Das Gemetzel

27

Der Heilige Stadtstaat Sepulvarta

Der äußere Ring der Stadt war ein Labyrinth aus weißen und grauen Marmorgebäuden, die in jene Hänge eingelassen waren, welche sich schließlich zum schützenden Gebirge von Sorbold im Süden erhoben. Diese Gebäude – Wohnhäuser, Versammlungshallen und Museen – schimmerten in weiter Ferne im Licht des Morgens und erweckten den Eindruck, als leuchte die ganze Stadt.

Als ob dies nicht genug wäre, um der Gegend eine heilige, beinahe magische Patina zu verleihen, erhob sich in der Mitte der Stadt ein gewaltiges Gebilde, das als »der Turm« bekannt war. Es handelte sich dabei um den Turm von Lianta’ar, der großen Basilika des Sterns, der heiligsten aller Elementarbasiliken. Sie war ein Meisterwerk der Architektur, dessen Fundament einen ganzen Häuserblock umspannte und das sich tausend Fuß hoch in die Luft erhob und von einem goldenen Stern gekrönt wurde. Diese leuchtende Spitze enthielt den Legenden nach ein Stück Äther aus dem Stern Melita, der in der cymrischen Überlieferung auch als »das Schlafende Kind« bekannt und im Ersten Zeitalter auf die Erde gefallen war. Sein Einschlag hatte die Insel zur Hälfte versenkt. Der brennende Stern hatte vier Jahrtausende lang unter den Wellen begraben gelegen und den Ozean über sich zum Kochen gebracht, bis er sich schließlich erhoben und auch den Rest der Insel beansprucht hatte. Doch ein Stück von ihm war mit den cymrischen Auswanderern gereist, so hieß es beharrlich in den Legenden, und erhellte nun die Turmspitze, die Tag und Nacht leuchtete und noch aus einer Entfernung von hundert Meilen sichtbar war. Lasarys und die zwei Diener, die dem Gemetzel auf dem Platz von Jierna Tal entkommen waren, waren diesem Licht wie einem Leuchtfeuer gefolgt. Wenn sie auf der Flucht erkannt worden wären, hätte man sie zu Talquist zurückgeschickt, der sie tot glaubte und die Wirklichkeit seinem Glauben angepasst hätte. Daher waren sie langsam und umsichtig gereist und hatten sich einer Karawane aus Pilgern angeschlossen, die in die heilige Stadt zog. Die Pilger hatten sie freundlich aufgenommen – es befanden sich bereits weitere unbekannte Reisende in ihren Reihen – und ihnen erlaubt mitzugehen, bis der Turm in Sichtweite war. Dann trennten sich die früheren Priester von ihnen und suchten nach Nielash Mousa, dem Segner von Sorbold und Seligpreiser ihrer Nation, da sie ihm alles berichten wollten, was sie gesehen hatten.

Nun standen sie vor dem Stadttor; der hoch aufragende Turm warf einen tiefen Schatten auf sie. Die in Pilgerroben gekleideten Priester badeten schweigend in der Großartigkeit ihrer heiligen Stadt und deren Turm, während Eiskristalle sie auf dem Wind umtanzten. Der Turm wurde als unmittelbare Verbindung des Patriarchen zum Schöpfer angesehen; daher war ein Blick auf dieses Bauwerk gleichzeitig ein Blick auf die Schwelle des Nachlebens.

Lester war der Erste, der die Sprache wieder fand.

»Wie können wir den Segner finden, Vater?«, fragte er Lasarys unruhig, während er den Strom menschlichen Verkehrs beobachtete, der in der Hauptsache aus Dienern und Priestern der patriarchalischen Religion bestand, die zusammen mit Kaufleuten, Händlern und Bettlern durch das Stadttor strömten. »Keiner von uns ist jemals hier gewesen. Wenn wir nach dem Weg fragen, wird man uns zweifellos erkennen, denn alle anderen hier scheinen von orlandischem Geblüt zu sein.«

Der alte Hauptpriester schüttelte den Kopf. »Haltet den Blick auf den Boden gerichtet und betet, der All-Gott möge uns helfen.«

Dominikus steckte nervös die Hände in die Ärmel seiner Robe und trottete mit Lester hinter Lasarys her. Gemeinsam näherten sich die drei Männer dem Stadttor.

»Was wollt ihr hier?«, fragte der Wächter mechanisch.

Lasarys verneigte sich ehrerbietig. »Wir sind Leinenweber aus Sorbold, Herr«, sagte er sanft. »Wir sind hier, um die Roben Seiner Heiligkeit zu säubern und die Fäden für seine neuen Kleider zu spinnen.«

Der Wächter schnaubte und trat zur Seite. Sein Blick war glasig vor Langeweile.

Rasch eilten die drei Priester durch die bevölkerten Straßen und machten sich auf den Weg zu dem Haus, in dem der Patriarch lebte. Es war nicht schwierig zu finden. Das Pfarrhaus war ein auffallend schönes Marmorgebäude mit gewaltigen, messingbeschlagenen Türen, das gegenüber dem Turm an die Basilika angebaut war, aber dennoch im Licht der Sternenspitze lag. Es wurde von zwei Soldaten mit Speeren bewacht.

»Was wollt ihr?«, fragte die erste Wache, als sich die drei Männer der Tür näherten.

»Wir sind Priester aus Sorbold und möchten mit Nielash Mousa sprechen«, sagte Lasarys mit tiefer Stimme und wandte dabei bescheiden den Blick ab. »Wir bitten um eine sofortige Audienz; es ist sehr wichtig.«

Der erste Soldat betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen und murmelte dann seinem Gefährten einige Worte zu, worauf dieser nickte. Der Wächter öffnete einen der großen, messingbeschlagenen Türflügel und verschwand im Haus. Einige Zeit später erschien er wieder und grinste selbstgefällig.

»Der Seligpreiser ist leider nicht mehr hier«, sagte er. »Er ist nach Sorbold zurückgekehrt. Ihr könnt gehen.«

Die drei Priester starrten einander voller Entsetzen an, dann wandten sie sich rasch ab, denn sie wollten die Neugier der Wachen nicht wecken.

»Was jetzt?«, fragte Lester verzweifelt.

»Vielleicht sollten wir mit dem Patriarchen reden«, schlug Dominikus vor.

Lasarys unterdrückte ein bitteres Lachen.

»Der Patriarch empfängt jemanden wie uns nicht; das ist gar nicht vorgesehen«, sagte er, während er eine gefrorene Gosse übersprang, in der sich das Wasser von der Straße gestaut und eine Eisfläche geschaffen hatte, die wie frostige Finger in das Pflaster griff. »Wenn er sich nicht mit Staatsoberhäuptern oder Hohepriestern und Segnern bespricht, empfängt er unsere Gebete zum All-Gott und bringt sie ihm dar.« Die beiden Hilfspriester nickten. Jeder Anhänger des patrizianischen Glaubens kannte die Lehre, nach der die einfachen Leute die Gebete ihren Priestern darbrachten; diese wiederum gaben sie an den Hohepriester weiter, der sie dem Segner überantwortete und dieser dem Patriarchen, der sie an den All-Gott richtete. Der Patriarch allein hatte die Möglichkeit, unmittelbar mit dem Schöpfer zu reden; alle anderen konnten es nur mittelbar.

»Was sollen wir also tun?«, beharrte Lester.

Lasarys seufzte entmutigt.

»Wir sollten Lianta’ar besuchen und dort unsere Gebete darbringen«, sagte er. »Vielleicht säubert der heilige Äther im Turm über uns ein wenig von den Schrecken, deren Zeugen wir waren. Vielleicht überkommt uns dann die Weisheit.«

Die Priester umrundeten das gewaltige Gebäude und suchten nach dem Eingang. Sie fanden ihn schließlich an der Ostseite des Tempels, der aufgehenden Sonne zugewandt. Die Tore waren aus schimmerndem Messing geschmiedet, in das ein silberner, achtzackiger Stern eingelegt war. Die hoch aufragenden Mauern aus poliertem Marmor und die Kuppel waren höher als alles andere in der bekannten Welt.

Für den Hauptpriester und seine beiden Gehilfen, die zwar einen großen Teil ihres Lebens mit dem Dienst an den Gläubigen verbracht hatten, aber bisher noch nie in Sepulvarta oder Lianta’ar gewesen waren, stellte der Schritt über die Schwelle der Basilika beinahe so etwas wie der unmittelbare Eingang in das Nachleben dar. Die Architektur der Basilika war unübertroffen, was ihre Länge, Breite, Höhe und Schönheit anging. Zahllose farbige Mosaike bedeckten Boden und Gewölbe, ausgezeichnete Vergoldungen schmückten die Fresken an den Wänden und die Fenster aus farbigem Glas. Die Männer blieben stehen, denn sie konnten nicht all das in sich aufnehmen und gleichzeitig weiterschreiten. So erging es vielen hundert Gläubigen, die kurz vor ihnen durch die Tür getreten und dahinter in Ehrfurcht erstarrt waren.

Nach einigen entrückten Augenblicken schüttelte der Hauptpriester seine Verzückung ab und zupfte an Lesters Ärmel. Rasch bahnten sie sich einen Weg durch die Masse der Gläubigen, die mit offenem Mund die Decke anglotzten, gingen am Lektorenkreis vorbei, wo heilige Texte laut vorgelesen wurden, und begaben sich in eine der Bänke, die den zentralen Altar auf allen Seiten umgaben.

Der Altar selbst stand auf einer zylindrischen Erhebung, zu der einige Stufen hochführten. Er war aus einfachem Stein gehauen, aber in Platin eingefasst und konnte von überall aus eingesehen werden. An diesen Altar wurden jede Woche besondere Anliegen, Gebete und Gesuche um Weisheit oder Heilung gerichtet, die die fünf Segner des Glaubens gesammelt und dem Patriarchen zur Darbringung an den All-Gott übergeben hatten. Lasarys betrachtete nun den Altar und legte seine gedankliche Bitte durch die Vermittlung des Patriarchen schweigend dem Schöpfer zu Füßen, auch wenn er dazu gar nicht berechtigt war.

O heiliger Vater des Universums, Herr des Lebens, erhöre mein Gebet, denn ich fürchte um diese Welt. Er neigte den Kopf und zwang sich, ruhig zu bleiben.

Die Stille in der Basilika, die nur durch den gelegentlichen Widerhall von Schritten und Geflüster durchbrochen wurde, legte sich ihm auf die Schultern, aber keine Worte drangen in seinen Geist. Nach beinahe einer Stunde Meditation hob Lasarys den Kopf und schaute die beiden Hilfspriester an.

Dominikus war noch im Gebet versunken; er hatte die Hände vor die Augen gelegt. Lester starrte blicklos den Altar an; auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck stiller Panik.

»Irgendetwas?«, fragte er sie leise.

Die beiden Priester in der Ausbildung schüttelten den Kopf.

Lasarys seufzte. Er erhob sich steif und spürte sein Alter in Knochen und Gelenken.

»Also gut, meine Kinder. Wir sollten diesen Ort verlassen und uns in der Stadt umsehen. Vielleicht finden wir jemand aus unserem Orden, bei dem wir Verpflegung erhalten können. Aber nennt niemandem euren Namen, damit er nicht den Weg zurück zu Talquist findet.«

Die Diener nickten erneut und folgten dem Hauptpriester aus der Basilika.

Als sie in die blendende Wintersonne traten, stach ihnen ein noch hellerer Lichtblitz in die Augen. Er kam von einer Speerspitze, die um Haaresbreite vor Lasarys’ Gesicht zum Stillstand kam.

»Bist du der Hauptpriester von Terreanfor?«, wollte der Wächter wissen. »Hast du diese Stadt unter falschen Angaben betreten?«

Lasarys, der schon immer ein scheuer Bücherwurm gewesen war, sah dem Mann ins Auge und nickte leicht.

»Kommt mit«, sagte der Wächter barsch.

Als sich vier weitere Wächter um sie gesellten, funkelten die Augen der Priester, aber sie sagten nichts. Sie neigten die Köpfe unter den Kapuzen ihrer Umhänge und folgten dem Anführer fort von der Basilika.

Als sich die Erde unter dem herannahenden Winter verhärtete, verhärtete sich in ähnlicher Weise auch Farons Wille.

Jeder neue Tag trieb ihn weiter hinaus auf die frostüberzogenen Felder und durch den jungfräulichen Schnee des inneren Kontinents. Sein einfacher Verstand hatte die Notwendigkeit begriffen, sich zu verstecken und in bevölkerten Gegenden nicht gesehen zu werden, doch jetzt, als er das Land südöstlich von Navarne durchstreifte, in dem es kaum etwas anderes als weite Felder, endlose Straßen und Wälder gab, verlor er seine Angst, gesehen zu werden, und wurde kühn, ja beinahe unbesonnen.

Die Kälte der Erde gefiel ihm nicht; er fühlte sich wie ein Kind, das vom Schoß der Mutter heruntergeschoben worden war. Er spürte noch den Herzschlag der Erde und ihre Wärme unter dem dicken Schneetuch, doch das Gefühl der Geborgenheit, das er aus dem Boden unter seinen Steinfüßen im Herzen des Wüstensandes gezogen hatte, war abhanden gekommen und durch wachsende Wut und Unruhe ersetzt worden.

Und durch Hass.

Er musste weder schlafen noch essen; die Erde nährte ihn durch das Lebendige Gestein, aus dem sein Körper bestand. Die ganze Zeit hindurch buk das dunkle Feuer, das Erbe seines dämonischen Vaters, das Innerste seines Selbst, trocknete den Stein aus, machte ihn hart wie die frostige Erde.

Wie seinen Willen.

Unter der Kruste derselben kalten Erde hörte die Drachin, wie sich das Echo ihres Namens veränderte. Aaaaaannnnnnnwwwyyyyyyyyyyyyyyynnnnnnn.Til

In der Dunkelheit öffnete die Bestie die Augen weit. Der Klang, dem sie seit so langer Zeit folgte, drang durch alle Erdschichten und tönte nun klar und hoch über ihr. Offensichtlich befand sie sich nun genau unter dem Ort, wo ihr Name ausgesprochen worden war.

Er schwang wellenartig, als ob sie ihn durch Wasser hörte. Die Bestie sammelte sich und entschied nach einem Augenblick, dass sie tatsächlich ein wässeriges Echo aus einem von einer Quelle gespeisten, dunklen und kalten See über ihr empfing. Trotz aller Verzerrungen war eine Klarheit in ihm, die man nicht leugnen konnte. Ihr Herz raste vor Erregung, die durch grausame Rachegefühle verdunkelt wurde.

Mit aller Kraft ihrer titanischen Muskeln bohrte sich die Bestie durch die Gesteinsschichten, kroch mit ungeheurer Stärke voran, gewann an Geschwindigkeit, an Wut und kam der Oberfläche immer näher.

Und der bevorstehenden, lieblichen Zerstörung.

28

Immernur — Neutrale Zone

Unter dem Ruf des Hauptfahrers hielt die königliche Karawane langsam an.

Gwydion Navarne wartete, bis sein Wagen stand, zog den schweren Vorhang zur Seite und schaute hinaus. Salzgischt sprühte in den Wagen und trieb Eiskristalle herbei, die auf der Haut stachen. Er ließ den Vorhang wieder sinken und blickte den Marschall fragend an, der unbequem ihm gegenüber auf der samtbezogenen Bank saß.

Der Staatsbesuch in Tyrian, dem lirinischen Waldreich, dessen Titularkönigin Rhapsody war, war recht gut verlaufen. Anborn war größtenteils außer Sichtweite geblieben, denn die Lirin hegten aus der Zeit des cymrischen Krieges noch einen Groll gegen ihn, den sie auf Drängen der Herrscherin erst allmählich überwanden. Deswegen hatte Gwydion seinen ersten offiziellen Staatsbesuch ganz allein unter der Führung von Rial durchstehen müssen, dem Vizekönig Rhapsodys. Beeindruckt war er durch die Waldstraßen der Stadt Tyrian geschritten, die tief innerhalb des Forstes lag, und hatte die Verteidigungsanlagen und erhöhten Wege betrachtet, die von den Baumkronen herabhingen. Er hatte ein Staunen verspürt, das er lange nicht mehr empfunden hatte, als er den Verkehr beobachtet hatte, in dem die Menschen und Waldtiere friedlich dieselben Straßen nahmen. Sein Vater hatte die Lirin immer sehr gemocht und freundschaftliche Beziehungen zu ihnen unterhalten. Gwydion hatte es gut getan zu wissen, dass diese Zuneigung durch das lirinische Volk erwidert wurde. Die schlanken, dunkeläugigen Waldbewohner hatten ihre Häuser und Verteidigungsanlagen sowie ihre Paläste und Wintergärten für ihn geöffnet, als sie ihn gebührend begrüßt hatten.

Der Abschied war ihm schwer gefallen, aber sobald seine offiziellen Pflichten erledigt und seine Reise abgeschlossen waren, hatte er Rial und den lirinischen Würdenträgern Lebewohl gesagt und ihnen auf Anborns Anraten mitgeteilt, seine nächsten Ziele seien Minsyth und Immernur in dem von keinem Land beanspruchten Gebiet, das allgemein als Neutrale Zone bekannt war. Er hatte die Staatsgeschenke freudig in Empfang genommen und sich mit ausgezeichnetem canderianischem Branntwein und Kristall aus seiner eigenen Provinz bedankt, wozu Rhapsody ihm geraten hatte, und dann den Marschall abgeholt, damit sie dorthin aufbrechen konnten, wo seiner Meinung nach die wahren Ziele der Reise lagen. Es folgten zwölf Reisetage, der größte Teil davon in Schweigen verbracht, während Anborn aus dem Wagenfenster schaute und alles mit seinen azurblauen Augen in sich aufnahm, die viel von der blutigen Geschichte dieses Landes gesehen hatten. Gwydion respektierte das Schweigen.

»Sind wir jetzt endlich in Immernur?«, fragte er schließlich unsicher.

Anborn nickte knapp.

Gwydion zog den Vorhang wieder zurück, vorsichtiger diesmal.

In der Ferne brandete das Meer gegen das windgepeitschte Ufer und schlug mit eisigen Brechern gegen schwimmende Docks. Er sah etwa ein Dutzend Schiffe unterschiedlicher Größen, viele von ihnen meeresmüde und alt und an einem Pier festgemacht, der aus genauso altem, dunklem Holz bestand. Von den Docks führte ein holperiger Weg zu einem kleinen Hafenort, dessen Häuser und Läden aus Holz und Ziegel schon bessere Tage gesehen hatten.

Nach unangenehm langem Schweigen hüstelte Gwydion höflich.

»Äh, Marschall, warum sind wir hier? Ich hatte geglaubt, Ihr wollt Euch auf Sorbold konzentrieren.«

Anborn richtete seinen durchdringenden Blick auf Gwydion.

»Wir sind hier, weil Immernur berühmt für seine Bordelle ist«, sagte er. »Das ist ein wichtiger Teil der Erziehung eines jeden jungen Mannes.«

Schweißperlen traten auf Gwydions Stirn.

»Ich ... ich wusste nicht, dass das Euer Ziel ist«, stammelte er nervös. »Gibt es so etwas nicht auch in Roland?«

»In der Tat«, antwortete Anborn matt und schaute wieder aus dem Fenster. »Wenn ich mit deiner Unterrichtung fertig bin, kennst du jedes Hurenhaus von hier bis zum mittleren Kontinent.« Er bemerkte das bleiche Gesicht des jungen Herzogs und blinzelte erstaunt. »Nicht als Kunde, du junger Narr, obwohl nichts dagegen einzuwenden wäre, sobald du etwas älter bist. Bordelle sind ausgezeichnete Orte der Informationen und des Schutzes. Ich habe mich in meinem Leben öfter in Bordellen als in Bunkern versteckt.«

»Warum also sind wir hier? Sucht Ihr in den Bordellen von Immernur nach Informationen über Sorbold?«

Anborn blickte finster drein, zog den Vorhang zurück und rief dem Hauptmann der berittenen Ehrengarde zu:

»Roust! Bring zwei reiterlose Pferde her. Der junge Herzog und ich möchten auf eigene Faust Weiterreisen. Sobald wir weg sind, dürft ihr schichtweise den Hafen besuchen.« Der Hauptmann drehte die Augen nach oben, doch dann schlich sich ein Grinsen in sein Gesicht.

»Ja, Herr.«

Anborn zwang sich zu einem Lächeln. »Haltet euren Dolch bloß nicht in verdächtiges Lampenöl«, sagte er fröhlich. »Alle Legenden, die ihr über die Bordelle von Immernur gehört hat, sind wahr. Am besten reibt ihr euch danach mit Harz ab, ansonsten werdet ihr dieselben Läuse wie alle Seeleute bekommen, die auf dem weiten Meer unterwegs sind. Verstanden?«

»Ja, Herr.«

»Gut. Wir werden in etwa einer Woche zurück sein.«

Anborn zog den Vorhang wieder vor das Fenster. Er griff unter seinen Sitz und zerrte ein Bündel Kleider hervor, das er Gwydion zuwarf.

»Wir sollten unter den besseren Bürgern von Immernur nicht allzu sehr auffallen«, erklärte er und deutete auf das Wappen an Gwydions Brust. »Man stelle sich den Skandal vor.« Er griff um seine nutzlosen Beine, holte ein weiteres Bündel hervor und kleidete sich ebenfalls um.

Nach kurzer Zeit waren zwei Pferde gesattelt und ausgerüstet. Gwydion sah zu, wie die Gardisten Anborn beim Aufsteigen auf das eine Tier halfen, dann kletterte er unsicher auf das andere. Anborn zerrte an den Zügeln und ritt auf die Hafenstadt zu. Gwydion folgte ihm. Er hatte keine Ahnung, was sie beim Absteigen erwarten mochte.

Sobald sie den Berg in Richtung Immernur überquert hatten, warf Anborn einen Blick zurück über die Schulter; dann wandte er sich nach Osten und ritt einen Handelspfad entlang. Gwydion kämpfte darum, nicht abgehängt zu werden.

»Wir ... wir reiten nicht nach ... Immernur?«, keuchte er, während er sein Reittier in dem nutzlosen Versuch antrieb, Anborn einzuholen.

»Tut mir Leid, wenn ich deine Lenden in die Irre geführt habe. Nein, wir sind nach Ghant unterwegs«, rief Anborn zurück. »Wenn sie glauben, dass wir bei den Huren sind, breiten sie den Mantel des Schweigens über unsere Abwesenheit.«

»Aha«, meinte Gwydion. Seine Stimme signalisierte Enttäuschung, aber in Wirklichkeit war seine Erleichterung gewaltig. Die Aussicht auf gewisse Lektionen in einer Hurenstadt am Meer hatte seinen Magen in Brei verwandelt, besonders im Hinblick auf Anborns Ruf als Hurenbock und auf einige seiner Neigungen.

An der windumtosten Küste ritten sie schweigend nach Osten, durch frostgebleichtes Gras und über steinige Pfade, die von langem Nichtgebrauch beinahe zugewachsen waren. Die meisten Seehandelsschiffe der Neutralen Zone gingen in dem westlich gelegenen Minsyth vor Anker, denn Tyrian war für sie ein angenehmerer Nachbar, als es Sorbold für Immernur war.

Anborns Behinderung setzte den einzelnen Reiseabschnitten enge Grenzen, doch Gwydion war jedes Mal froh, wenn der cymrische Held eine Pause ankündigte. Gwydion stellte fest, dass er wund geritten war, als er Anborn aus dem Sattel half. Nach einigen Ruhestunden bei einem hastig errichteten Lagerfeuer und einer weiteren Stunde Unterricht im Gebrauch Tysterisks saßen sie wieder auf und ritten weiter. Sie wollten die Grenze ungesehen überqueren.

Jedes Mal, wenn Gwydion die beinahe unsichtbare Klinge aus der Scheide zog, spürte er, wie der Wind um ihn erstarb, als ob sogar die Luft auf seinen Befehl lauschte. Anborn schien sein Unbehagen zu spüren, beachtete es aber nicht. Schon zu Beginn der Ausbildung hatte er dem jungen Herzog die Augen verbunden, damit dieser die Schwere der Waffe spüren konnte und nicht von der scheinbaren Abwesenheit der Klinge getäuscht wurde. Gwydion spürte, wie seine Angst Tag für Tag wich. Achmeds Worte hallten ihm im Kopf wider, und Anborns Ermahnungen klangen ihm in den Ohren:

Bedenke, dass du die Waffe führst. Lass nicht zu, dass sie dich führt.

Sorbold war eine Nation von gewaltiger Ausdehnung, ihre Grenzen waren lang und nur teilweise bewacht, obwohl Anborn mehr als einmal bemerkte, die Anzahl der Truppen und Vorposten sei seit dem Tod der Kaiserinwitwe wesentlich erhöht worden. Als sie schließlich an die Grenze kamen, benötigten sie fast einen ganzen Tag, bis sie eine Stelle gefunden hatten, wo zwei Reiter unbemerkt passieren konnten.

Als sich Anborn in jener Nacht vergewissert hatte, dass sie außer Sichtweite der Patrouillen waren, schlugen sie ihr Lager im Windschatten einer alten Taverne auf, die früher einmal eine Station auf der transsorboldischen Straße gewesen war. Anborn hielt ein Feuer für unklug; also deckten die beiden Männer die Pferde zu und setzten sich mit ihren verbliebenen Decken zwischen die Tiere, damit sie deren Körperwärme für sich nutzen konnten.

In der mondhellen Dunkelheit zog sich Gwydion die Handschuhe enger um die Finger und beobachtete eingehend den Mann, den er mehr als alle anderen verehrte – mit Ausnahme seines Paten. In Gwydions Gegenwart war Anborn im Allgemeinen recht fröhlich, doch heute Abend wirkte er melancholisch, als er die grobe Pferdedecke glatt strich, unter der sie beide hockten.

»Sie hat Dorndreher gehört«, murmelte der Marschall, während er mit der schwieligen Hand über sie strich. Gwydion schwieg. Dorndreher war einer der Soldaten gewesen, dem Anborn vertraut hatte; vielleicht war er sogar der beste Freund des Marschalls gewesen. Im Gegensatz zu ihm war Dorndreher ein uralter Cymrer der Ersten Generation gewesen, ein mürrischer, knorriger Mann, den Gwydion nur schwer hatte verstehen können. Er wartete ab, ob der General ihm noch mehr erzählen wollte; er würde dies nur tun, wenn er nicht dazu aufgefordert wurde. Gwydions Geduld wurde einen Augenblick später belohnt.

Anborn schaute durch die löcherige Decke der Taverne und suchte den klaren, kalten Himmel nach Sternen ab.

»Das ewige Leben ist der ewigen Jugend nicht ganz unähnlich«, sagte er schließlich. »Als Dorndreher die Insel verließ, war er schon ein recht alter Mann. Welches verfluchte Wesen auch immer den Cymrern die verlängerte Lebenszeit verliehen hat, muss einen kranken Sinn für Humor gehabt haben, weil es so viele zu langem Alter verdammt hat.«

Gwydion nickte und schwieg weiter. Der General hatte nicht mehr über Dorndreher gesprochen, seit dieser vor einigen Monaten in einem Hinterhalt getötet und Rhapsody dabei entführt worden war.

Anborns Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Ich habe ihm immer erlaubt, Feuer zu machen, weil ihm oft so kalt war. Seeleute ...«, schnaubte er mürrisch, aber mit einem Unterton der Belustigung. »Dürre, drahtige Seeratten, die einem Sturm trotzen können, der ihnen die Haut von den Knochen fegt, und einer Kälte, gegen die dieser ungemütliche Ort ein tropisches Paradies ist, so lange sie sich auf ihrem verdammten Wasser befinden. Wenn man sie aber an Land bringt, bibbern sie wie die Kinder.«

Gwydion kicherte verstohlen. »Euer Bruder Llauron war doch auch für eine Weile Seemann, nicht wahr? Er schien sich an Land recht wohl zu fühlen, sogar wenn es kalt war.« Er versuchte die Erinnerungen auszublenden, die sich bei seinen eigenen Worten erhoben: Das Bild des Fürbitters auf dem blutigen Winterkarneval, wie er bei dem Angriff inmitten des Winterwindes stand und den Wölfen gebot, sich aus dem Schnee zu erheben und die Reittiere der Feinde zu zerfleischen.

Anborn kniff die Augen zusammen. »Llauron hatte schon immer mehr von einem Drachen an sich als Edwyn oder ich. Die Vielfalt der Elementargaben kommt ihm zupass, auch wenn sie all jene verletzt, die um ihn herum sind, besonders meinen nichtsnutzigen Neffen, deinen Paten. Es ist gut, dass er seine menschliche Gestalt aufgegeben hat und als Drache mit seinen Elementen Zwiesprache hält. Soll er auf ewig zufrieden im Äther bleiben!«

Gwydion lauschte weiter, aber Anborn sagte nichts mehr. Schließlich schlief der junge Herzog in der Wärme der geteilten Decken und im Schutz vor der Kälte des Winterwindes ein.

Im grauen Licht des Morgens erhoben sie sich und setzten ihren Weg fort.

29

Ein großer Mann mit dünnem Körper und noch dünnerem weißen Haarkranz, der die Robe eines Hauptpriesters trug, empfing die drei Priester aus Sorbold an der Schwelle des Patriarchenhauses, zu dem die Wachen sie gebracht hatten. In offensichtlichem Missfallen winkte er sie in das Innere des Marmorgebäudes, entließ die Wachen und schloss die schwere Tür hinter sich. Lasarys erkannte in ihm Gregor, den Hauptpriester von Lianta’ar. In Lasarys’ Orden, den Aufsehern der Elementartempel, war er der höchstrangige Priester. Von ihm hatte Lasarys seine Ausbildung in der tiefen Stille von Terreanfor erhalten, als er dort zum Hauptpriester geweiht worden war. Gregor hatte die Reise bereitwillig unternommen und sich gefreut, die Geheimnisse der Aufsicht über einen derart heiligen Tempel mit einem anderen der fünf Männer zu teilen, die ihr Leben dieser Aufgabe geweiht hatten; doch seit dem Augenblick seiner Ankunft war er sichtlich beunruhigt gewesen und hatte so schnell wie möglich zu seiner eigenen geliebten Basilika zurückkehren wollen.

Lasarys verstand genau, was der Mann fühlte.

Gregors kleine Augen glühten vor Wut.

»Du ekelhafter Idiot«, zischte er Lasarys an, wobei ihm vor Aufregung der Speichel aus dem Mund flog. »Wie kannst du es wagen, die Kette der Gebete zu durchbrechen? Und wenn du schon so keck bist und die Ordnung zerstörst, indem du unmittelbar den Schöpfer anbetest, wie kannst du die Kühnheit besitzen, das ausgerechnet in der Basilika des Patriarchen zu tun? Ist dir nicht der Gedanke gekommen, dass er es spüren könnte und deine Durchbrechung die täglichen Bittgebete zerstört?«

»Es ... es tut mir Leid, Vater«, flüsterte Lasarys, als ihm die Schwere seines Verbrechens dämmerte. »Ich ... ich war verzweifelt und konnte nicht mehr klar denken.«

»Der Hauptpriester einer Elementarbasilika darf sich einer solchen Verfehlung nicht schuldig machen«, gab Gregor zornig zurück. »Du kannst dir die Auswirkungen auf den gesamten patriarchalischen Glauben gar nicht vorstellen. Was machst du überhaupt hier? Der Hauptpriester einer Elementarbasilika darf diese nicht verlassen.«

Er beugte sich vor, um einen tödlichen Streich in der Form von Worten loszulassen. »Hoffentlich war deine Selbstgefälligkeit den Verlust deines Postens wert. Ich bin sicher, dein neuer Herrscher wird nicht begeistert sein, vor seiner eigenen Amtseinsetzung einen neuen Hauptpriester weihen zu müssen.«

Lasarys schluckte, und die beiden Diener wurden bleich.

»Werde ich meines Amtes entkleidet?«, fragte er zitternd. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Bitte, Vater, wir können nicht zurückgehen«, platzte Lester heraus. Gregor hob die Hand und erstickte so seinen Einwand.

»Seine Heiligkeit hat befohlen, euch in Haft zu nehmen, bis er euren ungeheuerlichen Fehler so weit wie möglich berichtigt hat«, sagte der Hauptpriester von Lianta’ar hochnäsig. »Folgt mir. Ihr wartet im Hospiz, wo ihr mit euren Abtrünnigengebeten keinen weiteren Schaden anrichten könnt.«

Die drei Priester folgten ihm niedergedrückt durch die dunklen, fensterlosen Korridore des Marmorhauses, an Wänden mit Gobelins und schweren Räucherpfannen aus Messing vorbei, aus denen dünne Fäden wohlriechenden Rauchs aufstiegen. Sie wurden tief in das Gebäude hineingeführt, durch endlose Flure und an zahlreichen gleichartigen Türen entlang, bis schließlich der Hauptpriester vor einer schweren Mahagonitür stehen blieb und sie mit einer Geste der Verachtung öffnete.

Hinter der Tür befand sich eine kleine Kapelle mit einem einfachen Altar und harten, lehnenlosen Bänken. Über dem Altar hing eine Skulptur, die den silbernen Stern des Patriarchats darstellte; darüber hinaus gab es keinen weiteren Schmuck.

»Wartet hier«, befahl Gregor. Er verharrte, bis die Priester den Raum betreten hatten; dann schloss er die Tür heftig hinter ihnen.

Eine scheinbare Ewigkeit hockten die Sorbolder auf den harten Holzbänken und dachten schweigend über ihre Zukunft nach. Der fensterlose Raum ermöglichte es ihnen nicht, zu beobachten, wie der Morgen dem Nachmittag wich, doch sie spürten die Bewegung der Sonne an dem wechselnden Leuchten des silbernen Sterns über dem Altar. Schließlich wurde die Tür wieder geöffnet, und Gregor kehrte mit düsterem Blick zurück. Einen Herzschlag später schritt ein weiterer Mann durch die Tür. Er überragte Gregor um Haupteslänge und war in ein silbernes Gewand mit eingesticktem Stern gekleidet. An seiner Hand glänzte ein einfacher Platinring, in den ein durchsichtiger, ovaler Stein eingelassen war.

Sein Haar war vor Alter grau und silbern geworden, auch wenn es noch weiß-blonde Strähnen gab, sodass man erkennen konnte, wie es in seiner Jugend ausgesehen haben musste. Sein Bart war lang und an den Enden leicht gekräuselt, und die Augen waren klar und blau wie ein wolkenloser Sommerhimmel. Sofort warfen die drei Priester sich ihm vor die Füße.

Der Patriarch bedeutete Gregor, die Tür zu schließen, und zeigte dann mit einer gewissen Ungeduld auf die am Boden liegenden heiligen Männer.

»Steht auf«, sagte er mit barscher, befehlender Stimme. »Ich mag es nicht, wenn meine Priester auf dem Boden herumkriechen.«

Die beiden Diener halfen Lasarys aufzustehen. Der alte Hauptpriester zitterte, und sein Gesicht war weiß vor Furcht. Vor langer Zeit hatte er das Privileg gehabt, den vorigen Patriarchen, den man nur sehr selten sah, bei der Amtseinsetzung Nielash Mousas zu beobachten, der nun als Segner von Sorbold wirkte. Der Patriarch war ein gebrechlicher Mann mit dem gleichen dünnen Haarkranz gewesen, der auch Gregors ansonsten kahles Haupt zierte, und dessen altersschwache Gestalt sich unter dem Gewicht seiner Robe gebeugt hatte.

Constantin, der neue Patriarch, der erst vor wenigen Jahren in sein Amt eingeführt worden war, war ein völlig anderer Mann. Obwohl er offensichtlich schon lange lebte, hielt er sich wie ein ehemaliger Athlet oder Soldat. Seine Schultern waren breit und ungebeugt, und seiner Haltung haftete etwas Königliches, ja beinahe Anmaßendes an, obwohl sein Gesicht keine Spur von Überheblichkeit zeigte.

In seiner Eigenschaft als Hauptpriester hatte Lasarys seinem Segner Nielash Mousa bei den zwei Staatsbesuchen des Patriarchen geholfen. Der erste hatte anlässlich seiner Amtseinsetzung stattgefunden, bei der er als Namenloser aus der Menge auf dem Platz von Jierna’sid hervorgetreten war und sich präsentiert hatte, als die Waage alle anderen Bewerber um das Amt, das er nun bekleidete, abgelehnt hatte. Er war bestätigt worden; die Waagschale hatte ihn hoch in die strahlend blaue Himmelskuppel gehoben. Es war ein Anblick gewesen, den Lasarys nie vergessen würde. Kurz bevor dieselbe Waage Talquist als neuen Herrscher bestätigt hatte, war der Patriarch noch einmal nach Jierna’sid gekommen, um die Kaiserinwitwe und ihren Sohn, den Kronprinzen Vyshla, zu begraben. Die beiden waren in derselben Nacht im Abstand von wenigen Augenblicken verstorben. Der Patriarch hob segnend die Hand, und die Priester verneigten sich ehrerbietig und machten das vorgeschriebene Zeichen. Dann zeigte der Patriarch auf die Bänke; zögerlich gingen die Priester darauf zu und setzten sich.

»Ich muss gestehen, dass ich erstaunt bin, euch lebend zu sehen. Vor wenigen Tagen kam die Nachricht aus Sorbold, dass alle priesterlichen Diener sowie der Hauptpriester von Terreanfor bei einem schrecklichen Feuer im Haus am Nachtberg ums Leben gekommen seien. Der Segner von Sorbold hat unsere Zusammenkunft verlassen und ist sofort nach Hause zurückgekehrt, aber da ihr offenbar die Feuersbrunst überlebt habt, frage ich mich, warum ihr nicht in Jierna’sid seid und bei den Begräbnisvorbereitungen helft. Sag mir, Lasarys, warum du hergekommen bist und auf diese Weise gebetet hast.«

Langsam erhob sich der Hauptpriester, ging hinüber zum Patriarchen und kniete sich ihm zu Füßen.

»Der Schöpfer möge mich in Asche verwandeln, falls meine Zunge etwas anderes als die Wahrheit sagt«, erklärte er zögernd. »Euer Gnaden, diese beiden Männer können das bezeugen, was ich Euch zu berichten habe. Talquist, der Herrscher über Sorbold, plündert und besudelt absichtlich die heiligsten Orte unseres Heimatlandes, besonders die heilige Basilika von Terreanfor.«

Der Patriarch kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.

»Wie plündert er sie?«, wollte er wissen.

Die Röte schoss in Lasarys’ gerunzelte Wangen. »Er befiehlt mir, und ich helfe ihm unfreiwillig.«

Der Patriarch holte tief Luft. Seine blauen Augen brannten vor kaltem Feuer, doch er sagte nichts, sondern wartete darauf, dass der Hauptpriester fortfuhr.

»Vor vielen Jahren war Talquist ein Diener unter meinem Befehl«, sagte Lasarys. Er stand nun aufrecht da, aber seine Stimme zitterte. »Er war ein wankelmütiger junger Mann, der Priester werden wollte, nicht weil er eine Berufung des All-Gottes verspürte, sondern weil er Erkenntnisse im Zusammenhang mit einem Rätsel suchte, das ihn unablässig bedrängte. Er hatte im Sand der Skelettküste einen Gegenstand gefunden, eine Muschel oder Schuppe oder etwas Ähnliches, die an den Rändern ausgefranst und von violetter Farbe ist. Auf der Oberfläche trägt sie das eingeritzte Bild eines Thrones und Runen, die ich nicht lesen kann. Er hat sie zusammen mit mir in der Hoffnung untersucht, dass in den Tiefen unserer heiligen Schriften oder in den Praktiken unseres Glaubens ein Hinweis auf diesen Gegenstand existiere. Als er erkannte, dass seine Studien nichts brachten, verließ er den Tempel und kehrte erst Jahrzehnte später zurück, um als Herrscher bestätigt zu werden.«

Der Patriarch machte ein noch gespannteres Gesicht.

»Ich hatte geglaubt; Talquist sei nur widerstrebend Herrscher geworden und die Waage habe ihn als Kaufmann dem Heer und der Adelsschicht vorgezogen. Sie erwählte ihn vor einer großen Menge von Zeugen, zu denen sowohl Sorbolder als auch auf Staatsbesuch weilende ausländische Herrscher gehörten.«

Der Hauptpriester schluckte schwer.

»So sollte es erscheinen, Euer Gnaden«, sagte er nervös, »weil Talquist es so wollte. Er war nur wenige Tage vor dem Tod der Kaiserwitwe und des Kronprinzen nach Terreanfor zurückgekehrt und wollte ein kleines Stück Lebendiges Gestein aus der Basilika haben.« Er zuckte zusammen, als er das Entsetzen im Gesicht des Patriarchen sah. »Er drohte mir, wenn ich nicht ein solch kleines Stück Stein aberntete, so werde er die ganze Basilika einnehmen und sie ohne Rücksicht auf ihre Bedürfnisse ausbeuten. Als er mein Lehrling war, hatte er die Basilika eingehend untersucht und wusste daher, dass es einen geheimen Eingang gibt. Wenn er die Basilika besetzen wollte, könnten seine Wachen ein Heer lange genug fern halten, bis er sie ganz zerstört hätte.« Lasarys’ Mund wurde plötzlich trocken; es war eine Anklage gegen sein Schweigen und die Schuld in seinem Herzen, die aus dunkleren Gründen herrührte, welche er bei seiner Erklärung nicht anführte.

»Also habe ich zugestimmt, obwohl es mir das Herz gebrochen hat. Ich fand einen Ort, wo der Stein nicht die Gestalt von Pflanzen oder Tieren angenommen hatte, und nach einem Gebet um Vergebung habe ich ihn geerntet und Talquist gegeben.«

»Was hat er damit gemacht?«, fragte der Patriarch. Seine Stimme war plötzlich sanft geworden.

»Ich vermute, er hat ihn benutzt, um das Wiegen zu beeinflussen. Ich war nicht dabei, als er es getan hat«, sagte Lasarys traurig. »Aber das war nicht die größte Häresie, Euer Gnaden.«

Der Patriarch riss die Augen noch weiter auf, schwieg aber.

Lasarys warf einen Blick über die Schulter auf die beiden jungen Priester. Die Männer waren so weiß wie Milch; ihre Gesichter wirkten versteinert.

»Sobald er als Herrscher eingesetzt war, gab er mir den Befehl, die Diener sollten eine der riesigen Krieger-Steinstatuen aus der Basilika ernten.«

»Aus dem Zeremonialgewölbe?«

»Ja. Er bestand darauf, dass es eine ganze Statue sein müsse, die am Fuß abzuschneiden und auf den Platz der Waage in Jierna Tal zu bringen sei. Dieses Opfer hat den Geist der Basilika ganz schrecklich verletzt. Ich habe ihr Leiden gespürt, als die Statue ...« Der Priester brach überwältigt zusammen und weinte.

»Erzähl mir auch den Rest«, befahl der Patriarch.

»Die Statue, die wegen ihrer Masse an elementarer Erde ausgewählt worden war, wurde auf eine der Waagschalen gelegt. Eine bemitleidenswerte Kreatur, die aussah, als bestehe sie teils aus menschlichem Fleisch und teils aus blasser Qualle, wurde auf die andere Schale gesetzt. Mithilfe des violetten Gegenstandes entstand ein schrecklicher Lichtblitz, und das Geschöpf löste sich auf. Dann erhob sich die Statue aus Lebendigem Gestein. Das war der furchtbarste Anblick, den ich je erlebt habe.«

»Wo ist sie jetzt?«, fragte Constantin. Seine Stimme war ruhig, doch die Hand mit dem Ring zitterte nun. Lasarys schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Euer Gnaden. Die Statue war zu unbeholfenem Gehen in der Lage. Sie stolperte auf die Wüste zu und zerstörte alles, was ihr im Weg stand. Sie riss sich das Schwert aus der Hand, das ein Teil der ursprünglichen Statue gewesen war, und es zerbröckelte zu trockenem Staub, was vielleicht auch mit der Statue selbst geschehen ist. Wir haben kein Zeichen von ihr mehr gesehen, als wir in die Wüste gegangen sind, um zu Euch zu gelangen.

Talquist hatte seinen Truppen befohlen, alle Priester zu töten, die Zeugen seines Verrats geworden waren. Das Feuer, von dem Ihr gehört habt, ist absichtlich gelegt worden. Dann hat er die Soldaten, die ihm bei diesem furchtbaren Unternehmen geholfen haben, ebenfalls töten lassen – außer dem Hauptmann der Wache, dem er vertraut. Wenn wir uns nicht versteckt hätten, wären wir zweifellos auch tot.

Wir sind so rasch wie möglich zu Euch gekommen, haben hier unseren Segner und dessen Weisheit gesucht, doch Eure Wachen sagten uns, er sei schon nach Sorbold zurückgekehrt.«

Der Patriarch nickte. »Als er die Nachricht von Talquists Boten überbracht bekam, hat er seine Gebete gesprochen und ist sofort nach Jierna’sid zurückgekehrt. Er sollte heute oder spätestens morgen dort eintreffen.«

Verzweiflung kroch in Lasarys’ Augen. »Er läuft in eine Falle. Wir können ihn jetzt nicht mehr aufhalten, und da er sich bereits innerhalb der Grenzen Sorbolds befindet, würde jede Nachricht, die wir ihm schicken, von Talquist abgefangen.« Schweiß strömte ihm über die Stirn. »Ich fürchte, er ist ein toter Mann.«

Constantin schüttelte den Kopf. »Heute Morgen jedenfalls noch nicht«, sagte er, wandte sich von den Priestern ab und betrachtete den Altar, über dem der silberne Stern hing. »Ich habe die Gebete gespürt, die er im Auftrag seiner Kongregation dargebracht hat. Sorbold ist eine riesige Nation mit vielen Gläubigen. Wenn er seinen Platz in der Gebetskette nicht mehr einnehmen könnte, wäre das sofort bemerkt worden.«

»Es ist nur eine Frage der Zeit, Euer Gnaden«, meinte der Hauptpriester traurig. »Talquist mag besessen sein, aber er ist auch berechnend. Der Gegenstand, den er an der Skelettküste gefunden hat, verschafft ihm nicht nur das Gefühl der Macht, sondern auch das der Unverwundbarkeit. Er hat Pläne, große und dunkle Pläne, die mein Begreifen übersteigen, und deswegen spielt er den widerstrebenden Kaufmann, der von der Waage zur Führerschaft berufen wurde. Ich schwöre Euch, dass er diesen Vorsatz schon vor Jahren gefasst hatte.«

Der Patriarch wandte sich weder Lasarys zu, noch erwiderte er dessen Blick.

»Damit hast du Recht«, sagte er mit einer Stimme, die wie aus weiter Ferne klang. Er stand still und nachdenklich da und hielt den Blick auf den silbernen Stern über dem Altar gerichtet. Schließlich wandte er sich an den Hauptpriester von Lianta’ar.

»Nimm diese Männer in deine Obhut, Gregor«, sagte er. »Ich gewähre ihnen hier Asyl. Bring sie im Priorat unter, aber nenne niemandem gegenüber ihre Namen. Morgen werden wir eine Umbenennungs-Zeremonie veranstalten, damit man sie nicht mehr aufspüren kann.« Er richtete seine durchdringenden blauen Augen auf die Priester aus Sorbold.

»Welche Wege ihr auch in eurem bisherigen Leben gewandelt sein mögt, welche Andrücke ihr im Sand zwischen diesem Ort und jenem hinterlassen habt, von dem ihr gekommen seid, nun wird alles ausgelöscht. Talquist ist ein Ungeheuer; das weiß ich schon länger als ein ganzes Leben. Ich befehle dies nicht nur zu eurer eigenen Sicherheit. Euer Leben ist zweitrangig. Denn wenn er erfährt, dass ihr hier seid, gerät die heilige Stadt selbst in Gefahr, seinen Zorn zu spüren.«

Lasarys erbebte, genau wie Gregor.

»Er wird doch wohl nicht Sepulvarta angreifen?«, fragte der Hauptpriester von Lianta’ar. Seine barsche Stimme hatte jeden Schneid verloren und klang wie die eines verängstigten Kindes. Eine solche Schändung war unvorstellbar.

Die Stimme des Patriarchen wurde hart und bekam einen drohenden, beinahe öligen Unterton.

»Ich kann dir versichern, Gregor, dass er es nicht nur will, sondern sogar schon plant. Die Anwesenheit dieser Männer ist nicht der Grund dafür, sondern unsere Lage zwischen Sorbold und Roland. Er wird auf dem Weg zum inneren Kontinent nur kurz hier anhalten und seine Füße an der Matte von Sepulvarta abwischen.«

»Aber ...«, keuchte Gregor. »Euer Gnaden, das ist... das ist unvorstellbar. Eine heilige Stadt anzugreifen und zu zerstören ...«

»Man erachtet etwas nur dann für heilig, wenn man um seine Seele fürchtet«, erklärte der Patriarch. »Talquist aber hat keine Seele. Bevor er fertig ist, liegt die Welt in Stücke gerissen da. Und wir werden die Ersten sein, die er unter seinen Stiefeln zertritt. Es ist schon viel zu spät, um ihn aufzuhalten.«

Die Priester konnten sich nicht mehr bewegen, als der Patriarch die Tür öffnete und die Kapelle verließ. Er nahm alle Wärme, die in dem Raum gewesen war, mit sich.

Constantin wartete unbemerkt, bis die letzte der Türen in der Basilika von Lianta’ar zur Nacht verschlossen und verriegelt war, bevor er sich aus der Sakristei schlich und langsam zu der Erhebung aus kreisförmigen Stufen ging, die zum Altar führten.

Das Licht des Sterns schien durch die Fenster in der Decke der Basilika und badete den Altar und den größten Teil des inneren Heiligtums in silbernem Licht. Constantin hatte das traumgleiche Gefühl, als ob er einem Schaft aus Mondlicht in den Himmel folgte.

Dieser heilige Ort, diese Zitadelle eines toten Sterns, der in einem anderen Zeitalter herabgefallen war, war einer der wenigen Plätze auf der Welt, an denen er je Frieden verspürt hatte. Etwas an dem ätherischen Glimmen erinnerte ihn an einen anderen Ort, an ein Reich zwischen den Welten, zwischen Leben und Tod, wo sein altes Leben geendet und sein neues begonnen hatte.

Er war das Kind einer unbekannten cymrischen Mutter, an deren Gesicht er sich noch erinnern konnte, auch wenn sie nur einen Atemzug lang zusammen gewesen waren, und eines Dämons, und sein früheres Dasein war von geliebter Gewalt und kunstvollem Blutvergießen geprägt. Constantin war in der Zeitrechnung der materiellen Welt noch vor wenigen Jahren Gladiator in den Arenen von Sorbold gewesen, eine gnadenlose Tötungsmaschine, bis er gerettet und in das Reich gebracht worden war, an das er sich nun erinnerte, an einen Ort der Träume, der als die Herrschaft des Fürsten und der Fürstin Rowan bekannt war, ein Ort hinter dem Schleier des Hoen, was auf Altcymrisch Freude bedeutete. Diese Wesen, eine Verkörperung heilender Träume und friedvollen Todes, hatten ihn viel gelehrt. In ihrem Reich war die Zeit der materiellen Welt nur ein Augenblick. Er war nur wenige Monate fort gewesen und doch um eine ganze Lebensspanne gealtert. Er war weise geworden, hatte gelernt und erkannt, dass die Schande seiner Geburt kein Makel, sondern ein Ehrenzeichen war. Er hatte sich gerade damit angefreundet, als die Waage ihn auserwählt und zum Patriarchen gemacht hatte.

Die Ironie seiner Lebensgeschichte wühlte nun in seinen Eingeweiden. Er dachte an die Worte, die er zu dem cymrischen Herrscher und dem König der Firbolg gesprochen hatte, als er von Talquists Einsetzung als Herrscher erfahren hatte.

Ihr hättet mir keine schlechteren Nachrichten bringen können.

Warum?, hatte der König der Bolg wissen wollen. Sagt uns, warum.

Seine Antwort hallte in den dunkelsten Abgründen seiner Erinnerung wider.

»Kaufmann« ist eine sehr freundliche Umschreibung für das, was Talquist ist. Er ist ein Sklavenhändler der grausamsten Sorte und der geheime Anführer einer Flotte von Piratenschiffen, die mit menschlicher Beute handeln. Die Kräftigen verkaufen sie an die Minen oder, schlimmer noch, an die Arenen, und den Rest benutzen sie als Rohmaterial für andere Güter. Aus dem Fleisch der Alten machen sie Kerzen und Knochenmehl aus den sehr Jungen. Tausende sind in den Arenen von Sorbold getötet worden. Ich kann nicht einmal abschätzen, wie viele weitere den Tod in den Minen und Salzpfannen oder auf dem Meeresgrund gefunden haben. Er ist ein Ungeheuer mit dem Lächeln eines

Ehrenmannes und dem Anschein des Normalen, aber er ist und bleibt ein Ungeheuer.

Die Waage hat ihn aber bestätigt, hatte der Herrscher der Cymrer gesagt. Ich habe es selbst gesehen. Als Constantin die oberste Stufe erreicht hatte, dachte er an die Ungläubigkeit in den Augen des Bolg-Königs, eines Mannes, in dessen früherem Leben es zweifellos ähnliche Erfahrungen wie in seinem eigenen gegeben hatte. Warum habt Ihr vor Eurer Abreise nichts gesagt?, hatte König Achmed wissen wollen. Wenn Ihr wusstet, dass dies ein möglicher Ausgang des Auswahlverfahrens war, hättet Ihr doch dazwischentreten können. Die Bänder aus Platin, die den Altar einfassten, glitzerten hell. Die Antwort hallte in seinem Kopf wider und verschaffte ihm Übelkeit.

Es steht mir nicht zu, die Waage in Verruf zu bringen. Ich habe ihr meine Position zu verdanken. Wie könnte ich ihre Weisheit infrage stellen, ohne dabei einen inneren Widerspruch heraufzubeschwören? Und wenn ich meine Vergangenheit in der Arena zugeben würde, stünde das Reich der Rowans plötzlich im Mittelpunkt des Interesses, was ihnen gar nicht willkommen wäre. Und schließlich war er nicht der einzige Mann im Rennen, der Blut an den Händen hatte. Wenn ich jeden herabsetzen wollte, den ich des Kaiserthrons für unwürdig erachte, würde Sorbold weiterhin ein führerloser Staat bleiben.

Ich bin ein Feigling, dachte er nun. Ich wollte mir nicht vorstellen, was geschehen würde, obwohl ich es wusste. Er verneigte sich vor dem Steintisch und kniete nieder. Die Einfachheit des Steins und die Reinheit des Platins führten dazu, dass die durch diesen Altar ihm dargebrachten Gebete ungehindert in seine Gedanken einfließen und durch den Turm bis vor die Füße des Schöpfers dringen konnten. Diese Einfachheit, diese Reinheit ließen die Gedanken nun in seinem Kopf erklingen.

In der Stille erinnerte er sich an die letzten Worte, die er zu dem Bolg-König gesprochen hatte.

Ich bete darum, dass auch Talquist einen Herzenswandel erfahren wird, so wie es mir hinter dem Schleier des Hoen erging. Vielleicht ist die Tatsache, dass er nicht sofort zum Kaiser gekrönt werden wollte, schon ein Anzeichen dafür.

Achmeds Blick hatte sich mit dem seinen gekreuzt und ihm gezeigt, dass sie beide das Gleiche glaubten. Das bezweifle ich. Nach meiner Erfahrung werden Männer, die nach Blut und Macht dürsten, nur noch durstiger, wenn sie das bekommen, was sie haben wollen. Ihr seid die einzige Ausnahme von dieser Regel. Constantins Hände zitterten, als er den Altar berührte.

Es war schwer für ihn, sich nicht zu verfluchen und die Gedanken zurückzudrängen, die seinen Geist überfielen. Sie weigerten sich, verbannt zu werden, und drängten unbarmherzig voran in sein Bewusstsein.

Du Narr. Wenn du damals bloß etwas unternommen und begriffen hättest, dass die Waage manipuliert war, hättest du möglicherweise den Tod der halben Welt verhindern können, der nun unweigerlich folgen wird. Nun kommt dieses Blut zu dem anderen, das schon an deinen Händen klebt.

Er dachte an Terreanfor, einen der letzten Horte des Lebendigen Gesteins in der bekannten Welt, und an die gewaltige Macht, die dort existierte. Von allen Elementen hatte allein die Erde die Eigenschaft, eine solche Macht aufrechtzuerhalten; die anderen waren zu flüchtig, zu vergänglich, um sie in großen Mengen zu binden. Der Wind war zu flüchtig, das Meer zu aufgewühlt, das Sternenlicht zu fern und das Feuer zu zerstörerisch und unvorhersehbar. Doch die Erde war unerschütterlich, unveränderlich und durchlief ihre Zyklen mit geduldiger, beinahe ehrerbietiger Gleichmäßigkeit, was der Grund dafür war, dass so viel von der Macht der Welt in der Erde und auf dem Land lag. Und als er an die kühle, dunkle Kathedrale tief im Nachtberg dachte, wohin das Licht nie kam, dachte er an die Geschichte, die ihm die Priester über das Fällen der Soldatenstatue aus Lebendigem Gestein erzählt hatten.

Und er dachte an all die anderen Statuen, Menschen und Tiere, Bäume und an den Altar aus Lebendigem Gestein, die auf die Ernte warteten.

Konzentriere dich, zwang er sich.

Leise sang er nun die Riten, durch die er die täglichen Gebete aller Gläubigen empfing. Dabei schwang sein Körper leicht hin und her und wurde zum Kanal für die Bitten an den Schöpfer. Es war immer ein erniedrigendes Gefühl, von den Gebeten, Träumen, Ängsten und Freuden unzähliger Seelen durchströmt zu werden. Sein Körper leuchtete für einen Augenblick auf und nahm dasselbe ätherische Glänzen an wie der Stern auf dem Minarett tausend Fuß über ihm. Von allen Ecken des Kontinents, aus dem südwestlichen Bereich der Neutralen Zone, aus Bethe Corbair im Osten, aus Navarne und Avonderre im Westen, aus Canderre und Yarim im Norden, aus Bethania, der Zentralprovinz von Roland und schließlich auch aus Sorbold im Süden schickte ein Segner nach dem anderen die Gebete der Gläubigen durch den Steinaltar. Die Lobgebete klangen in seinem Kopf wie ein Wechselgesang in verschiedenen Tonlagen. Er wusste nicht, um was gebetet oder was als Opfer dargebracht wurde oder wie viele Leute ihm ihre Gebete anvertrauten; er wusste nur, dass alle zusammen eine wunderbare Sinfonie des Lobpreises und Bittgesangs zu Ehren des All-Gottes ergaben.

Vorher vermochte er nie zu sagen, wie lange die Übermittlung der Gebete dauern würde; in Anwesenheit der großen elementaren Kraft verlor die Zeit jede Gewalt über ihn. Als endlich die Stimmen der einzelnen Segner nacheinander verblassten, hielt er die letzte fest und nährte sie mit seinem eigenen Gesang.

Die letzten vier Lobgesänge endeten; die Segner hatten ihre Abendpflicht in der Gebetskette erfüllt und bemerkten nicht, dass der Patriarch noch lauschte. Als nur noch der einzelne Gesang des Segners von Sorbold in der widerhallenden Basilika zu vernehmen war, sprach der Patriarch.

Nielash Mousa, flüsterte er. Warte.

So etwas hatte er noch nie getan; er war entlang der Gebetskette zu einem untergeordneten Beter zurückgegangen, doch nun war er verzweifelt. Der Altar erbebte unter seinen Händen. Er wartete lange, bis endlich eine sehr überraschte Stimme durch Lianta’ar hallte.

Ich höre Euch, Euer Gnaden.

Ein unangenehmes Gefühl durchströmte ihn. Die strahlenden Schwingungen von Lobpreis und Bitte verwandelten sich in schmerzhafte Disharmonie. Constantin packte den Altar und kämpfte darum, nicht zusammenzubrechen.

Ihm war, als läge das Gewicht der ganzen Welt nun auf seinen Schultern und presste ihm die Luft aus der Lunge. Alle Leichtigkeit, die er bei seinen täglichen Gebeten empfand, hatte sich ins Gegenteil verwandelt. Nun rang er nach Luft und kämpfte darum, dem unerträglichen Druck standzuhalten.

Die Zeit dehnte sich um ihn. Während seine täglichen Gebete wie im Flug vergingen, war nun jeder Herzschlag, jeder Atemzug anstrengend und bis ans Ende von Zeit und Raum gedehnt.

Konzentriere dich, dachte er erneut, während ihm der Schweiß von der Stirn troff.

Er öffnete den Mund und wollte sprechen, doch es verursachte ihm große Schmerzen. Die Gelenke seines Kiefers knirschten unter dem Druck, und aller Speichel verschwand von seinen gesprungenen Lippen, als er Worte zu formen versuchte. Constantins Hände zitterten; er schloss die Augen und flüsterte zwei Worte, was ihm mehr Schmerzen verursachte, als er je verspürt hatte. Er wusste, wie wichtig diese Botschaft war, und legte alle ihm verbliebene Stärke hinein.

Schütze ... Terreanfor.

Die Worte hatten gerade seine Lippen verlassen, als die Welt um ihn dunkel wurde. Er bemerkte undeutlich, wie er gegen den Altar stieß, und war schon bewusstlos, als sein Blut den Boden der Basilika befleckte. Constantin lag bäuchlings im silbernen Licht des Sterns auf dem Turm von Sepulvarta und steckte so tief in dem grauen Nebel zwischen Wachen und Schlaf, dass er die Antwort des Segners nicht mehr hörte. Ich verstehe.

30

Der innere Hafen von Ghant — Sorbold

Obwohl er nicht so groß war wie Avonderres Port Fallon, der gewaltigste Hafen an der Westküste, war der innere Hafen von Ghant doch einer der größten der Welt, in dem täglich Tonnen von Waren gelöscht wurden. Hunderte Kaufmannsschiffe segelten mit jeder Flut hinein und kamen dabei an dem äußeren Hafen vorbei, in dem die Flotte von Sorbold vor Anker lag. Jedes Schiff wurde untersucht, jedes Ladedokument vom Hafenmeister durchgesehen, der die Einfahrt in das seichte Wasser der riesigen Lagune, welche den inneren Hafen bildete, entweder erlaubte oder verbot.

Damals hatte Anborn beide Häfen oft gesehen. Ghant war einer der ersten Orte gewesen, die er im cymrischen Krieg vor tausend Jahren besetzt hatte. Von hier aus hatten seine Landstreitkräfte den Versorgungsweg ins Landesinnere sichern und die Kriegsschiffe Angriffe gegen den lirinischen Hafen Tallono im Nordwesten führen können. Tallono war ein geschützter Hafen, den die Gorllewinolo-Lirin mithilfe seiner Großmutter, der Drachin Elynsynos, errichtet hatten, doch als Anborn in Ghant eingefallen war, war in seinem Herzen kein Platz für Empfindsamkeiten gewesen, sondern nur für Mord und Rache. Mit äußerster Gründlichkeit hatte er Tallono fast völlig niedergebrannt, so wie er es auch mit den kleineren Häfen Minsyth und Immernur gehalten hatte, und hatte auf diese Weise die Küste bis hoch nach Port Fallon gesichert, als der Krieg schließlich geendet hatte. Ein Jahrtausend hatte nicht ausgereicht, um die Erinnerungen zu löschen, die ihn immer noch heimsuchten; sie quälten ihn in wachen Augenblicken und plagten ihn im Traum.

Nun schwebten die Geister jener Schlachten nicht mehr über dem Land, wie es bisher immer gewesen war, wenn Anborn Ghant besucht hatte. Als er und Gwydion die Hügel überquert hatten und von der sorboldischen Straße dem Hauptverkehrsweg, auf dem die Güter nach Norden und Osten gebracht wurden – auf den inneren Hafen schauten, bemerkte er sogar aus dieser großen Entfernung, dass die Stadt geschäftiger war denn je. Er zog eine Grimasse, als er sein Pferd zügelte und sich daran erinnerte, dass seine eigenen Soldaten diese Straße gebaut hatten.

Gwydion Navarnes Gedanken wurden nicht von der Vergangenheit heimgesucht, über die er nur wenig wusste. Er starrte verwundert auf den Hafen hinunter.

»Die Geschäfte hier laufen gut, nicht wahr?«, meinte er und beobachtete die Dutzende von Schiffen, die an den Kais des inneren Hafens lagen und geschäftig von kleinen Gestalten entladen wurden, die eher Ameisen als Heuerleuten glichen.

Der Marschall nickte grimmig.

»Aber was sind das für Geschäfte?«, fragte er, schaute weit auf das Meer hinaus, an der inneren Schleuse vorbei auf den äußeren Hafen, und holte tief und vernehmlich Luft. »Guter All-Gott«, murmelte er.

Gwydion Navarne drehte sich im Sattel um. Nach so vielen Tagen des Reitens durch die Ödnis der südlichen Steppe hatte er den Geschmack der fernen Meeresbrise und die Geschäftigkeit des Hafens unter ihm genossen und entsetzte sich nun über den Gesichtsausdruck des cymrischen Helden, der so hart war wie nie zuvor.

»Was ist los, Marschall?«, fragte er und spürte Kälte von der See hereinströmen.

Anborn lenkte sein Pferd nach rechts, um besser sehen zu können. Er starrte lange hinunter auf den Hafen, der vor Geschäftigkeit brummte, und warf dann einen Blick zurück auf die Berge, aus denen sie gekommen waren.

»Zu Zeiten des cymrischen Krieges war das hier ein wichtiger militärischer Stützpunkt und der zentrale Hafen meiner Marineoffensive«, sagte er schließlich. »Unsere Flotte war damals verantwortlich für die Zerstörung eines großen Teils des westlichen Tyrian und die Verwüstung der Küstengebiete von Avonderre bis hoch zum Gwynwald. Ich habe das Heer meines Vaters gegen die Streitkräfte meiner Mutter mit großem Erfolg geführt, weil wir zahlenmäßig überlegen und bestens ausgerüstet waren. Aber bis Llauron Anwyn verließ und aufs Meer flüchtete, war er zu Wasser ein beachtlicher Feind, der unüberwindlich gewesen wäre und meine ganze Flotte zerstört hätte, wenn wir nicht Ghant kontrolliert und unsere gesamte Armada hier stationiert hätten.« Der Marschall schirmte die Augen vor der Sonne ab, die nun aus dem Himmel stach.

»Aber selbst damals waren weniger Schiffe hier als heute.«

Gwydion schluckte, sagte aber nichts darauf. Der Geschmack der Wüstenluft in seinem Mund war plötzlich noch trockener geworden, sie steckte erstickend in seinem Hals und brannte wie feuriger Sand.

Anborn reckte sich im Sattel und versuchte hinter sich zu blicken.

»Wenn ich mich recht erinnere, war irgendwo da oben ein Unterschlupf«, sagte er und schaute über die Schulter zu einer Karawane aus Pferdewagen, die von Soldaten in den deutlich erkennbaren Lederrüstungen der Bergtruppen begleitet wurden. Es handelte sich um Einheiten des sorboldischen Heeres, welche die Gebirgspässe vor der einige hundert Meilen entfernten Hauptstadt Jierna’sid schützten. Die Karawane kam über die alte Straße auf sie zu. »Ich glaube, wir sollten Schutz suchen, damit wir nicht entdeckt werden. Ich kann mir vorstellen, dass wir hier nicht willkommen sind.«

Die beiden trieben ihre Pferde zu einem Galopp über die felsigen Vorsprünge an, ritten tief in das zerklüftete Gebiet hinein und verbargen sich hinter den Felsen. Als die Pferde außer Sicht waren, machte Anborn eine ungeduldige Geste und sagte zu Gwydion: »Hilf mir aus diesem verdammten Sattel.« Dabei löste er die Schlaufen.

Gwydion stieg rasch ab, eilte an die Seite des Generals und half ihm vom Pferd. Sobald er unten war, drückte Anborn ihn weg und senkte seinen Körper mithilfe von Armen und Brust auf den Boden; dann kroch er bis zum Rand des Vorsprungs. Er gab Gwydion ein Zeichen. Der junge Herzog kauerte sich hin und legte sich neben ihn auf die windumspielte Klippe.

Schweigend schauten sie hinunter und waren von dem Anblick so gefangen genommen, dass sie die Zeit vergaßen.

In einer guten Stunde sahen sie mehr als zwei Dutzend Schiffe auf den äußeren Hafen Kurs nehmen. Es waren Handelsschiffe auf dem Weg in den inneren Hafen, die sich an den Kriegsschiffen vorbeischlängeln mussten. Sie wurden angehalten, untersucht und mit militärischer Präzision weitergeschickt. Sobald sie im eigentlichen Hafen waren, wurden sie sofort entladen und alle Güter auf Wagen geschafft. In Port Fallon in Avonderre hingegen wurden die Güter nach Handelsgilden getrennt und dann von den Hafenarbeitern der einzelnen Kaufleute ausgeladen.

»Was schließt du daraus?«, fragte der Marschall leise in demselben Tonfall, mit dem er dem jungen Herzog wichtige Dinge zu erklären pflegte.

Gwydion schaute hinunter auf die Fässer und Kisten, die systematisch in eine Reihe wartender Wagen verladen wurden.

»Entweder gehen all diese Waren an denselben Ort, oder sie gehören derselben Person«, mutmaßte er.

Anborn nickte. »Zweifellos der Krone. In gewisser Hinsicht ist das nicht sehr erstaunlich. Talquist, der neue Herrscher, war vor seiner Besteigung des Sonnenthrones das Oberhaupt der Gilden, die diese westlichen Schifffahrtslinien kontrollieren. Aber es ist nicht der Bestimmungsort dieser Waren, der mir Sorgen macht.«

»Was dann?«

Anborn deutete auf die Straße hinter den Felsvorsprüngen.

»Es sind die Waren selbst. Sieh nur.«

Gwydion schaute an Anborns ausgestrecktem Finger entlang von der Steuerbordseite des nächsten Schiffes am Kai, aus dem gerade Fässer und Kisten in Wagen geladen wurden, zur Hafenseite desselben Schiffes. Er sah zwei Reihen von Leuten das Schiff verlassen, die so fern waren, dass sie beinahe ununterscheidbar von der Masse der übrigen Hafenarbeiter waren. Die erste Reihe schritt auf einer höher gelegenen Planke. Es waren nur wenige, und sie verließen langsam das Schiff und mischten sich unter die Menge auf dem Pier. Gwydion nahm an, dass es sich um Passagiere handelte.

Die zweite Reihe benutzte eine tiefer gelegene Planke und kam unmittelbar aus dem Rumpf des Schiffes. Zuerst glaubte er, es sei die Besatzung, doch als er genauer hinschaute, bemerkte er, dass die Leute zu einer Reihe von Wagen ähnlich den Güterwagen gebracht wurden und sofort in sie einstiegen. Gwydion zählte mehr als hundert aus einem einzigen Schiff, die sich die Augen beschirmten und in die grelle Morgensonne hinaustorkelten. Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klar bekommen oder einer summenden Hornisse ausweichen, als die schreckliche Erkenntnis über ihn kam. Er konnte sie nicht verdrängen, und so fiel ihm das Wort aus dem Mund.

»Sklaven«, murmelte er. »Er handelt mit Sklaven.«

Anborn nickte. Er deutete langsam und nachdrücklich auf jedes einzelne der zwei Dutzend Schiffe, die während ihres Zuschauens angelegt hatten und allesamt menschliche Fracht an der Steuerbordseite ausluden. Die Gefangenen wurden in Wagen gebracht, die auf der transsorboldischen Straße in verschiedene Richtungen davonfuhren.

»Sklaverei ist nichts Neues in Sorbold«, sagte er mit leiser Stimme. »Leitha war ein Dreivierteljahrhundert lang Kaiserin. Für eine Nicht-Cymrerin war sie von erstaunlicher Langlebigkeit. Zu ihren Zeiten wurde die Sklaverei stillschweigend geduldet. Es traf hauptsächlich Verbrecher, Schuldner und Kriegsgefangene, die in die Gladiatorarenen geschickt wurden. Der Sklavenstand war erblich. Eine Sklavenfamilie blieb gefangen, bis ihr ein männliches Mitglied die Freiheit erkaufen konnte, meist durch Tapferkeit als Gladiator. All das wurde als schäbiges und schlecht verhohlenes Geheimnis angesehen. Es gab nicht in jedem Stadtstaat eine Arena; insgesamt waren es weniger als zwei Dutzend.« Er warf einen raschen Blick über die Schulter zu den Pferden und schaute dann wieder hinunter zur Hafenstadt.

»In der letzten Stunde haben wir genügend menschliche Ware gesehen, um alle Arenen zu versorgen. Vor dem inneren Hafen liegen aber immer noch hunderte Schiffe und warten auf ihre Passage. Und das an einem einzigen Tag.«

»Könnte der Gladiatorenkampf seit der Thronbesteigung Talquists so sehr zugenommen haben?«, fragte Gwydion angeekelt.

Anborn kniff die Augen zusammen und betrachtete weiterhin das Geschehen unter ihm.

»Möglicherweise. Es heißt, Talquist habe eine Schwäche für diesen blutigen Sport. Ich wage aber zu behaupten, dass nur ein sehr kleiner Teil dieser Ladung für die Arena bestimmt ist. Vermutlich befinden sich die Sklaven auf dem Weg in die Salzminen von Nicosi oder in die Olivenhaine von Remaldfaer. Die wichtigere Frage lautet aber nicht, wohin diese armen Leute unterwegs sind, sondern woher sie kommen. Wenn nur die Hälfte der Schiffe die gleiche Anzahl an Gefangenen beherbergt, die wir schon gesehen haben, könnte man eine ganze Stadt mit ihnen bevölkern.«

»Gütiger All-Gott«, flüsterte Gwydion.

»Allerdings«, stimmte Anborn ihm zu. »Ihn anzurufen ist vermutlich das Einzige, was noch helfen kann. Wenn das schon so ist, seit Talquist den Thron bestiegen hat, steht deinem Paten ein Albtraum bevor.«

»Könntet Ihr das bitte näher ausführen?«, fragte Gwydion. Seine Hände wurden kalt und begannen zu zittern. Anborn drehte sich ihm zu und befahl dem jungen Herzog zu schweigen.

Von unten war ein Rumpeln zu hören, als eine weitere Wagenkarawane den felsigen Weg hochfuhr. Die beiden Männer sahen zu, wie sie vorüberrollte; eine Kohorte sorboldischer Soldaten bildete die Vor- und Nachhut. Gwydion zuckte beim Anblick der Gefangenen zusammen. Es war eine Schar abgerissener Männer, verloren wirkender Frauen und dürrer, schweigender Kinder, die wie Vieh auf dem Weg zum Schlachthof in die Karren gepfercht waren. Er zählte elf Wagen und vermutete, dass jeder mehr als zwei Dutzend Sklaven enthielt. Während sich in seiner Kehle ein immer festerer Knoten zusammenzog, sah er dem Zug nach, bis der Staub sich wieder gelegt hatte und alle Geräusche erstorben waren. Er lehnte sich über den Rand des Vorsprungs und sah, wie ähnliche Karawanen mit ähnlicher Fracht in andere Richtungen unterwegs waren: in die Berge und die Küste entlang.

»Sagt mir, was dieser Albtraum bedeutet«, bat er schließlich Anborn.

Der General seufzte und beobachtete weiterhin den Hafen.

»Wenn ein Gildenmeister, der sich sein ganzes Leben hindurch als ausgezeichneter Kaufmann erwiesen hat, einen Thron besteigt, ist mit einem gewissen Anstieg des Handels zu rechnen«, sagte er gelassen und sah dabei Gwydion nicht an. »Aber das ist es nicht, was wir hier sehen. Diese Sklaven dienen nicht dem Vergnügen in den Arenen; sie sind zur Warenproduktion bestimmt. Wir beobachten Kriegsvorbereitungen, was ebenfalls nicht erstaunlich ist, obwohl Talquist sich hinter einer Maske des Friedens und Wohlstands versteckt hat.

Was so erschreckend ist, ist das Ausmaß. Wir sind an einem ganz gewöhnlichen Tag hergekommen, ohne entdeckt worden zu sein, und haben daher die Aktivitäten eines ganz gewöhnlichen Tages beobachtet. Wenn das also für Talquist ein ganz gewöhnlicher Tag ist, wenn Ghant wieder zu einem Militärhafen geworden ist und Güter umschlägt, die vollkommen der Krone gehören, dann ist das Ausmaß dessen, was er plant, einfach unvorstellbar. Es stellt sogar die Vorbereitungen zum cymrischen Krieg in den Schatten – und dieser Krieg hätte beinahe den gesamten Kontinent vernichtet.«

»Gibt es noch eine andere mögliche Erklärung?«, fragte Gwydion, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Nein«, sagte Anborn nur.

»Dann müssen wir sofort nach Navarne zurückkehren und Ashe warnen«, meinte Gwydion.

»Genau das musst du tun.«

Der junge Herzog blinzelte Anborn an. »Ich? Ihr kommt nicht mit?«

»Nein. Da ich schon einmal hier bin, sollte ich die Gelegenheit ergreifen. Ich werde ostwärts nach Jier-na’sid reiten und auf dem Weg so viele Häfen, Minen, Felder und Arenen wie möglich ausspähen. Sobald ich in der Hauptstadt angekommen bin, werde ich möglichst viele Informationen einholen; dann komme ich zurück und helfe deinem Paten bei den Vorbereitungen zu dem Krieg, vor dem ich ihn schon seit langem gewarnt habe.«

Gwydion bekämpfte seine Panik, die bereits in seiner Kehle hochgestiegen war und ihn nun zu ersticken drohte.

»Allein?«

Der cymrische Held streckte die Hand aus und packte den jungen Mann an der Schulter.

»Du kannst das, habe keine Angst. Die Ehrengarde ist in der Lage, den Wagen zu verteidigen, falls du angegriffen wirst, und dein Schwert ist ein entschiedener Vorteil gegen alle Räuber, denen du begegnen solltest, und auch gegen Soldaten. Aber dazu wird es nicht kommen, denn Talquist wird sich mit dem Angriff auf einen Adligen des cymrischen Bündnisses nicht die Hände schmutzig machen wollen – zumindest jetzt noch nicht. Du brauchst nur den Weg zurückzufahren, auf dem wir hergekommen sind, Gwydion. Sobald du Sorbold verlassen hast, kannst du an jeder Herberge entlang des Weges anhalten und um Hilfe bitten. Du bist jetzt der Herzog; sie werden dir geben, was du haben willst, einschließlich Vorräten und einem frischen Pferd, und dich zurück nach Navarne eskortieren. Behalte nur alles in Erinnerung, was ich dir beigebracht habe.«

»Ich meinte, Ihr allein«, stammelte Gwydion. »Wie wollt Ihr es durch die sorboldische Wüste schaffen ...?«

Die Stirn des Marschalls wurde zu einem düster drohenden Gewitter. Er stützte sich auf den Ellbogen ab und schlug auf den Boden, was Gwydion den Sand in die Augen trieb.

»Ich habe diesen Kontinent schon allein bereist, als dein Vater noch ein bloßes Jucken in der Hose deines Großvaters war«, brummte er. Dann zog er sich über die Felsen zu der Stelle, wo die Pferde warteten. Schmerzhaft langsam kletterte er an der Flanke seines Reittieres hoch, bis er den Steigbügel erreicht hatte. Gwydion eilte hinüber zu ihm, doch der alte Held drückte ihn fort und zog sich mit großer Anstrengung in eine aufrechte Position, wobei seine nutzlosen Beine unter ihm baumelten. Gwydion blieb nichts anderes übrig als dazustehen und schweigend zu leiden, während er Anborn beim Besteigen des Sattels zuschaute. Als dieser schließlich auf dem Pferd saß, blickte er mit einer Mischung aus Triumph und Erschöpfung auf den jungen Herzog herunter.

»Steig auf«, sagte er mit der dröhnenden Stimme eines Generals. »Ich bringe dich zur Ehrengarde nach Immernur und von da aus nach Jakar zurück. Ich will sehen, was dort in der Arena vor sich geht. Danach bist du auf dich allein gestellt, aber die Grenze zu Tyrian ist dann nicht mehr weit. Ich empfehle dir, die Waldstraße zu nehmen; die Stellung deiner >Großmutter< als lirinische Königin wird für deine Sicherheit garantieren. Sag meinem Neffen, dass ich zurückkomme, sobald ich genau weiß, was in diesem gottverdammten Sandkasten vor sich geht, aber in der Zwischenzeit sollte er Roland und das gesamte cymrische Bündnis aufrüsten. Vielleicht ist es sogar schon zu spät.«

Für den Rest des Heimweges spürte Gwydion seinen eigenen Puls als Trommeln in den Ohren. Das Trommeln wurde lauter, als er Anborn schließlich auf der Kreuzung nach Nikkid’saar verabschiedete, der Spielerstadt im westlichen Stadtstaat Jakar. Vom Wagenfenster der Kutsche aus beobachtete er den alten Helden, seinen Lehrer und Freund, wie er zwischen den endlosen Reihen von Reitern und Fußgängern verschwand, die die Straßen der Stadt verstopften, und hoffte, dass dies nicht das Letzte war, was er je von ihm sehen würde. Dann befahl er der Garde, nach Tyrian im Westen zu reiten und den Rückweg zu seinem Heimatland und der Verantwortung anzutreten, die ihn dort erwartete.

Unablässig dachte er über die Worte nach, mit denen er seinem Paten die Nachricht überbringen würde, dass der Krieg, den Anborn schon seit langem vorhergesehen hatte, nun bevorstand. Er drängte die Ehrengarde, mit doppelter Geschwindigkeit zu reiten, und ließ den Wagen an einer Station kurz hinter der Grenze nach Roland zurück; den Rest des Heimwegs legte er zu Pferd zurück. Während sie über den Boden flogen, dachte er an lauter Belanglosigkeiten, zum Beispiel daran, wie weit vor der Festung er anhalten müsste, um sein Äußeres zu richten, wie er Gerald Owen mitteilen könnte, dass er Ashe sofort sehen wolle, ohne seinen Schrecken dem Bediensteten zu offenbaren, oder wie er die Nachricht überbringen sollte, ohne dabei kindisch und verängstigt zu wirken.

Als er Haguefort endlich erreicht hatte, war Ashe schon fort.

31

Haguefort — Navarne

Vor dem Fenster der riesigen Bibliothek trieben die Schneeflocken träge im warmen Wind und schmolzen, bevor sie den Erdboden erreichten.

Ashe schaute geistesabwesend aus dem Fenster; das Handelsabkommen über Getreide, das er gerade überarbeitete, langweilte ihn. Sein Drachensinn hatte die Schneeflocken bei ihrem Fallen beobachtet. Die Tauzeit war da, doch der Winter würde bald mit aller Gewalt zurückkehren und das Reisen noch schwieriger machen. Er kicherte in sich hinein, denn er suchte nach Gründen für den Aufbruch.

Es war schon mehr als einen Monat her, dass er Elynsynos’ Höhle besucht, seine Frau in den Armen gehalten und seinem Kind unter dem wohlwollenden Blick der fürsorglichen Drachin etwas vorgesungen hatte. Obwohl er sie so sehr vermisste, wie ein Drache den Verlust seines Schatzes vermisste, war er doch zu der Erkenntnis gelangt, dass Rhapsodys Besuch bei der Drachin eine kluge Entscheidung gewesen war. Unter Elynsynos’ magischer und freundlicher Pflege wirkte sie so gesund und im Gleichgewicht wie schon lange nicht mehr. Leise wurde die Tür zur Bibliothek geöffnet. Wenn er aufgrund seiner Natur nicht alles bemerken würde, was in einem Umkreis von fünf Meilen vor sich ging, hätte er Portia nicht eintreten gehört. Er musste widerstrebend eingestehen, dass Tristan Recht gehabt hatte, was ihren Wert und den der übrigen Diener anging, die er Ashe und Rhapsody zur Verfügung gestellt hatte. Die beiden anderen Frauen sahen ihrem vollen Einsatz noch entgegen, doch Portia war rasch zu einem wichtigen Mitglied des Haushalts geworden. Sie war ruhig und bescheiden und störte nie, wenn sie einen Raum betrat oder eine Botschaft überbrachte. Oft ging sie, ohne auch nur die geringste Spur zurückzulassen.

Nun hüstelte sie leise. Ashe hatte gelernt, dass dies ein unaufdringliches Zeichen für das aufgetragene Mittagessen war, das allmählich kalt zu werden drohte. Dann ergriff sie wieder die Türklinke.

Gerade als Portia sie herunterdrückte, erhaschte der Drache in Ashes Blut einen flüchtigen Geruch in der Luft, eine Spur von Zimt mit einem Tropfen Vanille, gemischt mit dem berauschenden Duft von Waldblumen.

Dieser Geruch grub sich ihm ins Gehirn und in so tiefe Erinnerungsschichten, dass er nicht einmal sein Bewusstsein bemühen musste.

Es war Rhapsodys Duft.

Er schüttelte ganz leicht den Kopf, und der Duft verschwand. Aus den Augenwinkeln sah er etwas Goldenes aufblitzen, wie die fallende Bewegung von Haar. Er schaute rasch auf und sah Portias hohe, dunkle Gestalt über die Schwelle treten.

Nirgendwo eine Spur goldener Haare.

Er fuhr sich mit der Hand durch das metallisch-rote Haar, und als die Dienerin gerade die Tür hinter sich schließen wollte, rief er: »Portia?«

Das Stubenmädchen drehte sich um; ihre dunklen Augen standen vor Überraschung weit offen.

»Ja, Herr?«

Als sie ihn verwirrt anstarrte, vergaß Ashe all seine Fragen und war sprachlos. Er machte eine unbeholfene Handbewegung und versuchte eine Frage zu formulieren, die nicht völlig unsinnig klang, doch ihm fehlten die Worte.

Wie wollte er ihr erklären, dass ihre Gegenwart ihn plötzlich und flüchtig auf eine primitive, sinnliche Art an seine Frau erinnert hatte ...?

Er lächelte schräg, schüttelte den Kopf und rieb sich den Nacken.

»Tut mir Leid«, sagte er. »Ich ... ich weiß nicht mehr, was ich dich fragen wollte.«

Portia machte einen Knicks.

»Schellt nach mir, wenn Ihr Euch erinnert, Herr«, sagte sie freundlich. »Guten Abend.«

Während der nächsten Tage geschah es mehrfach.

Zuerst vermutete Ashe eine Gaunerei; seine Herkunft und Natur erlaubten ihm kein einfaches Vertrauen, und so beobachtete er Portia eingehend. Er merkte sich mit seinem angeborenen Drachensinn ihre Bewegungen, behielt sie auch aus den Augenwinkeln im Blick und bekam immer mit, wenn sie das Zimmer verließ.

Nachher verspürte er jedes Mal den Stachel der Scham.

Die menschliche Seite seiner Natur hatte ihm den Gleichmut und die Gelassenheit seines Vaters verschafft, und nach etwa einer Woche der Beobachtung suchte er nach anderen Erklärungen für seine Gefühle. Die neue Dienerin war verschwiegen, bescheiden und zurückgezogen. Sie stand früh auf, hielt ihr Quartier sauber, arbeitete hart, kam sofort, wenn sie gerufen wurde, mied Treffen mit anderen Bediensteten nach der Arbeitszeit und wies die Gunstbezeugungen eines jungen Mannes zurück, der Vorräte aus der Käserei in Avonderre geliefert hatte. Sie war groß, breitschultrig und dunkel, hatte tiefbraune Augen und einen olivfarbenen Teint, war also äußerlich das genaue Gegenteil von Rhapsody mit ihrer zarten lirinischen Gestalt, der rosigen Haut, dem blonden Haar und den grünen Augen. Ihr Verhalten schien über jeden Tadel erhaben. Da Ashe keine Gedanken lesen und den anderen Menschen nicht ins Herz schauen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als anzunehmen, dass sie für seine seltsamen Neigungen keine Verantwortung trug.

Als er Portia nicht mehr verdächtigte, fragte er sich beinahe traurig, warum er Züge seiner Frau in einer Bediensteten sah. Sicherlich vermisste er sie. Er vermisste sie immer, wenn sie nicht bei ihm war, und war beinahe wahnsinnig geworden, als sie im letzten Sommer von einem alten Feind entführt und in einer Höhle am Meer versteckt worden war. Eigentlich hatte er die Gewalt über das Wasser, doch er hatte nicht verhindern können, dass sie gegen die Höhlenwände geschleudert und vor seinen Sinnen verborgen worden war. Diese Entführung hatte wilden Zorn und eine Verzweiflung in ihm entfesselt, die unangenehm nahe an den Wahnsinn des Drachenblutes herangekommen war, den er bei einigen seiner Verwandten bereits hatte feststellen müssen. Bestenfalls bin ich verwirrt, schlimmstenfalls werde ich verrückt, dachte er düster und löschte die Tinte auf dem neuen Entwurf des Hafengesetzes, den er gerade schrieb. Wenn sie es wüsste, würde sie nach Hause kommen.

Dieser Gedanke entzündete in seiner zweiten Natur ein Verlangen, das er erst nach einiger Zeit bezwingen konnte. Beinahe genauso stark, wie der Mann in ihm nach ihrer Gesellschaft verlangte, sehnte sich auch der Drache in ihm nach ihr, aber aus anderen Gründen. Rhapsody hatte juwelenähnliche Qualitäten – ihre Augen waren klare Smaragde, ihr Haar wie goldenes Flachs –, die ihr sowohl durch die Natur als auch durch ihre lebensverändernden Erfahrungen beim Gang durch das Feuer im Mittelpunkt der Erde zuteil geworden waren. Es war, als sei ihr jeder körperliche Makel ausgebrannt worden, und Vollkommenheit war etwas, das die Habsucht in der Natur eines jeden Drachen anstachelte.

Zum Glück waren es gerade die Makel, die der Mann in ihm schätzte: die Halsstarrigkeit, die gelegentliche Unfähigkeit, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, die wilde Wut, die sich manchmal zu nichtigen Anlässen zeigte – all diese Elemente genoss er an seiner Frau, und so blieb die Zweiheit seiner Natur im Gleichgewicht, auch wenn beide Seiten oft im Streit miteinander lagen.

Doch nun, da sich die körperlichen Eigenschaften seiner Frau ohne Grund manifestierten, schien dies einen tieferen Grund zu haben. Als Ashe darüber nachdachte, wurde ihm kalt.

Es könnte ein Anzeichen dafür sein, dass der Drache in ihm allmählich die Oberhand gewann.

Sein Verlangen nach ihrer Rückkehr wurde immer stärker. Er kämpfte dagegen an, indem er leise vor sich hinsang und sich sagte, dass sie in der Höhle der Drachin glücklicher und auch sicherer war als in Haguefort; doch diese Methode war nur kurze Zeit erfolgreich. Dann sah er Portia vorübergehen, wie sie Leintücher oder ein Tablett in die Küche trug; sie verneigte sich oder lächelte ihn an und verschwand, nicht ohne ein Aufblitzen goldenen Haars und rosiger Wangen oder den Geruch von Seife und Vanille zurückzulassen. Er träumte unablässig von seiner Frau; es waren fiebrige Träume, die ihn weckten. Entweder schwitzte er vor unerfüllter Leidenschaft, oder er fror vor Angst. In einigen Nächten kam sie im Traum zu ihm, zog die Laken beiseite und schmiegte sich in seine Arme. Aus diesen Träumen erwachte er mit einem Gefühl der Verlorenheit und Krankheit, und in seinem Kopf pochte es, als würde er gleich platzen.

Nach einem der schlimmsten Albträume hatte Portia sein Zimmer betreten, wie sie es oft tat, und ein reines Becken sowie frisches, warmes Wasser für die Morgenrasur bereitgestellt. Sie verneigte sich und verschwand und hinterließ in Ashes Verstand ein so starkes Bild von Rhapsody, dass er sich die Laken über den Kopf zog und so laut heulte, dass er die Katze in der Zimmerecke zu Tode erschreckte.

Der letzte Schlag gegen seinen Seelenfrieden wurde in einer besonders kalten Nacht geführt.

Ashe saß wieder vor dem Feuer und wärmte sich an den Flammen sowie an den Gedanken an seine Frau, als die Dienstmagd den Raum betrat und ihm das Abendessen auf einem Tablett brachte. Sie stellte es auf den Tisch vor ihm, hob die Abdeckung vom Teller, drehte sich um und wollte gehen. Ashe erhaschte den Duft von Gewürzen, von Vanille und eine schwache Spur von Sommerblumen in den Falten ihrer raschelnden Röcke. Anstatt ihn zu verlassen, trat sie langsam hinter ihn. Die Hitze ihres Körpers war weitaus größer als die des Feuers in seinem Rücken. Mit unendlich leichter Geste legte sie ihm die Hände auf die Schultern und fuhr dann über seinen Kragen, als wollte sie ihn glätten. Ihre Hände umspannten sanft die schweren Muskeln an seiner Schulter, die Daumen drückten zart gegen die festen Sehnen um seinen Hals, während sie ihm die Verspannungen wegmassierte. So wie Rhapsody es immer getan hatte.

Sie hatte Magie in ihren Händen – Magie, die seine Anspannung löste und Wärme bis in die verborgensten Stellen schickte. Ashe schloss gegen seinen Willen die Augen und gab sich einige Herzschläge lang den segensreichen Berührungen ihrer Hände hin.

Dann wurde ihm angesichts dessen, was da mit ihm geschah, kalt vor Wut.

Zorn quoll in seinem Bauch auf, Ärger über die Freiheiten, die sich diese Dienerin mit ihm erlaubte. Doch noch mehr zürnte er sich selbst, weil er ihr diese Freiheiten gestattete.

Und sie genoss.

Er versuchte zu verhindern, dass sein schwelender Zorn sich allzu rasch entzündete, und erinnerte sich daran, dass es in anderen Festungen und Schlössern für die Dienerschaft üblich war, sich auch um die körperlichen und sexuellen Bedürfnisse ihrer Herrschaft zu kümmern. Zu seiner Jugendzeit hatte sein Vater, ein ehrsamer Mann, den Ashes Geburt zum Witwer gemacht hatte, ein Gefolge von Huren gehabt, von denen jede die Erlaubnis besessen hatte, die Geheimtür zu Llaurons Büro zu öffnen. Also hielt er sich so ruhig wie möglich, obwohl er das Verlangen verspürte, das Mädchen durch den Raum zu schleudern.

Er biss die Zähne zusammen und sagte dann mit so ruhiger Stimme wie möglich:

»Portia, du hast wirklich wundervolle Hände. Weich wie Milch und so sanft. Es wäre eine Schande, wenn ich sie dir abschlagen müsste, was ich tun werde, wenn du sie nicht sofort von mir nimmst.«

Von der Tür kam ein entsetztes Keuchen. Ashe wirbelte auf seinem Stuhl herum.

Das Dienstmädchen stand auf der Schwelle und hatte den Deckel des Tabletts noch in der Hand. Sie zitterte verwirrt, und Tränen standen in ihren großen, braunen Augen.

Ashe warf wilde Blicke durch den Raum. Sein Mahl stand unberührt auf dem Tisch vor ihm. Der Flor des Seidenteppichs zeigte zwei Paar Fußabdrücke, und seine Drachensinne erkannten die fehlende Hitze in ihnen. Das bedeutete, dass sie nicht im Raum verweilt hatte, sondern sofort zur Tür gegangen war.

Sein Magen krampfte sich zusammen.

»Vergib mir«, stammelte er. »Ich ... ich dachte ...«

Die junge Frau brach in Tränen aus.

Ashe schob das Tablett fort und stand auf. Portia erstarrte; ihr Körper war steif vor Entsetzen.

»Ich möchte mich noch einmal entschuldigen«, sagte der Herr der Cymrer unbeholfen. »Du kannst gehen.«

Portia machte einen raschen Knicks, huschte durch die Tür und schloss sie hinter sich. Sie wartete, bis sie den weiten Weg zu ihrem Schlafzimmer zurückgelegt hatte, dann warf sie sich auf das Bett und zog das Laken über ihr Gesicht, bevor sie sich das Vergnügen eines Grinsens erlaubte.

Inzwischen dachte der Herr der Cymrer schon nicht mehr an sie und achtete auf nichts, was ihm sein Drachensinn über sie erzählen wollte. Er war die Treppe hoch gelaufen, hatte immer zwei Stufen gleichzeitig genommen und oben die Vorräte für seine Reise zum stillen See im Gwynwald zusammengesucht.

Er wartete mit der Abreise nicht einmal bis zum Morgen.

32

Die Drachenhöhle

Die Stille des Waldes wurde hin und wieder durch das Gezwitscher der Wintervögel unterbrochen.

Achmed hielt nur so lange an, wie nötig war, um die Bolg-Hebamme Krinsel vor einer Wurzel zu warnen, bevor er selbst über einen verrotteten Baumstamm sprang. Er wartete, bis die Frau genickt und diese natürliche Falle umrundet hatte; dann drehte er sich wieder um und lief tiefer in den Wald hinein.

Sie waren einige Zeit lang einem Nebenfluss des Tar’afel gefolgt, denn sie wussten, dass dieser Bach sich schließlich in einen stillen See nahe der Drachenhöhle ergoss. Achmed lauschte angestrengt und beachtete die glitzernden weißen Bäume nicht, von deren Zweigen in der warmen Morgensonne der Schnee tropfte.

Er folgte einem Laut, der sowohl in seinen Ohren als auch in seinem Blut widerhallte. Es war das Namenslied, mit dem Rhapsody ihn rief. Es schwang durch seine Seele und gegen sein Trommelfell, durch das empfindliche Netz der Adern und Nerven, die sein Hautgewebe bildeten, bis in die Fingerspitzen hinein.

Achmed die Schlange, komm zu mir.

Es war einerseits ein willkommenes, andererseits ein schreckliches Gefühl, auf diese Weise von einem Benenner gerufen zu werden. Während sich die Melodie aus der Ferne in völligem Gleichklang mit seinem Gehirn und den Schwingungen befand, die er beim Atemholen ausstieß, lag dennoch etwas zutiefst Verwirrendes darin, seinen Namen im Wind zu hören, auch wenn keine andere lebende Seele ihn hören konnte. Achmed war sein ganzes Leben lang ein einsames und verschlossenes Geschöpf gewesen.

Manche Gewohnheiten waren schwer auszumerzen und manche natürlichen Antriebe beinahe unmöglich zu überwinden.

Achmed, komm zu mir.

Der Winter war für die Dauer eines Mondes verblasst, wie immer auf dem Kontinent in der Mitte der Tauperiode. Der Boden um die Stämme der Bäume war sichtbar; totes oder neu sprießendes Gras in Blassgrün und Gold trocknete im Morgenwind. Die während des Winters meist harte und gefrorene Schneedecke war zu einer dünnen, wässerigen Schicht geworden, und die Luft war warm, trug aber noch nicht den Duft des Frühlings in sich, weil dieses Tauwetter falsch war. In wenigen Wochen würde die Kälte mit Macht zurückkehren und alle frühen Sprosse ersticken, die anlässlich der grausamen Einladung der Erde während der Tauperiode hervorgekommen waren. Bis zum Wechsel der Jahreszeit würden sie unter einem kräftigen Tuch aus hartem, weißem Eis begraben sein.

Er musste zugeben, dass es angenehm war, Rhapsodys Stimme wieder zu hören. Sie war nun schon seit so vielen Jahren weg von Ylorc, dass er sich beinahe daran gewöhnt hatte, nicht mehr die morgendlichen Botschaften zu hören, die sie täglich durch die Echokammer des Felsrings gerufen hatte, der sich über ihrem unterirdischen Heim in der Grotte von Elysian erhob, einem unterirdischen See auf den Ländereien Achmeds.

Auch wenn Rhapsody es gemocht hatte, allein zu leben, nachdem sie, Grunthor und Achmed nach Ylorc gekommen waren, und lieber Abstand zu den Firbolg gehalten hatte, die sie als Nahrungsquelle angesehen und hungrig beobachtet hatten, war sie doch in täglicher Verbindung mit ihren Freunden geblieben. Als sie Ashe geheiratet hatte und nach Navarne gezogen war, hatte Achmed zu seinem Entsetzen festgestellt, dass er ihre lirinischen Morgenlieder und Abendgesänge vermisste. Es waren die Liebeslieder ihres Volkes an den Himmel und die Sterne, unter denen sie geboren worden waren. Diese Zeremonien hatte sie während der ganzen Zeit eingehalten, in der er mit ihr zusammen gewesen war. Sie hatte sogar ihre Gebete gesungen, als sie durch die Erde entlang der Axis Mundi gereist und so weit wie möglich von den Sternen entfernt gewesen waren. Daher hatten sie sich in sein Hirn eingegraben, und es war ihm inzwischen unangenehmer, sie zu missen, als sie andauernd mit anhören zu müssen.

Daher war es in gewisser Weise tröstlich für ihn, ihre Stimme nun wieder zu vernehmen, die in den Tiefen seines Bewusstseins seinen Namen sang. Es war beinahe genauso tröstlich wie beunruhigend.

Er atmete tief ein. Die Waldluft kreiste durch seine Nüstern. Dann zog er eine Grimasse.

In der Luft lag ein Geschmack von Salz. Achmed rollte ihn im Mund herum und spuckte ihn dann auf den Boden. Sie befanden sich recht weit vom Meer entfernt, und der Wind blies aus Osten, nicht aus Westen, sodass dies nur eines bedeuten konnte.

Ashe befand sich irgendwo in der Nähe.

Die Salzwassertröpfchen schienen noch etwas weiter weg zu sein; er hatte vermutlich ungefähr einen halben Tag Vorsprung vor Rhapsodys Gemahl. Achmed bedeutete Krinsel, sich zu beeilen. Er wollte mit der cymrischen Herrin allein reden, bevor Ashe aufkreuzte und sie völlig ablenkte, wie er es immer getan hatte, seit er sich vor vier Jahren in ihr Leben gedrängt hatte.

Achmed.

Achmed zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. Die Stimme war nun anders, härter, wie er fand, doch als er kurz darüber nachdachte, erkannte er, dass diese Beschreibung nicht ganz stimmte. Wird sie ungeduldig?, fragte er sich, während er seinen Schritt beschleunigte und dem Leuchtfeuer ihrer Aura folgte. Ist sie es leid, Monate oder gar Jahre lang in einer Drachenhöhle eingesperrt zu sein, bis die Schwangerschaft vorbei und ihr Balg geboren ist?

Schließlich kamen er und Krinsel zum Ufer eines schönen Waldsees, der sich gegen eine Bergflanke schmiegte. Das Kristallwasser war vollkommen ruhig; auf seiner Oberfläche spiegelten sich die Bäume, die es umstanden. Zerbrochene Eisstücke flössen träge in der schwachen Strömung, die in einen kleinen Bach mündete. Der Beschreibung zufolge, die Rhapsody ihm vom Nest der Drachin gegeben hatte, musste dies der spiegelnde Teich sein, der aus der Tiefe gespeist wurde. In dem Hain, in dem sich der Teich befand, herrschte Stille, die nur durch ein gelegentliches Zwitschern unterbrochen wurde, das mit jedem Schritt in Richtung der Drachenhöhle schwächer wurde.

Er bedeutete Krinsel, ihm um den stillen See zu folgen. Das einzige Geräusch war nun das Gurgeln des Baches. Inzwischen wurde sein Namenslied lauter. Als er das gegenüberliegende Ufer erreichte, erkannte er, dass das Lied aus der Höhle drang, deren Eingang im steilsten Hang des Berges hinter Bäumen und Felsen verborgen war. Aus dem Mund der Höhle floss ein kleiner Bach, der sich still in das glasige Wasser des spiegelnden Teiches ergoss.

Achmed deutete wortlos auf den Höhleneingang, und Krinsel nickte erneut.

Kein Pfad war sichtbar; es schien Achmed, als seien die Bäume, die vom See bis zum Eingang standen, absichtlich gepflanzt oder zumindest so gebogen worden, dass sie den Weg verbargen und als lebendige Mauer den Ort schützten. Als Rhapsody ihm den lächerlichen Spitznamen Achmed die Schlange gegeben hatte, hatte sie ihn auch mit anderen Namen bedacht: Firbolg, Dhrakier, Erstgeborener, Mörder, unfehlbarer Fährtenleser, Pfadfinder. Diese Worte, ausgesprochen in den reinen Flammen des Feuers im Mittelpunkt der Erde, hatten ihm die ihnen innewohnenden Fähigkeiten verliehen, von denen er einige schon sein ganzes Leben gehabt hatte, andere aber für ihn neu waren. Die Fähigkeit, Wege zu finden, war eine nützliche Ergänzung seiner Gaben, die er nun einsetzte. Plötzlich lag der Weg durch das Baumlabyrinth klar vor ihm.

Er hatte gerade den Pfad betreten, der ihn zum Eingang führte, als die Waldstille plötzlich von einer Stimme zerschmettert wurde, die über den Waldboden rollte und gleichzeitig Sopran, Alt, Tenor und Bass war.

Halt.

Achmed erstarrte unwillkürlich.

Die seltsame Stimme klang sowohl verärgert als auch belustigt.

Man geht nicht uneingeladen in die Höhle eines Drachen, es sei denn, man ist ein großer Narr. Ich schlage vor, du klopfst erst oder kündigst dich wenigstens an.

Die Worte hallten durch den Tunnel hinter dem Höhleneingang. Sie rollten unangenehm über seine empfindliche Haut und unterbrachen die schönen Schwingungen seines Namensliedes, das hier in der Luft getanzt hatte, störten es und bereiteten ihm pochende Kopfschmerzen. Außerdem lag in ihnen eine Macht von elementarem Ursprung, die eindeutig bedrohlich war.

Er warf einen Blick zurück zu der Bolg-Hebamme, die so gelassen wie immer wirkte, deren Augen jedoch vor Angst funkelten.

»Du kannst hier warten«, sagte er. Die Frau nickte schwach und mit deutlich erkennbarer Erleichterung, obwohl sich ihr Gesichtsausdruck nicht veränderte.

Achmed begab sich zum Höhleneingang. An der äußeren Wand erkannte er einige eingekratzte Runen, die durch eine Schicht aus Frost und Flechten halb verdeckt waren. Als er genauer hinsah, erkannte er sie und atmete tief durch. Die Worte stammten aus der alten Schiffersprache, die aus dem Altcymrischen und allen anderen bekannten Sprachen der Welt vor zwei Jahrtausenden zusammengesetzt worden war.

Cyme we inne frið,

fram the grip of deaþ to lif

inne ðis smylte land

Unter der Ironie dieser Worte prickelte seine Haut. Dies war der Geburtsort des cymrischen Volkes – der Ort, wo der Eroberer Merithyn die Worte eingeritzt hatte, die ihm von seinem König übermittelt worden waren und mit denen er jeden in der neuen Welt grüßen sollte.

Wir kommen in friedlicher Absicht, den Klauen des Todes entronnen, um in diesem schönen Land zu leben. Die Drachin, die auf dem Grund dieser Höhle lebte, war von dem Eroberer verzaubert gewesen und hatte sich in ihn verliebt. Sie hatte ihn eingeladen, in seine Heimat zurückzukehren und sein dem Untergang geweihtes Volk in die Sicherheit und den Schutz ihres Landes zu verbringen. Und dieser Verrückte hatte es getan und alle Arten von selbstsüchtigen, verdorbenen Menschen mitgebracht, die dabei so etwas wie Unsterblichkeit oder zumindest extreme Langlebigkeit erlangt hatten. Obwohl Merithyn bei der Rückreise auf See gestorben war, hatten die Cymrer, wie die Flüchtlinge aus Serendair genannt wurden, das Drachenland und die Länder dahinter erobert. Sie hatten unangefochten geherrscht und die eingeborenen Völker unterworfen, welche Eroberern mit solch unirdischen Kräften und Lebensspannen nichts entgegenzusetzen gehabt hatten. Doch dann hatten sie alles in ihrem großen, dummen Krieg vernichtet. Und hier hatte alles begonnen.

Als der daran dachte, bekam er Zahnschmerzen.

»Rhapsody!«, rief er ungeduldig in die Höhlenöffnung.

Das Namenslied brach sofort ab und riss das angenehme Gefühl aus seiner Haut, sodass sie leicht summte und stach.

Für einen Augenblick herrschte Stille. Dann sprach die vieltonige Stimme wieder, in der nun deutliches Missfallen lag und die Belustigung ersetzte, die vorher noch in ihr zu spüren gewesen war.

Du kannst eintreten, Bolg-König, aber vergiss deine Manieren nicht.

»Hurra«, murmelte Achmed. Er bedeutete Krinsel, sie solle vor der Höhle ein Lager aufschlagen; dann betrat er den dunklen Tunnel.

Einige Fuß hinter der Öffnung weitete sich die Höhle und erstreckte sich als gewaltiger, dunkler Tunnel in den Berg, der weiter hinten in pulsierendem Licht erglühte. Im Eingang hatten sternartige Flechten die Wände bedeckt und erstreckten sich bis ans Tageslicht, doch im Innern des Tunnels dünnten sie aus und verschwanden schließlich.

Die Wände verzweigten sich, während der Weg nach unten führte. Achmed hörte von weiter hinten ein Tröpfeln herdringen und bemerkte den eindeutigen Gestank von Schwefel aus den Tiefen des Schachtes. Der Hauch der Drachin, dachte er. Der beißende Geruch reizte seine Atemwege. Er kniff in der Dunkelheit die Augen zusammen und folgte dem Leuchten.

Nun watete er durch einen seichten Strom, der immer tiefer wurde, je weiter Achmed kam. Vor einigen Jahren hatte ihm Rhapsody die Höhle beschrieben und gesagt, die Drachin lebe am Ufer eines unterirdisehen Sees. Dampf stieg aus dem Wasser auf, als er es durchquerte.

Während seiner Reise durch den Tunnel verlor er jedes Zeitgefühl, wie damals, als er, Grunthor und Rhapsody entlang der Wurzel gewandert waren. Dieses Gefühl überraschte ihn; er war erstaunt, dass Rhapsody überhaupt in dieser Höhle leben konnte, denn sie erinnerte stark an den Bauch der Erde. Da sie eine Lirin und ein Kind des Himmels war, litt sie, wann immer sie sich nicht im Freien befand. Die Reise entlang der Axis Mundi war eine Qual für sie gewesen. Und sie hatte monatelang in der Erde gesteckt.

Die widerliche Luft umstrich ihn wieder in Wellen aus verderbter Hitze, und vor sich hörte er Krallen über den Steinboden der Höhle kratzen, gefolgt von einem Platschen, als sich die Bestie aus dem Wasser zog. Achmed umrundete eine Biegung, blieb stehen und sah auf.

Vor ihm türmte sich die Drachin auf. Sie füllte die Höhle vom Boden bis zur Decke aus. Ihr gewaltiger Körper war zwar luftartig, besaß dennoch eine erstaunliche Masse. Die riesige Drachin war in ihrem ätherischen Zustand mindestens hundert Fuß lang, vielleicht sogar länger, und die kupfernen Schuppen auf ihrer Haut glitzerten im warmen Licht der Fackeln, die den Boden der Höhle erhellten und deren Licht sich wie Millionen rot funkelnder Sterne auf den Schuppen brach. Die Augen der Drachin waren wie Prismen, in die senkrechte, schmale silberne Pupillen eingelassen waren, und glühten wie Laternen in der Finsternis. Und in diesen Augen lag ein unmissverständlicher Ausdruck der Verärgerung.

»Reg meine Schöne bloß nicht auf«, warnte die Bestie ihn. Ihre vieltonige Stimme hallte durch die Höhle. Die farbenprächtigen Augen verengten sich, um die Worte zu betonen, die aus der Luft selbst gekommen zu sein schienen.

Achmed nickte knapp. »Wo ist sie?«

Die Drachin betrachtete ihn noch eine Weile misstrauisch, dann drehte sie sich zur Seite und erlaubte ihm, an ihrem durchscheinenden Körper vorbeizugehen und tiefer in die Höhle einzudringen.

Inmitten all der Meeresschätze saß Rhapsody auf einer Hängematte aus Leinwand, die zwischen den Höhlenwänden gespannt war. Achmed verlangsamte seine Schritte, blieb stehen und sah sie eingehend an. Er erkannte sie kaum wieder.

Seit dem Fest hatte sie sich körperlich verändert, doch zunächst fiel es Achmed schwer, diese Veränderung zu benennen. Ihre Gesichtszüge schienen schärfer geworden zu sein und die Sanftheit der Linien verloren zu haben, die das menschliche Blut ihres Vaters ihrem ansonsten lirinischen Antlitz hinzugefügt hatte. Nun wirkte sie kälter, ernster. Die Wärme des elementaren Feuers, das sie bei der Reise durch die Erdmitte in sich aufgenommen hatte, war schwächer geworden, wodurch ihre Haut blasser und wie aus Alabaster wirkte und zumindest weitaus weniger rosig als üblich. Sie schien entrückt; sicherlich hatte sie ihn kommen gehört, aber sie schenkte ihm nicht einmal einen Blick. Es war etwas beinahe Drachenhaftes an ihr. Achmed schluckte wütend; bei ihrem Anblick stieg ihm die Galle hoch.

»Trägst du dieses Kind aus, oder trägt es dich aus?«, fragte er.

Rhapsody drehte sich um und sah ihn an. Achmed schnürte es die Kehle zusammen. Ihre klaren grünen Augen, die im Fackelschein wie Smaragde waren, hatten dieselben senkrechten Pupillen wie die ihres Mannes und die der Drachin.

»Beides«, sagte sie. In ihrer Stimme hallte etwas wider, das an die Vielstimmigkeit eines Drachen erinnerte, auch wenn es noch nicht so deutlich hervortrat. »Sei auch du mir gegrüßt.«

Achmed atmete gemessen und bemühte sich, das in ihm aufsteigende Gefühl der Pein zu unterdrücken.

Rhapsody glitt aus der Hängematte und kam ihm entgegen, Sie nickte Elynsynos zu, die noch einen bösen Blick auf Achmed warf und sich dann durch einen Berg aus glitzernden Silbermünzen tiefer in den Berg zurückzog.

»Es war zu erwarten, dass die Mischung so mächtigen Blutes einen Einfluss auf Mutter und Kind haben würde«, sagte Rhapsody ruhig, doch sie war eindeutig über Achmeds Reaktion verwirrt. »Es ist vorübergehend.«

»Hat Ashe dich schon so gesehen?«, wollte Achmed wissen.

Rhapsody runzelte die Stirn. »Ja. Hast du Krinsel mitgebracht, wie ich es dir befohlen habe?«

»Sie wartet draußen. Hast du die Übersetzung beendet?«

»Ja«, sagte Rhapsody.

»Wo ist sie?«, fragte Achmed. Seine Nackenhaare sträubten sich wegen der aufgeladenen Luft in der Höhle und der verwirrenden Veränderung, die mit Rhapsody vorgegangen war.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist unwichtig«, sagte sie. »Ich werde sie dir nicht geben, Achmed.«

Plötzlich schien die Luft in der feuchten Höhle auf einen Schlag staubtrocken zu werden. Die beiden Freunde starrten einander durchdringend an. Als Achmed schließlich sprach, war seine Stimme zwar ruhig, aber sie hatte einen tödlichen Unterton.

»Ich glaube, ich habe dich falsch verstanden.«

»Das hast du nicht«, sagte Rhapsody offen. »Du kannst diese Überlieferungen nicht bekommen, Achmed – sie dürfen niemals verwendet werden. Nicht jetzt und nicht später. Aus keinem Grund. Du musst deine Pläne aufgeben, den Lichtfänger neu zu bauen, und einen anderen Weg finden, um die Sicherheit Ylorcs und des Erdenkindes zu garantieren. Der Lichtfänger würde alles nur noch schlimmer machen.«

Die Pupillen in Achmeds unterschiedlichen Augen zogen sich zusammen, als tränke er blendendes Licht. Er atmete gemessener, flacher, aber ansonsten deutete nichts die aufschießende Wut in ihm an. Beide wussten, was nun kam. Schließlich sagte er:

»Seit ich dich kenne, Rhapsody, hast du mir viele Gründe und noch mehr Gelegenheiten gegeben, dich zu töten. Du tust es immer so unbekümmert, dass dir jedes Mal die schiere Unwissenheit das Leben rettet, weil es schwer ist, die Existenz von jemandem zu beenden, der so offensichtlich nichts begreift.« Seine Augen verengten sich sichtbar. »Diesmal aber bist du dir so wenig des dünnen Eises bewusst, auf dem du dich befindest, dass es mir wahrhaft den Atem raubt.«

Rhapsody stieß die Luft aus, blinzelte aber nicht einmal. »Tu, was du tun zu müssen glaubst, Achmed«, sagte sie gelassen, doch mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme. »Wenn mein Tod der Preis ist, den du für dein dummes Unternehmen zahlen musst, dann war es meine Weigerung wert.«

Achmed zuckte zusammen. Sie benutzte das Wahrsprechen des Benenners. In ihrer Stimme lagen weder Sarkasmus noch Scherz.

»Warum?«, spuckte er aus. »Sag mir, was dich so beunruhigt, dass du dafür unsere Freundschaft aufs Spiel setzt, ja sogar opfern willst, und dein eigenes Leben dazu, wo du doch weißt, wie sehr ich diese Informationen brauche. Hast du den Verstand verloren oder die Beziehung zum Erdenkind und dessen Sicherheit?«

»Weder noch.« Die Pupillen in Rhapsodys Augen vergrößerten sich, wie Achmeds es getan hatten, und spiegelten die Bemühungen wider, mit denen er seine Wut zu unterdrücken versuchte. »Ich habe mein Gelöbnis nicht vergessen, das Erdenkind und das ganze Volk zu schützen, in dessen Verantwortung ich stehe. Genau deshalb muss ich meinem liebsten Freund das verweigern, was er entgegen aller Vernunft haben möchte. Egal, wie hoch der Preis dafür ist, ich will ihn bezahlen, weil ich im Gegensatz zu dir genau weiß, was hier auf dem Spiel steht.«

»Ich weiß durchaus, was auf dem Spiel steht«, sagte Achmed sanft, wobei die Drohung aus jedem seiner Worte tropfte. »Es steht das Leben und das Nachleben auf dem Spiel. Wenn die F’dor das Erdenkind finden, werden sie ihm eine Rippe aus Lebendigem Gestein aus der Brust reißen und damit die Gruft der Unterwelt aufschließen, in der der Rest ihrer Art eingekerkert ist. Sind diese Dämonen erst losgelassen, werden sie alles Leben auf der Erde vernichten, denn danach gieren sie; doch da ihre Existenz nicht auf die materielle Welt beschränkt ist, werden sie, genährt mit der Macht dieser Vernichtung, auch das Leben zerstören, das hinter diesem liegt. Selbst ich, gottloser Mann, der ich bin, empfinde das als ein Schicksal, das ich verhindern muss, solange noch Atem in mir ist. Es erstaunt mich vollkommen, wieso du nicht erkennen kannst, dass du mir helfen musst, wo du dich doch als Retterin der Welt siehst und dich um jeden Taugenichts, jedes Kind und jedes Getier kümmerst.«

Sie atmete tief durch und schaute dann hinüber zu der Wand aus Silber, hinter der die Drachin verschwunden war.

»Schon seit unglaublich langer Zeit besitzt du Grunthors Treue, die ohne Grenzen ist und bis in den Tod und darüber hinaus reicht. Dennoch hat es Zeiten während eurer Freundschaft gegeben, in denen er sich dir widersetzt hat, oder etwa nicht?«

»Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Grunthor und dir«, sagte Achmed mit einer Spur Hohn in der Stimme. »Ich vertraue auf sein Urteil. Er ist in vieler Hinsicht weiser als ich. Wenn er daher meine Entscheidungen infrage stellt, höre ich ihm zu, weil er und ich dieselben grundsätzlichen Ziele haben, und er ist nie rechthaberisch. Deine moralischen Grundsätze sind zwar beständig, aber dumm, und deine Treue ist schlecht verteilt. Oft widersetzt du dich mir oder meinen Plänen aus Gründen, die niemand einsehen kann, der mit dem Kopf denkt und nicht mit den Körperteilen, die deine Entscheidungen beherrschen.«

Er wartete auf die verletzte Reaktion, die seinen schmerzenden Worten sicherlich folgen würde, doch sie kam nicht. Seine Wortpfeile prallten unbemerkt an ihr ab.

»Unterstützt Grunthor deine Entscheidung, den Lichtfänger wieder aufzubauen?«

Die Augen des Bolg-Königs verengten sich. »Die Zweifel, die er möglicherweise gehabt hat, sind sowohl durch seine Kenntnisse über die Geschichte des Apparats als auch durch das Wissen besänftigt, was auf dem Spiel steht.«

»Lügner«, meinte Rhapsody verächtlich.

Die Luft zwischen ihnen knisterte vor plötzlicher Trockenheit.

»Ich bin mir sicher, dass er dir seine Bedenken mitgeteilt hat. Und das ängstigt mich mehr als alles andere, Achmed. Es überrascht und ärgert mich nicht, wenn du meine Sorgen beiseite wischst, denn wir beide wissen, dass du nichts von ihnen hältst. Du hast dich den Bitten des Meeresmagiers widersetzt, weil du ihn verachtest und ihn für einige Verluste in der Vergangenheit verantwortlich machst. Der König der Nain, des Volkes, das den Lichtfänger und das Bergreich errichtet hat, über das du nun herrschst, hat dir einen Botschafter geschickt, um dich vor der Wiederherstellung dieses Apparats zu warnen, oder? Aus diesem Grund ist er zu dir gekommen, auch wenn du das mir gegenüber nicht zugegeben hast, als du mir beim Winterkarneval von seinem Besuch erzählt hast.« Achmed gab keine Antwort darauf. »All diese Leute, die deine Freunde oder wenigstens deine Verbündeten sind, haben dich gebeten, es nicht zu tun, doch ihre Bitten stoßen auf taube Ohren. Das überrascht mich nicht.

Aber dann sagt dir dein eigener Erz-Archont Grunthor, dein militärischer Oberbefehlshaber, dein bester Freund, der dir seit mehr als einem Jahrtausend mit der bedingungslosen Loyalität eines geborenen Soldaten folgt, um von der Reise durch die Eingeweide der Erde erst gar nicht zu reden, dass er die Klugheit deines Vorhabens anzweifelt, und selbst darauf gibst du nichts? Du solltest dich fragen, wessen Urteil in diesem Fall wirklich beeinträchtigt und wessen Seele von irrationalen Vorstellungen und Zielen besessen ist.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und atmete tief durch.

»Ich werde dir verraten, was du hinsichtlich dieser Übersetzung wirklich wissen musst, Achmed. Ich habe dir von Anfang an gesagt, es handelt sich um uralte Überlieferungen, um die Gesetze der Macht, mit denen die Magie beeinflusst werden kann. Es sind die zum Beginn der Zeit gehörenden Karten, die Noten zum Lied der Elemente und die Anweisungen, wie ihre Schwingungen das Gewebe der Welt bilden. Kannst du die Bedeutung dessen erkennen? In diesem Manuskript befinden sich die Schlüssel zur Welt. Jeder Mensch, der noch eine Spur Demut hat, würde bei dem Gedanken erbeben, über diese Überlieferungen zu reden, geschweige denn die Magie anzuwenden, es sei denn, er hat sie jahrelang studiert. Aber deine Überheblichkeit kennt keine Grenzen, und du bist blind dafür, wie gefährlich diese Informationen auch in der Hand eines Menschen mit guten Vorsätzen sein können.« Ihre Augen glühten hell in der Dunkelheit der Höhle.

»Da du in dieser Sache meine Weisheit oder die des Meeresmagiers oder des Nain-Königs oder gar deines besten Freundes nicht annehmen willst, werde ich versuchen, mit Worten zu dir zu sprechen, die du begreifen kannst. Macht kommt nicht aus dem Nichts, Achmed. Sie ist eine elementare Schwingung, die sich aus etwas anderem speist – sie ist eine Übertragung von Lebensessenz. Ob das Gerät, das du gebaut hast und wieder neu errichten willst, zum Heilen oder Verbergen, zur Wahrheitsfindung oder zur Vernichtung dienen soll, es braucht in jedem Fall eine Kraftquelle. Und da du die reine Energie des Lichtspektrums benutzt, dessen Farben wie die Musik im Einklang mit den Schwingungen der Elemente stehen, musst du wissen, woraus du die Kraft ziehst.

Es handelt sich hier um uranfängliche Magie, die von der Geburt der Welt übrig geblieben ist. Diese Magie ist eine auf dem Feuer basierende Kraft aus dem Herzen der Erde, aus demselben elementaren Inferno, durch das du, Grunthor und ich gegangen sind, um hierher zu kommen. Die Magie, welche auf das Wasser gegründet ist, zieht ihre Kraft aus der Quelle des Lebendigen Meeres, dem Ort, an dem dieses Element geboren wurde. Die Luftmagie kommt aus dem Schloss der verknoteten Stürme, die Äthermagie von dem Stern Seren und den Bruchstücken der anderen Sterne, die auf die Erde gefallen und hier immer noch lebendig sind. Doch die meiste Magie des Lichtfängers oder der Lichtschmiede, wie die Nain ihn genannt haben, stammt aus der Erde, da in ihr als dem letztgeborenen Element die Spuren aller anderen zu finden sind.«

Rhapsodys Worte wurden gleichmäßiger, als sie bemerkte, dass der Bolg-König allmählich verstand. Damit dieser Augenblick nicht ungenutzt vorüberging, beugte sie sich vor und flüsterte die letzten Worte, die wie ein tödlicher Streich waren.

»Der Apparat, den du gebaut hast und wieder bauen willst, zieht seine Kraft aus der Erde selbst, Achmed, und mehr noch: Er nagt ihren ältesten Teil an, der schlafend in ihr liegt, seit die Welt erschaffen wurde. Seine Macht trägt den Makel des Feuers, denn er ist verseucht von den F’dor. Diese Maschine, die du als schützendes Bollwerk für das Erdenkind ansiehst, zieht Kraft aus ebendem Gewürm, das nun schlafend im Bauch der Erde liegt. Sie ist Teil dieses Bauchs, ein großer Teil sogar. Du hast dieses Gewürm mit eigenen Augen gesehen.

Jedes Mal, wenn du den Lichtfänger benutzt, gehst du die Gefahr ein, es aufzuwecken.«

33

Für lange Zeit war das einzige Geräusch in der Höhle das Gurgeln des Wassers, das aus der unterirdischen Lagune in den stillen See jenseits des Berges strömte. Die beiden alten Freunde schauten einander an. Keiner sprach, ihr Atem ging im Gleichklang. Schließlich brach Achmed das Schweigen.

»Gib mir die Übersetzung.«

Rhapsody kniff die Augen zusammen. »Hast du nichts von dem verstanden, was ich dir gesagt habe?«

»Jedes Wort. Gib sie mir trotzdem.«

Die Herrin der Cymrer legte wütend die Hand auf ihren geschwollenen Bauch.

»Ich will, dass du jetzt gehst, Achmed«, sagte sie.

»Mit Vergnügen, sobald du mir die Übersetzung gibst. Ich habe gelernt, mit Reptilien geduldig zu sein. Treib es also nicht zu weit.«

Rhapsody wandte sich verärgert ab. »Und was dann? Willst mich dann töten? Wenn dich das davon abhält, diese Maschine zu vollenden und einzusetzen, nur zu. Ich habe dir schon gesagt, dass es mir das wert ist.« Der Bolg-König seufzte. »Wer ist jetzt der Narr? Zuerst will ich dir noch einmal sagen: Der Lichtfänger wird gebaut, und er wird benutzt werden, ob mit oder ohne Übersetzung. Das kannst du nicht verhindern. Ich suche in dem Text nach etwas, mit dem ich den andauernden Wechsel von Versuch und Fehlschlag vermeiden kann. Dabei könntest du hilfreich sein, doch du bleibst lieber blind. Vielleicht liegt das an deinen verkleinerten Augen, weil du den Balg deines Mannes austrägst.

Wann habe ich zum letzten Mal jemanden getötet, ohne dass es sich um Selbstverteidigung oder um deine Verteidigung gehandelt hat, meine Liebe? Da verlasse ich mein Königreich und reise durch einen ganzen Kontinent, um deinen Hintern aus dem Meer zu ziehen und vor dem Zugriff durch einen verlotterten Verrückten zu bewahren, und du klagst mich an, ich wolle dich töten? Das ist nicht nur lächerlich, das ist schon beleidigend. Nur weil ich weiß, wie man schnell und leicht tötet, bedeutet das nicht, dass ich es unablässig oder ohne Grund tue. Es gibt eine ganze Menge Leute, die dich liebend gern tot sähen – und viele davon sind mit dir verwandt. Behandle mich nicht wie ein Kind. Uranfängliche Magie? Natürlich handelt es sich um uranfängliche Magie! Wir gehen mit Kräften um, die aus dem ersten Zeitalter herrühren. Keine Kraftquelle, die später entstanden ist, kann gegen diese Kräfte etwas ausrichten.«

Rhapsody drehte sich ihm wieder zu. Nun war sie blass. »Aber du hast nicht das Recht, sie zu benutzen«, sagte sie zögernd. »Hier geht es nicht darum, eine Anleitung zu lesen und dann nach ihr etwas zu bauen. Die großen Benenner mussten jahrhundertelang studieren, bevor sie Zugang zu diesen Überlieferungen erhielten. Selbst ich, die ich diese Dinge untersucht habe, bin schrecklich unvorbereitet und begreife nicht alles, was hier niedergeschrieben steht. Ich habe mir das Meiste selbst beigebracht, Achmed. Vergiss nicht, dass viele meiner Studien in Abwesenheit meines Lehrers stattfanden. Trotz all der Zeit, in der ich die Wissenschaft des Benennens angewendet habe, würde ich nicht einmal im Traum daran denken, uranfängliche Magie zu benutzen.«

Achmed deutete auf ihren Bauch. »Was glaubst du denn, wie man die Zeugung eines Drachenbalgs sonst nennen sollte?«, fragte er, unfähig, seinen Abscheu zu verbergen. »Wenn das keine Nutzung uranfänglicher Magie ist, was ist es dann? Du gibst zu, dass du nicht die leiseste Ahnung hast, was aus dieser Schwangerschaft herauskommt. Du, ein Gefäß elementaren Feuers und Äthers, die Trägerin eines Schwertes, das zweifellos deine Seele mit ihren eigenen Kräften geformt hat, Lirin und Mensch und Cymrerin, für immer in der Zeit erstarrt und alterslos – du vermischst dein Blut mit diesem verdorbenen Mischmasch, aus dem Ashes Blut besteht? Was daraus erwächst, könnte sogar das Ende der Welt sein. Behaupte bloß nicht, das sei ausschließlich deine eigene Idee gewesen. Ich weiß genug über Drachen. Mir ist klar, dass dein geliebter Gatte mit deinem Leben spielt, ob er es zugibt oder nicht. All diese Vorwände der Besorgnis über die Gefahren des Lichtfängers! Du solltest dir besser Sorgen über die Gefahren machen, die mit deinem Kind in die Welt kommen – nicht nur für dein eigenes Leben, sondern für die gesamte Zukunft.« Er sah, wie Rhapsody zusammenzuckte, und verspürte sowohl Befriedigung als auch Schuld.

Rasch sagte er: »Hör jetzt auf, mir Predigten über die Gefährlichkeit von unverständlicher Magie zu halten, und gib mir die Übersetzung. Ich versichere dir, dass ich weitaus verantwortungsbewusster mit meinen Angelegenheiten umgehe als du mit deinen.«

»Ich ... ich kann nicht ...«

»Natürlich kannst du! Glaubst du, es ist besser, wenn du mir genaue Anweisungen gibst, oder aber wenn ich mit Gwylliams Bibliothek in Ylorc experimentiere und eine große Zahl Bolg dabei beschäftige? Du könntest auch all das aufgeben« – er machte eine verächtliche Handbewegung in die mit Schätzen und Flechten angefüllte Höhle –

»und mit mir nach Ylorc zurückgehen. Du würdest das Projekt überwachen, dann wüsstest du wenigstens, wie die alten Überlieferungen eingesetzt werden.«

»Nein.«

Wütend packte er ihr Handgelenk. Sofort wollte sie die Hand zurückziehen, hielt aber inne, als sie die Kraft seines Griffs bemerkte.

»Begreifst du, dass du gerade deinen Stand als Benennerin aufs Spiel setzt?«, meinte Achmed leise und starrte direkt in die senkrecht geschlitzten Pupillen ihrer Augen. »Als ich dir und diesem unwürdigen Herzog in Yarim geholfen habe, hast du versprochen, mir bei dieser Sache beizustehen. Wenn du dich jetzt weigerst, war das damals eine Lüge. Du musst dich an deinen Worten messen lassen. Du wirst dein Wahrheitsgelübde brechen und dann ist deine Gabe des Benennens verwirkt.«

Rhapsodys Gesicht verhärtete sich, und sie versuchte wieder, sich aus seinem Griff zu befreien.

»Dann ist es eben so«, keuchte sie unter dem zwecklosen Versuch, seinen Griff um ihr Handgelenk zu lockern.

»Ich wollte sterben, um dich vom Missbrauch der Überlieferungen abzuhalten, was bedeutet da schon die Opferung einer Berufung?«

Achmed ließ ihren Arm mit einer heftigen Bewegung los.

»Ich wiederhole, dass du mich von nichts abhalten kannst«, sagte er harsch. »Du verpasst nur die Gelegenheit, den Prozess nicht dem Zufall zu überlassen. Darüber solltest du nachdenken.« Er drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Höhlenausgang.

Rhapsody riss entsetzt die Augen auf, deren Smaragdgrün wie Frühlingsgras leuchtete. Achmed bemerkte die Veränderung aus den Augenwinkeln. Er kannte diesen Blick, der sich immer dann in Rhapsodys Augen stahl, wenn sie Angst hatte.

Er blieb im Tunnel stehen und öffnete den Mund, weil er sie fragen wollte, was sie mehr fürchtete: seine Taten oder ihre Tatenlosigkeit.

Dann schloss er den Mund rasch wieder, als er sah, dass blutiges Wasser aus ihr strömte und sich unheilvoll zwischen ihren Füßen auf dem Höhlenboden sammelte.

Innerhalb eines einzigen Herzschlages schien sich die gesamte Welt zu verändern.

Rhapsody betastete ihren Bauch, und ihr Gesicht verzog sich, während sie sich zusammenkrümmte. Sie stieß ein Keuchen aus und stützte sich mit zitternder Hand an der Höhlenwand ab.

Achmed verspürte eine plötzliche Kälte; die Hitze im Tunnel ließ nach und löste sich auf. Sein Zorn schmolz; benommen ergriff er Rhapsodys Arm und stellte fest, dass ihr Körper so kalt war, als ob das elementare Feuer in ihr ausgelöscht worden wäre.

Die Luft im Tunnel knisterte. Die Drachin erschien und glitt wie ein flüssiger Blitz über den Haufen aus Silber. Ihre vieltonige Stimme hallte vom Wasser und den Höhlenwänden wider.

»Meine Schöne?«

Rhapsody bemühte sich, stehen zu bleiben, doch ihre Beine gaben nach, und sie fiel zu Boden. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen, und sie keuchte erneut auf.

»Dein Gemahl kommt«, sagte die Drachin. Ihre Stimme war so fest und bestimmt wie die Ewigkeit, doch Achmed bemerkte, dass in den Augen der Bestie Bestürzung aufleuchtete. »Ich fühle ihn am Rande des Flusses, kaum eine Meile entfernt.«

Rhapsodys Blick begegnete Achmeds. »Krinsel«, flüsterte sie. »Bitte.«

Achmed kämpfte gegen die Galle in seiner Kehle an. Er fuhr mit der Hand an Rhapsodys Arm entlang und drückte ihr die Hand, dann ließ er sie wieder los, bückte sich und tauchte den Saum seiner Robe in ihr Blut. Sofort rannte er den Tunnel hinunter.

Er traf die Hebamme am Höhleneingang an. Den Befehl, Rhapsody zu Hilfe zu eilen, gab er auf Bolgisch, denn es war eine knappe und gutturale Sprache, die wenig Anstrengung kostete. Als die Frau in die glimmernde Finsternis huschte, atmete Achmed tief durch, dann trat er aus der Höhle und hielt den Saum seines Gewandes in den Wind.

Er wartete ungeduldig, bis der Wind den Geruch des Blutes aufnahm, dann drehte er sich um und eilte zurück in den dunklen Bauch des Drachennestes.

Zwei Meilen entfernt hörte Ashe am Nebenfluss des Tarafel auf zu trinken und erhob sich. Er ließ die Tropfen in seiner Hand auf den schneebedeckten Boden fallen, wo sie sofort zu Eiskristallen erstarrten, und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, um Nase und Augen abzuwischen.

Sein Drachensinn dehnte sich aus und erwachte aus seinem Schlaf. Die kleinsten Einzelheiten in seiner Umgebung wurden riesig. Er bemerkte die winzigsten Lichtfäden und Klangstränge aller Dinge unter der Sonne und im Wind, der wie ein Tuch über der Erde lag. Jeder gefrorene Grashalm auf jedem getauten Fleck unter jedem blattlosen Baum, jede Feder jedes Wintervogels über ihm, jeder eisbedeckte Zweig eines jeden Busches war ihm oder zumindest der uralten Bestie in seinem Blut überdeutlich.

Im Wind konnte er die Blutstropfen mit größerer Gewissheit zählen, als er seinen eigenen Namen kannte. Mehr noch – in ihr Blut war anderes gemischt, das ein Widerhall seines eigenen war.

In diesem Augenblick drehte sich Ashe um und überblickte das Land zwischen der Stelle, wo er stand, und der Drachenhöhle. Zwei Meilen im Rabenflug, dachte er und bezwang die Angst, die nun in ihm aufstieg wie die Drachensinne kurz zuvor. Mindestens zehn Meilen, wenn er den Fluss an einer genügend seichten Stelle durchqueren und die undurchdringlichsten Stelen des jungfräulichen Waldes umgehen wollte, in den noch nie ein Pfad geschlagen worden war und wo der Schnee hoch lag.

Für den Bruchteil einer Sekunde schien der Wald um ihn mit Hindernissen durchsetzt zu sein, die ihn von seinem Schatz trennten: schneebedeckte, lauernde Wurzeln und weiße Hügel, Kuppen und andere Erhebungen, die den Wald mit dickem Frost schützten, der auch beim Einsetzen der Tauperiode nicht geschmolzen war.

Doch dann rückten plötzlich alle Hindernisse fort, als sein Drachensinn in eine neue Dimension vorstieß. Die Drachennatur übernahm die Führung; sie erhob sich in ihm, gewann den Kampf und schwang sich über ihn und die Natur in seiner Umgebung auf. Ein Pfad strahlte in seinem Kopf wie ein Leuchtfeuer, ein ätherischer Führer zu Elynsynos’ Höhle.

Und als seine Drachennatur die Oberherrschaft gewann, spürte Ashe, wie sich die Fesseln seiner Beherrschung lösten, die er fest in seinem Innern geknüpft hatte; es war eine Antwort auf die Macht der Elemente um ihn. Sein Körper blieb zunächst noch menschlich, auch wenn sein Geist nun der eines Drachen war. Er rannte los, geradewegs in die Baummauer hinein, die ihm von dem fern hielt, was der Drache in seiner Seele als sein Schatz ansah.

Seine Frau und sein ungeborenes Kind.

Beuge dich mir, lass mich durch, befahl die vieltonige Stimme in seiner Seele.

Und die Erde gehorchte.

Bäume zuckten im Wind, ihre Stämme beugten sich in beinahe unmöglichen Winkeln und gaben den Weg frei. Erhebungen aus schneebedecktem Gebüsch teilten sich; der schlammige Boden wurde vor ihm hart; alles ordnete sich der Erdenmacht unter, aus der seine Vorfahren hervorgegangen waren. Der plötzlich verstummte Wald schien den Atem anzuhalten, als der Mann, der durch ihn stürmte, aus der Luft um ihn Kraft saugte und durch das Gehölz brach, als wäre es nicht mehr als Wind.

Einen Augenblick später war es trocken und knisterte, als ob Ashes Gegenwart ihm das Leben ausgesogen hätte. Während er lief, verließen alle Gedanken Ashes Bewusstsein und sanken tiefer in die Drachennatur in seinem Blut, bis ein einziger Gedanke – zu Rhapsody zu kommen – ihn völlig beherrschte. Dieser Vorrang verhalf ihm zu noch größerer Geschwindigkeit, und bevor er es bemerkte, stand er schon vor dem Eingang zu Elynsynos’ Höhle. Er keuchte vor Erschöpfung und schwitzte vor Schrecken.

Vor dem Höhleneingang wurde sein Drachensinn plötzlich von einer größeren Macht unterdrückt, die an diesem Ort herrschte. Ashe blinzelte und lauschte. Aus den Tiefen der Höhle hörte er ein scharfes Jammern, ein Schluchzen der Verzweiflung und des Schmerzes, eine Stimme, die er nur allzu gut kannte. Das Blut gefror ihm bei diesen Lauten der Qual; Schweiß prickelte auf seiner Haut, und Übelkeit drohte ihn zu verschlingen. Vor ihm im Höhleneingang stand eine Bolg-Frau, eine dunkle Hebamme mit ernstem Gesicht. Er erinnerte sich schwach, dass Rhapsody sie ihm vor vielen Jahren einmal vorgestellt hatte. In der bolgischen Kultur wurden Hebammen als besonders mächtig angesehen; die Bolg glaubten, man müsse den Kindern das Beste geben, was ihre groben medizinischen Fähigkeiten zu bieten hatten, weil sie die Zukunft verkörperten und wichtiger waren als die besten Krieger, die man an ihren Wunden sterben ließ. Die Hebammen waren eine stahlharte Gruppe und stellten auch in Achmeds neuer Gesellschaftsordnung eine wichtige politische Kraft dar. Diese stillen, sturen Frauen zeigten nur sehr selten Gefühle oder Schmerz.

Daher war es für Ashe noch beängstigender, den Ausdruck tiefster Angst in den Augen der Frau vor ihm zu sehen.

Er kämpfte um Worte. »Meine Frau?«, fragte er. »Mein Kind?«

Die Bolg-Frau atmete langsam aus und sprach drei Worte in der gemeinsamen Sprache des Kontinents.

»Es tut mir Leid«, sagte sie.

34

Die Krevensfelder — Roland

Die Tage des endlosen Schnees flössen eintönig ineinander.

Weil es nichts weiter zu verstehen gab, verengte sich Farons Geist immer weiter. Er hatte alle Erinnerungen bis auf eine verloren, hatte sich an seinen neuen Körper und seine neue Wirklichkeit gewöhnt und richtete all seine Aufmerksamkeit nur auf ein einziges Ziel. Meile für Meile folgte er dem Winterpfad durch weites Bauernland entlang der gefrorenen transorlandischen Straße, welche den Kontinent teilte. Hier herrschte nur wenig Verkehr. Die Tauperiode war gekommen und die Leute in den Städten und Dörfern von Roland waren damit beschäftigt, Dinge instand zu setzen, Torf zu stechen und Holz und Dung als Brennmaterial zu horten, denn sie warteten auf die Rückkehr des Winters. Die Macht der Erde war stark in Faron und hatte ihn gelehrt, mit der Landschaft zu verschmelzen. Entweder deshalb oder weil niemand da war, der ihn hätte sehen können, ging er unbemerkt seines Weges.

Nun folgte er einem Laut, einem fernen Ruf mit einer Schwingung, die er sein ganzes Leben hindurch gekannt hatte. Es war das alte, uranfängliche Lied der Schuppen, die er verloren hatte. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, diese Melodie zu vergessen, hätten die Schuppen, die noch in seinem Besitz waren, ihn wieder daran erinnert, denn ihre summende Macht durchdrang seinen Steinkörper.

Oft führte der Lärm des Tages dazu, dass der Ruf unterdrückt wurde, und wenn das geschah, wurde Faron über alle Maßen wütend. Der Ruf eines Wintervogels oder der Formationsflug von Gänsen über ihm brachte ihn dazu, auf seinem Schneeweg anzuhalten und stille Flüche in einer seit langem toten Sprache zu murmeln, die tief in seinem Hirn vergraben lag. Ihn verlangte nach der Stille der Welt, denn in dieser Stille konnte er den Ruf deutlich hören. Sobald er ihn erkannte, folgte er ihm unablässig.

Bis er eines Nachts fand, wonach er gesucht hatte.

Er war zur Spitze einer kleinen Erhebung über einem schmalen Tal gekommen und stand nun auf einem der welligen Hügel des orlandischen Plateaus in der weiten Ebene der Krevensfelder, und da lag es unter ihm. Der Vollmond schien so hell wie die Sonne. Sein Licht fiel auf die schneebedeckten Felder, die silbrigblau erstrahlten. Sogar in der Dunkelheit war das Mondlicht so grell, dass er die farbenfrohen Wagen und die purpurnen und zinnoberroten Flaggen erkennen konnte, die tagsüber von den Pferden gezogen wurden. Die Tiere waren nun zusammen untergebracht und für die Nacht zugedeckt worden. Sie allein bemerkten die Bewegung in der Erde und wieherten in aufkommender Panik.

Im Lager des Zirkus brannten Fackeln und sandten Funken himmelwärts, die mit dem strahlenden Mondlicht tanzten.

Um die Feuer saßen einige Männer, die als Wächter und Handlanger dienten, und tranken abgestandenes Bier und erzählten noch abgestandenere Witze. Der bucklige Kartenabreißer hatte mehr getrunken, als er vertrug, und wurde nun als menschlicher Ball in einem grotesken Spiel hin und her geworfen, wogegen er anscheinend nichts einzuwenden hatte, denn er kicherte laut. Das Lachen hallte von der leeren Welt der Hänge und Hügel um sie herum wider und verflog in der Nacht. Es verhüllte den Ruf der Schuppen.

Malik hielt den zerbeulten Krug gegen die Lippen, blies den schmutzigen Schaum ab und verschüttete Bier in seinen Bart, während er lachte. Er hatte in dem Versuch, sich zu wärmen, die Beine an die Brust gezogen und nahm nun am Rande seines Blickfeldes eine Bewegung wahr.

Er schaute hin, spähte in die Finsternis, doch was immer es gewesen sein mochte, es war wieder verschwunden. Bloß ’n Schneeteufel, entschied er und nahm noch einen Schluck. Wird ’nen verteufelten Wind geben heut Nacht.

Der Wagen, der ihrem Feuer am nächsten stand, hob sich plötzlich mit den Hinterrädern vom Boden, wurde wieder auf die Erde geschleudert und brach entzwei.

Für den Bruchteil eines Augenblicks war auf der weiten Ebene nichts anderes zu hören als das Splittern von Holz. Dann setzte das Kreischen ein.

Die Missgeburten, die den ersten Angriff im Wagen überlebt hatten, schrien los; ihre harten, fremdartigen Stimmen erhoben sich zu einem dissonanten Jammern, das durch den Winterwind und das Knistern des Feuers schnitt und sich mit dem angstvollen Wiehern der Pferde mischte. Malik und die anderen, die um das Feuer saßen, warfen sich zunächst zu Boden, bedeckten das Gesicht und kamen dann entsetzt wieder auf die Beine. Der Mund des Aufsehers bebte und bildete zwei Worte:

»Was zum ...«

Da rutschte der nächste Wagen seitwärts auf sie zu, als wäre er mit Schwung von hinten geschleudert worden. Er prallte gegen den ersten; die Schreie verdoppelten sich, und die Nachtluft wurde erfüllt von scheußlichem Knirschen und Reißen.

Nun wurde auch der zweite Wagen in die dunkle Luft gehoben und genauso geworfen wie der Bucklige noch kurz zuvor – mitten zwischen die Männer.

Malik hatte das Glück, eine gute Position und schnelle Reflexe zu haben. Er warf sich in den Schnee und rollte nach links, scheuerte sich zwar vom Gesicht bis zu den Knien auf, wurde aber nicht zerschmettert wie die drei anderen Männer, mit denen er eben noch getrunken hatte.

Während die Kakophonie um ihn herum anschwoll und ihm das Blut wie verrückt in den Ohren rauschte, versuchte Malik zu begreifen, was hier geschah und warum ein angenehmer nächtlicher Umtrunk plötzlich zu einem Nachtmahr geworden war. Ihm kam lediglich der Gedanke, ein schrecklicher Wintersturm habe sich wohl aus dem Nichts erhoben, die Wagen ergriffen und sie durch die Luft gewirbelt.

Er kämpfte gegen Schwindel und Galle an, die ihm in die Kehle stieg, und glaubte einen Schatten zwischen dem Feld der Verwüstung und dem dritten Wagen zu sehen, aus dem weitere Missgeburten des Zirkus strömten und vor Verwirrung und Furcht winselten. Im schwachen Licht des sterbenden Feuers, um das die Männer gesessen hatten, schien ein menschlicher Schatten zu lauern, den die zuckenden Flammen zum Riesen machten.

Das Dach des nächsten Wagens brach auseinander, während der Chor der Verwirrung sich zu Schreien des Grauens wandelte.

Diesmal schaute Malik rechtzeitig über den Wagen und erkannte die Umrisse von zwei riesigen Armen und einem Oberkörper, der wütend niederfuhr. Der Schatten packte den Wagen und schüttelte ihn heftig, sodass alle Geschöpfe, die sich noch darin befunden und herauszukommen versucht hatten, auf den schneebedeckten Boden geworfen wurden, wo sie sich mit himmelwärts gerichtetem Blick zusammenkauerten, während das Wesen den Wagen mit einem schrecklichen Lärm auf sie warf.

Im dämmrigen Licht des Lagerfeuers glaubte Malik nun den gesamten Umriss zu erkennen. Kurz hatte er geglaubt, eine der Missgeburten laufe umher, um blindwütig zu töten. So etwas war schon früher passiert, und viele der Ausstellungsgeschöpfe waren sehr stark. Doch als der ungeheuerliche Schatten durch den Schnee zum Wagen des Zirkusdirektors schlurfte, erkannte er, dass der Angreifer keine Missgeburt und auch kein Geschöpf war, das er je zuvor gesehen hatte.

Er war schon fast bei der Unterkunft des Zirkusdirektors angekommen.

»Feuer frei!«, rief er krächzend den Männern zu, die Wache gestanden hatten, während er und die anderen mit dem Buckligen gezecht hatten. Die Männer zielten zitternd mit ihren Armbrüsten. Sie hatten nun freien Blick, und ihr vor Entsetzen erstarrter Gesichtsausdruck verriet, dass sie etwas Schlimmeres sahen, als Malik sich je vorstellen konnte. Sein Ruf schien sie wachzurütteln. Gleichzeitig feuerten sie. Einer der Pfeile flog an dem Koloss vorbei, aber die anderen drei fanden das Ziel, das kaum zu verfehlen war, obwohl es sich bewegte.

Die Pfeile prallten ab oder zerbrachen, als ob man sie auf eine Steinwand abgefeuert hätte.

»Noch einmal!«, kreischte Malik, doch zwei der Schützen hatten schon ihre Waffe fallen gelassen und rannten fort, während der dritte reglos dastand. Nur einer der Wächter besaß die Geistesgegenwart, erneut zu schießen, als die herannahende Erde in Menschengestalt mit der geballten Faust auf den reglosen Schützen einschlug. Zwischen dem Blutgegurgel und Knochenbrechen war ein leises metallisches Klirr zu hören.

Die Statue richtete sich wieder auf, griff sich neben das Ohr und war für einen Augenblick gelähmt. Malik erkannte die Gelegenheit. »Lauft!«, rief er jedem zu, der noch erstarrt in der Nähe stand. Er wedelte wild mit den Armen und sah sich um. »Emmi? Emmi, Liebes, wo bist du?«

»Hier, Malik«, antwortete eine dünne, erschrockene Stimme hinter ihm, als Entenfuß-Emmi auf der Trittleiter eines der ineinander geschobenen Wagen erschien und ihn zu verlassen versuchte.

Beim Klang ihrer Stimme hielt der Riese inne und richtete die blicklosen Augen auf sie, die im Schein der Fackeln an den verbliebenen Wagen blau und milchig aussahen.

Dann schlenderte er in ihre Richtung, wobei er ihrer Stimme folgte.

Malik stellte sich zwischen die beiden und begriff, was die Statue vorhatte. »Lauf, Emmi!«, brüllte er, während er einen zerbrochenen Zeltpfosten ergriff. »Er ist hinter dir her! Lauf!«

Der Riese wischte ihn weg wie ein Blatt im Wind, brach ihm die Knochen und warf ihn in mehreren getrennten Teilen auf den Schnee.

Entenfuß-Emmi und die Missgeburten in ihrer Nähe kreischten auf. Dieses Geräusch schien den herannahenden Titan noch wütender zu machen. Er wurde schneller und noch bedrohlicher. Eine Sekunde lang rüttelte etwas am Portal des Wagens, dann packte die Missgeburt, die als Menschlicher Bär bekannt war, Emmi von hinten und warf sie über die Veranda vor die Füße der Statue.

Sie kreischte, als sie zu Boden fiel, schaute auf und erkannte zwei unirdische, sie eindringlich anstarrende Augen, deren Pupillen aus Stein bestanden; doch die Iris war blau und von milchigen Wirbeln überzogen. Entsetzen und Tränen erstickten sie beinahe. Entenfuß-Emmi schlitterte ein wenig nach hinten, doch die vielen raschelnden Röcke und Schürzen behinderten sie. Stumm murmelte sie Gebete, an die sie sich aus der Kindheit erinnerte, obwohl sie ihre Bedeutung schon lange vergessen hatte.

Der Titan beobachtete sie weiter und blieb unbeweglich. Er sah zu, wie sie weinte, und kniete sich schließlich vor sie, wobei er die Pfeile, die ihm vom Rücken und der Seite abprallten, nicht weiter zu bemerken schien. Die Statue ballte eine gewaltige Hand zur Faust. Emmi und alle anderen Missgeburten, die entweder im Wagen gefangen oder starr vor Schreck waren, keuchten auf.

Schweigen fiel über das verwüstete Lager; nur das Knistern der verbliebenen Feuer sowie das leise Jammern der Sterbenden waren noch zu hören.

Der Titan streckte langsam die Hand aus und fuhr der entsetzten Frau mit den Steinknöcheln über die Wange. Dabei scheuerte der raue Stein sie ein wenig auf, doch er wischte ihr die Flut der Tränen ab, die ihr über das Gesicht geströmt war.

So wie sie es früher bei ihm immer getan hatte.

In den Augen der erschrockenen Frau zeigte sich kein Erkennen.

Schließlich kam der Zirkusdirektor aus seinem Wagen am anderen Ende des Lagers und stopfte sich das Nachthemd in die gestreifte Hose. Eine doppellippige Frau folgte ihm.

»Was ist hier los?«, rief er mit rumschwerer Stimme, in der Verärgerung über das unerfüllte Verlangen mitschwang.

Als die entsetzte Stille gebrochen war, schrien die Missgeburten und Helfer, unter ihnen auch Entenfuß-Emmi, wieder auf.

Der Kopf der Statue schnellte hoch.

Einen Augenblick lang verspürte Faron ein Gefühl, das er nicht mehr gehabt hatte, seit er in den Körper aus Lebendigem Gestein eingesperrt worden war. Es war das Gefühl der Traurigkeit.

Sie mich nicht erinnert, dachte er.

Darin lag etwas Verheerendes. Ohne Emmi und ihre Freundlichkeit gab es niemanden mehr auf der Welt, der ihn aus seinem früheren Leben kannte.

Der ihn so geliebt hatte, wie er gewesen war.

Er hielt die freie Hand an sein Ohr, wo der Schuss einen Riss in sein Fleisch gegraben hatte. Er fühlte keinen Schmerz, sondern hatte nur den Eindruck, dass die verletzte Stelle auf eine Weise eintrocknete, wie es bei seinem übrigen Körper nicht der Fall war, so als ob der Stein dort nicht mehr lebendig sei.

Plötzlich hörte er es klarer: den Gesang der Schuppen.

Er warf den Kopf hoch, doch gleichzeitig ertönte wieder der Lärm des lebendigen Abfalls, übertönte das Lied der Schuppen und hinderte ihn daran, sie zu finden.

Er schüttelte den Kopf, versuchte den Lärm zu vertreiben, doch damit machte er ihn nur noch schlimmer. Am lautesten war es unmittelbar vor ihm.

Er öffnete die geballte Faust, umfasste mit den Fingern Emmis Hals und drückte zu, bis der Lärm aufhörte. Mit Entsetzen beobachtete der Rest des Monstrositätenkabinetts, wie der Riese Emmi den Kopf von den Schultern riss und ihn neben sich zu Boden warf; dann richtete er sich wieder auf und wandte sich langsam in Richtung des Zirkusdirektors.

Der Direktor stolperte barfuss die wenigen Stufen von seinem Wagen hinunter in den Schnee.

»Tut doch was, ihr missgebildeten Narren!«, kreischte er die verbliebenen Wachen an. Sie drehten sich um und flohen zusammen mit all jenen Missgeburten, die sich noch bewegen konnten, in die Dunkelheit der Krevensfelder. Die Frau, die er vorhin zu beschlafen versucht hatte, keuchte abgehackt und rannte zurück in den Wagen des Direktors. Ihr Irrtum wurde kurz darauf deutlich, als der Riese den Vorbau des Wagens packte und diesen über den Kopf des Zirkusdirektors schwang. Der Wagen schlug mit der Tür nach unten auf den Boden, was ein Entkommen unmöglich machte.

Der Zirkusdirektor erstarrte. Er blickte wild um sich und suchte nach einem Ausweg, doch der Pfad hinter ihm war durch den zerschmetterten Wagen blockiert. Der Körper der doppellippigen Frau hing aus dem eingeschlagenen Fenster.

Vor ihm erhob sich ein gewaltiger, wütender Schatten, geformt aus Stein, doch mit den Bewegungen eines Menschen.

Eines Menschen mit mörderischem Zorn in den Augen.

Rasch vergrub der Eigentümer des Monstrositätenkabinetts die Hände in den Hosentaschen und tastete blind nach Wertvollem, obwohl es sehr unwahrscheinlich war, dass etwas so Zerstörerisches mit Juwelen oder Gold besänftigt werden konnte; aber ihm fiel nichts Besseres ein.

Seine zitternde Hand fand etwas Scharfes mit rauem Rand. Es war das eingerissene blaue Oval, das er vor langer Zeit aus dem Bauch des Fischjungen entfernt hatte. Er hatte es als Glücksbringer behalten; außerdem strahlten seine Schwingungen warm und anregend auf den Unterkörper ab. Er packte die Schuppe und warf sie in die Dunkelheit vor die Füße des Titanen.

Faron blieb sofort im Schnee stehen.

Die Schuppe glitzerte vor ihm; sie spiegelte den Feuerschein und das irre Licht des Mondes wider. Es war die Wahrsageschuppe, der blaue Talisman mit dem Bild eines von Wolken eingerahmten Auges auf der konvexen und eines von den Wolken verborgenen Auges auf der konkaven Seite. Es war die Schuppe, in der er erstmals diesen Ort gesehen und eine Spur der Frau mit dem langen Haar entdeckt hatte, nach der er auf Befehl seines Vaters hatte suchen müssen. Die Schuppe hatte seinem Vater geholfen, mitsamt seiner Piratenflotte sein Ziel zu finden. Es war wohl Farons größter Schatz, und dessen Verlust hatte ihn aller Hoffnungen beraubt. Nun lag sie unbeschädigt vor seinen Füßen und sang ihr klares, glockenhaftes Lied.

Ehrerbietig bückte sich Faron und hob die Schuppe auf, dann hielt er sie triumphierend gegen das Licht des wolkenumrahmten Mondes.

Er drehte sich um und ging fort, versunken in der Freude über einen wiedergewonnenen Schatz.

Hinter ihm stieß der Zirkusdirektor einen rauen Seufzer der Erleichterung aus.

Faron blieb abrupt stehen.

In seiner Träumerei über die Wiederentdeckung der Schuppe hätte er beinahe vergessen, welche Qualen er erlitten hatte, als ihm die Schuppe entrissen worden war, und wie schrecklich es gewesen war, sich zur Schau stellen zu müssen, immerwährend missbraucht zu werden und einsam in der Dunkelheit eines polternden Zirkuswagens zu schwimmen. Damals hatte er diese Pein nicht verstanden, und auch jetzt begriff er sie nicht. Aber er erinnerte sich an sie.

Er dachte an Entenfuß-Emmi, die ihn mit ihren Klauen verteidigt hatte, doch der Zirkusdirektor hatte sie mit dem Handrücken ohnmächtig geschlagen. In seinem einfachen Geist erinnerte sich Faron nicht mehr daran, was er selbst soeben mit Emmi getan hatte, doch die Wut über diesen Mann mit der gestreiften Hose und alles, was er Faron angetan hatte, kehrte mit Macht zurück.

Er drehte sich um und war im nächsten Augenblick bei dem Zirkusdirektor. Der Mann hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit, den Mund zu öffnen und einen Schrei auszustoßen, bevor Faron ihn in den zerschmetterten Wagen warf. Nun griff er zum ersten Mal, seit er seinen neuen Körper aus Lebendigem Gestein besaß, aus schierer Vergeltungsfreude an und zerstampfte den leblosen Körper zu Brei; dann warf er ihn in die Nacht, wo ihn am nächsten Morgen nicht einmal die Aasfresser erkannten.

Nun schwoll das Lied der Schuppen in seinen Ohren an und übertönte das Jammern im Wind, das Winseln der Verletzten, die Schmerzesschreie der Sterbenden. Es war das Einzige, was er hörte, und es trug ihn. Er lauschte, wie in der Ferne die letzten Töne erklangen und ihn zu den anderen riefen. Faron drehte sich um und folgte ihnen südwärts, fort von den zerschmetterten Überresten des Zirkus.

Nach Jierna’sid.

35

Ylorc

Kurz bevor der Angriff auf das Bolgland begann, verspürte Grunthor eine dunkle Vorahnung, die nichts glich, was er in all seinen Kriegsjahren empfunden hatte. Es war nicht Angst und auch nicht Übelkeit oder jenes Klopfen im Schädel, das jeder Befehlshaber fühlt, wenn etwas nicht stimmt. Diese Gefühle hätte er sofort erkannt. Diesmal war es eher eine künstliche Abwesenheit jeglicher Besorgnis, als ob ein unbekanntes Wesen in seine Kriegerseele gegriffen und jeden Instinkt, jede antrainierte Vorsicht herausgerissen hätte, die er von Geburt an gehabt und während seines langen Soldatenlebens weiter entwickelt hatte.

Kurz gesagt: Er fühlte nichts.

Plötzlich waren alle unbewussten Warnzeichen, die bei einem andauernd wachsamen Menschen mit jedem Atemzug auf ihn einstürmten, verschwunden, als ob es auf der ganzen Welt nichts gäbe, worüber man sich Sorgen machen müsste. Dieses Gefühl ging nicht mit einer falschen Empfindung des Wohlbehagens einher, sondern war lediglich eine völlige Taubheit gegen die immerwährende Notwendigkeit, auf der Hut zu sein. Wenn er über diesen plötzlichen Wegfall seiner soldatischen Wachsamkeit nicht so entsetzt gewesen wäre, hätte er erkannt, worum es sich dabei handelte. Es hätte jedoch keinen Unterschied bei den folgenden Ereignissen gemacht und ihn vielleicht nur noch ängstlicher gestimmt.

Dieses Gefühl des völligen Nichts, das seine Sinne betäubte, war die vollkommene Zerrüttung seiner Erdenmacht, welche von einem Drachen aufgesogen wurde.

Der elementare Herzschlag, der in seinem Blut klopfte und sich im Gleichklang mit dem Puls der Welt befand, verschwand. Es wäre nicht erschreckender gewesen, wenn sein eigenes Herz plötzlich zu schlagen aufgehört hätte. Seine Verbindung zur Erde, so tief und innerlich, ging verloren und ließ ihn für den Bruchteil eines Atemzugs benommen und erstarrt zurück, bis er wieder tief Luft geholt hatte und sein Herzschlag sich beruhigte. Als er sein vollständiges Bewusstsein wiedererlangt hatte, erzitterte bereits der Boden.

Rhapsody hatte der unterirdischen Grotte mit dem kleinen Häuschen und den Gärten inmitten eines dunklen Sees den Namen Elysian gegeben; diesen Namen hatte das Schloss des Königs getragen, der über Serendair geherrscht hatte. Als Tochter eines menschlichen Bauern und seiner lirinischen Frau war sie auf den weiten Feldern unter dem offenen Himmel aufgewachsen und hatte nie zuvor etwas so Bezauberndes zu Angesicht bekommen wie die stille Einsamkeit des dunklen Sees, der mit kleinen Flecken aus Sonnenlicht gesprenkelt war, das durch in die Felsendecke gebohrte Löcher fiel. Auch das Schloss von Elysian hatte sie nie gesehen, doch hatte allein schon das Wissen darum in ihrer Kindheit magische Bilder in ihr heraufbeschworen, und daher hielt sie diesen Namen für angemessen.

Lange vor ihrer Zeit hatte der Ort andere Namen getragen. Die Firbolg nannten den Kreis aus zerklüfteten Felsen über der Höhle, der sie vor den Blicken und dem Wind der Oberwelt schützte, Kraldurge, was in ihrer Sprache so viel wie Reich der Geister bedeutete. Ob diese Bezeichnung vom Jammern des Windes in der Senke zwischen den Felsen herrührte oder einen tieferen Grund hatte, wusste keiner mehr. Jedenfalls war der Name treffend, denn sowohl der dunkle unterirdische See als auch die Wiese darüber enthielten unheilige Geheimnisse. Nicht vergebene Sünden lasteten auf ihnen, an die sich nur ein einziges lebendes Wesen erinnern konnte – die Bestie, die sie bis zu ihrem Erwachen am Ende des Sommers ebenfalls vergessen hatte.

Es war dieser Ort voller dunkler Geheimnisse, an den die Drachin zuerst ging. Sie bohrte sich still durch die Erde und saugte deren magische Kraft in sich auf. Ihr angeborener Sinn leitete sie unfehlbar wie ein Leuchtfeuer aus der Ferne hierher, wo sie einst so etwas wie ein Nest gehabt hatte, einen Zufluchtsort innerhalb der Berge, über die sie geherrscht hatte. Ihr verhasster Gemahl hatte ihr diesen Ort geschenkt, hatte ihn sogar für sie errichtet, doch daran erinnerte sie sich nicht mehr. Sie wusste nur noch, dass er ihr gehört hatte und sie hier betrogen worden war.

Mehr noch – sie hörte den Widerhall ihres Namens in der unterirdischen Grotte und spürte ihn im Wind der Wächterfelsen über sich, gefangen in endlosen Kreisen, unablässig in einem ewigen Heulen der Verzweiflung wiederholt:

Aaaaaannnnnnnnnwwwwyyyyyyynnnnnnnnnnn!

Nun befand sie sich an dem Ort, an dem dieser Name ausgesprochen worden war, und sie spürte den Hass, die Niedertracht und die böse Erinnerung an das lange vergangene Vergnügen der Rache. Was immer es gewesen war, das diesen Schrei hervorgerufen hatte, es besaß einen angenehmen Geschmack. Obwohl sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, musste es köstlich gewesen sein.

Während sie unter der Grotte wartete und ihre Rückkehr an diesen Ort genoss, kam ihr ein weiterer bitterer Geschmack in den Mund. Er ähnelte dem Parfumgeruch einer anderen Frau auf den Laken oder einem fremden Geschmack auf den Lippen des Geliebten. Zuerst war die Drachin abgestoßen und spuckte aus in dem nutzlosen Versuch, den Mund davon frei zu bekommen, doch schließlich begriff ihr beeinträchtigter Verstand, worum es sich handelte.

Dieser Ort über ihr, der See und die Gärten, die Insel und die Hütte gehörten in jeder Hinsicht nun jemand anderem.

Genau in dem Augenblick, in dem sie dies erkannte, wurde ihr auch etwas anderes klar: Die Person, die sie an diesem Ort ersetzt und ihr bewusst oder unbewusst ihre Vergangenheit und ihr Reich gestohlen hatte, war dieselbe Frau, deren nebelhaftes Gesicht und grüne Augen sie in ihren Wachträumen heimsuchte.

Während ihre Wut stieg, wurde sie sich immer sicherer und beruhigte sich allmählich.

Denn die Drachin wusste, dass sie an diesem Ort die verachtete Frau riechen, ihre Essenz einsaugen und in ihre Haut, ja, in ihr ganzes Wesen aufnehmen konnte.

Und dadurch vermochte sie der Frau nachzuspüren, bis sie sie gefunden hatte.

Die Drachin empfand nicht die Notwendigkeit, den Grund für ihren Hass zu kennen oder ihre Rachlust zu begreifen. Die Welt um sie herum war noch immer verschwommen und hatte jegliche Bezugspunkte verloren; auch waren alle Verbindungen zwischen Gedanken und Handlung gekappt. Sie wusste nur zwei Dinge genau: Sie trug eine unerschöpfliche Quelle beißenden Ärgers in sich, und Zerstörung linderte ihre Qualen ein wenig. Ich sehne mich nach Erleichterung, sagte sie sich, als sie an der unterirdischen Quelle entlangglitt, aus der sich der See speiste. Sie spürte, wie das Wasser sie erkannte und an diesem Ort wieder willkommen hieß. Dafür kann man mich bestimmt nicht tadeln.

Sie tauchte aus dem Gestein am Grund des Sees auf und sog den Rest der Erdmagie wie Atemluft ein. Aus der unendlichen Dunkelheit der Erde drehte sie sich hoch zum gedämpften Licht über der Wasseroberfläche und schwamm so schnell, wie es ihre Wut erlaubte.

Die Drachin schoss vorbei an Fischen, die in der Tiefe lebten und in entsetzten Schwärmen davon schössen, an hauchdünnen Kristallfäden, die in großen, kathedralenhaften Bogen aus strahlenden Farben aufstrebten, und brach schließlich aus dem Wasser hervor. Sie schwang sich auf das felsige Ufer der winzigen Insel in der Mitte des dunklen Sees.

Dort lag sie kurz und holte Luft, dann hob sie den Kopf und betrachtete den Ort, an dem ihr Name ausgesprochen worden war.

Der vor langer Zeit ausgestoßene Schrei hatte seinen Ursprung tatsächlich in der Welt oberhalb dieses Ortes. Sie hörte, wie er durch den Felsen jammerte und wütend im Wind tanzte, der zwischen den kreisförmigen Bergen des Kraldurge hindurchpeitschte. Hier, unter dem Ort, wo es geschehen war, waren die Erinnerungen stark genug, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen.

Die Drachin wich vom Ufer zurück und zog den Rest ihres Körpers aus dem Wasser. Wasser neigte dazu, Schwingungen zu verschleiern, besonders wenn sie alt waren, oder sie zu verzerren, und die Bestie wollte alles, was sie an diesem Ort entdecken mochte, ganz deutlich wahrnehmen. Woher sie dies wusste, war ihr nicht klar, aber sie dachte nicht weiter darüber nach.

Denn ihre empfindlichen Nüstern hatten bereits den Duft der Frau eingefangen.

Die durchdringenden blauen Augen der Drachin suchten die dunkle Insel ab.

In ihrer Mitte stand eine kleine Hütte, umgeben von Gärten in tiefem Winterschlaf, die seit Jahren nicht mehr gepflegt worden waren. Hinter dem Haus lag ein kleiner Obstgarten unter einer Öffnung in der Kuppel, welche die Grotte überwölbte. Der Drachensinn der Bestie erspürte den Inhalt der Hütte: eine Küche ohne Vorräte, aber mit getrockneten Kräutern und Gewürzen, ein Badezimmer mit einer Wanne, die ihr Wasser aus dem See bezog und es in die Gärten leitete, ein Wohnzimmer mit einem Kirschholzschrank, der mit Korkleisten eingefasst war und Musikinstrumente enthielt. Eines der Schlafgemächer hatte einen kleinen Erker und eine Sitzbank darin, das andere einen großen Schrank mit reichen Hofgewändern und Leinenkleidern sowie einer dazu passenden Auswahl an Schmuck.

Aha, meine Liebe, du bist also Musikantin? Und eine Sammlerin feiner Kleider, dachte die Drachin, doch dann erkannte sie einen weiteren Gegenstand in dem Schrank. Es war ein Kinderkleid, alt und reich bestickt mit allen Farben des Regenbogens. Ich kenne dieses Kleid, dachte die Drachin, doch der Ort, den es in ihrer Erinnerung einnahm, war ansonsten leer.

Die Freundlichkeit dieses Ortes durchwebte sogar die Luft; er war durchdrungen von einem unverkennbaren Glück, was die Drachin befremdend und erschreckend fand. Es war, als habe jemand das warme, dunkle Nest weggenommen, das in seiner Kahlheit so wundervoll gewesen war, und es mit frohen Farben und hübschen, aber schalen Blumen befleckt.

Dadurch hatte dieser Ort einen Glanz erhalten, der vorher nicht da gewesen war, und war zu einem Zufluchtsort, einem Heim, einem Heiligtum geworden. Doch da war noch eine tiefere Schicht, welche die Drachin spürte, aber nicht verstand. Liebe war etwas, das sie nicht kannte, auch nicht in menschlicher Gestalt, obwohl sie einmal Liebe gehabt hatte.

Als die Drachin mit der Begutachtung der Hütte fertig war, machte sie sich an die Untersuchung des Gartens. In der Mitte der lange verwelkten Blumenbeete nahe eines Rosenbogens, in dem das Unkraut wucherte, befand sich eine steinerne, sechseckige Terrasse mit zwei ineinander gewundenen Steinbänken.

In einer Ecke der Terrasse stand ein zerbrochener Vogelkäfig aus reinem Gold. Er war so stark beschädigt, dass man ihn nicht wiederherstellen konnte, und die Tür war fort.

Der Drachensinn der Bestie stürzte sich sofort auf diesen Käfig. In ihm erkannte sie nicht nur große Macht, sondern auch ihre eigenen Ängste – alte Ängste, vermischt mit Pein und Zorn.

Auf ihrem gewaltigen Gesicht prickelte es. Unbewusst hob sie eine Klaue und wollte sie sich an die Wange legen, um das Brennen der Erinnerung zu lindern.

Es war ein schmerzhafter Schlag gewesen.

Und er war hier, an diesem Ort geführt worden. Auf dieser Terrasse, nahe dem Vogelkäfig.

Warum?, kreischte die Bestie innerlich auf. Warum kann ich mich nicht daran erinnern?

Die Wut kehrte zurück und floss wie Säure durch ihre Adern. Während sie sich aufbaute, kämpfte die Bestie darum, die Magie in sich aufzunehmen und das wiederzubekommen, was man ihr gestohlen hatte, doch das Land wollte es nicht mehr hergeben.

Sie war nicht gewöhnt, dass man sich ihr verweigerte. Die Drachin wandte sich mittels ihres Blutes an den Ort, von dem sie wusste, dass er einmal ihr gehört hatte, doch nichts antwortete ihr – nicht die Hütte, nicht der See oder die kristallinen Formationen in den purpurnen Grotten darunter, nicht einmal die sechseckige Terrasse, auf der ihr nach ihrer bruchstückhaften Erinnerung ein so großes Unrecht widerfahren war, dass die ganze Welt darunter hatte leiden müssen.

Den Grund dafür kannte sie nicht; wenn sie ihn erfahren hätte, wäre sie noch wütender geworden. Es lag daran, dass der Mann, der die Krone der Firbolg ergriffen hatte und der rechtmäßige Herrscher über das Land der Zahnfelsen geworden war, diesen Ort in Wort und Tat der Frau geschenkt hatte, die sie als ihre Todfeindin ansah.

Aber eigentlich war es völlig gleichgültig.

Ätzender, zersetzender Hass stieg aus den Tiefen ihres seelenlosen Wesens auf und entzündete sich zu beißendem Feuer.

Zuerst war die Terrasse an der Reihe. Die Drachin schickte ihren feurigen Atem durch den Stein, bis der Vogelkäfig zu einer Pfütze aus goldener Schlacke geworden war. Dann richtete sie ihren Zorn auf den Rest des Ortes, setzte die Gärten und die Obstbäume in Brand, die rasch in einer hoch aufsteigenden Wolke aus schwarzem und orangefarbenem Rauch verschwanden, und wandte sich schließlich dem Haus zu. Aus seiner Zerstörung schöpfte sie grimmige Befriedigung; es war wie das Zerreißen alter Liebesbriefe aus einer verratenen Beziehung. Das strohgedeckte Dach fing rasch Feuer, dann fiel das liebevoll wieder hergerichtete Schlafgemach den Flammen zum Opfer, mitsamt den wertvollen Kleidern und sorgfältig verwahrten Musikinstrumenten. Ein Schwefelflammenstoß nach dem anderen zerstörte jede Spur der Frau, die sich hier eingenistet hatte. Als die gesamte Insel ein Flammenmeer war und Rauch und Asche in einer schwarzen Wolke über dem dunklen See lagen, betrachtete die Drachin ihr Werk.

Es ist ein Anfang, dachte sie und war noch unbefriedigt. Aber nur ein Anfang. Jetzt muss ich ihren Namen erfahren und herausfinden, wo sie sich befindet. Aber die Drachin wusste, dass dies nicht hier geschehen konnte. Sie spürte, dass die Frau, nach der sie suchte, kein Geschöpf der Erde, sondern der Luft und des Sternenlichtes war.

Daher musste sie in der Oberwelt nach ihr suchen.

Die Drachin versenkte sich in die Tiefen ihres Selbsts, in die elementare Erde; abermals wandte sie sich wie eine Wüste, welche das Wasser eines gewaltigen Unwetters aufgesogen hat und immer noch dürstet und tödlich trocken ist, von der brennenden Insel ab und schoss über den dunklen See bis zu der windumtosten Wiese, auf der ihr Name unablässig zwischen den Bergen hallte, und darüber hinaus an den Wächterfelsen des Kraldurge vorbei. Zum Reich der Firbolg.

36

Drachenhöhle — Gwynwald

»Was willst du damit sagen?«, fragte Ashe bebend. Die Vieltonigkeit seiner Drachenstimme war verschwunden und von einer menschlichen ersetzt worden, die nun von den Wänden des Höhleneingangs widerhallte.

Wortlos drehte sich die Hebamme um und stieg in die Höhle hinunter.

Benommen folgte Ashe ihr in den Bauch des Drachennestes.

Der Schein des Schatzes aus dem untergegangenen Meer war von der Farbe des Blutes durchtränkt. Er hörte seine Frau weinen; ihre Stimme zitterte, als versuche sie vergeblich, ihre Klage zu unterdrücken. Unter diesen Lauten lief er noch schneller; er drückte sich an Krinsel vorbei, rannte zum tiefsten Punkt der Höhle und rief dabei Rhapsodys Namen. Das, was er sah, ließ ihn erstarren.

Das große ätherische Wesen wiegte Rhapsody in seiner Armbeuge und strich ihr sanft mit der Klaue die schweißnassen Locken aus dem Gesicht. Dieses Gesicht war schmerzverzerrt und weiß vor Angst, aber das war noch nicht alles. Es war blass wie Milch, und die Lippen waren farblos.

Sie lag auf der Seite, die Augen waren geöffnet und glasig, und ein Bach aus Blut befleckte ihre Kleider, sammelte sich auf dem Boden vor ihr, wurde vor seinen Augen größer.

»Das Fruchtwasser fließt, aber das Kind kommt nicht«, sagte Elynsynos sanft. »Und es ist so winzig.« Er hörte ihre Stimme in seinem Kopf, wo ihre Laute unmittelbar entstanden; Elynsynos wollte Rhapsody nicht noch mehr verängstigen.

»Sam«, flüsterte Rhapsody. Ihre Stimme war trocken und schwach.

Er kniete sich vor sie, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und lächelte sie falsch an, um sie zu ermutigen. Dann warf er einen Blick auf die beiden Bolg. Krinsel sah nachdenklich und gelassen aus, genau wie Achmed, doch die sonst so dunkle Haut des Bolg-Königs glänzte im gebrochenen Licht der Hohle vor Schweiß.

»Es ist zu schnell«, sagte Rhapsody leise. »Nicht einmal drei Jahreszeiten ...«

»Das wissen wir nicht«, meinte Ashe beruhigend.

»Deine Mutter ... hat dich ... drei Jahre lang getragen ...«

»Wer weiß das schon?« Der cymrische Herrscher blickte in die prismatischen Augen der Drachin, die vor unvergossenen Tränen funkelten. »Wie lange war es bei dir, Elynsynos? Wie lange hast du meine Großmutter und ihre Schwestern ausgetragen?«

Die Drachin schüttelte das gewaltige Haupt. »Länger als ein ganzes Jahr«, sagte sie.

Verzweifelt dachte Ashe an die Worte der Seherin. Rhapsody wird nicht sterben, wenn sie deine Kinder zur Welt bringt, hatte Manwyn selbstgefällig gesagt. Darüber hatte er unablässig nachgegrübelt und überlegt, wie die Worte ausgelegt werden könnten, denn das Orakel war oft zweideutig. Doch er war zu dem Schluss gekommen, dass diese Aussage keine andere Deutung zuließ.

Dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Vielleicht hatte die Seherin einen grausamen Doppelsinn in ihre Bemerkung gelegt, welche zwar an sich richtig war, aber eine verborgene, entgegengesetzte Bedeutung hatte. Vielleicht sollte es genau so zu Ende gehen: Das Kind starb in ihr, bevor es geboren wurde.

In seinem Kopf hallte die Stimme seines Vaters wider.

Nimm dich vor Prophezeiungen in Acht, hatte Llauron gesagt. Sie sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen. Die Gabe, in die Zukunft zu sehen, ist oft den Preis der Irreführung nicht wert. Stumm verfluchte Ashe sich selbst, denn er musste zugeben, dass sein Vater möglicherweise Recht hatte.

»Hilf mir«, sagte er zu Achmed, während er seinen Mantel auszog und ihn Rhapsody umlegte. »Du bist doch das Kind des Blutes, oder? Kannst du nicht wenigstens dafür sorgen, dass sie zu bluten aufhört?«

Achmed schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie«, sagte er mürrisch. »Ich habe meine Blutgabe nicht als Heiler, sondern als Mörder eingesetzt.«

Im dunklen Licht der Höhle neigte die Bestie den Kopf und brachte damit jedes zufällige Geräusch zum Schweigen. »Wenn du eine Elementargabe hast, kannst du sie in beide Richtungen einsetzen«, sagte die harmonische Stimme. »Blut ist ein Element, wenn auch kein uranfängliches. Wenn du weißt, wie du Blut vergießen kannst, solltest du auch in der Lage sein, es zu retten.«

Achmed stand reglos da, doch sein schweißfeuchtes Gesicht wurde noch aschfahler. »Ich kann es nicht«, wiederholte er.

Die schillernden Augen der Drachin verengten sich in unmissverständlichem Ernst, und die künstliche Stimme, mit der sie ihre Worte formte, indem sie der Luft befahl, war sanft und leise vor tiefer Bedeutung.

»Hör mir gut zu, Bolg-König«, sagte Elynsynos. »Schließ die Augen und höre auf kein anderes Geräusch als auf meine Worte; dann werde ich dir sagen, wie du deine Gabe einsetzen kannst, um Blut aus tödlichen Wunden zu stillen, anstatt es zu vergießen.«

Einen Augenblick lang stand Achmed steif vor Unentschlossenheit in der Stille der Höhle, während Rhapsdys Lebensblut sich zu seinen Füßen sammelte. Dann kniete er sich widerstrebend neben sie.

»Sag es mir«, meinte er knapp.

»Alles im Universum ist entweder Leben oder Leere, Bolg-König. Nicht Gut und Böse, wie die Menschen glauben, sondern diese beiden entgegengesetzten Kräfte sind es, die für immer im Kampf liegen. Entweder ist etwas schöpferisch, oder es ist zerstörerisch. Und in jedem Leben gibt es sowohl Schöpfung als auch Zerstörung.« Die Worte der Drachin wurden wärmer, als ob die Hitze der Feuergabe, an die sie gefesselt war, sowie aller anderen Elemente in ihrer Stimme steige. »Jene, die mit der Gabe des Lisleut, der Farbe Rot, geboren sind, haben ein unauflösbares Band zum Blut, dem Strom des Lebens, der durch alle Geschöpfe fließt. Wenn sie dieses Band im Namen der Macht der Leere knüpfen und morden und vernichten, dann sind sie entweder Blutvergießer, geborene Mörder und Schlächter, oder solche, die den Tod mit großer Ehrerbietung bringen, wenn es nötig ist.

Doch wenn diese Blutgabe im Namen der Schöpfung – und mit Liebe – angewendet wird, ist sie eine heilende Macht. Du und meine Schöne habt in vieler Hinsicht dieselbe Verbindung zum Blut, aber du hast deine Gabe dazu eingesetzt, es zu vergießen, oft in guter Absicht, während sie es zu bewahren versucht. Als Benennerin kann sie heilen, aber weder sie noch ich haben die Gabe des Lisleut. Drachen sind nur mit den uranfänglichen fünf Elementen verbunden. Du allein bist mit dem natürlichen Band des Blutes gesegnet – oder verflucht. Du benötigst kein Geschick, um sie zu retten, Bolg-König, sondern nur einen Grund. Wenn du etwas um sie gibst, setze dein Band des Blutes zum Heilen statt zum Töten ein. Das Blut wird dir gehorchen, so wie es in der Vergangenheit schon zahllose Male geschehen ist. Wenn dein Vorsatz auf Heilung und Rettung gerichtet ist, dann wird genau das einsetzen.«

»Unsere Beziehung ist nicht mehr besonders gut«, murmelte Achmed.

»Euer Streit und der Zustand eurer Freundschaft sind nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass du ihr helfen willst. Wenn du es willst, dann kümmere dich um die Blutung. Wenn du es nicht willst, solltest du jetzt gehen.« Eine Wolke aus beißendem Dampf quoll aus den Nüstern der Bestie; in ihrem Geruch lag eine deutliche Spur von Drohung.

Achmed starrte den wachsenden roten Fleck auf Rhapsodys Kleidern an, zog sich dann mit steifen Bewegungen den Handschuh aus und legte die Hand neben die von Ashe auf Rhapsodys Bauch.

Seine Gedanken wanderten ungebeten zurück zu den Turmkammern des Klosters, in dem er ausgebildet worden war. Achmed schüttelte scharf und heftig den Kopf, als wolle er die Erinnerung verscheuchen.

Eine Schande, dass Ihr das Studium der Heilkunst gegen eine andere Betätigung eingetauscht habt, hatte Jal’asee gesagt. Euer Lehrer hatte großes Vertrauen in Eure Fähigkeiten. Ihr wäret eine Zierde für die Stille Festung gewesen, vielleicht einer ihrer besten Schüler.

Bei der Erinnerung an seine Antwort drang ihm ein schmerzender Stachel in die Ohren.

Dann wäre ich jetzt genauso tot wie all die anderen Unschuldigen, die Ihr an diesen Ort gelockt habt. Euer Verständnis von Schande deckt sich nicht mit meinem.

Wärme durchströmte ihn, sofort gefolgt von der schneidenden Kälte und dem Schmerz der Erinnerung, als er an einen dieser Unschuldigen dachte.

Unter der durchweichten Kleidung bewegte sich Rhapsodys Bauch unruhig; er dehnte sich und zog sich sofort wieder zusammen.

Achmed prallte zurück und zog den Arm ruckartig fort.

Das Kind in ihr trat mit nutzloser Anstrengung aus.

Rhapsody jammerte auf; ihre Lider flatterten.

»Ich ... das ist nicht das erste Mal, dass ich meine Gabe auf diese Weise anzuwenden versuche«, sagte der Bolg-König zögernd. »Beim letzten Mal war das Ergebnis nicht besonders gut.«

Elynsynos sah ihn an; die vielfarbigen Pupillen glänzten im schwachen Licht der Höhle.

»Diesmal hast du einen Ansporn, Bolg-König«, sagte die Drachin. »Diesmal versuchst du die Blutung von einer der wenigen Personen zu stillen, die dir etwas bedeuten.«

Achmed schnaubte, doch die Ironie dieser Worte war so stark, dass er beinahe etwas dazu gesagt hätte. Jetzt weiß ich, woher Ashe einige seiner ärgerlichsten Wesenszüge hat, dachte er, als er die Ärmel seines Hemdes bis zu den Ellbogen hochrollte und seine von Oberflächenadern überzogenen Arme freilegte. Drachen! Sie reden, als wären sie im alleinigen Besitz aller Weisheit der Welt, während sie in Wahrheit gar nichts wissen. Wenn man es recht bedenkt, müssen auch Priester und Gelehrte teilweise Drachen sein.

Seine Wut klang ab, als er Rhapsody wieder berührte. Die Wärme in ihrem Körper nahm rasch ab, verebbte mit jedem Herzschlag, als ob sie ihre Lebenskraft aushauchte. Schuld – ein Gefühl, das er für gewöhnlich nicht verspürte – krallte sich in seine Gedanken und wand sich bis hinunter in die Eingeweide. Es war kaum zu glauben, dass ihr Streit es hervorgerufen hatte – oder doch?

»In Ordnung, Rhapsody, es reicht«, murmelte er. »Als du beim letzten Mal Heilung brauchtest, habe ich dir ein Lied gesungen, aber du kannst mir glauben, dass niemand diese Erfahrung wiederholen möchte.«

Rhapsody nickte schwach.

»Niemand«, stimmte sie leise zu.

Achmed musste grinsen. Irgendwo in dieser drachenhaften Frau steckte noch eine Spur der alten Freundschaft. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Schlag ihres Herzens. Es war einer der wenigen Laute, die er noch aus der alten Welt hörte, doch er kam nur ganz schwach aus ihrer Brust. Achmeds Hand zitterte leicht. Im Gegensatz zum letzten

Mal gab es nun keine Wunde; das Blut kam aus ihrem Inneren.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte er angespannt. »Es gibt keine äußerliche Wunde.«

»Finde den Weg«, sagte die Drachin. »Blut fließt durch den Körper wie Wasser durch die Erde.«

Die luftgleichen Worte drangen bis in die hintersten Winkel von Achmeds Verstand und zerrten Erinnerungen hervor, die er dort versteckt hatte. Vor einem halben Leben war er in die Wurzel der Sagia hinuntergeklettert gemeinsam mit Grunthor, der einzigen Person, der er vertraute, und einer wild um sich schlagenden Geisel, die seine Fluchtpläne und seine ganze Welt durcheinander gebracht hatte. Zu Anfang war sie eine unwillkommene Begleiterin gewesen, doch während der zahllosen Jahrhunderte, die sie gemeinsam gereist waren, war sie zu der einzigen anderen lebenden Person geworden, die seines Vertrauens würdig war. Zu dritt waren sie durch den Bauch der Erde gekrochen und hatten grauenvolle Dinge beobachtet, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte; während sie in ihrer merkwürdigen Dreiergruppe zusammengeblieben waren, hatten sie Hindernisse bezwungen, die unüberwindbar erschienen waren, wobei die Zeit in der Welt über ihnen verflog.

Die Frau, die er bei ihrer Flucht als Versicherung gegen seinen F’dor-Herrn mitgeschleift hatte, hatte sich ihnen widersetzt und sie geärgert, doch der Hass war zu Gleichgültigkeit und schließlich zu Freundschaft geworden, und sie hatte für ihn und Grunthor gesungen und mit ihnen die Vision der Oberwelt, die grünen Felder und Ebenen unter dem offenen Himmel geteilt. Meistens hatte das den Wahnsinn gebannt. Und während Grunthor ihr das Führen des Schwertes beigebracht hatte, hatte sie ihn das Lesen gelehrt; doch ihr größtes Geschenk war vermutlich die Reinigung ihrer Namen gewesen.

Im Mittelpunkt der Erde brannte ein infernalisches und undurchdringliches elementares Feuer. Während er und Grunthor der Meinung gewesen waren, dies sei das Ende ihrer Reise und sie seien nun für immer in diesem Grab aus feuchten Schächten und haarartigen Wurzeln gefangen, hatte ihre Gefährtin sie durch das Feuer gesungen, sie in die Lieder ihres Namens gehüllt – oder in das, was sie für ihre Namen hielt – und ihnen Gaben verliehen, die sie verloren oder nie besessen hatten. Während ihr Lied Grunthor wunderbarerweise unauflöslich an die Erde band, deren Rhythmus nun mit seinem Herzschlag in Einklang war, hatte sie Achmed durch die Kraft des Namens, den sie ihm in ihrem Lied gegeben hatte, die Verbindung zum Blut und noch vieles mehr geschenkt. Achmed die Schlange, hatte sie ihn genannt und den Namen ausgelöscht, mit dem er jahrhundertelang gerufen worden war: der Bruder. Dadurch hatte sie ihn von den Fesseln gelöst, die mit diesem Namen verbunden waren. Firbolg, Dhrakier. Erstgeborener. Mörder. Diese Benennungen waren wahr gewesen, bevor sie in die Erde gegangen waren, doch sie hatte noch andere hinzugefügt.

Unfehlbarer Fährtenleser, Pfadfinder.

Mit diesen Namen war die Macht gekommen.

Von dem Augenblick an, als das Namenslied ihre Lippen verlassen hatte, hatte er sich nie wieder verirrt. Wenn er sich auf einen Pfad konzentrierte, den er nie zuvor gesehen hatte, sah er ihn mit dem inneren Auge aus einem neuen Blickwinkel von oberhalb seiner selbst. Ein innerer Sinn, den er früher nicht gekannt hatte, leitete ihn und zeigte ihm den Weg, den er gehen wollte. Dieser Sinn hatte die drei Gefährten entlang der Axis Mundi durch die zahllosen Tunnel, Wurzeln, Löcher und Durchgänge im Fleisch der Welt geführt und in dieses neue Land gebracht, zu diesem Kontinent auf der anderen Seite der Welt und der Zeit. Seither hatte ihm der neue Sinn gute Dienste geleistet.

Die Frau, die ihm diesen Sinn geschenkt hatte, lag nun vor ihm und vergoss mit jedem Herzschlag ihr Blut auf den Boden.

Achmed tauchte den Finger in die Blutpfütze auf dem Höhlengrund.

Er schloss die Augen und suchte den Pfad, wobei er in seinem Kopf wieder ihre Worte hörte.

Unfehlbarer Fährtenleser. Pfadfinder.

Das Blut an seiner Fingerspitze summte in den empfindlichen Nervenenden.

Ein Bild von Tunneln, nun eher Adern und Venenwege als Schächte entlang einer Wurzel, kam ihm in den Sinn. Einen von ihnen durchfloss ein Strom aus dunklem Blut, das heller wurde, je näher er dem Herzen kam. Achmed atmete langsam aus und setzte die Gabe des Findens ein, die ihm Rhapsodys Namenslied im Innern der Erde geschenkt hatte. Seine Gedanken klarten auf. Die Drachin, die Drachenbrut, die Hebamme und die schöne Frau verschwammen im Nebel am Rande seines Bewusstseins und verschwanden schließlich ganz. Nur die Wege im Innern der Frau, die zur anderen Seite seiner Gabe geworden war, blieben in ihm übrig.

Starke Übelkeit packte ihn, die Kälte des Krankenlagers wehte ihn an. Er bekämpfte das Gefühl und konzentrierte sich.

Mit seinem geistigen Auge folgte er dem tröpfelnden Blut durch dunkle Tunnel und Höhlungen, in denen er sich ducken musste. Er fand seinen Weg, als folge er dem Geruch eines Tieres oder dem Herzschlag menschlicher Beute; er war es gewöhnt, diese Laute zu hören, denn er war mit der Gabe geboren worden, all jene durch ihren Herzschlag aufzuspüren, die am gleichen Ort wie er geboren waren. Er spürte sie auf seiner Haut und vermochte seinen eigenen Lebensrhythmus dem ihren anzupassen.

Doch nichts, was er je getan hatte, hatte ihn auf den Anblick des Innern einer anderen Person vorbereitet, zumal es sich um jemanden handelte, dem gegenüber er das verdammenswerte, verwirrende Gefühl einer Liebe empfand, die verboten und unerwidert war.

Den Weg über den inneren Pfad ging er mit Lichtgeschwindigkeit; innerhalb eines Herzschlages sah er Rhapsodys Bauch, aus dem das Blut durch einen Riss strömte. Er richtete seine ganze Willenskraft darauf, die Wunde zu schließen, und zu seiner Überraschung sah er das schwammartige Gewebe kurz anschwellen und dann wieder in sich zurücksacken. Es war rot und fest. Die Wunde war verschwunden. Die Adern seiner eigenen Haut pulsierten, so wie sie es taten, wenn er einem Opfer nachspürte und sich erfolgreich mit dessen Herzschlag verbunden hatte.

Achmed zitterte. Er schloss die Augen und bereitete sich darauf vor, den Pfad zu verlassen, doch er zögerte kurz – lange genug, um zu erkennen, was in der Nähe der geheilten Wunde schwamm.

Umgeben von einer durchsichtigen, in der Mitte aufgerissenen Membran befand sich eine beinahe menschliche Gestalt mit Augen, die wie im Schlaf geschlossen waren. Das Gesicht wurde von dem Gewebe verdeckt. Die Membran glimmerte im Dunkel, als ob sie einmal ein mit Licht gefüllter Sack gewesen wäre, und Streifen aus jeder erdenklichen Farbe durchliefen sie.

Das Kind darin war reglos; die einzige Bewegung bestand in einem schwachen Flackern unter den Rippen. Mit seinem geistigen Auge starrte Achmed Rhapsodys Kind an und war gefesselt von der schieren Schönheit dessen, was er sah. Im Gegensatz zu der verhassten Drachenbrut, die ihm Übelkeit verursachte, wenn er nur an sie dachte, war dieses Kind zart, vollkommen und in Licht und Dunkelheit zugleich gehüllt. Sogar durch die klebrige Hülle waren Strähnen goldenen Haars zu erkennen, und eine unwiderstehliche Wärme ging von dem Wesen aus. Es war dieselbe Wärme, die Rhapsody ausgestrahlt hatte, bevor sie vor einigen Monaten diese feuchte Höhle betreten hatte.

Als er den Pfad gefunden hatte, verblasste die Vision wieder und wurde zu Finsternis. Achmed wurde gleichzeitig von zwei Gedanken heimgesucht.

Das Kind war nicht die Missgeburt, vor der er sich gefürchtet hatte. Es ehrte seine Mutter, hatte jedoch auch eigenes Licht, und statt der alten Habgier und verzerrten Eigenschaften eines Drachen zeigten sich Menschlichkeit und Verletzlichkeit.

Aber es lag im Sterben.

Achmed zog seine Hand aus der Blutpfütze, als die Vision verschwand. Ihm wurde kalt, und er erbebte.

»Die Blutung ist gestillt«, sagte er mit schweißgrauem Gesicht. »Aber das Kind muss sofort geholt werden.«

Weit entfernt, in den Tiefen seines Königreichs, schlug unbemerkt vom Bolg-König das Herz eines anderen Schlafenden Kindes ebenfalls schwächer.

37

Ylorc

Wie es der Zufall wollte, wechselte die Wache auf der Verdorrten Heide unmittelbar westlich von Kraldurge genau in dem Augenblick, als sich die Bestie durch das ausgetrocknete Flussbett bohrte, das seit Jahrhunderten als Schutzwall gegen menschliche Angriffe gedient hatte. Daraus ergab sich, dass doppelt so viele Soldaten wie gewöhnlich bei der Ankunft der Drachin zugegen waren und kurz darauf doppelt so viele Pfeile aus den Armbrüsten auf sie abgeschossen wurden, die mit einem dumpfen Kriegsgetrommel durch die Luft zischten, was viele Männer aufrüttelte, die ansonsten überrascht worden wären.

Das bedeutete aber auch, dass in dem folgenden Augenblick doppelt so viele Männer starben.

Es begann mit einem Rumpeln im Boden. Geröll und Erdreich lösten sich aus den Zahnfelsen und regneten mit der Gewalt eines mächtigen Hagelsturms in die Spalten im Osten sowie auf die Steppe im Westen. Die Klane des Auges, die über diese Spalten wachten, flohen von den Gipfeln und versuchten auf dem felsigen Terrain Halt zu finden, doch viele gerieten in Erdrutsche und stürzten zusammen mit dem Gestein tausend oder mehr Fuß tief in die Schluchten.

Die Klane der Klaue bewachten die inneren und äußeren Pässe des Kessels, der ebenfalls nicht weit entfernt von Kraldurge war. Ihre harte Ausbildung hatte sie Wachsamkeit in alle Richtungen gelehrt – in die vier Himmelsrichtungen sowie nach oben in die Luft –, da ein Angriff von überall her erfolgen konnte. Obwohl sie auch gelernt hatten, dass die Erde selbst ein Einfallstor sein konnte, war es für sie kaum vorstellbar, den Boden unter ihren Füßen als mögliche Gefahr anzusehen. Als daher plötzlich der Boden erzitterte, sich spaltete wie das Maul einer großen steinernen Bestie und Feuer spie, blieb den Soldaten der Klaue nicht mehr übrig, als sich herumzuwerfen und zu fliehen. Sie versuchten ihre Köpfe vor den herabregnenden Erdmassen zu schützen, doch sie wurden lebendig begraben.

Der Klan der Eingeweide, die das erbliche Recht zur Bewachung der Ländereien hinter der Schlucht besaßen, mussten schutzlos mit ansehen, wie ein großes, schattenhaftes Ungetüm aus dem Boden stieg und das Licht der unzähligen Feuer, die sich auf der ganzen Verdorrten Heide in den kahlen Bäumen und im Wintergras entzündeten, wie irrsinnig über seine Schuppen tanzte. Es war diese Soldatengruppe, auf welche die Drachin ihre Aufmerksamkeit zuerst richtete.

All ihre aufgestaute Wut, ihre unerfüllten Rachegelüste, die sie während der Monate ihrer Reise genährt hatte, sowie das unablässige Hören ihres Namens, der in unmissverständlichem Abscheu verflucht wurde, all der Verrat, der Verlust des Landes, von dem sie wusste, dass es ihr gehörte, all die Verwirrung und Angst über die Unfähigkeit, sich deutlich an die Vergangenheit erinnern zu können, und vor allem die bitteren Vorwürfe, die sie jener Frau machte, deren Gesicht sie in jedem Augenblick des Wachens und des Traums heimsuchte, brachen sich Bahn in ihrem ersten Angriff. Die Bestie stieß das Feuer aus, das in ihrem Bauch gebrodelt hatte, sog die Luft ein und blies sie jedem Lebewesen entgegen, das sie auf ihrem alten Land sah oder spürte. Sie raste vor Vergnügen, als ihr Drachensinn fühlte, wie sie bei lebendigem Leib geröstet wurden.

Ein weiterer Pfeilschwarm aus Bogen und Armbrüsten flog auf sie zu und prallte nutzlos an ihrem Panzer ab. Die Drachin spürte kaum mehr als ein Prickeln. Es gefiel ihr sogar so sehr, dass sie lachen musste. Es war ein schrecklicher, kehliger Laut, der aus der Luft selbst gebildet war und hart von den Wänden der Schlucht widerhallte.

Dann duckte sie sich und glitt über den Boden, zog die Kraft aus ihm und fraß die Macht des Bolg-Landes auf, während sie die unglücklichen Soldaten verschluckte, die auf ihrer Seite der Schlucht gefangen waren. Mit jedem Augenblick wurde sie unverwundbarer, während sie die Erde ihrer Kraft beraubte.

Dazu war sie in der Lage, weil der König, der diese Macht für sich beanspruchte, nicht da war, um sie zu verteidigen.

Sie bahnte sich einen Weg auf den nächsten Gipfel, schmeckte den Wind und suchte nach einem Anzeichen für die Frau.

Grunthor wusste innerhalb von wenigen Sekunden, dass eine Drachin gekommen war, obwohl ihm nicht klar war, woher sie kam und wer sie war.

Er warf den Kopf zurück und stieß einen lauten Ruf aus. Dieser Kriegsschrei, der für seine erschreckenden Auswirkungen auf Mensch und Tier gleichermaßen bekannt war, rüttelte die Archonten und Stammesführer auf, mit denen er sich gerade traf.

»Hrekin«, rief er, drückte den schweren Eichenstuhl von dem Besprechungstisch zurück und sprang auf die Beine. »Hoch mit euch! Wir werden angegriffen!«

Sofort machte sich die Elite der Archonten bereit zum Empfang der Befehle, die nun unweigerlich folgen würden.

»Ralbux, lauf mit Harran durch die Tunnel zum Grivven«, befahl Grunthor. »Es ist eine Drachin, das spür ich. ’s ist nirgendwo sicher, also haltet euch flach über dem Boden und bleibt in der Nähe von Felsen.« Der Erziehungsarchont und die Meisterin der Überlieferungen nickten und liefen zur Tür des Raumes; beide begriffen die Notwendigkeit, um jeden Preis Ausbildung und Wissen am Leben zu erhalten. Ohne die Geschichte, die Harran studiert hatte, würden die Bolg zu ihrem halb-menschlichen Zustand zurückkehren, in dem sie sich befunden hatten, bevor Achmed – oder genauer Rhapsody – nach Ylorc gekommen war.

Harran blieb auf der Schwelle stehen.

»Vortrag«, kündigte sie an. Grunthor stellte die Ohren auf. »Drachen sind äußerst empfindlich; diese Eigenschaft wird gemeinhin als Drachensinn bezeichnet. Innerhalb eines Radius von schätzungsweise einer und einer halben Meile, fünf Meilen über der Erde und etwa doppelt so viel unter ihr sind ihre Sinne bis fünfhundertmal stärker als die der Bolg. Geschmackssinn, Tastsinn, Hören, Riechen und Sehen sowie der innere Sinn der Wachsamkeit sind in gleicher Weise geschärft. Die Feuersteine im Bauch eines jeden Drachen, dessen Schuppen rot oder kupferfarben sind, enthalten eine Chemikalie, die als Rotes Feuer bekannt ist. Es brennt anderthalbmal so heiß wie normales Feuer. Da es sich dabei um eine Säure handelt, ist es auch zersetzend. Die verletzlichsten Körperpartien sind die Augen, der Teil hinter den Ohrlöchern, falls solche vorhanden sind, und die Bereiche unter den Flügeln, falls der Drache welche hat.«

»Geht!«, rief der Sergeant ungeduldig. Harran und Ralbux verschwanden hinter der Tür. Grunthor stieß wütend die Luft aus. Er hatte genug Erfahrung mit Drachen, um zu wissen, wie unverwundbar sie waren.

Nur wenig später hörte man donnernde Stiefel rasch den inneren Korridor entlangkommen. Die »Augen«, die auf dem Ausguck überlebt hatten, eilten durch die unterirdischen Tunnel des Kessels, um ihren Bericht abzugeben. Während Grunthor auf ihre Erkenntnisse wartete, wandte er sich an seinen Adjutanten.

»Ruf zum Appell«, befahl er. »Hol mir jeden verdammten Kommandanten in Rufweite her. Alles, was ich jetzt habe, sind die Stammesführer.« Der Adjutant floh in den Korridor. Grunthor drehte sich zu den Archonten um und deutete auf die Risszeichnungen Ylorcs, die in jedem Besprechungszimmer an der Wand hingen.

Die Spione der »Augen«, deren normalerweise dunkle und struppige Gesichter mit Asche gesprenkelt waren, betraten den Raum. Es waren nur drei.

»Berichtet«, befahl Grunthor. Seine Haut, die für gewöhnlich die Farbe alter Prellungen hatte, war zu einem wütenden Lederbraun geworden, und seine bernsteinfarbenen Augen blitzten beinahe golden.

»Drache; aus dem Boden oberhalb von Kraldurge«, sagte der erste der Augen in der Sprache seines Stammes. Grunthor schlug zornig auf den Tisch, und der zitternde Mann wechselte rasch in den gemeinsamen Dialekt. »Kupferfarbene Haut. Bleibt am Boden, steigt nicht in die Luft wie beim Konzil. Selbe Farbe.«

Das zweite Auge nickte. »Zerrissener Flügel«, sagte er schnell. »Kann möglicherweise nicht fliegen. Hockt jetzt auf dem Gipfel des Trexlev, greift nicht an. Scheint zu wachen oder zu lauschen.«

»Verdorrte Heide brennt«, berichtete das letzte Auge; es war eine Frau. »Buschfeuer im Wintergras; der gefrorene Boden wird die Ausbreitung bei der Frostlinie verhindern.«

Grunthor nickte. »Zurück auf eure Posten«, sagte er und wandte sich an die Archonten. »Einschätzung?«

»Herkömmliche Waffen werden nutzlos sein«, sagte Yen, der Schmied. »Man kann gegen einen Drachen nicht einmal die Hitze der Schmieden einsetzen; Feuer verletzt sie nicht. Man braucht besondere Pfeile und besondere Klingen, um Drachenhaut zu durchdringen. Wir haben keine.«

»Berichtigung«, knurrte Grunthor. »Wir haben eine, aber wie üblich ist sie nicht hier. Weiter?«

»Brustwehre, Schanzen, Bewässerungskanäle und Abwasserleitungen sind verwundbare Stellen«, sagte Dreekak, der Meister der Tunnel, in großem Ernst. »Die Bestie kann sie genauso benutzen wie wir, kann überall hinreisen, wohin sie führen. In diesem Fall arbeiten unsere eigenen Verteidigungsanlagen gegen uns.«

»Gutes Argument«, sagte Grunthor mit widerstrebender Bewunderung. »Noch was?«

»Viele Katapulte einsatzbereit«, schlug Vrith vor. »Werden in Friedenszeiten benutzt, um Heu und Säcke mit Pflanzgut zu den Siedlungen tief in der Verdorrten Heide zu schicken. Wenn schon keine Waffen, dann können vielleicht Felsbrocken die Bestie verletzen?«

Greel, der Minenarchont, das »Gesicht des Berges«, sagte rasch: »Viel Schutt vor dem Gurgus von der Wiedererrichtung des Turms. Voller Glassplitter, sehr scharf. Könnte sogar einem Drachen etwas antun.«

Grunthor presste die geschwollenen Lippen nachdenklich zusammen. »Hmmm«, meinte er.

»Noch ein Gedanke«, fügte Trug hinzu. »Wenn wir etwas über diesen Drachen wüssten, könnten wir den Angriff besser planen.«

Omet, der einzige nicht-bolgische Archont, stand plötzlich auf. Er sagte nichts. Sein Aufspringen war eher Ausdruck plötzlichen Verstehens als Wortmeldung. Der Sergeant erkannte dies und hob die Hand, um alle anderen Bemerkungen zu unterdrücken.

»Wart ihr alle hier, als vor drei Jahren das Konzil von der Drachin Anwyn angegriffen wurde?«, fragte er und versuchte sich an diese Ereignisse zu erinnern, die er nur vom Hörensagen kannte.

»Ja«, sagte Grunthor gereizt.

Omet redete nun noch langsamer und überlegter. »War nicht auch der Flügel dieser Drachin verletzt? Hatte nicht Rhapsody ihr die Klinge hineingestoßen, als die Bestie sie in die Luft gehoben hat?«

Alle Geräusche flohen aus dem Raum. Als die Archonten Grunthors Gesichtsausdruck sahen, hielten sie die Luft an.

»Ja«, sagte Grunthor noch einmal mit tödlicher Trockenheit in der Stimme. »Aber dieses Biest ist tot. Hab sie aus dem Himmel fallen sehn und ihr Grab eigenhändig zugeschaufelt. Sie ist tot.«

Dreekak hustete nervös. »Letzten Sommer hat eine Patrouille über einige Erschütterungen im Gerichtshof berichtet«, sagte er leise. »Hatte geglaubt, es seien Nach wellen der Explosion des Gurgus’.« Seine letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Habe Euch den Bericht geschickt, Herr.«

Grunthors Gesicht nahm eine noch tiefere Purpurfärbung an. Er warf den Kopf zurück und brüllte erneut. Sein Ruf hallte durch die Korridore des Kessels bis zur Schluchtöffnung und drang gleichzeitig tief in die Erde. Die Archonten warteten darauf, dass die Reihe von scheußlichen Flüchen – einige auf Bolgisch, andere auf Bengard, Grunthors Muttersprache – endete, bevor sie endlich auszuatmen wagten.

»Hrekin«, murmelte der Sergeant schließlich. »Drachen! Man wird sie einfach nicht los. Glaube, diesen hier müssen wir noch mal umbringen. Na klasse!«

Die Tür wurde geöffnet, und acht Militärkommandanten strömten in den Raum. Der Sergeant besprach sich mit ihnen über Truppenpositionen und Verluste, während sich die Archonten leise miteinander unterhielten. Als er sich schließlich wieder an sie wandte, standen sie mit erleuchteten Gesichtern vor ihm.

Grunthor beäugte sie misstrauisch.

»In Ordnung. Was denkt ihr?«, wollte er wissen.

Die Drachin war so vertieft in die Suche nach einem Namen und nach der Frau aus der Grotte, dass sie den Bewegungen der Bolg keine große Aufmerksamkeit schenkte. Sie nahm diese natürlich in allen Einzelheiten wahr: die Ereignisse im inneren Bereich des Kessels, alles andere innerhalb von fünf Meilen. Doch ihr gebrochener, begrenzter und besessener Geist sah nichts als die kläglichen Krabbeleien von Insekten. Mit einem einzigen Atemzug hatte sie hunderte von ihnen vernichtet, und sie würde noch mehr vernichten, bevor sie fertig war, doch ihre Verteidigungsversuche waren es nicht wert, sich von der Suche nach der Frau ablenken zu lassen.

Sie bemerkte, wie die Toten abgeholt wurden und die Alten und Jungen in tiefere Bunker unter der Erde gingen, was sie belustigte. Sie spürte nicht die Gegenwart vieler Waffen. Die Bogen und Armbrüste hatten sich als nutzlos gegen sie erwiesen, was ihr Gefühl der Unverwundbarkeit noch weiter gestärkt hatte.

Wenn sie ihre Umgebung besser erkannt hätte, wären ihr die Überreste einer alten Maschine aufgefallen, die sie in einem anderen Leben beinahe genauso verabscheut hatte, wie sie die goldhaarige Frau in diesem Leben verabscheute. Als sie noch menschliche Gestalt besessen hatte und Herrscherin einer großen Nation sowie Anführerin eines gewaltigen Heeres gewesen war, hatte ihr erster Befehl im Krieg gelautet, diesen Apparat zu zerstören. Es hatte beinahe fünfhundert Jahre gedauert, bis ihre Soldaten dieses Ziel erreicht hatten. Doch diese Erinnerung war zusammen mit den meisten anderen, die sie in ihrem langen Leben angesammelt hatte, in den Tiefen der Vergangenheit vergraben, wo sie sie nicht finden konnte.

Wo ist siel, fragte die Drachin die flüchtigen Winde. Wo ist die Frau, die ich suche? Und ihr Name! Ich will ihren Namen wissen!

Der Wind heulte um den Berg und sagte nichts.

Nur wenige Worte waren nahe genug beim Gipfel gesprochen worden, um hier zu verweilen, doch inzwischen waren auch diese in die weite Welt hinausgeweht.

Ihre Wut kehrte zurück. Die Bestie schickte Feuer vom Berggipfel herunter, doch kein Bolg war mehr zu sehen, daher musste sie sich mit der Zerstörung einiger Außenposten und Wachttürme zufrieden geben. Sie empfand nur wenig Befriedigung darin, diese brennen zu sehen.

Vielleicht kann ich nur nicht hören, weil ich hungrig bin, dachte sie und erinnerte sich mit Vergnügen an das Fest im Hintervold – nicht nur an die große Fleischmenge, sondern auch an die Freude über die Zerstörung und das orgiastische Gefühl angesichts der Angst und Hilflosigkeit in den Gesichtern der Jäger. Die wenigen Menschen auf der Heide waren nur Appetitanreger. Das können wir ändern.

Ihr Drachensinn sagte ihr, dass die Mehrheit der Bevölkerung westlich der Schlucht in Bunkern tief in den Bergen kauerte, doch eine genügend große Menge war zurückgeblieben und konnte ein schönes Mahl abgeben. Sie glitt den Hang hinunter und auf den Tunnel zu, der in den Kessel führte.

Der erste Korridor, zu dem sie kam, war sehr eng. Es handelte sich um einen Luftschacht, durch den die Hitze aus den Schmieden in die Tunnel geleitet wurde, die sie im Winter wärmten, während im Sommer die kühle Luft der Berge hindurchströmte. Sie überlegte, ob sie sich hindurchzwängen sollte, bemerkte bald aber einen anderen, breiteren Tunnel, der zu einem zentralen Röhrensystem führte, in dem sie alles jagen konnte, was sie haben wollte.

Ein Teil der verbliebenen Beute befand sich am Ende der Röhren.

Sie kroch auf den Eingang zu und glitt in den Tunnel. Ihre Augen erstrahlten in blauem Feuer.

Grunthor spürte die Veränderung in der Erde, sobald die Drachin den Tunnel betreten hatte und die Kraft aus dem Boden saugte.

»Verdammte Harpye«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Dachte, ich hätte dich vor drei Jahrn endgültig begraben. Na, dann komm mal her, Kleines. Ich bring dich so oft um wie nötig.«

Er wartete, bis sie die erste Biegung erreicht hatte, bevor er sich an Kubila wandte, der neben ihm auf Befehle wartete.

»Jetzt wär’s gut«, sagte der Sergeant lässig.

Der Bote nickte und rannte los wie ein abgeschossener Pfeil.

Er hastete leere Korridore und Tunnel entlang; jeder Schritt seiner Route war vorherbestimmt. Sein Ziel lag etwa eine Viertelmeile entfernt, doch Kubila brachte diese Entfernung in kaum mehr als einer Minute hinter sich. Er sah das Licht in der offenen Tür; die anderen warteten auf sein Zeichen.

»Jetzt!«, rief er, während er noch einige Schritte außerhalb des zentralen Tunnels war.

Die Archonten, die hinter der Tür gewartet hatten, hörten ihn und nickten einander zu.

Trug, die »Stimme«, rief den Befehl des Sergeanten in das Hauptsprechrohr, sodass seine Worte überall in den Bergen zu hören waren.

»Jetzt!«

Dreekak, der Meister der Tunnel und verantwortlich für das Netz der Schächte, durch welche die Bestie nun kroch, ergriff das große Ventil und drehte mit aller Kraft an dem Rad, bis sich die Schleusen öffneten. Überall im Kessel taten seine Tunnelarbeiter das Gleiche.

Die Drachin spürte eine Veränderung in der Luft, als diese fortgedrückt wurde, doch sie konzentrierte sich so sehr auf ihre Beute, dass sie sich nicht ablenken ließ. Sie kroch weiter vorwärts, bis ihre empfindlichen Nüstern plötzlich vom Gestank der Kloake überwältigt wurden.

Aus der zentralen Zisterne und allen anderen Sammelbecken schoss gleichzeitig eine enorme Flut heran. Und rollte mit aller Gewalt, deren die Rohre fähig waren, auf sie zu.

Entsetzen erfüllte das Bewusstsein der Drachin. Ekel überwältigte sie und wurde verstärkt durch ihren scharfen Drachensinn. Was für ein gewöhnliches Wesen abstoßend bis zum Übergeben gewesen wäre, setzte die Drachin vollkommen außer Gefecht. All ihre Sinne, ihre Bewegungsfähigkeit und ihr Gleichgewicht wurden durch den Ansturm der Exkremente und des Unrats überwältigt, die in einer riesigen, stinkenden Welle auf sie zurollten. Sie versuchte sich aufzurichten, im Tunnel umzudrehen und zu fliehen, sogar sich in die Erde zu vergraben, doch die Tunnel, die ursprünglich von ihrem schon lange toten, viel gehassten Gemahl aus verstärktem Stahl gebaut worden waren, gaben einfach nicht nach. Sie stieß einen Schrei der Hilflosigkeit aus und stand sich mit ihren Drachenarmen und Drachenbeinen, an die sie noch nicht ganz gewöhnt war, selbst im Weg, als ein Meer aus Dreck sie umspülte, sie überflutete, sie zu ersticken und zu ertränken drohte. In hrekin.

Sie keuchte entsetzt auf, schluckte und erbrach gleichzeitig und wurde unter dem Schlamm des Abfalls begraben, den die Nahrungsvorlieben der Bolg nur noch schrecklicher machten. Sie versuchte Luft zu holen, doch ihre Nase war mit Fäkalien gefüllt. Sie trat mit den Krallenfüßen aus und versuchte vergeblich Halt in der Tunnelwand zu finden. Schließlich fiel sie auf den Kopf, während sich um sie ein großer Berg aus Unrat bildete und den Tunnel völlig verstopfte.

Einen Augenblick lang.

Dann hatte sich der Druck aus dem Abwassersystem genügend aufgebaut, um die Drachin mitsamt dem Abfall aus dem Tunnel in die Schlucht zu spülen.

Worauf die Bergwachen unter der Anleitung des Schmiedes Yen, des Minenmeisters Greel und des gelähmten Buchhalters Vrith einen Hagel aus Felsbrocken mit untergemischten Glasscherben auf sie niedergehen ließen. Verletzt und mit einem starken Gefühl der Übelkeit, lag die Bestie auf dem Boden der Schlucht und versuchte das Bewusstsein wiederzuerlangen. In der Ferne bemerkte ihr Drachensinn schwach, wie die Katapulte auf den Felsvorsprüngen in ihre Richtung zielten.

Mit letzter Kraft bohrte sich die Drachin hastig in den Boden der Schlucht und folgte dem seit langem ausgetrockneten Flussbett fort vom Königreich der Bolg nach Norden, wo sie vor Schmerz und Erschöpfung zusammenbrach.

Sie war zu weit entfernt und vielleicht auch nur zu verausgabt, um die Siegesrufe und Freudengesänge zu hören, die mit rauen Bassstimmen gesungen wurden und von den Schluchtwänden in die Winternacht hallten.

Grunthor hob das Glas und prostete den Archonten zu.

»Hab euch Kerls ja immer schon gesagt: Nehmt, was ihr habt, und nehmt, was ihr kennt. Heißt wohl, dass ihr alle wisst, was hrekin ist.«

38

Die Höhle im untergegangenen See — Gwynwald

Ashe fuhr mit der Hand über die Stirn seiner Frau. Die Haut war nun kühler, aber papierdünn und trocken. Ihre Lippen waren blass und hatten beinahe dieselbe Farbe wie ihre Haut; sie hatten durch den Blutfluss viel von ihrer Röte verloren.

»Trocken«, flüsterte sie. »Meine Kehle ist so trocken.«

Ashe sah Krinsel an. »Kommt das Kind jetzt?«, fragte er die Hebamme leise. Die Bolg-Frau schüttelte den Kopf. Der Herr der Cymrer sah von Rhapsody zu den anderen, die in der dunklen Höhle standen. Jedes Gesicht, jedes Wesen war vollkommen verschieden von den anderen, doch sie alle spiegelten den gleichen Ausdruck des Erstaunens und der stillen Verzweiflung, als ob es nichts mehr auf der Welt gäbe, was man für diese Frau tun könnte, außer neben ihr zu stehen und sie gebären und sterben zu sehen.

Rasch zog er seinen Nebelumhang aus und bedeckte seine Frau damit in der Hoffnung, der kühle Dunst werde ihre Trockenheit lindern. Mit zitternder Hand zog er Kirsdarke, seine Waffe, das Elementarschwert des Wassers. Die Klinge glitt aus der Scheide, Wellen aus wogendem Nebel liefen an ihr entlang wie der Schaum des Meeres. Er hielt sie in der linken Hand und legte die rechte auf Rhapsodys Bauch. Er wollte, dass das Wasser in sie eindrang, sie nährte und heilte, da sie doch durch das Bluten so viel Flüssigkeit verloren hatte.

»Wie können wir das Kind herausholen?«, fragte er die Hebamme noch einmal.

Krinsel schüttelte den Kopf. »Ich habe ein paar Wurzeln – Kreuzdorn, Nachtkerze, Schwarzwurz –, womit ich den Bauch dehnen kann, aber es könnte einen von beiden töten. Ihr müsstet entscheiden, wen ich retten soll.«

»Wenn ihr zu solch äußersten Schritten Zuflucht nehmen wollt, erlaubt mir, euch zu helfen.«

Die vielfältigen Töne der Drachenstimme erfüllten die Höhle, und plötzlich tanzte verstreutes Licht über die Wände wie Abendsonne auf dem gekräuselten Wasser eines Sees.

Achmed und Ashe drehten sich um und sahen eine Frau hinter ihnen stehen. Es war eine große Frau, größer als sie beide, mit einer Hautfarbe wie goldener Weizen und ähnlichen Augen, die wie Sterne leuchteten. Silberweißes Haar hing ihr in Kräuselungen bis zu den Knien, und ihre Robe schien aus Sternenlicht gewoben zu sein; sie verbreitete ein ätherisches Glimmen in der Höhle.

Achmed schaute sich nach der Drachin um.

Sie war verschwunden.

Ashe starrte die Frau an. Zum ersten Mal, seit er die Höhle betreten hatte, erhellte ein Lächeln sein Gesicht.

»Vielen Dank, Urgroßmutter«, sagte er.

Rhapsody war halb bei Bewusstsein und regte sich unter der Veränderung in der Drachenstimme.

»Ich hatte geglaubt, du ... hast deine menschliche Gestalt... aufgegeben«, flüsterte sie.

Die leuchtende Frau lächelte breit. Sie beugte sich nieder und küsste Rhapsody auf die Stirn.

»Psst«, machte sie und legte die ätherischen Hände auf Rhapsodys Bauch. »Das habe ich auch. Bolg-Frau, öffne den Bauch.«

Krinsel starrte sie mit benommenem Blick an. Sie schüttelte ihre Verzauberung ab, griff in ihre Tasche und holte das Nachtkerzenöl hervor. Sie tunkte ein kleines Stück Seihtuch hinein und hielt es gegen Rhapsodys Lippen, damit diese etwas davon trinken konnte.

Die beiden Männer beobachteten schweigend die Bemühungen der Hebamme und konnten nicht genau einschätzen, was sie sahen. Von Zeit zu Zeit zog Rhapsody wie unter Schmerzen die Stirn kraus, doch sie gab keinen Laut von sich und öffnete auch nicht die Augen, doch Ashe war sich sicher, dass sie zumindest teilweise wach war.

Sein Blick flog von dem Gesicht seiner Frau zu dem seiner Urgroßmutter, das trotz aller Anmut und königlichen Schönheit einen kindlich erregten Ausdruck angenommen hatte, den er auch an ihrer Drachengestalt oft wahrgenommen hatte. Er schaute weiterhin in einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst zu, bis er spürte, wie Rhapsody seine Hand ergriff.

»Sam«, flüsterte sie.

»Ja, Aria?«

Sie streckte die Hand zögernd aus und legte sie auf seine Brust.

»Ich brauche das Licht des Sterns in dir. Unser Kind kommt.«

Ashe beugte sich näher über sie und legte seine Hand auf ihre.

»Was immer du brauchst«, sagte er besänftigend, obwohl er keine Ahnung hatte, was sie damit meinte. »Wie kann ich es dir geben?«

Sie kämpfte um die Worte; ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

»Öffne dein Herz«, flüsterte sie »Heiße dein Kind willkommen.«

Ashe gelang nur ein Nicken.

Sanft sang sie nun die Elegie an Seren, die Jal’asee ihr beigebracht hatte. Es war das Tauflied, das sie vor dem Untergang der Insel nicht mehr hatte lernen können. Während sie sang, weinte sie. Die Hebamme und die Drachin bewegten sich um sie, berührten ihren Bauch, flüsterten einander zu, aber sie hörte sie nicht. Sie lauschte nur den Schwingungen, die aus der Brust ihres Mannes drangen, dem reinen, elementaren Lied des verlorenen Sterns.

Komm herbei, mein Kind, sang sie mit der zwingenden Stimme der Benennerin, die jedoch unter den Empfindungen der Mutter schwankte. Komm in die Welt und lebe.

Sie spürte Wärme aus ihrem Bauch dringen, die Wärme des elementaren Feuers, das sie in ihrer Seele schon länger trug, als sie hätte sagen können. Mit ihr vermischte sich das kühlende Rauschen des Meerwassers, des Wassers, mit dem sie vor nicht langer Zeit getauft worden war, und es trat ein Wissen hinzu, das nicht von ihr, sondern von dem Vater des Kindes kam. Sie schloss die Augen und lauschte nun den geflüsterten Worten der Hebamme, dem tiefen Lied der Erde, das auch aus Ashe drang, und dem Pfeifen des Windes, von dem ihre eigene Art abstammte. Es war eine Sinfonie der Elemente, die aus ihr ins Leben traten, getauft vom Licht des Sterns, der alles andere als verloren war.

Sie sang weiter, bis die Schmerzen zu groß wurden. Nun stöhnte sie unter den Krämpfen der Geburt auf; ihr Lied wurde zur Geschichte der Schmerzen, die sie wie jede Mutter über sich ergehen ließ, um das Leben aus ihrem Körper zu gebären.

Elynsynos redete ein letztes Mal mit Krinsel. Als die Bolg-Frau bestätigte, dass sie bereit war, hob die Drachin in serenischer Gestalt die Hände in einer bittenden Geste und griff von oben in Rhapsodys Körper. Ihre Hände durchdrangen das Fleisch, als ob es nur aus Nebel und Sternenlicht bestünde.

Rhapsody jammerte laut auf; ihr Lied schwankte, während Krinsel ihre Hand drückte, doch es wurde wieder stärker, als Elynsynos die Hände fortzog, dabei ein winziges glühendes Licht aus ihrem Körper holte und es emporhielt.

»Benenne es, meine Schöne, damit es Gestalt annehmen kann«, sagte die leuchtende Frau und lächelte in der Dunkelheit der Höhle heller als die Sonne.

Rhapsody griff nach Ashes Hand. Als sich ihre Finger ineinander schlangen, flüsterte sie den Namenspsalm. Willkommen, Meridion, Kind der Zeit.

Einen Augenblick lang blieb nichts in ihren Händen als das glühende Licht. Dann bildete sich langsam ein Umriss, ein winziger Kopf, noch kleinere, in die Höhe gestreckte Hände, die nun hin und her pendelten. Ein leises Jammern wurde zu einem lauten Rufen, und plötzlich war die Höhle erfüllt von der gewöhnlichen, menschlichen Musik eines schreienden Kindes.

Krinsel brachte den Geburtsvorgang zu Ende, als Rhapsodys Kopf auf den Höhlenboden sackte; sie war vollkommen erschöpft. Elynsynos glitt hinüber zu Ashe, der das Geschehen noch immer wie gebannt verfolgte, und legte ihm sanft das Kind in die Arme.

Er starrte hinunter auf das kreischende Kind; in seinen senkrecht geschlitzten Pupillen schillerte tiefe Freude. Winzige blaue Augen schauten zu ihm auf. Er lächelte seine Urgroßmutter an.

»Jetzt verstehe ich so viel wie nie zuvor«, sagte er zu ihr.

Elynsynos hielt den Kopf schief, wie sie es auch in Drachengestalt zu tun pflegte.

»Was verstehst du?«

Ashe sah wieder seinen Sohn an; er konnte die Augen nicht von ihm lassen. Er beugte sich vor und küsste Rhapsodys Stirn, dann wandte er sich widerwillig ab und begegnete dem Blick der Drachin.

»Warum Merithyn sein Herz an dich verlor, als er dich sah«, sagte er nur. »Du bist wirklich wunderschön, Urgroßmutter.«

Die glühende Frau lächelte breit, verschwand und wurde einen Herzschlag später durch die ätherische Gestalt der Drachin ersetzt.

»Vielen Dank«, sagte sie, als Krinsel andeutete, dass die Geburt nun überstanden sei.

Während sie dastanden und dieses Wunder in sich aufnahmen, hallte in der Höhle die Elegie des untergegangenen Sterns wider, der Psalm eines neuen Namens und das Lied des beginnenden Lebens.

In der einzigen dunklen Ecke der Höhle hockte Achmed still und beobachtete.

39

In der roten Lehmwüste Yarims, außerhalb der Stadt Yarim Paar, stand Manwyn, die Seherin, im bitterkalten Winterwind.

Während sie auf die Ankunft ihrer Schwester wartete, die unmittelbar bevorstand, vertrieb sie sich die Zeit mit einem sanften Lied, wobei sie geistesabwesend an den zerzausten Locken ihres feuerroten Haars drehte, das an den Schläfen von grauen Strähnen durchsetzt war. In der anderen Hand hielt sie einen matten Sextanten, ein Überbleibsel aus der alten Welt, das die Cymrer der Ersten Flotte ihrer Mutter zur Erinnerung an ihren Entdecker-Vater geschenkt hatten, der damit die ganze Welt bereist hatte. Doch sie hatte keine Vorstellung von seiner Geschichte und wusste nur, dass der Apparat ihr beim Blick in die Zukunft half.

Aus der Ferne hätte man sie für eine hübsche, wenn auch schmutzige Frau halten können. Sie war groß und schlank, hatte ein schön geschnittenes Gesicht und lange, schmale Hände. Außerdem hatte sie ein königliches Benehmen wie alle drei Töchter von Elynsynos. Doch wenn man näher hinschaute, entdeckte man eine körperliche Eigenheit, die sie von gewöhnlichen hübschen Frauen unterschied. Ein Blick in ihre Augen zeigte dem Betrachter nur das eigene Bild, denn die Augen waren silberne Spiegel und die Iris wie ein winziges Stundenglas geformt, das man auf dem Rücken einer schwarzen Witwe findet.

Wie ihre anderen Schwestern war auch sie verrückt. Sie war mit der Gabe verflucht, fast ausschließlich in die Zukunft sehen zu können, und besaß den Ruf, ein wertvolles Orakel zu sein. Dieser Ruf war jedoch unverdient, denn ihre Vorhersagen waren zwar oft genau und entsprachen immer der Wahrheit, aber sie enthielten regelmäßig ein Körnchen ihres eigenen Wahnsinns.

Und manchmal mehr als nur ein Körnchen.

Sie hatte Anwyns Ankunft vorhergesehen, erinnerte sich aber nicht daran, wie sie in die Nacht hinausgegangen war, um ihre Schwester zu treffen. Die Vergangenheit war das Reich ihrer Schwester, über das Manwyn nicht die geringste Macht besaß. Daher wartete sie verwirrt und verblüfft und mehr als nur ein wenig ängstlich, denn sie hatte ihre jüngere Schwester schon immer gefürchtet. Manwyn war die Erstgeborene; ihr waren Rhonwyn und schließlich Anwyn gefolgt, doch die Schwestern der Gegenwart und der Zukunft hatten rasch gelernt, dass nicht das Kommende oder die Gegenwart, in der sich der Keim der Zukunft öffnete, wichtig waren, sondern die Vergangenheit, die Macht über die Geschichte hatte. Da keine von ihnen die Zeit überblicken konnte, sondern sich nur von Augenblick zu Augenblick oder von einer Prophezeiung zur nächsten bewegen konnte, die gleich darauf schon wieder aus ihrem Gedächtnis getilgt waren, war jene Schwester die beherrschende, welche eine Vorstellung von Zeit hatte.

Einen Steinwurf entfernt spaltete sich die Erde, und die Drachin erschien; heftiges Licht brannte in ihren sengenden blauen Augen. Sie war böse zugerichtet, die Haut war zerrissen und stank noch, doch selbst ein verrücktes Orakel wusste, dass man dem Willen eines Drachen entsprechen musste, besonders wenn er von so weit her kam.

Gut abgepasst, Schwester. Die Stimme der Bestie war sanft und hatte einen Unterton von Verzweiflung. Manwyn zuckte die Schultern. »Du wirst sie finden«, sagte sie zerstreut, beachtete nicht die gezwungene Freundlichkeit ihrer Schwester und kam sofort zu der Frage, von der sie wusste, dass sie gestellt werden würde.

»Aber möglicherweise wirst du es nicht wollen.«

Die Augen der Bestie verengten sich zu glühenden, azurfarbenen Schlitzen. Sie kam ganz aus dem Boden hervor; ihre gewaltige Gestalt machte die Schwester in der leeren Wüste zur Zwergin. Manwyn zog die dünne Seide ihres zerrissenen Kleides enger um die Schultern.

Was willst du damit sagen? Die aus Wind gewebte Stimme der Drachin enthielt mehr als nur eine Spur von Bedrohlichkeit.

Manwyn blinzelte. Was sie soeben gesagt hatte, war schon wieder aus ihrem Gedächtnis verschwunden.

Wolken wütenden Rauchs drangen aus den Nüstern der Drachin.

Sag mir, wo die Frau, die ich suche, in naher Zukunft sein wird, beharrte die Drachenstimme im Wind. Zu einer Zeit, wenn ich in der Lage bin, sie zu treffen, nicht weiter in der Zukunft als bis zur nächsten Mondphase. Ich will, dass es bald ist, aber ich brauche Zeit für die Reise.

Diese Anfrage war so formuliert, dass Manwyn sie verstehen konnte. Die Wolken in ihren silbernen Augen verzogen sich; sie hob den alten Sextanten und spähte durch ihn in den Nachthimmel.

»Heute in vier Tagen wird sie im Nest unserer Mutter sein.«

Das Herz der Drachin brannte bei diesen Worten, und Hass stieg in ihr auf, dessen Ursprung sie nicht kannte. Und wo ist das Nest?

Manwyn senkte den Sextanten und dachte über ihre Antwort nach.

»Tief im Gwynwald, an der Westküste hinter dem Tarafel.«

Heiße Flammen schössen aus dem Mund der Drachin, und die Luft erzitterte vor ihrer Wut.

Das Meer liegt tausend Meilen im Westen! In dieser Zeit kann ich niemals durch die Erde bis dorthin gelangen! Spiel nicht mit mir, Manwyn. Ob Schwester oder nicht, ich werde dich zu rauchender Asche verbrennen ...

»Du kannst innerhalb eines Herzschlags im Gwynwald sein, wenn du entlang der Wurzel des Großen Weißen Baumes reist«, flüsterte die wahnsinnige Seherin und zitterte im Wind. »Die Pfahlwurzeln führen durch die gesamte Welt und sind mit der Hauptwurzel des Baumes verbunden. Dieser wiederum steht in Verbindung zur Axis Mundi, der Mittelachse der Erde. Jeder, der Drachenblut in sich hat, kann in ätherischer Gestalt an diesen Wurzeln entlang reisen, weil die Erde uns gehört. Die Wurzeln führen unmittelbar zum Großen Weißen Baum in der Mitte des Waldes. Von dort bis zum Nest ist es für einen Menschen nur eine Reise von wenigen Tagen – und für einen Drachen noch viel weniger.«

Die Drachin sog langsam die Luft ein und versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen.

Wo finde ich eine Pfahlwurzel?, fragte sie beiläufig, als sie bemerkte, dass die Haut des Orakels grau geworden war und sich ihre Augen wieder umwölkten. Lies die Sterne für mich, süße Schwester.

Manwyn schaute erneut in den Sextanten.

»Du wirst dich hier in den Wüstensand bohren und dem Lehm folgen, bis er im Norden braun wird, am trockenen Bett des Blutflusses. Dort findest du die Pfahlwurzel, nach der du suchst.«

Die Augen der Drachin glitzerten siegesgewiss.

Vielen Dank, Schwester, sagte sie kühl und hatte die Gedanken schon auf den Weg gerichtet. Sie schlüpfte zurück in den Schlitz im Lehm, aus dem sie hervorgekommen war, und verschwand in der Erdkruste, während das Orakel sie verwirrt beobachtete.

Kaum hatte sich die Erde nach der Abreise der Drachin wieder beruhigt, als Manwyn noch etwas sagte.

»Auf der Suche nach ihr wirst du deine eigene Nachkommenschaft töten.«

Anwyn war schon zu weit entfernt, um sie hören zu können.

Die Seherin starrte in die Sternennacht und sah zu, wie die südlichen Spitzen der Aurora farbsatt aufglühten. Das pulsierende Licht gefiel ihr, und sie betrachtete es, bis der Wind zu kalt wurde.

Dann zog sie ihre dünnen Seidenfetzen enger um sich und ging langsam zurück zu ihrem verfallenden Tempel; sie hatte bereits vergessen, warum und wie sie ihn verlassen hatte.

40

Als das Lied von Meridions Geburt allmählich verblasst war, die Wärme in der Höhle abnahm und Blut sowie Nachgeburt beseitigt worden waren, nahm Krinsel das Kind aus Ashes Armen. Sie blickte es so finster an wie möglich und trug es zu seiner Mutter, damit es genährt wurde. Ashe gab Achmed ein Zeichen. Er war in einer stillen Ecke der Höhle geblieben und kam nur zögerlich daraus hervor. Die beiden Männer gingen ein wenig den Tunnel hinauf, bis sie außer Hörweite der Frauen waren.

»Vielen Dank für deine Hilfe«, sagte der Herr der Cymrer und streckte Achmed die Hand entgegen.

Der Firbolg-König schnaubte. »Ich glaube nicht, dass Zuschauen aus der Ecke als Hilfe zu werten ist«, sagte er bitter. »Du solltest lieber meiner Hebamme danken. Sie ist diejenige mit Blut an den Händen.«

Die Wärme in Ashes Augen verflog.

»Nun, in gewisser Weise haben wir alle Blut an den Händen, Achmed«, sagte er gelassen und versuchte den zornigen Drachen in seinem Blut im Zaum zu halten. »Bei ihr dient es wenigstens einem guten Zweck. Ich danke dir trotzdem dafür, dass du meiner Frau das Leben gerettet hast.«

Der Bolg-König nickte flüchtig.

Ashe räusperte sich unbeholfen.

»Gehst du sofort nach Ylorc zurück?«

»Sehr bald.«

Ashe nickte. »Dann will ich dich nicht aufhalten. Ich fürchte, ich kann dich nicht dazu überreden, über den Kreis oder über Navarne zurückzureisen und Rhapsody und dem Kind von dort einen Wagen zu schicken?«

»Nein, das kannst du nicht«, sagte Achmed gereizt. »Sowohl der Kreis als auch Navarne liegen im Süden und ziemlich weit von meiner Reiseroute entfernt. Ich habe schon zu viel Zeit mit Feiern und Amtseinsetzungen in deinem Land zugebracht, zum Nachteil meines eigenen Reiches. Ich habe getan, was Rhapsody von mir verlangt hat, und ihr für die Geburt meine Hebamme gebracht, der sie vertraut. Nun ist es vorbei, und ich sehe weder die Notwendigkeit, länger hier zu bleiben, noch meine Rückkehr wegen deiner Aufträge zu verzögern. Vielleicht erlaubt dir deine Position, längere Zeit von deinem Reich wegzubleiben; meine erlaubt es mir jedenfalls nicht. Jedes Mal, wenn ich nach Westen reise, um Rhapsodys Launen oder Bitten zu entsprechen, kehre ich in ein abscheuliches Chaos zurück. Ich bin gespannt, was mich diesmal bei meiner Rückkehr erwartet.«

»Trotzdem vielen Dank«, erwiderte Ashe und bemühte sich, seine Hochstimmung nicht zu verlieren. »Ich hoffe, du hast eine gute Reise.«

Die Bolg-Hebamme hüstelte höflich hinter den beiden Männern.

»Rhapzdi braucht zwei Tage Ruhe und Aufmerksamkeit, aber dann muss das Kind nach Hause zurückkehren«, sagte sie vorsichtig. »Die Tauperiode ist bald vorbei; dann wird es für den Kleinen zu kalt zum Reisen sein. Wird seiner Lunge schaden.«

»Sie können bis zum nächsten Frühjahr bei mir bleiben«, sagte Elynsynos, während sie ein leuchtendes Halsband aus glitzernden Juwelen über dem Kopf des Kindes schwenkte. Sie kicherte, als sich die kleinen senkrechten Pupillen in dem strahlenden Licht verengten. Die Bolg-Frau schüttelte den Kopf.

»Rhapzdi ist schwach. Hat viel Blut verloren. Braucht Heiler und besondere Medizin. Muss bald zurückkehren.«

Ashe spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog. »Könntest du wenigstens diese beiden Tage hier bleiben?«, fragte er Achmed, als er die Besorgnis in Krinsels Blick bemerkte. »Ich breche sofort nach Navarne auf und kümmere mich um einen Wagen. Wenn du dich entschließen könntest, die zwei Tage, die Krinsel zur Beobachtung für nötig ansieht, bei Rhapsody zu verbringen, kann ich sie wenigstens allein lassen, weil ich dann weiß, dass sie in größtmöglicher Sicherheit ist.«

»Dann will ich meine Pläne für dich ändern, Ashe, denn dein Seelenfrieden ist mir wichtiger als alles andere«, meinte Achmed hämisch. Er warf einen Blick über die Schulter und sah die Hebamme an, die zustimmend nickte.

»Vielen Dank«, sagte der Herr der Cymrer, ergriff Achmeds Hand und schüttelte sie heftig. »Wenn ich sie schon verlassen muss, tröstet mich das Wissen, dass sie bei dir in Sicherheit sind. Ich gehe sofort und möchte ihnen nur noch Lebewohl sagen.«

Achmed wartete, bis der Herr der Cymrer so lange weg war, dass er schon den Tar’afel überquert haben musste, bevor er sich Rhapsody näherte, die das schlafende Kind in einer Ecke der Höhle in den Armen wiegte und dabei eine wortlose Melodie sang.

Er beobachtete sie eine Weile. Das goldene Haar, das sie sonst mit einem einfachen schwarzen Band zurückgebunden hatte, fiel ihr in Wellen über die Schultern, wodurch sie jünger und verletzlicher schien, als er sie je gesehen hatte. Sie sah hoch zu ihm. Ihr Lächeln war strahlend, und er verspürte ein unangenehmes Ziehen in der Herzgegend, so wie es in ihren frühesten gemeinsamen Tagen gewesen war, als sie entlang der Wurzel gereist waren, die die Welt zerteilte. Diese Zeit war schon lange vergangen und verloren, und manchmal sehnte er sich nach ihr zurück. Es war eine Zeit, in der keiner von ihnen verantwortlich für andere Leute, ja, für ganze Königreiche gewesen war und die Welt aus kaum mehr als Rhapsody, Grunthor, ihm selbst und dem andauernden Kampf bestanden hatte, einen weiteren Tag an einem Ort zu überleben, wo niemals jemand nach ihnen suchen würde.

»Schläft er?«, fragte er unbeholfen.

»Ja, fest«, antwortete Rhadsody; ihr Lächeln wurde noch breiter. »Möchtest du ihn einmal halten?«

Der Bolg-König hüstelte. »Nein, danke«, sagte er hastig und schaute sich in der glitzernden Höhle um. »Wo ist die Übersetzung? Da ich hier die nächsten beiden Tage festsitze, könnte ich während dieser Zeit etwas Vernünftiges tun und den Text lesen.«

Rhapsodys Gesicht verhärtete sich, und ihre Stimme verlor jede Sanftheit.

»Haben wir das nicht schon abgehandelt?«

»Ja, das haben wir. Gib mir die Übersetzung.«

Schweigen setzte ein. Die Stille war so tief, dass sie das Kind bemerkte. Es wimmerte zuerst im Schlaf, dann erwachte es und schrie laut.

Rhapsody schüttelte den Kopf und schaute weg.

»Unglaublich«, sagte sie wütend und wiegte das Kind, als sein Schreien an Lautstärke und Verzweiflung zunahm. »Nach allem, was wir gerade durchgemacht haben, nach allem, was ich dir gesagt habe, bestehst du immer noch darauf, diesen Wahnsinn zu verwirklichen?«

Achmed schaute sie böse an.

»Wahnsinn zu verwirklichen hat Tradition bei uns, Rhapsody«, sagte er harsch. »Du hörst nie auf meine Bedenken, und daher habe ich das Recht, auf deine ebenfalls nicht zu hören. Du hast deine Position völlig klar gemacht – genauso klar wie dein Versprechen, mir bei dieser Sache in jeder Hinsicht zu helfen. Da ich dir wieder einmal in der Stunde höchster Not zu Hilfe geeilt bin, wirst du sicherlich bereit sein, mir ebenfalls einen Gefallen zu tun, wenn du mir schon nicht dankbar bist. Gib mir jetzt endlich die verdammte Übersetzung.«

Der nebelhafte und ätherische Kopf der Drachin erschien über dem hohen Berg aus Gold und Juwelen am Rand des Wassers.

Soll ich ihn verspeisen, meine Schöne?, fragte die Bestie scharf.

Rhapsody starrte Achmed weiterhin an, erwiderte seinen Blick und holte schließlich tief Luft.

»Nein«, sagte sie fest. »Gib sie ihm.« Sie zog das Kind näher an sich und bemerkte, dass die Drachin überrascht blinzelte. Dann verschwand sie im Äther. Einen Augenblick später erschien zwischen den Münzen auf dem Boden vor Achmeds Füßen ein in Leder gebundenes Buch, dessen Seiten zur Hälfte leer waren.

»Nimm es«, sagte Rhapsody bitter. »Und dann verschwinde. Ich will dich nie wieder sehen.«

Achmed ergriff das Buch.

»Vielen Dank«, sagte er. Er öffnete den Band rasch und überflog die Seiten, die sorgfältig in Rhapsodys zierlicher Handschrift beschrieben waren. Vieles davon bestand aus Musikschrift, doch alle Noten waren kommentiert.

»Geh«, forderte Rhapsody ihn auf. »Ich meine es ernst, Achmed.«

Ihre Worte hallten durch die Höhle, und die Wahrhaftigkeit der Benennerin schwang in ihnen mit.

Der Bolg-König hob den Blick seiner verschiedenfarbigen Augen und sah in die von Rhapsody; sie glänzten und waren so grün wie Sommergras.

»Ich habe deinem Gemahl versprochen, zwei Tage zu bleiben«, sagte er knapp. Er hasste das Gefühl, zwischen zwei widerstreitenden Interessen zu stehen.

»Ich entbinde dich von deinem Versprechen, selbst wenn du mich von meinem nicht entbinden wolltest«, sagte Rhapsody wütend. »Nimm deine verdammte Übersetzung und Krinsel und alles andere, was du mir gegeben hast, einschließlich deiner Freundschaft, und geh. Was du von mir verlangt hast, hat unsere Freundschaft beendet. Ich kann dich nicht vor dir selbst oder vor deiner eigenen Dummheit schützen, aber ich muss nicht zusehen, wie du mit diesem Wissen herumpfuschst, das du nicht verstehst. Mit deinen Taten bedrohst du diese Welt – die Welt, die mein Kind gerade betreten hat. Das kann ich dir nicht vergeben, Achmed. Geh weg.«

Der Bolg-König dachte kurz nach und nickte. Er drehte sich um und gab der Hebamme, die ihn besorgt beobachtete, ein Zeichen. Sie sagte nichts, sondem bückte sich, hob ihren Beutel und dessen Inhalt auf und folgte dann dem König durch den langen, gewundenen Tunnel zurück zum Licht und zur Kälte des Waldes.

Rhapsody wartete, bis ihre Schritte nicht mehr durch den Tunnel hallten, bevor sie in Tränen ausbrach. Die Luft der Höhle glimmerte hinter und neben ihr. Elynsynos erschien und wiegte sie in ihren Klauen. Ganz ruhig, meine Schöne, ganz ruhig, sagte die Drachin sanft.

Rhapsody schüttelte den Kopf.

»Versuch bitte nicht, mich zu trösten, Elynsynos«, sagte sie schwach und fuhr mit den Fingern durch das wellige Haar ihres Sohnes, als er wieder einschlief. »Sein Vorhaben bedeutet, dass niemand von uris je wieder einen Grund haben wird, Trost zu empfinden.«

41

Nord-Yarim

Das trockene Bett des Blutflusses war eine lange, tiefe Sandrinne über einer Lage aus rotem Ton, überzogen mit einer dünnen Schicht aus Schnee. Für die Drachin waren die drei Schichten der bestmögliche Ort, um sich vom Gestank und dem restlichen Unrat zu befreien. Sie bohrte sich spiralenförmig durch den Lehm und erlaubte sich den schmerzhaften Luxus, sich im Sand zu rollen, bis sie schließlich ganz von Schnee überzogen war, der ihr wütendes Fleisch kühlte.

Im Vergleich zu dem, was sie jetzt fühlte, war jene Wut, die sie vor dem Angriff auf Ylorc verspürt hatte, nur eine Gereiztheit und Verstimmung gewesen. Sie war von glühender, vulkanischer Wut zu etwas viel Beängstigenderem geworden: zur kalten, gefühllosen Haltung eines geschmähten Drachen. Es war dieselbe kühle Haltung, mit der sie den Untergang eines halben Kontinents geplant hatte, mit der sie die meisten unheiligen Taten und jene unverzeihlichen Sünden begangen hatte, angesichts derer sie dankbar war, ohne Seele geboren worden zu sein, damit sie nicht eines Tages für sie bezahlen musste.

Nichts davon hatte nun eine Bedeutung. Sie erinnerte sich nicht an ihre Taten und Sünden; sie kannte nur noch ein einziges Ziel, das alle Gedanken und Wünsche überlagerte.

Sie suchte beinahe einen ganzen Tag vergebens, bevor sie die Pfahlwurzel des Großen Weißen Baumes fand, die laut ihrer Schwester an diesem unfruchtbaren Ort zu finden war. Sie war zu kaum mehr als einem unterirdischen Zweig vertrocknet und geschrumpft, doch in ihren Fasern war die alte Kraft noch gegenwärtig. Die Drachin erinnerte sich nicht an den Baum, aber irgendwo in ihrem Verstand gab es einen Ort, wo sich diese Erinnerungen befinden mussten, denn sie waren einmal sehr wichtig für sie gewesen.

Die Drachin stärkte ihre Nerven und konzentrierte sich darauf, ihren verachteten Wurmkörper zu transzendentem Fleisch zu verwandeln und ätherisch zu werden.

Dann schlüpfte sie in die dünnen, trockenen Wurzelhaare, kroch an ihnen entlang, während sie allmählich dicker und feuchter wurden, wurde schneller und eilte nun durch die dickere Wurzel, wobei sie Kraft aus dem Baum zog, den ihre Mutter so sorgsam gepflegt hatte. In einem einzigen Schlag ihres dreikämmerigen Herzens gelangte sie so von einem Land zum anderen.

Der Kreis — Gwynwald

Der Fürbitter Gavin war nach Sepulvar-ta gerufen worden, um sich dort mit dem Patriarchen zu treffen, dem einzigen ihm ebenbürtigen religiösen Führer auf dem mittleren Kontinent. In seiner Abwesenheit räumten seine filidischen Naturpriester, die sich um den Baum und den heiligen Wald kümmerten, die Schäden des Winters beiseite, ernteten die Kräuter und winterfesten Pflanzen, die während der Tauperiode geblüht hatten, und rüsteten sich für die Rückkehr des Schnees. Dann erschien die Drachin; sie schwebte im Äther am Fuß des Baumes.

Zuerst hielten die Filiden entsetzt inne, denn sie glaubten, sie sähen einen Geist. Vor drei Jahren war Gwydion von Manosse, der Herr der Cymrer, der Drachenblut in sich hatte, durch ihren Wald gekommen, um sich an Khaddyr zu rächen, dem vom Glauben abgefallenen Fürbitter, der Gwydions Vater Llauron ersetzt hatte und sich in den Klauen eines F’dor-Dämons befunden hatte. Dabei war ein großer Teil des Waldes einem reinigenden Feuer zum Opfer gefallen, das hauptsächlich die Hütten und Siedlungen der Verräter verzehrt und den Rest verschont hatte.

Ein Blick in die hypnotischen, entsetzlichen Augen dieser Bestie vertrieb jede Hoffnung auf eine solche Wendung.

Die Bestie sog die Luft ein und stieß sie wieder aus. Als der Feueratem ihren Rachen verließ, brannte er. vor der schieren Hitze in ihrem Bauch schwarz an den Rändern und glühte blau im Innern.

Die Drachin schloss rasch die Augen und konzentrierte sich. Sie genoss die Qualen und trank die Pein und Angst, die in der rauchgeschwängerten Luft hingen, als das Feuer über Haufen aus versengten Knochen und Asche schwächer wurde.

Es war ein köstliches Gefühl.

Die Drachin öffnete die Augen. Nun war ihre Mordlust befriedigt. Sie sah eine Wiese und in ihrer Mitte den Baum, dessen gleißende weiße Zweige sich so hoch erstreckten, wie das Auge reichte, und ein Dach über die gesamte Wiese bildeten. Hinter dem ekelhaften Dunst, der nach verbranntem Menschenfleisch stank, erkannte sie eine Ansammlung von Hütten. Einige waren stattlich, andere winzig, allesamt recht neu, und jede hatte einen kleinen Vorgarten und seltsame magische Zeichen über der Tür. Dieser Anblick war ihr vertraut. Sie schaute zum Rand der Wiese und versuchte sich daran zu erinnern, was an diesem Bild fehlte, doch sie kam nicht darauf.

Überall um sie herum schwebte das Lied des Baumes; es war ein tiefes, melodisches und schmerzlich schönes Summen, in dem die Töne der lebenden Erde mitschwangen. Die Drachin spürte ein Ziehen im Herzen – oder in dem, was sie an Stelle eines Herzens hatte. In gewisser Weise wusste sie, dass dieser Ort für sie einmal sehr wichtig gewesen war; wenn sie sich anstrengte, konnte sie vielleicht Erinnerungen an diese natürliche Kathedrale heraufbeschwören. Hier stand noch einer der fünf Bäume, die an den Geburtsorten der Zeit wuchsen.

Die Heiligkeit dieses Ortes war unverkennbar und unleugbar.

Die Drachin stählte ihren Willen.

Ich habe mich entschieden, unheilig zu sein, dachte sie grimmig. Es ärgerte sie, dass die Rinde des Baumes nicht unter ihrem Atem gelitten hatte. Nicht einmal die Blätter waren verdorrt oder verbrannt, während das Gras versengt war und die Pfleger des Kreises nur noch menschlicher Abfall waren. Es war ein erneuter Widerstand gegen ihre Macht, die schon von einem Berg voller halb menschlicher Bolg infrage gestellt worden war, was ihre Wut nur noch mehr anfachte.

Sie hielt den Kopf schräg und suchte nach Spuren der Frau, doch nichts war im Wind – nichts als die Rufe der filidischen Priester und Waldhüter, die fluchtartig vor dem befürchteten Angriff das Gebiet verließen. Tief im Gwynwald, an der Westküste, hinter dem Tar’afel, hatte Manwyn gesagt.

Die Drachin schloss wieder die Augen und horchte auf das Geräusch des Flusses. Er lag jenseits der Reichweite ihrer Sinne, doch sie erkannte am Grundwasserspiegel, an dem gewundenen Flusslauf und den Standorten der Bäume, dass der Fluss im Norden liegen musste. Also vergrub sie sich wieder in der Erde und folgte dem Geräusch des Wassers.

Die Stimme des Tar’afel war weitaus einfacher aufzuspüren als der alte Widerhall ihres eigenen Namens. Sie war wie ein Leuchtfeuer in der Erde, rauschte bei Niedrigwasser endlos und ohne Hast dem Meer entgegen und trug große Eisblöcke mit sich, die mit der Herankunft der Tauwetterperiode abgebrochen waren und nun flussabwärts trieben.

Der Winter kehrte zurück, und die Strömung wurde langsamer. Die Drachin hörte es meilenweit. Als sie sich dem Flussbett näherte, wurde die Erde, durch die sie sich pflügte, feuchter, und es wurde zunehmend unangenehmer, die schlickigen Schichten zu durchqueren.

Schließlich ertrug sie es nicht länger. Sie bohrte sich wieder an die Oberfläche und reiste ungesehen im Reich der Luft durch den unbewohnten Wald. Die Waldgeschöpfe waren schon lange geflüchtet, als sie die Gegenwart der Drachin gespürt hatten; einige hatten sich sogar unter die Erde begeben.

Der Fluss war noch eine Meile entfernt. Sie stellte seine Tiefe und die Geschwindigkeit fest, in der das Wasser dahinströmte, und machte sich auf den Weg zum schlammigen Ufer, das beinahe bis zum Wasserrand gefroren war. Schneidende Kälte lag hier in der Luft. Sie befand sich so nahe wie noch nie seit ihrer Abreise bei ihrem Nest, auch wenn es noch etwa tausend Meilen entfernt lag. Am Rand des Wassers versuchte sie, dieses zu überqueren, und hoffte dabei in die ätherische Gestalt wechseln zu können, in der sie bis zum Kreis gereist war; ohne die Macht des Baumes aber war sie in ihrer Stofflichkeit gefangen. Ihr Körper war schwer und fest, was für die Überquerung des Flusses nichts Gutes verhieß.

Doch die Wut brannte immer dunkler in ihr und trieb sie an.

Behutsam watete die Drachin ins Wasser. An der Stelle, die sie sich ausgesucht hatte, war der Fluss nicht so breit, wie sie selbst lang war, daher kam es nur darauf an, der Strömung zu widerstehen, feste Steine im Flussbett zu finden und dabei die tiefen Stellen und Strudel zu umgehen, die sie beim Eintauchen in das Wasser deutlich spürte.

Auf halbem Weg überfiel sie plötzlich eine Erinnerung – oder etwas, das einer Erinnerung ähnlich war. Die Frau, nach der sie suchte, hatte den Fluss an derselben Stelle oder zumindest in der Nähe durchquert, denn sie hatte hier eine Spur hinterlassen.

Noch heißer loderte der Zorn der Drachin auf. Dampf stieg in wogenden Wellen auf und schwebte in deutlich sichtbaren, Unheil verkündenden Wolken über dem Wasser.

Sie schob sich weiter voran, und die krallenbewehrten Klauen hinterließen tiefe Abdrücke in dem kalten Matsch. Schließlich zog sie sich aus dem Wasser ans Ufer.

Als sie sich nach Norden wenden wollte, bewegte sich die Luft vor ihr und glimmerte.

Die Drachin hielt inne; sie fühlte sich, als ob ihr plötzlich aller Atem aus der Lunge gepresst worden wäre. Die elementare Kraft, die unsichtbar und für die überwältigende Mehrheit der lebendigen Welt unspürbar in der Luft des Waldes hing, wurde dünner und knisterte trocken.

Die Drachin rang nach Atem.

Unmittelbar vor ihr bildete sich ein Umriss. Er war so groß wie sie selbst und hatte annähernd die gleiche Gestalt: einen großen, mit einem Hörn bewehrten Kopf, einen langen, peitschenartigen Schwanz und hauchdünne Schwingen, die hoch in die Luft gereckt waren. Eine ganz leichte Spur aus Kupfer lag auf der schuppigen Haut, die sich im Wind formte, doch zum größten Teil war sie grau wie der Rauch eines Buschfeuers und schimmerte in elementarem Glanz.

Die Drachin erstarrte.

Schließlich erschien vor ihr ein anderer Drache in fester Gestalt. Eine tiefe und angenehm warme Stimme hallte durch die eiskalte Luft.

Hallo, Mutter.

Wut durchströmte sie. Die Haut der Bestie wurde sofort trocken und gab dabei einen wallenden Dampf ab. Ich bin erfreut, aber auch ein wenig überrascht, dich lebend zu sehen. Die Stimme des grauen Drachen hatte ein leichtes, beinahe musikalisches Timbre von un-missverständlichem Ernst.

Wer bist du?, wollte sie wissen. Ihre vieltonige Stimme schwankte leicht. Dieses Wesen war das Erste, das sie seit ihrem Erwachen mit Ehrerbietung und Freundlichkeit begrüßte, und darin lag sowohl etwas Bezauberndes als auch Beängstigendes, das sie gleichzeitig schwach und abwehrend machte.

Die blau-grauen Augen des Drachen vor ihr weiteten sich kurz, dann atmete er langsam aus.

Ich bin Llauron, dein Sohn und Zweitgeborener. Erinnerst du dich nicht an mich, Mutter?

Nein, antwortete die Drachin verbittert. Ich habe keine Erinnerungen an dich.

Mitgefühl trat in die Augen des grauen Drachen. Ah. Vielleicht sind sie nur ein wenig gestört. Deine Erinnerungen werden zurückkehren, und wenn nicht, dann kann ich dir helfen, sie zu finden. Im Lauf der Zeit habe ich viele mit dir zusammen erworben. Traurigkeit kroch in den mitleidigen Blick. Auch wenn man sich etliche dieser Erinnerungen wohl besser nicht zurückruft.

Ich suche nur eine einzige Erinnerung, sagte die Drachin rasch. Hilf mir, die goldhaarige Frau zu finden. Die Traurigkeit verwandelte sich in Erstaunen. Rhapsody? Warum suchst du sie?

Ihr Drachenblut wurde sofort wärmer, und ihr Herz raste vor Erregung. Rhapsody!, rief sie mit ihrer Drachenstimme. Das Wort zischte, als es mit der Luft in Berührung kam; es hallte über den Fluss und die gefrorenen Wiesen und kräuselte sich in der Säure des Hasses. Wo ist sie? Bring mich zu ihr.

Llauon erkannte seinen Fehler sofort. Soweit ich weiß, befindet sie sich weit weg von hier, sagte er wie beiläufig. Und sie ist unbedeutend. Komm mit mir, Mutter. Ich möchte dich an einen Ort führen, wo wir viel Zeit zusammen verbracht haben und ungestört sein werden. Dort können wir miteinander reden. Wenn du deine Erinnerungen auffrischen willst...

NEIN!, schrie die Bestie. Ihre Stimme durchschnitt den Winterwind und zerschlug dessen elementare Schwingungen. Die Bäume und das Gras, die sich vorhin noch unter der steifen Brise gebeugt hatten, erstarrten, und das Wasser des Flusses kräuselte sich in alle Richtungen. Die gesamte Natur in der Nähe erzitterte unter der Stimme der Drachin. Sag mir, wo sie ist, Llauron. Als deine Mutter befehle ich es dir.

Der graue Drache faltete seine zarten Flügel und betrachtete sie ernst.

Wir sollten vernünftig miteinander reden, sagte er ruhig, doch in seiner Stimme lag kaum verhülltes Missfallen.

Es ist lange her, seit du mir aufgrund dieser Tatsache befehlen konntest, Mutter, obwohl du dich vielleicht nicht daran erinnerst. Ich sage dir in aller Aufrichtigkeit, zu der ich fähig bin, dass kein atmendes Wesen auf der Welt dir treuer ergeben war als ich. Ich habe einmal alles hinter mir gelassen, was mir lieb und wert war, um dir zu gehorchen, und es hat die Welt gespalten. Meine Liebe zu dir sollte nicht in Zweifel gezogen werden. Daran wirst du dich erinnern, was immer du sonst vergessen haben magst.

Die Drachin schüttelte heftig den Kopf. Ich erinnere mich nur daran, dass diese Frau vernichtet werden muss, sagte sie bitter. Wenn du mich wirklich liebst, Llauron, musst du es mir beweisen. Sag mir, wo sie ist.

Das kann ich nicht, meinte der Drache bestimmt. Ich habe keine Ahnung. Komm, Mutter, wir sollten diesen Ort verlassen ...

Die Drachin bäumte sich auf und sog die Luft ein – und mit ihr auch die Macht des Elements.

Beim nächsten Wimpernschlag hatte sich der graue Drache in Luft aufgelöst – gerade rechtzeitig, um dem ätzenden Feuer zu entgehen, das auf ihn gezielt war und nun das gefrorene Wintergras in Brand setzte. Die Bestie atmete noch einmal aus. Eine rote und orangefarbene Flamme trat aus, schwarz an den knisternden Rändern. Sie breitete sich im Wind aus, ohne weiteren Schaden anzurichten; Wellen aus strömender Hitze zerstoben ohnmächtig, wo einen Augenblick zuvor Llauron gestanden hatte.

Wütend und mit dem Gefühl, vollends betrogen worden zu sein, stürmte die Drachin nordwärts und sang still den Namen der Frau, schmeckte dabei die Luft und hoffte, im Wind eine Spur von ihr zu finden.

42

Nachdem Achmed die Höhle verlassen hatte, schüttete er die Feuergrube zu, an der sich Krinsel während seiner Abwesenheit gewärmt hatte, und brach das kleine Lager ab. Dann nickte er der Bolg-Hebamme wortlos zu. Sie schnürte ihre Stiefel und richtete die Winterausrüstung; dann gab sie stumm das Zeichen, dass sie zur Abreise bereit war.

Sie waren kaum hundert Schritte von der Höhlenöffnung entfernt, als die Luft vor ihnen plötzlich in einem verwirrenden grauen Licht schimmerte.

Zwischen den Windstößen erschien eine gewaltige Drachengestalt, halb ätherisch, halb fest. Achmed blieb wie angewurzelt stehen, zog Krinsel geistesgegenwärtig hinter sich und senkte seine Cwellan, die er vor einigen Monaten Gwydion Navarne gezeigt hatte. Seine instinktiven Reaktionen erfolgten ohne Verzögerung, sein Verstand brauchte den Bruchteil einer Sekunde länger. Als er gerade feuern wollte, erinnerte er sich an diese Bestie. Er hatte sie auf dem cymrischen Konzil gesehen, zusammengerollt vor Ashes Füßen, sehr zum Verdruss seines Sohnes.

»Llauron?«, fragte er und senkte die Waffe.

Achmed, sagte die vertraute Stimme drängend. Wo ist mein Sohn?

Der Bolg-König kniff die Augen zusammen.

»Er ist zum Kreis zurückgekehrt oder vielleicht auch nach Navarne, um eine Kutsche für Rhapsody und deine Enkelbrut zu holen«, sagte er gehässig.

Die Augen des grauen Drachen glänzten.

Das Kind ist geboren?

»Ja«, sagte Achmed. »Tritt jetzt bitte beiseite und stell dich mir nicht mehr in den Weg, es sei denn, du möchtest Bekanntschaft mit meinen Drachentöterscheiben machen.«

Nein, meinte der Drache. Seine Besorgnis erwärmte die Luft um den Bolg-König und die Hebamme und machte sie trocken. Warte, du musst mir helfen. Anwyn kommt, sie sucht Rhapsody und will schreckliche Rache an ihr nehmen. Sie wird gleich hier sein. Du musst mir helfen, deine Freundin und meinen Enkel sofort aus der Höhle zu holen.

»Was redest du da?«, wollte der Bolg-König wissen. »Anwyn? Anwyn ist tot, wie du sehr wohl weißt; sie wurde vor drei Jahren im Gerichtshof begraben.«

Das haben wir alle geglaubt, aber wir haben uns geirrt, erklärte Llauron verzweifelt. Wir haben keine Zeit für eine gründliche Untersuchung dieses Falles und für Erklärungsversuche. Sie kommt, und sie wird bei dem Versuch, Rhapsody zu finden, jeden töten, der sich ihr in den Weg stellt. Ist sie bei Elynsynos?

»Ja«, antwortete Achmed knapp und warf einen Blick in den Wald. Die weißen Bäume, die nackt im kalten Winterwind raschelten, schienen zu erbeben. Er schaute Krinsel an, die ebenfalls heftig zitterte.

Holt sie hier heraus, befahl Llauron. In seiner Drachenstimme lagen Befehlskraft und Beharrlichkeit. Ich versuche, Anwyn abzulenken. Er verblasste wieder im Wind und ließ nichts zurück außer einem Gefühl der Panik.

Achmed machte auf dem Absatz kehrt, fasste die Hebamme am Arm und rannte zurück zum Nest der alten Drachin. Während des ganzen Weges murmelte er bolgische Unflätigkeiten.

Rhapsody hatte soeben aufgehört zu weinen, als Achmed und Krinsel wieder in der Tunnelöffnung erschienen.

Deine Freunde kehren zurück, sagte Elynsynos verwirrt. Sie legte den gewaltigen Kopf schief. Die prismatischen Augen weiteten sich plötzlich und warfen Regenbögen aus tanzendem Licht gegen die Höhlenwände. O nein, flüsterte die Drachin beim Klang der bolgischen Schritte. Nein, das kann nicht sein.

In der Wärme von Rhapsodys Armen heulte Meridion los; einen Augenblick später erhob sich sein Weinen zu einem Gekreisch der Angst.

»Was ist los?«, fragte Rhapsody nervös und schaute von der Drachin zu ihrem Kind. Beide waren ohne erkennbaren Grund in Panik geraten.

Anwyn kommt, sagte die Drachin, während sie sich vom Höhlenboden erhob und dabei Wolken aus Sand aufwirbelte. Sie rast und tobt; der Wald brennt in einem weiten Streifen zwischen dem Fluss und meiner Höhle.

»Anwyn?«, fragte Rhapsody ungläubig und stand mit dem Kind in den Armen ungelenk auf. »Wie ... wie kann das sein?«

Achmed erschien in der Tunnelbiegung.

»Komm mit mir, wenn dir dein Leben lieb ist«, sagte er scharf. Rhapsody erkannte die Worte. Es waren dieselben, die er vor einem ganzen Leben in Serendair zu ihr gesagt hatte. Es waren die Worte, mit denen ihre lange und manchmal schwierige Beziehung begonnen hatte.

»Ist es wirklich Anwyn?«, fragte Rhapsody und drückte das Kind enger an sich. Mit unsicheren Schritten ging sie auf den Bolg-König zu.

»Llauron sagt es, und ich zweifle seine Worte nicht an, auch wenn er im Leben ein Lügner war. Los, wir müssen von hier verschwinden.«

»Warte, warte«, sagte Rhapsody. Sie schloss die Augen vor Schmerzen und rieb sich mit der Hand über die Stirn. »Was bringt es, wegzulaufen? Außerdem bin ich bei Elynsynos in Sicherheit. Und bestimmt wird sie Meridion nichts antun.« Sie drehte sich zu der Drachin um, die nun ätherisch in der Luft schwebte und deren riesiges Gesicht einen Ausdruck stiller Verzweiflung zeigte. »Hast du nicht gesagt, dass ein Drache seine Nachkommenschaft über alles andere stellt?«

Ja, erwiderte Elynsynos ruhig. Aber sie tobt und denkt an nichts anderes als an Vernichtung, vermutlich an deine Vernichtung, Schöne.

»Wenn du hier bleibst, bringst du Elynsynos in Gefahr«, sagte Achmed harsch und griff nach ihrem Arm.

»Komm.«

Rhapsody gab Meridion Krinsel und zog sich die Stiefel an. Sie war ganz weiß im Gesicht, und ihre Arme zitterten unter der Schwäche, welche die Geburt nach sich gezogen hatte.

»Anwyn kann doch nicht ihre Mutter töten – selbst dann nicht, wenn sie außer sich ist«, sagte sie und band rasch die Schnürriemen. »Ist das nicht ein uranfängliches Gesetz, Elynsynos? Drachen können einander nicht töten, denn dann würden Welten zusammenstoßen, oder?«

Anwyn ist keine reine Drachin, rief ihr Elynsynos in Erinnerung. Wenn sie es nicht will, ist sie nicht an das alte Gesetz gebunden. Ich kann nicht vorhersehen, was sie tun wird.

Rhapsodys Gesicht nahm einen Ausdruck grimmiger Entschlossenheit an.

»In Ordnung«, sagte sie ernst. »Ich gehe. Achmed, Krinsel, ihr verlasst diesen Ort jetzt. Geht nach Westen zum Meer und versteckt euch dort. Ihr müsst so weit von hier und von mir fortgehen wie möglich.«

Elynsynos schüttelte den Kopf.

Bolg-König, nimm deine und meine Freundin mit, sagte sie traurig. Rette das Kind. Es ist wichtiger, als ihr alle ahnt. Bring Rhapsody in Sicherheit. Llauron und ich werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Anwyn abzulenken, aber ihr müsst jetzt gehen.

Achmed nickte und ergriff Rhapsodys Arm. »Begib dich nach Westen«, befahl er Krinsel. Sie nickte, übergab das Kind an seine Mutter und eilte den Tunnel entlang. »Kannst du gehen?«, fragte er Rhapsody, die ebenfalls nickte, auch wenn ihr Gesicht aschfahl war. »In Ordnung, dann komm mit mir. Wir haben so etwas schon einmal gemacht.«

Gemeinsam rannten sie durch den Tunnel nach draußen. Elynsynos sah ihnen nach und verschwand schließlich im Äther.

Sie eilten durch den Wald. Rhapsody folgte Achmed blind, der zurück zum Tar’afel lief. Er erinnerte sich an etwas, das Llauron den dreien vor langer Zeit über Elynsynos und den Entdecker Merithyn gesagt hatte. Wenn Merithyn Elynsynos nicht so sehr geliebt hätte, wäre ihr klar gewesen, was mit ihm geschehen war.

Er hatte ihr Crynellas Kerze gegeben, sein Notsignal. Es war ein kleiner, aber mächtiger Gegenstand, denn er enthielt eine Mischung aus zwei entgegengesetzten Elementen: Feuer und Wasser. Wenn Merithyn ihn bei sich gehabt hätte, als sein Schiff sank, hätte sie ihn gesehen und ihn möglicherweise sogar retten können. Aber er hatte Crynellas Kerze als Trost und als Zeichen seiner Ergebenheit bei Elynsynos zurückgelassen. So verhält es sich leider nun einmal oft mit guten Vorsätzen.

Vielleicht schränkte das Wasser den Drachensinn ein, dachte er. Schließlich wusste er, dass dieses Element seine eigene Fähigkeit, Herzschlägen nachzuspüren, minderte. Wenn ich Rhapsody in den Fluss bekomme, können wir uns vielleicht vor ihrem inneren Auge verstecken.

Noch während er darüber nachdachte, sagte ihm sein sechster Sinn, dass er sich etwas vormachte.

Aus der Ferne hörte er das Brechen von Bäumen und das Aufreißen der Erde, als zwei Drachen versuchten, ihre rasende Verwandte abzulenken. Sie bewegten die Erde, öffneten Abgründe, lenkten Ströme um, warfen ihr große Äste in den Weg, und sie übten ihre elementare Macht über die Erde aus. Jede ihrer Handlungen wurde gefolgt von einem wütenden Gekreisch und einem hörbaren Flammenausbruch. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Achmed warf Rhapsody einen raschen Blick zu. Sie hielt seine behandschuhte Hand in festem Griff; ihr Gesicht war blutleer, hatte aber einen entschlossenen Ausdruck, während sie über abgestorbene Äste und verfaulende Stümpfe kletterte, sich unter Bogen aus dornigen Beerenbüschen duckte und Lichtungen umrundete, wobei sie heftig keuchte.

Im Wind, der durch den Wald peitschte, hörten sie die kreischende, heulende, brüllende Stimme der Drachin.

Rhapsody! Rhapsody, du kannst dich vor mir nicht verstecken!

Der Wind umheulte sie in der einsetzenden Dämmerung; Schnee tanzte auf den Böen, die eisiges Wasser aus dem Fluss mitbrachten und in Haut und Augen stachen. Aus dem Bündel in Rhapsodys Armen drang kein Laut. Achmed fragte sich dumpf, ob das Kind überhaupt noch lebte.

Mit jedem Schritt kam das Feuer näher.

Als ihm die Hitze schon über den Rücken leckte, spürte er Rhapsodys Griff lockerer werden; dann rutschte ihre Hand aus der seinen.

Er drehte sich um und sah, wie sie sich vorbeugte und sich das Kind gegen den Bauch drückte. So bleich hatte er sie noch nie gesehen. Mit letzter Kraft reckte sie die Arme und hielt ihm das Bündel entgegen.

»Bitte«, flüsterte sie. »Bitte ... nimm ihn, Achmed. Ich ... bin es, hinter der sie her ist.« Ihre Stimme schwankte vor Erschöpfung und Schwäche. »Nimm ihn.«

Achmed zögerte, dann hing er sich die Cwellan über die Schulter und nahm ihr das Bündel ab. Er steckte es sich unter den Arm und ergriff wieder ihre Hand. Das Kind schwieg weiterhin und rührte sich nicht.

»Ich werde ihn tragen, aber du musst mit mir kommen«, beharrte er und zerrte sie über einen verfaulenden Baumstumpf. Als sie stolperte, fing er sie auf. »Ohne dich wird dein Kind sowieso sterben. Ich kann es schließlich nicht säugen. Komm endlich.«

Gemeinsam kämpften sie sich an undurchdringliehen Brombeerhecken entlang und über halb zugefrorene Flüsse, bis sie aus der Ferne den Fluss hörten.

»Komm, Rhapsody, es ist nicht mehr sehr weit«, drängte Achmed, als er spürte, wie sich der Griff ihrer Finger wieder lockerte.

Die Erde unter ihren Füßen riss in langen, dünnen Spalten auf. Das Brüllen der Drachin war verstummt; nun kamen die einzigen Geräusche von der sich widersetzenden, aufschreienden Natur.

»Lass mich ... allein zurück«, keuchte Rhapsody. »Mein ... Schwert... wird mich ... vor den Flammen ... schützen

...«

»Aber nicht vor der Säure und auch nicht vor den Krallen«, murmelte Achmed und zerrte heftiger an ihrem Arm.

»Komm weiter.«

Sie überquerten die letzte Wiese, rannten die Böschung entlang und sahen den Tar’afel, als sich plötzlich das Ufer mit einem großen Zittern auftat und einen gähnenden Spalt bildete. Die rasende Drachin sprang in all ihrer festen Körperlichkeit daraus hervor. Hass, dunkler als die Feuer der Unterwelt, loderte in ihren glühenden Augen. Kurz verzerrte sich ihr Gesicht in einer Wut, die so scheußlich war, dass in diesem Augenblick jede Luftbewegung in ihrer Nähe erstarb.

Achmeds Reflexe spannten sich zum Angriff.

Ohne Vorwarnung drückte Rhapsody von hinten mit all ihrer Kraft gegen ihn, stieß ihn und das Kind von sich und geriet in das Blickfeld der Drachin.

Zitternd zog sie die Tagessternfanfare, das elementare Schwert des Feuers und des Äthers. Die leuchtende Klinge bebte für den Bruchteil einer Sekunde in ihrer Hand und beruhigte sich, als Rhapsody sich zu voller Größe aufrichtete. Auch in ihren Augen brannte die Wut.

»Richte deinen Zorn auf mich, Anwyn, du Feigling«, sagte sie mit der befehlenden Stimme einer Benennerin. Die Nüstern der Bestie blähten sich. Sie erhob sich, spreizte die zerrissenen Flügel und verdunkelte mit ihnen das Licht der Sonne. Die Luft knisterte und zischte vor Bosheit.

Sie atmete tief durch.

Achmed feuerte.

Drei hauchdünne Scheiben, geschmiedet aus blauschwarzem Rysin-Stahl, drangen in den Unterleib der Drachin, als sie sich aufbäumte; jede wurde von der folgenden noch tiefer in das Fleisch getrieben.

Der Rückstoß brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er stolperte, ließ die Cwellan fallen und griff nach dem Bündel unter seinem Arm.

Die Drachin schrie vor Schmerz und Wut auf. Die Hitze ihres sengenden Blutes führte dazu, dass sich die Scheiben ausdehnten und das Fleisch an Brust und Bauch zerrissen. Das Atemfeuer ihres ersten Angriffs reichte weit, entflammte die Bäume über ihnen und tauchte die Hecken in ein Inferno aus gelb-orangefarbenen Lohen. Als der Wald Feuer fing, sog sie den Atem wieder ein, obwohl sie stark blutete, und richtete ihn unmittelbar gegen die goldhaarige Frau, deren Gesicht sie in ihren Träumen heimsuchte.

In dem Bruchteil einer Sekunde, bevor die alles verzehrenden Flammen über Rhapsody zusammenflössen, wurde die Luft vor ihr grau und silbern, mit einem leisen Anflug von schimmerndem Kupfer. Eine große, durchscheinende Gestalt erschien aus dem Äther vor ihr und um sie herum, dünn wie ein Windhauch und kaum sichtbar. Sie umgab den Bolg-König sowie die Herrscherin der Cymrer mit ihrem Körper und schuf so eine Scheidewand zwischen ihnen und der tobenden Drachin.

Als Anwyn ausatmete und ein so ätzendes Feuer entfachte, dass es die Steine auf dem Boden unter ihr schmolz, löste Llauron ein wenig von seiner eigenen Kraft und ließ die elementare Erde frei, die sich in seinem Blut und seiner Seele befand.

Er wurde fest.

Und bildete eine gewaltige, versteinerte Hülle um den Mann, die Frau und das Kind.

Und rettete sie.

Und führte damit sein eigenes Ende herbei.

43

Die Flammen flössen über Llaurons felsartige Gestalt, leckten an den Rändern und verbrannten das Gras unter ihm. Rhapsody und Achmed bemerkten den Feuerstoß, erkannten ihn an der Gewalt seines Brüllens und hörten aus der Ferne die Zornesschreie. Dann setzte Stille ein.

Innerhalb der Hülle war es dunkel. Es war nur ein sehr schwacher Lichtschimmer übrig geblieben, der ätherisch leuchtete. Der Bolg-König tastete in der Dunkelheit herum, bis er Rhapsodys Hand fand und sie packte. Sie zitterte heftig und beobachtete, wie Llaurons Ende verschiedene schreckliche Zustände durchlief.

Mit der Weggabe seiner Erdmacht ging der Verlust des Sternenfeuers einher, das ihn seit seiner Geburt begleitet hatte. Das kühle Licht härtete die Hülle seines Körpers. Rhapsodys Herz schlug heftig gegen die Rippen, als das Wasser in Llauron verdunstete. Sie spürte auf ihrem Gesicht Tränen und Regen. Beides trocknete, als die Macht in der Welt verschmolz, aus der sich einmal die Seele eines Menschen gebildet hatte, der in das Meer verliebt gewesen war. Als das Wasser verdunstet war, härtete sich die Hülle noch mehr; sie kühlte ab. Nur das Element des Windes blieb; es nahm die Form süßer, schwerer Luft an, die zwischen den dreien hing.

Für einen Augenblick war innerhalb der dunklen Höhlung von Llaurons Körper nichts zu hören.

Dann weinte Rhapsody leise.

Achmeds Augen, die Nachtaugen eines Bolg, beobachteten sie, während sie zur rippengemusterten Wand ging, die Hand ausstreckte und sie dagegen legte. Überwältigt von Trauer, glitt sie langsam zum Boden der Höhlung. Auch das Kind in seinen Armen weinte nun.

Achmed stand reglos da, dann hob er allmählich das Windelbündel gegen seine Schulter und wiegte es unbeholfen vor und zurück.

»Psst«, sagte er. »Sei still.«

Außerhalb der gewaltigen Drachenhülle, die früher einmal ihr Sohn gewesen war, stand Anwyn entsetzensstarr. Zuerst war ihr Erstaunen aus der Unmittelbarkeit der Ereignisse erwachsen. Noch vor einer Sekunde hatte sie die Frau, die sie hasste, verwundbar vor sich gesehen. Sie hatte sich auf die Linderung ihrer Schmerzen gefreut, die mit Rhapsodys Tod einsetzen würde, auf den bitteren Geruch ihrer Asche, sobald ihr Körper verbrannt sein würde.

Dann war ihr der Drache, der sich Llauron nannte, entgegengetreten, war aus dem Äther erschienen, hatte die Frau und ihr Kind sowie das Ungeheuer umgeben, das sie beide beschützte, und sein Ende selbst herbeigeführt. Anwyn hatte vieles von ihrer eigenen Rasse vergessen, doch selbst in ihrem bruchstückhaften Bewusstsein begriff sie das Grauen, die Endgültigkeit und das Opfer dessen, was soeben vor ihren Augen geschehen war.

Und sie ärgerte sich darüber mit jeder Faser ihres zerfetzten, blutenden Selbst.

Die Stahlklingen dehnten sich in der Hitze ihres Körpers aus; sie fühlte ihr Anwachsen, jetzt, da sie nicht mehr durch die Kälte zusammengedrückt wurden. Mit jedem ihrer Atemzüge zerrten sie mehr an ihren Muskeln, zerrissen ihr Fleisch weiter und arbeiteten sich bis zu dem dreikammerigen Herzen vor. Die Drachin zwang sich dazu, langsamer zu atmen und ihre Körperfunktionen so weit zusammenzuziehen wie möglich, doch sie konnte das Schlagen ihres Herzens und ihren Blutkreislauf nicht länger kontrollieren.

Sie wollte schreien und ihren Zorn mit Feuer und Blut anfachen, doch die Scheiben wüteten in ihrer Bauchhöhle und bedrohten bei jeder noch so kleinen Bewegung ihr Leben.

Schließlich erkannte sie, dass ihr keine andere Möglichkeit blieb, als langsam und vorsichtig in den gefrorenen Norden zu ihrem Nest aus Eis und Frost zurückzuweichen. Sie hoffte, die Kälte werde dafür sorgen, dass die Scheiben verharrten, sodass sie sie aus dem Fleisch ziehen konnte. Selbst wenn das nicht möglich wäre, stürbe sie lieber in ihrem Nest als in diesem fremden Wald, diesem Ort, an den sie Erinnerungen haben sollte, stattdessen aber nur Leere und Zurückweisung erfuhr.

Diesen Ort, an dem ein Drache sein Leben beendet hatte.

Das allein reichte aus, um sie zu entsetzen. In ihrem Kopf hörte sie einen dunklen Gesang. Es waren Stimmen von Wesen, die einer völlig anderen elementaren Rasse angehörten. Sie schnatterten, während die Erde durch den Verlust eines Wesens, das zu ihr gehörte, an Macht verlor. Die Drachin konnte nicht länger bleiben. Der Anblick der gewaltigen Steinstatue mit den ausgestreckten Schwingen, die sich um die Frau, das Kind und ihren Begleiter gehüllt hatte, um sie zu retten, ließ sie zittern; doch als sie wenig später den Tar’afel durchschwamm und gegen die stärker werdende Strömung kämpfte, erkannte sie, dass ihr Zittern nicht nur von der Angst, sondern auch von der Nähe des Todes herrührte. Achmed hörte im Dunkeln, wie Rhapsody weinte. Es war ein Laut, den er von Anfang an gehasst hatte: eine harsche, schreckliche Schwingung, so ganz verschieden von der natürlichen Musik, die sie sonst von sich gab und die er so beruhigend fand. Es zerrte an den empfindlichen Nervenenden in seiner Haut, die vor Schmerzen vibrierten. Er biss die Zähne zusammen und schwieg; er erlaubte ihr, der Trauer freien Lauf zu lassen. Sie konnte sie nicht lange unterdrücken, da sie von den Geburtswehen und der Flucht vor der Drachin noch sehr schwach war.

Er beobachtete ihr Kind in der Dunkelheit. Er hatte den kleinen Jungen auf den Rücken gelegt. Der Boden des Drachenkörpers aus Stein war wärmer als der Waldboden. Das Kind schien seine Lage zu mögen, denn es winkte mit den winzigen Armen und atmete tief die kühle, süße Luft ein, die schwer über seinem Kopf schwebte. Rhapsody lehnte sich erschöpft gegen die Höhlenwand. Sie konnte im Dunkeln nicht so gut sehen wie Achmed. Um Finsternis und Kälte zu vertreiben, zog sie ihr Schwert und legte es auf den Boden. Es erfüllte die Kaverne mit Wärme und Licht.

»Die Ironie des Ganzen droht mich zu ersticken«, sagte sie matt und sah zu, wie ihr Kind den Bolg-König unterhielt.

»Warum?«

»Llauron wollte dieses Kind kennen lernen, und das Kind sollte ihn kennen lernen. Er hat sich für es und für uns geopfert. Das ist einfach unvorstellbar. Es ist ungefähr so, als würdest du dein Leben mitsamt deinem Nachleben opfern. Und nun ist Meridion in der körperlichen Hülle seines Großvaters gefangen – eines Großvaters, den er nie kennen lernen wird.«

Achmed seufzte niedergedrückt.

»Könnt ihr lirinischen Benenner nicht etwas tun, wenn so etwas geschieht?«, fragte er scharf. »Ein Lied des Übergangs singen oder dergleichen, anstatt nur zu trauern? Ich finde deinen augenblicklichen Gesang etwas ermüdend. Llauron war ein schwieriger Mann, ein drachenhafter Mann, noch bevor er seinen menschlichen Körper aufgab und gegen den elementaren Zustand eintauschte. Er hat nie zugelassen, dass sich ihm etwas in den Weg stellte, wenn er sich im Recht glaubte oder von einer Sache überzeugt war: nicht das Wohlergehen seiner Familie, nicht die Sicherheit seiner Verbündeten oder andere unwesentliche Überlegungen. Dass er das hier freiwillig getan hat, war möglicherweise seine erste wirklich edle Geste. Warum singst du ihm keine Elegie und legst deine ganze Trauer und auch jene hinein, die du stellvertretend für dein Kind empfindest? Meridion wird ihn nicht einmal vermissen.«

Rhapsody seufzte und setzte sich ein wenig aufrechter hin.

»Was die Elegie angeht, hast du Recht«, sagte sie knapp. »Das ist das Mindeste, was ich als Benennerin tun kann. Aber ich will nicht das lirinische Lied des Übergangs für ihn singen. Das habe ich schon einmal getan, als er mich dazu gebracht hatte, ihn mit dem Schwert zu verletzen, damit er seinen elementaren Drachenzustand erreichen konnte. Ich glaube nicht, dass ich das noch einmal fertig bringe.«

»Fein«, meinte Achmed und suchte sich in der Dunkelheit eine bequemere Lage. »Dann sing ein Bordellliedchen oder eine von Grunthors Marschweisen. Ich wette, Llauron würde beides schätzen.«

Rhapsody nickte; es gelang ihr nicht zu lächeln. »Vermutlich hast du Recht. Trotz seines gediegenen Äußeren hatte er einen Sinn für groben Humor. Als ich zu Beginn bei ihm gelernt habe, hat er mir jeden Abend Seemannslieder vorgesungen, und einige davon hätten seinen Anhängern die Haare zu Berge stehen lassen.« Sie stand auf und ging hinüber zu Achmed, dann hockte sie sich vor das Kind, das die winzigen Augen auf sie richtete. »Natürlich hat mein Großvater dieselben Lieder gesungen.«

Sie summte eine Melodie und lächelte auf Meridion hinunter, dann begann sie mit einem wortlosen Lied des Meeres. Nach einigen Augenblicken fügte sie die Worte hinzu und sang eines von Llaurons bevorzugten Seemannsliedern, eine traurige Geschichte über eine einsame Wanderung durch die ganze Welt, ohne Ruhe, auf der Suche nach Frieden im Meer.

Achmed scherte sich nicht um das Meer, doch es war lange her, seit er sie zum letzten Mal singen gehört hatte. Er saß still im flackernden Licht der Tages-

Sternfanfare, deren kühler Glanz Rhapsodys ernste Stimmung spiegelte, und erinnerte sich an ihre gemeinsame Reise entlang der Wurzel und über Land zu diesem neuen Kontinent – nur sie beide und Grunthor. Er vermisste diese Zeiten mehr, als er sich eingestand.

Ein seltsamer Ton schwirrte in seinen Ohren. Er horchte angestrengt und erkannte, dass das Kind mitsummte. Rhapsody bemerkte es ebenfalls. Ihre Stimme wurde sanfter, und sie setzte den letzten Ton der Melodie nach dem Ende des Liedes fort, bis das Kind wimmerte.

»Ich vermute, er kennt seinen Großvater doch«, sagte sie, als sie sich das Kind an die Schulter legte und ihm den Rücken streichelte. Die Geste zeigte jedoch keine Wirkung. Meridion jammerte weiter, und sein Weinen steigerte sich zu einem schnatternden Schreien.

»Ich glaube, er hat den letzten Rest von Llaurons Selbst eingeatmet. Die schwere Luft schien über ihm zu schweben, als hätte Llauron gewollt, dass er sie in sich aufsaugt«, sagte Achmed und zog die Brauen zusammen, als Rhapsody ihr Hemd öffnete und sich das Kind an die Brust legte. Er wandte sich zu ihrer Verblüffung hastig ab und drehte ihr den Rücken zu, während sie das Kind stillte.

»Du musst mir nicht mehr den Rücken zuwenden«, sagte sie überrascht und zog das Wickeltuch über sie beide.

»Ich bin jetzt bedeckt, und ich entschuldige mich dafür, falls es dich belästigt hat.« Sie sah, wie er mit der Schulter zuckte, aber er drehte sich nicht zu ihr um. »Wir haben schließlich an der Wurzel tausend und mehr Jahre zusammen verbracht und immer gemeinsam gelagert. In uns sollte keine Scham mehr sein.«

Achmed starrte auf die Drachenhöhle über sich und bemerkte die Windungen von Brustkorb und Wirbelsäule.

»Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass es mir vielleicht nicht gefällt, dich das Kind eines anderen Mannes stillen zu sehen?«, fragte er verbittert.

Das Schweigen, das ihm antwortete, war schwerer, als es die Luft gewesen war.

Er fuhr fort, die Innereien der Hülle zu betrachten, die Llauron zurückgelassen hatte, bis er schließlich hörte, wie Rhapsody dem Kind auf den Rücken klopfte und ein wortloses Wiegenlied summte. Endlich drehte er sich um und sah, dass auch sie den Blick nach oben gerichtet hatte.

»O Götter, in gewisser Weise sind wir wieder bei der Wurzel«, murmelte sie. »Gefangen in einer Höhle ohne Ausgang, fern von allen, die uns beistehen könnten. Und es ist dunkel und eng hier drinnen.« Unbewusst wischte sie sich mit dem Handrücken über die Stirn und zog das Kind näher an sich.

»Ja, aber diesmal ist Grunthor nicht bei uns, um es uns erträglich zu machen.«

»Nein, da hast du Recht.« Rhapsodys Augen schimmerten in der Dunkelheit. »Du hast dich in den wenigen Jahren so sehr verändert, Achmed«, sagte sie traurig und wiegte das Kind in den Armen. »Selbst in der Dunkelheit erkenne ich dich kaum wieder.«

Dem Mund des Bolg-Königs entrang sich ein Zischen, als er sich das Lachen verkniff. Er streckte die Beine aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Ist das wirklich so?«, fragte er. »Vielleicht erscheint es dir nur so, Rhapsody, weil du nie begriffen hast, was wichtig für mich ist. Du hast mir immer uneigennützige Beweggründe unterstellt, weil du glauben willst, dass wir dieselben Ziele verfolgen. Ich glaube, so war es wirklich einmal. Aber wer hat sich hier verändert?«

Das Kind seufzte im Schlaf. Es war ein hoher, süßer Laut. Rhapsody sah Achmed noch schärfer an.

Er beugte sich vor, damit er nicht laut reden musste, um seinen Worten Gewicht zu verleihen. »Du riskierst dein Leben und das deines Kindes, über dessen Schicksal du keine Gewissheit haben kannst, sowie das aller anderen, die deinen Visionen folgen, und das nur für deine wechselnden Launen. Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals so sorglos mit anderen Lebwesen umgegangen bist wie heute. Und ich, der ich nie die Pflicht verspürt habe, einen anderen Hals als meinen eigenen zu retten, bin nun Wächter des Erdenkindes und Beschützer eines Volkes, das nicht mehr durch die Welt zieht und seine Feinde frisst – oh, und ich bin der Schutzherr einer närrischen Königin, deren Gemahl diese Rolle allein nicht ausfüllen kann.

Wer also hat sich verändert? Vermutlich wir beide.«

Die Herrin der Cymrer starrte ihn an. Achmed bemerkte mit Interesse, dass die Drachenpupillen nun aus ihren Augen verschwunden waren. Das Kind gab saugende Laute von sich und verstummte schließlich. Rhapsody ergriff das Wort.

»Seit wir dieses neue Land zum ersten Mal betreten haben, Achmed, warst du genau wie Grunthor verärgert darüber, dass ich die Vergangenheit nicht vergessen konnte. Ihr seid aus Serendair geflohen, weil es dort nichts mehr gab, was euch etwas bedeutet hat. Auf euch hätte nur der Tod gewartet, wenn ihr geblieben wärt. Aber ich habe alles verloren, als ihr euch entschieden habt, mich mitzunehmen. Und als ich getrauert habe, habt ihr euch darüber beschwert. >Serendair ist Vergangenheit, habt ihr gesagt, >dein Leben findet jetzt hier statt.< Ihr habt darauf beharrt, dass ich mich an die neuen Gegebenheiten anpasse, die Vergangenheit vergesse und in der Gegenwart lebe.«

»Richtig«, stimmte Achmed zu. »Und ich habe dir eine Aufgabe anvertraut, an der du Geschmack gefunden hast: die Beendigung der Scheußlichkeiten, die Roland gegen die Bolg unternommen hat – und diese Bolg zu einem Königreich von Menschen zu machen –, wenn auch von monströsen Menschen. Ich habe dir in meinem Königreich ein Herzogtum gegeben und dir allen Plunder bezahlt, den du haben wolltest. In Elysian hängen immer noch zwei Dutzend Kleider, die still in der Grotte vor sich hinfaulen.« Er lehnte sich mit einer heftigen Bewegung gegen die Höhlenwand und seufzte. »Vielleicht sollte ich sie beschlagnahmen und an Bolg-Frauen verteilen, die sie tragen können, während sie Jagdbeute häuten oder Talg machen.«

»Das kannst du ruhig tun«, sagte Rhapsody und streichelte ihrem Sohn über die Wange. »Sie können die Kleider ja um den Hals tragen, so wie sie die Hörner der unglücklichen Ochsen, die du in das Königreich eingeführt hast, als Lendenschurzverzierung getragen haben. Aber schweif nicht vom Thema ab. Du bist zufrieden, wenn ich in der Gegenwart lebe, so lange es deinen Zielen dient. Sollte ich meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden, die du als wertlos ansiehst – zum Beispiel das cymrische Bündnis, das Königreich Tyrian oder die Gründung einer Familie –, befriedigt dich das nicht. In deinem verdrehten Kopf habe ich mich verändert, weil ich nicht mehr das tue, was ich deiner Meinung nach tun soll. Vielleicht ist es verwegen von mir, aber ich möchte mein Leben nicht nach deinen Befehlen leben, sondern so, wie ich es für richtig halte.«

Der Bolg-König schnaubte: »Du würdest es nur verderben.«

Zum ersten Mal seit Llaurons Ende lächelte Rhapsody leicht. »Zweifellos«, gab sie zu. »Aber das ist meine Sache, Achmed. Du hast mir immer gesagt, ich hätte die Stärke, zu tun, was getan werden muss, zu führen, auch wenn ich es nicht will, weiterzumachen, obwohl ich aufgeben möchte. Du aber teilst die Gründe für deine Taten nie jemandem mit, deshalb kann ich sie nicht verstehen. Du stehst mir treu bei und fühlst dich betrogen, wenn ich dasselbe für dich nicht tun kann.«

»Ja, das stimmt ungefähr.«

»Also erkläre es mir«, beharrte sie. »Sag mir, warum du dieses verdammte Ding bauen und dafür so viel riskieren willst. Wenn ich verstehen könnte, warum du auf so verrückte Weise mit uranfänglicher Magie herumspielen willst, wäre ich vielleicht in der Lage, dir zu helfen.«

Achmed schwieg lange. Er schaute weiterhin nach oben und in das Innere der Höhle. Schließlich sagte er: »Habe ich dir je gesagt, wovor ich weggelaufen bin, als Grunthor und ich unglücklicherweise mit dir in Ostend zusammengestoßen sind?«

Rhapsody schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass du der Sklave eines Hohepriesters warst, der einem F’dor als Wirt diente«, sagte sie und rieb sanft über den Rücken des Kinds. »Ich war der Meinung, du seiest auf der Flucht vor ihm.«

»Das war ich«, sagte der Bolg-König matt. »Aber erinnerst du dich an den Schlüssel, mit dem ich die Sagia geöffnet habe, damit wir überhaupt in sie hineingelangen konnten?«

»Ja. Er bestand aus Lebendigem Gestein – als wäre es die Rippe eines Erdenkindes.«

»Ist es dir nie seltsam vorgekommen, dass ich einen solchen Schlüssel in meinem Besitz hatte? Hast du dich je gefragt, woher er stammte?«

Rhapsody dachte in der Dunkelheit nach. »Eigentlich nicht. Es gibt so vieles, was du mir verheimlichst oder was an dir seltsam oder schwierig zu verstehen ist, sodass ich mir darüber keine Gedanken gemacht habe. Ich war der Ansicht, dass du es mir schon sagen würdest, wenn du es wolltest.« Sie schaute in die Finsternis über sich und seufzte. »Nach eintausendvierhundert Jahren habe ich gelernt, mit der Aussicht zu leben, dass du es mir möglicherweise nie verrätst.«

Achmed saß still da und lauschte auf die hallenden Geräusche innerhalb der hohlen Hülle. Er bemerkte Rhapsodys Blick, der über den versteinerten Körper ihres Schwiegervaters strich – eines Mannes, den sie trotz seiner Machenschaften und Betrügereien geliebt hatte. Achmed hatte diesen Gesichtsausdruck schon einmal bei ihr wahrgenommen, nämlich an dem Tag, als sie aus der Erde aufgetaucht waren und hatten feststellen müssen, wie weit sie von zu Hause entfernt waren und wie sehr sie sich in der Zeit verirrt hatten.

Wie lange schon all jene tot waren, die Rhapsody geliebt hatte.

»Der Dämonenpriester, den du vorhin erwähnt hast, gab mir den Schlüssel«, sagte er endlich. Seine Stimme war trocken und sanft zugleich. »Er hatte mich an die Nordküste Serendairs geschickt, quer durch die Meerenge zu den nördlichen Inseln Balatron, Briala und Querel, wo sich früher einmal eine Brücke befunden hatte. Der Schlüssel sollte dazu dienen, eine Tür im Fundament dieser Brücke zu öffnen, damit ich einen seiner Genossen von der anderen Seite herholen konnte.«

Ihr Blick traf sich in der Dunkelheit. »Du weißt, dass Tsoltan der Wirt eines F’dor war?«

»Ja.«

»Du weißt auch, wohin er mich geschickt hat und was ich dort tun sollte?«

Sie überlegte kurz; ihre Augen wurden in der Dunkelheit größer.

»Du bist zur Gruft gegangen?«

Achmed nickte.

»Zur echten Gruft? Sie existiert in der materiellen Welt?«

Der Bolg-König stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es gibt ein Tor zu ihr. >Das Gewebe der Welt ist an dieser Stelle dünn gewordene sagte Tsoltan, als er mir seinen Befehl gab.«

Rhapsodys Augen glimmerten nun. Achmed wusste, dass sie zunehmend nervös wurde.

»Hast du sie geöffnet?«

Er nickte. »Ja. Ich habe selbst in die Gruft der Unterwelt geblickt. Und was ich dort gesehen habe, entzieht sich jeder Beschreibung, sodass ich mich nicht einmal zu einem Versuch in der Lage gesehen habe, dem Befehl nachzukommen. Aber es reichte aus, um alles hinter mir zu lassen, was ich je besessen hatte und gewesen war, und die Flucht zu wagen, denn jeder Mensch hat eine Grenze – selbst ein kaltblütiger Mörder wie ich, selbst ein Verdammter, der für Gott und Menschen nutzlos ist und keine Scheu davor kennt, den Tod zu spenden, als wäre er ein Sakrament. Und diese Erfahrung war meine Grenze.«

»Das glaube ich«, sagte Rhapsody.

»Dann glaubst du vielleicht jetzt auch, dass ich alles unternehme und jede Gelegenheit ergreife, die sich mir bietet, um eine ähnliche Erfahrung für andere Menschen zu verhindern. Du glaubst, ich gehe unnütze Risiken ein, Rhapsody, doch in Wirklichkeit ergreife ich nur jede Gelegenheit, die Gruft für alle Zeiten geschlossen zu halten. Das ist eine endlose Aufgabe; es ist, als wolle man einen Sanddeich gegen die Flut aufschütten. Es stimmt, dass es nur eine begrenzte Anzahl von F’dor gibt, die aus der Morgendämmerung der Zeit übrig geblieben sind, aber es gibt noch genug von ihnen da draußen, die während der ersten Katastrophe aus der Gruft entwischt sind und nun unablässig versuchen, einen ähnlichen Schlüssel zu bekommen, um sie ganz zu öffnen und ihre Gefährten frei zu lassen. Ich will dich nicht beleidigen, wenn ich sage, dass du dir als lirinische Benennerin nicht vorstellen kannst, was das bedeuten würde. Ich bin selbst Bringer des Todes gewesen, manchmal auf wirklich schreckliche Weise, und sogar ich könnte es mir nicht vorstellen, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.

Als du mir in übertragenem Sinn die Haut abgerissen hast, sagtest du, die Nain hätten etwas dagegen, dass ich die Maschine wieder erbaue. Es gibt einen guten Grund, warum ich auf das Gerede der Nain nichts gegeben habe. Sie haben bereits selbst eine solche Maschine gebaut.« Er bemerkte befriedigt, wie sie erstaunt die Luft einsog.

»Und ich wünschte, du würdest mich nicht über uranfängliche Magie belehren. Ich weiß einiges über diese Magie, was du nicht weißt. Sie ist nicht unveränderlich, sondern zerbrechlich. Sie kann sogar sterben. Der Tod der Sagia hinterließ ein gewaltiges Loch in dem, was der uranfänglichen Magie früher möglich gewesen war. Die Mittel, die wir noch besitzen, sind beschränkt, und die Waffen sind stumpf. Wir haben so viel konstruktive Macht verloren, so viel Magie aus der Welt der sterbenden Insel. Ich versuche, mit aller Kraft unser Arsenal in diesem letzten, größten Kampf an allen Fronten zu verstärken.«

»Aber wenn du befürchtest, ein F’dor könnte das Erdenkind finden, eine seiner Rippen als Schlüssel benutzen und die übrigen F’dor befreien, die dann den Wurm erwecken, was nützt dann dein Wächteramt, wenn der Gebrauch des Lichtfängers all das umgeht und die Bestie selbst weckt?«, fragte Rhapsody und drückte das Kind enger an sich.

Achmed richtete sich auf und schüttelte einen Krampf aus seinem Nacken. Dann erwiderte er ihren Blick.

»Auf dem höchsten Berg Serendairs, in so großer Höhe, dass die geflügelten Löwen, die ihn beschützten, wegen der dünnen Luft nicht fliegen und nur flüstern konnten, stand der Lichtfänger. Ich habe ihn gesehen, Rhapsody. Ich habe gesehen, wie er eingesetzt wurde, oder wenigstens habe ich das Ergebnis gesehen. Ich habe mit den Wächtern gesprochen.

Er war auf dem höchsten Berg errichtet worden, weil er seine Kraft nicht aus der Erde, sondern aus dem Stern zog. Jedes Mal, wenn Faedryth mich durch den Apparat anschaut, reizt er die Bestie. Er richtet seine bewegliche Lichtschmiede in die Nähe einer Vene und erschüttert die Welt. Die Meeresmagier gehen mit diesen Erschütterungen zweifellos kalkulierbare Risiken ein, was der Grund ist, warum die Strömungen in der Nähe ihrer Insel unberechenbar sind.«

Unter der Eindringlichkeit seiner Stimme erbebten die Wände. »Aber ich weiß, dass ich an der Sonne ein Licht entzünden könnte, denn die erdverbundenen Nabelsucher wie Faedryth und Gwylliam haben nach der Macht nur in der Tiefe gesucht. Ich würde sie nicht so schnell aussaugen, und nicht jedes Mal, wenn man den Apparat anschaltet, droht die völlige Vernichtung. Ich brauche das Wissen aus diesen Schriftrollen, um sicherzustellen, dass mein Berggipfel nicht nur zur Lichtschmiede, sondern zum Lichtfänger wird. Er soll die Kraft nicht aus der Erde, sondern jenseits von ihr holen. Von einem Stern, von der Sonne – aus der Zeit vor der Geburt des Feuers. Dann kann ich dieses Instrument dazu benutzen, dort zu sehen, wo ich noch nicht sehen kann, mich da zu verteidigen, wo ich verwundbar bin, und die Festung um die Welt stärker zu machen, als es mir ohne das Gerät möglich wäre. Vielleicht – nur vielleicht – gelingt es uns, die Gruft versiegelt zu lassen, wenn wir die Erde, in der sie sich befindet, nicht antasten.«

Er warf einen letzten Blick nach oben.

»Es sieht dort übrigens ziemlich genauso aus wie hier drin.«

»Dafür gibt es einen guten Grund«, meinte Rhapsody traurig. Und während das Kind döste, erzählte sie ihm Elynsynos’ Geschichte von dem ersten Ende eines Drachen und der Errichtung der Gruft der Unterwelt.

»Der Gedanke, was aus Elynsynos geworden sein mag, quält mich«, sagte sie leise, als sie ihre Erzählung beendet hatte. »Ich weiß nicht, ob Anwyn sie getötet hat oder sie verletzt in ihre Höhle zurückgekrochen ist. Denn ansonsten wäre sie jetzt da draußen und würde versuchen, uns zu befreien.«

Achmed seufzte. Trost zu spenden gehörte nicht zu seinen Fähigkeiten.

»Vielleicht lebt sie noch und ist da draußen, aber sie kann nichts tun, um uns zu helfen«, sagte er unbeholfen.

»Aus welcher Substanz das einst lebendige Drachenfleisch auch sein mag, wenn es durch die Entfesselung der Elementarkräfte bei der Beendigung verbrannt wird, so ist es jedenfalls für alle Magie der Dämonen aus der Unterwelt undurchdringlich. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass ein Drache die Kraft hat, es zu öffnen. Das Einzige, was das kann, ist vermutlich ein Schlüssel wie derjenige, der die Sagia geöffnet hat. Und dieser steckt verborgen in Ylorc.«

»Selbst wenn sie noch lebt, ist sie sicherlich in einem Maße entsetzt, wie es nur ein Drache völlig verstehen kann. Außerdem sorge ich mich um Ashe. Früher oder später kommt er zurück, um das Kind und mich zu holen, und dabei wird er seinem Vater begegnen. Und da er Drachenblut in sich trägt, wird es eine verheerende Erfahrung für ihn sein.«

»So unschön das auch sein mag, es ist trotzdem die geringste unserer Sorgen«, sagte Achmed. »Wenn er endlich auf unser Steingefängnis stößt, das einmal sein Vater gewesen ist, wird uns schon lange die Luft ausgegangen sein.«

44

Jierna’sid — Sorbolb

Der mittlere Tag der Woche wurde in Jierna’sid Markttag genannt. An diesem Tag wurden die roten Steinstraßen noch mehr als sonst von allen Arten von Kaufleuten und Händlern bevölkert, mit Verkäufern von Salzfisch und Schuhen, Leder und Stoffen, Gewürzen, Seilen, Bestecken, Salz und allen anderen möglichen Gütern. Daher befand sich auch die Mehrheit der Einwohner auf der Straße und nahm die Gelegenheit wahr, die Vorräte für den Winter aufzufüllen, was den Bewohnern der entlegeneren Gebiete nicht möglich war; sie mussten sich vor dem Einsetzen des ersten Schneefalls um die gesamten Vorräte kümmern, denn bis zur Tauperiode würden sie dazu keine weitere Gelegenheit erhalten.

Neben den Kaufleuten und Stadtbewohnern waren auch andere Menschen in großer Zahl auf der Straße: gereizte Kinder huschten hin und her, angeheizt durch das Gefühl bevorstehender dramatischer Ereignisse; Taschendiebe gingen unter der verstärkten Gegenwart der kaiserlichen Polizei ihrem Geschäft nach, Bettler und Krüppel und alle anderen Arten von Almosensuchern säumten die schmutzigen Gassen und hofften, aus dem angewachsenen Verkehr Gewinn zu ziehen, der indessen keineswegs zu anwachsender Freigiebigkeit führte. Wie in allen siebenundzwanzig sorboldischen Provinzen gab es auch hier überall Soldaten. Ihre Zahl und ihre Präsenz nahmen jeden Tag zu.

Auch eine weitere Gruppe konnte man an Markttagen in größerer Menge sehen: Pöbler und Randalierer. Manche waren nur Taugenichtse, manche ehemalige Mitglieder des kaiserlichen Heeres; sie bildeten eine regelrechte Kaste, die ganz Sorbold durchdrang; es waren menschliche Wesen, deren einziger Daseinszweck darin zu bestehen schien, das Elend anderer Menschen zu vergrößern. Diese Lümmel waren zwar in der Regel harmlos, aber ärgerlich; sie stromerten durch die Straßen von Jierna’sid vom Platz der Waage bis zu den äußersten Randbezirken des Stadtteils der Kaufleute, gingen Polizisten und Soldaten aus dem Weg, belästigten jedoch Passanten, rempelten gut gekleidete Männer an, geiferten Frauen hinterher oder begrapschten sie und bedrohten Kinder, was bei diesen Rüpeln Stürme von Gelächter hervorrief, die man noch viele Häuserblocks entfernt hören konnte.

An diesem Markttag geriet ein solcher Lümmel zufällig in eine Gruppe schlafender Bettler, die sich unter ein paar zerfetzten Lumpen in einer lichtlosen Gasse zusammengekauert hatten und nach saurem Bier stanken.

Hallo!, dachte der Lümmel und war zufrieden mit seinem Fund. Er schlenderte hinüber zu den schlafenden grauen Männern und stieß den ersten mit dem Fuß an. Als sich der Mann nicht regte, trat der Lümmel ihn heftiger.

»Wach auf, du stinkender Säufer! Hau ab von der Straße und geh mir aus den Augen. Es tut mir weh, solche wie euch die Straßen des Herrschers beschmutzen zu sehen. Haut ab, oder ihr werdet euer blaues Wunder erleben.«

Der Mann erwachte und sah ihn mit entsetzten, blinden Augen an, in denen sich das Morgenlicht und die Angst vor dem Peiniger spiegelten.

»Bitte, bitte, Herr«, murmelte er, als befinde er sich in den Fängen des Wahnsinns. »Bitte nicht ins Heer. Hab da mein Augenlicht verlorn. Will’s nicht noch mal tun.«

Der Rüpel lachte laut auf. Er warf einen genaueren Blick auf die beiden anderen Bettler. Beide waren lahm; der eine schlief noch, der andere wachte gerade mit einem Ruck auf. Der Rüpel zielte mit dem Fuß auf den Kopf des Erwachenden.

»Ich hab gesagt, steh auf, du Bett...«

Ihm blieb das Wort im Halse stecken, als die Hand des schlafenden Bettlers wie ein Blitz hervorschoss. Sie packte ihn am Fußgelenk und riss so heftig an der Wade, dass der Angreifer das Gleichgewicht verlor. Er fiel rücklings auf das Steinpflaster der Gasse und schlug schwer mit dem Kopf auf.

Benommen versuchte der junge Mann aufzustehen, doch eine unnachgiebige Hand wie aus Eisen packte ihn an der Kehle.

Bevor er wusste, was ihm geschah, wurde er bereits über die kalten, unebenen Steine der Gasse gezerrt, bis er sich Auge in Auge mit dem Bettler befand. Solche Augen hatte er noch nie gesehen. Sorbold war eine Nation der Dunkelhäutigen, deren Augen fast immer braun wie die Erde waren. Doch diese Augen hier waren himmelblau und brannten heller und heißer als die Feuer in den Straßenlaternen, die Jierna’sid bei Nacht erleuchteten. Der Bettler spuckte ihm ins Gesicht; es stank sauer nach schlechtem Bier und schmutzigen Zähnen.

»Hast du nichts Besseres zu tun, als die Unterdrückten zu belästigen, du Schurke?«, sagte der abgerissene Mann verächtlich. Er schlug den Kopf des jungen Mannes gegen die Wand, an der die Bettler gelehnt hatten, und tastete mit der anderen Hand nach dem Rest schalen Biers in der zerbeulten Schüssel, aus der sie getrunken hatten. Er schüttete es dem Lümmel vor die Beine. Dann zog er das Ohr des benommenen jungen Mannes an seine Lippen.

»Jetzt ist der Augenblick in deinem Leben gekommen, an dem du dich entscheiden musst, entweder erwachsen zu werden und ein Mann zu sein, oder du unterschreibst dein eigenes Todesurteil als streitsüchtiger Narr, der sich bei seiner Mutter dafür entschuldigen sollte, auf der Welt zu sein, und den bald ein peinliches Ende ereilen wird. Du kannst diesen Ort verlassen, nach Hause gehen, deine Kleidung wechseln und von nun an damit aufhören, alte Männer zu belästigen, die dir nichts Böses getan haben, oder du trommelst deine Gefährten zusammen und kommst mit ihnen zurück. Wenn du die zweite Möglichkeit bevorzugst, solltest du zwei Dinge im Gedächtnis behalten: Erstens wirst du ihnen erklären müssen, warum du dich bepisst hast. Zweitens wirst du mich nicht mehr hier finden – aber sei versichert, dass ich dich finden werde. Falls du den Zorn des Bettlers mit den blauen Augen nicht auf dich lenken möchtest, solltest du die erste Möglichkeit wählen.«

Er schlug den Jungen noch einmal mit dem Kopf gegen die Wand und ließ ihn dann auf die Straße sinken.

»Geh«, befahl er mit der dröhnenden Stimme eines Offiziers des Heeres.

Der Junge kämpfte sich benommen auf die Beine und stolperte aus der Gasse. Ein Chor entsetzten Gelächters begrüßte ihn an der Straßenecke.

Anborn wartete, bis der Lärm jenseits der Gasse erstorben war, dann suchte er unter den Fetzen seines Umhangs nach den Krücken.

»Wir suchen uns eine andere warme Straße, Freunde«, sagte er zu dem blinden Bettler und dem lahmen Mann. Er sah zu, bis die beiden unter gegenseitiger Hilfe die Straßenecke erreicht hatten Dann erhob er sich ächzend, humpelte an den Mauern entlang und suchte sich einen anderen Platz zum Beobachten.

Da er sich immer in den Schatten hielt, um jede Aufmerksamkeit zu vermeiden, dauerte es mehrere Stunden, bis er sich näher an den Palast von Jierna Tal herangearbeitet hatte, der sich oberhalb des Platzes der Waage dunkel vor dem Winterhimmel abzeichnete. Anborn hatte die Waage schon oft gesehen, doch etwas war nun anders an ihr – etwas, das er nicht benennen konnte. Vielleicht war es nur die Weise, wie das Licht auf sie traf und sich ihre langen Schatten über die Straßen legten. Es war jedoch auch möglich, dass das, was er während seines Aufenthalts in Sorbold gesehen hatte, einen Schatten des Makels über die gesamte Nation warf.

Wie er befürchtet hatte, gab es überall in Sorbold Anzeichen für Kriegsvorbereitungen. Die Kasernen, die früher nur in den Grenzbezirken und entlang der Durchgangsstraßen gestanden hatten, breiteten sich im ganzen Land aus; beinahe in jedem Häuserblock der Stadt war ein Posten errichtet worden. Alles geschah sehr verhalten; vielleicht hätte es jemand, der vorher noch nie in Jierna’sid oder den anderen sorboldischen Stadtstaaten gewesen war, nicht einmal bemerkt. Doch Anborn erkannte die Signale der Aufrüstung; der schrecklichste aller Kriege hatte ihn dafür empfänglich gemacht.

Und was er sah, ließ ihn erzittern.

Schließlich fand er ein warmes Eckchen unter einer kleinen Gerberei gegenüber dem Palast. Hier würden die Dämpfe und der Gestank eine mögliche Patrouille davon abhalten, allzu genau nachzuschauen. Von diesem Versteck aus konnte er beobachten, wie die Quartiermeister Rüstungen zur Reparatur hereinbrachten, was ihm weitere Aufschlüsse über Truppenbewegungen verschaffte. Er wartete, bis es dunkel war und die Gerberei geschlossen hatte, dann kroch er in die kleine Ecke und machte es sich dort so bequem wie möglich, so wie er es in allen Unterschlüpfen zwischen Jierna’sid und Ghant getan hatte. Er hielt Wacht und schrieb auf, was er sah. Nielash Mousa stand in der Stille der Morgendämmerung vor den Ruinen des Klosters und des Küsterhauses. Er wusste, dass sich die Tauperiode ihrem Ende näherte. Sogar die Wüste von Sorbold hatte einige Schneeflocken gesehen, die der reinigende Wind mitbrachte, der über die versengten Steine peitschte und die Asche in wirbelnden grauen Mustern umherblies.

Talquist stand hinter ihm und hielt den Kopf ehrerbietig geneigt.

»Eine furchtbar schreckliche Tragödie, Euer Ehren«, sagte er leise und drückte die Schulter des Segners mitleidig.

»In der Tat«, gab Mousa zurück. Der Blick seiner dunklen, von Asche und Tränen jedoch geröteten Augen ruhte auf dem bizarr geformten Metallteich, der einmal die Glocke des Hauses gewesen war. Er erinnerte sich an ihren klaren Klang, der durch die Berge gehallt war und die Priester sowie den Abt zum Messdienst nach Terreanfor gerufen hatte.

Er bemühte sich, gelassen zu bleiben und nicht unter dem Griff des Herrschers zusammenzuzucken. Sein Gesicht zeigte reine Trauer und enthüllte nichts von der Wut und dem Hass, die in ihm schäumten und wie Pulis, der sagenhafte Säuresee in der Gruft der Unterwelt, an seinen Eingeweiden fraßen. Angeblich wurden Verräter auf ewig in diesen Pfuhl getaucht. Möge die Legende stimmen und dein Schicksal beschreiben, Talquist, dachte er verbittert.

Als ob der Herrscher seine Gedanken gelesen hätte, drückte er Mousas Schultern noch fester.

»Ich weiß, dass dies ein schrecklicher Schlag für Euch ist, Euer Gnaden. Deshalb habe ich Vorkehrungen getroffen, die Euch die Trauer erleichtern werden. Euer Orden und Euer Kloster werden wiederhergestellt.«

Mousa drehte sich um und erwiderte den Blick des Herrschers. Hinter dem Mitleid in Talquists schwarzen Augen erkannte er einen kritischeren Ausdruck, ein durchdringendes Starren, das die Reaktion des Segners genau beobachtete und auf ihre Wahrhaftigkeit prüfte.

»Was für Vorkehrungen?«, wollte er wissen.

Talquist lächelte schwach. »Vorkehrungen aller Art, Euer Gnaden«, erwiderte er mit warmer und respektvoller Stimme, in der jedoch ein eisiger Unterton mitschwang. »Ihr braucht natürlich einen Ort, wo Ihr leben könnt, bis Euer neues Haus errichtet ist. Daher habe ich mir erlaubt, Euch in Jierna Tal unterzubringen, wo meine Diener und Wachen Euch jederzeit zur Verfügung stehen.«

»Wie freundlich von Euch«, sagte der Segner trocken.

»Und sicherlich möchten wir neue Priester und Messdiener anwerben.«

Nielash Mousa hob eine Braue. »Wir? Ich wusste nicht, dass Ihr Interesse an Glaubensdingen habt, Herr.«

Der Herrscher öffnete die Hände in einer versöhnlichen Geste. »Wie ungeschickt von mir; ich bitte um Entschuldigung. Ich vermute, Lasarys – möge der All-Gott ihn sanft im Nachleben in den Armen wiegen – hat Euch nicht gesagt, dass ich vor vielen Jahren unter ihm selbst Hilfspriester in Terreanfor war?«

»Ich verstehe«, meinte der Segner. »Welch ein Verlust für den Orden, dass Ihr seinem Ruf nicht gefolgt seid, mein Sohn.«

Talquist warf den Kopf zurück und lachte freudig, doch sein durchdringender Blick verlor nichts von seiner Schärfe.

»Ja, ich vermute, das wäre der Bezeichnung Kaiser vorzuziehen gewesen«, meinte er fröhlich.

Der Segner lächelte milde und machte dieselbe versöhnliche Geste wie Talquist kurz zuvor.

»Nun, einige von uns glauben das wirklich, Herr.«

Der Wind pfiff von den Bergen herunter; er brachte den scharfen Geruch von Asche mit und trug die Höflichkeiten der beiden Männer davon.

Talquist brach als Erster das Schweigen.

»Da die neuen Priester in meinem Haus wohnen und viele von ihnen bei meiner Throneinsetzung im Frühling dienen werden, möchte ich dafür sorgen, dass wir eine so fähige und treu ergebene Ernte wie möglich einfahren und ihre Ausbildung unverzüglich beginnt. Ich habe mir die Freiheit erlaubt, ein Bittgesuch an den Patriarchen mit dem Siegel Eures Amtes zu schicken, damit die Rekrutierung so schnell wie möglich beginnen kann.«

»Habt Ihr Euch noch andere Freiheiten in meinem Namen erlaubt, mein Sohn?«, fragte Mousa mit einer Stimme, die allmählich ihre Festigkeit einbüßte.

Talquists Lächeln verhärtete sich.

»Nur solche, die Euch und Sorbold dabei helfen, diesen schrecklichen Verlust zu überwinden, Euer Ehren«, sagte er ruhig. »Durch die Suche nach Euren neuen Hilfspriestern wird eine Menge Verwaltungsarbeit auf uns zukommen; daher habe ich meinen persönlichen Sekretär angewiesen, den gesamten Briefverkehr mit Sepulvarta zu übernehmen. Da Eure Sicherheit und Gesundheit für mich von höchster Bedeutung sind, habe ich zusätzlich angeordnet, dass meine persönlichen Wachen Euch auf all Euren Reisen begleiten, damit Ihr keine Gefahren mehr zu fürchten braucht.« Er beugte sich leicht zu dem Segner vor. »Ich kann verstehen, wie sehr Ihr Euch wegen dieses schrecklichen Ereignisses um Euer Wohlergehen sorgt, was ein völlig nachvollziehbarer, aber unnötiger Gedanke ist. Wenn das Schicksal zuschlägt, geraten die Menschen oft in Panik und werden ängstlich.«

Er betrachtete die Ruine des alten Glockenturms und sah dann wieder den Segner an. »Sie treffen unkluge Entscheidungen.«

Der Segner von Sorbold nickte schweigend.

»Gut«, sagte Talquist. »Ich will noch einmal mein tiefstes Mitgefühl angesichts Eures Verlustes aussprechen, Euer Ehren, und Euch versichern, dass ich Euch in jeder Hinsicht helfen werde. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass Sorbold aus diesem Verlust gestärkt hervorgeht und wir gemeinsam eine bessere Nation schaffen werden.«

»Ich werde darum beten, dass sich Eure Worte erfüllen, mein Sohn«, sagte Nielash Mousa, ergriff seinen Wanderstab und bedeckte den Kopf mit der Kapuze seiner Robe. »Vielen Dank für all Eure Bemühungen.«

»Es ist mir ein Vergnügen, Euch zu dienen, Euer Ehren«, sagte Talquist glatt. »Schließlich werdet Ihr bei meiner Thronerhebung amtieren. Daher muss ich bis dahin für Eure Sicherheit und Euer Wohlergehen sorgen.«

Der Segner lächelte. »Natürlich. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr Eurer Wache befehlt, mich nach Terreanfor zu begleiten, denn ich muss dort für die Seelen der verschiedenen heiligen Männer und für die ganze sorboldische Nation meine Gebete darbringen. Bitte sorgt für mehrere Wachablösungen, denn der Gottesdienst wird recht lang sein. Ich muss die Segensgebete für jeden Einzelnen sprechen, und wie Ihr wisst, sind viele Priester ums Leben gekommen. Und Sorbold ist eine große Nation.«

»Selbstverständlich. Betrachtet Euren Wunsch als gewährt, Euer Ehren.« Talquist gab dem Hauptmann der Wache ein Zeichen. »Eskortiert Seine Gnaden zur Erd-Basilika und stellt sicher, dass seine Gebete nicht unterbrochen werden. Niemand darf ohne meine ausdrückliche Genehmigung die Basilika betreten.« Der Wächter nickte und zog sich zurück.

»Vielen Dank, mein Sohn«, sagte Nielash Mousa, als sich die Soldaten um ihn aufstellten. »Mögen Eure Taten Euch hundertfach vergolten werden.«

Er verneigte sich leicht und ging davon. Beide Männer verstanden die Bedeutung der Worte des anderen genau.

45

Das Wachregiment folgte dem Segner von Sorbold auf der langen Wanderung zum Nachtberg, in dem Terreanfor versteckt lag. Der Weg führte über einen breiten Pass im trockenen Gebirge und schien sich auf ewig fortzusetzen.

Am Mittag schließlich erreichten sie den einzigen Eingang zur Basilika, eine in den Berg geschnittene, tief liegende Tür unter einem großen Vorsprung, der sicherstellte, dass kein Sonnenlicht in das Innere fiel. Neben der Tür befand sich ein großer, flacher Zeremonialstein. Der Segner gab zwei Wächtern ein Zeichen. Einer der beiden war widerstrebend dazu bestimmt worden, das goldene Symbol der Sonne auf einer langen Stange zu tragen, der andere hatte eine Flasche mit heiligem Öl in der Hand. Gewöhnlich wurde der Ritus von zwei Priestern Terreanfors durchgeführt, also blieb den Wachen nichts anderes übrig, als für sie einzuspringen. Der Segner schenkte ihrer offensichtlichen Verärgerung und ihren bösen Mienen keine Beachtung; sein Gesicht erstarrte zu einer Maske der Feierlichkeit. Er bedeutete dem ersten Soldaten, vorzutreten und das goldene Symbol auf den Stein zu legen, was dieser tat und so rasch zurückwich, als fürchte er aufgrund seiner Nähe zum Heiligen die göttliche Strafe. Dann griff der Segner nach dem Öl und goss es über das goldene Symbol. Er machte einen Schritt zurück und wartete darauf, dass die Sonne das Öl in die einzige Art von Feuer verwandelte, das in abgeschirmten Laternen in der Basilika erlaubt war.

Während der Segner wartete, beobachtete er belustigt aus dem Schutz seiner Robe die wachsende Langeweile und Verärgerung der Wachen. Bemerkenswert, dass man auf einem Gebirgspass oder in einer Kolonne tagelang Wache stehen kann, ohne unaufmerksam zu werden; aber schon wenige Augenblicke zu den Füßen des All-Gottes machen einen so nervös, dass man am liebsten den Posten verlassen würde, dachte er. Nun, ihr sollt nicht allzu lange warten müssen.

Als die Sonne schließlich eine Flamme entfacht hatte, überführte Nielash Mousa das Licht ehrerbietig in eine kleine Zeremoniallaterne. Er zündete sie nur aus Gründen der Tradition an. Da er in Terreanfor aufgewachsen war, fand er auch im Dunkeln und mit geschlossenen Augen den Weg durch die Basilika.

Sobald der Docht Feuer gefangen hatte, wandte sich Nielash Mousa an die Wachen.

»Vielen Dank für eure Hilfe, meine Söhne«, sagte er gnädig. »Nun werde ich meine Gebete sprechen und die Begräbnisriten durchführen. Da dies viel länger als eure Wache dauert, sage ich euch Lebewohl.«

Die Soldaten nickten, gingen fort und nahmen ihre Position neben der Tür der Basilika ein. Der Segner duckte sich unter den Vorsprung, murmelte die Worte der Öffnung und betrat die Basilika. Langsam und leise schloss er die Tür hinter sich.

Sofort hörte er das Lied der Erde aus den Tiefen der Basilika – die langsame, melodische Schwingung des Herzschlags der Welt. Dieser Klang hallte in seiner Seele wider, wie es seit dem ersten Augenblick der Fall gewesen war, als er ihn bemerkt hatte. Der Ton war so tief und flüchtig, dass er ihn in den ersten Jahren, die er in der Basilika verbracht hatte, gar nicht wahrgenommen hatte. Nun erkannte er ihn sofort; er war wie die Stimme seiner Mutter, die ihn mit dem Herzen rief.

Als er endlich in seinem geliebten Allerheiligsten war, brach der Segner zusammen. Er fiel hinter der Schwelle auf die Knie und beweinte die Männer, die unermüdlich und mit derselben Liebe zur dunklen Erde wie er hier gedient hatten, die neben ihm gebetet und über diese letzte Enklave des Schöpfers Wache gestanden hatten – über das uranfängliche Element, aus dem die Welt selbst gemacht war.

Die Erde weinte mit ihm.

Als er schließlich nicht mehr weinen konnte, erhob sich Nielash Mousa langsam, und mit dem Zögern des Alters ging er den Tunnel hinunter, der in die eigentliche Basilika führte.

Hier im Innern der Erd-Kathedrale machte das trockene, steinige Äußere, das von der Hitze der Oberwelt verbrannt war, dem frischen, kühlen Duft feuchter, lebendiger Erde Platz. Die Hitze der sorboldischen Wüste löste sich auf und wurde von kälterer, lebensschwerer Luft ersetzt. Das Licht in der Hand des Segners wurde von den glatten, sauberen Wänden zurückgeworfen, die mit prächtigen Wirbeln und Streifen aus tiefem, reichem Braun, Gold und Zinnoberrot, Grün und Purpur durchzogen waren. Es waren die Lebensfarben, die aus der uranfänglichen Welt hervorgekommen waren und an der Oberfläche in Gestalt von Blumen und Getreide, Gras und Trauben und all den anderen äußerlichen Anzeichen dafür erblühten, dass die Erde tief unter der Kruste lebendig war.

Der Lärm der Oberwelt verschwand; es blieb nichts zurück als Schweigen und der hallende Gesang der Erde, der mit jedem Schritt, den er in die Basilika tat, lauter wurde. Er folgte dem Lied unter dem hohen Bogen hindurch, der zum Vorzimmer der Schwestern und zu den Altären von drei anderen Elementen führte. In dem gewaltigen runden Zimmer befanden sich eine Nische, die eine Öffnung zu einer Flammenquelle aus dem Mittelpunkt der Erde hatte und das Element des Feuers ehrte, ein sprudelnder Strom zu Ehren des Wassers und eine gefangene Windbö, die auf ewig das Element der Luft pries. Die vierte Schwester, das Element des Äthers, fand sich tiefer in der Basilika, wo keinerlei Licht hindrang; hier spendeten glimmernde Felsen und Organismen, übrig geblieben von der Geburt des Universums, ein kaltes Licht.

Der Segner löschte seine Laterne und tauchte das Vorzimmer in angemessene Dunkelheit.

Er nahm seinen Weg durch das äußere Heiligtum, unter den riesenhaften Säulen aus Lebendigem Gestein in Form großer Bäume voller irdener Vögel, an den Statuen gewaltiger Elefanten und Gnus, Gazellen und Löwen vorbei, unter dem Bogen hindurch, der von titanischen Soldaten bewacht wurde, von denen einer fehlte, wie er mit Entsetzen feststellte, und betrat rasch das innere Heiligtum, den heiligen Altar aus elementarer Erde. Er hörte das Lied daraus in der Dunkelheit hervorkommen; es war eine so schmerzhafte Trauerklage, dass es ihm wieder die Tränen in die Augen trieb.

Die Basilika, seine Basilika war verwüstet worden.

Me wieder, dachte er und schüttelte den Kopf, während er sich vor dem Altar tief niederbeugte. Me wieder.

Die Worte des Patriarchen klangen ihm in den Ohren.

Nielash Mousa, warte. Schütze Terreanfor.

Ich verstehe, Euer Gnaden, flüsterte er noch einmal.

Mit trockenen Augen und entschlossenem Gesichtsausdruck sang der Segner und öffnete dabei seinen Geist und den elementaren Altar für die Bitten, welche die Sorbolder Gemeinde an ihn gerichtet hatte. Als der Ritus des Empfangens beendet war, begann er mit dem Ritus des Sendens und lenkte die Bitten entlang der Gebetskette nach Sepulvarta, wo der Patriarch sie dem All-Gott darbringen würde.

Als seine Übermittlung zum Ende gekommen war, vollführte der Segner die Begräbnisrituale und die Riten für die Toten. Für jeden der ermordeten Hilfspriester beugte er sich fünfmal über den Altar aus Lebendigem Stein und sang den Segen.

O unsere Mutter Erde, die auf uns wartet unter dem immerwährenden Himmel, beschütze uns, erhalte uns, gib uns Frieden.

Als schließlich auch die letzte seiner priesterlichen Pflichten erfüllt war, ging er durch das innere Heiligtum und schritt die breiten, dunklen Stufen zum Grabmal der sorboldischen Kaiser hoch. Vor weniger als einem Jahr hatte er das Begräbnis der Kaiserinwitwe und ihres Sohnes, des Kronprinzen Vyshla, zelebriert, die in einem Abstand von nur einer Stunde gestorben waren. Damals war ihm der Gedanke, sie könnten ermordet worden sein, nicht gekommen, nun aber gesellte sich dies zu Talquists übrigen Straftaten hinzu.

Es reicht, sang er und eilte die Stufen hoch. Es reicht.

Als Licht in das heilige Dunkel drang, betrat er die Begräbniskapelle an der Basis der Treppe der Gläubigen, die sich hoch zu den Gräbern mit den bleiverglasten Fenstern wand. Es war eine versiegelte Grab-lege, doch Nielash Mousa wusste, dass ein Eindringen durch die Fenster möglich war. Es handelte sich um einen Hintereingang nach Terreanfor und um den einzigen anderen Ort, an dem die im Nachtberg versteckte Kathedrale betreten werden konnte.

Nielash Mousa kniete an der Basis der Treppe der Gläubigen nieder.

Langsam stimmte er ein Lied an und sang Worte, die er vor langer Zeit gelernt hatte. Damals hatte er darum gebetet, er möge sie nie aussprechen müssen. Es waren die Worte des Schließens, Worte der Macht, der Zerstörung, in einer seit langem toten Sprache, die im Geheimen jedem Segner beigebracht wurden, der das Verwalteramt über Terreanfor seit der Errichtung der Kathedrale innehatte. Allen war erklärt worden, dass sie diese Worte nie benutzen durften, es sei denn, es gab keinen anderen Weg, und dann nur, wenn die Basilika selbst angegriffen wurde und die Gefahr bestand, dass sie zerstört oder, schlimmer noch, ihre Magie fehlgeleitet wurde. So etwas war bisher noch nie vorgekommen, nicht einmal in dem Krieg, der den größten Teil des Kontinents entzweigerissen hatte und in dem keine Waffe als zu unheilig angesehen worden war, um benutzt zu werden.

Doch jetzt war die Zeit gekommen.

46

Gwynwald

Die Dunkelheit in der Höhle von Llaurons Körper schien sich zu verdichten.

»Gibt es denn keine Öffnung, kein Loch ....?«

Achmed hob leise die Hand und brachte Rhapsody zum Schweigen. Er schloss die Augen und ließ seiner Gabe des Pfadfindens freien Lauf. Er suchte einen Ausweg, irgendeine winzige Öffnung in dem gewaltigen Steingebilde. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Nichts«, sagte er. »Der Urvater der Drachen hat gewusst, was er tat, als er die Gruft der Unterwelt in seinen Körper einschloss. Wenn es auch nur ein winziges Loch oder eine Spalte gegeben hätte, wären diese gestaltlosen Geister entkommen. Seit tausenden von Jahren ist das aber niemandem gelungen, bis das Schlafende Kind auf die Erde fiel und die Gruft zerschmetterte. Es hat den Anschein, dass Llauron uns durch seinen Rettungsversuch zum Tod durch Ersticken verurteilt hat.«

»Ashe wird bald mit der Kutsche zurückkommen«, sagte Rhapsody. Ihre Augen schimmerten in der Dunkelheit vor aufsteigender Panik. »Er wird uns hier herausholen.«

»Wie? Welche Macht hat Ashe über eine gebrannte Hülle aus elementarer Erde? Etwa größere als Elynsynos?«

Das Bündel in Rhapsodys Armen regte sich; die Stimme des Kindes fing an zu jammern. Achmed sah, wie sich Rhapsodys Gesichtsausdruck völlig änderte; ihre Traurigkeit wurde durch Grauen ersetzt. Sie kämpfte sich schwach auf die Beine und fuhr mit der Hand über die gerippte Steinwand, dann schlug sie dagegen.

»Elynsynos! Hilfe! Elynsynos!«

Sie schlug noch einmal; es verursachte einen dumpfen, erstickten Laut, der vom Geschrei des Kinds übertönt wurde.

Achmed packte ihr Handgelenk und fühlte sich dabei schwindlig. Die Welt drehte sich für einen Augenblick, und er erinnerte sich plötzlich an das erste Mal, als er ihre Hand ergriffen und sie aus ihrem Heimatland in die Eingeweide der Erde gezerrt hatte. Das war ein ganzes Leben weit entfernt.

Er lockerte seinen Griff leicht, weil er ihr keine Schmerzen zufügen wollte, und bemerkte dabei, wie dünn die Haut an ihrem Arm und wie blutleer ihr Gesicht war, als sie es ihm voller Panik zuwandte.

»Psst«, machte er sanft in demselben Ton, in dem er ihr Kind beruhigt hatte. »Spar dir die Luft. Wenn sie noch lebt, weiß sie schon, dass wir hier sind. Rufen hilft nicht.«

Rhapsody sank zurück auf den Boden der Höhle, hielt das weinende Kind fester, und ihre Augen flössen vor Tränen der Verzweiflung über. Sie liebkoste ihr Kind kurz, dann schaute sie plötzlich auf.

»Doch, es hilft«, sagte sie langsam. »Doch, es wird helfen, wenn ich einen Blutsverwandten erreiche. An-born oder Grunthor ... wenn mein Ruf sie auf dem Wind erreicht...«

»Auf welchem Wind, Rhapsody?«, fragte Achmed ruhig.

Er spürte, wie die Atemluft sie zusammen mit der Hoffnung verließ.

»Komm hier herüber«, sagte er und lehnte sich gegen die Wand. »Ihr Lirin geht mit der Luft so verschwenderisch um, weil ihr gewöhnt seid, endlos viel davon zur Verfügung zu haben. Glaube einem Höhlenbewohner: Es ist das Beste, wenn du zu meditieren versuchst. Dann reicht die Luft länger.« Ihre Blicke trafen sich. Das Kind weinte nun schwächer. »Ruhe ist vielleicht das letzte Geschenk, das du deinem Kind machen kannst.«

Er lächelte schwach und versuchte damit, seinen Worten den Stachel zu nehmen.

Rhapsody starrte ihn lange an.

Dann begriff sie.

Sie kam zitternd auf die Knie und kroch zu ihm hinüber, dann lehnte sie sich gegen die Steinwand, die einmal Llaurons Körper gewesen war. Achmed atmete flach, während das Kind verstummte und sich seine kleine Brust langsam hob und senkte. Er legte den Arm um Rhapsody und zog ihren Kopf an seine Schulter.

»Meditiere«, flüsterte er angestrengt. »Versuch es und ... erinnere dich ... an das Beste in deinem Leben. Für ... etwas anderes ... reicht die Luft nicht mehr.«

»Du ... bist eines ... davon«, sagte sie sanft und lehnte sich gegen seine Schulter. Der Kopf wurde ihr schwer.

»Auch wenn wir ... gekämpft haben, ... liebe ... ich ... dich ...«

»Psst«, sagte er noch einmal. »Verschwende ... deinen Atem ... nicht.«

Durch seine Haut spürte er, wie ihr Herzschlag sich verlangsamte, bis er ihn kaum mehr wahrnahm.

Nielash Mousas Kopf summte vor negativer Energie, als er sang. Über dem linken Auge verspürte er einen stechenden Schmerz, und seine Stirn fühlte sich an, als wolle sie sich spalten. Entschlossen machte er weiter, bis das Fundament der Treppe der Gläubigen erzitterte und schließlich zusammenbrach. Die obere Gruft mit den Grablegen und Bleiglasfenstern war nun von der Außenwelt abgeschnitten.

Benommen ließ er sich in der vollkommenen Dunkelheit auf dem Boden nieder. Reglos saß er da, bis er seine Sinne wieder beisammen hatte und sie auf den Gesang der Erde richtete, der nun in Moll ertönte.

Dann ging er matt zu dem gewaltigen Schutthaufen, der einmal eine Wendeltreppe gewesen war, und untersuchte ihn.

Sobald er sich vergewissert hatte, dass das Siegel unbeschädigt war und die Basilika nie wieder auf diesem Weg betreten werden konnte, ohne dass die Kuppel der Grablege über dem Eindringling zusammenbrach, ging er zurück zu der breiten Treppe, durch das innere und äußere Heiligtum und an der Vorkammer der Drei Schwestern vorbei, bis er vor dem einzigen Ort im Nachtberg stehen blieb, an dem man die Basilika noch betreten konnte.

Die Vordertür.

Verstohlen spähte er über die trockene Steinschwelle an den gelangweilten Wachen vorbei und warf einen letzten Blick auf das Sonnenlicht, das er nie wieder sehen würde. Da war es, verschwommen hinter Schneeflocken. Still sagte ihm der Segner Lebewohl.

Er wandte dem Licht der Oberwelt den Rücken zu und begab sich wieder zu dem Altar aus Lebendigem Gestein. Leise sang er die Worte der Schließung. Die Verbitterung erstickte ihn beinahe, denn diese Worte waren das genaue Gegenteil des Liedes, welches die Kathedrale ins Dasein gerufen hatte: das heilige Gebet, das Terreanfor zum ersten Mal der Menschheit entdeckt hatte – oder zumindest jener Menschheit, die in der Lage war, Geschichte aufzuzeichnen. Er versuchte nicht an den Augenblick jener Entdeckung zu denken, als die Lebendige Erde zum ersten Mal in all ihrer dunklen und heiligen Schönheit zu sehen gewesen war, denn dieser Verlust war unermesslich.

Schütze Terreanfor. Der Patriarch hatte Leben und Seele dabei riskiert, die Gebetskette umzudrehen und diese Worte so auszusprechen, dass der Segner von Sorbold sie hören konnte.

Nielash Mousa kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit, die zerreißenden Schmerzen und den einsetzenden Blutfluss aus Nase und Augen an und sang weiter, bis der gesamte Eingangsbereich hinter dem Vorzimmer der Schwestern und mit ihm ein großer Teil des Nachtberges einstürzte und die Wachen unter einem Erdrutsch begrub. Er selbst war nun im Innern der Basilika gefangen.

Sie war für alle Zeiten versiegelt.

Tief im Innern eines fernen Berges holte in einem Gebiet, das an Sorbold grenzte, das letzte lebende Erdenkind tief Luft. Das Fieber, in dem es gelegen hatte, verschwand; die glatt polierte Haut auf der Stirn schimmerte.

Sofort fiel es in einen tiefen Traum.

Rhapsody fuhr mit zitternden Fingern durch Meridions welliges Haar. Sie war zu schwach zum Singen und summte stattdessen nur den Ton ihres eigenen Namens, ela, der sechste Ton der Tonleiter, der Neubeginn, und hoffte, dass er dem Kind ein wenig Kraft oder zumindest Beruhigung verschaffte.

Sie dachte an die Zeit zurück, als dieser Ton ihr selbst Trost gespendet und sie an den Stern erinnert hatte, unter dem sie geboren war, sowie an das Band zu ihm, obwohl sie damals mitten in der Erde gesteckt hatte und an der Axis Mundi entlang gekrochen war. Die Luft in der Höhle wurde immer dünner. Ihr war warm, und sie fühlte sich schwindlig. Sie redete sich ein, sie krieche immer noch an der Wurzel entlang und bekämpfe das Ungeziefer, das sich von ihr nährte; sie kämpfe um ihr Überleben, bringe Grunthor das Lesen bei, während er sie den Schwertkampf lehrte, und folge Achmed, der sie durch die endlosen Tunnel der Dunkelheit führte und dabei auf seine Gabe des Pfadfindens vertraute.

Ich habe ihm diese Gabe verschafft, dachte sie, als Meridion nach Luft schnappte. Tränen, die sie nicht bemerkte, fielen auf seine dünne Haut. Wie hatte ich ihn noch gleich benannt, damit er unverletzt durch das Feuer im Erdmittelpunkt schreiten konnte? Die Dunkelheit schien dichter zu werden. O ja, unfehlbarer Fährtenleser, Pfadfinder. Firbolg, Dhrakier, Mörder, Erstgeborener.

Mein Freund.

Ihr war so schwindlig, dass sie nicht den Kopf drehen konnte, doch sie spürte, dass sein Blick auf ihr ruhte. Er konnte in der Dunkelheit sehen, so wie jeder Höhlenbewohner. Sie dachte an Grunthor und daran, wie leicht er durch Tunnel und Höhlen gehen konnte, und an den Namen, den sie ihm gegeben hatte, damit er ebenfalls in Sicherheit das Feuer durchqueren konnte.

Spross des Sandes unter freiem Himmel, Sohn der Höhlen und der finsteren Lande. Bengard, Firbolg. Sergeant-Major. Mein Ausbilder und Beschützer. Herr der tödlichen Waffen. Oberste Autorität, der unbedingt Gehorsam zu leisten ist. Treuer Freund, stark und zuverlässig wie die Erde selbst. Diese Benennungen hatten Grunthor an die Erde gebunden und ihm erlaubt, ihren Herzschlag in seinem eigenen zu verspüren.

Trotz ihrer Benommenheit kam ihr ein Gedanke.

Er ist immer noch an die Erde gebunden, dachte sie verworren. Elynsynos hatte einmal gesagt, dass die Firbolg einer Paarung der Erdenkinder entstammten, und zwar des Schlafenden Kindes mit Kith, der Erstgeborenen-

Rasse, hervorgegangen aus dem elementaren Wind. Der Name selbst, Firbolga, bedeutete Wind der Erde. Also hatte er von Geburt an eine Beziehung zu ihr, dachte sie.

Unter großen Mühen brachte sie den Kopf ihres Sohnes an ihre Lippen.

Wind der Erde. Die Worte wurden lauter, als sie sie von irgendwo anders hörte – oder von jemand anderem. Plötzlich lichtete sich die Dunkelheit.

Nachdem die Umgebung von Ylorc gesichert war, ging Grunthor den unterirdischen Gang durch die Dunkelheit zum Loritorium und zitterte vor Angst, was er dort nach dem Angriff der Drachin vorfinden mochte.

Als er auf dem Hügel aus Schutt stand, der letzten Barriere zwischen der Oberwelt und dem Kind der Erde, umspielte sein Gesicht ein kühler Luftzug aus der unterirdischen Kammer, ein Erdenwind, der ein Gefühl der Beruhigung mit sich brachte, wie er es seit langem nicht mehr verspürt hatte.

Er schritt die Moräne so leise wie möglich hinunter und näherte sich dem Grab.

Ein Ausdruck der Erleichterung legte sich über sein breites Gesicht.

Das Kind schlief noch ungestört; das glatte Gesicht aus poliertem Stein war kalt und trocken, und die Augenlider bewegten sich nicht. Die eingesunkenen Stellen um die Gesichtsknochen waren verschwunden, das Schrumpfen des Körpers hatte aufgehört. Der Atem ging leise und gleichmäßig und stand im Einklang mit dem schlagenden Herzen der Erde, das Grunthor in seiner Seele spürte. Er hätte nicht beschreiben könnte, was er beobachtete, doch die Rückkehr der Gesundheit in die unterirdische Kammer, die schon so viel Zerstörung erlebt hatte, war unübersehbar.

Er beugte sich vorsichtig über das Kind und drückte ihm die aufgeworfenen Lippen gegen die Stirn. Sie war kühl, und die Anspannung war fort.

»Ich wünsch dir süße Träume, mein Lieb«, flüsterte er.

Rhapsody bemühte sich, aufrecht zu sitzen. Sie legte Meridion vorsichtig in Achmeds Schoß und sah, wie er überrascht die Hände um das Kind schloss. Dann wandte sie sich wieder der Wand zu, die einmal der Körper ihres Schwiegervaters gewesen war, eines freundlichen, gelehrten Mannes, dessen Verlangen, die Fehler seiner Jugend und seiner Familie wieder gutzumachen, ihn von der Familie getrennt hatten, deren Gedeihen er so gern zugeschaut hätte.

Nun war er nur noch ein Gefäß aus gebrannter elementarer Erde.

Ihre Hände zitterten, als sie die Wand berührte.

Aus ihrer Kehle drang ein Laut, den Achmed nie zuvor gehört hatte. Es war ein harsches, kehliges Geräusch, das gegen seine empfindlichen Ohren trommelte und tief aus ihrem Innern kam. Zuerst erkannte er die Worte nicht, denn der Lärm war so misstönend und rau. Einen Moment später begriff er, dass sie sang. Auf Bolgisch.

»Beim Stern«, sang Rhapsody mit tiefer Kehle, »werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.«

Sie ruft nach einem Blutsverwandten, bemerkte er geistesabwesend und schaute auf das winzige Kind in seinen Armen. Das ist eine Verschwendung von Zeit und Luft. Aber der Versuch, sie aufzuhalten, könnte noch mehr davon verschwenden. Soll sie sich doch an ihre wertlose Hoffnung klammern, es ist gleichgültig.

»Grunthor«, sang sie mit der gleichen rauen Schwingung, die schon beinahe ein Jammern war, »stark und ...

verlässlich wie ... die Erde ... selbst.«

Nichts geschah.

Achmed bekam von diesem Lärm Kopfschmerzen.

»Hör auf damit, Rhapsody«, murmelte er.

Sie schüttelte den Kopf, hielt sich immer noch an der Wand fest und wiederholte den Gesang unermüdlich mit tiefer Kehle. Sie schien eine Ewigkeit lang zu singen, bis Achmed Sterne sah.

Die Dunkelheit holte ihn.

47

Anborn hörte das Kreischen trotz des gewaltigen Lärms in der Gerberei.

Die Nacht brach herein, und die Stadt Jierna’sid stellte ihre erlaubten Geschäfte für heute ein. Zu solchen Zeiten wagte der Marschall zu schlafen, denn die späteren Stunden, in denen die schändlicheren Unternehmungen der Stadt offenbar wurden, gehörten zu seinen wichtigsten Wachzeiten. Daher befand er sich gerade in unruhigem Schlummer in seiner Kammer unter dem Ledermachergeschäft, als Faron in die Stadt zurückkehrte.

Der Riese war am entgegengesetzten Ende der Hauptstraße aufgetaucht, die Jierna’sid unterteilte und nach Jierna Tal führte.

Zuerst bemerkte die Bevölkerung von Jierna’sid bei ihrer Vorbereitung auf die Nacht den Kampflärm nicht. Die Händler schlössen ihre Geschäfte, die Soldaten gingen Patrouille, die Arbeiter wollten im schwindenden Licht noch das eine oder andere fertig bekommen. Doch Anborns Ohren waren empfindlicher; der Grund dafür lag sowohl in seinem Drachenerbe als auch in den Jahrhunderten militärischer Führerschaft. Beinahe sofort erkannte er den Lärm einer Panik.

Als er sich endlich zur Öffnung seines Unterschlupfes gezogen hatte, war auch der Stadt inzwischen klar geworden, dass etwas ganz und gar nicht stimmte – und dass etwas auf sie zukam.

Vor dem Westtor der Stadt ragte ein Schatten auf, ein gewaltiger Schatten, der im schwindenden Licht die Farbe der Wüstenerde angenommen hatte. Anborn spürte sein Näher kommen in den Erschütterungen, die durch die gepflasterten Straßen liefen.

Bei der Unterwäsche Gottes, dachte er, was kann an diesem Ort des alltäglichen Grauens so schrecklich sein?

Die Antwort erhielt er einen Augenblick später durch das Zischen der Bogensehnen und die gebrüllten Befehle einer ganzen Kohorte, die von den Kasernen bei Jierna Tal auf das Westtor zulief.

Schreie zerrissen die Luft, als die Soldaten, die beim Westtor stationiert waren, den gigantischen Mann angriffen. Seinem Äußeren und den groben Gesichtszügen nach schien es ein Soldat aus einer primitiven Rasse zu sein. Die Augen hatten einen milchigen Überzug und waren starr auf den Palast von Jierna Tal gerichtet. Der Angriff ging in einer gewaltigen Blutfontäne unter; Körper flogen nach rechts und links, stießen mit Ochsenkarren zusammen, wurden zerschmettert, und ihre Glieder wurden so mühelos abgerissen, als seien sie Spreu vor dem Drescher.

Von seinem Platz unter der Gerberei beobachtete Anborn, wie der Schatten an ihm vorbeiging und gerade lange genug anhielt, um einen zurückgelassenen, mit schweren Fässern beladenen Müllerkarren hochzuheben und in das Fenster eines hundert Schritt entfernten, eleganten Geschäfts zu schleudern. Im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung, die entweder erstarrt am Straßenrand stand oder sich wie Blätter im Sturm zerstreut hatte, erkannte er etwas in der Färbung des gebückten Riesen, was niemand anderes bemerkt hatte. Dieser Anblick führte dazu, dass der alte Kriegsheld, der General von Gwylliams Heer im cymrischen Krieg, der Marschall des cymrischen Bündnisses und Krieger der Bruderschaft der Blutsverwandten, zunächst vor Entsetzen erstarrte und dann ein gemurmeltes Gebet herauspresste.

Denn Anborn sah, dass das Gesicht aus Lebendigem Gestein bestand.

Nachdem er mehr als genug gesehen hatte, wartete er, bis der Titan die Tore von Jierna Tal zerschmettert hatte. Dann zog er sich inmitten der Verwirrung, die durch die Straßen wogte, unter der Gerberei hervor, stahl ein reiterloses Pferd und bahnte sich in aller Hast einen Weg zurück nach Haguefort.

Auch Talquist hörte die Schreie.

Er befand sich mitten bei einem angenehmen Abendessen, als der Lärm durch die Fenster seines Balkons drang. Es hatte als schriller, ferner Chor begonnen, steigerte sich aber rasch zu einer Kakophonie, die bei ihm zu plötzlicher Magenverstimmung führte.

Erzürnt erhob er sich von seinem Mahl, warf die Leinenserviette heftig auf den Boden und ging hinüber zum Balkon. Er riss die Türen auf und trat in die kalte Luft.

Vom Balkon aus sah er die Welt unter sich dem Wahnsinn verfallen.

Die Höhe der Terrasse ermöglichte ihm einen schrecklichen Ausblick auf die Straßen von Jierna’sid, die aus der Luft wie ein Gitternetz wirkten. Die Hauptstraße schleppte sich ein menschlicher Schatten entlang. Da man ihn aus dieser Entfernung erkennen konnte, musste er ungeheuer groß sein. Um ihn liefen winzige menschliche Gestalten in Ameisengröße herum. Einige rannten davon, andere hasteten auf ihn zu, nur um wenige Sekunden später durch die Luft geschleudert zu werden. Einige waren erfolgreich in ihrer Flucht, andere nicht. Talquist verlor vor Schreck sein Wasser; es floss auf den Boden des Balkons.

Es gab keinen Zweifel an dem, was da auf ihn zukam.

Im nächsten Augenblick schrie er bereits Befehle an den Hauptmann der Wache. Kohorten und Divisionen sollten aus den Kasernen unten antreten. Er beobachtete entsetzt, wie seine Befehle ausgeführt wurden. Eine ganze berittene Kolonne donnerte die Straßen entlang und feuerte auf den herannahenden Titanen, wobei sie auch die fliehende Bevölkerung nicht schonte. Talquist starrte die gewaltige Statue an, die nun mehr als nur Stein war und durch die Reiter watete, als wären sie Meeresschaum. Sie schlug nach Männern und Tieren aus und richtete ein solches Blutbad an, dass Talquist nichts anderes mehr übrig blieb, als sich umzudrehen und zu fliehen.

Er kannte das Ziel der Statue.

So schnell er konnte, rannte er vom Balkon zur Turmtreppe und nahm je zwei Stufen auf einmal. Seine schwere Samtrobe war kein angenehmer Luxus mehr, sondern nur noch hinderlich. Kaum hatte er die Tür zum höchsten Turm erreicht, als er die massiven Tore des Palastes splittern hörte. Die Schreie hallten durch Jierna Tal und erschütterten die Mauern des Turms.

Es gab keinen Ort mehr, zu dem er fliehen konnte.

Grauer Schweiß quoll ihm aus Stirn und Hals, als sich die donnernden Schritte des Titanen näherten. Der Lärm der Gegenwehr war erstorben. Nach der Tötung der Soldaten, die den Riesen aufhalten sollten, war das gesamte Haushaltspersonal geflüchtet oder versteckte sich. Der Herrscher hörte die schweren Schritte des Riesen gnadenlos und unbeirrbar herannahen.

Der Turm erbebte heftig, als Faron die Treppe hoch stieg. Auf dem Weg zu seiner Beute nahm er vier Stufen auf einmal. Talquist verlor den letzten Rest seiner Gelassenheit und kreischte auf. Er schlug die Tür zum höchsten Turm hinter sich zu und verriegelte sie, doch er wusste genau, wie sinnlos das war.

Er hatte hinter einem umgekippten Tisch aus glänzendem Walnuss Schutz gesucht, als die Tür zersplitterte und der Gigant in ihr auftauchte. Er zog seinen massigen Körper durch die steinumfasste Öffnung, die zu niedrig für seine Größe war.

Talquist schrie noch einmal auf. Da er wusste, dass Faron aus Rache gekommen war, fiel er auf die Knie und betete in der unsinnigen Hoffnung, der Riese könne diese Geste des Sichergebens begreifen und davon gerührt sein.

Faron zerschmetterte die Steine der Türeinfassung.

Alle Hoffnung verließ Talquist, und er weinte.

»Nein, Faron«, keuchte er und rang entsetzt nach Luft. »Bitte! Ich wollte doch nur ...«

Als ihn die blauen, von einer milchigen Schicht überzogenen Augen der lebendigen Statue steinern anstarrten, fiel er in Schweigen.

Langsam durchquerte der Titan den kleinen Raum, bis er unmittelbar vor dem Herrscher stand.

Er streckte einen Steinarm aus, der sich in der Höhe von Talquists Hals befand.

Die gigantische Hand öffnete sich.

In ihr lagen fünf farbige Schuppen, jede ausgefranst an den Enden, jede mit Runen in einer lange untergegangenen Sprache beschriftet. Jede hatte eine andere Färbung, doch im schwindenden Licht der Abenddämmerung leuchteten sie alle in den Farben des Regenbogens.

Sie summten eine Sinfonie der Macht.

Mit großer Behutsamkeit bückte sich der Titan und legte die fünf Scheiben dem Regenten vor die Füße. Talquist starrte Faron einen schier unendlich langen Augenblick an. Schließlich fand er Sprache und Verstand wieder.

Er griff in die Falten seiner Robe, in der er seinen Schatz, die violette Schuppe trug, zog sie hervor und hielt sie vor die milchigen Augen der Statue.

»Ist es das, was du willst, Faron? Die Vervollständigung von Sharras Kartenspiel? Willst du dich mit mir verbünden und sie wieder zu einem ganzen Spiel zusammenfügen?«

Der Titan nickte langsam.

Der Herrscher stieß scharf die Luft aus.

Und kicherte erleichtert.

Und gab schließlich ein wahnsinniges Lachen von sich, das durch den Turm hallte, die Treppe hinunterlief, den Palast entlangflog und in die Nacht entwich, wo es triumphierend durch die Straßen von Jierna’sid tönte. Ein Donnern erschütterte die Höhle, die einmal Llauron gewesen war. Achmed setzte sich aufrecht und weckte das Kind.

Rhapsody war vor der Wand zusammengebrochen, an der sie gesungen hatte. Sie regte sich kaum, als das Donnern endete.

Ein Licht erschien auf der Wand und bildete eine Tür in der großen Steinbestie. Achmed riss sich zusammen und stand mit letzter Kraft auf. Er verspürte ein Stechen in den Augen, während er Rhapsody hinter sich hochzog und immer noch das Kind im Arm hielt.

Eine dunkle Gestalt, etwa anderthalb mal so groß wie ein Mensch, erfüllte die Öffnung.

»Na, kannst selbst nich’ in Ylorb bleiben un’ lockst mich jetzt auch davon weg?«

Achmed stolperte vor und drückte Rhapsody in Grunthors weit ausgebreitete Arme, während er mit der anderen Hand noch immer das Kind hielt.

»Luft«, krächzte er.

Das Licht wurde schwächer und verschwand. Der riesige Bolg packte die Herrin der Cymrer, hob sie aus der Höhle, setzte sie rasch und sanft auf dem Schneeboden ab und zog dann auch Achmed durch die Öffnung. Schließlich warf Grunthor einen Blick in das Innere und stieß dabei einen lauten Pfiff aus.

»Verdammt, was ist das?«

»Das war ... einmal... Llauron«, sagte Achmed und hustete, als sich seine Lunge mit der schneegeschwängerten Waldluft füllte. Er atmete tief durch und schaute dann den riesigen Sergeanten an. »Er hat uns vor Anwyn gerettet«, sagte er, als er wieder reden konnte.

»Ah, die is’ bis hierher gekommen?«, murmelte Grunthor. »Verdammtes Luder. Bin froh, dass ich das hier mitgebracht hab.« Er hielt den Schlüssel aus Lebendigem Gestein hoch, der damals die Wurzel der Sagia geöffnet hatte. »War grade in der Gruft, als der Ruf kam, und hatte so ’n Gefühl.«

Grunthor sah auf das herunter, was in Achmeds Armen lag, und erstarrte. Seine bernsteinfarbenen Augen weiteten sich im Morgenlicht. »Was hast’n da?«

Achmed schüttelte den Kopf und nickte in Rhapsodys Richtung, die sich langsam erhob und auf die Kutsche schaute, die auf der nahen Lichtung wartete.

Sie sah zu, wie ihr Gemahl sich der Höhle näherte; sein Gesichtsausdruck war wie das Ende der Welt.

48

Der Winter war mit aller Macht zurückgekehrt, als die Karawane den geschützten Hof von Haguefort erreichte. Gwydion Navarne beobachtete das Eintreffen der Wagen hinter den hohen Fenstern über der Bibliothek. Der Feuerschein spiegelte sich im Glas wider und wärmte einen Raum, der seit langem sehr kalt gewesen war. Wie lange, wusste er nicht mehr. Er wartete ungeduldig darauf, dass sich die Türen öffneten, doch der Fahrer ließ sich Zeit und kutschierte so nah wie möglich an die Treppe heran.

Melisande stand neben ihm. Sie war in ihr Gewand gehüllt und tänzelte ungeduldig, denn sie wollte das Kind sehen.

»Warum beeilen sie sich nicht?«, wollte sie wissen und drückte sich wieder vor ihren Bruder.

Gwydion legte ihr sanft die Hände auf die Schultern.

»Sie möchten das Kleine warm halten«, sagte er und dachte daran zurück, was er in Ghant gesehen hatte und was es für die Zukunft bedeutete. Er umfasste die Schultern seiner Schwester, als wolle er sich an ihr festhalten, ohne sie aber zu beunruhigen. »Ich vermute, das ist so bei Kindern – und bei Schwestern.« Er lächelte Melisande so beruhigend wie möglieh an, als sie zu ihm aufschaute und das Gesicht in spaßigem Zweifel verzog.

Sie standen weiter am Fenster und sahen zu, wie Ashe endlich aus der Kutsche stieg, gefolgt von einer schattenhaften, verhüllten Gestalt, in der Gwydion sofort den Bolg-König erkannte. Die Kuschte schaukelte kurz von einer Seite zur anderen, und zu seiner Freude sah der junge Herzog auch Grunthor aussteigen.

»Sie sind ...« Seine Worte erstarben; Melly war schon aus dem Zimmer gerannt. Er hörte ihre Schritte die große Treppe hinunterhasten. Gwydion lächelte und folgte ihr.

Als sie den Eingang zur Festung erreicht hatten, trug Ashe das Neugeborene schon nach drinnen und übergab es mit einem schiefen Lächeln der Kammermagd, die die Tür geöffnet hatte. Die Dienerin nahm das Kind an sich und trat aus dem Luftzug, als der Herr der Cymrer die Hand nach draußen streckte und Rhapsody über die Schwelle half. Nun schwärmten die Hausangestellten auf sie zu und nahmen Mäntel, Hüte und Winterkleidung entgegen.

Erregung übermannte Gwydions natürliche Zurückhaltung. Er schoss durch die Vorhalle zur Tür und warf die Arme um Rhapsody, deren Lächeln strahlend war, auch wenn sie blass und abgespannt aussah. Er sah freudig zu seinem Paten auf, doch dieser schaute geistesabwesend zu der Kammermagd hinüber, die das Kind wiegte. Kälte überlief ihn; er wusste nicht, warum.

Melisande umarmte Ashe und schien dessen Geistesabwesenheit nicht zu bemerken.

»Darf ich ihn einmal halten, bitte, bitte!«

»Unbedingt«, sagte Ashe. »Portia, gib Melisande bitte das Kind.«

Die Kammermagd nickte ehrerbietig. Nachdem sie die Tür hinter dem Firbolg-König geschlossen hatte, trug sie das Kind durch die Halle und legte es der wartenden Melisande in die Arme.

»Es tut mir Leid, dich bei deiner Ankunft gleich überfallen zu müssen«, sagte Gwydion leise zu Ashe, »aber ich habe etwas sehr Dringendes mit dir zu besprechen, sobald Rhapsody und das Kind sicher untergebracht sind. Ich bedauere, dich auf diese Weise zu belästigen, aber ...«

Ein lautes metallisches Klirren war aus dem Korridor zu hören, der zur Großen Halle führte.

Die beiden Firbolg, der Herr und die Herrin der Cymrer, die Kinder von Navarne und das gesamte Hauspersonal schauten auf, als Anborn in der Tür erschien. Er stand aufrecht und ohne Krücken inmitten der großen Gehmaschine, die man ihm aus Gaematria mitgebracht hatte.

»Gütiger All-Gott«, rief Ashe aus. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich diesen Tag noch erlebe.«

»Mögest du noch viele Tage erleben, die du nie erwartet hättest«, sagte Anborn ernst.

»Was hat dich umgestimmt, Onkel?«

Anborn seufzte schwer und richtete den Blick auf das Bündel in Melisandes Armen, das nun heftig strampelte.

»Ich muss für das bereit sein, was kommen wird«, meinte er dunkel. »Du und ich müssen nun miteinander reden, Gwydion. Dein Mündel hat dir vielleicht schon erzählt, was er und ich nach unserer Abreise beobachtet haben. Und ich muss dem leider noch schlechtere Nachrichten hinzufügen.« Er blinzelte, als Ashe das Kind aus Melisandes Armen nahm, zu ihm hinüberging und es ihm reichte.

»Einen Augenblick noch, Onkel«, sagte Ashe freundlich. »Begrüße erst einmal deinen neuen Großneffen.«

Mit Anborns ernstem Gesicht ging eine Veränderung vor. Er schaute das Kind kurz an und nahm es dann zögernd in die Arme. Sanft wiegte er es, während Rhapsody lächelnd zu ihm herüberkam.

Er lächelte das Kind kurz an und beobachtete erstaunt, wie sich die winzige Faust um seinen Finger schloss. Dann sah er zuerst Rhapsody und dann Ashe an und sagte mit ungewöhnlich sanfter und ruhiger Stimme: »Gut gemacht, meine Liebe, und herzlichen Glückwunsch, Neffe. Um dieses Ereignis zu feiern, werde ich ein wenig hier stehen bleiben und das Kind bestaunen, damit ihr noch ein paar Augenblicke zufrieden sein könnt, bevor ich euch sage, was ich in Sorbold gesehen habe.«

Ashe seufzte tief. »Und ich will dir deinen Gefallen damit vergelten, dir noch ein paar Augenblicke Zufriedenheit zu gestatten, bevor ich dir sage, was mit Llauron passiert ist.«

Die beiden Firbolg sahen einander an, drehten sich um und gingen zur Tür.

»Ich beneide Rhapsody nicht um ihre Heimkehr«, sagte Achmed, zog den Mantel enger um sich und wollte gerade in den aufziehenden Sturm hinausgehen.

Grunthor räusperte sich, während er die Tür aufzog.

»Ja, na ja, beneide dich auch nich’.«

Der Bolg-König kniff die Augen zusammen und warf einen Blick über die Schulter.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Na ja, wenn du meinst, die Geburtstagsfeier, die wir veranstaltet haben, als du beim letzten Mal weg warst, hätte ’ne ziemliche Schweinerei hinterlassen, dann warte mal, bis du gesehen hast, was dich diesmal erwartet.«

Achmed seufzte verärgert. »Hrekin.«

»Ja, genau das is’ es. Und zwar ’ne ganze Menge davon.«

Загрузка...