ich dich freiwillig angenommen habe, falls du dich daran noch erinnerst«, sagte er und wechselte von der ehrerbietigen Anrede zur vertraulichen. »Du hast aus meiner Stärke und Selbstständigkeit deinen Nutzen gezogen. Wenn du einen passiven Wirt haben wolltest, dessen Lebenskraft du aussaugen kannst, wie ein parasitäres Moos einen Baum benutzt, hättest du nach der Beendigung des serenischen Krieges sicherlich tausende Schwache aus dem Pöbel finden können – vielleicht einen Blumenverkäufer, ein Fischweib oder ein Kind. Du hast mich gewählt, weil ich dir einen an Körper und Geist gesunden Wirt angeboten habe, einen Soldaten, einen Anführer mit eigener Macht, an der du Anteil haben konntest. Aber es war nie Teil unserer Abmachung, dass du diese Macht vollständig besitzt. Wenn du einen unterwürfigen Lakaien hättest haben wollen, hättest du jemanden wählen müssen, den du unterwerfen kannst und der weniger stark ist als du, jemanden, den du erobern und zu deinem willigen Werkzeug machen kannst, den du aushöhlen und ausbeuten kannst, bevor du zu einem besseren Wirt hinüberwechselst. Mich hättest du niemals auf diese Weise nehmen und gegen meinen Willen besiegen können.« Er hielt inne und spürte das Wallen des dämonischen Geistes in seinen Adern. »Du kannst es auch jetzt noch nicht.«
Der Seewind frischte wieder auf, zerrte heftig an den Kleidern und sackte dann wieder zu einer ruhigen Brise zusammen. Der Seneschall spürte, wie die Hitze in ihm nachließ, als der Dämon über seine Worte nachdachte.
Auch dir ist es bei unserem Geschäft nicht schlecht ergangen, sagte die Stimme, als sie schließlich wieder sprach. Du wolltest ewiges Leben haben. Jetzt hast du es.
»Ja«, gab der Seneschall zu. »Ja, das habe ich. Und du ebenfalls. Ich sollte betonen, dass dein Wirt im Sterben lag, als ich zu dir kam. Du warst allein und unfähig, die traurigen Überreste seines verfallenden Körpers aus dem Wasser zu ziehen, das langsam den Kerker füllte, in dem du gefangen gehalten wurdest. Ich habe dir dein armseliges Leben gerettet, habe dir unerhörte Pracht und den elementaren Wind verschafft, auf dass er sich mit deinem Feuer vermische ...«
Als Gegengabe für die Unsterblichkeit.
»Ja. Es war ein ehrliches Geschäft. Und alles in allem ist es eine vorteilhafte, ja beglückende Paarung gewesen.« Der Seneschall packte die Reling und erwartete einen weiteren Angriff der dämonischen Wut. »Es sei denn, du vergisst, dass mir die Entscheidung darüber zusteht, wohin wir gehen und was wir tun. Leider bleibt dir keine andere Wahl, als mit mir zu kommen. Oder willst du mich nun verlassen?«
Der Dämon kicherte. Es war ein hartes, schabendes Geräusch, das an den Ohren des Seneschalls kratzte. Du warst
schon immer tollkühn. Denk daran, wem von uns beiden es schlechter ergehen wird, wenn ich mich entschließen sollte zu gehen.
»Ich wette, das bist du«, sagte der Seneschall, als die Sonne über den Horizont kroch und den Ozean mit ihrem goldenen Licht überschüttete. »Nach sechzehn Jahrhunderten unangefochten ausgeübter Herrschaft und immer wieder gestilltem Hunger nach Feuer und Vernichtung wäre es amüsant zu beobachten, wie es dir in einem Kabinensteward oder in einer durch den Hafen stolzierenden Hure erginge. Sieh dich doch um. Gibt es irgendjemanden, in den du gern einfahren möchtest? Willst du vielleicht eine Dirne als Wirtin? Dann wirst du lernen, wie es ist, wenn man immer wieder in dich eindringt – ganz so wie es mir ergeht, wenn du versuchst, dich zu behaupten.«
Die Stimme des Dämons gackerte.
Es könnte aufschlussreich sein, diese Idee irgendwann aufzugreifen. Wenn wir uns bei deinem nächsten Herzschlag trennen müssten, würde ich nicht sterben. Es stimmt, dass ich dann schwächer wäre, aber wenn man unsterblich ist, ist so etwas nur ein vorübergehendes Hindernis und keinesfalls das Ende. Es wäre beinahe den Verlust von Rang und Macht wert, meine Wohnstatt in einem anderen Menschen aufzuschlagen, in irgendeinem anderen, und zuzusehen, wie dein Körper zu Staub zerfällt und vor meinen Augen vom Wind fortgetragen wird. Das Feuer kehrte zurück und durchtränkte das Bewusstsein des Seneschalls an den äußeren Rändern. Du weißt genau, dass es so geschehen wird, nicht wahr? Ohne meine Essenz in dir wärst du nicht nur ein toter Mann, sondern einer, welcher bei der Zeit in so großer Schuld steht, dass er sie nicht zurückzahlen könnte.
»Dann geh doch«, knurrte der Seneschall. »Stürz dich hinaus. Oder besser noch, erlaube mir, es für dich zu tun.«
Deine Unbesonnenheit wird dein Untergang sein, wenn nicht jetzt, dann später, sagte der Dämon ernst.
Wieder verstummte die Stimme, und der Seneschall ergriff die Reling. Der Dämon war die Verkörperung von Chaos und zerstörerischer Heftigkeit. Er bereitete sich auf den Kampf vor. Entweder würde er ins Meer geworfen werden oder in die Vergessenheit.
Du verfolgst wieder einmal eine Frau.
Der Seneschall biss die Zähne zusammen und versuchte, den F’dor aus den inneren Bereichen seines Verstandes auszusperren, doch es war, als stemmte man sich dem Meer entgegen. Die heißen Finger in seinem Hirn tasteten gnadenlos und unnachgiebig umher und drangen auch in die hintersten, noch unbesetzten Winkel. Er spürte, wie die verborgenen Bereiche seines Geistes durchsucht wurden und der F’dor schließlich auf Gedanken stieß, die der Seneschall bisher vor ihm verborgen hatte. Sie wurden gepackt und ausgegraben wie Wurzeln in der Erde.
Hast du nichts gelernt?, höhnte der Dämon wütend. Erinnerst du dich nicht, was geschehen ist, als das letzte Mal deine Lust die Oberherrschaft über uns erlangt hat?
»Doch«, gab der Seneschall verbittert zu. »Ich erinnere mich gut daran und würde es wieder tun, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte. Ich habe dir und mir eine Nacht vollendeter Lust an dem glorreichen Leid einer serenischen Frau und den Segen eines Kindes aus unserem Blut verschafft, das in jener Nacht gezeugt wurde.«
Eine nutzlose Missgeburt. Ein Ungeheuer.
»Keineswegs!« Die Stimme des Seneschalls, die leise und guttural war, weil er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, drückte gegen die Kehle wie gegen Glasscherben. »Faron ist ein wunderbares Geschöpf, einzigartig und mit Kräften, die man erst langsam erkennt. Sollte jemals einer von uns ein Gefäß brauchen, in dem er Schutz suchen kann, ist Faron dafür bestens geeignet.«
Danke, nein. An einen Wirt stelle ich höhere Erwartungen. Ich habe nicht das Verlangen, meine Lebensessenz mit einem
menschlichen Fisch zu teilen, der knochenlos, ängstlich und bei Tageslicht blind ist...
Der Seneschall fuhr mit den Fingernägeln an der Kopfhaut entlang. Blut spritzte bis hinunter auf seine Wangen.
»Genug! Wenn du dir einen anderen Wirt suchen willst, dann tu es jetzt, oder unterwirf dich meinem Willen. Ich wünsche nichts mehr von diesem Unsinn zu hören!« In seiner Wut schloss der Seneschall die Augen und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die geistigen Fesseln, die den Dämon an ihn banden und wie mit Haken im Innersten seines Seins verankert waren. In der vergangenen Nacht hatte er sie losgebunden, damit ihr gemeinsamer Geist in Faron fahren konnte. Alle Gedanken an Selbsterhalt verschwanden. Rasch fand er ein metaphysisches Band und ergriff es. Er bereitete sich darauf vor, es abzuwerfen, so wie das Schiff gleich vom Kai ablegen würde.
Hör auf. Die sengende Stimme zitterte.
Stille kehrte in seine Gedanken zurück. Die Wolken, welche die aufgehende Sonne verborgen hatten, brachen auf, und das Morgenlicht schimmerte in dunstigen Streifen über dem Wasser. Der Seneschall hielt den Atem an, wartete auf die Entgegnung des Dämons und sehnte sich nach der kühlen Dunkelheit unter Deck, wo Faron auf ihn wartete. Er fragte sich, ob das Ungeheuer, das er freiwillig beherbergte und dessen metaphysische Krallen in seiner Seele verhakt waren, seine Drohung Wahrmachen würde. Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Als die Stimme schließlich wieder sprach, klang sie gedämpft.
Berichte mir von dieser Frau und erkläre mir, warum sie so wichtig für dich ist.
Der Seneschall sog die Luft tief ein und füllte die Lungen bis in die letzte Spitze mit der salzigen Luft. Er erlaubte seinen Gedanken, über uralte Wiesen mit Sommergras zurückzuwandern, über die Weiten Marschen der Insel Serendair, die nun nur noch Seegras im Sand unter den brodelnden Wellen des Meeres waren. Er konzentrierte sich auf die Erinnerungen, die er dort erworben hatte.
»Ihr Name ist Rhapsody«, flüsterte er und kämpfte darum, dieses Wort leicht und ehrerbietig in die Luft zu schicken, wie einen Psalm, ein heiliges Lob, auch wenn er wusste, dass es seinem profanen Mund unmöglich war, je ein solches Gebet zu sprechen. »Ich habe sie auf Serendair gekannt, vor der Flut. Sie ist wunderschön: Augen wie ein Smaragdwald, Haar aus Gold von der Farbe reifer Weizengarben. Aber das ist nicht der Grund.«
Warum dann?
Der Seneschall versuchte Gedanken zu formen und die Erinnerung in Worte zu kleiden. »Sie ist energisch, lebendig, leidenschaftlich.« Der Gedanke an die Verachtung, die er vor so vielen Jahrhunderten immer wieder in ihrem Blick gesehen hatte, stieg wie Galle in seiner Kehle hoch und stachelte seinen Stolz jetzt ebenso wie damals heftig an. »Halsstarrig, mürrisch, trotzig, streitlüstern. Närrisch.« Und sie hat mich geliebt, dachte er und erlaubte sich, für den Bruchteil einer Sekunde in diesem Gedanken zu baden. Er vertrieb ihn aus seinem Kopf, bevor der Dämon ihn erhaschen konnte. Das Wissen, dass sie ihm Treue geschworen hatte, war ihm Trost in vielen schwierigen Augenblicken gewesen und hatte ihn in tausend dunklen Nächten in der Zeit vor dem Dämon gewärmt, als er bloß ein sterblicher Mann in der Vorhut des kommenden Krieges gewesen war. Er erinnerte sich noch gut an den Eid, den sie ihm vor seinem letzten Aufbruch geschworen hatte. Er hatte diese Erinnerung in die dunkle Gruft des Verlorenen gelegt, denn er hatte nicht daran denken können, ohne vor Schmerzen verrückt zu werden.
Ich schwöre beim Stern, dass mein Herz keinen anderen Mann lieben wird, bis diese Welt an ihr Ende kommt.
Die Tatsache, dass er ihr dieses Versprechen abgepresst und sie dazu gezwungen hatte, weil er vor ihren Augen das Leben eines jungen Mädchens in den Händen gehalten hatte und sie nicht hatte lügen können, war in seiner Erinnerung schon lange untergegangen. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben, und den Lirin war der Sinn für die Bedeutung eines gegebenen Wortes angeboren.
Wenn sie gesagt hatte, sie liebe ihn, musste es die Wahrheit gewesen sein.
Als er in die frühen Schlachten des serenischen Krieges verwickelt gewesen war und ihn die Nachricht ereilt hatte, sie sei verschwunden, hatte es ihn beinahe getötet, denn er war nur eine Haaresbreite davon entfernt gewesen, ihren Eid einzufordern. Sie war vom Bruder, dem dhrakischen Mörder entführt worden, der als die beste Vernichtungsmaschine bekannt war, welche die Insel je gesehen hatte – besser sogar als er selbst. Er hatte keine Spur mehr von ihr finden können und daher angenommen, der Bruder habe sie getötet und ihren Leichnam ins Meer geworfen, denn die Gleichgültigkeit des Dhrakiers gegenüber den fleischlichen Gelüsten war allgemein bekannt. Damals hatte er zum ersten Mal in seinem Leben geweint. Die Tränen waren wie Säure geflossen und hatten ihn in immer größere Zerstörungsorgien getrieben. Er hatte Dörfer in Schutt und Asche gelegt und die Weiten Marschen in der vergeblichen Hoffnung angezündet, das Buschfeuer werde seine Seele von der Verzweiflung reinigen, die er angesichts seines Verlustes empfunden hatte. Und nun hatte er herausgefunden, dass sie die Zerstörung der Insel ebenfalls überstanden hatte und noch lebte. Zweifellos war sie vor der Flut mit anderen cymrischen Flüchtlingen in See gestochen, hatte sich einen Weg durch die Welt bis zum Drachenland gebahnt und dort Zuflucht gefunden. Sie und er hatten der Zeit ein Schnippchen geschlagen und den Tod seiner Beute beraubt. Sie hatten dieselbe Unsterblichkeit wie die anderen Cymrer und ihre Abkömmlinge erlangt. Und sie hatte geheiratet. Mit den Handelsschiffen war die Nachricht von einer königlichen Hochzeit in Roland gekommen, doch er hatte ihr keine Beachtung geschenkt, bis der Name Rhapsody nach sechzehn Jahrhunderten des Schweigens wieder an seine Ohren gedrungen war.
Nun war Eifersucht in ihm emporgestiegen. Er hatte sich angewöhnt, nachts die Docks zu durchstreifen und achtlos an Hafenhuren und betrunkenen Seeleuten vorbeizulaufen, die eigentlich eine leichte Beute für ihn gewesen wären. Er hatte sich gefragt, ob die Rhapsody, die er gekannt hatte, und diese neue Königin, von der er reden gehört hatte, ein und dieselbe Person sein konnten. Als die Neugier zur Besessenheit geworden war, hatte er Quinn herbeigerufen, einen der Seeleute, die seine willenlosen Leibeigenen waren, und ihn losgeschickt, um herauszufinden, ob es sich vielleicht doch um die Frau handelte, die ihm ihre Treue geschworen hatte. Bis zur letzten Nacht hatte er kaum glauben können, dass es so war.
Und dann war Quinn zurückgekehrt und hatte seine schönsten Hoffnungen und seine größte Furcht bestätigt.
Sie lebte.
Nach all den Jahrhunderten, nach dem Tod der Insel im vulkanischen Feuer, nach einer Reise, die viele Flüchtlinge das Leben gekostet hatte, und nach dem darauf folgenden Krieg lebte sie noch – eine halbe Welt weit entfernt. Sie trug immer noch das Medaillon, das sie in seiner Gegenwart getragen hatte. Sie lebte.
Und war verheiratet.
Und glücklich.
Seine Gedanken wurden schwarz, als die Wut zurückkehrte.
Sie hatte ihn betrogen.
Sie hatte ihren Eid gebrochen.
Man musste sie die Folgen einer solchen Tat lehren.
»Warum?«, fragte er laut. Seine Stimme zitterte bei dem Versuch, seine Wut zu unterdrücken. »Weil sie das beste Pferdchen ist, das ich je gehabt habe, eine Betthure von grenzenlosem Zauber. Eine begabte Dirne, ein verkommenes Flittchen, die mir gegenüber einen Eid gebrochen hat. Ich will mir zurückholen, was mir zusteht.«
Die Stimme des Dämons war schwach wie die ergrauende Asche eines langen Feuers, das sich erschöpft hat.
Nicht schon wieder! Das sollten wir nicht noch einmal tun. Erinnere dich an die Folgen. Erinnere dich daran, wie schwach wir danach waren, als du zum letzten Mal deiner Lust nachgegeben hast, eine Frau zu bespringen. Jedes Kind, das du zeugst, bricht meine Essenz - unsere Essenz – auf und lässt uns geschwächt zurück. Still deine Lust mit Blut und Feuer, aber nicht zwischen den Beinen einer Frau.
Was du in ihr zurücklässt, ist...
»Diesmal werde ich keinen Samen hinterlassen«, gab der Seneschall zurück und ergriff wieder die Reling, als sich das Licht der aufgehenden Sonne über das Wasser legte. »Als Faron gezeugt wurde, war ich noch ein Mensch und mein Blut nur schwach von deiner Essenz getrübt, weil du von dem Austausch der Wirte sehr benommen warst. Jetzt bin ich ein F’dor, denn ich trage dich seit tausendsechshundert Jahren in mir. In mir ist nur wenig menschliches Blut übrig geblieben, falls überhaupt noch etwas da ist. Und die F’dor entscheiden sich wie alle anderen Rassen der Erstgeborenen, ob sie beim Akt der Zeugung ihre Seele aufbrechen oder nicht. Glaube mir, das habe ich nicht mehr vor. Es wird nichts anderes zwischen Rhapsodys Beinen sein als ich selbst. Ich habe vor, lange Zeit dort zu bleiben und mich für all das zu entschädigen, was sie mir schuldet. Du kannst also beruhigt sein; deine Kraft wird nicht angetastet werden.«
Es entstand wiederum ein langes Schweigen, als der Dämon nachdachte. Nun drang immer stärkerer Lärm von den Hafenanlagen her. Der Hafen füllte sich in einer Kakophonie aus Geschäftigkeit mit Leben und Verkehr. Schließlich sprach die Stimme in seinem Kopf wieder. Sie war leise, als ob sie müde sei und aufgegeben habe, doch immer noch klang sie entschlossen.
Nun gut. Wir brechen auf, aber mit der Absicht zurückzukehren, sobald du eingetrieben hast, was dir zusteht. Ich will heimkehren zum Schrecken, zu den Verbrennungen und der wahnsinnigen Schönheit der Zerstörung, die wir hier bewirken können.
Geistesabwesend betastete der Seneschall den Griff von Tysterisk. Er dachte an Rhapsodys Gesicht, als sie ihm die Treue geschworen hatte. Sie hatte ihn bei einem Namen genannt, den er bis heute vergessen hatte.
So, reicht dir das endlich, Michael?
Michael war er in einem anderen Leben genannt worden. Er hatte fast alle Erinnerungen daran verloren.
Michael, der Wind des Todes.
»Glaube mir«, sagte er noch einmal, »dort, wohin wir reisen, wird es reichlich Gelegenheit zu Schrecken und Verbrennungen geben. Ich verspreche dir, dass die wahnsinnige Schönheit der Zerstörungen, die wir hier bewirkt haben, neben dem verblasst, was kommen wird, wenn wir an Rhapsodys Gestaden landen.«
Der Neuanfang
Grei-ti
Der Meister der Zielscheiben gab die Zeichen aus einer Entfernung von hundertfünfzig Schritten: zwölf in der Mitte, zwei im inneren Ring, neun im äußeren Ring – eine vollkommene Gruppierung. Gwydion Navarne seufzte und signalisierte dann, man möge die Ziele weiter nach hinten schieben. Während die Träger die Zielscheiben aus Heu in der Ferne herumtrugen, schüttelte er seinen Langbogen und fuhr sanft mit den Fingern über den Griff. Er hatte länger als ein Jahr für seine Herstellung benötigt, hatte sorgfältig Holz, Hörn und Sehnen zusammengeführt und ihn liebevoll gebeizt. Er war auf diese Waffe sehr stolz, auch wenn es sich dabei noch nicht um ein Meisterwerk handelte. Genau wie er, so befand auch sie sich noch in der Ausbildung, der Lehrzeit, und musste ihre Möglichkeiten erkunden.
An diesem Nachmittag erwies er sich als der Waffe nicht wert.
Er war so sehr darauf konzentriert, das Problem des Flugwinkels zu lösen, dass er das Herannahen der Pferdehufe erst dann hörte, als Anborn sich schon neben ihm befand.
»Du enttäuschst mich, Knabe.«
Das Schnauben des schwarzen Hengstes riss Gwydion aus seiner Konzentration. Er schaute hoch in das Gesicht des Marschalls, des alten Generals des cymrischen Heeres, der ihn von seinem hochlehnigen Sattel aus so eindringlich anstarrte wie ein Raubvogel eine Maus. Gwydion schüttelte den Bogen erneut.
»Entschuldigung, Marschall. Ich arbeite noch an dem Flugwinkel, wenn auch ziemlich schlecht an diesem Nachmittag.« Er nickte Anborns Begleiter zu, einem älteren Cymrer der ersten Generation mit grauem Haar und zerfurchtem, von der Sonne gegerbtem Gesicht, der immer mit einem Paar gezogener Armbrüste ritt. »Sei gegrüßt, Dorndreher.« Der Soldat nickte und stieg ab. Der General schnaubte auf dieselbe Weise wie sein Pferd, griff dann hinter sich und band die Riemen seiner Satteltasche los.
»Ich bin nicht von deiner Treffsicherheit enttäuscht, Junge, sondern von der Wahl deiner Pfeile. Ich sehe, du magst diese dünnen lirinischen Stecken.« Anborn seufzte theatralisch. »Ich hätte ein langes Gespräch mit dir führen sollen, bevor deine Adoptivmutter hier einzog und mit ihren lirinischen Vorlieben deinen Sinn für Pfeile zerstörte.«
Gwydion lachte und ergriff die Zügel, als Anborn langsam abstieg. Dorndreher stand wie immer bereit, ihn zu stützen, falls er das Gleichgewicht verlieren sollte. In den drei Jahren seit Anborns Lähmung hatte Gwydion nie gesehen, dass dies geschah.
»Rhapsody hat wirklich wenig Vorliebe für Pfeile und nicht mehr allzu viel Interesse am Bogenschießen«, sagte er. »Wenn sie nach Tyrian geht, bringt sie mir meistens die langen Weißholzzweige mit.«
Anborn stützte sich auf den beiden eigens für ihn angefertigten Stöcken ab und sah Gwydion mit gespieltem Widerwillen an. »Also bist du von allein auf diese Vorliebe gekommen? Erschütternd.«
»Ich lerne auch noch an der Armbrust, Marschall.«
»Nun gut, dann solltest du noch nicht in den Wald geführt und an die Wiesel verfüttert werden.«
Gwydion Navarne lachte. »Vielleicht erklärt Ihr mir eines Tages, warum Eure Familie so davon angetan ist, Unfähige den Wieseln vorzuwerfen«, sagte er und warf einen Blick auf den Knappen, der mit dem Stuhl des Generals herbeikam. »Wenn ich mich recht erinnere, verkündete Edwyn Griffith, Euer Bruder, Tristan Steward auf dem cymrischen Konzil das gleiche Schicksal.«
»Von Wieseln gefressen zu werden, ist viel zu gut für Tristan Steward«, sagte Anborn verächtlich.
»Außerdem wäre es grausam gegenüber den Wieseln.« Er bemerkte die Geste des Zielscheibenmeisters. »Sie sind so weit, Junge.«
»Womit habt Ihr Euch in der letzten Zeit beschäftigt, Marschall?«, fragte Gwydion, als er einen Pfeil einlegte. »Rhapsody hat gesagt, Ihr wäret nach Süden zur Skelettküste von Sorbold gegangen.«
»In der Tat.« Der Marschall erlaubte Dorndreher, ihm in den mit Rollen versehenen Stuhl zu helfen, und legte die Gehstöcke über seine nun nutzlosen Beine.
Dabei wurde er von einem nachdenklichen Gwydion Navarne beobachtet. Im Alter von sieben Jahren war er dem legendären Soldaten bei dem Begräbnis seiner Mutter begegnet und war entsetzt von ihm gewesen. Er war zu jung, um von dem zänkischen Charakter des Generals gehört zu haben, doch allein Anborns Erscheinung war schon einschüchternd genug gewesen: der breite, bedrohlich muskulöse Rücken, die leuchtenden, azurblauen Augen in einem Gesicht, in dem schreckliche Erlebnisse ihre dunklen Spuren hinterlassen hatten, das schwarze, mit weißen Strähnen durchsetzte Haar, das wütend bis über die Schultern floss – alles an dem General hatte ausgereicht, um in Gwydion den Wunsch zu erwecken, sich hinter seinem Vater zu verstecken, der seine Angst instinktiv erkannt und nicht von ihm verlangt hatte, hervorzutreten und dem General die Hand zu schütteln, bis dieser endlich gegangen war.
Doch seit dem Konzil, das im Gefolge der großen Schlacht vor drei Jahren abgehalten worden war, hatte er den Mann kennen und bewundern gelernt und liebte ihn inzwischen so, wie es sein Pate Gwydion von Manosse tat: mit Respekt und aus sicherem Abstand.
Es lag etwas in den Augen des Generals, das Gwydion Navarne nicht begriff. Mit der bruchstückhaften Weisheit der Jugend erkannte er, dass es Gedanken, Gefühle und Einsichten im Kopf eines Mannes gab, der so viele Jahrhunderte wie Anborn gelebt hatte, der so viele Schrecken wie Anborn gesehen hatte und das Leben auf eine Weise wie Anborn betrachtete, die er selbst nicht verstand und vielleicht nie verstehen würde.
Gwydion Navarne spannte den Bogen und schoss den Pfeil ab. Er flog ein wenig nach links. Er traf das einhundertsechzig Schritte entfernte Ziel aus Heu und prallte von ihm ab.
»Verflixt!«
Der Marschall starrte ihn an, als wäre er vom Blitz getroffen.
»Verflixt?«, meinte er verachtungsvoll. »Verflixt? Guter All-Gott, was hat mein nichtsnutziger Neffe dir denn beigebracht? Ist das dein bester Fluch, Junge? Nachdem du hier fertig bist, gehen wir direkt in die Stadt und finden eine passende Taverne für dich, in der du die richtige Erziehung in den wesentlichen Dingen erhältst: trinken, huren und richtig fluchen.«
»Oh, ich kann recht gut fluchen, Marschall«, sagte Gwydion Navarne freundlich. »Ich wollte nur Eure Ohren nicht beleidigen, da Ihr doch ein so zarter und taktvoller Mann seid.«
Anborn kicherte, als Gwydion den Bogen wieder spannte. »Nun, das will ich hoffen. Mein Neffe, dein Namensvetter, ist vom besten Mann – das heißt, von mir – in den schönsten Flüchen unterrichtet worden, die es je in der Drachensprache gegeben hat – was die beste Sprache für Verwünschungen jeder Art ist. Leider hast du dafür nicht die körperlichen Voraussetzungen. Ohne die bei Schlangen übliche Öffnung in der Kehle bekommst du den doppelten Knacklaut nie hin, aber sicher hast du dir schon einen beeindruckenden vulgären Wortschatz angeeignet, denn schließlich lebst du bereits einige Jahre bei ihm. Und deine ›Großmutter‹..., nun ja, eine Benennerin mit ihrer Macht sollte eigentlich Zugang zu ein paar ganz großartigen Flüchen haben.«
»Allerdings.« Gwydion Navarne schoss den Pfeil ab, der den inneren Rand des äußeren Kreises durchbohrte, und trat vor Verärgerung auf den Boden. »Hrekin!«
»Aha, ein bolgischer Fluch, wenn auch ein schwungloser. Nicht schlecht.« Das Gesicht des Generals verzog sich vor Belustigung. »Kann mir gar nicht vorstellen, von wem du den aufgeschnappt hast.«
»Als Ihr und ich mit Sergeant-Major Grunthor als Ehrengarde bei Rhapsodys Krönung in Tyrian gedient haben, hat er mir viele nützliche Dinge beigebracht, zum Beispiel die Entfernung von Nissen aus Hautfalten und die Säuberung der Nasenlöcher bei gleichzeitiger Blendung eines Angreifers.«
»Aha.« Anborn räusperte sich, während Dorndreher den jungen Herzogsanwärter von der Seite her ansah. »Nun ja, man kann nie zu viele Waffen in seinem Arsenal haben, obwohl mir diese bisher unbekannt war.«
Gwydion Navarne setzte die Waffe ab, damit sich die Sehne zusammenziehen konnte. »Werdet Ihr mir mitteilen, wo Ihr wart? Oder ist diese Frage ein gesellschaftlicher Fauxpas?«
»Beides.« Der alte Krieger sah ihn von oben bis unten an. Nun lag in seinen Augen ein anderer Ausdruck als vorhin. Sein Blick war durchdringender, wurde aber durch ein tieferes Gefühl gemildert, das der Junge nicht mitbekam, denn er wandte sich wieder seinem Bogen zu. »Ich habe an der Skelettküste nach einem Blutsverwandten gesucht.«
Gwydion Navarne schaute nicht auf, als er den Bogen wieder spannte. »Oh?« Er zupfte flüchtig an der Sehne, war mit der Spannung zufrieden und sah hoch. Der ernste Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Männer erstaunte ihn. »Stammte dieser Blutsverwandte aus der Linie Eures Vaters Gwylliam oder aus der Familie Eurer Mutter Anwyn?«
Anborn seufzte tief und blickte über die Wiese. Seine Augen waren auf kein bestimmtes Ziel gerichtet; es war, als sähen sie in eine andere Zeit.
»Weder noch. Ich meine mit diesem Ausdruck keinen gewöhnlichen Verwandten. Ich rede von einer uralten Gesellschaft von Männern, einer Bruderschaft, die in der alten Welt gebildet wurde und aus einer anderen Zeit stammt: die Brüder. Krieger. Ergebene Soldaten, welche die Kunst des Kampfes ein ganzes Leben lang geübt und sich ihr völlig untergeordnet hatten. Die Blutsverwandten schworen bei dem Wind und Seren, dem Stern, der über der Insel Serendair stand, die jetzt auf der anderen Seite der Welt unter den Wellen begraben liegt. Und sie schworen bei ihren Mitbrüdern, immer bei ihren Mitbrüdern.«
Gwydion Navarne legte ehrerbietig die Hände auf die Spitze seines Bogens und wartete auf das, was der Marschall, üblicherweise ein Mann weniger Worte, noch zu sagen hatte.
Er spürte Dorndrehers Arm auf seiner Schulter, aber er wandte sich nicht um, denn er wollte Anborns Begleiter nicht in die Augen schauen. Die Eindringlichkeit, die er in den Blicken der beiden spürte, sagte ihm, dass der General ihm gerade etwas sehr Wichtiges mitteilte. Er wollte sich des Vertrauens als würdig erweisen.
Anborn schaute über die gewellten Hügel auf die hohe Mauer, welche die Felder hinter Haguefort umgab. Zwischen den Zinnen patrouillierten Wachleute; ihre Schatten waren lang und dünn in der Nachmittagssonne.
»In gewisser Hinsicht sind alle Soldaten so etwas wie Brüder, denn sie verlassen sich auf den anderen, wenn es um ihr Leben geht. Diese Art zu leben schmiedet Bande, die auf andere Weise nicht hergestellt werden können – nicht durch Geburt oder den bloßen Willen dazu. Die Bereitschaft, für einen Kameraden zu sterben und gemeinsam an einer Sache beteiligt zu sein, die größer ist als man selbst, schafft eine Verbindung, die alle anderen übersteigt.
Nach einem solchen Soldatenleben bleiben zwei Arten von Männern übrig: diejenigen, die dankbar sind, diese Erfahrung überlebt zu haben, und diejenigen, die dankbar sind, dass die Erfahrung in ihnen überlebt hat.
Die erste Art packt am Ende des Dienstes ihre Sachen und geht nach Hause zu Hof und Familie. Diese Männer wissen, dass sie, egal was ihnen noch widerfahren wird, Teil von etwas gewesen sind, das sie nie mehr loslassen wird und das sie mit anderen verbunden hat, die sie möglicherweise nie wiedersehen werden, die aber ein Teil ihres Lebens bleiben, bis sie sterben.«
Er räusperte sich und betrachtete Gwydion Navarne eine Weile lang. »Die zweite Gruppe geht nie nach Hause, denn ihre Heimat ist der Wind. Der Wind bleibt nie länger als einen Augenblick am selben Ort, aber er ist immer da und umweht den Soldaten, wo er auch ist. Er ist sowohl flüchtig als auch treu. Der Soldat lernt, genauso zu werden. Und je mehr er wie der Wind wird, desto mehr verliert er das Gefühl für sich selbst. Natürlich hat jeder dienende Soldat, der täglich sein Leben nicht nur für die Kameraden und seinen Anführer, sondern auch für all jene aufs Spiel setzt, die er nicht sieht, kaum mehr ein Bewusstsein seiner selbst.
Die Blutsverwandten waren eine Elite von Männern, die auf diese Weise lebten. Sie wurden aus zwei Gründen in die Bruderschaft aufgenommen: unglaubliches, in einem ganzen Soldatenleben erworbenes Geschick und die selbstlose Art, anderen zu dienen und die Unschuldigen zu schützen, auch wenn dabei das eigene Leben in Gefahr geriet.«
Er nahm dem jungen Mann den Bogen aus der Hand, änderte die Einstellungen ein wenig und untersuchte die Sehne. »Dein Einlegepunkt ist zu hoch«, sagte er. Er winkte Dorndreher zu, der wortlos einen weißen Langstreckenbogen aus Gwydion Navarnes am Boden stehenden Köcher nahm und ihn ihm übergab. Der General strich über das Holz des Schaftes und hob die Augenbrauen.
»Guter Pfeil«, sagte er mit widerwilliger Bewunderung. Er legte ihn ein und gab den Bogen dem jungen Mann zurück.
Gwydion nickte schweigend.
»Wenn jemand das Recht erwirbt, ein Blutsverwandter zu sein, ist es der Wind selbst gewesen, der ihn erwählt hat«, fuhr Anborn fort und beobachtete ihn eingehend. »Die Luft ist wie das Feuer, die Erde, das Wasser und der Äther ein uranfängliches Element, eines der fünf, aus denen sich die Welt zusammensetzt, aber es wird oft übersehen. Seine Stärke wird immer unterschätzt und selten erkannt, aber sie ist beachtlich. In ihrer reinsten Form ist die Luft lebendig, und sie kennt die Ihren – die Blutsverwandten, die auch Brüder des Windes heißen. Serendair war ein sehr magischer Ort. Dort wehte der Wind frei und stark. Leider befindet sich Nordland, der Geburtsort dieses Elements, von hier aus gesehen auf der anderen Seite der Welt; daher ist der Wind hier nicht so stark wie dort. Wenn ein Mann zu einem Blutsverwandten wird, hört er den Wind in seinen Ohren und in seinem Herzen wispern und ihm seine Geheimnisse erzählen, ob dieser Mann seine Berufung nun durch lebenslangen Dienst oder einen einzigen Augenblick des selbstlosen Opfers erworben hat. Er kann diese Geheimnisse nutzen, um sich im Wind zu verstecken, mit ihm zu reisen oder ihn um Hilfe zu rufen. Der Ruf des Blutsverwandten ist der zwingendste Ruf, den ein Mann je hören kann. Er umgarnt die Seele, reicht bis tief ins Herz und verlangt eine Antwort. Er wird nur unter den schrecklichsten Umständen benutzt, wenn der Blutsverwandte, der ihn ausstößt, spürt, dass er an der Schwelle des Todes steht und sein Tod über ihn hinaus schlimme Auswirkungen haben wird. Und kein Blutsverwandter, der diesen Ruf hört, würde ihn unbeachtet lassen, denn dann wäre er bis zum Ende seiner Tage vom Wahnsinn umfangen.«
»Und Ihr habt den Ruf von der Skelettküste gehört.« Gwydion Navarne versuchte leise und ehrerbietig zu sprechen, doch die Erregung in ihm kochte über und brach die ruhige Stimmung auf der Wiese. Dorndreher sah ihn scharf an, doch Anborn nickte nur.
»Habt Ihr ihn gefunden? War der Blutsverwandte da?«
Anborn seufzte und erinnerte sich an den Klang der Wellen, die gegen den schwarzen Sand brandeten, und an den wirbelnden Nebel über dem Meer, der die Wracks aus der alten Welt umspielte, die vor vierzehn Jahrhunderten an dem zeitlosen Sand zerschellt waren. Der Wind hatte mit dem Klang der See um die Oberherrschaft gekämpft, hatte verloren und war untergegangen.
»Nein«, sagte er.
Gwydion Navarne verfiel wieder in Schweigen. Er wandte sich von den cymrischen Soldaten ab und schoss auf die Vogelscheuche, die in einer Entfernung von einhundertfünfzig Schritten an einem Pfahl hing. Die Strohpuppe zuckte unter der Macht des Aufpralls zurück, schwang dann hin und her und entlockte den beiden Männern zustimmende Rufe.
Der junge zukünftige Herzog hatte den Eindruck, dass er den schlechten Eindruck von vorhin wettgemacht hatte, und drehte sich wieder zu den beiden Männern um.
»Vielleicht war der Ruf von einem anderen Blutsverwandten beantwortet worden«, gab er zu bedenken.
»Das bezweifle ich«, brummte Anborn. »In dem alten Land waren Blutsverwandte selten, aber in diesem sind sie kaum mehr anzutreffen. Mir sind in den letzten siebenhundert Jahren nur zwei begegnet. Die eine war Oelendra, die lirinische Meisterin, welche die erste Flüchtlingsflotte von der Insel geführt hat und nach der königlichen Hochzeit aus dem Leben geschieden ist. Die andere ...« Er verstummte und lächelte in sich hinein.
»Wer, Marschall?« Gwydion Navarne konnte seine Neugier nicht verbergen. »Wer war die andere?«
Die beiden Soldaten tauschten einen raschen Blick, und Anborns Lächeln wurde breiter.
»Vielleicht solltest du deine ›Großmutter‹ danach fragen«, meinte er.
»Rhapsody?« Gwydion Navarne zog ungläubig die Brauen zusammen. »Rhapsody ist eine Blutsverwandte!«
»Vielleicht habe ich vergessen zu erwähnen, dass Blutsverwandte in allen Gestalten und Größen erscheinen, Junge«, sagte er und gebrauchte dabei dieselben Worte wie sie ihm gegenüber, als er genauso ungläubig gewesen war. »Sie sind auf allen Wegen des Lebens anzutreffen – und einige von ihnen sind sogar Sänger und Benenner.«
»Frauen können Blutsverwandte sein?«
»Beide Blutsverwandte, die ich soeben erwähnt habe, sind Frauen. Glaubst du, nur Männer sind bereit, für eine große Sache ein Opfer zu bringen?«
»Ich hätte gern alle paar Stunden ein Opfer, ein paar Kratzer an ihren Knien und morgen früh einen sauren Geschmack auf ihrer Zunge für die große Sache meiner Befriedigung«, murmelte Dorndreher.
»Bist du hier fertig, Anborn?«
Gwydion Navarne fuhr sich mit der Hand durch das mahagonifarbene Haar. »Das war ein seltsamer Tag«, brummte er. Er sah Anborns Begleiter an. »Bist du auch ein Blutsverwandter, Dorndreher?«
Der ältere Cymrer schnaubte. »Wenn du einmal selbst einer bist, darfst du mich das fragen«, schnappte er. »Vorher nicht.«
»Entschuldigung«, sagte Gwydion. Anborn nickte bereits in Richtung des schwarzen Hengstes. Dorndreher war offensichtlich erleichtert, dass das Gespräch beendet war. Er rollte den Stuhl rasch zu dem Pferd hinüber, nahm Anborns Gehstöcke und schnallte sie am Sattel fest.
»Du solltest wirklich über einen Langbogen nachdenken, Junge«, sagte Anborn, als Dorndreher ihn zum Aufsitzen fertig machte. »Eine Armbrust dringt allerdings besser durch alles hindurch und ist im Krieg wendiger.«
»Ja, aber wir haben Frieden, und zwar, seit der Herrscher und die Herrscherin den Thron bestiegen haben«, erwiderte Gwydion und senkte den Blick, als Dorndreher den alten General mit der Schulter aus dem Rollstuhl hob und ihn wie ein Kind in den Sattel hievte. »Ich erwarte in naher Zukunft keinen Krieg mehr, Marschall. Als Bogenschütze muss ich nur gut genug sein, um eine Vogelscheuche zu durchdringen.«
Der General hielt beim Aufsitzen inne und schaute auf ihn herunter. »Nur ein Narr denkt so, Junge«, sagte er knapp. »Der Friede ist nur für eines gut: zur Verbesserung der eigenen Kampfgeschicklichkeit bis zum nächsten Krieg. Dein Vater wusste das; du erkennst es an der Mauer, die er gebaut hat. Wehe deiner Provinz, wenn du das nicht auch weißt.«
Als der Marschall wieder auf seinem Pferd saß, bedeutete er Gwydion Navarne, ihm den Langbogen zu bringen. Der Junge entsprach der Bitte sofort und sah fasziniert zu, wie der cymrische General die Augen schloss, den Bogen mit großer Leichtigkeit bis weit hinter seine Ohren spannte und schoss. Gwydion hatte noch nie beobachtet, dass ein Bogen so weit gespannt wurde.
Der Pfeil pfiff an ihm vorbei; der Wind, auf dem er flog, zauste ihm die Haare und blies ihm in die Augen. Er sah, wie der Pfeil das Heuziel in der Mitte traf. Es schwankte heftig in Wellen, die er trotz der Entfernung von einhundertsechzig Schritten bis in die Zähne spürte.
Anborn öffnete die Augen.
»Hast du ihn gehört?«, wollte er wissen.
»Den Wind? Ja. Er hat wie ein Teekessel gepfiffen.«
Der General warf ihm den Bogen ungeduldig zu.
»Das war der Pfeil«, sagte er barsch. »Hast du den Wind gehört?«
Gwydion Navarne dachte nach und schüttelte dann den Kopf.
»Nein.«
Anborn stieß scharf die Luft aus. »Schade«, sagte er, während er die Zügel hob und Dorndreher auf sein eigenes Pferd stieg. »Vielleicht bist du nicht dazu bestimmt.«
»Warum habt Ihr mir all das erzählt?«, rief Gwydion Navarne ihm zu.
Anborn brachte sein Pferd neben dem jungen Mann zum Stehen und beugte sich so weit herunter, wie es sein zerschmetterter Rücken erlaubte, wobei er sich an der hohen Lehne des Sattels abstützte.
»Weil es bald keine Blutsverwandten mehr geben wird«, sagte er ruhig. »Die Bruderschaft verschwand beinahe ganz, als die Insel vom Meer verschlungen wurde. MacQuieth, der möglicherweise der größte aller Blutsverwandten war, ist kurz darauf gestorben. Er hat die Zweite Flotte sicher nach Manosse geführt, ist ins Meer gewatet und hielt Totenwache für die Insel. Als die Sintflut kam, hat er sich in die Wellen gestürzt und ist ertrunken. Die wenigen, die es hier noch gab -
Oelendra, Talumnan -, sind inzwischen alle aus dem Leben geschieden. Eines Tages werden die legendären Blutsverwandten nicht mehr als das sein: eine Legende. Ich war der Ansicht, du wolltest die Geschichte hören, solange noch jemand da ist, der sie aus eigener Erfahrung erzählen kann, Junge.« Er ergriff die Zügel. »Es tut mir Leid, falls ich mich geirrt habe. Und falls ich mich wirklich geirrt habe, sollte es dir auch Leid tun.«
»Ich fühle mich geehrt, dass Ihr sie gerade mir erzählt habt, Marschall«, sagte Gwydion hastig, als Anborn Dorndreher zunickte und sich zur Abreise fertig machte. »Aber was ist mit Rhapsody? Sie ist eine Cymrerin der ersten Generation und sollte daher vom Verstreichen der Zeit unberührt sein. Wird es nicht immer Blutsverwandte geben, solange sie lebt?«
Anborn seufzte. »Anscheinend begreifst du nicht die Bedeutung dieses Wortes«, sagte er mit einer Spur Wehmut in der Stimme. »Allein kann man kein Blutsverwandter mehr sein.«
Er gab seinem Hengst ein klickendes Zeichen und preschte über die glänzenden Wiesen, deren Gras sich vor der Sonne des späten Nachmittags demütig beugte.