TOM SAWYERS ABENTEUER

Tom ist kein Musterknabe

„Tom!" Keine Antwort. „Tom!" Keine Antwort.

„Wo nur der Junge steckt? Du, Tom!" Keine Antwort.

Die alte Dame zog ihre Brille auf die Nase herunter und sah über die Gläser hinweg im Raum umher; dann schob sie die Brille auf die Stirn und sah unter ihr hindurch. Selten oder nie sah sie durch die Gläser; die Brille war ihr Prunkstück, ihr Herzensstolz, sie war eigentlich nicht für den Gebrauch bestimmt, sondern zur Zierde da. Sie hätte genauso gut durch ein Paar Ofenringe sehen können.

Für einen Augenblick machte sie ein erstauntes Gesicht und dann sagte sie, nicht heftig, aber laut genug, dass die Möbel es hätten hören können: „Wenn ich dich erwische, werde ich dich..."

Sie beendete den Satz nicht, denn jetzt bückte sie sich und stocherte mit dem Besen unter dem Bett herum, was ihren ganzen Atem in Anspruch nahm. Aber nichts als die Katze kam zum Vorschein.

Sie öffnete die Tür, stand still und sah hinaus auf die Tomatenpflanzen und „Stinkkräuter", die den Garten darstellten.

Kein Tom. Sie erhob ihre Stimme und rief: „D-u-u-u, Tom!"

Da hörte sie ein ganz leises Geräusch hinter sich, drehte sich um und konnte gerade noch einen kleinen Jungen bei der Jacke erwischen und so seine Flucht verhindern.

„Na! Ich hätte auch an den Wandschrank denken sollen! Was tust du hier?"

„Nichts!"

„Nichts! Sieh deine Hände an! Und deinen Mund! Was ist das für ein Zeug?" „Weiß nicht, Tante."

„Nun, aber ich weiß es. Es ist Marmelade, das ist es! Vierzigmal habe ich dir gesagt, dass ich dir das Fell gerben werde, wenn du mir die Marmelade anrührst! Gib mir die Rute!"

Die Rute schwebte in der Luft - die Gefahr war nahe... „O Gott, Tante, sieh nur mal hinter dich!"

Die alte Dame fuhr herum und raffte ihre Röcke, um der vermeintlichen Gefahr zu entgehen. Der Junge nutzte die Gelegenheit, lief sofort weg, kletterte den hohen Lattenzaun hinauf und verschwand.

Seine Tante Polly war für einen Augenblick verdutzt, doch dann musste sie lachen.

„Zum Kuckuck, kann ich es denn niemals lernen? Hat er mir nicht schon immer Streiche gespielt, wenn ich nach ihm gesucht habe? Aber man kann einem alten Hund keine neuen Kunststücke mehr beibringen, wie man so sagt. Zum Kuckuck noch mal, er erfindet immer etwas Neues. Und wie soll unsereins wissen, was gerade kommt: Er scheint zu wissen, wie lange er mich plagen kann, bevor ich zornig werde, und er weiß; wenn er mich für einen Augenblick ablenken oder mich zum Lachen bringen kann, ist alles wieder gut und ich kann ihm nicht böse sein.

Ich tue wirklich nicht meine Pflicht an dem Jungen, der Himmel weiß es. Er steckt voller Teufeleien. Aber schließlich ist er der Junge meiner eigenen verstorbenen Schwester und irgendwie habe ich nicht das Herz, ihn anzubinden. Jedes Mal, wenn ich ihm den Willen lasse, peinigt mich mein Gewissen, und jedes Mal, wenn ich ihn prügele, bricht fast mein altes Herz. Heute wird er die Schule schwänzen und da kann ich nicht anders, als ihn morgen an die Arbeit zu kriegen, um ihn zu bestrafen. Aber ich muss meine Pflicht an ihm tun, sonst werde ich dieses Kind verderben."

Tom schwänzte wirklich die Schule und hatte viel Spaß. Er kam so spät nach Hause, dass er Jim, dem kleinen Negerjungen, kaum noch helfen konnte, das Holz für den nächsten Tag zu sägen. Aber wenigstens kam er noch so rechtzeitig, dass er Jim seine Erlebnisse erzählen konnte, während dieser drei Viertel der Arbeit erledigte. Toms jüngerer Bruder (oder besser Halbbruder), Sid, war schon mit seiner Arbeit fertig, denn er war ein stiller Junge, nicht so abenteuerlich und unruhig.

Während Tom sein Abendbrot aß und Zucker stahl, wenn er gerade Gelegenheit dazu hatte, stellte ihm Tante Polly Fragen. Diese Fragen waren nach ihrer Meinung meist voller Arglist, denn er konnte sich durch seine Antworten leicht selbst verraten. Wie viele einfache Menschen war Tante Polly so eitel, ihre durchsichtigen Einfälle als Wunder an List zu betrachten.

„Tom, es war warm in der Schule, nicht wahr?" „Hm."

„Mächtig warm, nicht?" „Ja."

„Hattest du keine Lust, schwimmen zu gehen, Tom?"

Tom erschrak - Argwohn kam in ihm auf. Er suchte in Tante Pollys Gesicht, aber er konnte nichts Verdächtiges darin entdecken. Deshalb sagte er: „N-nein, nun, nicht sehr viel." Die alte Dame streckte ihre Hand aus, befühlte Toms Hemd und sagte:

„Aber trotzdem ist dir jetzt nicht zu warm." Es schmeichelte ihr, dass sie bemerkt hatte, wie trocken das Hemd war, und dass noch niemand wissen könne, was sie vorhatte.

Trotzdem wusste Tom jetzt schon, woher der Wind wehte.

Er kam ihrer nächsten Frage zuvor: „Einige von uns haben die Köpfe unter die Pumpe gehalten - sieh, mein Kopf ist jetzt noch feucht."

Tante Polly war ärgerlich, dass sie diesen wichtigen Beweisübersehen und einen Trumpf aus der Hand gegeben hatte. Dann hatte sie einen neuen Einfall, „Tom, musstest du nicht deinen Hemdkragen auftrennen, wo ich ihn angenäht hatte, wenn du deinen Kopf unter die Pumpe halten wolltest? Knöpf deine Jacke auf!"

Die Unruhe verschwand aus Toms Gesicht. Er öffnete seine Jacke. Sein Hemdkragen war angenäht.

„Zum Kuckuck! Da hört sich doch alles auf! Ich war sicher, du hättest die Schule geschwänzt und wärest schwimmen gegangen. Aber ich habe mich geirrt, Tom. Ich glaube, du bist diesmal wirklich unschuldig. Zieh deine Jacke gerade, bitte."

Sie war etwas traurig, dass ihr Scharfsinn sie im Stich gelassen hatte, aber auch etwas froh, dass Tom diesmal gehorsam gewesen war.

Aber Sidney sagte: „Nanu, ich hatte geglaubt, du hättest seinen Kragen mit weißem Garn angenäht. Dies ist aber schwarz."

„Ich habe natürlich mit weißem Garn genäht! Tom!"

Aber Tom wartete nicht auf das, was kam. Als er zur Tür hinausflitzte, sagte er: „Warte, Sidney, dafür kriegst du deine Tracht Prügel!"

An einem sicheren Orte untersuchte Tom zwei große Nadeln, die er unter die Aufschläge seiner Jacke gesteckt hatte. Inder einen war weißes Garn und in der anderen schwarzes. Ersagte halblaut vor sich hin:

„Wenn Sid nicht gewesen wäre, hätte sie es niemals bemerkt. Verdammt noch mal! Manchmal näht sie es mit Weiß, und manchmal näht sie es mit Schwarz. Ich wünschte, sie bliebe beidem einen oder anderen - ich kann es mir nicht merken. Aber der Sid kriegt todsicher seine Prügel dafür! Ich werd's ihm schon zeigen!"

Zwei Minuten später hatte er all seine Sorgen vergessen. Nicht, dass seine Sorgen für ihn weniger schwer und bitter gewesen wären als die Sorgen eines Mannes für einen Mann, aber ein neues und mächtiges Interesse zog ihn in seinen Bann und nahm ihm seinen Kummer - genau wie ein Mann sein Missgeschick in der Aufregung über eine neue Entdeckung vergisst.

Toms Entdeckung war eine neue Art, zu pfeifen, die er kürzlich von einem Neger gelernt hatte. Er brannte geradezu darauf, es ungestört zu üben. Dieses Pfeifen bestand aus seltsamen vogelartigen Lauten, einer Art von Trillern, die man hervorbrachte, indem man die Zunge in kurzen Abständen unter den Gaumen presste. - Der Leser erinnert sich vielleicht, wie es gemacht wird, wenn er jemals ein echter Junge gewesen ist. Durch Eifer und Ausdauer brachte Tom es bald zu einer gewissen Fertigkeit, und als er die Straße hinuntertrottete, war sein Mund mit Harmonie, seine Seele mit Dankbarkeit erfüllt. Erfühlte sich genauso, wie sich ein Astronom fühlen mag, der gerade einen neuen Planeten entdeckt hat.

Die Sommerabende waren lang. Es war noch nicht dunkel. Tom hörte auf zu pfeifen, denn ein Fremder ging vor ihm, ein Junge, etwas größer als er selbst. Ein Neuer, ganz gleich welchen Alters oder Geschlechts, war eine bemerkenswerte Seltenheit in dem kleinen schäbigen Städtchen St. Petersburg. Dieser Junge war gut angezogen - zu gut angezogen für einen Wochentag. Das war einfach erstaunlich. Seine Kappe war sehr hübsch, seine zugeknöpfte Jacke und seine Hosen waren neu und adrett.

Er trug Schuhe, obwohl es doch nur ein gewöhnlicher Freitag war. Er hatte sogar eine Krawatte umgebunden - ein helles Seidenband.

Er gab sich so großstädtisch, dass es Tom den Atem verschlug. Je mehr Tom dieses elegante Wunder anstarrte, desto schäbiger und verschlissener kam er sich selbst vor. Keiner der beiden sprach. Bewegte sich der eine, so bewegte sich auch der andere, aber immer nur seitwärts im Kreis herum; sie ließen sich nicht aus den Augen. Endlich sagte Tom: „Ich kann dich verdreschen!" „Ha, möcht ich mal sehen." „Ich kann's wirklich." „Nee, das kannst du nicht!" „Ja, ich kann's!" „Ach was!"

„Ja!"

„Nein!"

Eine unbehagliche Pause. Dann fragte Tom: „Wie heißt du?"

„Das geht dich gar nichts an." „Ich will aber, dass es mich was angeht!" „Nun, warum tust du's dann nicht?" „Wenn du noch viel redest, tu ich's!" „Viel - viel - viel! Nun?"

„Du kommst dir wohl sehr wichtig vor, nicht wahr? Ich könnte dich mit einer Hand verprügeln, wenn ich nur wollte."„Nun, warum tust du's nicht? Du sagst immer nur, dass du es kannst." „Nun, ich tu's auch, wenn du noch mehr sagst."

„Pah, was für einen großen Mund doch manche Leute haben!"

„Wichtigtuer! Du denkst, du bist ein ganzer Kerl, nicht wahr? Mensch, was für ein dämlicher Hut!"

„Brauchst ja nicht hinzusehen, wenn er dir nicht passt! Schlag ihn mir doch runter, wenn du's wagst!" „Doofmann!" „Selbst einer!" „Geh nach Hause, du!

„Wenn du noch mehr Quatsch red'st, schlag ich einen Stein an deinem Kopf kaputt."

„Pah!"

„Ja, das tu ich!"

„Und warum tust du's nicht? Warum sagst du immer nur, du wirst es tun? Warum tust du es nicht? Aber du hast ja nur Angst!"

„Ich habe keine Angst!"

„Doch!"

„Nein!"

„Ja!"

Wieder eine Pause, abermals gingen sie umeinander herum. Dann standen sie Schulter an Schulter und schoben sich gegenseitig. Tom sagte: „Hau ab!" „Hau du ab!" „Ich will nicht!" „Ich will auch nicht!"

Sie sahen einander hasserfüllt an, jeder stellte einen Fuß ein wenig vor. Aber keiner konnte einen Vorteil erringen. Sie schoben sich gegenseitig, bis sie erhitzt und rot waren. Dann, ohneeinander aus den Augen zu lassen, traten sie gleichzeitig zurück. Tom sagte: „Du bist ein Feigling. Ich werde meinen großen Bruder auf dich hetzen, der wird dich mit seinem kleinen Finger umwerfen - ich tu's wirklich."

„Was geht mich dein großer Bruder an? Ich habe einen Bruder, der viel größer ist als deiner - der kann deinen Bruder über diesen Zaun werfen." (Beide Brüder waren erfunden.)

„Lügner!"

„Das bin ich noch längst nicht, auch wenn du es sagst!"

Mit seiner großen Zehe zog Tom einen Strich in den Sand und sagte: „Wenn du es wagst, über diesen Strich zu treten, verdresch ich dich so, dass du nicht mehr aufstehen kannst."

Prompt trat der fremde Junge über die Linie und sagte: „Nun tu's schon, wenn du es immer sagst!" „Sieh dich vor - fordere mich nicht heraus!" „Tu's doch!"

„Teufel auch, für zwei Pfennig tu ich's."

Der fremde Junge zog zwei Kupferstücke aus der Tasche und hielt sie Tom höhnisch unter die Nase. Tom schlug sie ihm aus der Hand. Im nächsten Augenblick rollten beide Jungen am Boden, ineinander verkrallt wie Katzen; sie zerrten sich gegenseitig an den Haaren und Kleidern und schlugen sich auf die Nasen und bedeckten sich mit Staub und Ruhm. Schließlich nahm das Kampfgewühl erkennbare Formen an, und durch den Straßenstaub wurde Tom sichtbar. Er saß rittlings auf dem fremden Jungen und bearbeitete ihn mit seinen Fäusten.

„Sag: Genug!", schrie er.

Der Junge versuchte, sich zu befreien. Er heulte vor Wut.

„Sag: Genug!" - Die Schläge prasselten von neuem.

Schließlich überwand sich der Fremde zu einem erstickten „Genug!"

Tom ließ ihn aufstehen und sagte: „Das wird dir eine Lehresein! Das nächste Mal wirst du dich besser vorsehen, mit wem du anbändelst."

Der Junge lief schluchzend und schnaufend davon und klopfte den Staub von seinen Kleidern. Ab und zu drehte er sich um, schüttelte die Faust und drohte, er werde Tom das nächste Mal auflauern. Tom antwortete nur mit einem verächtlichen Schnauben, drehte sich um und wollte weitergehen. Da nahm der fremde Junge einen Stein und warf ihn Tom in den Rücken. Dann jagte er davon wie ein Wiesel.

Tom lief dem Hinterlistigen nach bis zu dessen Haus und erfuhr auf diese Weise, wo er wohnte. Er blieb noch eine Weile draußen am Zaun stehen und forderte den Feind auf, herauszukommen. Aber der Feind schnitt ihm nur Fratzen hinter dem Fenster und lehnte ab.

Schließlich erschien die Mutter des Feindes, nannte Tom ein schlechtes, bösartiges, gewöhnliches Kind und jagte ihn fort. Er ging, aber er vergaß nicht zu sagen, dass er sich erlauben würde, ihren Bengel einmal aufzusuchen.

An diesem Abend kam er ziemlich spät nach Hause. Sehr vorsichtig stieg er durchs Fenster, konnte es aber unglücklicherweise nicht verhindern, dass seine Tante ihn sah. Als sie bemerkte, in welchem Zustand seine Kleider waren, fasste sie den festen Entschluss, Tom dafür zu bestrafen und aus seinem freien Samstag einen harten Arbeitstag zu machen.

Strafarbeit zu verkaufen!

Klar und frisch kam der Samstagmorgen; die ganze Sommerwelt war erfüllt von Leben. Heute hatte ein jeder ein Lied im Herzen und wem das Herz jung war, dem drängte sich eine Melodie auf die Lippen. Die Menschen schritten beschwingt und leicht dahin, und ihre Gesichter waren fröhlich. Die Akazienbäume standen in voller Blüte und erfüllten die Luft mit Wohlgeruch.

Tom erschien mit einem Eimer voll weißer Farbe und einem langstieligen Pinsel. Er musterte den Zaun und da verließ ihn aller Frohsinn und machte einer tiefen Traurigkeit Platz. Zehn Meter lang und über zwei Meter hoch war der Zaun! Es war zum Verzweifeln -das Leben war nur noch eine Plage! Seufzend tauchte er den Quast in die Farbe und strich damit über die oberste Planke. Er wiederholte diese Übung zweimal, verglich den getünchten Streifen mit der unübersehbaren Fläche des ungetünchten Zaunes und setzte sich dann entmutigt auf einen Baumstumpf.

Ausgelassen hüpfend, kam jetzt Jim mit einem Blecheimer aus dem Tor und sang den neuesten Schlager „Buffalo-Mädchen" Tom hatte sich immer davor gedrückt, Wasser aus dem Stadtbrunnen zu holen, aber heute beneidete er Jim um diese Arbeit. Er erinnerte sich, dass es am Brunnen lustig war. Weiße Kinder, Mulatten- und Negerkinder trafen sich dort beim Wasserholen, tauschten Spielsachen und stritten und balgten sich. Tom wusste auch, dass Jim immer eine volle Stunde brauchte, um einen Eimer Wasser zu holen, obwohl doch der Brunnen nur 150 Meter weit entfernt war - und selbst dann musste immer noch jemand gehen, ihn zu suchen.

Tom sagte: „Du, Jim, wenn du ein bisschen weitertünchst, will ich das Wasser für dich holen."

Jim schüttelte den Kopf und sagte: „Kann nicht, Master Tom. Alte Missis hat mir gesagt, ich soll nur Wasser holen gehen und nicht mit Master Tom sprechen. Sie sagen, sie wissen, dass Master Tom keine Lust hat zum Tünchen, aber ich sollen Wasser holen gehen."

„Ach, mach dir doch nichts daraus, was sie sagt, Jim. So redet sie immer. Gib mir den Eimer - ich bin gleich wieder da. Sie wird es doch nicht erfahren."

„Oh, ich dürfen nicht, Master Tom. Alte Missis werden Fell über Ohren ziehen!"

„Sie! Sie haut nie jemand — höchstens klopft sie einem mit ihrem Fingerhut auf den Kopf - und wer macht sich schon was daraus? Sie redet dummes Zeug, aber das tut ja niemand weh - na ja, nur wenn sie weint... Jim, ich hab auch was Schönes für dich, guck mal, 'ne weiße Murmel!"

Jim wurde unschlüssig.

„Eine weiße Murmel, Jim! Ist sie nicht wundervoll?"

„Oh, das sein prächtige Murmel, sag ich dir! Aber Master Tom, ich hab schreckliche Angst vor alte Missis... "

„Übrigens: ich zeige dir auch meine wunde Zehe, wenn du tünchst."

Jim war auch nur ein Mensch und dieses Angebot war zu viel für ihn. Er stellte seinen Eimer nieder, nahm die weiße Murmel und bückte sich mit höchstem Interesse über die Zehe, während Tom den Verband entfernte. Im nächsten Augenblick jedoch flog Jim die Straße hinunter, den Eimer in der Hand; Tom tünchte wie besessen und Tante Polly zog sich mit Triumph in den Augen und einem Pantoffel in der Hand von der Veranda zurück.

Aber Toms Eifer hielt nicht lange an. Er dachte daran, wie schön dieser Tag hätte sein können und sein Kummer vervielfachte sich. Bald würden seine Kameraden kommen und ihm von ihren Plänen für den Tag erzählen - und natürlich würden sie sich furchtbar lustig über ihn machen, dass er arbeiten musste. Schon der Gedanke daran brachte ihn in Zorn. Er kramte seine kleinen Schätze aus der Tasche und prüfte sie - kleine Gegenstände, Spielsachen, Murmeln und Blechstücke; genug, um damit bei jemand eine leichte Arbeit einzutauschen, aber nicht genug, um eine halbe Stunde Freiheit zu erkaufen. Er gab den Gedanken auf, die Jungen zu bestechen.

In diesem hoffnungslos dunklen Augenblick kam ihm eine Idee! Eine großartige, wundervolle Idee!

Er nahm seinen Quast wieder in die Hand und machte sich gelassen an die Arbeit. Bald tauchte auch Ben Rogers auf - ausgerechnet der Junge, dessen Spott er am meisten gefürchtet hatte. Ben ging nicht, er hüpfte und sprang ausgelassen - Beweis genug dafür, dass er gute Laune hatte und seine Erwartungen hoch waren. Er aß einen Apfel, und zwischen den einzelnen Bissen stieß er lange, melodische Pfiffe aus, denen ein tiefes Dingdong, Dingdong, Dingdong folgte: Er spielte Dampfer.

Als er näher kam, setzte er die Geschwindigkeit herab, steuerte in die Mitte der Straße, lehnte weit über nach Steuerbord, und dann - er war ganz bei der Sache und gab sich alle Mühe - drehte er bei, denn er stellte den großen Dampfer „Big Missouri" vor. Er war Schiff, Kapitän, Maschine, alles zugleich und so bildete er sich ein, er stehe auf seinem eigenen Sturmdeck. Er gab die Befehle und führte sie selbst aus.

„Stopp! Klingelingling!"

Der Hauptweg war fast zu Ende, deshalb wandte er sich jetzt langsam dem Seitenweg zu. „Jetzt achteraus! Klingelingling!" Er legte seine Arme steif an die Seiten.

„Steuerbord achteraus! Klingelingling!"

Währenddessen beschrieb seine rechte Hand gewaltige Kreise - sie musste ein vierzig Fuß hohes Rad vorstellen. „Backbord stopp! Klingelingling! Backbord stopp! Halt!"

Tom beachtete den Dampfer nicht und tünchte ruhig weiter.

Einen Augenblick war Ben erstaunt, dann sagte er: „Hihi! Hamse dich reingelegt?"

Keine Antwort. Tom betrachtete seinen letzten Quaststrich mit dem Auge eines Künstlers. Dann strich er noch einmal zart mit dem Pinsel darüber und musterte das Ergebnis kritisch. Ben kam näher. Tom lief bei dem Duft des Apfels das Wasser im Munde zusammen, er ließ sich aber nichts anmerken und hielt sich an die Arbeit.

Ben sagte: „Hallo, alter Junge, hast zu arbeiten, was?"

Tom drehte sich um und sagte: „Nanu, du bist es, Ben! Ich hab dich gar nicht gesehen."

„Du, ich geh schwimmen - wirklich! Hast du nicht auch Lust? Oder möchtest du vielleicht lieber arbeiten?"

Tom betrachtete den Jungen nachdenklich und sagte dann: „Was nennst du eigentlich Arbeit?"

„Na, ist das etwa keine Arbeit?"

Tom begann wieder mit seiner Arbeit und antwortete herablassend: „Nun, vielleicht ist es Arbeit und vielleicht ist es keine.

Ich kann nur sagen, dass es genau das Richtige ist für Tom Sawyer."

„Ach, sieh mal an, du willst doch nicht behaupten, dass du es gern tust?"

Der Quast strich ohne Unterbrechung über die Bretter.

„Ob ich es gern tue? Nun, ich sehe nicht ein, warum ich es nicht gern tun sollte. Lange nicht jedem Jungen wird die Möglichkeit geboten, einen Zaun zu tünchen."

Das warf natürlich ein völlig neues Licht auf die Sache! Ben hörte auf, an seinem Apfel zu knabbern. Sehr zierlich bewegte Tom seinen Quast hin und her -dann trat er einen Schritt zurück, um seine Arbeit zu betrachten. Er fügte hier und da noch einen Strich hinzu und begutachtete anschließend den Zaun von neuem.

Ben beobachtete jede Bewegung. Die Sache interessierte und fesselte ihn immer mehr. Schließlich sagte er: „Du, Tom, lass mich mal ein bisschen tünchen."

Tom wollte zustimmen; aber - dann überlegte er es sich. „Nein, nein, ich schätze, es würde kaum was draus werden, Ben. Weißt du, Tante Polly nimmt es schrecklich genau mit diesem Zaun. Natürlich, wenn es der hintere Zaun wäre, hätte sie bestimmt nichts dagegen, wenn du ihn streichen würdest, aber so? Ja, sie nimmt es furchtbar genau mit diesem Zaun - er musswirklich sehr sorgfältig gestrichen werden. Ich schätze, es gibt keinen Jungen unter tausend, vielleicht auch unter zweitausend, der es so machen kann, wie es gemacht werden muss."

„Ist das wirklich so? Och, lass mich doch mal versuchen! Nur ein ganz kleines bisschen - ich würde dich versuchen lassen, wenn ich an deiner Stelle wäre, Tom!"

„Ben, ich tat's gerne, ehrlich; aber Tante Polly - nun, Jim wollte es so gern tun, aber sie wollte es nicht. Sid wollte es tun, aber der durfte es auch nicht. Siehst du denn nicht, wie ich in der Klemme sitze? Wenn du diesen Zaun bearbeitest und es geht etwas schief..."

„Ach was, ich werd mich in Acht nehmen. Jetzt lass mich versuchen. Hier, ich geb dir auch das Gehäuse von meinem Apfel."

„Nun ja, dann... Nein, Ben, nicht. Ich habe Angst." „Ich geb dir auch den ganzen Apfel!"

Tom gab ihm den Quast scheinbar widerwillig -innerlich aber jubelte er. Und während der frühere Dampfer „Big Missouri" schwitzend in der Sonne arbeitete, setzte sich der pensionierte Künstler im Schatten auf eine Tonne, ließ die Beine baumeln, aß seinen Apfel und sann darüber nach, wie er noch mehr Unschuldige einfangen könnte.

Arbeitskräfte gab es genug; die Jungen kamen, um ihn zu verhöhnen, und blieben, um zu tünchen. Bevor Ben völlig ermüdet war, hatte Tom schon Billy Fisher für die nächste halbe Stunde gewonnen — natürlich nicht ohne dessen Drachen zu verlangen, der noch sehr gut in Ordnung war. Als Billy aufhörte, war Tom schon Besitzer einer toten Ratte; die hatte eine Schnur um den Hals, mit der man sie durch die Luft wirbeln konnte. Johnny Miller hatte sie ihm verkauft. So ging es weiter, Stunde um Stunde.

Und als der Nachmittag kam, war aus dem morgens noch ausgesprochen armen Jungen ein Tom geworden, der sich fast im Wohlstand baden konnte. Zu dem Drachen und der toten Ratte waren noch folgende Dinge gekommen: zwölf Murmeln, ein kleines Stück von einer Mundharmonika, eine Scherbe aus blauem Flaschenglas zum Durchgucken, eine Kanone, ein Schlüssel, mit dem man nichts aufschließen konnte, ein Stückchen Kreide, ein Zinnsoldat, zwei Kaulquappen, sechs Knallbonbons, ein Kätzchen mit nur einem Auge, eine Messingtürklinke, ein Hundehalsband natürlich ohne Hund, ein Messergriff, vier Stückchen Apfelsinenschale und ein brüchiger alter Fensterrahmen.

Die ganze Zeit über war Tom glücklich und zufrieden - er hatte Gesellschaft und außerdem wurde der Zaun dreimal völlig übergepinselt. Wäre ihm die Farbe nicht ausgegangen, so hätte er jeden Jungen des Städtchens arm gemacht.

Manchmal war das Leben gar nicht so schwer. Tom hatte, ohne es zu wissen, das große Gesetz menschlichen Handelns entdeckt - wenn man nämlich einem Menschen eine Sache schmackhaft machen will, so muss man sie nur als schwer erreichbar hinstellen. Wäre er ein großer und berühmter Philosoph gewesen -wie zum Beispiel der Verfasser dieses Buches -, so hätte Tom jetzt begriffen, dass Arbeit das ist, was man tun muss, und Spiel das, was man freiwillig tut. Und damit hätte er auch verstanden, dass man es zum Beispiel „Arbeit" nennt, künstliche Blumen herzustellen, während es als Vergnügen gilt, den Montblanc zu ersteigen.

Der Junge grübelte noch eine Weile über sein plötzliches Glück nach, dann ging er nach Hause, um zu berichten.

Tom meldete sich bei Tante Polly, die an dem offenen Fenster eines Hinterzimmers saß, das Schlafzimmer, Frühstückszimmer, Esszimmer und Bibliothek in sich vereinigte. Die laue Sommerluft, die Ruhe, der Duft der Blumen und das einschläfernde Summen der Bienen hatte sie über ihrem Strickzeug einschlummern lassen. Ihre einzige Gesellschaft war die Katze und die lag schlafend in ihrem Schoß. Ihre Brille hatte die Tante zur Sicherheit hoch in die Stirn geschoben. Natürlich hatte sie angenommen, Tom sei längst auf und davon und so wunderte sie sich jetzt sehr, dass er so unerschrocken zu ihr kam.

Er fragte: „Darf ich jetzt gehen und spielen, Tante?"

„Was, schon? Wie viel hast du getan?"

„Der Zaun ist ganz fertig, Tante."

„Tom, lüg mich nicht an — ich kann es nicht vertragen."

„Ich lüge nicht, Tante; er ist fertig!"

In solchen Fällen glaubte Tante Polly ihm nicht. Sie ging hinaus, um sich die Sache selbst anzusehen; sie war überzeugt, dass nur zwanzig Prozent von Toms Behauptung stimmten. Als sie jedoch sah, dass der ganze Zaun getüncht war, und zwar nicht nur einmal getüncht, sondern zwei - und dreimal, war ihr Erstaunen unbeschreiblich.

„Das hätte ich nie gedacht! Da gibt es nichts, du kannst arbeiten, wenn du willst, Tom." Dann aber schwächte sie ihr Lob ab, indem sie sagte: „Leider muss ich sagen, dass du schrecklich selten wirklich willst. Jetzt kannst du gehen und spielen, aber sieh zu, dass du irgendwann in dieser Woche zurückkommst, sonst gerbe ich dir dein Fell."

Sie war so angetan von seiner Glanzleistung, dass sie ihn mit in die Speisekammer nahm und ihm einen Apfel aussuchte, nicht ohne ihn salbungsvoll darauf hinzuweisen, wie viel besser doch ein durch ehrliche Arbeit erworbener Apfel schmecke als ein gestohlener. Während sie mit einem biblischen Sprüchlein ihre Rede beschloss, ergatterte Tom heimlich einen Pfannkuchen und schlüpfte hinaus.

Er sah gerade noch, wie Sid die Außentreppe hinaufstieg, die zu den hinteren Räumen des oberen Stockwerks führte. In der nächsten Sekunde prasselten Erdklumpen wie ein Hagelsturm auf Sid nieder und bevor Tante Polly richtig begriffen hatte und Sid zu Hilfe eilen konnte, hatten diesen schon sechs oder sieben Klumpen getroffen. Tom verschwand über den Zaun. Zwar gab es ein Tor, aber für gewöhnlich musste er so schnell verschwinden, dass er davon keinen Gebrauch machen konnte.

Sein Rachedurst war gestillt, nachdem er nun mit Sid abgerechnet hatte, weil der ihn verpetzt hatte.

Bald war Tom außer Sichtweite und damit aus der Gefahrenzone heraus. Jetzt eilte er zum Kirchplatz des Ortes, wo sich verabredungsgemäß zwei „kriegerische" Jungengruppen treffen wollten, um einen Kampf auszutragen. Tom war General der einen Armee, Joe Harper, sein Busenfreund, General der anderen. Natürlich ließen sich diese beiden großen Befehlshaber nicht herab, selbst zu kämpfen - das überließen sie ihren Soldaten -, sondern sie saßen auf einem Hügel und dirigierten die Schlacht durch Befehle, die von Adjutanten überbracht werden mussten.

Nach einem langen heißen Kampf konnte Toms Armee einen großartigen Sieg erringen. Dann wurden die Toten gezählt, die Gefangenen abgeführt und der Tag für die nächste Schlacht bestimmt. Danach setzten sich die Armeen in Bewegung und marschierten heimwärts und auch Tom lief nach Hause.

Selig sind die Leidtragenden

Als er an dem Hause vorbeikam, in dem Jeff Thatcher wohnte, sah er dort ein Mädchen im Garten - ein hübsches blauäugiges kleines Ding mit blondem Haar, das in zwei lange Zöpfe geflochten war. Sie trug ein weißes Sommerkleid und bestickte Hosen. Es nahm Tom den Atem. Eine gewisse Amy Lawrence verschwand aus seinem Herzen und hinterließ nicht einmal die kleinste Erinnerung. Eben noch war er ein siegreicher Feldherr gewesen, jetzt war er plötzlich der Unterlegene.

Bis jetzt hatte er geglaubt, dass er sie bis zum Wahnsinn liebe, er hatte sie angebetet, doch in diesem Augenblick dachte er kaum noch an sie. Es hatte ihn Monate gekostet, sie zu gewinnen; vor kaum einer Woche hatte sie ihm ihre Liebe gestanden und er war sieben Tage lang der glücklichste und stolzeste Junge der Welt gewesen. Doch jetzt, in einem einzigen Augenblick, verschwand sie aus seinem Herzen wie eine Wildfremde.

Mit heimlichen Blicken beobachtete er den neuen kleinen Engel, bis er bemerkte, dass auch sie ihn gesehen hatte. Dann tat er so, als hätte er sie nicht bemerkt, und fing an, nach Jungenart „anzugeben", um ihre Bewunderung zu erregen. Er war gerade bei einer besonders gefährlichen turnerischen Übung, als er sah, dass das kleine Mädchen sich dem Haus zuwandte. Sofort beendete er seine Vorstellung und lehnte sich an den Zaun, in der Hoffnung, sie werde noch eine Weile bleiben. Einen Augenblick blieb sie an der Treppe stehen, dann jedoch ging sie auf die Tür zu. Ein schwerer Seufzer entrang sich Toms Brust, als sie ihren Fuß auf die letzte Stufe setzte. Aber sein Gesicht erhellte sich sofort, als sie ihm über den Zaun ein Stiefmütterchen zuwarf. Was? Eine Blume? Und für ihn?

Der Junge setzte sich in Trab und blieb ungefähr einen Schritt vor der Blume stehen, bedeckte seine Augen mit der Hand und sah die Straße hinunter, als ob er etwas besonders Interessantes entdeckt hätte. Dann hob er einen Strohhalm auf und versuchte, ihn auf der Nase zu balancieren, den Kopf weit zurückgelegt; dabei kam er der Blume immer näher. Schließlich setzte er seinen bloßen Fuß darauf, umkrallte die Blume mit seinen Zehen und hüpfte mit seinem Schatz fort. Er verschwand um die nächste Ecke. Hier befestigte er das Stiefmütterchen im Futter seiner Jacke, ganz nahe an seinem Herzen - oder vielleicht auch an seinem Magen, denn er war in der Anatomie nicht sehr bewandert.

Jetzt ging er zum Zaun zurück und trieb sich vor dem Hause herum bis zur Dämmerung; aber das kleine Mädchen zeigte sich nicht mehr. Tom tröstete sich mit der Hoffnung, dass sie hinter dem Fenster gestanden und seine Bemühungen gesehen habe. Schließlich trabte er widerstrebend nach Hause, seinen Kopf voll von dummen Gedanken und Phantasien. Irgendwann würde er sie schon einmal wieder sehen. Während des Abendessens war er so guter Stimmung, dass seine Tante staunte. Es schien ihm nichts auszumachen, dass sie ihn ausschimpfte, weil er Sid mit Erdklumpen beworfen hatte. Unmittelbar vor der Nase seiner Tante versuchte er, Zucker zu stehlen, und bezog dafür eine Ohrfeige.

„Sid schlägst du nie, wenn er Zucker nimmt!", sagte er.

„Nun, Sid quält einen auch nicht so wie du. Wenn ich nicht aufpasste, würdest du den ganzen Tag Zucker stehlen."

Dann ging sie in die Küche und Sid, seiner Macht bewusst, langte nach der Zuckerdose - und dies mit einer Überheblichkeit, die Tom geradezu unerträglich schien. Die Zuckerdose rutschte Sid jedoch aus der Hand, fiel auf den Fußboden und zerbrach.

Tom war begeistert. Und wenn er begeistert war, konnte er sogar seinen Mund halten und still sein. Er befahl sich selbst, nicht ein Wort zu sagen, sondern still zu sitzen, bis Tante Polly wieder hereinkäme und ihn fragte, wer die Zuckerdose zerbrochen habe. Dann würde er es sagen und - ach, es war ein so wundervolles Gefühl, zu wissen, dass das Muttersöhnchen auch einmal eine Tracht Prügel kriegen würde. Er war so begeistert, dass er kaum an sich halten konnte, als die alte Dame zurückkam und wortlos auf die Scherben starrte. Jetzt kommt's! sagte er sich. Und - im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden. Schon hatte sich die strafende Hand wieder erhoben, um zuzuschlagen, als Tom sich rasch zur Seite wandte und los schrie:

„Hör auf, warum schlägst du mich? Sid hat sie kaputtgemacht!"

Erstaunt ließ ihn Tante Polly los, und Tom hoffte, sie werde ihn jetzt mit tröstendem, wohltuendem Mitleid überschütten. Aber er wurde enttäuscht. Als sie wieder zu Atem kam, sagte sie nur:

„Uff! Na ja, du hast es trotzdem verdient für all deine Streiche, von denen ich nichts weiß."

Kaum waren die Worte heraus, da empfand sie Gewissensbisse, und sie hatte das Bedürfnis, etwas Freundliches oder Liebes zu sagen; aber dann wiederum befürchtete sie, Tom könnte es ihr als Abbitte ihres Unrechts auslegen - und das wollte sie nicht zugeben. Also sagte sie nichts und ging kummervollen Herzens ihrer Arbeit nach.

Tom hockte in einer Ecke und schmollte und übertrieb seine Leiden maßlos. Er wusste, dass seine Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag, und bei diesem Gedanken besserte sich seine Laune ein wenig. Er würde mit niemand sprechen, sondern nur still dasitzen. Er wusste, dass sie ihn mit einem abbittenden und tränenverschleierten Blick ansah, aber er bemühte sich, es nicht zu bemerken. Er stellte sich weiter vor, er wäre jetzt todkrank. Seine Tante beugte sich über ihn und flehte um ein kleines verzeihendes Wort - er aber würde sein Gesicht der Wand zukehren und sterben, ohne ihr zu vergeben. Ah, was würde sie dann empfinden?

Und er sah sich, wie man ihn vom Fluss zurücktrug, tot, mit nassen Locken, endlich Frieden in seinem armen Herzen. Wie sie sich über ihn werfen würde und wie ihre Tränen strömen würden und wie sie Gott anrufen würde, ihr ihren Jungen zurückzugeben! Und ganz gewiss würde sie ihn niemals mehr schlagen! Er aber würde daliegen - kalt und weiß und ohne Bewegung, ein armer kleiner Dulder, dessen Leiden endlich zu Ende waren.

Er steigerte sich so sehr in diese dramatischen Träume hinein, dass er immerzu schlucken musste. Tränen stiegen ihm in die Augen, liefen die Wangen hinab und tropften ihm schließlich von der Nase. Als kurz darauf seine Kusine Mary hereintanzte, voll von Leben und glücklich, nach einem ein wöchigen Aufenthalt auf dem Lande wieder zu Hause zu sein, war ihm sein eigener Schmerz so kostbar geworden, dass er es nicht ertragen konnte, sie zu sehen. Still ging er hinaus.

Er hielt sich fern von den anderen Jungen und suchte sich einen einsamen Platz, wo er mit seinen düsteren Gedanken allein sein konnte. Ein langes Floß auf dem Fluss schien ihm geeignet und er setzte sich auf die äußere Kante und starrte in die Flut.

Er wünschte, er würde sofort ertrinken, ohne etwas davon zu merken. Dann dachte er wieder an seine Blume. Er nahm sie aus seiner Jacke, sie war verwelkt und zerknittert, doch augenblicklich verbesserte der Anblick seine finstere Stimmung. Er fragte sich, ob sie ihn bemitleiden würde? Würde sie weinen und ihre Arme um seinen Hals legen und ihn trösten? Oder würde sie sich kalt abwenden wie die ganze Welt? Diese Vorstellung versetzte ihn in eine so trübe, aber doch wieder angenehme Stimmung, dass er die ganze Angelegenheit immer von neuem durchdachte. Schließlich sah er sie in einem ganz neuen Licht, sie erschien ihm jetzt ganz richtig. Endlich erhob er sich seufzend und verschwand in der Dunkelheit.

Gegen zehn Uhr erreichte er die einsame Straße, in der die unbekannte Angebetete wohnte; einen Augenblick hielt er an, aber sosehr er auch lauschte - er konnte keinen Laut vernehmen. Nur schwacher Kerzenschein erhellte ein Fenster des zweiten Stocks. War seine Schöne hinter diesem Fenster? Er stieg über den Zaun und tastete sich vorwärts, bis er unter dem erleuchteten Fenster stand. Lange sah er voll Rührung hinauf und legte sich dann darunter auf die Erde, die Blume in den Händen, die er auf der Brust gefaltet hielt. So wollte er sterben - ausgestoßen in dieser kalten Welt, kein Dach über seinem Haupte. Kein liebes Gesicht würde sich mitleidig über ihn beugen, wenn er mit dem Tode rang. Und so würde sie ihn sehen, wenn sie den jungen Morgen begrüßte, und -oh! würde sie wohl eine kleine Träne über diese arme leblose Hülle vergießen, die einst Tom Sawyer gewesen war?

Plötzlich öffnete sich das Fenster, die misstönende Stimme eines Dienstmädchens zerriss die heilige Stille, und eine Flut von Wasser ertränkte die Überreste des auf dem Boden liegenden Märtyrers. Schnaufend sprang unser Held auf. Ein Wurfgeschoss sauste durch die Luft, begleitet von einem gemurmelten Fluch, ein Geräusch splitternden Glases folgte, und eine kleine, unscheinbare Gestalt sprang über den Zaun und war verschwunden.

Nicht lange danach, als Tom, schon entkleidet, beim flackernden Licht einer Talgkerze seine durchnässten Kleider betrachtete, wachte Sid auf. Falls er jedoch vorgehabt hatte, irgendwelche Anspielungen zu machen, so besann er sich eines Besseren und hielt den Mund, denn Toms Augen versprachen nichts Gutes. Tom schlief ein ohne die übliche Plage des Betens, was Sid stillschweigend zur Kenntnis nahm.

Die Sonne erhob sich über eine ruhige Welt und schickte segnend ihre Strahlen auf das friedliche kleine Städtchen. Nachdem das Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familiengottesdienst; er begann mit Gebeten aus der Bibel und schloss mit einem geharnischten Kapitel aus dem Buch Mose. Anschließend raffte Tom sich endlich auf, seine Verse für die Sonntagsschule auswendig zu lernen. Sid hatte sie natürlich schon vor Tagen gelernt. Tom nahm all seine Gedanken zusammen, um sich fünf Verse zu merken, und er hatte sich sowieso schon die kürzesten ausgesucht.

Nach einer halben Stunde hatte er eine blasse Vorstellung von dem, was er können musste, aber auch nicht mehr. Mary nahm sein Buch, um ihn abzuhören, und unter vielen Mühen versuchte er aufzusagen: „Selig sind die - die - die..."

„Geistig..."

„Ja - geistig! Selig sind die geistig - geistig..." „Armen... "

„Armen! Also: Selig sind die geistig Armen, denn sie, sie.."„Ihrer... „

„Denn ihrer. Selig sind die geistig Armen, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind die Leidtragenden, denn sie - sie.."„Sol..."

„Denn sie sol..." „Sollen!"

„Oh, sollen! Denn sie sollen - denn sie sollen - sie sollen was? Warum sagst du es mir nicht, Mary? Warum bist du so gemein und ärgerst mich?"

„O Tom, du dummer Junge, ich will dich doch nicht ärgern! Aber du musst die Verse noch einmal lernen. Lass dich nicht entmutigen, Tom, du wirst es schon schaffen. Ich gebe dir auch etwas sehr Hübsches, wenn du es tust."

„Natürlich, aber was gibst du mir, Mary? Was ist es?"

„Nein, nein, Tom, noch sage ich es dir nicht. Aber du weißt, wenn ich sage, es ist hübsch, dann ist es hübsch."

Also versuchte es Tom noch einmal und Marys versprochenes Geschenk war für ihn ein solcher Ansporn, dass er einen durchschlagenden Erfolg erzielte. Mary gab ihm ein nagelneues Messer, das mindestens zwölf Cent gekostet hatte.

Bald musste er sich für die Sonntagsschule umziehen. Mary gab ihm eine Waschschüssel mit Wasser und ein Stück Seife und er ging hinaus und setzte draußen die Schüssel auf eine Bank, krempelte seine Ärmel hoch, schüttete das Wasser auf die Erde und ging dann in die Küche. Dort, hinter der Tür, begann er, sein Gesicht mit einem Handtuch zu bearbeiten.

Mary beobachtete ihn und sagte: „Dass du dich nicht schämst, Tom! Du musst nicht so ungezogen sein. Das Wasser wird dir nicht weh tun!"

Tom war sehr verlegen. Die Waschschüssel wurde nochmals gefüllt, er betrachtete sie und redete sich selbst Mut zu. Dann holte er tief Atem und begann, sich nochmals zu waschen. Als er nach einer Weile in die Küche kam, beide Augen geschlossen und mit den Händen nach dem Handtuch tastend, war sein Gesicht ganz nass. Mary war allerdings noch immer nicht zufrieden. Sie begann jetzt selbst, ihn zu bearbeiten, und als sie mit ihm fertig war, glänzte er förmlich vor Sauberkeit. Sein Haar war sorgfältig gebürstet und seine kurzen Locken waren mit mathematischer Genauigkeit gelegt. (Er hasste Locken und versuchte heimlich, sie glattzubürsten; denn er hielt Locken für unmännlich.)

Dann holte Mary seinen Anzug, den er seit zwei Jahren nur in der Sonntagsschule anziehen durfte - er wurde einfach der "andere Anzug" genannt. Und somit kennen wir auch seine gesamte Garderobe. Mary knöpfte seine Jacke bis zum Kinn zu, legte den großen Hemdkragen über seine Schultern, bürstete ihn und setzte ihm schließlich seinen bunten Strohhut auf den Kopf. Jetzt sah er zwar ordentlich und sauber aus, aber man sah es ihm an, dass er sich ausgesprochen unwohl fühlte. Er hasste Kleider, die nicht zerschlissen waren, und er hasste Sauberkeit. Er hoffte, Mary werde seine Schuhe vergessen, aber er wurde enttäuscht. Sie putzte sie sorgfältig mit Talg, wie es üblich war, und brachte sie ihm.

Sein Geduldsfaden riss, und er behauptete, er müsse immergerade das tun, was er nicht wolle. Aber Mary sagte ruhig: „Bitte, Tom - bitte!"

Widerwillig zog er die Schuhe an. Bald war auch Mary fertig und so begaben sich die drei Kinder zur Sonntagsschule - einem Ort, den Tom von ganzem Herzen hasste. Sid und Mary dagegen besuchten sie sehr gern.

An der Kirchentür blieb Tom einen Schritt hinter den anderen zurück und sprach einen sonntäglich gekleideten Jungen an: „Sag, Billy, haste einen gelben Zettel?"

„Ja."

„Was willste dafür haben?" „Was willste geben?"

„Ein halbes Bonbon und 'nen Angelhaken." „Lass sehen."

Tom zeigte seine Sachen vor. Sie waren zufrieden stellend, und die Güter wechselten ihren Besitzer. Dann tauschte Tom zwei weiße Glasmurmeln gegen drei rote Zettel und noch einpaar andere Dinge aus seinen Taschen gegen zwei blaue. Erkaufte Zettel von verschiedenen Farben. Jetzt betrat er die Kirche gemeinsam mit einem ganzen Schwarm sauberer Kinder, wartete noch zehn oder fünfzehn Minuten an der Tür und schob sich bis zu seinem Platz vor und fing mit dem ersten Jungen, der ihm dumm kam, zu streiten an. Der Lehrer, ein grauhaariger älterer Mann, brachte sie auseinander; doch kaum hatte er den Kindern den Rücken gedreht, als Tom auch schon einen anderen Jungen an den Haaren zog. Als der Junge sich umdrehte, schien Tom in sein Buch vertieft.

In der ganzen Sonntagsschulklasse gab es nur eine Sorte Jungen - sie waren alle unruhig, geräuschvoll und faul. Wenn sie ihre Verse aufsagen sollten, wusste keiner sie genau. Immerhin - sie kamen irgendwie durch, und jeder bekam eine Belohnung - kleine blaue Zettel mit Bibelsprüchen darauf. Jeder blaue Zettel war eine Belohnung für zwei gelernte Verse. Zehn blaue Zettelwaren so viel wert wie ein roter, zehn rote Zettel so viel wie eingelber, und für zehn gelbe Zettel bekam der Schüler vom Superintendenten eine wenig ansehnliche Bibel überreicht.

Mary hatte auf diese Weise schon zwei Bibeln erhalten - es war der Lohn für die harte Arbeit zweier Jahre - und ein Junge deutscher Abstammung hatte sogar schon vier oder fünf gewonnen. Tom hatte sich nie viel um diese Preise gekümmert - aber schon oft hatte er sich vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn ihm die Bibel überreicht würde.

Der Superintendent stand auf der Kanzel, mit einem geschlossenen Gesangbuch in der Hand, den Zeigefinger zwischen die Blätter geschoben, und gebot Aufmerksamkeit. Er war ein abgemagerter kleiner Mann von fünfunddreißig Jahren, mit einem rötlichen Spitzbart und kurzem rotem Haar. Er trug einen steifen hochstehenden Kragen, dessen obere Enden beinahe seine Ohren berührten und dessen scharfe Ecken beinahe in seine Mundwinkel stießen. Dies zwang ihn, immer ganz geradeaus zu schauen und wenn er einmal nach der Seite blicken wollte, musste er den Körper wenden. Sein Kinn lag auf einer weit auseinander gebreiteten Krawatte, die so groß und lang war wie eine Banknote.

Er begann wie üblich: „Nun, Kinder, ich wünsche, dass ihr alle gerade und hübsch dasitzt und mir für einen Augenblick eure Aufmerksamkeit schenkt. So ist es schön. So sollten es alle braven kleinen Jungen und Mädchen tun. Aber ich sehe dort ein kleines Mädchen, das aus dem Fenster schaut - ich fürchte, sie denkt, ich bin irgendwo da draußen, vielleicht in einem der Bäume, um eine Ansprache an die kleinen Vögelchen zu halten." (Beifälliges Gekicher. )

In diesem Sinne ging die Ansprache weiter.

Ein gut Teil des Geflüsters, das gerade jetzt in der Klasse herrschte, war auch auf ein mehr oder weniger seltenes Ereignis zurückzuführen: es waren Gäste eingetreten - Rechtsanwalt Thatcher, begleitet von einem sehr schwachen und alten Mann, dann ein netter, wohlbeleibter älterer Herr mit eisgrauem Haar und eine vornehme Dame, die zweifellos seine Frau war. Die Dame führte ein Kind an der Hand.

Bis zu diesem Augenblick war Tom unruhig, mürrisch und von Gewissensbissen geplagt gewesen -er konnte den liebenden Blick seiner früheren Freundin, Amy Lawrence, nicht ertragen. Aber als er diesen kleinen Neuankömmling sah, hob sich seine Stimmung sofort, und sein Herz füllte sich mit eitel Freude. Und im nächsten Moment „gab er an", wie er nur konnte, er zog die Kinder an den Haaren, schnitt Grimassen, er kniff die Jungen - mit einem Wort: er tat alles, um die Aufmerksamkeit der Kleinen auf sich zu ziehen.

Den Besuchern wurden die höchsten Ehrenplätze zugeteilt, und sobald Herr Walter seine Rede beendet hatte, machte er die Gäste mit den Schülern bekannt. Der ältere Herr war der Landrichter. Er kam aus Constantinopel, das zwölf Meilen entfernt lag - er war also weit gereist und hatte die Welt gesehen. Er war ein bedeutender Mann und die erhabenste Persönlichkeit, die diese Kinder je gesehen hatten.

Und der andere war der große Richter Thatcher, der Bruder des Rechtsanwalts von St. Petersburg. Sofort trat Jeff Thatcher vor und tat sehr vertraut mit dem großen Mann. Er wurde von der ganzen Schule beneidet.

Jetzt fehlte nur noch eins, um das Glück von Herrn Walter vollkommen zu machen, und das war die Gelegenheit, einem Jungen oder Mädchen eine Bibel zu verleihen. Einige Schüler hatten zwar ein paar gelbe Zettel, aber bei niemand reichten sie hin - er hatte die Besten schon gefragt.

Gerade in diesem Augenblick, als er alle Hoffnungen schon begraben hatte, kam Tom Sawyer nach vorne mit neun gelben, neun roten und zehn blauen Zetteln und verlangte eine Bibel. Das war wie ein Blitz aus heiterem Himmel!

Gerade von diesem Jungen hätte Herr Walter es nicht erwartet, dass er den Anforderungen für eine Bibel jemals genügen werde. Aber er konnte nichts dagegen machen - Tom hatte die Zettel und sie waren wirklich echt. Und so durfte sich Tom zu Richter Thatcher und den anderen Gästen setzen und die große Neuigkeit wurde verkündet.

Das war die erstaunlichste Überraschung des Jahrzehnts und die anderen Jungen waren grün vor Neid. Zu spät kam ihnen die Erleuchtung, dass sie selbst es gewesen waren, die zu Toms Ruhm beigetragen hatten, indem sie ihm ihre Zettel verkauft hatten.

Der Preis wurde Tom mit so viel Feierlichkeit überreicht, wie es der Superintendent unter diesen Umständen nur für richtig hielt. Amy Lawrence war stolz und glücklich, und sie versuchte, Toms Blick auf sich zu ziehen. Aber er wollte einfach nicht zu ihr hinsehen. Zunächst war sie erstaunt, dann ein bisschen beunruhigt; danach kam Argwohn in ihr auf. Sie beobachtete Tom jetzt ganz aufmerksam und da sagte ihr ein verstohlener Blick, den sie erhaschte, plötzlich alles.

Ihr brach das Herz, sie war eifersüchtig, ärgerlich und böse und dann weinte sie und hasste die ganze Welt.

Tom wurde dem Richter vorgestellt, aber seine Zunge war wie angenagelt, sein Atem kam stoßweise und sein Herz klopfte - zum Teil wegen der großen Persönlichkeit dieses Mannes, vor allem jedoch, weil er ihr Vater war. Der Richter legte seine Hand auf Toms Kopf, nannte ihn einen wackeren kleinen Mann und fragte nach seinem Namen.

Der Junge stotterte, bekam einen Hustenanfall und brachte schließlich heraus:

„Tom. - O nein, nicht Tom - ich wollte sagen - ich -heiße - Thomas."

„Aber du hast doch auch noch einen Nachnamen, Thomas", sagte Herr Walter, „und sage Sir. Vergiss nicht deine Manieren."

„Thomas Sawyer, Sir."

„Na ja, das ist schon recht so. Zweitausend Verse ist eine große Menge, eine ganz große Menge. Und es wird dir nie leid tun, dass du die Mühe gehabt hast, sie zu lernen; denn Wissen ist mehr wert als irgendetwas anderes in der Welt. Eines Tages wirst du ein großer und guter Mann sein, Thomas, und dann wirst du zurückschauen und sagen: >All das verdanke ich nur den kostbaren Sonntagsschulstunden - all das verdanke ich nur meinen lieben Lehrern, die mich lehrten zu lernen. Ich verdanke alles dem guten Superintendenten, der mich behütete, mich anspornte und mir schließlich eine wundervolle Bibel gab. < Das wirst du sagen, Thomas. Würde es dir jetzt etwas ausmachen, mir und dieser Dame hier einige von den Versen aufzusagen, die du gelernt hast? Gewiss kennst du die Namen der zwölf Apostel. Möchtest du uns nicht sagen, wie die ersten beiden hießen?"

Tom hantierte an einem Knopfloch herum und sah aus wie ein Schaf. Dann wurde er rot und schlug die Augen nieder. Herrn Walters Herz sank. Zu sich selbst sagte er: Ist es nicht möglich, dass der Junge die einfachste Frage beantworten kann? Warum fragte der Richter auch nur? Er fühlte sich jedoch verpflichtet zu sagen:

„Antworte dem Herrn, Thomas, und fürchte dich nicht."

Tom hüllte sich in Schweigen.

„Aber mir wirst du es sagen", mischte sich die Dame ein. „Die Namen der ersten beiden Apostel waren..."

„David und Goliath!"

Lasst uns das Ende dieser Szene mit dem Mäntelchen der Barmherzigkeit zudecken.

Die Schule ist eine Plage!

Den Montagmorgen fand Tom scheußlich. Er fand ihn immer scheußlich, denn es begann eine neue Woche endloser Leiden in der Schule. Am Montag wünschte er meistens, es gäbe keine Feiertage, denn sie machten die Schularbeiten und die Schule überhaupt nur noch abscheulicher.

Tom dachte nach und wünschte sich plötzlich, er wäre krank, denn dann hätte er die Schule schwänzen können. Das wäre wirklich eine Möglichkeit! Er tastete seinen Körper ab. Leider aber fand er keine Krankheit und begann seine Untersuchung von neuem. Diesmal glaubte er Leibschmerzen feststellen zu können und mit großen Erwartungen versuchte er, sie zu verstärken. Leider nützte es nichts, sie wurden immer schwächer und hörten schließlich ganz auf.

Plötzlich aber entdeckte er etwas! Einer seiner oberen Zähne war locker. Das war günstig und er wollte gerade anfangen zu stöhnen, als ihm einfiel, dass ihm seine Tante, wenn sie es hörte, den Zahn erbarmungslos ziehen würde, und das tat bestimmt weh. So überlegte er, dass es besser wäre, sich den Zahn als letzte Reserve aufzuheben und vorläufig weiterzusuchen. Aber es war vergeblich.

Dann erinnerte er sich, dass der Doktor einmal von einer Krankheit erzählt hatte, an der der Patient mindestens drei Wochen lang hatte leiden müssen, schließlich hatte er sogar einen Finger an dieser Krankheit verloren. Begierig zog der Junge seinen Fuß unter der Bettdecke hervor und untersuchte seine Zehe. Aber jetzt fiel ihm nicht mehr ein, wie sich diese Krankheit geäußert hatte. Ganz gleich - die Möglichkeiten, die sich ihm durch seine verletzte Zehe boten, musste er ausnützen. Mit bemerkenswerter Anstrengung fing er an zu stöhnen.

Aber Sid schlief ruhig weiter.

Tom stöhnte lauter und bildete sich nun wirklich ein, Schmerzen in der Zehe zu haben.

Sid hörte nichts.

Tom keuchte vor Anstrengung. Er machte eine Pause, sammelte alle Kraft und stieß dann eine Anzahl sehr vernehmbarer Seufzer aus.

Sid schnarchte weiter.

Tom war wütend. Er rief: „Sid, Sid!", und schüttelte ihn.

Das wirkte und Tom begann wieder zu stöhnen. Sid gähnte, streckte sich, richtete sich dann mit einem Schnaufen auf seinen Ellbogen auf und starrte Tom an. Der stöhnte. Da sagte Sid: „Tom! Hör mal, Tom! (Keine Antwort. ) He, Tom! Tom! Was ist los, Tom?" Und er schüttelte ihn und sah ihm ängstlich ins Gesicht.

Tom ächzte: „Oh, lass mich, Sid. Schüttele mich doch nicht so!"

„Warum, was ist los, Tom? Ich muss die Tante rufen." „Nein, es ist nichts. Es wird schon vorübergehen. Ruf niemand!"

„Aber ich muss! Stöhn doch nicht so, Tom, es ist schrecklich!"

„Ich vergebe dir alles, Sid (Stöhnen), alles, was du mir jemals angetan hast. Wenn ich sterbe..."

„Oh, Tom, du wirst doch nicht sterben? Nicht, Tom -oh, nicht. Vielleicht..."

„Ich vergebe allen, Sid. (Stöhnen.) Sag es ihnen, Sid. Und, Sid, gib den Fensterrahmen und die einäugige Katze dem Mädchen, das neulich in die Stadt gekommen ist, und sag ihr..."

Aber Sid war schon in seine Kleider gefahren und die Treppe hinuntergeflogen.

Tom litt nun wirklich, seine Phantasie arbeitete heftig, und sein Stöhnen klang ganz echt.

Sid rief: „Tante Polly, komm schnell, Tom liegt im Sterben!"

„Im Sterben?"

„Ja. Komm schnell!"

„Unsinn. Ich glaube kein Wort."

Aber trotzdem flog sie die Treppe hinauf, Sid und Mary folgten ihr auf dem Fuße. Ihr Gesicht war sehr weiß, und ihre Lippen zitterten. Als sie an Toms Bett stand, keuchte sie: „Tom! Was ist los mit dir?"

„Oh, Tante, ich bin..."

„Was ist los mit dir, was ist los mit dir, Kind?" „Oh, Tante, meine wunde Zehe stirbt ab!"

Die alte Dame sank in einen Stuhl und lachte ein bisschen und weinte ein bisschen, schließlich tat sie beides zusammen. Dann erholte sie sich wieder und sagte:

„Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt, Tom. Jetzt höre mit dem Unsinn auf und klettere aus dem Bett."

Das Stöhnen hörte auf und der Schmerz verschwand aus der Zehe. Der Junge fühlte sich erkannt und sagte:

„Wirklich, Tante Polly, er schien abzusterben, und es hat so weh getan, dass mir meine Zahnschmerzen gar nichts mehr ausgemacht haben."

„So, so, deine Zahnschmerzen. Was ist los mit deinem Zahn?"

„Er ist locker und tut schrecklich weh."

„Nun, nun, fang mir nicht wieder mit dem Stöhnen an!

Mach den Mund auf! Ja - dein Zahn ist locker, aber gewiss wirst du nicht davon sterben. Mary, hole mir einen seidenen Faden und etwas glühende Kohle aus der Küche."

„O bitte, Tantchen, zieh ihn nicht aus, es tut auch gar nicht mehr weh! Bitte nicht! Ich will heute auch nicht mehr die Schule schwänzen."

„Ach, so ist das! Du hast diesen Zirkus also nur veranstaltet, damit du die Schule schwänzen und fischen gehen konntest? Tom, Tom, ich habe dich so lieb, und du versuchst immer wieder, mein altes Herz mit diesen Unarten zu brechen." Jetzt waren die zahnärztlichen Instrumente bereit. Mit einer Schlinge befestigte die alte Dame das eine Ende des Fadens an Toms Zahn, und das andere Ende knüpfte sie an den Bettpfosten. Dann ergriff sie mit einer Zange die glühende Kohle und fuhr dem Jungen damit beinahe ins Gesicht - da baumelte der Zahn am Bettpfosten. Nach dem Frühstück, als Tom zur Schule ging, beneideten ihn alle Jungen, die er traf, denn die Lücke in der oberen Zahnreihe ermöglichte es ihm, auf eine neue und bewundernswerte Weise zu spucken. Eine ganze Anzahl interessierter Jungen versammelte sich um ihn. Ein Junge, der sich kürzlich in den Finger geschnitten hatte und bis jetzt Mittelpunkt der Neider und Bewunderer gewesen war, fand sich plötzlich ohne Anhänger und seines Ruhmes beraubt.

Bald darauf traf Tom den jugendlichen Ausgestoßenen des Städtchens, Huckleberry Finn, den Sohn eines Trunkenboldes. Huckleberry war bei allen Müttern in der Stadt gefürchtet und gehasst, denn sie fanden ihn gewöhnlich, schlecht und unbeaufsichtigt. Alle Kinder bewunderten ihn sehr und wünschten, sie könnten sein wie er. Auch Tom fand ihn großartig und spielte mit ihm, wann immer sich Gelegenheit dazu bot.

Huckleberry kam und ging, wann er wollte. Bei schönem Wetter schlief er draußen und bei schlechtem in verlassenen Hundehütten. Er ging weder zur Schule noch in die Kirche, niemand war sein Herr und er brauchte niemand zu gehorchen. Im Frühling war er immer der Erste, der barfuß ging, und im Herbst der Letzte, der Schuhe anzog, und er konnte wundervoll fluchen. Kurz, er besaß alles, was das Leben eines Jungen lebenswert machen konnte. Tom rief den romantischen Außenseiter an: „He, Huckleberry!"

„He!

„Was hast du da?"

„'ne tote Katze."

„Lass mich mal sehen, Huck. Mann, ist die steif! Wo hast du sie her?"

„Von 'nem Jungen gekauft."

„Was hast du ihm dafür gegeben?"

„'nen blauen Zettel und 'ne Schweinsblase vom Schlachter." „Woher hattest du den blauen Zettel?"

„Vor zwei Wochen von Ben Rogers für 'n Fassreifen gekauft." „Sag, Huck - was kann man mit toten Katzen eigentlich anfangen?"

„Was? Warzen wegkriegen!"

„Nein, wirklich? Wie macht man das denn?"

„Nun, du nimmst deine Katze und gehst damit auf den Friedhof, so um Mitternacht herum, zu einer Zeit, wenn irgendeiner gerade beerdigt worden ist. Wenn es nun Mitternacht ist, kommt ein Teufel, vielleicht auch zwei oder drei, aber du kannst sie nicht sehen, du hörst nur was von ihrem Sausen des Windes, und wenn sie den Toten dann wegholen, wirfst du deine Katze in die Luft und sagst: Teufel folge der Leiche, Katze folge dem Teufel, Warzen folgt der Katze, und ich bin euch los! Dadurch wirst du jede Warze los." „Hört sich nicht schlecht an. Hast du's mal versucht, Huck?" „Nee, aber die alte Mutter Hopkins hat es mir gesagt." „Nun, dann wird es wohl stimmen. Sie sagen nämlich alle, sie wär 'ne Hexe."

„Sie sagen! Ich weiß, dass sie eine ist. Sie hat Vater verhext. Vater sagt es ja selbst. Eines Tages kam er zu ihr und sah, dass sie ihn behexen wollte. Er nahm aber einen Stein, und wenn sie ihm nicht entwischt wäre, hätte er sie getroffen. Nun, in derselben Nacht fiel er von einem Schuppen herunter und brach sich den Arm."

„Das ist ja schrecklich! Aber woher wusste er, dass sie ihn behexen wollte?"

„Du lieber Gott, Vater versteht sich gut auf so was. Er sagt, wenn sie einen immerzu ansehen, verhexen sie einen. Besonders, wenn sie dazu murmeln."

„Sag, Huck, wann wirst du das mit der Katze versuchen?" „Heute Nacht. Ich schätze, die Teufel kommen heute, um den alten Williams zu holen." „Aber der ist doch schon am Sonnabend beerdigt worden. Haben sie ihn nicht schon am Sonnabend geholt?"

„Wie du redest! Es war doch die Nacht von Sonnabend auf Sonntag: Und ich glaube nicht, dass sie sonntags arbeiten!" „Daran habe ich gar nicht gedacht. Kann ich mit dir gehen?" „Natürlich, wenn du keine Angst hast." „Angst! Nicht gut möglich. Machst du miau?" „Ja - und du musst als Antwort ebenfalls miau machen, wenn es möglich ist. Das letzte Mal hast du mich immerzu miauen lassen, bis der alte Hays anfing, Steine nach mir zu schmeißen, und sagte: >Verdammte Katze !< Deshalb hab ich ihm einen Stein durchs Fenster geschmissen - sag das aber bloß nicht!"

„Nein. Aber in der Nacht konnte ich wirklich nicht miauen, denn meine Tante bewachte mich. Aber heute mache ich bestimmt miau. Sag mal, was ist denn das?"

„Nur 'n Holzbock."

„Wo hast du ihn her?"

„Aus dem Wald,"

„Was willst du dafür haben?"

„Ich will ihn nicht verkaufen."

„Gut. Ist ja auch 'n mächtig kleiner Holzbock."

„Jeder kann 'nen Holzbock schlecht machen, der ihm nicht gehört. Auf jeden Fall bin ich damit zufrieden. Er ist gut genug für mich."

„Huck, ich gebe dir meinen Zahn dafür." „Lass sehen!"

Tom holte ein Stückchen Papier aus der Tasche und wickelte es sorgfältig auf. Habgierig betrachtete Huckleberry den Zahn. Die Versuchung war groß. Schließlich fragte er: „Ist er echt?"

Tom zog seine Lippe in die Höhe und zeigte die Lücke.

„Gut", sagte Huckleberry, „ist gemacht."

Tom legte den Holzbock in die Schachtel, die kürzlich noch als Gefängnis für einen Käfer gedient hatte, und die Jungen trennten sich, jeder mit dem Gefühl, reicher zu sein als vorher.

Als Tom das allein stehende kleine Schulhaus erreicht hatte, ging er eilig hinein. Er hängte seine Mütze an einen Nagel und warf sich mit geschäftiger Eile auf seine Bank. Der Lehrer, der hoch auf dem Katheder in seinem Sessel thronte, hatte, eingelullt von dem eintönigen Murmeln der Kinder, vor sich hin gedöst. Diese Störung aber weckte ihn.

„Thomas Sawyer!"

Tom wusste, dass es Ärger gab, wenn jemand seinen Vornamen nicht abkürzte.

„Sir!"

„Komm hierher! Nun, Bürschchen, warum bist du wieder zu spät gekommen?"

Tom wollte gerade eine Notlüge gebrauchen, als er zwei lange blonde Zöpfe sah, die einen Rücken herunterhingen, den er als Liebender sofort erkannte.

In dieser Bank war der einzige freie Platz im ganzen Schulraum - auf der Seite der Mädchen! Er sagte sofort:

„Ich habe mich aufgehalten, weil ich mit Huckleberry Finn gesprochen habe!"

Der Puls des Lehrers stand still, und er starrte Tom hilflos an. Das Gemurmel der Kinder hörte auf. Die Schüler fragten sich, ob Tom verrückt geworden sei. Dann sagte der Lehrer: „Was - tatest du?"

„Ich habe mit Huckleberry Finn gesprochen."

„Thomas Sawyer, das ist das erstaunlichste Bekenntnis, das ich je gehört habe. Zieh deine Jacke aus!"

Der Arm des Lehrers arbeitete, bis er müde wurde. Dann wurden die Schläge schwächer. Jetzt folgte der Befehl:

„Geh nun und setze dich zu den Mädchen! Und lass dir dies eine Warnung sein."

Tom setzte sich auf die Bank und das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und rückte ein Stück von ihm ab. Die anderen stießen sich an und flüsterten, aber Tom saß ganz still, die Arme auf das lange, niedrige Pult gestützt und schien vertieft in sein Buch.

Nach und nach setzte das eintönige Murmeln wieder ein, und alles war wie zuvor. Bald fing der Junge an, dem Mädchen heimlich Blicke zuzuwerfen. Sie bemerkte es, zog ein Mäulchen und drehte ihm wieder den Rücken zu. Als sie sich einmal umwandte, lag ein Pfirsich vor ihr.

Sie schob ihn fort und Tom legte ihn abermals behutsam auf ihren Platz. Sie schob ihn zwar wieder fort, diesmal aber weniger schroff. Geduldig legte Tom ihn wieder zurück. Sie ließ ihn liegen. Tom kritzelte auf seine Schiefertafel: „Bitte nimm ihn — ich habe noch welche." Sie las die Worte, sagte aber nichts.

Nun fing der Junge an, etwas auf seine Tafel zu zeichnen. Er verdeckte jedoch seine Arbeit mit der linken Hand. Zuerst tat sie, als bemerkte sie nichts, dann wurde sie doch neugierig und machte ihm kaum wahrnehmbare Zeichen. Der Junge arbeitete weiter und schien nichts zu merken. Das Mädchen machte einen Versuch, es zu sehen, aber der Junge tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Schließlich gab sie nach und flüsterte zögernd:

„Ich möchte es sehen."

Tom enthüllte ein Stück von einer schrecklichen Zeichnung. Sie stellte ein Haus mit zwei Giebeln dar, mit einem Korkenzieher von Rauch, der sich aus dem Schornstein wand. Ihre Neugier wuchs und sie vergaß über der Zeichnung alles andere. Als sie sie lange genug betrachtet hatte, flüsterte sie: „Das ist hübsch -zeichne mal einen Mann!"

Der Künstler zeichnete einen Mann, der über das Haus hätte hinwegsteigen können. Aber das Mädchen war nicht überkritisch; sie war mit dem Ungetüm zufrieden und flüsterte:

„Was für ein schöner Mann - und nun zeichne mich, wie ich den Weg entlangkomme."

Tom zeichnete ein Stundenglas mit einem Vollmondgesicht und langen Armen und Beinen und bewaffnete die weit gespreizten Finger mit einem übergroßen Fächer.

Das Mädchen sagte: „Wie hübsch es ist - ich wollte, ich könnte zeichnen."

„Es ist doch sehr leicht", flüsterte Tom, „ich werde es dir zeigen."

„Oh, wirklich? Wann?"

„Heute Nachmittag. Gehst du zum Essen nach Hause?"

„Ich bleibe hier, wenn du willst."

„Gut, abgemacht. Wie heißt du?"

„Becky Thatcher. Und du? Oh, ich weiß schon: Thomas Sawyer."

„So nennen sie mich nur, wenn sie mich prügeln. Tom heiße ich, wenn ich brav bin. Sag Tom zu mir, willst du?"

„Ja."

Wieder begann Tom, etwas auf die Tafel zu kritzeln, versteckte die Worte aber vor dem Mädchen. Diesmal war sie nicht schüchtern, sondern bat ihn, ihr das Geschriebene zu zeigen.

Tom sagte: „Oh, es ist nichts."

„Doch."

„Nein. Du willst es ja auch gar nicht sehen."

„Doch, wirklich! Bitte lass es mich sehen!"

„Du wirst es verraten."

„Nein, wirklich nicht, ganz bestimmt nicht."

Sie legte ihre Hand auf seine und es folgte ein kleines Handgemenge. Endlich ließ Tom, wenn auch nur widerstrebend, langsam seine Hand heruntergleiten, bis die Worte zum Vorschein kamen: „Ich liebe dich."

„Och, du Böser! Und sie versetzte ihm einen leichten Klaps auf die Hand, wurde aber jedenfalls rot und sah angenehm überrascht aus. Gerade in diesem Augenblick fühlte der Junge einen langsamen, verhängnisvollen Griff an seinem Ohr, der ihn nach oben zog. So wurde er unter dem Hohngelächter der ganzen Klasse durch das Zimmer gezogen und auf seinen alten Platz gesetzt. Einige schreckliche Minuten lang stand der Lehrer über ihn gebeugt, dann endlich schritt er langsam, ohne ein Wort zu sagen, seinem Thron zu. Obwohl es in Toms Ohren klingelte, jubelte sein Herz.

Als sich die Klasse wieder beruhigt hatte, machte Tom einen ernstlichen Versuch, aufmerksam zu sein, aber der Tumult in seinem Innern war zu groß.

In der Lesestunde wurde es noch ärger mit ihm. Und in der Erdkundestunde verwandelte er Seen in Berge, Berge in Flüsse und Flüsse in Erdteile, bis alles nur noch ein Durcheinander war. Bei der Rechtschreibung konnte er nicht einmal die einfachsten Wörter buchstabieren und musste deshalb die Medaille, die er für besondere Leistungen in diesem Fach erhalten und monatelang mit größtem Stolz getragen hatte, abgeben.

Tom ist verliebt

Je mehr Tom versuchte, seine Gedanken auf das Buch zu konzentrieren, desto weiter weg wanderten sie. Schließlich gab er es unter Seufzen und Gähnen auf. Es schien ihm, als ob der Mittag niemals kommen wollte. Die Luft stand fast still. Kein Windchen wehte. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage.

Tom sehnte sich von Herzen nach Freiheit. Er wollte irgendetwas Ungewöhnliches tun, um die Zeit totzuschlagen. Seine Hand fuhr in die Tasche und sein Gesicht leuchtete plötzlich auf. Heimlich holte er die Käferschachtel heraus. Er befreite den Holzbock und setzte ihn auf das lange flache Pult. Dankbar wollte sich das Tierchen gerade davonmachen, als Tom es mit einer Nadel zwang, eine andere Richtung einzuschlagen.

Neben Tom saß sein bester Freund, der bis jetzt unter der Langeweile ebenso gelitten hatte wie Tom; jetzt war er sofort mit Leib und Seele an dem neuen Unterhaltungsspiel beteiligt. Dieser Freund hieß Joe Harper. Die beiden Jungen waren die ganze Woche über Verbündete und Freunde, aber an Sonnabenden die erbittertsten Gegner. Joe zog eine Nadel aus seinem Rockaufschlag und begann, Tom bei den Übungen mit dem Gefangenen zu unterstützen. Sofort wurde er lebhafter. Bald machte Tom ihn jedoch darauf aufmerksam, dass sie sich gegenseitig störten und um den vollen Genuss des Spiels brächten.

Deshalb legte er Joes Schiefertafel auf das Pult und zog einen Strich über die Mitte der Tafel.

„So", sagte er, „solange er auf deiner Seite ist, kannst du mit ihm spielen, und ich lasse dich zufrieden; wenn du ihn aber krabbeln lässt und er kommt auf meine Seite, musst du ihn in Ruhe lassen."

„Einverstanden! Fang an; lass ihn laufen."

Der Holzbock riss Tom aus und überquerte die Grenze.

Joe jagte ihn eine Weile hin und her, schließlich entkam er aber und kroch wiederum über die Grenze. Dies geschah jetzt oft. Während der eine den Holzbock mit größtem Interesse plagte, sah der andere mit der gleichen Anteilnahme zu. Die beiden Köpfe waren über die Tafel gebeugt und in ihrer Umgebung gab es nun nichts anderes mehr für sie. Schließlich schien das Glück zu Joes Gunsten zu entscheiden. Der Holzbock lief einmal in diese, dann in jene Richtung und wurde ebenso aufgeregt und ängstlich wie die Jungen. Und immer, wenn Tom glaubte, der Käfer werde auf seine Seite krabbeln, als es ihm schon in den Fingern juckte, mit dem Spiel anzufangen, drehte Joe den Holzbock sehr geschickt mit seiner Nadel um. Schließlich konnte Tom es nicht länger aushalten. Die Versuchung war zu groß und er langte mit der Nadel hinüber.

Sofort wurde Joe ärgerlich. Er sagte: „Tom, lass ihn zufrieden!"

„Hör zu, Joe Harper, wem gehört dieser Holzbock?"

„Interessiert mich nicht - er ist auf meiner Seite und du darfst ihn nicht berühren."

„Und ich tu's doch! Es ist mein Holzbock und ich kann damit tun und lassen, was ich will!"

Ein schwerer Schlag traf Toms Rücken, dann den von Joe, und für die nächsten beiden Minuten flog der Staub aus ihren beiden Jacken, zur Freude der ganzen Klasse. Sie waren zu vertieft in ihr Spiel gewesen, als dass sie plötzlich die Stille hätten bemerken können, als der Lehrer auf Zehenspitzen durch den Raum geschlichen war. Eine ganze Weile hatte er der Vorstellung zugesehen und erst dann seinen Beitrag zu dem Vergnügen gegeben.

Als am Nachmittag die Schule aus war, flog Tom auf Becky Thatcher zu und flüsterte ihr ins Ohr:

„Setz deine Mütze auf und tu so, als ob du nach Hause gingest; lass die anderen Mädchen an der Ecke weitergehen und komm durch die Wiese zurück. Ich gehe den anderen Weg und komme dir entgegen."

So machte sich der Junge mit einer Gruppe von Schülern davon, und das Mädchen mit ihren Freundinnen. Nach einer Weile trafen sich die beiden am Ende der Wiese. Als sie wieder bei der Schule ankamen, war niemand mehr da. Sie setzten sich zusammen auf eine Bank, jeder mit einer Schiefertafel vor sich. Tom gab Becky den Bleistift und hielt ihre Hand und führte sie. Als das Interesse an dieser Kunst ein wenig nachließ, begannen die beiden, sich zu unterhalten. Tom schwamm in Seligkeit. Er fragte: „Magst du Ratten?"

„Nein! Ich hasse sie!"

„Ich meine tote Ratten, die man an einem Faden um seinen Kopf kreisen lassen kann."

„Nein, ich mag sie trotzdem nicht. Was ich mag, ist Kaugummi."

„O ja, ich auch. Ich wollte, ich hätte jetzt ein Stück."

„Ja? Ich habe etwas. Ich lasse dich ein bisschen kauen, aber danach musst du es mir wiedergeben."

Tom war einverstanden, und sie kauten abwechselnd und ließen dabei zufrieden ihre Beine baumeln.

„Bist du schon mal im Zirkus gewesen?" fragte Tom.

„Ja, und Vater will mich noch mal mitnehmen, wenn ich brav bin."

„Ich bin schon vier- oder fünfmal im Zirkus gewesen. Da ist auch immer was los. Ich möchte mal Clown in einem Zirkus werden, wenn ich groß bin."

„Wirklich? Das wird aber hübsch. Ich finde Clowns so niedlich mit ihrem getupften Anzug."

„Ja und sie verdienen eine Masse Geld - die meisten einen Dollar am Tag, sagt Ben Rogers. Sag, Becky, bist du jemals verlobt gewesen?"

„Was ist das?"

„Nun, verlobt - und danach heiratet man."

„Nein."

„Möchtest du es gern?"

„Ich glaube schon. Ich weiß nicht. Wie ist es denn eigentlich?"

„Ich weiß auch nicht genau. Du musst nur einem Jungen sagen, dass du niemals einen anderen nehmen wirst, aber wirklich niemals, und dann küsst ihr euch, und das ist alles. Jeder kann es tun."

„Küssen? Warum küsst man sich?"

„Nun, das ist, weißt du, um - nun, man tut es nun mal so."

„Jeder?"

„Natürlich, alle, die sich lieb haben. Erinnerst du dich, was ich auf die Tafel geschrieben habe?"

„Ich will es nicht sagen."

„Soll ich es sagen?"

„J-ja, aber lieber ein anderes Mal."

„Nein, jetzt!"

„Nein, nicht jetzt - morgen!"

„O nein, jetzt. Bitte Becky - ich werde es flüstern, ich werde es ganz leise flüstern."

Becky zögerte. Tom nahm ihr Schweigen für Zustimmung, legte den Arm um sie und flüsterte die Worte sehr sanft, seinen Mund nahe an ihrem Ohr. Dann fügte er hinzu:

„Nun flüstere es mir genauso ins Ohr."

Sie zögerte eine Weile, dann sagte sie:

„Dreh dein Gesicht herum, so dass du nichts sehen kannst, dann will ich es dir sagen. Aber du darfst es niemals jemand sagen, nicht wahr, Tom?"

„Ich werde es nicht sagen. Aber jetzt sag es mir, Becky."

Er drehte sein Gesicht zur Seite. Schüchtern wandte sie sich zu ihm, bis ihr Atem seine Locken streifte, und flüsterte: „Ich - liebe - dich!"

Dann sprang sie auf und rannte um die Tische und Bänke, und Tom sprang hinter ihr her. Schließlich suchte sie Zuflucht in einer Ecke und hielt schützend ihre kleine weiße Schürze vor das Gesicht.

Tom legte den Arm um ihren Hals und bettelte: „Jetzt ist alles in Ordnung, Becky - bis auf den Kuss. Fürchte dich doch nicht davor, es ist doch überhaupt nichts dabei. Bitte, Becky!"

Er versuchte, die Schürze von ihrem Gesicht fortzuziehen. Nach und nach gab sie den Widerstand auf, und ihre Hände fielen herab; ihr Gesicht, glühend vom Kampf, kam hoch, und sie ließ es geschehen. Tom küsste ihre roten Lippen und sagte:

„Jetzt ist alles erledigt, Becky. Und von nun an darfst du nur noch mich lieben und niemals jemand anders heiraten als mich. Willst du?"

„Ja, ich werde immer nur dich lieben, Tom, und nur dich heiraten - aber du darfst auch niemals jemand anders heiraten als mich."

„Natürlich nicht, das gehört doch dazu! Und jedes Mal, wenn du zur Schule oder nach Hause gehst, musst du mit mir gehen, wenn es niemand sieht. Und bei Festen wählst du mich, und ich wähle dich, denn so wird es gemacht, wenn man verlobt ist."

„Es ist so hübsch. Ich habe nie vorher davon gehört."

„Oh, es ist wundervoll! Ich und Amy Lawrence..."

Die großen Augen des Mädchens zeigten Tom, dass er einen Fehler gemacht hatte, und verwirrt stockte er.

„Oh, Tom, dann bin ich also nicht die Erste, mit der du verlobt bist!" Das Kind begann zu weinen.

„Oh, weine nicht, Becky. Ich mag sie doch gar nicht mehr."

„Das tust du doch, Tom, und du weißt es."

Tom versuchte, den Arm um ihren Hals zu legen, aber sie stieß ihn fort und drehte ihr Gesicht zur Wand. Tom versuchte es noch einmal mit besänftigenden Worten, aber er wurde abermals zurückgestoßen. Da wurde sein Stolz wach. Er stand auf und ging hinaus. Da stand er nun draußen, blickte unglücklich und unruhig nach der Tür und hoffte, sie werde herauskommen und nach ihm suchen. Aber sie tat es nicht.

Er fühlte sich elend und war sich seiner vermeintlichen Schuld bewusst. Es kostete ihn große Überwindung, wieder hineinzugehen. Sie stand noch immer in der Ecke und schluchzte. Das Gesicht hatte sie zur Wand gedreht. Tom war gerührt. Er ging zu ihr und stand eine Weile still vor ihr. Er wusste nicht, wie er beginnen sollte. Dann sagte er zögernd:

„Becky, ich - ich liebe wirklich nur dich."

Keine Antwort - nur Schluchzen.

„Becky", sagte er noch einmal bittend, „Becky, willst du nicht ein einziges Wort sagen?"

Verstärktes Schluchzen.

Da nahm Tom seinen kostbarsten Besitz, den Messingknopf eines Schürhakens, aus der Tasche und hielt ihn so, dass sie ihn sehen konnte. Dabei sagte er:

„Bitte, Becky, willst du ihn denn nicht haben?"

Sie schleuderte ihn auf den Boden.

Da ging Tom aus dem Schulhause und wanderte weit fort über die Hügel. An diesem Tage würde er nicht mehr zur Schule zurückkehren.

Bald wurde Becky unruhig. Sie lief zur Tür; er war nirgends zu sehen. Sie flog ums Haus zum Spielplatz; auch hier war er nicht. Da rief sie:

„Tom! Komm zurück, Tom!"

Sie lauschte, aber es kam keine Antwort. Stille und Einsamkeit waren Beckys einzige Gesellschaft. Sie setzte sich hin und fing an zu weinen.

Gerade jetzt kamen die anderen Schüler zum Nachmittagsunterricht, und sie verbarg ihren Kummer und ihre Sorgen.

Sie musste nun die Leiden eines langen, langweiligen und bitteren Nachmittags auf sich nehmen und es gab niemand unter all den Fremden, mit dem sie ihre Sorgen hätte teilen können.

Toni lief, sich immer wieder umblickend, durch die Gassen, bis er von den zurückkehrenden Schulkindern nicht mehr gesehen werden konnte, und fiel dann in einen schlafmützigen, schlendernden Gang. Zwei- oder dreimal sprang er über einen kleinen Bach, denn es herrschte ein alter Aberglaube unter den Jungen, der besagte, dass man durch Überschreiten von Wasser jeden Verfolger abschütteln könne.

Eine halbe Stunde später war er hinter dem Wohnhaus der Witwe Douglas auf dem Cardiff-Hügel verschwunden, das Schulhaus unten im Tal war kaum noch zu sehen. Er betrat einen dichten Wald, strolchte eine Weile darin umher und setzte sich schließlich unter einer riesigen Eiche ins Moos.

Hier saß er lange, die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände gestützt. Was hatte er diesem Mädchen nur getan? Nichts! Er hatte nur das Beste gewollt und sie hatte ihn wie einen Hund behandelt -wirklich, wie einen Hund. Aber eines Tages würde es ihr schon leid tun - vielleicht war es dann zu spät. Ach, wenn er nur schnell sterben könnte!

Aber ein Jungenherz kann nicht lange bedrückt sein. Schon bald kehrten sich Toms Gedanken wieder den Dingen seiner Umwelt zu. Was dann, wenn er nun fortgehen und auf geheimnisvolle Weise verschwinden würde? Fortgehen - sehr weit fort, in fremde Länder jenseits der Meere? Was würde sie dann sagen? Sein Vorhaben, ein Clown zu werden, fiel ihm wieder ein, diesmal jedoch erfüllte ihn dieser Gedanke mit Abscheu; denn Dummheiten und Spaße und getupfte Gewänder waren eine Zumutung für ihn, dessen Gedanken sich gerade in den Gefilden der Romantik befanden.

Nein, er wollte Soldat werden und nach vielen Jahren als berühmter Mann zurückkehren. Halt — noch besser war es, zu den Indianern zu gehen, Büffel mit ihnen zu jagen und mit ihnen gemeinsam in den Bergen und in den unendlichen Weiten des Wilden Westens auf den Kriegspfad zu gehen. Und eines Tages würde er als großer Häuptling, mit Federn geschmückt und Furcht erregend bemalt, zurückkommen; und dann würde er an einem schläfrigen Sommermorgen mit einem Kriegsschrei, der durch Mark und Bein ging, in die Sonntagsschule hineinplatzen. Seine Kameraden sollten vor Neid grün werden. Aber nein - es gab noch etwas Aufregenderes als das. Er würde ein Seeräuber werden! Das war es!

Jetzt lag seine Zukunft strahlend und in unvorstellbarem Glanz vor ihm. Sein Name würde um die Welt gehen und alle Leute sollten vor ihm zittern! Wie glorreich würde er mit seinem langen, niedrigen schwarzen Renner, dem „Geisterschiff", das tosende Meer durchpflügen, die grausige Flagge am Mast! Und plötzlich, auf der Höhe seines Ruhmes, würde er wieder in dem alten Städtchen erscheinen und in die Kirche treten, mit wettergebräuntem Gesicht, angetan mit schwarzer Samthose und Wams, großen Stiefeln, roter Schärpe, den Gürtel gespickt mit Reiterpistolen, den blutbefleckten Säbel an der Seite. Und dann würde er voller Entzücken hören, wie die Leute flüsterten: „Es ist Tom Sawyer, der Pirat! Der schwarze Räuber der spanischen Meere!"

Jawohl, so war es richtig! Alles war jetzt entschieden, seine Laufbahn stand fest. Er würde von daheim fortlaufen. Schon morgen wollte er es tun.

In diesem Augenblick hörte er den schwachen Ton einer Spielzeugtrompete. Sofort warf er die Jacke ab, verwandelte die Hosenträger in einen Gürtel, durchstöberte das Gebüsch hinter einem Baumstamm und entdeckte dort Pfeil und Bogen, ein Schwert aus Holz und eine Blechtrompete. Im nächsten Augenblick ergriff er diese Dinge und stürzte los, barfuß und mit flatterndem Hemd. Ein wenig später blieb er unter einer großen Ulme stehen, stieß in die Trompete und schlich dann, sich vorsichtig umsehend, auf Zehenspitzen weiter. Seinen Begleitern, die allerdings nur in seiner Einbildung vorhanden waren, flüsterte er vorsichtig zu: „Haltet an, wackere Männer! Versteckt euch, bis ich blase!"

Jetzt tauchte Joe Harper auf, ebenso luftig gekleidet und vollendet bewaffnet wie Tom.

Tom rief: „Halt! Wer wagt es, ohne meine Erlaubnis Sherwood zu betreten?" „Guy von Guisborne braucht keines Menschen Erlaubnis. Wer bist du, dass - dass..."

„... du es wagst, so zu sprechen", vollendete Tom, denn die beiden Jungen sprachen Sätze nach, die sie in einem bestimmten Buch gelesen hatten.

„Wer bist du, dass du es wagst, so zu sprechen?"

„Ich bin es, Robin Hood, und dein erbärmliches Gerippe wird es bald erfahren."

„Wie, so bist du also jener berühmte Geächtete? Freudig will ich mit dir um die Herrschaft dieses schönen Waldes streiten. Aufgepasst!"

Sie packten ihre hölzernen Schwerter und begannen einen scharfen Kampf, dabei führten sie immer sorgfältig „zwei Streiche oben und zwei Streiche unten" aus, bis Tom sagte: „Schneller! Lebendiger!"

Und so kämpften sie „lebendiger" und keuchten und schwitzten bei der Arbeit. Schließlich schrie Tom:

„Fallen! So fall doch endlich! Warum fällst du nicht?"

„Ich werde nicht fallen. Warum fällst du nicht? Du wirst doch geschlagen."

„Aber ich kann doch nicht fallen. Das ist doch dann nicht so, wie es im Buch geschrieben steht. Das Buch sagt: >Und mit einem mächtigen Hieb in den Rücken schlug er den armen Guy von Guisborne zu Boden. < Du bist es also, der sich umdrehen und den ich mit einem Schlag in den Rücken sterben lassen muss."

Joe sah das ein und so drehte er sich herum, erhielt seinen Schlag und fiel.

„So", sagte Joe, als er wieder hochkam, „jetzt musst du es auch zulassen, dass ich dich töte. Sonst ist's nicht fair."

„Aber das kann ich nicht tun, es steht doch nicht im Buch."

„Ist doch egal - nun mach schon!"

„Hör mal, Joe, du könntest doch der Bruder Tuck oder Much der Müllerssohn sein und mich mit einem Stock durchprügeln; aber nein, ich kann ja der Sheriff von Nottingham sein und du der Robin Hood."

Joe war zufrieden und der Mord wurde ausgeführt. Dann wurde Tom wieder Robin Hood, er starb an seinen unheilbaren Wunden und wurde bald darauf von Joe, der jetzt eine ganze Schar von weinenden Gesetzlosen verkörperte, fortgezerrt. Joe gab ihm seinen Bogen in die zitternden Hände und Tom sagte mit schwacher Stimme: „Wo dieser Pfeil niederfallen wird, dort begrabt den armen Robin Hood unter den Bäumen."

Dann schwirrte der Pfeil durch die Luft, Tom fiel zurück und wäre gestorben, wenn er nicht in eine Brennnessel gefallen wäre, die ihn, etwas zu lebhaft für einen Sterbenden, wieder aufspringen ließ.

Die beiden Jungen zogen sich wieder an, versteckten ihre Waffen und machten sich auf den Heimweg, verdrießlich darüber, dass es keine Geächteten mehr gab. Sie fragten sich, was die moderne Zivilisation wohl tun könne, um diesen Verlust auszugleichen, und stimmten darin überein, dass sie lieber ein Jahr lang Geächtete in Sherwood wären als auf Lebenszeit Präsident der Vereinigten Staaten.

Ein unheimliches Erlebnis

Wie üblich wurden Tom und Sid um halb zehn zu Bett geschickt. Sie sprachen ihr Gebet und bald war Sid eingeschlafen. Tom lag wach und wartete mit Ungeduld. Ihm schien es, als würde es schon Morgen, als er endlich die Uhr schlagen hörte. Erst zehn! Er bemühte sich wach zu bleiben, aber nach einer Weile schlief er doch ein; es schlug elf, er hörte es nicht.

In seine verworrenen Träume mischte sich Katzengeschrei, ein Fenster wurde geöffnet und eine zornige Stimme rief: „Verdammtes Katzenvolk!" Das Splittern einer Flasche, die am Holzschuppen der Tante zerbarst, weckte Tom schließlich ganz auf. Er fuhr aus dem Bett, und innerhalb einer Minute war er angezogen und kletterte aus dem Fenster.

Auf allen vieren kroch er über das Dach, miaute ein paarmal vorsichtig, sprang auf das Dach des Holzschuppens und von dort auf die Erde. Huckleberry Finn erwartete ihn mit seiner toten Katze. Die Jungen setzten sich in Trab und verschwanden in der Dunkelheit. Eine halbe Stunde später wateten sie durch das hohe Gras des Friedhofes.

Ein schwacher Wind strich durch die Bäume, und Tom fürchtete, es seien die Geister der Toten, die sich über die Störung beklagten. Die Jungen sprachen selten und dann nur im Flüsterton, denn die nächtliche Stille bedrückte sie. Sie erreichten den frischen Erdhügel, den sie gesucht hatten, und verbargen sich im Schütze dreier Ulmen, die nur einen Schritt vom Grabe entfernt standen.

Schweigend warteten sie. Nur der Schrei einer Eule unterbrach die Grabesstille. Das Schweigen wurde bedrückend. Tom fühlte, dass er etwas sagen musste. Deshalb flüsterte er ganz leise:

„Hucky, glaubst du, dass die toten Leute es gern haben, wenn wir hier sind?"

Huckleberry erwiderte: „Möcht ich auch gern wissen. Ist alles so feierlich, nicht?"

„Hm."

Wieder schwiegen sie. Dann flüsterte Tom: „Sag, Hucky glaubst du, dass Ross Williams uns reden hört?"

„Natürlich! Sein Geist bestimmt."

Tom, nach einer Weile: „Ich wollte, ich hätte Herr Williams gesagt. Aber ich habe es nicht böse gemeint. Jeder nennt ihn Ross."

„Man kann gar nicht vorsichtig genug sein, wenn man von toten Leuten spricht, Tom."

Das war ein Dämpfer und die Unterhaltung erstarb wieder.

Plötzlich ergriff Tom den Arm seines Freundes und zischelte: „Pst!"

„Was gibt's, Tom?" Und mit klopfenden Herzen rückten sie näher aneinander.

„Pst! Da war's wieder! Haste's nicht gehört?"

„Ich... " „Jetzt! Jetzt kannst du's doch hören."

„O Gott, Tom, sie kommen! Sie kommen! Was sollen wir tun?"

„Weiß ich nicht. Glaubst du, sie werden uns sehen?"

„O Tom, sie können im Dunkeln sehen, genau wie Katzen. Ich wollte, ich wäre nicht gekommen."

„Ach sei doch nicht so bange. Ich glaube nicht, dass sie uns suchen. Wir tun doch nichts Böses. Wenn wir ganz still sitzen, bemerken sie uns vielleicht gar nicht."

„Ich versuch ja still zu sitzen, Tom, aber - mein Gott! - ich bebe nur so."

„Hör mal!"

Die Jungen steckten die Köpfe zusammen und wagten kaum zu atmen. Vom anderen Ende des Friedhofs hörten sie gedämpfte Stimmen.

„Was ist das?", wisperte Tom.

„Es sind die Geister. O Tom, es ist schrecklich!"

Ein paar undeutliche Gestalten näherten sich in der Dunkelheit; eine davon trug eine altmodische Blechlaterne, deren Licht unzählige kleine Pünktchen auf den Boden warf.

Huckleberry flüsterte zitternd: „Es sind die Geister, ich weiß es genau. Drei sogar! O Gott, Tom, wir sind verloren! Kannst du beten?"

„Ich will's versuchen. Aber sei doch nicht so bange, sie tun uns bestimmt nichts. Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe... "

„Pst!"

„Was?"

„Das sind ja Menschen! Einer von ihnen ganz bestimmt. Ich kenne doch Muff Potters Stimme!"

„Nee - bist du ganz sicher?"

„Ja, bestimmt! Beweg dich nicht und mach kein Geräusch. Der kann uns bestimmt nicht bemerken -betrunken wie üblich, der alte Esel!"

„Ja, ja, ich halt mich schon ruhig. Jetzt wissen sie nicht, wohin. Können's wohl nicht finden. Jetzt kommen sie wieder. Jetzt ist's heiß. Jetzt wieder kalt. Heiß! Glühend heiß!! Jetzt haben sie's. Du, Huck, ich kenne noch eine Stimme; es ist die Stimme vom Indianer-Joe."

„Oh, verdammt, ausgerechnet dieses Halbblut! Lieber war mir gewesen, es wären Geister. Was können sie bloß vorhaben?"

Das Geflüster der Jungen erstarb, denn die drei Männer waren am Grabe angekommen und standen nicht weit vom Versteck der beiden entfernt.

„Hier ist es", sagte die dritte Stimme, und der Mann hob die Laterne hoch, so dass die Jungen das Gesicht des jungen Dr. Robinson erkennen konnten.

Potter und der Indianer-Joe schoben einen Handkarren, auf dem ein Seil und zwei Schaufeln lagen. Sie fingen an, das Grab zu öffnen. Der Doktor stellte die Laterne an das Kopfende des Grabes, und dann setzte er sich, den Rücken an eine der Ulmen gelehnt, auf den Boden. Er war so nahe, dass die Jungen ihn hätten berühren können.

„Beeilt euch, Männer!", sagte er mit gedämpfter Stimme. „Der Mond kann jeden Moment wieder herauskommen."

Sie murmelten eine Antwort und schaufelten weiter. Eine Zeit lang hörte man nichts als das Knirschen der Schaufeln. Schließlich schlug der eine Spaten auf den Sarg. Es gab einen dumpfen, hölzernen Laut, und schon in der nächsten Minute hatten die beiden Männer den Sarg nach oben befördert. Mit ihren Schaufeln brachen sie den Deckel auf, hoben die Leiche heraus und warfen sie achtlos auf die Erde. Der Mond trat hinter den Wolken hervor und beleuchtete das bleiche Gesicht. Die Männer legten den Toten auf den Handkarren, bedeckten ihn mit einem Tuch und banden ihn mit dem Seil fest. Potter zog ein großes Messer hervor, schnitt das herunterhängende Stück der Schnur ab und sagte dann:

„Endlich sind wir mit dieser verwünschten Sache fertig. Und Sie, Knochensäger, müssen schon noch mal 'nen Fünfer herausrücken oder die Fuhre bleibt hier."

„So ist's richtig!", sagte Indianer-Joe.

„Nanu, was soll denn das?" fragte der Doktor erstaunt. „Ihr habt eure Bezahlung im Voraus verlangt und ich habe euch auch bezahlt."

„Ja, und Sie haben noch mehr getan als das", sagte Indianer-Joe; dabei näherte er sich dem Doktor, der inzwischen aufgestanden war. „Vor fünf Jahren haben Sie mich mal aus Ihres Vaters Küche gejagt, als ich Sie darum bat, mir etwas zu essen zu geben. Damals sagten Sie, ich taugte nicht viel; und ich schwor, ich würde es Ihnen eines Tages heimzahlen, und wäre es in hundert Jahren, wenn mich Ihr Vater einsperrte wegen Landstreicherei. Haben Sie etwa geglaubt, ich würde das vergessen? Nicht umsonst habe ich Indianerblut in mir. Und jetzt sind Sie in meiner Hand und ich rechne mit Ihnen ab, verstehen Sie!"

Drohend stand er vor dem Doktor und schüttelte die Faust vor dessen Gesicht. Da holte der Doktor plötzlich aus und schlug den Raufbold zu Boden.

Potter ließ sein Messer fallen und rief: „He, Sie, was fällt Ihnen ein, meinen Kumpel zu schlagen!"

Im nächsten Augenblick stürzte er sich auf den Doktor und die beiden rangen verbittert miteinander. Sie zerstampften das Gras und wühlten den Boden mit ihren Absätzen auf. Jetzt sprang Indianer-Joe wieder auf die Füße, seine Augen flammten vor Hass. Er griff nach Potters Messer. Wie eine Katze schlich er nun gebückt um die beiden Kämpfenden herum und suchte nach einer passenden Gelegenheit.

Plötzlich riss der Doktor sich los, packte das schwere Brett von Williams' Grab und schlug Potter damit zu Boden. Im selben Augenblick sah das Halbblut seine Chance. Er stieß dem jungen Mann das Messer bis zum Heft in die Brust. Der Getroffene taumelte und fiel halbwegs auf Potter, und sein Blut floss über den bewusstlos unter ihm Liegenden. In diesem Augenblick schoben sich ein paar Wolken vor den Mond und hüllten das furchtbare Schauspiel in Dunkelheit. Die beiden Jungen flohen entsetzt davon.

Als der Mond wieder hervorkam, beugte sich Indianer-Joe über die beiden Körper und betrachtete sie. Der Doktor murmelte etwas Unverständliches, seufzte noch einmal tief und war still. Der Mischling aber brummte: „Das wäre erledigt - verdammt noch mal."

Dann raubte er den Leichnam aus, legte das verhängnisvolle Messer in Potters geöffnete rechte Hand und setzte sich auf den Sarg. Drei, vier, fünf Minuten verstrichen, da begann Potter sich zu regen und fing an zu stöhnen. Seine Hand schloss sich um das Messer; er hob es hoch, starrte es an und ließ es schaudernd fallen. Dann setzte er sich auf, schob den Toten von sich fort und schaute verwirrt um sich. Sein Blick begegnete dem Joes.

„Mein Gott, was ist passiert, Joe?", fragte er.

„Hm, 'ne krumme Sache", antwortete Joe, ohne sich zu rühren. „Warum hast du's eigentlich getan?"

„Ich? Ich hab's doch nicht getan!"

„Hör nur zu, Bürschchen! Das Gequatsche hilft dir jetzt nichts mehr!"

Potter zitterte und wurde weiß. „Ich dachte, ich wäre wieder nüchtern. Ist ja auch gar kein Grund gewesen, heute Abend zu trinken. Jetzt brummt mir der Schädel noch mehr als vorher. Ich bin noch ganz beduselt; kann mich kaum noch an was erinnern. Sag, Joe - aber ehrlich, alter Freund -, hab ich das wirklich getan? Joe, ich hab's doch nicht gewollt - auf Ehr und Seligkeit nicht, Joe. Sag mir, wie es war, Joe. Oh, es ist schrecklich - und er war so jung und hatte eine so viel versprechende Laufbahn vor sich!"

„Nun, ihr seid euch in die Haare geraten und er gab dir eins mit dem Brett von Williams' Grab über den Kopf und du fielst lang hin. Dann kamst du wieder hoch, ganz schwankend und taumelnd, hast dir das Messer geschnappt und ihm in den Bauch gestoßen, gerade als er dir wieder einen tollen Schlag versetzte -und seitdem hast du dagelegen wie'n Klotz und dich nicht gerührt."

„Mein Gott, ich hab nicht gewusst, was ich tat. Wenn ich doch nur jetzt sterben könnte! Das habe ich nur dem Schnaps zu verdanken und der Aufregung, glaube ich. In meinem ganzen Leben hab ich noch keine Waffe gebraucht, Joe. Geschlagen hab ich mich schon, aber nie mit 'ner Waffe. Joe, sag es nicht! Schwör, dass du's nicht sagen wirst, Joe, alter Freund. Ich hab dich doch auch immer gemocht und bin für dich geradegestanden. Erinnerst du dich nicht? Du wirst es nicht sagen, nicht wahr, Joe?" Und der arme Kerl fiel vor dem kaltblütigen Mörder auf die Knie und hob flehend die Hände.

„Ja, du bist immer gerade und ehrlich zu mir gewesen, Muff Potter, und natürlich werde ich's nicht sagen. Zufrieden?"

„Oh, Joe, du bist ein Engel! Dafür werde ich dich segnen, solange ich lebe." Und Potter begann zu weinen.

„Komm, jetzt ist's genug. Zum Heulen haben wir jetzt keine Zeit. Hau jetzt ab, ich gehe den anderen Weg. Verschwinde und hinterlass keine Spuren." Potter entfernte sich langsam, fing aber bald an zu laufen. Der Mischling sah ihm nach. Er murmelte:

„Wenn der so durchgedreht ist vom Schlag über den Kopf und besäuselt vom Schnaps, wie es den Anschein hat, dann denkt er nicht mehr an das Messer, bis es zu spät ist. Fürchtet sich ja auch, allein hierher auf den Friedhof zurückzukommen, der Angsthase."

Zwei oder drei Minuten später betrachtete nur noch der Mond den ermordeten Mann, den in eine Decke gehüllten Leichnam und das offene Grab. Wieder herrschte lautlose Stille.

Die beiden Jungen, sprachlos vor Entsetzen, flohen inzwischen dem Dorfe zu. Von Zeit zu Zeit sahen sie sich angstvoll um, als ob sie fürchteten, verfolgt zu werden. In jedem Baumstumpf, der vor ihnen auftauchte, erblickten sie einen Mann, einen Feind, und als sie an einigen außerhalb der Stadt gelegenen Hütten vorbeirannten, verlieh ihnen das Gebell der erwachenden Hunde Flügel.

Die Zeugen schweigen

„Wenn wir nur noch die alte Gerberei erreichen, bevor wir zusammenbrechen!", keuchte Tom, nach Atem ringend. „Ich halt's nicht mehr lange aus."

Huckleberrys einzige Antwort war ein Keuchen. Die Jungen holten das Letzte aus sich heraus, um das ersehnte Ziel zu erreichen. Langsam, aber sicher näherten sie sich der Gerberei und endlich stolperten sie Schulter an Schulter durch die offene Tür. Dankbar und erschöpft ließen sie sich in den schützenden Schatten fallen. Nach und nach klopften ihre Herzen ruhiger, und Tom flüsterte:

„Huckleberry, was hältst du von der Sache?" „Wenn Dr. Robinson stirbt, wird der Joe wohl dran glauben müssen."

„Glaubst du?" „Ich weiß es genau."

Nach einer Weile fragte Tom: „Wer soll's sagen? Wir?" „Bist du verrückt? Angenommen, es kommt anders und Indianer-Joe baumelt nicht? Eines Tages wird er dann auch uns kaltmachen, so sicher, wie wir hier liegen."

„Genau dasselbe habe ich auch gedacht, Huck." „Wenn es unbedingt jemand erzählen soll, lass es doch Muff Potter tun, wenn er so dumm ist. Besoffen genug dazu ist er ja meistens."

Tom sagte nichts und dachte weiter nach. Schließlich sagte er: „Huck, Muff Potter weiß es nicht! Wie kann er es dann anzeigen?"

„Wieso weiß er es nicht?"

„Er hatte doch gerade den Schlag gekriegt, als Indianer-Joe es tat. Glaubst du, er hätte etwas gesehen? Glaubst du, er wüsste irgendwas?"

„Donnerwetter, du hast recht, Tom!"

„Und außerdem - vielleicht ist der auch hinüber von dem Schlag."

„Nee, ist unwahrscheinlich. Der war doch voll, das konnte man sehen; und außerdem ist er doch immer so. Na, wenn Vater voll ist, könnte man ihm mit 'nem Kirchturm eins über den Kopf geben, und er würde sich nicht rühren. Er sagt das selbst. Und natürlich ist es mit Muff Potter genauso. Aber einen völlig Nüchternen hätte so'n Schlag vielleicht um die Ecke gebracht."

Nach einer gedankenvollen Pause fragte Tom: „Huck, kannst du auch bestimmt den Mund halten?"

„Tom, wir müssen den Mund halten. Du weißt es doch. Dieser Indianerteufel wird uns ersäufen wie die Katzen, wenn wir was sagen und sie ihn nicht hängen. Hör zu, Tom, wir wollen uns gegenseitig schwören - ja das müssen wir tun - schwören, dass wir den Mund halten."

„Einverstanden! Das ist wohl das Beste. Lass uns die Hand heben und schwören, dass wir..."

„Nee, nee, das genügt nicht für so 'ne wichtige Sache. Das genügt für so alltägliche Sachen - zum Beispiel bei Mädchen, denn die verpetzen dich eines Tages sowieso, wenn sie gerade Lust dazu haben. Nein, wir wollen es aufschreiben. Mit Blut."

Natürlich war dieser Vorschlag Tom aus der Seele gesprochen. Er war düster, unheimlich und schrecklich und passte so gut zu den Ereignissen dieses Tages. Er hob eine saubere Kiefern-Schindel vom Boden auf, holte ein abgebrochenes Stück Rotstift aus der Tasche, setzte sich so, dass der Mond seine Arbeit beschien, und kritzelte mühsam mehrere Zeilen. Bei jedem Abstrich, den er machte, drückte er die Zunge krampfhaft gegen seine Zähne, bei jedem Aufstrich verminderte er diesen Druck. Er schrieb:

Huckleberry war voller Bewunderung über Toms Schreibkunst und über die Erhabenheit seiner Sprache. Sofort zog er eine Stecknadel aus seinem Rockaufschlag und wollte sich damit in die Haut stechen, als Tom sagte:

„Halt, so geht das nicht, Huck! 'ne Stecknadel ist doch Messing. Vielleicht ist Grünspan dran."

„Was ist denn Grünspan?"

„Gift! Das ist es. Schluck mal 'n bisschen, du wirst's schon merken."

Tom wickelte den Faden von einer seiner Nähnadeln. Dann stachen die beiden Jungen sich in den Daumen und quetschten einen Tropfen Blut heraus. Allmählich, nach mehrmaligem Drücken, gelang es Tom, seine Anfangsbuchstaben zu malen, indem er den kleinen Finger als Feder benutzte. Dann zeigte er Hucklebery, wie man ein H und ein F macht, und damit war der Schwur vollständig. Sie begruben die Schindel nahe der Mauer mit viel Zeremonien und düsteren Zaubersprüchen. Dann trennten sie sich nachdenklich.

Kurz vor Mittag ging die schreckliche Neuigkeit wie ein Lauffeuer durch die ganze Ortschaft. Sie traf alle wie ein elektrischer Schlag. Die Nachricht flog von Haus zu Haus und von Mund zu Mund. Der Lehrer gab den Kindern für den Nachmittag frei; die Eltern hätten ihn nicht für normal gehalten, wenn er es nicht getan hätte.

Ein blutiges Messer war neben dem ermordeten Mann gefunden worden, und irgendjemand hatte es als Muff Potters Messer erkannt - so erzählte man sich. Man sagte auch, ein Bürger, der sich auf dem Heimweg verspätet hätte, habe gesehen, wie Potter sich im Bach gewaschen und dann heimlich davongestohlen habe. Dies war verdächtig, besonders das Waschen, das durchaus nicht zu Potters Gewohnheiten gehörte. Die ganze Ortschaft sei schon nach dem „Mörder" (sie nannten ihn schon so, obgleich sie keine Beweise hatten) durchsucht worden - erzählte man sich -, aber man habe ihn nicht finden können. Reiter hatten die Straßen nach allen Richtungen hin abgesucht, und der Sheriff war überzeugt, man würde ihn vor Einbruch der Nacht finden.

Die ganze Stadt strömte zum Friedhof. Tom schloss sich dem Zuge an; tausendmal lieber hätte er einen anderen Weg eingeschlagen, aber der Friedhof zog ihn unwiderstehlich an. An dem schrecklichen Ort angekommen, schlüpfte er durch die Menge und sah das grässliche Bild. Jahre schienen ihm vergangen zu sein, seit er es zuletzt gesehen hatte. Jemand kniff ihn in den Arm. Er fuhr herum und er schaute in das Gesicht Huckleberrys. Sofort sahen beide in eine andere Richtung, voller Angst, jemand könne den heimlichen Blick bemerkt haben, den sie sich zugeworfen hatten. Aber die Umstehenden unterhielten sich miteinander und waren in den schrecklichen Anblick vertieft.

„Armer Bursche!" „Armer junger Kerl!" „Das sollte jedem Grabräuber eine Lehre sein!" „Muff Potter wird baumeln, wenn sie ihn erwischen!" So und ähnlich lauteten die Bemerkungen, und der Pfarrer sagte: „Gott hat gerichtet; seine Hand hat ihn bestraft."

Tom spürte plötzlich ein Zittern an seinem ganzen Körper; sein Blick war auf das unbewegliche Gesicht Indianer-Joes gefallen. In diesem Augenblick wurde die Menge unruhig. Ein paar Stimmen riefen: „Er ist es! Er kommt selbst!"

„Wer? Wer?", fragten zwanzig Stimmen.

„Muff Potter!"

„Oho, er bleibt stehen! Seht, er dreht sich um. Lasst ihn nicht entwischen!"

Die Leute, die in den Ästen der Bäume über Toms Kopf saßen, erklärten, er versuche gar nicht fortzulaufen - er sehe nur unschlüssig und verwirrt aus.

„Das ist wirklich eine unverschämte Frechheit!", sagte ein Zuschauer. „Kommt hierher, um sich seine Arbeit in Ruhe anzusehen - hat wohl nicht erwartet, Gesellschaft zu finden."

Die Menge teilte sich und ließ den Sheriff durch, der Potter am Arm führte. Das Gesicht des armen Burschen war ganz verstört und in seinen Augen flackerte die Furcht. Als er vor dem Ermordeten stand, schüttelte er sich, als ob er fröre, schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus. „Ich hab's nicht getan, Freunde", schluchzte er, „auf Ehre und Gewissen, ich hab's nicht getan."

„Wer hat dich denn angeklagt?" rief eine Stimme.

Das schlug ein. Potter hob das Gesicht und sah um sich, mitleiderregende Hoffnungslosigkeit in den Augen. Er erblickte Indianer-Joe und rief aus:

„Oh, Joe, du hast mir versprochen, du würdest nie..."

„Ist das dein Messer?", fragte der Sheriff und hielt ihm die Waffe unter die Nase.

Potter wäre gefallen, wenn ihn nicht jemand aufgefangen und ihm geholfen hätte, sich hinzusetzen. Er sagte:

„Ich wusste es ja, dass ich es holen..." Er schauderte und machte mit zitternder Hand eine hoffnungslose Gebärde. Dann brachte er mühsam hervor: „Sag's ihnen, Joe, sag's ihnen - es hat doch keinen Zweck mehr."

Und nun hörten Huckleberry und Tom mit offenem Munde zu, wie der herzlose Mischling seine verlogene Geschichte erzählte. Sie erwarteten, dass jeden Augenblick Gottes Blitze aus heiterem Himmel herabkämen, um dies Haupt zu spalten, und wunderten sich, dass diese Blitze so lange auf sich warten ließen. Und als er geendet hatte und immer noch lebte, verließ sie der Mut. Sie hatten kein Verlangen mehr, ihren Eid zu brechen und das Leben des armen betrogenen Gefangenen zu retten, denn ohne Zweifel hatte dieser Bösewicht sich dem Teufel verschrieben und es schien sehr unvorsichtig, Sich mit solchen Mächten einzulassen.

„Warum bist du nicht fortgelaufen? Weshalb bist du noch einmal hergekommen?", fragte einer.

„Ich konnte nicht anders - ich konnte wirklich nicht anders", stöhnte Potter. „Ich wollte fortlaufen - aber ich musste unbedingt hierher zurückkommen." Und wieder schluchzte er. Indianer-Joe wiederholte seine Aussagen einige Minuten später beim Verhör unter Eid. Als die Blitze ihn auch dieses Mal nicht zerschmetterten, waren die Jungen davon überzeugt, dass er seine Seele dem Teufel verkauft hatte. Für sie war er jetzt der fürchterlichste Mann, den sie je gesehen hatten, und sie konnten ihre Augen einfach nicht von seinem Gesicht abwenden.

Im Stillen beschlossen sie, ihm des Nachts einmal nachzuschleichen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot, in der Hoffnung, Joes gefürchteten Meister einmal zu erspähen.

Das fürchterliche Geheimnis und sein nagendes Gewissen ließen Tom nahezu eine Woche lang nicht gut schlafen. Beim Frühstück sagte Sid eines Morgens:

„Tom, du schlägst um dich und redest so viel im Schlaf, dass ich beinahe die halbe Nacht wach liege."

Tom wurde blass und senkte die Augen.

„Das ist ein schlechtes Zeichen", sagte Tante Polly in ernsthaftem Ton, „was hast du auf dem Herzen, Tom?"

„Nichts. Tatsächlich nichts!" Aber des Jungen Hand zitterte, und er verschüttete seinen Kaffee.

„Und du quatschst so'n Unsinn", sagte Sid. „Heute Nacht hast du immerzu gesagt: >Es ist Blut, es ist Blut, jawohl !< Und dann hast du gesagt: >Quält mich doch nicht so - ich sag's ja!< - Was sagen? Was willst du denn sagen?"

Das Zimmer drehte sich um Tom. Es war nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ihm nicht Tante Polly, ohne es zu wissen, zu Hilfe gekommen wäre. Sie sagte:

„Ach so! Es ist dieser schreckliche Mord. Ich selbst träume beinahe jede Nacht davon. Manchmal träume ich sogar, dass ich es bin, die es getan hat."

Mary sagte, ihr erginge es beinahe genauso. Das schien Sid zufrieden zu stellen. Tom verschwand, so schnell er konnte. Danach klagte er beinahe eine Woche lang über Zahnschmerzen und band sich jede Nacht ein Tuch um den Mund. Er wusste nicht, dass Sid manchmal wach lag, ihm die Binde vom Mund nahm und, auf seine Ellbogen gestützt, eine Weile Toms Reden lauschte, und danach die Binde wieder über seinen Mund streifte.

Mit der Zeit verschwand Toms Angst, die Zahnschmerzen wurden ihm lästig, und er gab sein Täuschungsmanöver auf. Falls Sid wirklich herausbekommen hatte, was es mit Toms unzusammenhängendem Gemurmel des Nachts auf sich hatte, so behielt er es für sich.

Die Inselpiraten

Einer der Gründe, die Tom von seinem geheimen Kummer ablenkten, war, dass er etwas Neues, außerordentlich Bedeutendes entdeckt hatte, was ihn stark beschäftigte. Becky Thatcher war seit einiger Zeit nicht mehr zur Schule gekommen. Einige Tage kämpfte Tom mit seinem Stolz und versuchte, einfach darauf zu pfeifen. Aber vergebens. Er ertappte sich dabei, wie er abends um ihres Vaters Haus herumstrich und sich sehr elend fühlte. Sie war krank. Wenn sie nun sterben müsste! Dieser Gedanke machte ihn ganz verzweifelt. Sein Interesse für Krieg und Seeräuberei war verschwunden. Die Freude am Leben war vorbei -nur Öde war geblieben.

Tante Polly war sehr beunruhigt und sie begann, allerlei Heilmittelchen an ihm zu versuchen. Sie gehörte zu den Leuten, die vernarrt waren in Patentmedizinen und neumodische Heilmethoden; sie stellte unentwegt Versuche an auf diesem Gebiet. Wenn etwas Neues dieser Art auf den Markt kam, konnte sie es kaum abwarten, es auszuprobieren; aber nicht an sich selbst, denn sie war niemals leidend, sondern an jedem, der ihr gerade in die Quere kam. Sie war ständige Bezieherin der Zeitschrift „Gesundheit", und der geschraubte, feierlich vorgetragene Unsinn, den dieses Blatt verbreitete, war genau das Richtige für sie. Niemals fiel es ihr auf, dass diese Zeitung in der neuesten Nummer alle Behauptungen, die sie in der letzten Ausgabe aufgestellt hatte, wieder über den Haufen warf. Die Wasserkur war augenblicklich das neueste. Jeden Morgen wurde Tom bei Tagesanbruch aus dem Bett geholt, in den Holzschuppen gezerrt und beinahe ertränkt in einer Flut kalten Wassers. Leider half das alles nichts, der Junge wurde immer trübsinniger, blasser und niedergeschlagener. Sie versuchte es mit Bädern, Sitzbädern, Schauerbädern. Alles vergeblich!

Bald war Tom gegen jede Medizin unempfindlich geworden. Diese Tatsache erfüllte das Herz der alten Dame mit Schrecken. Seine Unempfindlichkeit musste gebrochen werden, koste es, was es wolle. Gerade zu dieser Zeit hatte sie zum ersten Mal von dem neuen „Schmerztöter" gehört. Sofort bestellte sie mehrere Flaschen davon. Sie kostete das Mittel und war zufrieden und dankbar: Es war geradezu Feuer in flüssiger Form. Sie ließ die Wasserkur und die anderen Heilmethoden fallen und klammerte sich ganz und gar an „Schmerztöter".

Sie verabreichte Tom einen Teelöffel voll und wartete mit größter Spannung auf die Wirkung. Plötzlich waren alle Sorgen und Nöte vorbei und ihre Seele hatte wieder Ruhe, denn die „Unempfindlichkeit" war gebrochen. Der Junge hätte keine lebhaftere und herzlichere Anteilnahme an den Tag legen können, selbst wenn er auf glühenden Kohlen gesessen hätte.

„Schmerztöter" schmeckte so scheußlich, dass Tom verschiedene Pläne ausheckte, wie er sich davon befreien könnte. Schließlich schien es ihm das Beste, einfach zu behaupten, er möge „Schmerztöter" sehr gern. Er bettelte so oft um einen Teelöffel voll, bis er seiner Tante lästig wurde und sie sagte, er solle sich seine Medizin selbst nehmen. Hätte es sich um Sid gehandelt, so wäre sie nicht argwöhnisch geworden, da es aber Tom war, beobachtete sie, ohne dass er es bemerkte, die Flasche. Sie stellte fest, dass sich die Medizin wirklich verminderte, aber es kam ihr nicht in den Sinn, dass der Junge damit die Krankheit eines Risses im Boden des Esszimmers heilte.

Eines Tages, als Tom dem Riss gerade seine Dosis Medizin verabreichte, kam die gelbe Katze seiner Tante daher, schnurrte, beäugte gierig den Teelöffel und bettelte, einmal probieren zu dürfen.

Tom sagte: „Bettele nicht darum, wenn du's nicht brauchst, Peter."

Peter gab zu verstehen, dass er es brauche.

„Bist du auch ganz sicher?"

Peter war ganz sicher.

„Schön, du hast drum gefragt, also sollst du's auch haben, und ich finde wirklich nichts Gemeines dabei. Wenn du aber herausfindest, dass es dir nicht schmeckt, darfst du niemand anders einen Vorwurf machen als nur dir selbst."

Peter war einverstanden, und Tom öffnete ihm das Maul und goss den „Schmerztöter" hinein. Peter sprang ein paar Meter hoch in die Luft, stieß einen Kriegsschrei aus, raste wie toll im Zimmer herum, prallte gegen die Möbel und stieß die Blumentöpfe um. Danach stellte er sich auf die Hinterbeine und stolzierte verzückt umher, warf den Kopf zurück und verkündete mit schriller Stimme sein Glück. Tante Polly trat gerade ins Zimmer, als er einige doppelte Purzelbäume schlug, ein mächtiges Hurra ausstieß und dann durch das offene Fenster segelte, wobei er die letzten Blumentöpfe mitriss. Die alte Dame stand starr vor Erstaunen und schaute über ihre Brille hinweg ins Zimmer; Tom wälzte sich am Boden und platzte beinahe vor Lachen.

„Tom, was, zum Kuckuck, ist mit der Katze los?"

„Weiß ich doch nicht, Tante", keuchte der Junge.

„Ich habe nie etwas Ähnliches gesehen. Was hatte Peter nur?"

„Weiß ich wirklich nicht, Tante Polly; Katzen benehmen sich immer so, wenn sie sich glücklich fühlen."

„Meinst du wirklich?" Etwas in ihrem Ton machte Tom aufmerksam.

„Ja. Das heißt, ich glaube es."

„Wirklich?"

„Ja."

Die alte Dame bückte sich und Tom sah ihr mit Interesse und Furcht zu. Zu spät bemerkte er, dass der Griff des verräterischen Teelöffels gerade noch unter dem Bettvorhang hervorsah. Tante Polly hob den Löffel auf und hielt ihn hoch. Tom zuckte zusammen und schlug die Augen nieder. Tante Polly zog ihn mit dem üblichen Griff am Ohr in die Höhe und schlug ihm kräftig mit ihrem Fingerhut auf den Kopf.

„Warum, mein Bürschchen, hast du die arglose Katze so schlecht behandelt?"

„Ich hab es doch nur aus Mitleid getan - Peter hat doch keine Tante."

„Hat keine Tante! - Unsinn. Was hat denn das damit zu tun?"

„'ne ganze Masse. Denn wenn er eine hätte, hätte sie ihm die Eingeweide mit dem Zeugs da geröstet - und bestimmt hätte sie nicht danach gefragt, ob er ein Mensch wäre oder eine Katze!" Tante Polly fühlte plötzlich lebhafte Reue. Das rückte die Sache natürlich in ein anderes Licht; denn was Grausamkeit gegen eine Katze war, konnte auch Grausamkeit gegen einen Jungen sein. Sie wurde weich und es tat ihr leid. Ihre Augen wurden ein wenig feucht, sie legte ihre Hand an Toms Kopf und sagte sanft:

„Ich hab es doch nur gut gemeint, Tom. Und, Tom, du musst doch zugeben, dass es dir wirklich gut getan hat."

Tom sah ihr ernsthaft und doch mit einem schelmischen Augenzwinkern ins Gesicht.

„Ich weiß, dass du es nur gut gemeint hast, Tantchen, aber ich doch auch mit Peter! Ihm hat es bestimmt gut getan. Ich habe ihn noch nie so glücklich gesehen seit... "

„Oh, verschwinde, Tom, bevor du mich wieder ärgerst. Und wenn es dir diesmal gelingt, ein braver Junge zu sein, brauchst du auch keine Medizin mehr zu nehmen."

Tom erreichte die Schule viel zu früh. Es fiel auf, dass dies in letzter Zeit häufiger passierte. Er lungerte dann am Tor des Schulhofes herum, anstatt mit seinen Kameraden zu spielen. Er sei krank, entschuldigte er sich, und er sah auch so aus.

Er versuchte, sich den Anschein zu geben, als schaue er überall hin - in Wirklichkeit behielt er aber nur die Straße im Auge. Bald entdeckte er Jeff Thatcher und sein Gesicht hellte sich auf, gleich danach jedoch wandte er sich kummervoll wieder ab. Als Jeff näher kam, machte sich Tom gleich an ihn heran und versuchte, etwas über Becky zu erfahren. Aber der gedankenlose Bursche ging nicht darauf ein. Tom wartete und wartete, sein Herz tat jedes Mal einen Satz, wenn ein hüpfendes Röckchen zu sehen war; und er hasste die Besitzerin, sobald er entdeckte, dass es nicht die Richtige war. Schließlich tauchten überhaupt keine Röcke mehr auf, und hoffnungslos verfiel Tom wieder in seine verdrießliche Stimmung.

Er betrat das leere Schulgebäude und setzte sich mit Duldermiene auf seinen Platz. Plötzlich bemerkte er doch noch ein verspätetes Röckchen, und wiederum tat sein Herz einen gewaltigen Hupfer. Im nächsten Augenblick war er draußen und benahm sich wie ein Indianer; er schrie, lachte, jagte die Jungen, sprang über den Zaun und riskierte dabei Kopf und Kragen, er machte einen Kopfstand - kurz, er tat all die Dinge, die ihm gerade einfielen. Dabei beobachtete er mit heimlichem Blick, ob Becky Thatcher seine gewagten Kunststücke auch bemerkte. Sie aber schien nichts von allem zu sehen und drehte sich nicht einmal um. Konnte es wirklich möglich sein, dass sie ihn überhaupt noch nicht gesehen hatte?

Er rannte in ihre unmittelbare Nähe, lief mit Kriegsgeheul um den Schulhof, ergriff die Mütze eines Jungen, schleuderte sie auf das Dach des Schulhauses, durchbrach eine Gruppe von Jungen und purzelte, Becky beinahe umwerfend, vor ihre Füße.

Sie aber rümpfte ihre Nase, wandte sich ab und sagte: „Es gibt Leute, die sich immer wichtig tun müssen. Angeber!"

Toms Wangen brannten. Er erhob sich und stahl sich davon, beschämt und gedemütigt.

Tom hatte sich nun entschlossen. Er war trübsinnig und verzweifelt. Er war verlassen, hatte niemanden mehr auf dieser Welt — wie er meinte. Niemand liebte ihn. Wenn sie merkten, wohin sie alle ihn getrieben hatten, würde es ihnen leid tun. Er hatte versucht, seinen Weg zu gehen, aber das hatte man ja nicht zugelassen; sie wollten ihn ja doch nur loswerden, und warum sollte er da nicht gehen? Sollten sie ihn nur für die Folgen verantwortlich machen - warum sollten sie auch nicht! Hatte ein Ausgestoßener das Recht, zu klagen? Ja, sie hatten ihn schließlich dazu getrieben: Er würde ein Verbrecherleben führen! Es gab keine andere Wahl.

Mittlerweile war er weit in die Wiesen hinausgegangen, und die Schulglocke, die zum Unterricht rief, war nur noch schwach zu hören. Er begann zu schluchzen, als er daran dachte, dass er nie, nie wieder diesen vertrauten Ton hören würde. Es war sehr schwer, aber wohl nicht zu ändern. Man hatte ihn in die kalte Welt hinausgejagt und er musste sich wohl ergeben. Aber er verzieh ihnen. Jetzt strömten seine Tränen unaufhaltsam.

In diesem Augenblick sah er seinen Busenfreund Joe Harper, der mit zusammengebissenen Zähnen einherschritt und ganz offensichtlich einen großen und düsteren Plan im Herzen trug. Ohne Frage hatten sich hier „zwei Seelen und ein Gedanke" gefunden. Tom wischte sich die Augen mit seinem Ärmel und teilte Joe unter Schluchzen seinen Entschluss mit: dem Mangel an Liebe und Verständnis zu Hause zu entfliehen und durch die weite Welt zu streifen und niemals zurückzukehren. Er schloss seinen Bericht mit der Hoffnung, Joe möge ihn nicht vergessen.

Es stellte sich jedoch heraus, dass Joe ihn gerade um genau dasselbe hatte bitten wollen und ihm zu diesem Zwecke nachgespürt hatte. Seine Mutter hatte ihn geschlagen, weil er Sahne getrunken haben sollte, die er nie gesehen, geschweige denn getrunken hatte. Es war also klar, dass sie seiner müde war und ihn gern loswerden wollte; er hoffte, sie würde glücklich werden und es niemals bereuen, dass sie ihren armen Jungen in die unbarmherzige Welt hinausgeschickt hatte, wo er leiden und sterben würde. Während die beiden Jungen kummervoll nebeneinander hergingen, schworen sie sich, einander immer zu helfen, Brüder zu sein und sich nie zu trennen, bis der Tod sie von ihrem Leid erlösen würde. Dann fingen sie an, Pläne zu schmieden.

Joe wäre gern ein Einsiedler geworden, der sich in einer abgelegenen Höhle von Brotkrusten und Wasser ernährte und eines Tages vor Kummer und Kälte sterben würde. Nachdem er jedoch Tom angehört hatte, musste er zugeben, dass die Vorteile eines Verbrecherlebens wirklich überragend wären, und so beschloss er, ebenfalls Pirat zu werden.

Drei Meilen unterhalb St. Petersburgs, an einer Stelle, wo der Mississippi etwas über eine Meile breit war, erstreckte sich eine lange, schmale, bewaldete Insel, an deren Ende eine flache Sandbank lag. Die Insel war nicht bewohnt, sie lag weit draußen, näher am anderen Ufer, das auf gleicher Höhe mit einem dichten, einsamen Walde bewachsen war. Sie wählten also die Jackson-Insel - es war wirklich ein ausgezeichneter Treffpunkt. Wer jedoch die Opfer ihrer Seeräuberei sein sollten, darüber machten sie sich überhaupt keine Gedanken.

Dann spürten sie Huckleberry Finn auf und dieser schloss sich ihnen an, denn ihm war jede Laufbahn recht. Schließlich trennten sie sich, nachdem sie beschlossen hatten, sich um Mitternacht an einer einsamen Stelle des Flussufers, etwa zwei Meilen von der Stadt entfernt, wieder zu treffen. An dieser Stelle lag ein schmales Holzfloß, das sie erbeuten wollten. Jeder sollte Angelhaken und -leinen mitbringen und so viele Vorräte, wie er auf die dunkelste und geheimnisvollste Art und Weise stehlen konnte - denn schließlich waren sie ja Geächtete. Und noch ehe der Nachmittag vorbei war, genossen sie schon die süße Vorfreude ihres zukünftigen Ruhmes, denn sie hatten verbreitet, dass die Stadt bald „etwas zu hören" bekommen werde.

Gegen Mitternacht erschien Tom mit einem gekochten Schinken und einigen anderen Kleinigkeiten. Er blieb im dichten Gehölz auf einer kleinen Klippe stehen und überblickte den vereinbarten Platz. Die Sterne funkelten und es war sehr still. Der mächtige Strom sah ruhig aus wie ein großes Meer. Tom lauschte einen Augenblick, aber kein taut unterbrach die Stille. Dann ließ er einen leisen, aber deutlichen Pfiff ertönen. Er wurde unterhalb der Klippe beantwortet. Tom pfiff noch zweimal, und auch diese Signale wurden in der gleichen Art beantwortet. Dann sagte jemand mit gedämpfter Stimme:

„Wer kommt?"

„Tom Sawyer, der Schwarze Rächer der spanischen Gewässer. Nennt eure Namen!"

„Huck Finn, der Rothändige, und Joe Harper, der Schrecken der Meere." Tom hatte die Jungen mit diesen Titeln aus seinen Lieblingsbüchern versehen.

„Gut! Gebt die Parole!"

Gleichzeitig flüsterten zwei heisere Stimmen das schreckliche Wort in die schwüle Nacht:

„Blut!"

Dann ließ Tom seinen Schinken die Klippe hinabrollen und purzelte selbst hinterher, wobei er sich Haut und Kleider gehörig aufriss. Unterhalb der Klippe gab es am Ufer einen ebenen, bequemen Weg, aber diesem fehlten die von einem Piraten so sehr geschätzten Vorzüge der Gefahr.

Der „Schrecken der Meere" hatte eine Speckseite mitgebracht und war von der Last völlig erschöpft, als er am Treffpunkt ankam. Huck Finn, der „Mann mit der roten Hand", hatte einen kleinen Kessel und eine Anzahl halbgetrockneter Tabakblätter gestohlen, außerdem brachte er einige Maiskolben mit, aus denen er Pfeifen machen wollte. Aber keiner der Piraten, außer ihm, rauchte und kaute Tabak.

Der „Schwarze Rächer der spanischen Gewässer" bemerkte, dass es keinen Zweck habe, ohne Feuer loszufahren. Das war ein guter Gedanke; denn Streichhölzer waren in jenen Tagen noch kaum bekannt. Sie entdeckten ein Feuer, das auf einem großen Floß etwa hundert Meter stromauf schwelte. Dorthin schlichen sie nun und nahmen jeder ein glühendes Stück Holz. Sie machten ein aufregendes Abenteuer aus der Sache, ab und zu sagten sie „pst!", blieben plötzlich stehen und legten den Finger auf die Lippen. Dann schlichen sie weiter und fassten mit der Hand vorsorglich um nicht vorhandene Dolchgriffe; im Flüsterton sagten sie den Befehl durch, dass, wenn „der Feind" sich rühre, es ihm „zu geben" sei, denn „ein Toter kann nichts mehr verraten".

Bald danach stießen sie mit dem Floß vom Ufer ab. Tom war der Kapitän, Huck stand am hinteren Ruder und Joe am vorderen. Tom hielt sich in der Mitte des Schiffes. Er blickte finster drein, verschränkte die Arme und gab seine Befehle mit gedämpfter, strenger Stimme. Bald zeigten einige flimmernde Lichter an, wo das friedlich schlafende Städtchen lag. „Der Schwarze Rächer der spanischen Meere" stand noch immer mit verschränkten Armen da und schaute zum letzten Mal zurück auf die Stätte seines früheren Glückes und der späteren Leiden und wünschte nur, dass „sie" ihn jetzt sehen könnte.

Gegen zwei Uhr morgens lief das Floß auf eine Sandbank auf, die ein Stück oberhalb der Insel lag. Sie wateten hin und her, bis sie ihre Fracht an Land gebracht hatten. Zu der Ausrüstung des Floßes gehörte auch ein altes Segel, das sie in Zeltform über einige niedrige Büsche breiteten, um ihren Proviant darunter zu bergen. Sie selbst natürlich würden bei gutem Wetter draußen schlafen, wie es sich für Piraten gehörte.

Dann machten sie ein Feuer und bereiteten ihr Abendbrot. Sie brieten etwas Speck und aßen dazu die Hälfte des mitgebrachten Maisbrotes. Es war ein Heidenspaß, auf diese ungezwungene Art in dem unberührten Walde einer weder erforschten noch bewohnten Insel zu Abend zu essen, und sie beschlossen, nie mehr in die zivilisierte Welt zurückzukehren. Das flackernde Feuer beleuchtete ihre Gesichter und warf einen rötlichen Schein auf die Baumstämme, die wie Säulen eines Waldtempels aussahen, und auf das schimmernde Blätterwerk.

Als die letzte knusprige Scheibe Speck verzehrt und das Maisbrot bis auf einen kleinen Rest, der für den nächsten Tag reichen sollte, verschwunden war, streckten sich die Jungen voller Behagen im Grase aus. Sie hätten einen kühleren Platz finden können, aber sie wollten sich einen so romantischen Anblick, wie ihn das flackernde Lagerfeuer bot, nicht entgehen lassen.

„Ist es nicht wunderbar hier?", fragte Joe.

„Einfach Klasse!", antwortete Tom. „Was würden die anderen Jungen wohl sagen, wenn sie uns jetzt sehen könnten?"

„Sagen? Sie würden grün vor Neid, wenn... He, Hucky!"

„Kann sein", sagte Huckleberry, „auf jeden Fall fühle ich mich wohl. Mehr will ich gar nicht. Meistens kriege ich nie genug zu essen - und hier kommt bestimmt keiner her, der immerzu an einem herumnörgelt und mäkelt."

„Das ist genau das richtige Leben für mich", sagte Tom. „Morgens braucht man nicht aufzustehen und in die Schule zu gehen, man braucht sich nicht zu waschen und all diese verrückten Dinge zu tun, die man nicht mag. Weißt du, Joe, so'n Pirat braucht nichts zu tun, wenn er an Land ist, aber ein Einsiedler muss ziemlich viel beten und so'n Kram, und er hat nie Abwechslung, weil er immerzu allein ist."

„Ja, ja, das stimmt schon", erwiderte Joe, „aber ich hatte noch nicht viel darüber nachgedacht. Jetzt bin ich natürlich viel lieber Pirat."

„Weißt du", begann Tom wieder, „die Leute machen sich heutzutage nicht so viel aus Einsiedlern wie in früheren Zeiten. Ein Pirat aber wird immer geachtet. Und ein Einsiedler muss auf dem härtesten Boden schlafen, den er finden kann, er muss in Sack und Asche gehen und..."

„Wieso in Asche?" wollte Huck wissen.

„Weiß nicht. Aber sie müssen es eben. Einsiedler machen es immer so. Du müsstest das auch tun, wenn du ein Einsiedler wärst."

„Will verdammt sein, wenn ich's täte."

„Was würd'st denn du tun?"

Huck, die „Rote Hand", gab keine Antwort, denn er war anderweitig beschäftigt. Er höhlte einen Maiskolben aus, steckte einen hohlen Stängel hinein und stopfte den Pfeifenkopf mit Tabak. Dann hielt er ein glimmendes Holzstückchen daran und paffte genießerisch eine Wolke weißen Rauches in die Luft -es war für ihn der Höhepunkt schwelgerischer Behaglichkeit.

Die anderen Piraten beneideten ihn um dieses Laster und beschlossen insgeheim, es sich bald ebenfalls anzueignen. Schließlich sagte Huck:

„Und was machen Piraten?"

„Hm - nun, sie erobern Schiffe und verbrennen sie dann, rauben das Geld und vergraben es an schrecklichen Stellen ihrer Insel, wo es Geister gibt, die es bewachen. Und sie töten alle auf dem Schiff."

„Aber die Frauen bringen sie doch auf ihre Insel, nicht wahr?", fragte Joe. „Sie töten doch die Frauen nicht?"

„Nein", räumte Tom ein, „die Frauen töten sie nicht, dazu sind sie zu edel. Und die Frauen sind immer sehr schön."

Allmählich erstarb die Unterhaltung und der Schlaf senkte sich auf die Augen der kleinen Abenteurer. Die Pfeife entfiel den Fingern der „Roten Hand" und Huck schlief den Schlaf des Gerechten.

Der „Schrecken der Meere" und der „Rächer der spanischen Gewässer" allerdings konnten nicht so leicht einschlafen. Im Liegen sagten sie leise ihre Gebete, denn es war ja niemand da, der ihnen befahl, kniend und laut zu beten. Eigentlich hatten sie vorgehabt, überhaupt nicht zu beten, aber dann wagten sie es doch nicht. Sie fürchteten nämlich, es könne plötzlich ein Blitz vom Himmel fahren und sie treffen.

Langsam schlummerten sie ein - waren aber sofort wieder hellwach, denn ihr Gewissen ließ sie nicht schlafen. Insgeheim fühlten sie, dass es unrecht gewesen war, einfach fortzulaufen. Dann fiel ihnen das gestohlene Fleisch ein, und jetzt begann erst die eigentliche Qual. Sie versuchten, sich zu beruhigen, indem sie sich an die Süßigkeiten und Äpfel erinnerten, die sie oft gemaust hatten, aber ihr Gewissen ließ sich durch solch fadenscheinige Entschuldigungen nicht beruhigen. Schließlich war an der Tatsache nicht zu rütteln, dass das Fortnehmen von Süßigkeiten „Stibitzen", das Fortnehmen so wertvoller Sachen wie Schinken und Speck jedoch ganz einfach Stehlen war -und die Bibel verbot das!

Deshalb gelobten sie innerlich, ihre Seeräuberei nie wieder mit dem Verbrechen des Diebstahls zu beschmutzen. Ihr Gewissen war befriedigt und bald schliefen die beiden eigenartigen Piraten friedlich ein.

Heimkehr aus dem Jenseits

Als Tom am Morgen erwachte, wusste er zuerst nicht, wo er war. Er setzte sich auf, rieb seine Augen und blickte umher. Aber dann erinnerte er sich. Es war kühl und es dämmerte, und ein köstlicher Hauch von Ruhe und Frieden lag über dem schweigenden Walde. Kein Blatt bewegte sich und kein Laut störte die andächtige Stille der Natur. Tautropfen hingen wie Perlen an Blättern und Gräsern. Eine weiße Schicht Asche bedeckte das Feuer und ein dünner blauer Rauchfaden stieg steil in die Luft. Joe und Huck schliefen noch.

Von weit her hörte man einen Vogel rufen, ein zweiter antwortete und bald darauf hämmerte ein Specht. Plötzlich erschien von irgendwoher ein Ameisenzug. Eine der Ameisen schleppte sich tapfer mit einer toten Spinne ab, die mindestens fünfmal so groß war wie sie selbst, trotzdem brachte sie es fertig, ihre Beute auf einen Baumstumpf zu zerren. Ein braun getupftes Marienkäferchen erkletterte die schwindelnde Höhe eines Grashalmes und Tom beugte sich zu dem Käferchen herunter und sang ihm ein Marienkäferlied.

Nach einer Weile weckte Tom die anderen Piraten und bald darauf eilten sie mit einem Freudengeheul dem flachen Wasser bei der Sandbank zu. Dort warfen sie ihre Kleider ab und schon jagten sie sich gegenseitig und purzelten im Wasser übereinander. Sie verspürten keine Sehnsucht nach dem kleinen schlafenden Städtchen, das jenseits dieses majestätischen Stromes lag. Die Strömung hatte ihr Floß entführt, aber das beunruhigte sie nicht im Geringsten, war doch so die letzte Brücke zwischen ihnen und der Zivilisation abgebrochen.

Wunderbar erfrischt kehrten sie zu ihrem Lager zurück, glücklich und heißhungrig. Bald loderte das Lagerfeuer wieder mit hellen Flammen. Huck fand ganz nahebei eine Quelle klaren kalten Wassers und die Jungen formten Becher aus großen Eichen- und Nussbaumblättern. Sie fanden, dass Wasser, schmackhaft gemacht durch den Waldeszauber um sie her, ein sehr guter Ersatz für Kaffee war. Während Joe den Schinken für das Frühstück in Scheiben schnitt, liefen Tom und Huck zum Ufer, warfen ihre Angelleine aus und machten fast augenblicklich Beute. Noch bevor Joe Zeit hatte, ungeduldig zu werden, waren sie mit einem schönen Barschvorrat zurück, der für eine ganze Familie ausgereicht hätte. Sie brieten nun Fische und Schinken und waren über das Ergebnis ihrer Kochkunst sehr erstaunt, denn kein Fisch hatte ihnen je so köstlich geschmeckt. Sie wussten nicht, dass ein Süßwasserfisch um so schmackhafter ist, je schneller er gebraten wird; auch fiel ihnen nicht ein, dass das Schlafen und Spielen im Freien, das Baden und der Hunger eine wundervolle Würze waren.

Nach dem Frühstück legten sie sich in den Schatten und Huck qualmte sein Pfeifchen. Danach machten sie sich bereit für eine Entdeckungsreise. Munter strolchten sie durch die Wälder, sprangen über verfaulte Baumstämme, pirschten durch dichtes Gestrüpp und vorbei an den Königen des Waldes, die von der Krone bis zur Wurzel mit rankenden Weinreben, Zeichen ihrer Würde, behangen waren.

Es gab viele Dinge, die sie entzückten, aber nichts, was sie sonderlich erstaunt hätte. Sie entdeckten, dass die Insel etwa drei Meilen lang und eine Viertelmeile breit war und dass das nächste Flussufer nur knapp zweihundert Meter von der Insel entfernt lag. Etwa stündlich schwammen sie im Strom, und als sie endlich zum Lager zurückkamen, war es schon Nachmittag. Sie waren zu hungrig, als dass sie sich noch mit Fischen hätten aufhalten wollen. Deshalb gingen sie recht üppig mit dem kalten Schinken um. Dann warfen sie sich wieder in den Schatten und unterhielten sich miteinander. Bald jedoch erstarb die Unterhaltung, denn die Stille und Feierlichkeit, die über dem Wald lag, legte sich auf die Gemüter der Jungen. Sie dachten nach. Eine unbestimmte Sehnsucht beschlich sie, die bald undeutlich Gestalt annahm - es war aufkeimendes Heimweh. Sogar Finn, der „Mann mit der Roten Hand", träumte von seinen Treppenstufen und von leeren Schweineställen. Jeder jedoch schämte sich seiner Schwäche und keiner war so mutig, seine Gedanken auszusprechen.

Schon seit einiger Zeit vernahmen die Jungen in der Ferne einen eigentümlichen Ton. Jetzt wurde er deutlicher und machte sie aufmerksam. Sie erschraken, sahen einander an und lauschten. Ein langes Schweigen folgte, bedeutungsschwer und tief; dann klang ein dunkles Wummern aus der Ferne zu ihnen herüber.

„Was ist das nur?", rief Joe mit unterdrückter Stimme.

„Möcht ich auch wissen", flüsterte Tom.

„Kann kein Donner sein", sagte Huck mit ehrfürchtiger Stimme, „denn Donner..."

„Horcht!" zischte Tom. „Still - nicht reden!"

Sie warteten eine Zeit lang, die sie eine Ewigkeit dünkte. Dann dröhnte dasselbe Wummern laut durch das friedliche Schweigen.

„Kommt, wir sehen nach, was es ist."

Sie sprangen auf und liefen dem Ufer zu, das der Stadt gegenüberlag. Sie teilten das Gebüsch und lugten über das Wasser. Ein kleines, mit Dampf betriebenes Fährboot trieb mit der Strömung auf dem Wasser, ungefähr eine Meile vom Städtchen entfernt. Auf dem breiten Deck wimmelte es von Menschen. In der Nähe der Fähre waren viele kleine Boote, die ebenfalls mit der Strömung trieben, aber die Jungen konnten nicht erkennen, was die Männer in ihnen taten. In diesem Augenblick schoss plötzlich ein dicker Strahl weißen Rauches aus der Seite der Fähre hervor, und während er sich ausbreitete und sich als eine träge Wolke langsam emporhob, hörten die Lauscher wieder den gleichen summenden Laut.

„Jetzt weiß ich's!" rief Tom aus. „Jemand ist ertrunken!"

„So ist es!", sagte Huck. „Vorigen Sommer haben sie's genauso gemacht, als Bill Turner ertrunken war. Sie schießen mit einer Kanone über das Wasser und dann kommt er an die Oberfläche. Ja, und sie nehmen große Laibe Brot mit und tun Quecksilber hinein und werfen sie ins Wasser, und an der Stelle, wo der Ertrunkene liegt, halten die Brote an."

„Ja, davon habe ich gehört", sagte Joe. „Ich frag mich nur, wieso die Brote das tun."

„Oh, das liegt nicht nur am Brot", sagte Tom. „Ich schätze, das liegt an dem Zauberspruch, den sie sagen, bevor sie es schwimmen lassen."

„Aber sie sagen doch gar keinen Zauberspruch", sagte Huck. „Ich bin doch schon selbst mal dabei gewesen, und sie haben's nicht getan."

„Nanu, das ist aber seltsam", meinte Tom. „Aber vielleicht sagen sie ihn nur zu sich selbst. Natürlich tun sie's. Jeder weiß das doch."

Die beiden Jungen gaben zu, dass Tom recht hatte. Ein unwissender Brotlaib, der keine Anweisung durch einen Zauberspruch erhalten habe, könne unmöglich für so klug gehalten werden - vor allem, wenn man ihm einen so schwerwiegenden Auftrag erteile.

Sie beobachteten und lauschten weiter. Plötzlich durchzuckte Tom ein einleuchtender Gedanke und er rief:

„Mensch, ich weiß, wer ertrunken ist - wir!"

Und sofort fühlten sie sich als Helden. Das war ein großartiger Triumph - sie wurden vermisst, sie wurden betrauert, es gab ihretwegen gebrochene Herzen, und Tränen flössen um ihretwillen. Unfreundlichkeiten, die man sich diesen armen, verlorenen Knaben gegenüber hatte zuschulden kommen lassen, tauchten anklagend in der Erinnerung auf, nutzlose Reue und Gewissensbisse peinigten die Angehörigen. Und das schönste von allem war, dass die Verlorenen das Gesprächsthema der ganzen Stadt bildeten und alle Jungen sie beneideten. Es war wunderbar. Es lohnte sich wirklich, Pirat zu sein.

Als die Dämmerung hereinbrach, nahm das Fährboot seine gewohnte Tätigkeit wieder auf und auch die Boote verschwanden bald. Die Piraten kehrten zum Lager zurück. Ihre plötzliche Berühmtheit und die gewaltige Unruhe, die sie hervorgerufen hatten, erfüllten sie mit wahrem Stolz. Sie fingen Fische, brieten sie und aßen zu Abend. Dann überlegten sie, was wohl das Städtchen von ihnen dachte und sprach, und die Vorstellung, die sie von dem allgemeinen Kummer hatten, der ihretwegen herrschte, war mehr als zufriedenstellend - von ihrer Warte aus gesehen.

Aber als sich die Schatten der Nacht auf sie senkten, schlief ihre Unterhaltung langsam ein. Sie starrten ins Feuer und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Aufregung war jetzt verflogen und Tom und Joe konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass zu Hause gewisse Personen ihren Streich so lustig wie sie empfinden würden. Zweifel erfüllten sie und sie fühlten sich beunruhigt und unglücklich; unbewusst entschlüpfte ihnen ein Seufzer nach dem anderen. Nach einer Weile wagte Joe schüchtern und vorsichtig einen „Fühler" vorzustrecken: wie wohl die anderen über eine Rückkehr zur Zivilisation dächten - natürlich nicht sofort, aber...

Tom schmetterte ihn voll Hohn nieder. Huck, der bis jetzt noch unbeteiligt gewesen war, unterstützte Tom und der wankelmütige Joe hatte es plötzlich sehr eilig, sich herauszureden. Er verstand das in einer so geschickten Art und Weise, dass kaum ein Makel an ihm hängen blieb, der ihn zum heimwehkranken Hasenfuß gestempelt hätte. Die Meuterei war für den Augenblick erfolgreich niedergeschlagen.

Als die Nacht anbrach, nickte Huck ein und begann bald zu schnarchen. Als Nächster folgte Joe seinem Beispiel. Tom lag für eine Zeit bewegungslos auf seine Ellbogen gestützt und beobachtete die beiden aufmerksam. Schließlich erhob er sich vorsichtig auf die Knie und rutschte beim Licht des Lagerfeuers suchend im Grase umher. Er hob einige große gewölbte Stücke der dünnen weißen Ahornrinde auf, untersuchte sie und wählte schließlich zwei davon aus, die ihm am geeignetsten schienen. Dann kniete er am Feuer nieder und schrieb mit seinem Rotstiftstummel mühevoll etwas auf jedes dieser Stücke.

Eins davon rollte er auf und schob es in seine Jackentasche, das andere legte er in Joes Hut, zusammen mit gewissen Schuljungen-Kostbarkeiten von fast unschätzbarem Wert unter anderem ein Stück Kreide, ein Gummiball, drei Angelhaken und eine Murmel jener Art, die die Jungen als „garantiert echt Kristall" untereinander tauschten.

Dann schlich Tom auf Zehenspitzen vorsichtig davon. Als er glaubte, außer Hörweite zu sein, setzte er sich in Trab und lief auf die Sandbank zu.

Ein paar Minuten später befand sich Tom in dem seichten Wasser der Sandbank und watete auf das gegenüberliegende Illinois-Ufer zu. Bevor ihm das Wasser bis zur Brust ging, hatte er schon die Hälfte des Weges zurückgelegt. Die Strömung erlaubte es ihm jetzt nicht mehr, zu waten, und zuversichtlich machte er sich daran, die letzten hundert Meter schwimmend zurückzulegen. Er kämpfte gegen die Strömung an, wurde aber schneller stromabwärts getrieben, als er erwartet hatte. Schließlich erreichte er jedoch das Ufer und ließ sich treiben, bis er eine niedrige Stelle gefunden hatte. Dort kletterte er an Land.

Er betastete seine Jackentasche und stellte beruhigt fest, dass das Rindenstück noch da war. Dann schlug er sich in triefenden Kleidern am Ufer entlang in die Wälder. Kurz vor zehn Uhr erreichte er eine Lichtung, dem Städtchen gerade gegenüber, und sah sich immer wieder ängstlich um, kroch das Ufer hinab, schlüpfte ins Wasser, schwamm drei oder vier Meter und kletterte schließlich in das kleine Boot, das am Heck der Fähre festgemacht war und als Jolle diente. Er legte sich unter die Ruderbänke und wartete mit Herzklopfen.

Bald schlug die scheppernde Glocke an, und eine Stimme gab den Befehl zum Ablegen. Zwei Minuten später war die Fähre unterwegs. Tom war glücklich über seinen Erfolg, denn er wusste, dass es die letzte Fahrt des Bootes an diesem Abend war. Nach endlos langen zwölf oder fünfzehn Minuten standen die Räder still. Tom schlüpfte über Bord und schwamm noch etwa fünfzig Meter stromabwärts, aus der Gefahrenzone heraus, in der er möglicherweise Spaziergängern hätte begegnen können.

Er hastete durch verlassene Nebenstraßen und sah bald das Haus seiner Tante. Er stieg über den Zaun, schlich sich ans Haus heran und spähte durch das Fenster ins Wohnzimmer, in dem Licht brannte. Dort saßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe Harpers Mutter zusammen und sprachen. Sie saßen in der Nähe des Bettes. Das Bett stand zwischen ihnen und der Tür.

Tom ging zur Tür und begann sachte, die Klinke herunterzudrücken. Mit einem leisen Quietschen ging die Tür einen Spalt auf. Behutsam schob er sie weiter auf; bei jedem Knarren zuckte er zusammen. Endlich war der Spalt so groß, dass Tom glaubte auf den Knien hindurchschlüpfen zu können. So steckte er seinen Kopf durch die Tür und machte sich zaghaft an das gefährliche Unternehmen.

„Warum flackert die Kerze nur so?", fragte Tante Polly. Tom beeilte sich. „Nanu, die Tür ist ja offen, glaube ich. Ja natürlich, sie ist offen! Wie seltsam! Geh und schließe sie, Sid." Tom verschwand gerade rechtzeitig unter dem Bett. Dort lag er und ließ sein klopfendes Herz einen Augenblick zur Ruhe kommen, dann kroch er ans andere Ende des Bettes. Von hier aus konnte er fast die Füße seiner Tante berühren.

„Ja, was ich sagen wollte", sagte Tante Polly, „er war nicht schlecht sozusagen - nur immer zu Dummheiten aufgelegt. Leichtsinnig und unbesonnen, wisst ihr. Er war so jung und unerfahren, wie eben nur ein kleiner Junge sein kann. Er tat niemand etwas Böses und er war der gutherzigste Junge auf Gottes Erdboden..." Sie begann zu weinen. „

„Genauso war mein Joe - immer voll von Teufeleien und zu jeder Schandtat bereit, aber niemand war selbstloser und gütiger als er. Gott steh mir bei, wenn ich daran denke, dass ich ihn verprügelt habe, weil er angeblich Sahne getrunken hat, die ich doch selbst fortgeschüttet hatte, weil sie sauer war, danach... O Gott, und ich soll ihn in dieser Welt nie mehr wiedersehen, nie, nie - o mein armer verstoßener Junge!" Und Frau Harper schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

„Ich hoffe, Tom hat's besser dort, wo er jetzt ist", sagte Sid, „wenn er aber in manchen Dingen besser gewesen wäre... "

„Sid!" Tom fühlte den durchbohrenden, funkelnden Blick der Tante, obwohl er ihn nicht sehen konnte. „Nicht ein Wort gegen meinen Tom, jetzt, da er nicht mehr ist! Gott wird ihn beschützen, kümmere du dich nur nicht darum, Sid! - Oh, Frau Harper, ich weiß nicht, wie ich seinen Tod überleben soll! Ich liebte ihn so sehr, obwohl er mich alte Frau manchmal zu Tode gequält hat."

„Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen -der Name des Herrn sei gelobt! Aber es ist schwer, so schwer!" Tom verhielt sich die ganze Zeit über sehr still. Aus verschiedenen Bruchstücken der Unterhaltung entnahm er, dass man zuerst vermutet hatte, die Jungen seien beim Baden ertrunken. Dann jedoch hatte man das kleine Floß vermisst, und gewisse Jungen hatten von der Bemerkung der Vermissten erzählt, die Stadt solle bald „etwas hören". Die ganz Schlauen hatten sich die Sache schließlich so zusammengereimt: Die Knaben waren mit dem Floß davongefahren und würden bald in der nächsten Stadt unterhalb von St. Petersburg wieder auftauchen. Gegen Mittag des nächsten Tages jedoch war das Floß etwa fünf oder sechs Meilen unterhalb des Städtchens am Ufer gefunden worden. Damit war die Hoffnung geschwunden.

Sie mussten ertrunken sein, denn sonst hätte sie der Hunger gewiss nach Hause getrieben. Man nahm an, die Suche nach den Leichen müsse deshalb erfolglos geblieben sein, weil die Jungen in der Mitte des Stromes ertrunken wären. Heute war Mittwoch. Sollte es nicht gelingen, die Leichen bis Sonntag aufzufinden, müsste man wohl alle Hoffnung aufgeben; der Trauergottesdienst sollte dann am Sonntagmorgen abgehalten werden. Tom schauderte.

Dann sagte Frau Harper schluchzend gute Nacht und wollte gehen. Doch einem plötzlichen Bedürfnis folgend, flogen die beiden schwergeprüften Frauen einander in die Arme und weinten sich herzhaft aus. Dann trennten sie sich. Als Tante Polly Sid und Mary gute Nacht sagte, war sie viel zärtlicher als sonst. Sid schnüffelte ein wenig, Mary aber schluchzte aus Herzensgrund.

Dann kniete Tante Polly nieder und betete so rührend für Tom, so flehend und mit solch unendlicher Liebe in ihren Worten und in ihrer alten zitternden Stimme, dass Tom in Tränen schwamm, noch bevor sie geendet hatte.

Nachdem sie zu Bett gegangen war, musste er sich noch sehr lange still verhalten, denn von Zeit zu Zeit stieß sie verzweifelte Stoßseufzer aus und warf sich unruhig von einer Seite auf die andere. Aber schließlich lag sie ruhig und stöhnte nur manchmal im Schlaf. Vorsichtig kroch der Junge unter dem Bett hervor, beschattete die Kerze mit der Hand und sah die alte Dame an. Sein Herz war voller Mitleid für sie. Er nahm das Stück Rinde aus der Tasche und stellte es neben die Kerze.

Da fiel ihm plötzlich etwas ein und er zögerte. Dann leuchtete sein Gesicht auf; er hatte die Lösung gefunden. Hastig schob er die Rinde in seine Tasche zurück. Dann beugte er sich über die Tante, küsste die blassen Lippen und stahl sich heimlich davon.

In dem kleinen Städtchen herrschte an diesem ruhigen Sonnabendnachmittag nicht gerade Heiterkeit. Die Harpers und Tante Pollys Familie legten unter vielen Tränen Trauerkleidung an. Eine ungewöhnliche Stille lag über dem Ort, in dem es doch auch sonst schon still zuging. Etwas zerstreut gingen die Bewohner ihren Geschäften nach, sie sprachen wenig und seufzten desto mehr. Der freie Sonnabend schien den Kindern eine Last zu sein; sie hatten keine rechte Freude am Spiel und gaben es schließlich ganz auf.

Am Nachmittag ging Becky Thatcher auf dem verlassenen Schulhof umher und fühlte sich sehr elend. Aber auch hier fand sie keinen Trost; sie sprach zu sich selbst:

„Oh, wenn ich doch nur diesen Messingknopf wiederhätte! Aber es ist mir nichts geblieben, was mich an ihn erinnert." Und sie schluchzte ein wenig.

Plötzlich blieb sie stehen und sagte: „Genau hier war es. Oh, wenn es noch einmal so wäre wie damals - um nichts in der Welt würde ich das noch einmal sagen. Aber jetzt ist er tot, und ich werde ihn nie, nie wiedersehen."

Dieser Gedanke brach ihr fast das Herz, und langsam ging sie fort, während ihr die Tränen die Wangen hinabrollten. Eine Gruppe von Jungen und Mädchen -Spielkameraden von Tom und Joe - kam vorbei. Sie blieben stehen, sahen über den Zaun und sprachen in ehrfürchtigem Ton von Tom, wie er dies und jenes gemacht habe, als sie ihn zuletzt gesehen hätten, und wie Joe dies und das gesagt habe. Jeder Sprecher beschrieb genau die Stelle, wo die Vermissten zuletzt gestanden hatten, und fügte dann noch hinzu: „Und ich stand hier - genau wie jetzt. Angenommen, du bist jetzt er - ich stand ganz nahe vor ihm, und er lächelte, genauso wie du jetzt, und plötzlich überkam mich etwas, wie... Schrecklich, weißt du. Natürlich wusste ich damals nicht, was es bedeutete, aber jetzt weiß ich es."

Dann entstand ein Streit darüber, wer die Jungen zuletzt lebend gesehen hatte. Viele beanspruchten diese hohe Ehre für sich und brachten Beweise dar. Und als schließlich endgültig entschieden war, wer sie wirklich zuletzt gesehen und die letzten Worte mit ihnen gewechselt hatte, wurden die Glücklichen gewissermaßen als etwas Besonderes eingestuft, und alle anderen gafften sie an und beneideten sie.

Ein armer Bursche, der wirklich keine Größe war und nicht viel zu bieten hatte, sagte mit offensichtlichem Stolz: „Jaja, Tom Sawyer hat mich mal verprügelt!"

Aber die meisten Jungen konnten das von sich sagen und so sank die Auszeichnung doch sehr im Wert; dieser Anspruch auf Ruhm war ein Fehlschlag. Die Gruppe bummelte davon und noch lange hörte man sie mit ehrfurchtsvollen Stimmen über die verlorenen Helden sprechen.

Als am nächsten Morgen die Sonntagsschule beendet war, begann die Trauerglocke zu läuten. Es war ein sehr ruhiger Sonntag, und der klagende Ton der Glocke schien sich der nachdenklichen Stille, die über der Natur lag, anpassen zu wollen. Nach und nach versammelten sich die Bürger, blieben einen Augenblick in der Vorhalle stehen und besprachen flüsternd das traurige Ereignis. In der Kirche erstarb selbst das Flüstern; nur das Rauschen der Röcke unterbrach die Stille, als sich die Frauen auf ihre Plätze setzten. Niemand konnte sich erinnern, die kleine Kirche je so voll gesehen zu haben.

Schließlich entstand eine erwartungsvolle Pause. Dann betrat Tante Polly die Kirche, gefolgt von Sid und Mary und der Familie Harper, alle in tiefes Schwarz gekleidet. Die ganze Gemeinde und der alte Pfarrer erhoben sich ehrfurchtsvoll und setzten sich erst wieder, als die Trauernden in der vordersten Reihe Platz genommen hatten. Wieder herrschte Schweigen, das nur ab und zu von leisem Schluchzen unterbrochen wurde.

Der Pfarrer faltete die Hände und betete. Ein ergreifendes Lied wurde gesungen, und dann folgte der Bibeltext: „Ich bin die Auferstehung und das Leben." Die Predigt begann und der Geistliche entwarf ein glänzendes Bild von den Tugenden, dem gewinnenden Wesen und den vielversprechenden Anlagen der toten Jungen. Jeder Anwesende fühlte einen Stich im Herzen bei dem Gedanken, die armen Burschen vorher immer verkannt und nur Fehler und Mängel an ihnen gesehen zu haben. Nun berichtete der Pfarrer aus dem Leben der Verstorbenen, viele kleine Zwischenfälle, die erst recht ihre großzügige, zurückhaltende Art veranschaulichten. Die Leute konnten jetzt ganz klar erkennen, wie schön und edel jene Vorkommnisse gewesen waren, und sie erinnerten sich voller Gram an eine Zeit, da sie die Jungen für eben diese Taten mit Freuden verprügelt hätten.

Die Gemeinde wurde von dieser feierlichen Schilderung immer mehr ergriffen. Schließlich konnte niemand mehr an sich halten und alle schluchzten herzzerreißend und stimmten in das Weinen der Trauernden mit ein. Sogar der Geistliche auf der Kanzel weinte.

Da raschelte es auf der Galerie - aber niemand hörte es. Einen Augenblick später quietschte die Kirchentür. Der Pfarrer nahm das Taschentuch von seinen überströmenden Augen und erstarrte: Ein Augenpaar nach dem anderen folgte seinem Blick, wie auf Befehl erhob sich die ganze Gemeinde und starrte die drei Jungen an, die den Gang heraufmarschiert kamen. Tom ging voran, ihm folgte Joe, und zuletzt kam Huck, der, ein Bündel von herabhängenden Lumpen, blöde hinter den anderen herschlich. Sie hatten sich in der unbenutzten Galerie versteckt gehalten und ihre eigene Begräbnisrede angehört!

Tante Polly, Mary und die Harpers stürzten sich auf die Wiedergefundenen, erstickten sie fast mit ihren Küssen und dankten dem Himmel. Währenddessen stand der arme Huck betreten dabei und fühlte sich offensichtlich unbehaglich, da er nicht genau wusste, was er tun oder wo er sich vor so vielen staunenden Augen verstecken sollte. Er wurde unschlüssig und wollte sich gerade davonmachen, als Tom ihn am Arm packte und sagte: „Tante Polly, das ist wirklich nicht recht! Irgendjemand muss doch auch froh sein, dass Huck hier ist!"

„Aber ja, mein Junge. Ich freue mich, ihn zu sehen, den armen, mutterlosen Jungen!"

Aber die liebevolle Aufmerksamkeit, mit der Tante Polly ihn jetzt überschüttete, war das einzige, was ihm noch gefehlt hatte, um ihn noch verlegener und betretener zu machen als vorher.

Plötzlich donnerte der Pfarrer in den Lärm hinein:

„Lasset uns Gott preisen, von dem aller Segen kommt. - Singt! Und legt eure Herzen in den Gesang!"

Und so geschah es. Das Lied erscholl wie Trompetenklang, und während es die Jungen erbeben ließ, sah Tom Sawyer, der Pirat, auf die neidischen Kinder um ihn her und bekannte vor sich selbst, dass dies der stolzeste Augenblick seines Lebens war.

Als die genarrte Gemeinde hinausströmte, war sie fast bereit, noch einmal zum Besten gehalten zu werden, nur um diesen Gesang noch einmal zu hören.

An diesem Tage erhielt Tom mehr Püffe und Küsse -je nach Tante Pollys verschiedenen Stimmungen - als sonst in einem ganzen Jahr; und er wusste kaum, ob nun Tante Pollys Püffe oder ihre Küsse ihre Dankbarkeit gegen Gott und ihre Liebe zu ihm am überzeugendsten ausdrückten.

Auf dem Wege zur Schule hatte Tom kurz darauf einmal das Glück, Becky Thatcher zu treffen. Seine Laune war jeweils verantwortlich für sein Benehmen. Ohne einen Augenblick zu zögern, lief er zu ihr und sagte: „Ich bin neulich wirklich gemein zu dir gewesen, Becky, und es tut mir leid. Ich will auch nie, nie wieder hässlich zu dir sein, solange ich lebe. Bitte, sei wieder gut, willst du?"

Das Mädchen blieb stehen und sah ihm zornig ins Gesicht.

„Ich wäre Herrn Thomas Sawyer wirklich sehr dankbar, wenn er mich in Ruhe ließe. Ich will nie wieder mit ihm sprechen."

Sie warf den Kopf in den Nacken und ging weiter. Tom war so erstaunt, dass er nicht einmal die Geistesgegenwart hatte zu sagen: „Pah, macht mir nichts, Fräulein Naseweis!" Er war wütend. Er strolchte in den Schulhof und wünschte, sie wäre ein Junge, den er dafür durchprügeln könnte.

Der Lehrer, Herr Dobbins, war ein Mann in den mittleren Jahren, sein Ehrgeiz war nie befriedigt worden. Von jeher war es sein größter Wunsch gewesen, Arzt zu werden; da er aber arm war, hatte er nur Dorfschulmeister werden können. Jeden Tag nahm er ein geheimnisvolles Buch aus dem Pult und vertiefte sich darin. Er hielt dieses Buch immer hinter Schloss und Riegel. Die Jungen und Mädchen hatten nicht einmal eine schwache Vorstellung vom Inhalt dieses Buches und jeder hätte es gern einmal gesehen. Aber nie ergab sich dazu eine Gelegenheit.

Becky ging am Pult vorbei, das nahe bei der Tür stand. Da bemerkte sie, dass der Schlüssel im Schloss steckte. Das war ein kostbarer Augenblick! Sie schaute sich vorsichtig um, sah, dass sie allein war, und hielt im nächsten Augenblick das Buch in den Händen. Das Titelblatt - Professor Sowiesos „Anatomie" - sagte ihr nichts. Also begann sie umzublättern. Sofort stieß sie auf ein hübsches farbiges Bild: die Darstellung eines Menschen - splitternackt.

In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf das Blatt, Tom trat durch die Tür und erhaschte einen Blick auf das Bild. Hastig wollte Becky das Buch schließen, hatte aber das Pech, das Bild in der Mitte halb durchzureißen. Sie warf das Buch in das Pult, drehte den Schlüssel herum und brach vor Scham und Ärger m Tränen aus. „Tom Sawyer, du bist wirklich gemein, mir aufzulauern, um zu sehen, was ich mir angucke!"

„Aber wie konnte ich denn wissen, dass du dir etwas ansahst?"

„Du solltest dich schämen, Tom Sawyer; ich weiß genau, du wirst mich verpetzen und, oh - was soll ich nur tun? Er wird mich durchprügeln, und ich bin noch nie in der Schule geprügelt worden." Weinend lief sie aus dem Schulzimmer.

Bald begann die Schule, und der Lehrer betrat die Klasse. Tom war nicht sehr bei der Sache. Eine Stunde verging, der Lehrer saß dösend auf seinem Thron und das Zimmer war erfüllt vom einschläfernden Murmeln der lernenden Kinder. Schließlich reckte sich Herr Dobbins, gähnte, schloss sein Pult auf und langte nach seinem Buch. Zuerst aber schien er sich nicht entschließen zu können, ob er es nehmen sollte oder nicht. Die meisten Schüler sahen nur träge auf, aber zwei unter ihnen beobachteten seine Bewegungen sehr aufmerksam. Eine Weile betastete Herr Dobbins wie abwesend das Buch, endlich nahm er es und machte es sich in seinem Stuhl bequem, um zu lesen.

Tom guckte schnell zu Becky hinüber. Sie glich einem gejagten, hilflosen Stück Wild, das die Flinte auf sich gerichtet sieht. Sofort vergaß er seinen Streit mit ihr.

Jetzt öffnete der Lehrer das Buch und blickte im nächsten Augenblick auf die Kinder. Alle schlugen die Augen nieder, denn sein Blick erfüllte selbst die Unschuldigen mit Furcht. Allgemeine Stille trat ein, während sich der Zorn des Lehrers steigerte. Dann sprach er: „Wer hat dieses Buch zerrissen?"

Schweigen. Man hätte hören können, wie eine Stecknadel zu Boden fiel. Der Lehrer suchte in jedem Gesicht, ob es kein Schuldbewusstsein erkennen ließe.

„Benjamin Rogers, hast du dieses Buch zerrissen?"

Ein klares Nein. Wieder eine Pause.

„Joseph Harper, du?" Wieder ein Nein.

„Gracie Miller?" Kopfschütteln.

„Susan Harper, hast du es getan?"

Wieder Kopfschütteln. Das nächste Mädchen war Becky Thatcher. Tom zitterte von Kopf bis Fuß vor Aufregung.

„Rebecca Thatcher - (Tom schielte nach ihrem Gesicht - es war schneeweiß vor Furcht) - hast du — nein, sieh mir ins Gesicht (bittend erhoben sich ihre Hände) - hast du dieses Buch zerrissen?"

Wie der Blitz schoss ein Gedanke durch Toms Kopf. Er sprang auf und rief: „Ich war's!"

Die ganze Klasse starrte bestürzt auf diesen unglaublich dummen Jungen. Als Tom nach vorne ging, um seine Strafe in Empfang zu nehmen, leuchteten ihm aus den Augen der armen Becky so viel Überraschung, Dankbarkeit und Bewunderung entgegen, dass es selbst hundert Schläge wieder wettgemacht hätte. Er war so begeistert von seiner eigenen guten Tat, dass er, ohne auch nur einmal zu schreien, die unbarmherzigsten Schläge entgegennahm, die Herr Dobbins jemals ausgeteilt hatte. Ebenso gleichgültig nahm er von der grausamen Tatsache Kenntnis, dass er obendrein zwei Stunden „nachsitzen" müsse. Er wusste ja, wer draußen auf ihn wartete, wenn seine Haft vorüber war.

An diesem Abend ging Tom sehr glücklich zu Bett, und als er endlich eingeschlafen war, hörte er noch oft im Traume die Worte, die Becky zuletzt zu ihm gesagt hatte: „O Tom, wie konntest du nur so großmütig sein!"

Der Prozess

Die großen Ferien hatten begonnen.

Nicht lange darauf kam Leben in das schläfrige Dasein des kleinen Städtchens: der Mordprozess wurde anberaumt. Sofort wurde er zum allgemeinen Stadtgespräch. Tom konnte sich nicht abseits halten. Jede Erwähnung des Mordes ließ ihn erschauern, denn sein beunruhigtes Gewissen und seine Furcht redeten ihm ein, dass solche Bemerkungen ausgestreckte „Fühler" seien, die bezweckten, etwas von ihm zu erfahren. Um einmal mit Huck über diese Angelegenheit zu reden, bestellte er ihn an einen einsamen Ort. Es würde eine Erleichterung für ihn sein, einmal frisch von der Leber darüber zu sprechen und die Last seines Kummers mit einem Leidensgefährten zu teilen. Auch wollte er sich vergewissern, ob Huck Finn geschwiegen hatte.

„Huck, hast du je einem Menschen davon erzählt?"

„Wovon?"

„Du weißt schon, wovon."

„Oh - natürlich nicht!"

„Nicht ein Wort?"

„Wirklich nicht! - Warum sollte ich denn darüber reden?"

„Gut. Ich glaube, wir sind sicher, solange wir nicht reden. Aber lass uns lieber noch mal schwören. Ist sicherer."

Und so schworen sie wieder einen schrecklichen Eid.

Noch lange danach redeten sie miteinander, aber es beruhigte sie kaum. Als die Dämmerung hereinbrach, gingen sie zu dem kleinen einsamen Gefängnis, in der unbestimmten Hoffnung, dass etwas geschehen und sie von ihren Nöten befreien würde.

Wie schon oft vorher, traten die Jungen an das kleine Gitterfenster heran und reichten Potter Tabak und Streichhölzer hinein. Seine Zelle war im Erdgeschoss und Wächter gab es nicht.

Potters Dankbarkeit für ihre kleinen Geschenke hatte ihr Gewissen schon immer gerührt - diesmal traf es sie schlimmer als je. Völlig wie Verräter und Feiglinge fühlten sie sich, als Potter sagte:

„Ihr zwei seid immer mächtig gut zu mir gewesen, Jungen - besser als irgendwer sonst in der Stadt. Und ich werde es bestimmt nicht vergessen. Oft hab ich schon zu mir selbst gesagt: Immerzu hab ich allen Jungen die Drachen geflickt und ihnen die besten Angelplätze gezeigt und was tun sie heute? Sie alle haben den alten Muff Potter vergessen, er ist in Not, aber sie haben ihn vergessen; nur Tom und Huck nicht, die vergessen ihn nicht. Gebt mir eure Hände, ihr könnt sie sicher durch die Stäbe schieben, denn meine Hand ist zu groß dazu. So kleine, schwache Hände - aber sie haben Muff Potter oft geholfen, und sie würden ihm sicher noch mehr helfen, wenn sie könnten."

Tom ging nach Hause und fühlte sich sehr elend.

Am Abend vor der Gerichtsverhandlung stand es für die Bewohner des Städtchens fest: Indianer-Joes Behauptung war gut begründet, und es gab keinen Zweifel, wie das Urteil des Gerichts lauten würde.

Am nächsten Morgen strömte die ganze Stadt in den Gerichtssaal, denn dies war der große Tag. Unter den vielen Zuhörern waren Männer und Frauen etwa gleich stark vertreten. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Geschworenen den Raum betraten und ihre Plätze einnahmen. Kurz darauf wurde Potter hereingeführt; er sah weiß, hager und hoffnungslos aus, und seine Hände waren gefesselt. Viele neugierige Augen starrten ihn an, als er sich schüchtern setzte. Auch Indianer-Joe sah ihn an, kaltblütig wie immer.

Der Richter erschien und der Sheriff verkündete den Beginn der Verhandlung. Die Rechtsanwälte steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Papier raschelte, und Vorbereitungen wurden getroffen. Alle diese Einzelheiten ließen das Ganze nur noch eindrucksvoller und spannender erscheinen.

Jetzt wurde ein Zeuge aufgerufen, der aussagte, dass er Muff Potter in den frühen Morgenstunden nach dem Mord gesehen habe, wie er sich im Bach gewaschen habe und dann eiligst davongeschlichen sei, als er sich beobachtet fühlte.

Nach einigen weiteren Fragen sagte der Staatsanwalt: „Wer hat noch Fragen an den Zeugen?"

Für einen Augenblick blickte Potter auf, sah aber gleich wieder vor sich hin, als sein Verteidiger sagte: „Ich habe keine Fragen zustellen."

Der nächste Zeuge sagte aus, dass er das Messer neben dem Leichnam gefunden habe. Der Staatsanwalt sagte: „Wer hat noch Fragen an den Zeugen?"

„Ich habe keine Fragen zu stellen", antwortete Potters Verteidiger.

Ein dritter Zeuge beschwor, er habe das Messer oft in Potters Hand gesehen.

Wieder stellte der Staatsanwalt dem Verteidiger die gleiche Frage, und wieder verzichtete dieser auf ein Verhör des Zeugen. Die Zuhörer wurden unruhig; bedeutete dies, dass der Verteidiger das Leben seines Schützlings aufgab, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihn zu retten?

Jede Einzelheit über die Dinge, die sich an jenem Morgen nach der Mordnacht auf dem Friedhof zugetragen hatten, wurde von glaubwürdigen Zeugen noch einmal bekräftigt. Aber keiner dieser Zeugen wurde von Potters Verteidiger verhört. Das Publikum drückte sein Erstaunen und seine Unzufriedenheit hierüber durch Murmeln und Rufen aus und erhielt einen Verweis des Gerichts. Jetzt sagte der Staatsanwalt:

„Durch den Eid der Bürger, deren Aussage über jeden Verdacht erhaben ist, müssen wir dies schreckliche Verbrechen dem unglücklichen Gefangenen zur Last legen. Die Beweisaufnahme der Anklage ist damit abgeschlossen."

Ein Stöhnen entrang sich Potter, er legte den Kopf auf die Arme und wiegte den Körper langsam hin und her.

Währenddessen herrschte im Saale peinliches Schweigen. Viele Männer waren ergriffen, und das Mitleid der Frauen äußerte sich in Tränen. Da erhob sich der Verteidiger und sagte:

„Hohes Gericht! Zu Beginn der Verhandlung deuteten wir an, dass es unsere Absicht sei, die schreckliche Tat unseres Klienten dem Einfluss des Alkohols zuzuschreiben. Wir haben nunmehr diese Absicht aufgegeben und werden dies nicht zur Grundlage unserer Verteidigung machen." Dann sagte er zum Gerichtsdiener: „Man rufe Thomas Sawyer!"

Alle Gesichter im Hause zeigten plötzlich höchste Verwunderung, selbst das von Potter. Aller Augen hefteten sich mit Neugier auf Tom, der sich jetzt erhob und in den Zeugenstand trat. Der Junge sah ganz verstört aus und fürchtete sich offensichtlich sehr. Er musste den Eid ablegen.

„Thomas Sawyer, wo warst du am siebzehnten Juli gegen Mitternacht?"

Tom streifte das eiserne Gesicht Indianer-Joes mit einem kurzen Blick. Er wollte sprechen, aber seine Zunge war wie gelähmt. Die Zuhörer hielten den Atem an. Nach einigen Augenblicken riss er sich zusammen, räusperte sich und sagte, nicht laut, aber doch so, dass es wenigstens ein Teil der Anwesenden hören konnte: „Auf dem Friedhof!"

„Ein bisschen lauter bitte. Hab keine Angst. Du warst... "

„Auf dem Friedhof."

Ein geringschätziges Lächeln flog über das Gesicht Indianer-Joes. „Warst du irgendwo in der Nähe von Herrn Williams' Grab?"

„Ja!"

„Sprich ein bisschen lauter! Wie nahe warst du an dem Grab?"

„So nahe wie jetzt vor Ihnen."

„Hattest du dich versteckt oder nicht?"

„Ich hatte mich versteckt."

„Wo?"

„Hinter den Ulmen, die ganz nahe am Grab stehen."

Indianer-Joe zuckte kaum merklich zusammen.

„War jemand bei dir?"

„Ja. Ich ging mit... "

„Warte - warte einen Augenblick! Lass den Namen deines Kameraden jetzt noch aus dem Spiel. Wir werden ihn zu gegebener Zeit vorführen. Hattest du irgendetwas bei dir?" Tom zögerte und blickte verwirrt um sich. Der Verteidiger sagte:

„Sprich nur, mein Junge - fürchte dich nicht. Die Wahrheit darf man immer sagen. Was hattest du also bei dir?"

„Nur eine - eine tote Katze."

Im Publikum wurde leises Gelächter vernehmbar.

„Wir werden das Skelett jener Katze vorführen. Und nun, mein Junge, erzähle uns alles, was geschah. Sag es nur mit deinen eigenen Worten, ohne etwas auszulassen, und hab keine Angst."

Und Tom begann - zuerst zögernd und langsam. Nach und nach aber wurde sein Bericht immer flüssiger. Atemlose Stille herrschte im Gerichtssaal, nur Toms Stimme war zu hören. Mit offenem Munde und angehaltenem Atem hingen die Leute an seinen Lippen, gefesselt von seiner schaurigen Erzählung. Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als der Junge sagte:

„... und als der Doktor den Muff Potter mit dem schweren Brett niederschlug, sprang ihn Indianer-Joe mit dem Messer an und..."

Krach! Schnell wie der Blitz sprang der Mischling auf ein Fenster zu, stieß alle, die ihn hindern wollten, zur Seite und war verschwunden!

Wieder einmal war Tom der strahlende Held - der Liebling der Alten und der Vielbeneidete bei den Jungen. Sein Name wurde sogar gedruckt und damit unsterblich, denn die Zeitung des Städtchens hob ihn förmlich in den Himmel. Einige behaupteten sogar, er könne noch Präsident werden, wenn er nicht vorher gehängt würde.

Wie es nun einmal üblich ist, nahm die wankelmütige, unvernünftige Welt Muff Potter wieder in ihre Arme und verhätschelte und verwöhnte ihn ebenso verschwenderisch, wie sie ihn zuvor geschmäht hatte.

Toms Tage waren Tage des Ruhmes und des Glanzes, seine Nächte aber waren schrecklich. Indianer-Joe geisterte durch all seine Träume und stets sah der Mörder ihn mit drohenden Augen an.

Belohnungen wurden ausgesetzt, das ganze Land wurde abgesucht, aber kein Indianer-Joe wurde gefunden. Tom fühlte sich nach wie vor sehr unsicher.

Die beiden Schatzgräber

Es kommt einmal eine Zeit im Leben eines jeden wirklichen Jungen, da spürt er ein leidenschaftliches Verlangen, weit fortzugehen und nach verborgenen Schätzen zu graben. Eines Tages ergriff auch Tom dieses Verlangen. Er machte sich auf den Weg, um Joe Harper zu suchen, fand ihn aber nicht. Dann dachte er an Ben Rogers, aber dieser war fischen gegangen. Schließlich stieß Tom auf Huck Finn, den „Mann mit der Roten Hand". Huck würde bestimmt mitmachen. Vertraulich teilte er ihm seinen Plan mit. Huck war immer einverstanden mit einem Unternehmen, das Unterhaltung bot und kein Kapital erforderte.

„Wo wollen wir graben?" fragte er.

„Oh, irgendwo."

„Wieso, ist denn überall was versteckt?"

„Nee, natürlich nicht. Es ist nur an ganz besonderen Stellen was versteckt, Huck - manchmal auf Inseln, manchmal in einer verrotteten Truhe unter 'nem alten Baum, dort, wohin grad um Mitternacht sein Schatten fällt; meistens aber unter dem Fußboden von einem Haus, in dem es spukt."

„Und wer versteckt es da?"

„Räuber natürlich - was glaubst du denn? Oder hast du gedacht, die Pastöre?" „Ich weiß nicht. Wenn's meins wäre, würde ich's nicht verstecken, sondern ausgeben und mir 'nen schönen Tag antun."

„Ich auch. Aber Diebe und Räuber tun das nicht. Sie verstecken es immer und lassen's dann da."

„Holen sie's denn nachher nicht?"

„Nein, sie wollen's zwar, aber allmählich vergessen sie die Zeichen, die sie sich gemacht haben, oder sie sterben auch. Auf jeden Fall liegt es da eine lange Zeit und wird ganz rostig. Aber schließlich findet jemand ein altes gelbes Stück Papier, auf dem der Weg zu dem Schatz beschrieben ist. Und meistens dauert's 'ne ganze Woche, bis so'n Papier entziffert ist, denn es hat nur Zeichen und Hie-Hierogliefen."

„Hiero... was?"

„Hierogliefen - Bilder und solche Sachen, weißt du, die so aussehen, als ob sie etwas bedeuten."

„Hast du so'n Papier, Tom?"

„Nee."

„Ja, aber wieso kannst du dann die Zeichen finden?"

„Ich brauche keine Zeichen. Es ist doch immer unter einem Fußboden von einem Spukhaus oder auf einer Insel. Die Jackson-Insel haben wir schon versucht, aber vielleicht können wir da mal graben; ja, und da gibt es auch 'ne ganze Masse alter Bäume."

„Liegt unter alten Bäumen ein Schatz?"

„Wie du bloß redest! Nee!"

„Woher willst du dann wissen, unter welchem er liegt?"

„Wir müssen eben alle versuchen."

„Dann müssen wir ja den ganzen Sommer graben, Tom!"

„Na und? Angenommen, du findest so 'nen Messingtopf mit hundert Dollar drin, alle rostig und schwarz, oder 'ne verrottete Truhe mit Di'manten drin. Was dann?"

Hucks Augen leuchteten. „Das wär Klasse! Wenn du mir die hundert Dollar gibst, brauche ich keine Di'manten mehr."

„Hast du jemals einen gesehen, Huck?"

„Nee, nicht, dass ich wüsste."

„Ha, Könige haben massenhaft davon."

„Ich kenn aber doch keine Könige, Tom."

„Kann ich mir denken."

„Nun sag aber - wo sollen wir zuerst graben?"

„Ich bin dafür, wir fangen an dem alten verrotteten Baum gegenüber vom Stillhausbach an."

Sie besorgten sich eine verbogene Hacke und eine Schaufel und machten sich auf den drei Meilen langen Weg. Schwitzend und keuchend kamen sie dort an, warfen sich in den Schauen einer Ulme und qualmten ein Pfeifchen.

„Mir gefällt's so", sagte Tom.

„Mir auch."

„Sag, Huck, angenommen, wir finden einen Schatz hier, was würdest du mit deinem Anteil tun?"

„Ich würd mir jeden Tag Obstkuchen und 'n Glas Sprudel kaufen und in jeden Zirkus gehen, der in unsere Stadt kommt. Und was tätest du mit deinem Anteil?"

„Ich würde mir eine neue Trompete kaufen, ein echtes Schwert, 'ne rote Krawatte und 'ne ganz junge Bulldogge und dann würde ich heiraten."

„Heiraten!"

Ja"

„Tom, du - wirklich, Tom, du hast nicht alle beisammen!"

„Warte nur - du wirst schon sehen."

„Wollen wir jetzt anfangen zu graben?"

Sie arbeiteten und schwitzten ungefähr eine halbe Stunde lang. Kein Erfolg! Also quälten sie sich noch eine halbe Stunde. Immer noch kein Erfolg. Da sagte Huck:

„Vergraben sie es eigentlich immer so tief?"

„Manchmal - nicht immer. Ich glaube, wir haben die falsche Stelle erwischt."

Sie suchten sich einen anderen Platz und begannen von neuem. Nur langsam kamen sie voran. Schließlich stützte sich Huck auf seine Schaufel, wischte sich mit dem Ärmel die Schweißtropfen von der Stirn und sagte:

„Wo sollen wir graben, wenn wir hier nichts finden?"

„Vielleicht an dem alten Baum auf dem Cardiff-Hügel, hinter dem Haus der Witwe Douglas."

„Aber Tom, wird sie uns den Schatz nicht wegnehmen? Es ist ihr Land, weißt du."

„Sie möcht es ja gerne, glaub ich. Aber wer einen Schatz findet, darf ihn behalten, ganz gleich, auf welchem Land er ihn gefunden hat."

Das war eine zufriedenstellende Erklärung und die Arbeit konnte weitergehen. Schließlich sagte Huck:

„Verdammt, wir sind bestimmt an der falschen Stelle. Was meinst du?"

„Es ist wirklich sehr seltsam, Huck. Ich versteh's auch nicht. - Ach, jetzt weiß ich's. Man muss ja erst herausfinden, wohin der Schatten des Astes um Mitternacht fällt, und das ist dann die Stelle, wo man graben muss. Kannst du heut Nacht herkommen?"

„Klar. Heute Abend miaue ich vor deinem Fenster."

Kurz vor Mitternacht waren die Jungen an Ort und Stelle. Sie setzten sich in den Schatten und warteten. Schließlich meinten sie, es müsse jetzt Mitternacht sein. Sie machten ein Zeichen, wohin der Schatten fiel, und begannen zu graben. Das Loch wurde tiefer und tiefer, und ihr Herz tat jedes Mal einen gewaltigen Satz, wenn die Hacke auf etwas Hartes stieß. Jedes Mal aber wurden sie enttäuscht, denn es war immer nur ein Stein oder eine Wurzel. Schließlich sagte Tom: „Es hat keinen Zweck, Huck, wir haben wieder nicht die richtige Stelle."

„Kann doch nicht sein! Wir haben doch den Schatten genau nachgezeichnet."

„Ich weiß, aber wir haben die Zeit ja auch nur geschätzt. Vielleicht war es zu früh oder zu spät."

Huck ließ die Schaufel fallen. „So ist es", sagte er.

„Aber ich weiß 'nen Ort, wo wir's noch mal versuchen können. Im verhexten Haus!"

„Mensch, Tom, ich weiß nicht, aber ich mag Häuser nicht, in denen es spukt. Die sind noch schlimmer als Tote. Tote reden vielleicht, aber sie schleichen nicht um einen herum und gucken einem nicht über die Schulter, wenn man gerade nicht hinsieht, und sie knirschen auch nicht so mit den Zähnen, wie es Geister tun. Nee, nee, Tom, das könnt ich wirklich nicht aushaken - niemand könnte das."

„Ja, Huck, aber Geister gibt es doch nur in der Nacht. Bei Tage stören die uns bestimmt nicht."

„Na ja, gut, wir können's ja mal versuchen. Aber wir riskieren bestimmt was."

Dann machten sie sich auf den Heimweg und gingen den Hügel hinab. Unter sich sahen sie im Mondlicht das „Spukhaus" liegen. Dort lag es ganz einsam, Unkraut wuchs auf den Treppenstufen und der Zaun war fast zusammengefallen. Die Jungen betrachteten es eine Weile, machten dann einen großen Bogen um das Haus herum und schlichen durch die Wälder, die die andere Seite des Cardiff-Hügels bedeckten, nach Hause.

Am Sonnabend, kurz nach Mittag, erschienen die beiden Jungen wieder an dem alten Baum. Sie rauchten und erzählten sich noch ein wenig, dann gruben sie wieder einmal, aber auch diesmal ohne Erfolg.

Als sie am Spukhaus ankamen, war es in der brütenden Sonne so schaurig und unheimlich und totenstill, dass sich die beiden Jungen zuerst fürchteten hineinzugehen. Schließlich aber krochen sie zur Tür und lugten hinein. Sie sahen einen mit Unkraut bedeckten Raum ohne Fußboden, einen alten Kamin, scheibenlose Fenster und eine ganz baufällige Treppe. Hier und da hingen zerfetzte Spinnweben. Sachte und mit klopfenden Herzen traten sie ein. Sie flüsterten nur und waren bereit, beim leisesten Geräusch die Flucht zu ergreifen. Aber nach einer Weile hatten sie sich an den Ort gewöhnt, und ihre Furcht machte allmählich der Neugier Platz.

Als Nächstes wollten sie sich im oberen Stockwerk umsehen. Sie warfen ihr Arbeitsgerät in eine Ecke und stiegen hinauf. Oben fanden sie die gleichen Spuren des Verfalls. In einer Ecke war ein Wandschrank, der ein Geheimnis zu bergen schien. Sie öffneten die Tür. Aber sie wurden enttäuscht, denn der Schrank war leer. Gerade wollten sie wieder hinuntersteigen und mit ihrer Arbeit anfangen, als...

„Pst!" sagte Tom.

„Was gibt's?", flüsterte Huck, weiß vor Schreck.

„Pst! -Jetzt! - Hörst du?"

„Ja! Lieber Gott, lass uns fortlaufen!"

„Still! Rühr dich nicht! Sie kommen direkt auf die Tür zu."

Die Jungen legten sich flach auf den Fußboden und lugten durch die Ritzen zwischen den Brettern hinunter.

„Sie halten an! - Sie kommen. Kein Wort mehr, Huck. Lieber Himmel, ich wollte, wir wären erst mal hier raus!"

Zwei Männer betraten das Haus. Die Jungen erkannten einen von ihnen. Es war der alte taubstumme Spanier, den man kürzlich ein- oder zweimal in der Stadt gesehen hatte. Den anderen Mann kannten sie nicht.

Dieser andere war eine ungekämmte, zerlumpte Gestalt mit einem unsympathischen Gesichtsausdruck. Der Spanier war in eine Kutte gehüllt; er hatte buschige weiße Augenbrauen und langes weißes Haar wallte unter seinem breitrandigen Hut herab. Er trug eine grüne Brille. Als sie hereinkamen, sprach der andere gerade mit gedämpfter Stimme. Sie setzten sich auf den Boden mit dem Gesicht zur Tür. Allmählich ließ der Sprecher seine anfängliche Vorsicht fallen und die Jungen konnten seine Worte recht gut verstehen.

„Nein", sagte er, „ich habe darüber nachgedacht und es gefällt mir wirklich nicht. Es ist gefährlich."

„Gefährlich!", brummte der „taubstumme" Spanier zum größten Erstaunen der Jungen. „Hasenfuß!"

Die Stimme ließ die Jungen erzittern. Es war die Stimme von Indianer-Joe! Für eine Weile war alles still. Dann sagte Joe:

„Ist nicht gefährlicher als das Ding, das wir neulich gedreht haben - und nichts ist rausgekommen."

„Das war auch was anderes. So weit stromauf und kein Haus in der Nähe! Konnte ja auch nichts rauskommen, wo's uns nicht mal gelungen ist."

„Nun, gibt's was Gefährlicheres, als im hellen Tageslicht hierher zu kommen? - Jeder, der uns gesehen hätte, würde uns verdächtigen."

„Ja, ich weiß. Aber nach der Stümperarbeit, die wir da geleistet haben, gab es ja keinen besseren Platz. Ich will raus aus dieser elenden Hütte. Ich wollte schon gestern raus, konnte es aber nicht wagen, weil diese verdammten Bengel auf dem Hügel da oben spielten und mich bestimmt gesehen hätten."

Die „verdammten Bengel" zuckten bei dieser Bemerkung heftig zusammen. Sie wünschten, sie wären nie hergekommen. Jetzt holten die Männer etwas zu essen hervor und frühstückten.

Nach einer langen gedankenvollen Pause sagte Indianer-Joe: „Hör zu, Kamerad - du gehst zurück zum Fluß, wo du hingehörst. Warte da, bis du von mir hörst. Ich lasse es darauf ankommen und mache dieser Stadt noch einmal einen Besuch. Wir werden das >gefährliche< Ding erst drehen, nachdem ich mich ein wenig umgesehen habe und davon überzeugt bin, dass die Gelegenheit wirklich günstig ist. Dann ab nach Texas! Wir werden's schon schaffen!"

Dies war dem anderen recht. Bald begannen die Männer zu gähnen und Indianer-Joe sagte: „Ich bin hundemüde! Du bist an der Reihe, die Wache zu übernehmen."

Er machte es sich im Unkraut bequem und fing bald an zu schnarchen. Ein paarmal stieß ihn sein Kamerad an, daraufhin war er ruhig. Bald nickte auch der Wächter ein; sein Kopf sank immer tiefer, und dann begannen beide Männer zu schnarchen. Die Jungen atmeten tief und dankbar auf. Tom flüsterte:

„Jetzt ist's Zeit - komm!"

Huck antwortete: „Ich kann nicht - ich sterbe, wenn sie aufwachen."

Tom drängte - Huck wollte nicht. Schließlich erhob sich Tom langsam und vorsichtig und versuchte sein Glück allein. Aber schon sein erster Schritt verursachte ein solch entsetzliches Knarren im Fußboden, dass er sich in Todesangst wieder niederließ. Er versuchte es kein zweites Mal. Wieder lagen sie still und zählten die träge dahinschleichenden Minuten, bis ihnen schien, dass die Zeit längst vorbei sei und die Ewigkeit zu dämmern beginne. Freudig sahen sie, dass die Sonne endlich sank.

Plötzlich hörte Indianer-Joe auf zu schnarchen, setzte sich auf und betrachtete grimmig seinen Kameraden, dessen Kopf auf die Knie gefallen war. Er stieß ihn mit dem Fuß an und sagte:

„He! Was für'n Wächter! Gott sei Dank ist nichts passiert!"

„Himmel! Habe ich geschlafen?"

„Oh, nur so'n kleines bisschen. Wir müssen bald abhauen; was sollen wir mit dem Rest Geld anfangen, den wir noch haben?"

„Ich weiß nicht recht - lass es doch hier, wie gewöhnlich. Hat keinen Zweck, es schon jetzt mitzunehmen, bevor wir nach Texas gehen. Sechshundertfünfzig in Silber ist schon 'ne schöne Last."

„Hm - na ja - wird schon klappen, noch mal herzukommen."

„Ja, aber ich glaube, es ist besser, des Nachts herzukommen - so wie bisher."

„Ja, aber hör zu, wir werden's einfach eingraben - tief eingraben."

„Gute Idee", sagte Joes Begleiter, ging durch den Raum, kniete nieder, hob einen der hinteren Herdsteine hoch und zog einen Beutel hervor, in dem es angenehm klingelte. Er entnahm ihm zwanzig oder dreißig Dollar für sich und ebenso viel für Indianer-Joe. Dann gab er den Beutel weiter an Joe, der schon in der Ecke kniete und mit seinem Messer ein Loch in die Erde grub.

Die Jungen vergaßen ihre Ängste und Nöte in einem einzigen Augenblick. Mit neugierigen Augen beobachteten sie jede Bewegung. So ein Glück! Das übertraf wirklich alle ihre Erwartungen! Sechshundert Dollar war genug Geld, um ein halbes Dutzend Jungen reich zu machen! Jeden Augenblick stießen sie einander an - es waren beredsame und leicht verständliche Stöße, denn sie bedeuteten ganz einfach: „Bist du jetzt nicht froh, dass wir hier sind?"

Joes Messer stieß auf einen Widerstand.

„Oho!" sagte er.

„Was gibt's?" fragte sein Kumpan.

„Halbvermoderte Planke - nein, es ist eine Kiste, glaube ich. Komm, pack mal an, wollen sehen, was damit los ist. Lass nur, nicht mehr nötig, ich hab ein Loch reingebrochen."

Er steckte seine Hand in das Loch und zog sie wieder heraus. „Mann, es ist Gold!"

Die beiden Männer untersuchten die Handvoll Münzen. Sie waren aus Gold. Oben die beiden Jungen waren genauso entzückt und aufgeregt wie die Männer.

Joes Kumpan sagte: „Wir wollen diese Sache schnell erledigen. Eben habe ich eine alte rostige Hacke gesehen. Sie steht zwischen dem Unkraut dort in der Ecke an der anderen Seite des Kamins."

Er holte die Schaufel und die Hacke der Jungen und gab beide Indianer-Joe. Der nahm sie, betrachtete sie argwöhnisch, schüttelte den Kopf, murmelte etwas vor sich hin und begann dann mit der Arbeit. Bald war die Kiste freigelegt. Sie war nicht sehr groß und mit Eisenbändern verstärkt. Gewiss war sie einmal sehr stabil gewesen, bevor die langen Jahre sie hatten morsch werden lassen. Eine Weile betrachteten die Männer den Schatz in seligem Schweigen.

„Kamerad, das sind Tausende von Dollars", sagte Indianer-Joe.

„Man munkelt, dass sich Murrels Bande einmal einen Sommer hier herumgetrieben hat", bemerkte der Fremde.

„Ich weiß", sagte Indianer-Joe, „und das hier sieht so aus, als ob es von dieser Bande stammt."

„Jetzt brauchst du doch das andere Ding nicht mehr zu drehen!"

Der Mischling runzelte die Stirn. Er sagte:

„Du kennst mich nicht. Jedenfalls weißt du nicht alles über diese Sache. Hat überhaupt nichts mit Raub zu tun - 's ist Rache!" Ein böses Licht flackerte in seinen Augen. „Ich brauche deine Hilfe dabei. Wenn das erledigt ist - dann ab nach Texas. Geh du nur nach Hause zu deiner Nance und zu deinen Gören und halte dich bereit, bis du von mir hörst."

„Gut - wenn du meinst. Was sollen wir hiermit tun -es wieder vergraben?"

„Ja." (Begeistertes Entzücken ein Stockwerk höher. ) „Nein! Beim großen Häuptling, nein!" (Tiefe Niedergeschlagenheit eine Treppe höher. ) „Beinahe hätte ich's vergessen: an der Hacke saß frische Erde!" (Den Jungen wurde übel vor Schreck.) „Wie kommen eine Hacke und eine Schaufel hierher? Wie kommt frische Erde dran? Wer hat sie hergebracht - und wohin sind sie gegangen? Hast du jemand gehört oder gesehen? Wie, das Geld wieder vergraben, damit die anderen gleich kommen und sehen, dass die Erde aufgewühlt ist? Nein, nein, ich denke nicht daran. Wir nehmen's mit in meine Höhle."

„Natürlich! Hätte auch eher daran denken können. Meinst du Nummer eins?"

„Nee, Nummer zwei - unter dem Kreuz. Der andere Platz ist schlecht - zu auffällig."

„Gut - ist auch bald dunkel genug, abzuhauen."

Indianer-Joe erhob sich und wanderte hin und her, von Fenster zu Fenster. Plötzlich sagte er: „Wer kann wohl diese Geräte hergebracht haben? Glaubst du, dass sie womöglich oben sind?"

Den Jungen stockte der Atem. Indianer-Joe legte die Hand auf sein Messer, zögerte einen Augenblick unentschlossen und wandte sich dann der Treppe zu. Zuerst dachten die Jungen an den Wandschrank, waren aber so starr vor Schreck, dass sie sich nicht aufraffen konnten. Knarrend kamen die Schritte die Treppe herauf. - Der unerträgliche Gedanke an die Aussichtslosigkeit ihrer Lage weckte die Jungen aus ihrer Starre. Gerade wollten sie in den Wandschrank springen - da hörten sie das Krachen von morschem Holz: Indianer-Joe landete am Boden unter den Trümmern der zerbrochenen Treppe. Fluchend raffte er sich wieder auf und sein Kumpan sagte:

„Weshalb nur der ganze Zauber? Wenn wirklich jemand da oben ist, warum sollen wir ihn nicht da lassen? In fünfzehn Minuten ist's dunkel -meinetwegen sollen sie uns dann folgen, wenn's ihnen Spaß macht. Ist mir doch egal. Meiner Ansicht nach muss man uns, wenn uns wirklich jemand gesehen hat, für Geister oder sonst was halten. Ich wette, die sind längst aus gerissen."

Joe brummte noch eine Weile, stimmte dann aber seinem Freund bei, dass sie das letzte Tageslicht ausnützen und den Rückzug vorbereiten sollten. Kurz darauf schlüpften sie in der Dämmerung aus dem Hause und wandten sich mit ihrer kostbaren Truhe dem Fluss zu.

Tom und Huck erhoben sich, noch schwach, aber doch sehr erleichtert, und starrten ihnen durch die Ritzen in der Hauswand nach. Plötzlich kam Tom ein schauriger Gedanke:

„Rache? Mensch, Huck - wenn der uns meint!"

„Guter Gott!" sagte Huck schwach.

Sie besprachen alles gründlich miteinander, und als sie die Stadt erreichten, kamen sie zu dem Ergebnis, dass Indianer-Joe vielleicht jemand anders gemeint haben könnte - oder wenigstens nur Tom, da ja nur Tom gegen ihn ausgesagt hatte.

Tom fühlte sich sehr, sehr unbehaglich, so allein der Gefahr ausgesetzt zu sein! Er war überzeugt, dass es doch für ihn leichter wäre, wenn er einen Leidensgenossen hätte.

Auf der Spur der Räuber

Die Abenteuer des Tages verfolgten Tom bis in seine Träume. Viermal schon besaß er den Schatz, und viermal zerrann er ihm unter den Händen, als er aus dem Schlaf aufwachte. Als er am nächsten Morgen alles überdachte, kam es ihm in den Sinn, dass das ganze Erlebnis gewiss ein Traum gewesen sein müsse! Die Anzahl der Geldstücke, die er gesehen hatte, war viel zu groß, als dass es wahr sein konnte. Aber er wollte sich Gewissheit verschaffen. Schnell zog er sich an, verzehrte eiligst sein Frühstück und ging los, um Huck zu suchen.

Huck saß auf dem Rand eines Flachboots, ließ seine Beine ins Wasser baumeln und sah ziemlich trübsinnig drein. Tom beschloss, vorerst nichts zu sagen, sondern zu warten, bis Huck selber von der Sache anfing. Wenn er es nicht täte, wäre es ja bewiesen, dass das ganze Abenteuer doch nur ein Traum gewesen war.

„Tag, Huck!"

„Tag, Tom!"

Schweigen.

„Tom, wenn wir doch nur die verfluchte Hacke bei dem verrotteten Baum gelassen hätten, dann wären wir jetzt reich. Mensch, ist es nicht furchtbar?"

„Also ist es kein Traum, wirklich kein Traum! Oh, ich wünschte manchmal, es wäre einer, Huck!"

„Was ist kein Traum?"

„Die Sache von gestern. Halb hatte ich schon gedacht, es wäre einer."

„Traum! Das wär'n schöner Traum gewesen, wenn die Treppe nicht kaputtgegangen wäre! Aber hör mal: was hat's eigentlich mit dieser Nummer zwei auf sich? Ich hab schon darüber nachgedacht. Kann's einfach nicht rauskriegen. Was meinst du, was es ist?"

„Weiß nicht. Zu unklar. Du, Huck - vielleicht ist's die Nummer von 'nem Haus!"

„Prächtig! - Ach nee, Tom, das kann's nicht sein. Wenigstens nicht in unserm kleinen Kaff, wo's doch keine Nummern gibt."

„Hm, das stimmt. Lass mich überlegen. Ja - es ist die Nummer von 'nem Raum in 'ner Schenke, weißt du!"

„Keine üble Idee! 's gibt ja nur zwei Schenken hier. Das können wir schnell rausfinden."

„Bleib hier, Huck, bis ich zurückkomme!"

Schon war Tom fortgelaufen. Er legte keinen Wert darauf, sich vor der Öffentlichkeit in Hucks Gesellschaft zu zeigen. Er blieb eine halbe Stunde weg.

Was er erfuhr, war, dass in der besten Schenke Zimmer Nummer zwei schon lange von einem jungen Rechtsanwalt bewohnt wurde. In der anderen, schäbigeren Schenke war Nummer zwei ein Geheimnis. Der junge Sohn des Wirts erklärte, dass der Raum immer verschlossen sei und er noch niemals jemand habe herauskommen oder hineingehen sehen, außer bei Nacht; er stelle sich einfach vor, dass es in diesem Zimmer „spuke". Vorige Nacht habe er ein Licht in dem Zimmer gesehen.

„Das hab ich herausgefunden, Huck. Ich glaub, das ist die Nummer zwei, hinter der wir her sind."

„Glaub's auch, Tom. Was machen wir jetzt?"

„Lass mich nachdenken."

Tom dachte lange nach. Dann sagte er:

„Ich weiß was. Die hintere Tür von Nummer zwei führt auf die kleine Gasse zwischen der Schenke und dem alten, aus Backsteinen erbauten Laden. Pass auf, du beschaffst dir alle Türschlüssel, die du kriegen kannst, und ich nehme die von Tante Polly. In der ersten dunklen Nacht wollen wir hingehen und sie versuchen. Klar?"

Schon in derselben Nacht standen Tom und Huck auf dem Sprung, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Bis nach neun Uhr lungerten sie in der Nähe der Schenke herum; der eine beobachtete die Gasse und der andere die Schenkentür. Niemand betrat jedoch die Gasse oder verließ sie; niemand, der dem Spanier ähnlich sah, betrat oder verließ die Schenke. Es schien eine klare, helle Nacht zu werden, und darum ging Tom nach Hause. Vorher vereinbarten sie für den Fall, dass die Nacht doch noch stockfinster würde, Huck solle kommen und miauen, damit sie dann ihre Schlüssel probieren könnten. Aber die Nacht blieb klar, und gegen zwölf legte sich auch Huck auf sein Lager in einem leeren Zuckerfass.

Am Dienstag hatten die Jungen das gleiche Pech, und ebenfalls am Mittwoch. Aber die Nacht des Donnerstags schien besser zu werden. Tom schlüpfte aus dem Hause. Er war ausgerüstet mit der alten Blechlaterne seiner Tante und einem großen Handtuch, mit dem er die Laterne abblenden wollte. Er versteckte die Laterne in Hucks Zuckerfass, und die Wache begann. Eine Stunde vor Mitternacht wurde die Schenke geschlossen, und die Lichter gingen aus. Kein Spanier hatte sich sehen lassen. Niemand war durch die Gasse gekommen. Alles war günstig; es herrschte dunkelste Finsternis, und die Stille wurde nur ab und zu vom entfernten Rollen eines Donners unterbrochen.

Tom lief, seine Laterne zu holen, zündete sie im Zuckerfass an und wickelte sorgsam das Handtuch darum. Dann schlichen die beiden Abenteurer durch die Dunkelheit der Schenke zu. Huck stand Wache, und Tom tastete sich seinen Weg durch die Gasse. Dann folgte für Huck eine lange, spannungsvolle Wartezeit, die sich wie ein Albdruck auf sein Gemüt legte. Stunden schienen ihm vergangen zu sein, seit Tom verschwunden war. Dann jedoch blitzte ein Licht auf - Tom kam auf ihn zugerannt.

„Lauf!", keuchte er. „Lauf um dein Leben!"

Er hätte es nicht zu wiederholen brauchen, einmal war genug; denn schon rannte Huck mit einigen zwanzig Meilen Stundengeschwindigkeit los. Erst als sie das einsame Schlachthaus am anderen Ende der Stadt erreicht hatten, hielten die Jungen an. Sobald Tom wieder zu Atem gekommen war, sagte er:

„Huck, es war schrecklich! Ich versuchte zwei von den Schlüsseln so behutsam, wie ich nur konnte; aber sie machten solch einen gewaltigen Lärm, dass ich fast vor Schrecken umgefallen wäre. Sie ließen sich auch nicht drehen im Schloss. Ich drücke, ohne zu merken, was ich tue, vorsichtig auf die Klinke, und die Tür springt auf. Sie war gar nicht abgeschlossen! Ich schleiche hinein, wickele die Laterne aus dem Handtuch und - Mensch, ich krieg noch 'nen Schlag, wenn ich dran denke!"

„Was - was hast du gesehen, Tom?"

„Huck, ich hätt Indianer-Joe fast auf die Hand getreten!"

„Ich werd verrückt!"

„Ja! Er lag schlafend auf dem Fußboden, 'nen alten Lappen auf dem einen Auge und die Arme ausgebreitet. Ich glaub, er war besoffen. Ich hab mir dann nur das Handtuch geschnappt und bin losgerannt!"

„Ich wette, ich hätte niemals an das Handtuch gedacht!"

„Pah, meine Tante würde mir was anderes gesagt haben, wenn ich's verloren hätte."

„Sag, Tom, hast du die Kiste gesehen?"

„Nee, Huck, ich hab mich gar nicht umgesehen. Aber von jetzt an müssen wir die Schenke Tag und Nacht beobachten, dann werden wir ja wissen, wann er drin ist und wann nicht. Und wenn er dann weg ist, schnappen wir die Kiste schneller als der Blitz."

„Ist mir recht."

„Huck, ich geh jetzt nach Hause, in zwei Stunden wird's hell. Bis morgen also."

Die erste erfreuliche Neuigkeit, die Tom am Freitagmorgen hörte, war, dass Richter Thatchers Familie am vorigen Abend von ihrer Ferienreise zurückgekehrt war. Indianer-Joe und seine Schatzkiste traten für eine Weile hinter diesem Ereignis zurück, und die Aufmerksamkeit des Jungen galt Becky. Schließlich gelang es Becky auch, das lang versprochene und immer wieder aufgeschobene Picknick von ihrer Mutter zu erbetteln. Tom freute sich.

Am nächsten Morgen versammelte sich eine kichernde und ausgelassene Gesellschaft bei Richter Thatcher. Alles war zum Aufbruch bereit und bald wanderte die übermütige Schar, mit Proviantkörben beladen, die Hauptstraße entlang. Die alte Dampffähre war für diesen großen Tag gemietet worden. Beim Abschied sagte Frau Thatcher zu Becky:

„Ihr werdet gewiss erst spät zurückkommen. Vielleicht ist es besser, wenn du über Nacht bei einem Mädchen bleibst, das nahe bei der Anlegestelle der Fähre wohnt, mein Kind."

„Dann bleibe ich bei Susy Harper, Mama."

Etwa drei Meilen unterhalb der Stadt machte die Fähre vor einer bewaldeten Bucht fest, und die Fahrgäste gingen an Land. Bald hallten die Wälder und die felsigen Höhen nah und fern vom Lachen und Schreien der lustigen Schar wider. Plötzlich rief jemand:

„Wer geht mit zur Höhle?"

Jeder wollte mit. Kerzen wurden hervorgeholt und sofort machten sich alle auf den Weg. Der Eingang der Höhle lag auf einem Hügel. Die massive Eichentür stand offen. Zuerst betrat man eine kleine Kammer, in der es so eisig war wie in einem Eiskeller. Allmählich bewegte sich der Zug den steilen Hauptweg der Höhle hinunter, der nicht mehr als acht oder zehn Fuß breit war. Niemand kannte die Höhle genau, denn das war unmöglich. Es wurde gesagt, dass man tagelang wandern könnte, ohne das Ende zu finden.

Bald begannen einige Gruppen und Paare, in Seitenwege zu schlüpfen und durch die schaurigen Gänge zu huschen, sie stießen dann überrascht an den Stellen, wo sich die Gänge vereinigten, wieder aufeinander.

Allmählich erschien jedoch ein Grüppchen nach dem anderen wieder am Eingang der Höhle, keuchend, vergnügt, von Kopf bis Fuß mit Kerzentalg beschmiert, aber hell begeistert von diesem wunderschönen Tag.

Huck stand schon wieder Wache, als die Lichter des Fährboots an der Anlegestelle vorbeiglitzerten. Es schien eine dunkle Nacht zu werden, denn der Himmel war bewölkt. Um elf Uhr wurden die Lichter der Schenke gelöscht, und jetzt herrschte völlige Dunkelheit. Huck wartete eine lange Zeit, aber nichts geschah. Plötzlich schlug ein Geräusch an sein Ohr. Sofort war er hellwach. Die Hintertür der Schenke wurde leise geschlossen und im nächsten Augenblick huschten zwei Männer an ihm vorüber, von denen der eine etwas unter dem Arm trug. Es musste die Schatzkiste sein. Sie wollten also das Geld fortbringen.

Vorsichtig und behutsam glitt Huck hinter ihnen her, katzengleich, mit bloßen Füßen. Sie gingen die Flussstraße hinauf und bogen dann links in eine Querstraße ein. Sie gingen so lange geradeaus, bis sie an den Pfad kamen, der zum Cardiff-Hügel führte. Am Haus des alten Walisers gingen sie vorbei, ließen den Steinbruch rechts liegen und kletterten bis auf den Rücken des Hügels. Plötzlich waren sie in den hohen Büschen am Rande eines Fußweges verschwunden.

Huck hörte das Schlagen seines Herzens. Hatte er sie aus den Augen verloren? Gerade wollte er seine Schritte beschleunigen, als sich ein Mann keine zwei Schritt von ihm entfernt räusperte. Huck wusste, wo er war: kaum fünf Schritt vom Zaun entfernt, der das Grundstück der Witwe Douglas umgab.

Jetzt hörte er eine sehr gedämpfte Stimme - die von Indianer-Joe:

„Verdammt, sie scheint ja noch Besuch zu haben, und es ist doch schon so spät."

Hucks Herz stand für einen Augenblick still. Der Witwe Douglas also galt die Rache des Halbbluts!

„Ja", erwiderte der andere jetzt, „sie scheint tatsächlich Besuch zu haben. Lass uns die ganze Sache doch aufgeben, Joe."

„Aufgeben? Nee, dann habe ich nie wieder eine Gelegenheit. Ihr Mann ist ja längst tot, aber Rache kann ich auch an ihr nehmen. Weißt du, er hat mich einmal auspeitschen lassen, und die ganze Stadt durfte zuschauen. Auspeitschen - verstehst du? Er ist ja leider tot, aber ihr werde ich's dafür geben."

„Oh, töte sie aber nicht. Tu's nicht!"

„Töten? Nein, eine Frau tötet man doch nicht - der verschnippelt man ein bisschen das Gesicht - der schlitzt man die Nasenflügel oder die Ohren auf!"

„Mein Gott, das ist... "

„Deine Ansicht darfst du für dich behalten. Ich binde sie am Bett fest, und wenn sie verblutet, ist's nicht meine Schuld. Du hilfst mir dabei, Freundchen - um meinetwillen. Allein könnt ich's vielleicht nicht schaffen. Wenn du aber versuchst zu fliehen, dann mache ich dich kalt. Und wenn ich dich kaltmachen muss, dann bringe ich sie auch gleich um. So, und jetzt wollen wir in aller Ruhe abwarten, bis ihr Besuch geht - wir haben ja Zeit."

Das Schweigen, das jetzt folgte, war noch schrecklicher für Huck als das Mordgespräch. Er hielt den Atem an und trat behutsam einen Schritt zurück.

Mit unendlicher Sorgfalt tat er den zweiten Schritt, dann den dritten und vierten und - ein Zweig knackte unter seinem Fuß! Sein Atem stockte und er lauschte. Nichts. Er drehte sich um und rannte davon, weiter, immer weiter, bis er das Haus des Walisers erreichte. Er schlug an die Tür und bald darauf steckten der alte Mann und seine beiden Söhne die Köpfe aus dem Fenster.

„Schnell, lasst mich rein, ich werd alles erzählen. Ich bin Huckleberry Finn."

„Huckleberry Finn, so, so. Ist ja eigentlich kein Name, dem sich viele Türen öffnen, fürchte ich. Aber komm herein."

Drei Minuten später zogen der alte Mama und seine Söhne gut bewaffnet den Hügel hinauf. Auf Zehenspitzen schlichen sie den Pfad entlang. Huck begleitete sie nicht weiter. Er versteckte sich hinter einem großen Felsblock und lauschte. Eine tiefe, angstvolle Stille folgte, dann urplötzlich Gewehrschüsse und ein Schrei.

Huck wartete nicht mehr, bis er Näheres zu hören bekam. Er sprang auf und jagte den Hügel hinunter, so schnell ihn seine Füße trugen.

Doch am nächsten Morgen kletterte Huck wieder den Hügel hinauf zum Hause des Walisers.

„Nein, sie sind nicht tot, Huck", erzählte der alte Mann, „und das tut uns sehr leid. Ich glaube, unsere Kugeln haben sie nicht einmal gestreift. Sie feuerten auch, als sie fortliefen, aber wir kamen ohne Schaden davon."

Huck war beunruhigt - wo war die Schatzkiste jetzt?

In der Höhle verirrt

Heute kam jeder rechtzeitig zur Kirche. Das aufrüttelnde Ereignis der letzten Nacht wurde gründlich besprochen. Bis jetzt hatte man noch keine Spur von den beiden Halunken entdeckt. Nach dem Gottesdienst ging Frau Thatcher auf Frau Harper zu und sagte:

„Will meine Becky denn den ganzen Tag schlafen? Aber sie muss ja auch todmüde sein!"

„Ihre Becky?"

„Ja", erwiderte Frau Thatcher erschrocken, „ist sie denn die Nacht nicht bei Ihnen geblieben?"

„Aber nein!"

Frau Thatcher wurde blass und sank auf einen Kirchenstuhl. In diesem Augenblick kam Tante Polly vorbei, die sich lebhaft mit einer Freundin unterhielt. Sie sagte zu Frau Thatcher: „Guten Morgen. Ich glaube, Tom hat Angst, zur Kirche zu kommen, denn ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Er ist nämlich in der letzten Nacht nicht nach Hause gekommen, und ich glaube, er hat in Ihrem Hause übernachtet."

Frau Thatcher schüttelte schwach den Kopf und wurde noch blasser.

„Er ist auch nicht bei uns geblieben", sagte Frau Harper beunruhigt. Jetzt trat deutlich ein sorgenvoller Zug in Tante Pollys Gesicht.

„Joe, hast du meinen Tom heute morgen gesehen?"

„Nein."

„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?"

Joe Harper versuchte, sich zu erinnern, konnte es aber nicht mehr genau sagen. Die Leute waren jetzt stehen geblieben, ein Geflüster ging von Mund zu Mund, und große Besorgnis stand in allen Gesichtern geschrieben. Schließlich platzte ein junger Mann unüberlegt mit der Befürchtung heraus, die Kinder könnten vielleicht noch in der Höhle sein! Frau Thatcher fiel in Ohnmacht, und Tante Polly weinte und rang die Hände.

Die Neuigkeit von dieser schrecklichen Vermutung flog von Nachbar zu Nachbar, von Gruppe zu Gruppe und von Straße zu Straße. Innerhalb von fünf Minuten läuteten die Glocken Sturm, und die ganze Stadt war in Aufruhr. Pferde wurden gesattelt, Boote bemannt, die Fähre gemietet, und bevor die Schreckensnachricht eine halbe Stunde alt war, strömten zweihundert Männer die Straße und den Fluss entlang in der Richtung nach der Höhle. Die ganze folgende Nacht wartete die Stadt auf Nachricht, aber als der Morgen schließlich dämmerte, war alles, was man hörte: „Schickt mehr Kerzen und Verpflegung!"

Gegen Vormittag kamen Gruppen von erschöpften Männern zum Städtchen zurück. Andere, die mehr Ausdauer besaßen, suchten jedoch weiter. Drei schreckliche Tage und Nächte schlichen dahin, und das Städtchen versank in Hoffnungslosigkeit.

Nun zurück zum Picknick! Tom und Becky gingen zusammen mit den anderen Kindern durch die düsteren Gänge und besichtigten die allgemein bekannten Sehenswürdigkeiten der Höhle, die recht schwülstige Namen hatten wie „Das Gesellschaftszimmer", „Die Kathedrale" oder „Aladins Palast". Bald spielten sie mit den anderen Verstecken, bis sie müde wurden. Dann wanderten sie den gewundenen Gang entlang, hielten ihre Kerzen hoch und entzifferten das verwirrende Durcheinander von Namen, Daten, Anschriften und Sprüchen, mit denen die felsigen Wände bemalt waren.

Während sie weiter und weiter schlenderten und sich dabei unterhielten, bemerkten sie kaum, dass sie sich inzwischen in einem Teil der Höhle befanden, dessen Wände nicht bemalt waren. Mit Kerzenruß schrieben sie ihre eigenen Namen an die Wand und schlenderten weiter. Nach einer Weile wurden sie müde und setzten sich, um für kurze Zeit zu rasten. Jetzt empfanden sie zum ersten Mal die tiefe Stille um sich her, die sich plötzlich bedrückend auf ihre Gemüter legte.

Becky sagte: „Nanu, ich habe gar nicht darauf geachtet, aber es scheint doch schon eine lange Zeit her zu sein, seit ich die anderen zuletzt gehört habe."

„Wir sind ja auch tief unterhalb von ihnen, Becky, und außerdem wer weiß wie weit nördlich, südlich oder östlich. Wir können sie gar nicht hören."

Becky wurde ängstlich. „Lass uns zurückgehen, Tom."

„Ja, es ist wohl besser. Kann sein, dass es besser ist."

„Kannst du den Weg finden, Tom? Für mich ist das alles ein heilloses Durcheinander - ich würde mich überhaupt nicht mehr zurechtfinden."

„Ich glaube schon."

Sie gingen durch einen langen Gang zurück und schauten in jede kleine Abzweigung, ob sie ihnen vielleicht bekannt vorkäme. Aber alles war ihnen fremd. Toms Zuversicht schwand mehr und mehr, und schließlich begann er blindlings, Seitenwege einzuschlagen, in der Hoffnung, den gesuchten Gang zu finden. Furchtsam klammerte sich Becky an ihn und versuchte vergebens, ihre Tränen zurückzuhalten. Schließlich rief sie:

„Tom, Tom, wir sind verloren, wir sind verloren! Wir kommen nie mehr hier heraus! Oh, warum haben wir uns nur von den anderen getrennt!"

Sie sank zu Boden und begann, so herzzerreißend zu weinen, dass Tom befürchtete, sie würde sterben oder ihren Verstand verlieren. Er setzte sich zu ihr und schlang die Arme um sie; sie klammerte sich an ihn und weinte und klagte, aber das Echo verwandelte all ihr Jammern in grelles Gelächter.

Mit einiger Mühe konnte Tom sie wieder beruhigen und sie gingen weiter - planlos. Nach einer langen Pause sagte Becky:

„Tom, ich bin so hungrig."

Tom nahm etwas aus seiner Tasche. „Weißt du, was das ist?", fragte er.

Becky lächelte fast. „Es ist unser Hochzeitskuchen, Tom. Ich hab ihn beim Picknick aufgehoben - zur Erinnerung, weißt du..."

„Ja, ich wollte, er wäre so groß wie ein Fass - es ist alles, was wir haben."

Tom teilte den Kuchen, und Becky aß mit großem Appetit. Tom hingegen knabberte nur an seinem Anteil.

„Tom?"

„Ja?"

„Man wird uns vermissen und nach uns suchen!"

„Gewiss, das werden sie!"

„Wann werden sie uns wohl vermissen?"

„Ich weiß nicht, aber deine Mutter wird sicher nach dir fragen, wenn du nicht mit dem Boot heimkommst."

Becky erschrak und Tom wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte diese Nacht ja gar nicht nach Hause kommen, sondern bei Harpers bleiben wollen! Die Kinder hefteten ihre Augen auf den letzten Kerzenstummel, der ihnen geblieben war, und beobachteten, wie er langsam und mitleidlos schmolz; sie sahen die schwache Flamme noch einmal aufzucken - dann herrschte tiefe Finsternis!

Tom hatte eine Idee. In der Nähe gab es einige Seitengänge, und da war es gewiss besser für ihn, diese auszukundschaften, als die Zeit müßig zuzubringen. Er zog eine Drachenschnur aus seiner Tasche, befestigte sie an einem Vorsprung und machte sich mit Becky auf den Weg. Tom führte und wickelte, während er sich vorwärts tastete, die Leine ab. Nach ungefähr zwanzig Schritten endete der Gang vor einem Abgrund. Tom kniete nieder und tastete mit den Händen nach unten und nach allen Seiten. In diesem Augenblick erschien hinter einem Felsvorsprung, keine zwanzig Meter weit weg, eine menschliche Hand, die eine Kerze hielt!

Tom stieß einen triumphierenden Schrei aus - und sofort kam der Mann zum Vorschein, dem diese Hand gehörte. Es war Indianer-Joe! Tom war wie gelähmt, er konnte sich nicht mehr bewegen. Er war unendlich dankbar, dass der „Spanier" im nächsten Augenblick seine Beine in die Hand nahm und verschwand.

Tom war so erschrocken, dass er mit Becky sofort einen anderen Weg einschlug. Er sagte ihr, er habe nur so aufs Geratewohl gerufen, ohne besonderen Grund. Als sie das nächste Mal rasteten, schliefen sie vor Erschöpfung ein, doch nicht lange danach erwachten sie, gepeinigt von rasendem Hunger. Tom glaubte, es müsse Mittwoch oder Donnerstag, vielleicht auch schon Freitag oder gar Sonnabend sein, und er fürchtete, man habe die Suche nach ihnen gewiss längst aufgegeben. Aber noch einmal wollte er einen Gang erkunden. Es war ihm jetzt gleich, ob er wiederum auf Indianer-Joe traf oder nicht. Nur war Becky jetzt sehr schwach. Sie wollte nicht mitgehen, sagte sie, sondern warten und sterben - es würde gewiss nicht mehr lange dauern. Aber sie beschwor ihn, ab und zu zurückzukommen und mit ihr zu sprechen; und er musste versprechen, bei ihr zu bleiben und ihre Hand zu halten, wenn es mit ihr zu Ende gehe.

Tom küsste sie und kroch dann auf allen vieren den Gang entlang, krank vor Hunger und Elend.

Mitten in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch tönten die Glocken des Städtchens laut, und im nächsten Augenblick waren die Straßen voll von aufgeregten, halb angezogenen Menschen, die riefen: „Kommt heraus! Kommt heraus! Man hat sie gefunden!"

Alle Fenster waren hell; niemand ging wieder zu Bett und es war die glanzvollste Nacht, die das kleine Städtchen je gesehen hatte. Die Menge strömte zum Hause des Richters Thatcher, umarmte die Geretteten, küsste sie und drückte Frau Thatchers Hand. Man versuchte zu sprechen und brachte keinen Ton heraus -und schließlich ließ man sich wieder hinausdrängen -mit tränenüberströmtem Gesicht.

Tom lag auf einem Sofa - eine begierig lauschende Zuhörerschaft um sich herum, und erzählte die Geschichte des wunder- baren Abenteuers, das er mit vielen schmückenden Zusätzen versah. Am Schluss beschrieb er, wie er Becky allein zurückgelassen hatte und so lange zwei Gängen gefolgt war, bis seine Drachenleine fast zu Ende war. Dann war er einem dritten Gang nachgegangen und hatte gerade umkehren wollen, als er ein kleines, weit entferntes Fleckchen bemerkte, das wie Tageslicht aussah. Da hatte er seine Drachenschnur weggelegt und war auf das Fleckchen zugerutscht, und schließlich hatte er seinen Kopf und seine Schultern durch ein kleines Loch geschoben und den großen Mississippi vorbeirauschen sehen! Da war er gegangen, um Becky zu holen, und als sie draußen gewesen waren, hatten sie beide vor Freude geweint.

Die drei Tage des Hungers und der Strapazen in der Höhle ließen sich nicht leicht abschütteln - das fanden Tom und Becky bald heraus. Tom durfte am Donnerstag aufstehen, aber Becky verließ ihr Zimmer erst am Sonntag, und auch dann sah sie noch aus, als hätte sie gerade eine schwere Krankheit überstanden.

Der Schatz wird geborgen

Ungefähr vierzehn Tage nach der Rettung ging Tom, um Becky zu besuchen. Der Richter sagte zu ihm: „Tom, jetzt besteht keine Gefahr mehr, dass sich jemand in der Höhle verirrt."

„Wieso?"

„Ich habe vor zwei Wochen die schwere Tür mit Eisen beschlagen lassen und dreifach verschlossen -und die Schlüssel sind bei mir in Verwahrung."

Tom wurde leichenblass.

„Was ist dir, Junge? Sprich!"

„Aber - aber Indianer-Joe ist doch in der Höhle!"

Innerhalb von wenigen Minuten verbreitete sich diese Neuigkeit in der ganzen Stadt, und sofort machte sich eine große Anzahl Männer auf den Weg zur Höhle.

Als die Tür aufgeschlossen wurde, bot sich im trüben Licht des Höhleneingangs ein grausiges Bild. IndianerJoe lag ausgestreckt auf dem Boden, tot, das Gesicht ganz nahe an dem Spalt der Tür, so, als wären seine Augen bis zum letzten Augenblick sehnsüchtig auf das Licht und die weite Welt draußen gerichtet gewesen. Zu anderen Zeiten konnte man gewöhnlich in den Rissen der Wände ein halbes Dutzend Kerzenstummel finden, die Touristen dort gelassen hatten - jetzt sah man nicht einen einzigen. Der Gefangene musste sie zusammengesucht und gegessen haben. Er hatte es sogar fertiggebracht, einige Fledermäuse zu fangen und zu essen, denn er hatte nur die Klauen zurückgelassen. Indianer-Joe war regelrecht verhungert! Man begrub ihn nahe dem Eingang der Höhle.

Am Morgen nach der Beerdigung nahm Tom Huck beiseite, um etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen.

„Huck, die Schatzkiste ist niemals in der Schenke gewesen - sie ist in der Höhle!"

Hucks Augen leuchteten auf.

„Sag das noch mal, Tom!"

„Das Geld ist in der Höhle."

„Tom, sei jetzt ehrlich - machst du Spaß oder ist es dein Ernst?"

„Wirklich und wahrhaftig, Huck! Gehst du mit, die Kiste hinauf zuschaffen?"

„Klar! Hoffentlich verirren wir uns aber nicht!"

„Keine Sorge! Lass uns sofort aufbrechen! Wir müssen nur etwas Brot und Fleisch und unsere Pfeifen mitnehmen, außerdem zwei oder drei Drachenschnüre und 'n paar von diesen neumodischen Dingern, die man Streichhölzer nennt."

Kurz nach Mittag „liehen" sich die beiden Jungen ein kleines Boot und machten sich auf den Weg. Als sie einige Meilen unterhalb des Höhleneingangs waren, sagte Tom:

„Siehst du, dieses Steilufer sieht doch überall gleich aus, keine Häuser, keine Holzplätze, immer nur Büsche. Aber siehst du den weißen Flecken dort oben, wo der Erdrutsch gewesen ist? Das ist einer meiner Anhaltspunkte. Hier müssen wir an Land gehen."

Sie gingen an Land.

„Nun, Huck, von hier aus, wo wir jetzt stehen, könnte man mit einer Angelrute an das Loch heranreichen, aus dem ich rausgekrochen bin. Sieh mal, ob du es finden kannst."

Huck suchte überall herum, fand aber nichts. Da marschierte Tom stolz in ein dickes Gestrüpp hinein und sagte:

„Hier! Guck dir das an, Huck. Dies ist das pfundigste Loch, das es gibt. Halt bloß den Mund darüber! Ich wollte schon immer Räuber werden. Jetzt haben wir endlich den richtigen Schlupfwinkel, und den werden wir geheim halten. Wir lassen nur Ben Rogers und Joe Harper rein, denn selbstverständlich gehört 'ne Bande dazu, sonst war die ganze Sache stillos. >Tom Sawyers Bande

„Hm, das tut's wirklich, Tom."

Jetzt krochen die Jungen in das Loch, Tom vorneweg.

Sie arbeiteten sich vor bis zum Ende des schmalen Ganges, befestigten dort die Drachenschnur und gingen weiter. Nach ein paar Schritten erreichten sie die Stelle, wo der Dochtrest von Toms letzter Kerze auf einem Lehmklumpen lag. Tom beschrieb Huck, wie er und Becky die Flamme beobachtet hatten, als sie noch einmal aufgezuckt und dann verglommen war.

Die Jungen sprachen immer leiser, bis sie nur noch flüsterten; die Stille und die Dunkelheit bedrückten sie. Sie gingen weiter und folgten jetzt dem anderen Gang, bis sie die Stelle erreichten, wo Tom den Abgrund entdeckt hatte. Im Kerzenlicht konnten sie nun sehen, dass es in Wirklichkeit gar kein Abgrund war, sondern nur ein steiler Lehmabhang. Tom flüsterte:

„Jetzt werd ich dir mal was zeigen, Huck!" Er hielt seine Kerze hoch. „Guck mal so weit um die Ecke, wie du kannst. Siehst du was? Da, auf dem großen Stein drüben - aus Kerzenruß!"

„Tom, das ist ein Kreuz!"

„Nun, wie steht's jetzt mit deiner Nummer zwei? Unter dem Kreuz, he? Gerade da ist es, wo ich Indianer-Joe an seiner Kerze herumfummeln sah."

Huck starrte eine Weile auf das geheimnisvolle Zeichen und sagte dann mit zitternder Stimme: „Tom, lass uns hier abhauen!"

„Und den Schatz im Stich lassen?"

„Ja, im Stich lassen! Der Geist von Indianer-Joe ist sicher hie in der Nähe."

Plötzlich hatte Tom eine Idee. „Sieh mal, Huck, wir machen uns ja lächerlich. Der Geist von Indianer-Joe kommt doch nicht dahin, wo'n Kreuz ist."

Das war ins Schwarze getroffen, und es tat seine Wirkung. „Nun gut", sagte Huck, „klettern wir also hier runter und suchen die Kiste."

Die Jungen untersuchten drei der großen Felsen vergeblich. Schließlich setzten sie sich entmutigt hin. Nach einer Weile sagte Tom:

„Guck mal hier, Huck, da sind Fußspuren und Kerzenwachs auf dem Lehm nur an der einen Seite dieses Felsens, aber nicht an der anderen Seite. Na, weshalb? Ich wette, das Geld ist unter dem Stein! Ich grabe mal im Lehm."

Im Nu hatte Tom sein Messer gezogen. Er war noch keine vier Zoll tief im Lehm, da traf er auf Holz. Nun begann auch Huck, zu graben und zu kratzen. Bald waren ein paar Bretter freigelegt und beiseite geschafft. Ein Spalt wurde sichtbar.

Tom bückte sich und kroch unter den Fels. Der schmale Gang senkte sich allmählich, und Tom folgte seinen Windungen, zuerst nach rechts, dann nach links. Huck kroch gleich hinter ihm her. Nach einer Weile kam eine sehr scharfe Kurve, und dann rief Tom: „Meine Güte, Huck, guck mal hier!"

Kein Zweifel, das war die Schatzkiste! Sie lag in einer versteckten kleinen Grotte neben einem leeren Pulverfass, ein paar Pistolen, zwei bis drei Paar Mokassins, einem Ledergürtel und einigem anderen alten Gerumpel.

„Endlich haben wir's!" rief Huck und wühlte mit seinen Händen in den Münzen. „Mensch, sind wir reich, Tom!"

Die Kiste wog ungefähr fünfzig Pfund. Tom konnte sie zwar mit einiger Mühe anheben, aber nicht ohne weiteres tragen.

„Das habe ich mir gedacht", sagte er. „Ich schätze, es ist gut, dass ich kleine Beutel mitgenommen habe."

Das Geld war schnell in den Säckchen verstaut und die Jungen trugen sie durch das Loch ins Freie. Sie sahen, dass die Luft rein war, setzten sich in ihr Boot und legten ab. Gleich nach Einbruch der Dunkelheit landeten sie.

„Komm, Huck", sagte Tom, „wir verstecken das Geld bei der Witwe auf dem Boden des Holzschuppens. Ich komme dann am Morgen wieder dahin, und wir zählen und teilen es, und dann suchen wir uns eine Stelle im Wald, wo wir es sicher verstecken können. Bleib du nur ruhig hier und pass auf das Zeug auf, bis ich Benny Taylors kleinen Karren besorgt habe. Ich bin in einer Minute zurück."

Er verschwand und erschien kurz darauf wieder mit dem Karren. Er legte die zwei kleinen Säcke hinein, warf ein paar Lumpen darüber und sie fuhren ab.

Beim Haus des Walisers machten sie Rast. Als sie gerade weiterziehen wollten, kam der Waliser heraus und fragte:

„Hallo, wer ist denn das?"

„Huck Finn und Tom Sawyer."

„Gut, kommt mit mir, Jungens. Ihr habt schon alle warten lassen. Los, beeilt euch, geht voraus, ich ziehe den Karren für euch. - Wie, er ist nicht so leicht, wie man annehmen sollte! Habt ihr Ziegelsteine darin oder Altmetall?"

„Altmetall", sagte Tom.

Die Jungen fragten den Waliser, warum er es so eilig habe, aber der antwortete kurz: „Darum kümmert euch nur nicht!

Ihr werdet's schon sehen, wenn ihr zur Witwe Douglas kommt." Huck, der seit langem daran gewöhnt war, irgendwelcher Dinge beschuldigt zu werden, die er nicht getan hatte, sagte ahnungsvoll:

„Herr Jones, wir haben nichts getan!"

Der Waliser lachte. „Ich weiß nicht, Huck, ich weiß nicht, wie es damit steht. Bist du nicht mit der Witwe befreundet?"

„Ja, jedenfalls ist sie immer freundlich zu mir gewesen."

„Dann ist's ja gut."

Kurz darauf fanden sich Huck und Tom in Frau Douglas' Wohnzimmer wieder. Der Raum war großartig beleuchtet, und alle Bewohner des Städtchens, die irgendwelches Ansehen genossen, waren darin versammelt. Die Thatchers waren da, die Harpers, die Rogers. Tante Polly, Sid, Mary, der Pastor, der Mann von der Zeitung und viele andere, alle gut gekleidet. Die Witwe empfing die beiden Jungen so herzlich, wie man zwei solche mit Lehm und Kerzenwachs beschmierte Gestalten nur eben empfangen kann.

„Kommt mit mir, Jungens", sagte die Witwe. Sie nahm sie mit in ein Schlafzimmer und sagte: „Nun wascht euch und zieht euch an. Hier sind zwei neue Anzüge, Hemden, Socken und anderes. Wir warten auf euch."

Huck sagte: „Tom, ich bin nicht an diese Art Leute gewöhnt. Ich halt's nicht aus. Ich gehe nicht mit nach unten, Tom."

„Ach, Quatsch! Mir macht das gar nichts aus. Ich werd schon auf dich aufpassen."

Sid erschien.

„Hör mal, Sid, wozu wird eigentlich dieser ganze Kram veranstaltet?"

„Das ist doch nur eine von den Gesellschaften der Witwe, die sie immer gibt. Diesmal ist's für den Waliser und seine Söhne, weil sie ihr doch damals in der Nacht geholfen haben. Aber ich kann dir noch was anderes sagen, wenn du's hören willst."

„Was ist es, Sid?"

„Nun, Herr Jones hat eine Überraschung für die Leute heute Abend. Ich hab gehorcht, als er Tante Polly heimlich davon erzählt hat. Aber es ist kein Geheimnis mehr - jeder weiß schon davon."

„Wovon?"

„Dass Huck den Räubern bis zum Haus der Witwe nachgeschlichen ist. Herr Jones wollte das alles ja ganz großartig spannend machen, aber ich wette, es wird ziemlich kümmerlich ausfallen."

Einige Minuten später saßen alle Gäste der Witwe an der Abendtafel. Zur passenden Zeit begann Herr Jones mit seiner kleinen Rede, in der er der Witwe für die Ehre dankte, die sie seinen Söhnen und ihm bezeigte. Es sei aber noch eine andere Person mit im Spiel, deren Bescheidenheit... und so weiter und so fort.

Zum Schluss lüftete er sein Geheimnis über Hucks Anteil an dem Abenteuer. Er tat das in gewählter, mitreißender Art, und die Witwe Douglas verstand es sehr gut, größte Überraschung vorzutäuschen. Sie sagte, sie wolle Huck ein Heim unter ihrem Dach geben und ihn erziehen lassen.

Jetzt war Toms Augenblick gekommen. Er sagte: „Huck braucht's nicht! Huck ist reich!"

Das Schweigen, das jetzt folgte, war ein wenig unangenehm. Tom unterbrach die Stille, indem er sagte:

„Huck hat wirklich Geld. Vielleicht glaubt ihr's nicht, aber er hat 'ne ganze Masse. Oh, ihr braucht nicht zu lachen - ich kann's euch zeigen. Wartet nur 'ne Minute."

Nach einer kleinen Weile kam Tom wieder herein, keuchend unter der Last seiner Säcke. Er schüttete die gelben Münzen auf den Tisch und sagte:

„Da - was habe ich euch gesagt? Die eine Hälfte davon gehört Huck und die andere mir."

Alle hielten den Atem an. Sie starrten auf den Tisch, und für einen Augenblick sprach keiner ein Wort. Und dann berichtete Tom. Als er geendet hatte, sagte Herr Jones:

„Ich dachte, ich hätte eine große Überraschung für Sie alle gehabt, aber sie ist nun nichts mehr wert - das gebe ich gern zu."

Das Geld wurde gezählt; es waren etwas über zwölftausend Dollar. Das war mehr, als einer der Anwesenden jemals auf einem Haufen gesehen hatte.

Hucks Reichtum und die Tatsache, dass er jetzt in der Obhut der Witwe war, führten ihn in die Gesellschaft ein - nein, diese Umstände zogen ihn, zwangen ihn sogar hinein - und seine „Leiden" gingen fast über das Maß des Erträglichen hinaus. Die Dienerschaft der Witwe hielt ihn sauber und ordentlich, kämmte und bürstete ihn und steckte ihn abends in ein scheußlich sauberes Bett. Er musste mit Messer und Gabel essen; er musste Serviette, Tasse und Teller gebrauchen; er musste in die Kirche gehen - kurz: das Haus der Witwe Douglas wurde für ihn zu einer Folterkammer.

Tapfer ertrug er dieses Elend drei lange Wochen, aber dann war er eines Tages verschwunden. Achtundvierzig Stunden lang ließ die Witwe nach ihm suchen, und die Bürger des Städtchens halfen ihr dabei. Schließlich fand Tom Sawyer den Flüchtling, als er am dritten Morgen klugerweise an den leeren Fässern vorüberbummelte, die hinter der alten Schlachterei lagen. Huck hatte schon gefrühstückt und lag nun behaglich ausgestreckt da und rauchte sein Pfeifchen. Er war ungepflegt und ungekämmt und trug dieselben alten Lumpen, die ihm in freien und glücklichen Tagen ein so malerisches Aussehen verliehen hatten. Tom erzählte ihm, welche Unruhe er verursacht hatte, und drängte ihn, nach Hause zu gehen. Hucks Züge verloren ihre ruhige Zufriedenheit und nahmen einen bekümmerten Ausdruck an. Er sagte:

„Reden wir nicht darüber, Tom! Ich hab's versucht, hat aber nicht hingehauen. Die Witwe ist wirklich gut zu mir und freundlich, ich kann das Leben so aber nicht aushalten. Ich soll mich waschen, kämmen und jeden Tag diese verdammten Kleider tragen, die mich einfach erdrücken. In die Kirche musste ich gehen und mich totschwitzen. Nicht mal Fliegen durfte ich da fangen. Den ganzen Sonntag muss ich Schuhe tragen. Und alles ist so schrecklich geregelt. Nee, das halt ich nicht aus."

„Aber Huck, jeder lebt doch in dieser Art!"

„Nee, Tom, das alles hätt ich gar nicht so lange mitgemacht, wenn's nicht wegen dem Geld gewesen war; nimm du nur meinen Anteil und gib mir ab und zu 'nen Groschen - nicht oft, nur manchmal, und du gehst zur Witwe und sagst ihr, wie leid's mir täte."

„Ach Huck, wenn du es etwas länger versuchst, wirst du dich bestimmt bald daran gewöhnen." „Gewöhnen! Vielleicht, wie ich mich an einen heißen Ofen gewöhne, wenn ich lange genug draufsitze."

„Huck, ich kann dich nicht in meine Bande aufnehmen, wenn du nicht angesehen bist, weißt du."

„Du kannst mich nicht aufnehmen, Tom? Aber du hast mich doch auch Pirat werden lassen!"

„Ja, das ist auch was anderes. Räuber sind viel vornehmer als Piraten - meistens wenigstens. In den meisten Ländern gehören sie zum höchsten Adel -Herzöge und so."

„Tom, du bist doch immer mein Freund gewesen - du wirst mich doch jetzt nicht ausstoßen, nicht wahr?"

„Huck, ich selbst möcht's ja auch gar nicht, aber was sollen die Leute bloß davon sagen? Sie würden sagen: >Pah, Tom Sawyers Bande! Da sind die ekelhaftesten Gesellen drin!< Und damit würden sie dich meinen, Huck. Das würde dir nicht passen, und mir passt's auch nicht."

Huck schwieg eine Weile und kämpfte mit sich. Schließlich sagte er:

„Gut, für einen Monat will ich zur Witwe zurückgehen und sehen, ob ich's aushaken kann, wenn du mich dann in deine Bande aufnimmst, Tom."

„Ist gemacht, Huck. Komm jetzt mit, alter Junge, und ich werde die Witwe bitten, dich nicht so streng zu halten."

„Wirklich, Tom, willst du das tun? Oh, das ist gut. Wann willst du denn die Bande gründen und ein Räuber werden?"

„Oh, sofort. Wir trommeln die Jungens zusammen und machen womöglich heute Nacht noch die Gründungskonferenz."

„Was für'n Ding?"

„Die Gründungskonferenz."

„Was ist das?"

„Dabei muss man schwören, dass man zusammenhält und niemals die Geheimnisse der Bande verrät, selbst wenn sie Hackfleisch aus einem machen. Und jeden, der einem der Bande etwas zuleide tut, muss man töten und die Familie dazu."

„Das ist toll, eine ganz tolle Sache, Tom!"

„Darauf kannst du dich verlassen. Und alle Schwüre müssen um Mitternacht geleistet werden, an der einsamsten, schauerlichsten Stelle, die es nur gibt - am besten ist ein Haus, in dem es spukt. Und man muss auf einen Sarg schwören und mit Blut unterschreiben."

„Mensch, das ist was nach meinem Geschmack. Das ist tausendmal so pfundig wie die Seeräuberei. Ich bleib bei der Witwe, bis ich draufgehe, Tom, und wenn ich wirklich mal 'n richtiger, waschechter Räuber bin und alle Welt von mir redet, dann wird sie bestimmt mächtig stolz darauf sein, mich an Land gezogen zu haben."

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