DIE ABENTEUER DES HUCKLEBERRY FINN

Wir gründen eine Bande

Du kennst mich nicht, wenn du nicht das Buch „Tom Sawyers Abenteuer" gelesen hast, aber das ist ja auch halb so wichtig. Ein Herr Mark Twain hat das Buch geschrieben und meistens hat er darin auch die Wahrheit erzählt. Natürlich hat er hin und wieder 'n bisschen dazugemacht, aber im Grunde ist doch alles wahr.

Ist ja auch egal. Außer Tante Polly, der Witwe und vielleicht auch Mary hab ich noch nie jemand gesehen, der nicht lügt. In dem Buch steht alles über Tante Polly - sie ist Toms Tante Polly - und Mary und die Witwe Douglas. Es ist beinah 'n wahres Buch mit nur 'nem bisschen dazugemacht - aber das habe ich ja schon gesagt.

Und dies war das Ende von dem Buch: Tom und ich fanden das Geld, das die Räuber in der Höhle versteckt hatten, und wir waren mit einem Schlage reich. Jeder von uns kriegte sechstausend Dollar in Gold. Das war ein großartiger Anblick, als das Geld aufgehäuft wurde. Notar Thatcher hat es dann genommen und ausgeliehen. Dafür gab's sogar Zinsen, pro Nase jeden Tag 'n Dollar, das ganze Jahr über - das ist so viel, dass man gar nicht weiß, was man damit anfangen soll.

Ja, und dann hat mich die Witwe Douglas als ihren Sohn angenommen und wollte mich erziehen! Aber es war kein schönes Leben in dem Haus, wenn man bedenkt, wie furchtbar pünktlich und ordentlich die Witwe in allem war; und als ich es schließlich nicht länger aushalten konnte, da bin ich ausgerissen. Ich hab meine alten Lumpen rausgekramt, sie angezogen und mich wieder in mein Zuckerfass gelegt - da war ich endlich wieder frei und zufrieden. Aber Tom Sawyer hat mich aufgespürt und gesagt, er würde 'ne Räuberbande gründen und ich könnte mitmachen, wenn ich zur Witwe zurückginge und ein anständiges Leben führte. Deshalb bin ich wieder hingegangen.

Die Witwe hat geheult, als ich wiederkam, und mich ein armes verlorenes Schaf genannt, und sie hat mir noch viele andere Namen gegeben, aber sie hat es nicht so böse gemeint. Dann hat sie mich wieder in die neuen Kleider gesteckt, und ich hab nur immerzu geschwitzt und geschwitzt und mich schrecklich steif darin gefühlt. Na ja, und dann ist der ganze Mist von vorne losgegangen. Die Witwe läutete mit 'ner Glocke zum Abendessen und man musste pünktlich unten sein. Wenn man dann am Tisch saß, konnte man noch nicht mal sofort anfangen. Man musste warten, bis die Witwe ihren Kopf übers Essen gebeugt und irgendetwas genuschelt hatte, obwohl nichts daran verkehrt war. Das heißt: doch! Weil nämlich alles für sich gekocht war und nicht zusammen, wie's sich gehört.

Nach dem Essen holte sie ein Buch und erzählte mir von Moses, und ich hab mir den Mund fusselig geredet, um alles von ihm zu erfahren. Aber schließlich kam sie dann langsam damit heraus, dass Moses schon 'ne verhältnismäßig lange Zeit tot ist. Da hab ich mir nichts mehr aus ihm gemacht, denn für tote Leute hab ich nichts übrig.

Dann hab ich auch rauchen wollen, aber die Witwe hat's mir nicht erlaubt. Sie sagte, es wäre eine gewöhnliche und unsaubere Angewohnheit und ich solle es nicht wieder tun. Aber so sind manche Leute nun mal eben: Sie reden von Dingen, von denen sie nichts verstehen und die sie überhaupt 'n Dreck angehen. Und sie selbst nahm Schnupftabak; das war natürlich in Ordnung, weil sie's selbst tat.

Ihre Schwester, Fräulein Watson, war eine spindeldürre alte Jungfer mit 'ner Brille auf der Nase. Die mühte sich nun mit mir ab und wollte mir das Buchstabieren beibringen. Nach 'ner Stunde war ich ganz durchgedreht. Immerzu sagte Fräulein Watson: „Lege deine Füße nicht auf den Tisch, Huckleberry!" und „Sitz gerade, Huckleberry! Warum versuchst du nicht einmal, gehorsam zu sein?"

Nachher holten sie die Neger rein und alle beteten. Dann gingen alle ins Bett. Ich nahm einen Kerzenstummel und stellte ihn in meinem Zimmer auf den Tisch. Dann setzte ich mich in einen Stuhl nahe beim Fenster und versuchte, an was Lustiges zu denken. Aber es hat nichts genützt. Ich hab mich so einsam gefühlt, und manchmal wär ich am liebsten gestorben. Und da kam plötzlich eine Spinne an mir hochgekrochen. Ich hab sie abgeschüttelt und sie ist in die Kerzenflamme gefallen und sofort ganz zusammengeschrumpft, bevor ich sie erwischen konnte. Mir brauchte niemand mehr zu sagen, dass das ein furchtbar schlechtes Zeichen ist und Unglück bringt.

Ich hab mich wieder hingesetzt und am ganzen Leibe gezittert. Dann hab ich meine Pfeife rausgekriegt, um zu rauchen, denn im Hause war's jetzt ganz totenstill und die Witwe konnte es bestimmt nicht merken. Nach 'ner langen Zeit hörte ich die Kirchturmuhr zwölf schlagen und dann war's wieder still. Ich lauschte. Bald hörte ich unten ein leises „Miau-miau".

Das war prima. Ich sagte auch „miau, miau", so vorsichtig, wie ich nur konnte. Dann habe ich die Kerze ausgeblasen und bin durchs Fenster auf den Schuppen gekrabbelt. Von da aus bin ich auf den Boden gesprungen und zwischen den Bäumen durchgekrochen. Und wirklich, da stand Tom Sawyer und wartete auf mich.

Auf Zehenspitzen schlichen wir den Weg zwischen den Bäumen bis zum Ende des Gartens und bückten uns ganz tief, damit uns die Zweige nicht das Gesicht zerkratzten. Als wir an der Küche vorbeikamen, bin ich über 'ne Wurzel gefallen.

Das machte Lärm und wir duckten uns und lagen ganz still. Der große Nigger von Fräulein Watson, der Jim, saß neben der Küchentür; wir konnten ihn ganz deutlich sehen, weil hinter ihm Licht brannte. Er stand auf und lauschte für 'nen Augenblick. Dann sagte er:

„Wer da?"

Er horchte noch mal; dann kam er auf Zehenspitzen runter und stand genau zwischen uns. Wir hätten ihn fast anfassen können. Ja, ich glaub, es waren bestimmt 'n paar Minuten, dass wir ihm so nahe waren und keiner 'n Geräusch machte. Und dann fing mein Knöchel an zu jucken, aber ich hab mich nicht gekratzt; und dann fing mein Ohr an zu jucken und schließlich mein Rücken, fast genau zwischen den Schultern. Schien mir fast, ich müsste eingehen, wenn ich mich nicht kratzte.

Aber genau die gleiche Sache habe ich seitdem oft erlebt. Wenn man zu 'nem Begräbnis geht oder wenn man versucht einzuschlafen, wenn man gar nicht müde ist - also immer, wenn man sich ausgerechnet nicht kratzen darf, dann juckt's einen überall, an tausend Stellen. Nach 'ner kleinen Weile sagte Jim: „Sag, wer sein da? Verdammt ich will sein, wenn ich nicht haben gehört jemand schnaufen. Aber ich werden mich setzen hierher, bis ich Schnaufen wieder höre."

Er setzte sich auf den Boden zwischen Tom und mich. Er lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum und streckte die Beine so weit von sich, dass er mich fast berührte. Da fing meine Nase an zu jucken. Sie juckte, dass mir die Tränen in die Augen kamen. Aber ich hab nicht gekratzt. Ich konnte fast nicht mehr still sitzen.

Das Elend hat sechs oder sieben Minuten gedauert, aber es schien mir wie 'ne Ewigkeit. An elf verschiedenen Stellen hat's mich schließlich gejuckt. In diesem Augenblick fing Jim an, schwer zu atmen; dann schnarchte er, und bald danach hab ich mich auch wieder ganz behaglich gefühlt.

Tom machte mir jetzt ein Zeichen - ein ganz kleines Geräusch mit dem Mund - und wir krochen auf Händen und Füßen davon. Als wir 'n paar Meter weit weg waren, flüsterte Tom mir zu, dass er Jim aus Jux an einen Baum binden wolle, ich hab aber nein gesagt. Jim konnte doch wach werden und Krach schlagen, und dann würden sie rausfinden, dass ich nicht in meinem Zimmer war.

Dann sagte Tom, er hätte nicht genug Kerzen und er wollte in die Küche gehen und ein paar mehr holen. Wir schlichen also rein und holten drei Kerzen und Tom legte dafür fünf Cent auf den Tisch. Dann gingen wir wieder und ich wollte so schnell wie möglich weg. Aber Tom konnte es nicht lassen, er musste Jim noch unbedingt einen Streich spielen. Auf Händen und Füßen kroch er zu ihm hin. Ich musste ziemlich lange warten, bis er zurückkam.

Tom und ich gingen über den Hügel und trafen auf der anderen Seite, wo es wieder bergab ging, Joe Harper und Ben Rogers und noch zwei oder drei andere Jungen. Wir machten ein Boot los, ruderten ungefähr zweieinhalb Meilen bis zu dem steilen Abhang an der Hügelseite und gingen dann an Land.

Wir liefen, bis wir an dichtes Buschwerk kamen. Hier ließ Tom alle schwören, das Geheimnis nicht zu verraten, und zeigte ihnen dann ein Loch im Hügel, gerade dort, wo das Gebüsch am dichtesten war. Dann haben wir die Kerzen angezündet und sind auf Händen und Füßen in das Loch reingekrochen.

Nachdem wir ungefähr zweihundert Meter gekrochen waren, wurde der Gang höher und breiter. Tom tastete in einigen Gängen herum und kroch dann hinter eine Wand, wo man kein Loch vermutet hätte. Wir gingen durch einen niedrigen Raum und kamen dann in eine Art Zimmer. Da war's ganz feucht und kalt und dunstig.

Tom sagte: „Jetzt werden wir unsere Bande gründen und sie soll >Tom Sawyers Bande< heißen. Jeder, der mitmachen will, muss einen Eid schwören und seinen Namen mit Blut schreiben."

Jeder wollte mitmachen. Tom nahm ein Blatt Papier aus der Tasche, auf dem der Eid geschrieben stand. Er las ihn vor. Der Eid verpflichtete jeden Jungen, zur Bande zu haken und niemals eins von ihren Geheimnissen zu verraten. Wenn aber jemand doch mal die Geheimnisse verriete, so sollte ihm die Kehle durchgeschnitten werden, sein Leichnam musste verbrannt und seine Asche in alle Winde verstreut werden. Auch musste man dann seinen Namen mit Blut von der Liste streichen, ihn verfluchen und nie wieder erwähnen!

Einige Jungen meinten, dass es gut wäre, auch die Familien der Jungen zu ermorden, die die Geheimnisse verraten hätten. Tom fand, dass das eine gute Idee wäre, also nahm er seinen Bleistift und schrieb es dazu.

Da sagte Ben Rogers: „Aber Huck Finn hat doch keine Familie. Was sollen wir denn da machen?"

„Na ja, aber er hat doch einen Vater", sagte Tom Sawyer.

„Schon, aber den kann ja kein Mensch finden. Sonst hat er immer betrunken in der Gerberei gelegen, aber jetzt haben sie ihn auch da schon über ein Jahr nicht mehr gesehen." Sie überlegten hin und her, und schließlich wollten sie mich aus der Bande ausstoßen, weil sie meinten, dass jeder Junge eine Familie oder irgendwen haben musste, den man umbringen könnte, sonst war's nämlich nicht fair gegenüber den anderen Jungen.

Ich war so fertig, dass ich beinahe geheult hätte; aber ganz plötzlich hatte ich 'ne Idee, und ich bot ihnen Fräulein Watson an - die konnten sie meinetwegen haben.

Jeder sagte: „O ja, die tut's auch, die tut's auch! In Ordnung, Huck kann mitmachen!"

Dann pieksten sie sich alle mit einer Stecknadel in den Finger und quetschten Blut raus. Damit haben sie dann unterschrieben und ich habe auch mein Zeichen aufs Papier gemalt.

Jetzt wollte Ben Rogers erfahren, was für eine Aufgabe die Bande eigentlich hätte.

„Wir rauben und morden nur", sagte Tom.

„Sollen wir denn in Häusern rauben oder Vieh stehlen oder...?"

„Quatsch! Vieh stehlen und so was ist kein Raub, sondern ganz einfach Diebstahl", sagte Tom Sawyer. „Wir sind ja keine Einbrecher, wir sind Wegelagerer. Wir überfallen Kutschen und Wagen auf den Straßen und tragen dabei Masken! Dann schlagen wir die Leute tot und rauben ihre Uhren und ihr Geld."

Der kleine Tommy Barnes war eingeschlafen, und als sie ihn weckten, fürchtete er sich plötzlich und heulte nach seiner Mama und wollte kein Räuber mehr sein. Da haben sie ihn alle ausgelacht und ihn eine Heulsuse genannt. Er wurde furchtbar wütend und sagte, er wolle sofort alle Geheimnisse der Bande verraten. Aber Tom hat ihm fünf Cent gegeben, damit er still war, und hat gesagt, wir sollten jetzt alle nach Hause gehen und uns nächste Woche wieder treffen. Dann wollten wir einige Leute ermorden und irgendjemand berauben. Zum Schluss wählten wir Tom Sawyer zum ersten Hauptmann und Joe Harper zum zweiten Hauptmann der Bande und dann gingen wir alle nach Hause.

Ich kletterte wieder auf den Holzschuppen und kroch dann gerade vor Tagesanbruch zum Fenster hinein.

Meine neuen Kleider waren ganz verschmiert und lehmig und ich war hundemüde.

Ich werde verschleppt

Drei oder vier Monate gingen rum und wir hatten schon richtigen Winter. Ich war fast jeden Tag zur Schule gegangen und konnte schon ein bisschen buchstabieren, lesen und schreiben. Sogar das Einmaleins konnte ich hersagen bis 6 mal 7 ist 35. Aber ich glaube nicht, dass ich es jemals weiterbringe und wenn ich hundert Jahre alt werde.

Zuerst mochte ich die Schule überhaupt nicht, aber nach und nach lernte ich's aushalten. Jedes Mal, wenn ich keine Lust mehr hatte, habe ich geschwänzt, und die Tracht Prügel, die ich am nächsten Tag kriegte, hat mir gut getan und mich ein bisschen aufgemuntert. Ich habe mich schließlich sogar an die Witwe gewöhnt und ihr geregeltes Leben war mir nicht mehr so zuwider.

Ist mir anfangs ein bisschen schwer gefallen, immer in einem Haus zu leben und in einem Bett zu schlafen. Bevor es kalt wurde, bin ich immer fortgeschlichen und habe im Wald geschlafen; das war ein ganz guter Ausgleich. Natürlich mochte ich mein altes Leben lieber, aber so ein kleines bisschen mochte ich das neue auch schon. Die Witwe sagte, langsam, aber sicher würde ich zivilisiert und ich machte mich schon sehr zufriedenstellend. Sie sagte, sie schäme sich nicht mehr für mich.

Eines Morgens habe ich das Salzfass umgestoßen und wollte sofort ein bisschen davon über meine linke Schulter werfen, um ein Unglück zu verhüten. Aber Fräulein Watson wollte es nicht haben.

Sie sagte: „Lass die Hände davon, Huckleberry - du hast doch nichts als Unsinn im Kopf!"

Nach dem Frühstück ging ich nach draußen und fühlte mich ganz elend. Immerzu habe ich mich gefragt, was mir wohl passieren könnte, und ich bin ganz mutlos rumgebummelt und habe mich vorgesehen. Ich ging durch den Vorgarten und kletterte dann über den hohen Zaun. Über Nacht waren ein paar Zentimeter Schnee gefallen und ich sah Fußspuren. Sie kamen vom Steinbruch rauf und liefen rund um den Gartenzaun. Es war seltsam, dass sie nicht auch im Garten zu sehen waren. Ich bückte mich, um mir die Fußspuren näher anzusehen. Zuerst habe ich nichts Besonderes daran bemerkt, aber dann! In den linken Stiefelabsatz war mit großen Nägeln ein Kreuz geschlagen - das sollte den Teufel vertreiben!

Im nächsten Augenblick raste ich den Hügel runter. Ab und zu drehte ich mich um, aber ich konnte niemand entdecken. So schnell ich konnte, lief ich zu Notar Thatcher.

Er sagte: „Nanu, mein Junge, du bist ja ganz außer Atem. Willst du deine Zinsen?"

„Nein, Herr", sagte ich. „Sind denn welche da?"

„O ja, über hundertfünfzig Dollar sind gestern Abend gekommen. Ein ganz schönes Vermögen für dich. Am Besten ist es, wenn ich es zusammen mit deinen sechstausend anlege, denn sonst wirst du es schnell ausgegeben haben."

„Nein, Herr", sagte ich, „ich will es nicht ausgeben. Ich will es überhaupt nicht haben, auch die sechstausend nicht. Ich will, dass Sie es nehmen — alles, auch die sechstausend."

Er war ganz weg und schien es gar nicht zu verstehen. Er sagte: „Aber was meinst du nur, Junge?"

„Bitte nehmen Sie's und fragen Sie mich nichts -dann brauche ich auch nicht zu lügen."

„Oh, ich glaube, ich weiß, was du willst. Du willst mir nicht dein Eigentum schenken, sondern verkaufen. Jetzt weiß ich's."

Dann schrieb er etwas auf ein Blatt Papier und sagte:

„Hier - so habe ich es aufgesetzt. Ich habe es also von dir gekauft und dich dafür bezahlt. Jetzt unterschreibe. Hier ist ein Dollar für dich."

Ich unterschrieb und ging dann nach Hause.

Als ich an diesem Abend meine Kerze anzündete und hinauf in mein Zimmer ging, da saß doch tatsächlich mein Alter da. Ich hab mich immer vor ihm gefürchtet, weil er mich doch immer geprügelt hat. Ich war mächtig erschrocken im ersten Augenblick, aber als ich dann wieder Atem holen konnte, da hab ich mir gesagt, dass er mir ja eigentlich nichts tun könnte.

Er war fast fünfzig und sah auch so aus. Seine Haare waren lang und fettig und hingen ihm in Strähnen übers Gesicht. Sie waren ganz schwarz, nicht grau, und sein Schnurrbart hatte dieselbe Farbe. Der Alte hatte überhaupt keine Farbe im Gesicht, soweit man was vom Gesicht sehen konnte; es war ganz weiß, aber so, dass einem übel davon wurde und man eine Gänsehaut bekam. Er hatte nur Lumpen an, sonst nichts. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen; der eine Schuh war ganz aufgeplatzt und man konnte seine dreckigen Zehen sehen, die er ab und zu bewegte. Seinen Hut legte er auf den Fußboden, es war ein alter Schlapphut, er war ganz verbeult.

Ich stand da und sah ihn an, und er saß da und sah mich an, den Stuhl hatte er ein bisschen zurückgekippt. Als ich die Kerze hinstellte, sah ich, dass das Fenster offenstand; er war also über den Schuppen reingekrochen. Er starrte mich immer noch an. Schließlich sagte er:

„Noble Sachen haste da an. Bist ja 'n ganz vornehmer Pinsel geworden, nicht wahr?"

„Vielleicht, vielleicht auch nicht", sagte ich.

„Werd mir bloß nicht unverschämt!", sagte er da. „Hast dich mächtig rausgemacht, seit ich weg bin. Mit dir werd ich andere Saiten aufziehen. Man sagt übrigens, dass du jetzt gebildet bist und sogar lesen und schreiben kannst. Du denkst wohl, du bist jetzt mehr als dein Vater, weil der's nicht kann, was? Aber das werd ich dir schon austreiben. Wer hat dir eigentlich diesen verdammten Blödsinn in den Kopf gesetzt, he?"

„Die Witwe."

„Die Witwe, he? Und wer hat der erlaubt, ihre lange Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken?"

„Ich glaube, niemand."

„Na, der werd ich's zeigen. Und nun hör zu - du gehst nicht mehr zur Schule, verstanden? Da will sich doch dieser Bengel tatsächlich aufs hohe Pferd setzen und kommt sich dabei vornehmer vor als sein eigener Vater. Lass dich nicht in der Nähe der Schule erwischen, das kann ich dir sagen. Und jetzt zeig mir, ob du lesen kannst!"

Ich nahm das Buch und las irgendwas über General Washington und den Krieg. Ich hatte ungefähr eine Minute gelesen, als er das Buch nahm und es quer durchs ganze Zimmer warf. Er sagte:

„'s stimmt wirklich. Ich wollt's einfach nicht glauben. Du, wenn du nicht bald aufhörst, vornehm zu tun, dann passiert was! Ich will es nicht haben! Und ausgerechnet ich muss so 'nen Sohn haben!"

Eine Weile saß er da fluchend und murmelnd, dann sagte er:

„Aber 'n feiner Lackaffe biste geworden. Hast 'n Bett und Betttücher, 'nen Spiegel und sogar 'nen Teppich aufm Fußboden - und dein eigener Vater schläft bei den Schweinen. Aber ich werd's dir schon zeigen. Ach ja, und da ist ja noch was — sie sagen, du bist reich. He? - Wie ist's damit?"

„Sie lügen - das ist alles."

„He, sieh dich vor, wie du mit mir sprichst! Ich hab schon genug Geduld mit dir gehabt, reiz mich also nicht. Seit zwei Tagen bin ich in der Stadt und habe von nichts anderem als von deinem Reichtum gehört. Morgen gibst du mir das Geld - ich brauche es."

„Ich hab kein Geld. Frag doch nur Notar Thatcher, der wird dir dasselbe sagen."

„Gut, ich werd ihn fragen. Und er muss blechen, das kann ich dir sagen! Sag, wieviel hast du jetzt in der Tasche? Ich brauch's"

„Ich habe nur einen Dollar, und den brauche ich für... "

„Ist mir egal, wofür du ihn brauchst - gib her!"

Er schnappte ihn und biss hinein, um zu sehen, ob er auch echt wäre. Dann sagte er, er wolle in die Stadt gehen, er hätte noch keinen einzigen Schluck gehabt heute.

Am nächsten Tag war er betrunken und ging zum Notar Thatcher und wollte das Geld haben. Der Notar hat es ihm aber nicht gegeben, da hat ihm der Alte mit dem Gericht gedroht.

Der Notar und die Witwe aber gingen selbst aufs Gericht und wollten veranlassen, dass ich meinem Alten weggenommen würde. Einer von ihnen wollte dann mein Vormund sein. Seit kurzem war aber ein neuer Richter da, der meinen Alten nicht kannte, und er sagte, wenn es sich eben vermeiden ließe, solle ein Gericht Familien nicht trennen. Und so mussten der Notar Thatcher und die Witwe die Sache an'n Nagel hängen.

Da hat sich mein Vater mächtig wichtig gefühlt. Er sagte, er würde mich grün und blau schlagen, wenn ich ihm kein Geld besorgte. Ich borgte mir drei Dollar vom Notar Thatcher und der Alte nahm sie und betrank sich und randalierte anschließend die ganze Nacht in der Stadt. Am nächsten Tag haben sie ihn dann vors Gericht geschleppt und er wurde für 'ne ganze Woche eingelocht.

Na ja, er war aber schon sehr bald wieder heraus und verklagte Notar Thatcher vor Gericht wegen des Geldes. Zweimal fing mich der Alte auf meinem Schulweg ab und haute mich durch, aber meistens bin ich ihm einfach weggelaufen. Vorher war ich gar nicht sehr gern zur Schule gegangen, aber jetzt ging ich einfach, um den Alten zu ärgern.

Er lungerte oft um das Grundstück von der Witwe herum, dass es ihr bald zu bunt wurde und sie ihm drohte, sie würde ihm Scherereien machen. Er sagte aber nur, er würde ihr schon zeigen, wer der Herr von Huck Finn wäre. Und eines Tages, es war Frühling, hat er mir aufgelauert und mich mit im Boot rüber zum Illinois-Ufer geschleppt, wo es außer einer alten Holzhütte überhaupt keine Häuser gab.

Er passte so sehr auf, dass ich nie eine Gelegenheit hatte wegzulaufen. Wir lebten in dieser alten Hütte und des Nachts schloss er immer die Tür ab und legte den Schlüssel unter seinen Kopf. Er hatte eine alte Flinte, die er bestimmt gestohlen hatte, und wir gingen fischen und jagen, und das war alles, was wir für unseren Lebensunterhalt taten. Aber nach und nach fand die Witwe doch raus, wo wir uns aufhielten, und sie schickte einen Mann rüber, der mich zurückbringen sollte. Aber der Alte drohte ihm mit seiner Flinte.

Es war ein schönes, faules Leben, das wir führten. Ungefähr zwei Monate gingen so rum, und meine Kleider wurden wieder ganz dreckig und waren schließlich nur noch Lumpen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie ich es jemals bei der Witwe hatte aushaken können, wo man sich waschen und kämmen musste und wo die alte Jungfer Watson immer auf einem herumhackte. Ich hatte mir schon ganz abgewöhnt zu fluchen, weil's die Witwe nicht mochte, aber jetzt hab ich's wieder angefangen, denn der Alte hatte nichts dagegen.

So weit wäre alles ganz gut und schön gewesen, wenn der Alte nicht bald zu geschickt mit seiner Rute umgegangen wäre. Ich konnt's nicht mehr aushalten. Er ging auch immer häufiger weg und schloss mich dann ein. Einmal hatte er mich eingeschlossen und ließ sich drei Tage lang nicht sehen. Es war schrecklich langweilig. Ich glaubte schon, er wäre ertrunken und ich würde nie mehr aus der Hütte rauskommen. Da habe ich's mit der Angst gekriegt und habe mir vorgenommen, auf irgendeine Weise zu entwischen. Ich hatte das schon oft versucht, aber's war mir nie geglückt. Es gab nur ein Fenster und das war nicht mal so groß, dass ein Hund hätte durchkriechen können.

Als ich diesmal aber die Bude ganz gründlich durchstöberte, fand ich ganz versteckt eine alte rostige Säge ohne Griff. Sofort habe ich sie mit Fett eingeschmiert und mich dann ans Werk gemacht. Hinter dem Tisch hing eine alte Pferdedecke an der Wand; sie sollte den Wind abhaken, der manchmal durch die Ritzen blies. Ich kroch unter den Tisch, hob die Decke hoch und ging an die Arbeit. Ich wollte ein Loch in das Holz sägen, gerade groß genug, dass ich mich durchzwängen konnte. Ja, es war 'ne harte Arbeit, und ich war schon fast fertig, als ich die Flinte vom Alten losgehen hörte. Da hab ich schnell die Spuren meiner Arbeit verwischt, die Säge versteckt und die Pferdedecke wieder an Ort und Stelle getan. Und dann kam der Alte auch schon rein.

Er war mächtig schlecht gelaunt - aber anders kannte ich ihn ja auch gar nicht. Er erzählte, er wäre in der Stadt gewesen und es ginge alles schief. Sein Notar glaubte, er würde die Klage gewinnen und das Geld kriegen, wenn's mit dem Prozess nur endlich voranginge; aber 's gäbe eben Leute, die genau wüssten, wie man so was in die Länge zöge, und dazu gehörte auch der Notar Thatcher. Und dann fing der Alte an zu fluchen und er verfluchte alles und jeden, und dann verfluchte er sie alle noch mal, um ganz sicher zu sein, dass er auch keinen ausgelassen hatte.

Dann musste ich zum Boot gehen und die Sachen holen, die der Alte mitgebracht hatte. Da war 'n Sack Mehl, bestimmt fünfzig Pfund schwer, eine Speckseite, Munition und 'ne riesige Buddel mit Whisky. Ich schleppte alles an Land und setzte mich dann ins Boot, um mich auszuruhen und um über meinen Fluchtplan nachzudenken. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht auf die Zeit achtete, bis der Alte wütend rief und mich fragte, ob ich schliefe oder versoffen wäre.

Schnell schleppte ich die Sachen hinauf in die Hütte. Während ich das Abendessen kochte, tat der Alte zwei große Züge aus der Flasche und wurde gleich viel aufgeräumter. Wie immer, wenn der Fusel bei ihm wirkte, schimpfte er auch diesmal wieder auf die Regierung.

Nach dem Abendessen griff er wieder zur Flasche und sagte, darin war genug für zwei Räusche und 'n Delirium tremens. So nannte er's immer. Ich hab gehofft, er würde in einer Stunde völlig betrunken sein, dann hätte ich den Schlüssel klauen oder das angefangene Loch fertigsägen können. Aber ich hatte kein Glück. Er trank und trank und legte sich schließlich auf seine Decken. Aber er schlief nicht fest ein, er war unruhig. Er stöhnte und ächzte eine ganze Zeit. Schließlich wurde ich so schläfrig, dass ich meine Augen nicht mehr offen halten konnte und bald ganz fest einschlief. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich geschlafen habe, aber ganz plötzlich hörte ich einen furchtbaren Schrei und war sofort hellwach.

Ich sah den Alten, wie er wild um sich blickte und irgendetwas von Schlangen schrie. Er sagte, sie ringelten sich an seinen Beinen hoch; und dann sprang er plötzlich auf und schrie, eine hätte ihn gebissen. Aber ich konnte überhaupt keine Schlangen sehen. Dann fing er an, wie besessen in der Hütte umherzulaufen und zu betteln: „Nimm sie doch weg! Nimm sie doch weg! Sie würgen mir den Hals ab!" Aber schon bald war er ganz erledigt und fiel keuchend auf den Boden, wo er anfing, mit Händen und Füßen um sich zu schlagen und die Teufel zu verfluchen, die ihn anfassen wollten. Dann lag er ganz still und stöhnte nur noch ein bisschen. Plötzlich erhob er sich langsam wieder und lauschte, den Kopf auf eine Seite geneigt, und sagte mit dumpfer Stimme:

„Trapp - trapp - trapp; das sind die Toten; trapp -trapp; sie kommen um mich zu holen; aber ich gehe nicht mit! Oh, sie sind hier! Fasst mich nicht an - nicht! Hände weg! Die sind so kalt. Oh, lasst doch einen armen Burschen in Ruh!"

Dann kroch er auf allen vieren durch die Hütte und bat und bettelte, rollte sich in eine Decke und wälzte sich unter den alten Tisch, immer noch bittend. Er fing an zu weinen und ich konnte ihn durch die Decke hören.

Langsam rollte er sich wieder aus der Decke und sprang auf seine Füße, er sah wild um sich und entdeckte mich. Mit seinem Taschenmesser jagte er mich durchs Zimmer, nannte mich den Todesengel und sagte, er wolle mich töten, dann könne ich ihm nichts mehr tun.

Ich flehte ihn an und sagte, dass ich doch nur der Huck wäre, aber er lachte kreischend und brüllte und fluchte und jagte mich nur noch mehr. Einmal hab ich mich ganz schnell umgedreht, um unter seinem Arm durchzuschlüpfen, er griff aber nach mir und packte mich an meiner Jacke. Ich dachte schon, jetzt würde er mich kaltmachen, aber schnell wie der Blitz bin ich aus der Jacke geschlüpft und hab mich in Sicherheit gebracht. Bald war der Alte ganz erledigt von der Anstrengung und setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken zur Tür, und sagte, er wolle sich nur einen Moment ausruhen und mich dann kaltmachen. Er schlief fast augenblicklich ein.

So behutsam wie möglich, kletterte ich auf den alten Stuhl und holte die Flinte herunter. Ich sah nach, ob sie geladen war, legte sie dann griffbereit neben mich und wartete darauf, dass der Alte sich rührte. Wie furchtbar langsam die Zeit doch dahinkroch...

„Steh auf, du Schlafmütze!"

Ich machte die Augen auf und versuchte rauszukriegen, wo ich eigentlich war. Die Sonne war schon aufgegangen, und ich hatte fest geschlafen. Mein Alter stand über mich gebeugt und sah mürrisch und elend aus. Er sagte:

„Was tust du mit der Flinte?"

Ich merkte, dass er von nichts mehr wusste, und sagte deshalb: „Jemand hat versucht einzubrechen, und da hab ich ihn hiermit verscheucht."

„Warum hast du mich nicht geweckt?"

„Ich hab's ja versucht, aber du rührtest dich ja nicht."

„Ja, ja, ist schon gut. Steh gefälligst nicht da und quatsch den ganzen Tag. Sieh lieber zu, ob'n Fisch an der Angel ist fürs Frühstück."

Er schloss die Tür auf, und ich machte, dass ich zum Fluss kam. Sofort sah ich, dass der Fluss gestiegen war, denn Holzstücke und allerhand Zeugs trieben auf dem Wasser. Langsam ging ich am Ufer entlang und hatte immer ein Auge auf den Fluss - und was er wohl mit sich brächte. Ja, und ganz plötzlich seh' ich ein Boot dahertreiben, eine Klasse von Boot und vielleicht dreizehn oder vierzehn Fuß lang. Hals über Kopf, wie'n Frosch, bin ich da ins Wasser gesprungen, bin ins Boot geklettert und hab's an Land gerudert. Ich hab gedacht, der Alte wird sich freuen, ist bestimmt seine zehn Dollar wert.

Aber als ich zum Ufer kam, konnte ich den Alten nirgends entdecken, und als ich das Boot in einer kleinen Bucht anlegte, ganz verdeckt von Weiden und Schlingpflanzen, da hatt ich plötzlich 'ne bessere Idee: Ich würde das Boot gut verstecken und damit, anstatt durch die Wälder abzuhauen, ungefähr fünfzig Meilen den Fluss runterfahren.

Nach dem Frühstück schliefen wir etwas, und gegen zwölf Uhr gingen wir wieder an das Ufer. Der Fluss stieg jetzt rasch und brachte 'ne Menge Treibholz mit. Wir sahen auch ein zerbrochenes Floß, das aber immer noch neun Stämme hatte. Wir ruderten mit unserem Boot hin und zogen es an Land.

Endlich kann ich fliehen

Gegen halb vier schloss er mich wieder ein, nahm das Boot, um zur Stadt zu rudern und die Stämme zu verkaufen. Ich wartete, bis er ein gutes Stück weit weg war, dann kriegte ich die Säge raus und ging wieder an die Arbeit. Bevor der Alte auf der anderen Seite des Flusses war, kroch ich schon aus dem Loch raus; er war mit seinem Boot nur noch als kleines Pünktchen auf dem Wasser zu sehen.

Ich nahm den Sack Mehl und schleppte ihn an mein Versteck, dann teilte ich die Zweige und Schlingpflanzen auseinander und legte den Sack ins Boot. Dann holte ich den Speck, den Whisky, die Munition und so viel Kaffee und Zucker, wie ich auftreiben konnte. Auch einen Eimer und eine Zinntasse, meine alte Säge und zwei Decken, den Kessel und die Kaffeekanne ließ ich mitgehen. Zuletzt nahm ich noch die Flinte, Angelruten und Streichhölzer und andere Kleinigkeiten mit, alles, was irgendwie von Wert war.

Es war mittlerweile schon dunkel geworden. Ein Stück ruderte ich den Fluss runter und machte das Boot dann an einer Weide fest. Ich aß ein bisschen, steckte mir eine Pfeife an und legte mich dann gemütlich ins Boot, um einen Plan zu machen. Ich konnte ja anlegen, wo ich wollte, und die Jackson-Insel war gerade gut genug für mich. Ich kannte die Insel wie meine Westentasche, und niemand kam jemals dahin.

Ich war mächtig müde und bin wohl fest eingeschlafen. Als ich wach wurde, wusste ich zuerst gar nicht, wo ich eigentlich war. Ich setzte mich auf und sah mich etwas erschrocken um. Dann kam aber die Erinnerung. Der Fluss sah unendlich groß aus.

Dann hab ich gegähnt und mich gestreckt, als ich ein Geräusch hörte. Vorsichtig guckte ich durch die Weidenzweige, und da sah ich's: Es war ein Boot, ganz weit draußen auf dem Wasser. Ich konnte zuerst nicht sehen, wieviel Leute drin waren, aber als es näher kam, sah ich, dass nur ein einziger Mann darin saß. Ich denke: Verdammt, vielleicht ist's der Alte, obwohl ich ihn gar nicht erwartet hatte. Er ließ sich von der Strömung treiben und kam mir dabei so nahe, dass ich ihn mit der Flinte hätte anstoßen können. Ja, es war wirklich der Alte - und diesmal sogar nüchtern, wie ich an seinem Rudern sehen konnte.

Da hab ich keine Zeit mehr vergeudet. Im nächsten Augenblick schon ruderte ich behutsam, aber schnell im Schatten des Ufers stromabwärts. Nach zweieinhalb Meilen ruderte ich mehr zur Mitte des Flusses hin, weil ich bald an der Anlegestelle der Fähre vorbeikam und die Leute mich hätten sehen können. Ich geriet zwischen das Treibholz, legte mich dann lang ins Boot und ließ es treiben. Da lag ich nun und ruhte mich erst mal aus, stopfte meine Pfeife und sah zum Himmel hinauf.

Bald hatte ich die Anlegestelle der Fähre hinter mir. Ich stand auf und sah die Jackson-Insel ungefähr zweieinhalb Meilen entfernt vor mir liegen. Sie ragte aus der Mitte des Flusses raus wie "n Dampfschiff ohne Lichter.

Es dauerte nicht lange, bis ich da war. Sehr rasch wurde ich von der starken Strömung um die Spitze der Insel rumgetrieben, und dann kam ich in seichtes Wasser und legte an der Seite an, die Illinois gegenüberliegt. Ich versteckte mein Boot in einer Bucht und machte es fest. So konnte es bestimmt niemand sehen. Ich ging zurück zur Spitze der Insel, setzte mich auf einen Baumstamm und sah auf den Fluss und auf das schwarze Treibholz und auf die Stadt am Ufer, wo noch drei oder vier Lichter blinkten.

Es dämmerte schon ein wenig, als ich zurückging, um vor dem Frühstück noch ein kleines Schläfchen zu halten.

Als ich erwachte, stand die Sonne schon so hoch, dass es meiner Schätzung nach ungefähr acht Uhr sein musste. Ich lag im Gras im kühlen Schatten, dachte nach und fühlte mich ausgeruht und sehr zufrieden. Nach dem Frühstück machte ich aus meinen Decken eine Art Zelt und legte alle meine Sachen hinein, so dass der Regen ihnen nichts anhaben konnte. Dann fing ich einen Wels, zerlegte ihn mit meiner Säge, und gegen Sonnenuntergang machte ich mir ein Lagerfeuer und kochte das Abendessen. Danach legte ich meine Angel aus, um einen Fisch fürs nächste Frühstück zu haben.

Als es dunkel wurde, setzte ich mich ans Lagerfeuer und rauchte und fühlte mich sehr wohl. Nach und nach aber wurd's 'n bisschen einsam, und ich setzte mich ans Ufer, hörte auf das Murmeln des Wassers und zählte die Sterne und das Treibholz, das vorbeikam. Schließlich ging ich schlafen.

So ging's drei Tage und drei Nächte. Immer dasselbe. Aber am vierten Tag ging ich los, um mich auf der Insel umzusehen, hauptsächlich, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich fand 'ne Masse Erdbeeren, reif und ganz vorzüglich. Ich ging immer weiter in den Wald, bis ich glaubte, beinahe am Ende der Insel zu sein. Ich hatte meine Flinte mitgenommen, aber noch nichts geschossen.

Plötzlich trat ich fast auf eine ziemlich große Schlange! Sie schlängelte sich durchs Gras. Ich immer hinterher, und dabei versuche ich, ihr eins aufs Fell zu knallen. Ich stolpere ihr nach und steh plötzlich vor 'nem Lagerfeuer, dessen Asche noch schwelt.

Mein Herz ist mir fast in die Hosen gefallen, so hab ich mich erschrocken. Ich hab mich gar nicht erst lange umgesehen, sondern bin sofort auf Zehenspitzen zurückgeschlichen. Ab und zu blieb ich stehen und lauschte, aber mein Herz klopfte so laut, dass ich nichts anderes hören konnte. Ich schlich noch ein Stück weiter und lauschte wieder; jeden Baum hielt ich für 'nen Mann, und wenn ich auf eine Wurzel trat und ein Geräusch machte, blieb mir's Herz fast stehen.

Als ich zu meinem Lager zurückkam, war ich ziemlich niedergeschmettert, aber ich hab mir gesagt, dass ich keine Zeit mehr verlieren dürfte. Ich schleppte meine Sachen alle wieder ins Boot, trat das Feuer aus und schüttete die Asche darüber, so dass es aussah, als ob es eine Feuerstelle vom letzten Jahr wäre. Dann kletterte ich auf einen Baum.

Ich schätze, ich war fast zwei Stunden da oben, aber ich sah und hörte nichts - das heißt, ich hab mir eingebildet, tausenderlei zu sehen und zu hören. Na ja, immer konnte ich ja auch nicht in dem Baum hocken, und so bin ich schließlich runtergeklettert.

Gegen Abend war ich mächtig hungrig. Als es schön dunkel war - der Mond war noch nicht aufgegangen -, schlich ich zum Boot und paddelte rüber zum IllinoisUfer, das ungefähr 'ne Viertelmeile weit entfernt liegt. Ich ging tief in den Wald hinein und kochte da mein Abendessen. Ich hatte mich schon fast entschlossen, die ganze Nacht dazubleiben, als ich plötzlich das Trapp-trapp von Pferden hörte. So schnell ich konnte, verstaute ich meine Sachen wieder im Boot und kroch dann zurück, um zu sehen, was eigentlich los war. Ich war noch nicht weit gekommen, als ich einen Mann sagen hörte: „Wir schlagen am besten unser Lager hier auf; die Pferde können sowieso nicht mehr weiter."

Ich hab nicht länger gewartet, sondern bin zurückgekrochen und wieder sachte zur Jackson-Insel gerudert. Das Boot hab ich an der alten Stelle festgemacht und es mir darin gemütlich gemacht.

Aber ich konnte nicht schlafen, ich musste immerzu nachdenken. Oft wurde ich wach und dachte jedes Mal, jemand säße mir an der Gurgel. Bald hab ich's nicht mehr ausgehalten schließlich kann so ja kein Mensch leben - und hab mir überlegt, dass ich rausfinden musste, wer noch auf der Insel war. Na ja, nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, fühlte ich mich gleich wohler.

Ich nahm mein Ruder und ließ das Boot behutsam im Uferschatten dahingleiten. Der Mond schien und es war fast taghell. Nach einer Stunde war ich fast am Ende der Insel angekommen. Es wehte eine schwache, kühle Brise, und daher wusste ich, dass die Nacht fast vorüber war. Ich legte am Ufer an, nahm meine Flinte und kroch aus dem Boot und schlich in die Wälder. Ich wollte die Stelle wiederfinden, wo ich das Lagerfeuer gesehen hatte. Aber ich konnte sie nicht entdecken.

Plötzlich seh ich einen Feuerschein durch die Bäume schimmern! Bedächtig und langsam gehe ich dem Schein nach. Bald bin ich ganz nah dran und seh einen Mann auf dem Boden liegen. Ich denk, mich rührt der Schlag: Er war in eine Decke eingewickelt und sein Kopf lag fast im Feuer.

Ich setzte mich hinter 'ne Baumgruppe und beobachtete ihn. Es wurde schon Tag, als er plötzlich gähnte, sich streckte und die Decke wegschob. Mein Gott, es war der Jim von Fräulein Watson! Ich war überglücklich und schrie: „Hallo, Jim!" und kam raus aus meinem Versteck.

Er sprang auf und starrte mich wild an. Dann fiel er auf die Knie, faltete die Hände und bettelte:

„Tu mir nichts, tu mir nichts! Ich niemals haben Geister was getan; ich immer gewesen freundlich zu tote Leute. Du musst gehen wieder in das Fluss, wohin du gehörst, und nichts tun alte Jim, der immer gewesen ist dein Freund."

Na ja, schließlich hat er aber doch kapiert, dass ich nicht tot war, sondern lebte. Ich war mächtig froh, Jim zu sehen und jetzt war's längst nicht mehr so einsam. Ich sagte: „Es ist ja schon heller Tag, wir wollen frühstücken. Mach 'n gutes Feuer!"

„Was für einen Zweck es haben, zu machen Feuer, wenn man nur kochen kann Erdbeeren und alter Zeug? Aber du haben Flinte und wir können kriegen was Besseres als Erdbeeren."

„Erdbeeren und altes Zeug!" sagte ich. „Hast du davon gelebt?"

„Ich konnten kriegen nichts anderes", sagte er.

„Seit wann bist du schon auf der Insel, Jim?"

„Ich bin gekommen her nach der Nacht, du wurden ermordet."

„Und du hast nichts anderes als Beeren gegessen seitdem? Du musst ja halb verhungert sein."

„Ich könnten essen eine Pferd. Nun du gehen und töten was, und ich machen ein gut Feuer."

Wir gingen zurück zu meinem Boot und während er auf einem offenen Platz zwischen den Bäumen ein Feuer anfachte, holte ich Speck und Kaffee, Bratpfanne und Kaffeetopf, Zucker und Zinntasse. Der Neger war ganz platt vor Staunen und hat bestimmt wieder an Hexerei geglaubt. Ich fing einen großen schönen Fisch und Jim machte ihn mit seinem Messer sauber und briet ihn dann.

Als das Frühstück fertig war, setzten wir uns nieder und aßen den kochend heißen Fisch; Jim legte sich mächtig ins Zeug, denn er war fast verhungert. Als wir uns ganz schön vollgefuttert hatten, legten wir uns lang ins Gras und faulenzten.

Dann sagte ich: „Wie kommt es eigentlich, dass du hier bist, Jim?"

Er sah mich unbehaglich an und schwieg für einen Augenblick. Dann sagte er: „Ich es besser nicht sagen."

„Warum nicht, Jim?"

„Ich haben Gründe. Aber du nicht werden erzählen, wenn ich dir sagen, Huck, nicht?"

„Verdammt will ich sein, wenn ich's täte, Jim!"

„Ja, ich dir glauben, Huck. Ich - ich fortgelaufen bin."

„Jim! Was hast du da getan!"

„Nun, du siehst, es war so. Altes Fräulein Watson immer hacken auf mir rum, aber sie immer haben gesagt, sie mich nicht will verkaufen nach Orleans. Ich aber haben gesehen oft Sklavenhändler bei ihr Haus, und dann ich haben gekriegt Angst. Ja, und dann ich geschlichen bin nach Tür, wenn es sehr dunkel und Tür nicht war ganz zu. Da ich haben gehört, wie altes Fräulein Watson haben erzählt Witwe, sie mich wollen verkaufen nach Orleans. Sie haben gesagt, sie würden kriegen für mich achthundert Dollar. Fräulein Watson haben gesagt, das sein so viel Geld, sie nicht können widerstehen.

Ich nicht haben gewartet länger, ich gelaufen bin ganz schnell zu Fluss. Da ich haben gesehen Licht von Floß und bin gesprungen in Wasser und geschwommen in Treibholz. Ich ganz vorsichtig klettern auf Floß, wo Männer haben gesessen an anderes End. Aber ich nicht haben Glück, denn bald eine Mann kommen mit Laterne und ich müssen abspringen von Floß sehr schnell. Dann ich schwimmen hierher nach JacksonInsel."

Während wir miteinander redeten, beobachteten wir junge Vögel, die aufgeregt flatterten und hüpften. Jim sagte, das bedeute Regen. Ich wollte ein paar davon fangen, aber Jim wollt es nicht zulassen. Er sagte, das bedeute Tod. Jim sagte auch, dass man die Sachen, die man beim Kochen gebraucht, nicht zählen darf, sonst bringt's Unglück. Jim sagte auch, dass Bienen nie Dummköpfe stechen, aber das glaub ich nicht, weil ich's schon oft an mir versucht habe, und mich stechen sie auch nicht.

Als ich meine Entdeckungsreise auf der Insel unternommen hatte, war mir eine Stelle aufgefallen, die ich jetzt mit Jim noch einmal besuchen wollte. Wir machten uns auf den Weg und kamen bald dort an.

Dieser Ort war ein ziemlich steiler Hügel, der ungefähr vierzig Fuß hoch war. Es war gar nicht so einfach, auf die Spitze zu klettern. Man kam kaum durch die Büsche hindurch und die Seiten waren furchtbar steil. Da entdeckten wir unversehens eine Höhle, deren Eingang nach der Illinois-Seite gelegen war. Die Höhle war so groß wie zwei oder drei Zimmer zusammen, und sogar Jim konnte aufrecht darin stehen. Es war ziemlich kühl darin, und Jim war dafür, dass wir unsere Sachen alle reinschaffen sollten, aber ich hab gesagt, es wär doch eklig, immerzu rauf- und runterrennen zu müssen.

Jim sagte aber, wenn wir unser Boot gut versteckten und die Sachen in die Höhle schafften, wären wir ganz sicher. Wir könnten uns immer in die Höhle flüchten, wenn wer auf die Insel käme, und ohne Hunde würden sie uns nie und nimmer finden.

Wir gingen also zurück, holten unser Boot und all die anderen Sachen und schleppten sie in die Höhle. Ganz nahebei versteckten wir das Boot und hielten dann unseren Mittagsschmaus.

Nicht lange danach wurde es dunkel und es begann zu donnern. Gleich darauf fing es an, in Strömen zu regnen. Ein Sturm kam auf, wie ich noch nie einen erlebt hatte. Es wurde so dunkel, dass alles blauschwarz aussah, und im Schein der Blitze konnten wir sehen, dass der Wind die Bäume fast bis auf die Erde drückte.

„So hab ich's gerne, Jim", sagte ich. „Ich möchte jetzt nirgendwo anders sein. Gib mir noch'n Stück Fisch und 'n bisschen Brot."

„Ja, aber du nicht wärest hier ohne Jim. Du wärest in Wald ohne Essen und schon fast ertrunken. Vögel genau wissen, wann es wird regnen."

Der Fluss stieg und stieg zehn oder zwölf Tage lang, dann überschwemmte er schließlich das Ufer. Tagsüber ruderten wir mit unserem Boot auf der ganzen Insel herum. Es war mächtig kalt und schattig in den Wäldern, selbst wenn die Sonne brannte. Auf den umgestürzten Baumstämmen sahen wir ab und zu Kaninchen, Schlangen und allerhand Getier. Da die Insel schon seit zwei Tagen überflutet war, machte der Hunger sie so zahm, dass wir sie streicheln konnten -natürlich nicht die Schlangen und die Schildkröten, die glitten sofort ins Wasser. Sogar das Stück eines Floßes fischten wir. Es bestand aus dicken Balken und war über drei Meter breit und mehr als vier Meter lang.

Eines Abends, als wir gerade um die Spitze der Insel rumfahren, kommt da doch tatsächlich ein Holzhaus von Westen her angetrieben. Es war zweistöckig und schon halb umgekippt. Wir ruderten näher und kletterten durch ein Fenster ins obere Stockwerk hinein. Aber es war noch zu dunkel, als dass man irgendetwas hätte sehen können, deshalb machten wir das Boot daran fest und warteten bis Tagesanbruch.

Es wurde schon hell, als wir ans Ende der Insel kamen. Dann guckten wir durchs Fenster in das Zimmer. Wir sahen ein Bett, einen Tisch, zwei alte Stühle und viel alten Kram auf dem Boden verstreut. In der Ecke lag etwas, das aussah wie ein Mann.

Jim rief: „He, Sie!"

Aber er rührte sich nicht. Ich brüllte noch einmal, und Jim sagte: „Der Mann nicht schlafen - der Mann sein tot. Du warten hier!"

Er stieg durchs Fenster, bückte sich zu dem Mann runter und sagte: „Ja, Mann sein tot, er sein geschossen worden in die Rücken. Ich glauben, er sein tot Tage zwei oder drei. Komm rein, Huck, aber du nicht sehen in sein Gesicht - sein zu grauslig."

Aber ich hab ihn überhaupt nicht angesehen. Jim deckte ihn mit ein paar alten Lumpen zu.

Dann haben wir im Großen und Ganzen gute Beute gemacht. Als wir wieder in unseren Kahn kletterten, sahen wir, dass wir fast 'ne Viertelmeile von der Insel weg waren, zudem war's heller Tag. Aber zum Glück sahen wir niemand und kamen sicher nach Haus - ich meine: in unsere Höhle.

Huck Finn ist verschwunden

Nach dem Frühstück hätt ich gern über den toten Mann gesprochen und mit Jim gerätselt, wie er wohl umgekommen war, aber Jim hatte keine Lust dazu. Er sagte, das bringe Unglück, besonders weil der Mann nicht mal unter der Erde wäre, wie's sich gehöre. Das hat mir eingeleuchtet, und ich hab nichts mehr gesagt, aber im Stillen hab ich doch immer wieder drüber nachgedacht, und ich hätte für mein Leben gern gewusst, warum sie den Mann umgebracht hatten.

Wir kramten die Kleider durch, die wir mitgenommen hatten, und fanden acht Dollar, die im Futter von 'nem alten Mantel eingenäht waren. Jim meinte, die Leute in dem Holzhaus hätten den Mantel gestohlen, denn wenn sie gewusst hätten, dass Geld darin eingenäht war, hätten sie's bestimmt nicht zurückgelassen. Ich erwiderte:

„Na, was sagst du nun, Jim? Weißt du noch, was du gesagt hast, als ich die Schlangenhaut in die Höhle brachte, die ich vorgestern auf dem Hügel gefunden habe? Du hast gesagt, jetzt käme das fürchterlichste Unglück, das es gibt, auf mich herab, weil ich die Haut angefasst habe. Na, hier ist dein Unglück: Wir haben all dies Zeugs ergattert und nebenbei noch acht Dollar! Ich möchte wohl jeden Tag so'n Pech haben wie heute, Jim."

„Du nur abwarten, Huck, nur abwarten. Ich glauben, es kommen, ja, ich sein ganz sicher, es kommen." Jim ließ sich nicht beirren. Und es kam tatsächlich. Es war ein Dienstag, als Jim das gesagt hatte. Ja, und am Freitag lagen wir nach dem Mittagessen faul im Gras und wollten eine Pfeife rauchen. Der Tabak war uns aber ausgegangen und ich ging in die Höhle, um welchen zu holen. Da seh ich plötzlich 'ne Klapperschlange vor mir. Ich mach sie tot und rolle sie fein säuberlich auf, und zwar so, dass es ganz natürlich aussieht, und lege sie ans Fußende von Jims Decke. Dabei freue ich mich schon auf Jims Gesicht, wenn er sie des Abends sieht. Na ja, aber gegen Abend hatte ich alles vergessen, und als sich Jim auf seine Decke warf, während ich 'ne Kerze anzündete, war da plötzlich das Weibchen der Schlange und biss ihn.

Er sprang auf und brüllte wie'n Stier; und als die Kerze endlich brannte, sah ich als Erstes, dass sich das Biest schon wieder auf ihn stürzen wollte. Im nächsten Augenblick hab ich sie aber mit 'nem Knüppel kaltgemacht, und dann griff Jim mit zitternden Händen nach der Whiskyflasche von meinem Alten und schüttete sich das Zeugs die Kehle runter.

Er war barfuß gewesen, und die Schlange hatte ihn genau in die Ferse gebissen. Wie konnte ich auch nur so doof sein, zu vergessen, dass man niemals 'ne tote Schlange rumliegen lassen darf, weil das Männchen oder Weibchen sie immer findet und sich drumringelt! Dann bat mich Jim, den Kopf der Schlange abzuschneiden und ihn wegzuwerfen. Danach musste ich sie enthäuten und ein Stück Fleisch rösten. Er aß das Stück und sagte, das würde ihm helfen. Ich hab auch die Klappern abgemacht und sie Jim ums Handgelenk gebunden, weil das auch helfen sollte. Dann bin ich schnell nach draußen geschlichen und hab die Schlangen ganz weit weg in die Büsche geworfen; denn ich wollte nicht, dass Jim rauskriegte, dass ich der Schafskopf gewesen war.

Jim trank immer noch den Whisky vom Alten; ab und zu schien er den Verstand zu verlieren, er hüpfte dann wie besessen umher und brüllte. Wenn er danach wieder normal war, nahm er jedes Mal einen großen Schluck aus der Flasche. Sein Fuß und auch sein Bein schwollen mächtig an. Als aber der Whisky seine Wirkung tat, war ich sicher, dass jetzt alles in Ordnung war.

Jim musste vier Tage und vier Nächte liegen, dann ging die Schwellung zurück, und er konnte wieder rumlaufen. Innerlich hab ich mir geschworen, nie mehr 'ne Schlangenhaut anzufassen.

Na ja, die Tage gingen dahin, und der Fluss fiel wieder. Am nächsten Morgen fand ich, dass das Leben ein bisschen langweilig wurde, und so wollt ich mal 'ne kleine Abwechslung haben. Da fragte ich Jim, was er wohl davon hielte, wenn ich mal in die Stadt rüberruderte und sähe, was da los wäre. Er hatte nichts dagegen, meinte aber, ich müsste nachts gehen und ganz vorsichtig sein. Dann überlegte er noch mal und fragte, ob ich nicht 'n paar von den alten Klamotten aus dem Holzhaus anziehen könnte, um als Mädchen zu gehen.

Das war gar nicht so übel und so verkürzten wir eins von den Kattunkleidern. Nachdem ich meine Hosenbeine bis zu den Knien aufgekrempelt hatte, zog ich's an. Jim knöpfte es hinten zu, und es passte wie für mich gemacht. Dann hab ich den Strohhut aufgesetzt und ihn mit'm Samtband unterm Kinn zugebunden. Jim sagte, so würde mich kein Mensch erkennen, vielleicht nicht mal bei Tage. Den ganzen Tag hab ich geübt, um den Kniff rauszukriegen, wie so'n Mädel geht, aber Jim hat gesagt, das würd ich wohl nie lernen. Er sagte auch, ich dürfte nicht immer den Rock hochheben, um in meine Hosentasche zu fassen. Das hab ich mir gemerkt. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit fuhr ich rüber und machte etwas unterhalb der Stadt mein Boot fest. Als ich so am Ufer entlangging, sah ich in einer kleinen Hütte, die lange Zeit ganz unbewohnt gewesen war, ein Licht brennen. Ich wollte gern wissen, wer wohl jetzt darin wohnte, schlich näher und guckte durchs Fenster.

Eine Frau von ungefähr vierzig Jahren saß am Tisch und strickte. Sie war eine Fremde, denn ich hatte sie noch nie gesehen. Sie musste ganz neu sein, denn in unserer Stadt kenn ich doch jeden. Das war natürlich 'n Glück für mich, denn ich hatt es schon 'n bisschen mit der Angst gekriegt, dass ich hergekommen war, wo die Leute doch meine Stimme erkennen konnten. Aber selbst wenn die Frau erst seit zwei Tagen in unserer kleinen Stadt war, konnte sie mir bestimmt alles erzählen, was ich wissen wollte. Ich klopfte an die Tür und nahm mir nochmals fest vor, nicht zu vergessen, dass ich jetzt ja 'n Mädchen war.

„Herein!", sagt die Frau und ich trete ein.

„Setz dich!", sagt sie.

Ich setze mich. Sie sieht mich mit ihren glänzenden kleinen Augen von oben bis unten an und fragt:

„Wie heißt du?"

„Sarah Williams."

„Wo wohnst du? In der Nachbarschaft?"

„Nee, in Hookerville, sieben Meilen von hier. Ich bin den ganzen Weg gelaufen und abgehetzt."

„Bist sicher auch hungrig. Ich mach dir was zu essen."

„Nein, jetzt bin ich nicht mehr hungrig, weil ich schon auf einer Farm was zu essen gekriegt hab. Deshalb ist's mir auch so spät geworden. Meine Mutter ist krank und ohne Geld, und ich soll es meinem Onkel, Abner Moore, sagen. Er wohnt am oberen Ende der Stadt, hat meine Mutter gesagt. Ich bin noch nie hier gewesen. Kennen Sie ihn?"

„Nein, ich kenne die Leute noch nicht. Ich bin erst seit zwei Wochen hier. Es ist aber 'n ziemlich weiter Weg bis zum anderen Ende der Stadt. Am besten ist es, wenn du über Nacht hier bleibst. Nimm doch deinen Hut ab."

„Nee", sag ich, „ich ruh mich nur 'n Weilchen aus und geh dann weiter. Ich hab keine Angst im Dunkeln."

Sie sagte, sie wolle mich nicht allein gehen lassen; aber ihr Mann würde bald heimkommen und er könne dann mit mir gehen. Dann fing sie an, von ihrem Mann zu erzählen und von ihrer ganzen Verwandtschaft jenseits und diesseits vom Fluss und wie viel besser sie sich früher gestanden hätten und dass sie glaubte, 'nen Fehler gemacht zu haben, in unsere Stadt zu ziehen, und so weiter und so weiter, bis ich's schon mit der Angst kriegte, einen Fehler gemacht zu haben, dass ich zu ihr gegangen war, um was zu erfahren.

Aber ganz allmählich kam sie doch auf meinen Alten und auf mein Verschwinden aus der Stadt zu sprechen. Mir stockte der Atem, als sie sagte, ich wäre wohl ermordet worden, weil man den ganzen Fluss nach mir abgesucht und nichts gefunden hätte. Dann erzählte sie mir alles über meinen Alten und über mich, und was für 'n Ausbund er wäre und was für 'n Ausbund ich wäre. Schließlich kam sie auch wieder auf meine Ermordung zu sprechen. Da fragte ich:

„Wer hat's eigentlich getan? Bei uns in Hookerville haben wir natürlich auch 'ne Masse davon gehört, aber wir wissen nicht, wer nun eigentlich der Mörder von Huck Finn ist."

„Na ja, ich schätze, es gibt auch hier 'ne Masse Leute, die gern wüssten, wer ihn ermordet hat. Manche glauben, der alte Finn hat's selbst getan."

„Nee, wirklich?"

„Fast jeder hat's zuerst gedacht - der hat gar nicht gewusst, wie nahe er dran war, gelyncht zu werden. Aber 'n paar Stunden darauf haben sie einen Nigger verdächtigt, der durchgebrannt ist. Er hieß Jim."

„Nee - der ist doch..."

Aber sie redete weiter und hatte zum Glück nichts gemerkt.

„Ja, der Nigger lief in derselben Nacht davon, als Huck Finn ermordet wurde. Und es sind dreihundert Dollar ausgesetzt für den, der ihn fängt. Aber auch auf den alten Finn ist 'ne Belohnung ausgesetzt -zweihundert Dollar. Weißt du, am Morgen nach dem Mord kam er in die Stadt und hat davon erzählt. Er war auch noch mit vielen Leuten auf der Fähre, mit der sie den Fluss nach Hucks Leiche abgesucht haben, aber danach war er gleich verschwunden. Ja, und am nächsten Tag fanden sie raus, dass der Nigger auch weg war und dass ihn seit zehn Uhr abends nach dem Mord niemand mehr gesehen hatte. Da hat man ihn natürlich gleich verdächtigt. Am nächsten Morgen kommt der alte Finn wieder und geht johlend zum Notar Thatcher und verlangt Geld, um nach dem Nigger zu suchen. Der Notar hat ihm auch was gegeben und noch am selben Abend hat er sich betrunken. Bis nach Mitternacht ist er mit zwei finster dreinsehenden Fremden durch die Stadt gezogen und ist dann mit ihnen verschwunden. Seitdem ist er nicht wieder zurückgekommen, wird's auch wohl nicht eher tun, als bis über die ganze Geschichte 'n bisschen Gras gewachsen ist. Und dann kommt er sicher zurück und legt seine Pfoten auf Hucks Geld. Die Leute sagen ja, dem war alles zuzutrauen."

„Ja, ich glaube auch. Aber jetzt denkt doch sicher niemand mehr, dass der Nigger 's getan hat?"

„O doch, manche denken, er hat's getan. Aber ich schätze, sie werden ihn bald haben, und dann können sie ihm vielleicht 'n Geständnis abquetschen." „Wie, suchen sie denn jetzt nach ihm?"

„Na, du bist aber auf den Kopf gefallen, Kind! Dreihundert Dollar kann man doch nicht jeden Tag verdienen! Manche denken ja auch, dass der Nigger gar nicht weit von hier ist. Ich meine es auch, aber ich hab's noch nicht erzählt. Vor 'n paar Tagen sprach ich mit einem alten Ehepaar, das nebenan in der Holzhütte wohnt. Zufällig sprachen wir von der Insel da drüben, die sie Jackson-Insel nennen. >Lebt denn niemand da?< frage ich. >Nein, niemand<, sagen sie. Ich hab ihnen zwar nichts davon gesagt, aber bestimmt hab ich vor kurzem über der Insel drüben Rauch aufsteigen sehen. Könnt ja sein, dass der Schwarze sich da versteckt hält, sag ich zu mir selbst und man kann die Insel mal absuchen. Vor zwei Stunden hab ich's meinem Mann erzählt und er ist sofort mit einem anderen Mann losgegangen, um nachzusehen."

Ich wurde so unruhig, dass ich plötzlich nicht mehr wusste, was ich mit meinen Händen tun sollte; deshalb nahm ich 'ne Nadel vom Tisch und versuchte, 'nen Faden einzufädeln. Aber meine Hände zitterten, und ich hab's nicht geschafft. Die Frau hatte aufgehört zu reden, und als ich hochsah, blickte sie mich ganz komisch an und lachte 'n bisschen. Da hab ich die Nadel und den Faden wieder hingelegt und ganz interessiert dreingeguckt - natürlich war ich auch interessiert. Ich sagte:

„Dreihundert Dollar ist 'n schöner Batzen Geld. Ich wünschte, meine Mutter hätt's. Geht Ihr Mann noch heute Abend los?"

„O ja, mit dem anderen Mann. Er ist in die Stadt gegangen, um ein Boot und noch 'ne Flinte zu leihen. Sie wollen nach Mitternacht zur Insel rüberrudern."

„Aber könnten sie denn nicht besser sehen, wenn sie bis morgen früh warteten?"

„Natürlich. Aber der Schwarze könnte dann auch besser sehen. Nach Mitternacht ist er bestimmt eingeschlafen und im Dunkeln kann man sein Lagerfeuer viel besser sehen - falls er eins hat."

„Ja, daran hab ich nicht gedacht."

Die Frau sah mich immer noch so komisch an und ich fühlte mich gar nicht wohl in meiner Haut. Sie sagte:

„Wie war doch dein Name, mein Kind?" „M-Mary Williams."

Irgendwie schien es mir, als ob ich vorher nicht Mary gesagt hätte; deshalb sah ich auch nicht auf. Hatte ich nicht Sarah gesagt? Ich fühlte mich in die Enge getrieben und wünschte nur, die Frau würde weiterreden; je länger sie schwieg, desto unbehaglicher fühlte ich mich. Endlich sagte sie:

„Kind, sagtest du nicht, als du reinkamst, dein Name war Sarah?"

„O ja, ich heiße nämlich Sarah Mary Williams. Sarah ist mein erster Vorname. Manche nennen mich Sarah und manche Mary." Ich fühlte mich 'n bisschen leichter, aber trotzdem wär ich jetzt doch ganz gern gegangen.

Aber die Frau hatte schon wieder angefangen zu reden. Sie klagte über die schlechten Zeiten und über die Ratten, die so frech wären, als gehörte ihnen das Haus, und so weiter und so fort, und nach und nach hab ich mich nicht mehr so bedrückt gefühlt. Das mit den Ratten stimmte. Von Zeit zu Zeit steckte eine immer ihre Nase aus'm Loch in der Ecke. Die Frau zeigte mir 'ne Bleikugel, die sie mit Garn umwickelt hatte, und sagte, gewöhnlich könne sie ganz gut werfen, aber gestern hätte sie sich grad den Arm verrenkt, und ob ich's nicht mal probieren wollt.

Ich nahm das Ding, und als sich 'ne Ratte zeigte, hab ich ihr sofort eins aufs Fell gebrannt. Die Frau sagte, das wäre großartig fürs erste Mal. Sie stand auf und holte die Bleikugel zusammen mit einem Strang Garn zurück. Ich musste meine Hände hochhalten, und sie streifte das Garn darüber und wickelte. Dann sagte sie:

„Pass auch auf die Ratten auf! Am besten legst du das Blei griffbereit in deinen Schoß."

Sie warf mir die Kugel in den Schoß, ich schlug meine Beine zusammen und fing sie so. Und dann sprach die Frau weiter aber nur für einen Augenblick. Dann nahm sie das Garn von meinen Händen, sah mir gerade, aber ganz freundlich ins Gesicht und sagte:

„Nun sag es mir - wie heißt du wirklich?"

„Wie-wieso?"

„Wie heißt du? Heißt du Bill oder Tom oder Bob? Oder wie?"

Ich glaub, ich hab gezittert wie Espenlaub und wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann hab ich gesagt:

„Warum ziehn Sie 'n armes Mädel wie mich so auf? Wenn ich hier im Weg bin, will ich..."

„Nein, das wirst du nicht. Setz dich nur wieder hin. Ich tue dir bestimmt nichts, und ich werde dich auch nicht verraten. Du erzählst mir nur alles, und ich will versuchen, dir zu helfen. Ich glaube, du bist 'n durchgebrannter Lehrling - sonst nichts. Aber das ist ja auch nicht schlimm. Du bist schlecht behandelt worden und hast dich dann entschlossen durchzubrennen. Kind, ich will dich gewiss nicht verraten. Jetzt sag mir alles - bist auch ein guter Junge."

Ich sagte denn auch, ich hätte eingesehen, dass es keinen Zweck mehr hätte, weiter Theater zu spielen, und deshalb wollte ich ihr alles erzählen. Ich sagte, mein Vater und meine Mutter wären tot, und ich hätte 'nen gemeinen alten Bauern zum Vormund, der mich immer so schlecht behandelt hätte, dass ich's schließlich nicht mehr hätte aushalten können. Deshalb hau ich eines Tages 'n Kleid von seiner Tochter gestohlen und war ausgerissen. Ich sagte, ich glaubte, dass mein Onkel, Abner Moore, mich aufnehmen würde, und deshalb war ich ja auch nach Goshen gekommen.

„Goshen, Kind? Aber dies ist nicht Goshen, dies ist St. Petersburg."

„Oh, dann muss ich aber machen, dass ich wegkomme."

„Gewiss, aber warte noch, bis ich etwas zu essen eingepackt habe. Und dann sag mir erst mal deinen Namen."

„George Peters", antwortete ich.

„Na, versuche, diesen Namen zu behalten, George, und sag mir nicht, du heißt George-Alexander, wenn du gehst. Und mische dich in diesem alten Kattunkleid nicht unter Frauen. Vielleicht fallen die Männer darauf herein, aber die Frauen nicht. Und, mein Kind, wenn du einen Faden einfädeln willst, darfst du nicht den Faden stillhalten und die Nadel bewegen, sondern du musst die Nadel stillhalten und dann den Faden durchziehen. Und wenn du nach einer Ratte wirfst, musst du dich auf deine Zehenspitzen stellen und die Hand so ungeschickt hochhalten, wie du nur kannst; selbstverständlich musst du dann ungefähr 'n halben Meter vorbeiwerfen. Du musst dich auch vorsehen, wenn du irgendetwas in deinem Schoß auffängst. Nur ein Junge schlägt die Beine zusammen, wie du's getan hast; 'n Mädel wirft die Beine auseinander, weil sie's im Rock auffangen will. Und nun geh zu deinem Onkel, Sarah Mary Williams George Alexander Peters, und wenn du mal in Schwierigkeiten gerätst, lass es nur Frau Judith Loftus wissen, die bin ich."

Ungefähr fünfzig Meter bin ich noch weiter am Ufer entlanggegangen, dann lief ich ganz schnell zu der Stelle zurück, wo mein Boot lag. Ich sprang rein und ruderte in größter Eile los.

Den Hut nahm ich ab, er hinderte mich jetzt nur. Als ich ungefähr in der Mitte vom Fluss bin, höre ich die Uhr schlagen; ich halte an und horche. - Elf Uhr! Als ich zur Insel kam, steuerte ich sofort auf meinen alten Lagerplatz los und steckte da aufm trockenen Platz 'n gutes Feuer an.

Dann sprang ich wieder ins Boot und legte mich mächtig ins Zeug, um möglichst schnell zur Höhle zu kommen. Nach fast anderthalb Meilen machte ich mein Boot wieder fest, schlich durch den Wald, kletterte den Hügel rauf und stürzte in die Höhle. Da lag Jim auf dem Boden und schlief ganz fest. Ich weckte ihn und sagte:

„Steh auf und rette dich, Jim! Es ist keine Minute zu verlieren. Sie sind hinter uns her!"

Jim stellte keine Fragen, aber die Art, wie er die nächste halbe Stunde arbeitete, zeigte deutlich, wie erschrocken er war. Bald war alles, was wir auf dieser Welt besaßen, auf dem Floß untergebracht. Wir löschten das Lagerfeuer in der Höhle und zündeten draußen auch keine Kerze mehr an.

Am Ufer sahen wir uns dann erst vorsichtig nach allen Seiten um. Sollte tatsächlich 'n Boot dagewesen sein, so haben wir's bestimmt nicht gesehen, denn bei Sternenlicht sieht man nicht viel. Dann holten wir das Floß raus und trieben im Schatten dahin, immer an der Insel entlang, mäuschenstill, ohne ein einziges Wort.

Räuber auf dem Wrack

Es muss fast ein Uhr gewesen sein, als wir endlich unterhalb der Insel waren; das Floß schien so schrecklich langsam zu sein. Wenn uns ein Boot begegnete, wollten wir in unser Kanu übersteigen, das wir angebunden hatten, und nach dem Illinois- Ufer entwischen. Es war gut, dass es nicht so kam, denn wir hatten nicht daran gedacht, die Flinte ins Boot umzuladen und auch nicht die Angelschnur oder irgendwas zum Essen, wir waren viel zu bange, als dass wir an alles hätten denken können. Es war nicht sehr klug von uns, dass wir alles auf das Floß geladen hatten.

Als der Himmel schon etwas hell wurde, machten wir unser Floß in einer großen Bucht an der Illinois-Seite fest und bedeckten es dann mit abgehauenen Zweigen, so dass es gar nicht auffiel.

Die Fahrrinne des Stromes war hier an der MissouriSeite, deshalb hatten wir auch keine Angst, dass uns jemand aufspüren würde. Wir lagen den ganzen Tag auf der Lauer und beobachteten die Flöße und Dampfschiffe. Dabei erzählte ich Jim jede Einzelheit meiner Unterhaltung mit der pfiffigen Frau.

Als es dunkel wurde, steckten wir unsere Köpfe aus dem Gestrüpp raus und sahen uns um; aber nichts war zu sehen. Jim riss einige der oberen Planken vom Floß ab und baute 'n ganz gemütlichen Wigwam. Wir konnten uns, wenn's regnete, da hineinsetzen und wir konnten auch unsere Sachen darin trockenhalten. In der Mitte des Wigwams schichteten wir Erde auf, fünf oder sechs Zoll hoch, mit einem Rahmen darum herum; so konnten wir bei kaltem oder nassem Wetter ein Feuer anzünden, ohne dass man es von draußen gesehen hätte. Nachdem wir unser Floß so verbessert hatten, fuhren wir weiter. Wir glitten bei Nacht stromab und bei Tage lagen wir in irgendeiner versteckten Bucht und schliefen. Tagelang ging das so.

Jede Nacht kamen wir an Städten vorbei, von denen einige an schwarzen Abhängen lagen. Man sah nur einen schimmernden Streifen Licht. In der fünften Nacht sahen wir St. Louis, und es schien mir, als hätten sich alle Lichter der ganzen Welt hier versammelt.

Jeden Abend gegen zehn Uhr schlich ich an Land und kaufte für zehn oder fünfzehn Cent etwas Mehl oder Speck und was man sonst so isst. Ab und zu ist mir auch 'n Huhn übern Weg gelaufen, das sich gewiss auf seiner Stange nicht wohl fühlte. Mein Alter hat mir immer gesagt, ich könnte 'n Huhn richtig mitnehmen, wenn's mir übern Weg lief, denn wenn man selbst keinen Hunger darauf hätte, könnte man es ja einem anderen geben - 'ne gute Tat würde nie vergessen. Als wir fünf Nächte unterhalb von St. Louis waren, kam nach Mitternacht ein toller Sturm auf, und es goss wie aus Eimern. Wir verkrochen uns in unsern Wigwam und überließen unser Floß sich selbst. Als der Blitz 'n Augenblick aufleuchtete, sahen wir den großen Fluss vor uns und zu beiden Seiten steile Felsen.

Plötzlich sagte ich: „He, Jim, guck doch mal!" Da lag doch wirklich ein Dampfschiff, das auf einen Felsen gelaufen war. Wir trieben genau darauf zu. Im Lichte der Blitze konnten wir ganz deutlich erkennen, dass 'n Teil des Oberdecks aus dem Wasser ragte und dass das Schiff starke Schlagseite hatte. Ich war natürlich mächtig neugierig und wollte gleich an Bord klettern, um 'n bisschen rumzuschnüffeln. Deshalb sagte ich:

„Komm, Jim, wir wollen's uns ansehen!"

Jim war zuerst dagegen, aber schließlich gab er dann doch nach. Wir legten an und krochen auf allen vieren an Deck. Nicht lange danach standen wir vor der offenen Tür der Kapitänskajüte. Aber, ach, du lieber Gott, da drüben brannte ja ein Licht! Im gleichen Augenblick hörten wir leise Stimmen.

Jim flüsterte mir zu, ihm wär nicht wohl und ich sollte mit ihm abhauen, sonst ging's uns sicher dreckig. Ich war sofort einverstanden und wir wollten gerade zurückkriechen, als ich 'ne jammernde Stimme hörte:

„Tut mir doch nichts, Jungs! Ich schwör euch, dass ich euch nicht verrate!"

Eine andere Stimme sagte ziemlich laut: „Du lügst, Jim Turner. Das hast du vorher auch immer gesagt. Immer willst du mehr als deinen Anteil und immer hast du mehr bekommen, weil du gedroht hast, du würdest uns sonst verraten. Aber jetzt ist's genug, hörst du! Du bist der gemeinste, hinterlistigste Hund, den es gibt!"

Unterdessen hatte sich Jim schon verdrückt. Ich selbst platzte fast vor Neugier und dachte, dass Tom Sawyer bestimmt nicht ausgerissen wär, und ich würde es auch nicht tun; ich würde nachsehen, was los wäre. Also rutschte ich auf allen vieren behutsam durch den dunklen kleinen Gang, bis ich in den erleuchteten Raum hineinsehen konnte. Da lag, an Händen und Füßen gefesselt, ein Mann auf dem Fußboden. Zwei Männer standen über ihn gebeugt; der eine trug eine Laterne und der andere hatte eine Pistole in der Hand. Damit zielte er auf den Kopf des Gefesselten und sagte: „Ich möcht's wirklich tun. Dieses gemeine Stinktier!"

Der Mann am Boden krümmte sich und bettelte: „Bitte nicht, Bill! Ich werd's auch nie und nimmer verraten."

„Das ist'n wahres Wort, was du da gesagt hast! - Hör nur, wie er bettelt, Bill! Und wenn wir ihn nicht gefesselt hätten, würde er uns beide umbringen. Und wofür? Für nichts und wieder nichts. Nur weil wir auf unserem Recht bestanden haben. Ich kann dir versprechen, dass du keinem mehr drohen wirst, Jim Turner. Leg die Pistole weg, Bill."

„Gott segne dich dafür, Jake Packard! Ich werd's dir nicht vergessen, bestimmt nicht, solange ich lebe!" schluchzte der Mann am Boden.

Packard schenkte ihm keine Beachtung, hängte seine Laterne an einen Haken und kam im Dunkeln auf die Stelle zu, wo ich versteckt lag, und machte dem Bill ein Zeichen mitzukommen. So schnell ich konnte, krabbelte ich zurück, aber das Schiff lag so schräg, dass ich nicht sehr schnell vorwärts kam. Um nicht überrannt zu werden, bin ich ganz schnell in eine danebenliegende Kabine gekrochen. Aber die beiden Männer kamen mir nach und blieben ausgerechnet vor der Kabine stehen, in der ich mich versteckt hatte, und der Packard sagte:

„Komm hier rein!"

Ich könnt mich nur noch ganz schnell in das obere Bett werfen, da kamen die beiden auch schon rein. Ich saß in der Klemme und verfluchte meinen Leichtsinn, nicht mit Jim zum Floß zurückgegangen zu sein. Sie standen ganz nahe an meinem Bett, legten die Hände auf de" Rand und redeten. Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber doch riechen, denn sie hatten Schnaps getrunken. Ich war froh, dass ich keinen Whisky getrunken hatte; aber ich glaube, sie hätten mich sowieso nicht riechen können, denn die meiste Zeit hab ich meinen Atem angehalten. Nebenbei gesagt: kein Mensch hätte atmen können, wenn er dieser Unterhaltung zugehört hätte. Sie sprachen leise, und sie meinten es ernst! Der Bill wollte den Turner kaltmachen. Er sagte:

„Er hat gesagt, er wird's verpfeifen, und ich weiß, dass er's tut. Selbst wenn wir ihm jetzt noch unseren Anteil gäben, würde es keinen Unterschied mehr machen, nachdem wir ihn so behandelt haben. Ich bin dafür, dass wir ihn kaltmachen."

„Ich bin auch dafür", sagte Packard in aller Ruhe.

„Verdammt, und ich hatte schon gedacht, du wärst dagegen. Na, dann ist ja alles in Ordnung. Dann komm, mit der Geschichte sind wir schnell fertig."

„Warte! Ich habe noch nicht alles gesagt. Hör zu! Erschießen wäre natürlich ganz gut, aber es gibt auch 'ne lautlose Art, wenn's nun mal sein muss. Ich sehe keinen Grund, warum wir uns in Gefahr begeben sollten, wenn's auch anders geht."

„Das stimmt natürlich. Aber wie sollen wir's denn machen?"

„Pass auf und hör dir meinen Plan an: Wir kramen hier noch 'n bisschen in den Kabinen rum und sehen nach, was wir mitnehmen können. Die Beute verstecken wir am Ufer. Dann warten wir, denn in ungefähr zwei Stunden geht dieses Wrack bestimmt unter. Kapiert, er ertrinkt, und niemand anders ist schuld als er selbst. Wenn wir eben drum herumkommen können, sollten wir kein Blut vergießen; es ist so unmoralisch. Hab ich nicht recht?"

„Ich glaub schon. Aber angenommen, dieser Kasten geht nicht unter?"

„Wir können ja noch zwei Stunden warten und aufpassen."

„Gut - gehen wir."

Sie gingen, und ich flitzte aus der Kajüte; in kalten Schweiß gebadet taumelte ich vorwärts. Überall war's ganz dunkel, aber ich hab trotzdem im Flüsterton gerufen: „Jim!" Er antwortete sofort, denn er stand fast direkt neben mir. Ich sagte: „Schnell, Jim, wir haben keine Zeit zu verlieren, wir sind unter 'ne regelrechte Räuberbande geraten. Und wenn wir nicht ganz schnell ihr Boot finden und es stromab treiben lassen, so dass diese Kerls nicht weg können, dann geht's einem von ihnen dreckig. Wenn wir aber ihr Boot finden, dann können wir dafür sorgen, dass es ihnen allen dreckig geht - denn der Sheriff wird sie schon kriegen. Fix, beeil dich! Ich such die Backbord- und du die Steuerbordseite ab. Du fängst am Floß..."

„Ach du lieber Gott, du lieber Gott! Floß? Wir nicht haben Floß mehr - Floß sich haben losgerissen und sein auf und davon!"

Ja, ich bin fast auf den Rücken gefallen, als ich das hörte. Und dann zusammen mit 'ner Räuberbande aufm Wrack! Aber wir durften keine Zeit vertrödeln - wir mussten das Boot finden, um uns zu retten. Zitternd und bebend gingen wir also zur Steuerbordseite, und es schien 'ne Ewigkeit, bis wir endlich da waren. Aber keine Spur von 'nem Boot! Jim sagte, er könne nicht mehr weiter, er hätte solche Angst, dass ihm alle Kraft abhanden gekommen war. „Komm schon!", hab ich gesagt, „wenn wir allein auf diesem Wrack zurückbleiben, sitzen wir in der Tinte."

Wir krabbelten also weiter und plötzlich seh ich die Umrisse von 'nem Boot! Das musste es sein! Gerade will ich reinspringen, da geht 'ne Tür auf! Einer der Männer steckt den Kopf raus - nur 'n halben Meter von mir entfernt, und ich denke schon, jetzt ist's aus - da dreht er sich um und sagt:

„Tu doch die verdammte Laterne weg, Bill!"

Er warf ein Paket ins Boot und setzte sich dann selber rein. Es war Packard. Dann erschien Bill. Packard sagte mit unterdrückter Stimme: „Alles in Ordnung - stoß ab!"

Aber Bill sagte: „Warte - hast du ihn auch gründlich durchsucht?"

„Nein, ich dachte, du hättest es getan."

„Nein. Also hat er seinen Anteil noch!"

„Dann komm mit - es hat keinen Zweck, unnützen Kram mitzunehmen und Geld hierzulassen."

Sie gingen. Die Tür schlug zu und in einer halben Sekunde war ich im Boot, und Jim kam stolpernd hinterdrein. Ich mein Messer rausgezogen und die Leine durchgeschnitten - und ab ging's.

Wir brauchten kein Ruder anzufassen. Mäuschenstill glitten wir dahin, sprachen und flüsterten nicht und atmeten kaum. Eine Minute später lag das Wrack schon hinter uns, die Dunkelheit verschluckte es, und wir wussten, dass wir sicher waren. Dann machten wir uns auf die Jagd nach unserem verlorenen Floß. Aber immer wieder musste ich an die Männer denken.

Wie schrecklich musste es doch selbst für Mörder sein, in so einer Klemme zu sitzen. Ich hab zu mir selbst gesagt, man sollt den Teufel nicht an die Wand malen, vielleicht würde ich selbst mal ein Mörder, und wie würd mir das gefallen, so hoffnungslos allein aufm Wrack zu sitzen und unterzugehen?

Bald begann es zu regnen, und dieses Mal viel schlimmer als vorher. Es goss in Strömen und kein Licht zeigte sich. Beim Schein der Blitze sahen wir plötzlich 'n schwarzes Ding vor uns. Es war unser Floß!

Wir waren mächtig froh, es wiederzuhaben, und luden die Sachen, die die Burschen gestohlen hatten, aufs Floß. Jetzt sah ich ein Licht am Ufer und sagte zu Jim, ich wollte mal nachsehen. Jim sollte noch eine Meile den Fluss runterfahren und dann am Ufer ein Feuer machen und warten, bis ich wieder da wäre.

Ich setzte mich wieder in das Boot und ruderte auf das Licht zu. Beim Näherkommen sah ich, dass es ein ganzes Dorf war. Ich zog die Ruder ein und ließ mich treiben. Plötzlich sehe ich die Laterne von 'nem Fährboot. Ich fahr noch ein Stückchen weiter, mache mein Boot fest und suche dann nach dem Fährmann. Er saß schlafend auf einem Tauknäuel und hatte den Kopf auf die Knie gelegt. Ich hab ihn zwei- oder dreimal angestoßen und dann so getan, als ob ich heulte.

Erschrocken fuhr er auf, als er aber sah, dass ich es war, gähnte er und streckte sich und sagte:

„Was ist denn los? Heul doch nicht so! Was gibt's denn?"

„Vater und Mutter und meine Schwester sind..." Da brach ich ab.

Er sagte: „Nun stell dich nicht so an, jeder hat seine Sorgen. Was ist los mit deinen Eltern?"

„Sie sind - sie sind - sind Sie der Fährmann von diesem Boot?"

„Gewiss", sagt er und schmeißt sich in die Brust. „Ich bin der Kapitän und der Besitzer und der Matrose und der Lotse und der Fährmann, alles zusammen. Manchmal bin ich sogar die Fracht und die Passagiere. Natürlich bin ich nicht so reich wie der alte Jim Hornback und kann mit dem Geld nicht so rumwerfen, wie er's tut. Aber ich hab ihm schon oft gesagt, dass ich nicht mit ihm tauschen würde, denn, hab ich gesagt, für mich gab's nur das Seemannsleben, und ich würd eingehen, wenn ich in der Stadt leben müsste, wo niemals was passiert. Ich hab gesagt..."

Ich hab ihn unterbrochen und gesagt: „Sie sind in großer Not und..."

„Wer?"

„Nun, mein Vater und meine Mutter und die Schwester und Fräulein Hooker; und wenn Sie Ihre Fähre nehmen und dahin fahren..."

„Wohin? Wo sind sie?"

„ Auf dem Wrack."

„Meinst du die >Walter Scott

„Ja."

„Guter Gott! Was, um Himmels willen, tun sie denn da nur?"

„Ja, es war so. Fräulein Hooker hat 'n Besuch in der Stadt gemacht. Gegen Abend wollte sie sich übern Fluss setzen lassen, um bei 'ner Freundin zu übernachten. Auf der Mitte vom Fluss verloren sie aber 'n Ruder, und da hat die Strömung sie gepackt und gegen das Wrack geschleudert und das Boot war gleich zum Teufel. Die Negerin, die das Fräulein bei sich gehabt hat, und auch der Mann, dem das Boot gehörte, sind gleich untergegangen, aber das Fräulein hat sich am Wrack festgehalten und ist raufgeklettert. Ja, ungefähr 'ne Stunde danach, als es schon ganz dunkel war, wollten meine Eltern, meine Schwester und ich auch übern Fluss setzen. Es war so dunkel, wir haben fast nichts gesehen, und da sind wir ganz plötzlich auf das Wrack geknallt. Alle von uns konnten sich retten, nur der Bill Whipple nicht - ach, er war so'n feiner Kerl! Fast wollte ich, ich war an seiner Stelle gewesen."

„Meine Güte! Das ist das tollste Ding, das ich je gehört habe. Und was habt ihr dann getan?"

„Nun, wir haben gebrüllt und gerufen, aber es ist ja so weit draußen, dass uns keiner hören konnte. Deshalb hat mein Vater gesagt, jemand müsste versuchen, an Land zu kommen und Hilfe zu holen. Ich war der Einzige, der schwimmen konnte, und so hab ich's eben versucht. Ungefähr 'ne Meile von hier bin ich an Land gestiegen und hab viele Leute gefragt, ob sie nicht helfen könnten. Aber sie haben gesagt: >Was, in einer solchen Nacht und bei dieser Strömung? Geh zum Fährmann!< - Würden Sie gehen und..."

„Na ja, ich will's ja tun, aber wer wird mich dafür bezahlen? Glaubst du, dass dein Vater... ?"

„Oh, das geht schon in Ordnung. Fräulein Hooker sagte, ihr Onkel Hornback..."

„Donnerwetter! Ist der ihr Onkel? - Hör zu, du gehst jetzt genau auf das Licht dort zu; wenn du dort ankommst, hältst du dich rechts. Ungefähr nach 'ner Viertelmeile kommst du an 'ne Kneipe, da kannst du fragen, wo Jim Hornback wohnt. Und halt dich nirgends auf, sondern erzähle ihm gleich die Neuigkeit. Sag ihm, ich hätt seine Nichte schon in Sicherheit, bevor er zur Stadt käme! Beeil dich jetzt! Ich hole mir nur noch gerade einen zweiten Mann."

Ich ging auf das Licht zu, aber sobald er um die Ecke verschwunden war, lief ich zurück und sprang in mein Boot. Ich ließ es eine Weile treiben und mischte mich dann zwischen einige Holzschiffe. Ich war mächtig zufrieden mit mir selbst, weil ich mir so viel Mühe wegen der Räuberbande gemacht hatte. Andere hätten's bestimmt nicht getan.

Bald kam ich am Wrack vorbei, das inzwischen noch mehr weggesackt war. Mir ist's ganz kalt den Rücken runtergelaufen. Das Schiff war schon ganz tief im Wasser und ich sah gleich, dass, wenn jemand an Bord war, wohl kaum noch Hoffnung für ihn bestand. Ich rief, kriegte aber keine Antwort; alles war totenstill. Ich hab 'n bisschen Mitleid mit der Bande gehabt, aber nicht viel.

Bald kam auch die Fähre und ich bin schnell zur Flussmitte gerudert. Als ich glaubte, außer Sichtweite zu sein, hab ich meine Ruder eingezogen und zugesehen, wie die Fähre nach den Überresten von Fräulein Hooker gesucht hat. Das dauerte 'ne ganze Weile, aber bald haben's die Leute aufgegeben und sind wieder an Land gerudert. Da hab ich mich ins Zeug gelegt und bin den Fluss runtergegondelt.

Es schien 'ne mächtig lange Zeit, bevor ich Jims Licht entdeckte, und selbst dann sah's noch aus, als ob's tausend Meilen weit entfernt war. Als ich endlich dort ankam, wurde der Himmel im Osten schon ein bisschen grau. Jim und ich suchten uns eine Insel, versteckten unser Floß und versenkten das Boot der Räuber. Und dann haben wir uns hingelegt und geschlafen wie zwei Tote.

Wir hofften, in drei weiteren Tagen in Cairo zu sein. Das liegt ganz unten in Illinois, wo der Ohiofluss in den Mississippi mündet. Wir wollten dort unser Floß verkaufen und mit einem Dampfer den Ohio rauffahren, mitten in die freien Staaten hinein. Da wären wir dann ganz sicher.

Abenteuer auf dem Floß

Wir schliefen fast den ganzen Tag und fuhren in der Dunkelheit wieder los. In dieser Nacht kamen wir an eine Stelle, wo der Fluss 'ne starke Biegung machte, und es wurde plötzlich mächtig warm. Der Fluss war hier sehr breit und zu beiden Seiten stand dichter Wald. Wir sprachen über Cairo und fragten uns, ob wir es wohl erkennen würden, wenn wir es am Ufer liegen sähen. Jim meinte, wir würden es bestimmt sofort erkennen, weil bei Cairo ja die beiden großen Flüsse zusammenfließen. Ich hab aber gesagt, dass man das nie so genau sehen könnte - man kann nämlich unter Umständen auch annehmen, man hätte 'ne Insel umschifft. Das hat Jim und auch mich mächtig unruhig gemacht.

Was sollten wir bloß tun? Ich sagte, ich würde ans Ufer rudern, sobald ich 'n Licht sähe, und würde da fragen, wie weit es noch bis Cairo wär. Jim hielt das für 'ne ausgezeichnete Idee, und so kriegten wir unsere Pfeifen raus und rauchten und warteten.

Jetzt hatten wir nichts weiter zu tun, als nach der Stadt Ausschau zu halten. Jim sagte, er wäre ganz sicher, er würde sie sofort erkennen, denn im gleichen Augenblick wär er ja 'n freier Mann. Aber wenn wir sie verpassten, blieb er für immer 'n Sklave. Alle naselang sprang er auf und rief:

„Da sie sein!"

Aber es war immer ein Irrtum; deshalb setzte er sich wieder und hielt unverdrossen weiter Ausguck. Er sagte, es mache ihn ganz zittrig und fiebrig, der Freiheit so nahe zu sein. Na, ich kann nur sagen, es machte mich auch zittrig und fiebrig, wenn ich ihn so reden hörte. Wer war denn schuld daran, dass er schon fast frei war? Doch nur ich! Ich konnte den Gedanken einfach nicht loswerden.

Ich wurde so unruhig, dass ich nicht mehr still sitzen konnte. Ich hab versucht, mir einzureden, dass ich Jim ja nicht angestiftet hatte, seinem Besitzer auszureißen; aber es hatte keinen Zweck, mein Gewissen sagte immer wieder: Aber du hast gewusst, dass er durchgebrannt ist, und du hättest ihn anzeigen müssen! - Und was hatte das arme Fräulein Watson mir eigentlich getan, dass ich mit ansah, wie ihr einziger Nigger davonlief? Ich hab mich so unglücklich gefühlt, dass ich fast wünschte, ich war tot. Aufgeregt lief ich immer auf dem Floß hin und her, und Jim rannte immer hinter mir her. Jedes Mal, wenn er einen Luftsprung machte und rief: „Das sein Cairo!", ging's mir durch und durch.

Jim führte laute Selbstgespräche. Er sagte, er finge sofort an zu sparen, wenn er in dem freien Staat wäre, und nicht einen einzigen Cent gäbe er aus, und wenn er genug hätte, würde er seine Frau freikaufen, die auf einer Farm in der Nähe von Fräulein Watson arbeitete. Und dann würden sie gemeinsam sparen, um auch ihre beiden Kinder loszukaufen.

Es ist mir kalt den Rücken runtergelaufen, als ich so'n Geschwätz hörte. Früher hätte er niemals gewagt, so zu reden. Da sieht man mal wieder, wie wahr das Sprichwort ist: „Wenn du einem Nigger den kleinen Finger gibst, nimmt er die ganze Hand!" Ich sagte zu mir selbst: Das kommt daher, dass ich nicht drüber nachgedacht hab. Lässt dieser Nigger sich einfallen zu sagen, er wolle seine Kinder stehlen, die noch dazu einem Mann gehören, den ich nie im Leben gesehen habe und der mir nie was Böses angetan hat.

Ich hab mich mächtig darüber geärgert, dass Jim das gesagt hat, denn ich hatte es nicht von ihm gedacht. Schließlich hab ich mir gedacht: Es ist ja noch nicht zu spät - sobald ich ein Licht sehe, rudere ich an Land und zeig ihn an. Sofort fühlte ich mich wieder unbeschwert und glücklich. Jetzt spähte ich auch scharf nach Lichtern aus. Dann sah ich eins.

Jim jubelte: „Wir sein da, Huck, wir sein da, das sein gute alte Cairo, ich wissen ganz genau!"

„Ich nehme das Boot und sehe mal nach, Jim. Es kann ja sein, dass dies noch nicht Cairo ist."

Er beeilte sich, das Boot fertigzumachen, und legte dann seinen Mantel für mich auf den Sitz. Er gab mir den Riemen, und als ich abstieß, rief er:

„Bald ich werden weinen vor Freude, und dann ich werden sagen, dass ich haben zu danken alles nur Huck. Jim niemals werden vergessen guter Huck; du sein gewesen die beste Freund, Jim haben gehabt."

Da ruderte ich nun also und wollt ihn verraten! Und plötzlich kam ich nur noch ganz langsam vorwärts und wusste gar nicht mehr recht, ob ich ihn anzeigen sollte oder nicht. Als ich schon ein paar Meter weit weg war, rief Jim:

„Da fährt der lieber alter Huck; er sein der einzige weiße Mann, der nie verraten hat alte Jim."

Mir war sterbenselend zumute, aber ich hab mir gesagt, dass ich es tun müsse. Plötzlich kam 'n Boot auf mich zu, mit zwei Männern, die Gewehre bei sich hatten. Als sie hielten, hielt ich auch, und der eine sagte:

„Was ist das da hinten?"

„'n Floß", sagte ich.

„Gehört es dir?"

„Ja, Herr."

„Sind Männer drauf?"

„Nur einer, Herr."

„Heute Nacht sind fünf Nigger ausgerissen. Ist dein Mann weiß oder schwarz?"

Ich konnte nicht sofort antworten, ich hab's versucht, aber die Kehle war mir wie zugeschnürt. Ich wollte sagen, dass Jim schwarz war, aber irgendwie könnt ich's nicht. Ich sagte:

„Er ist weiß."

„Hm - wir werden selbst nachsehen."

„Das war wirklich fein", sagte ich, „denn Vater ist darauf, und Sie könnten mir vielleicht helfen, das Floß an Land zu ziehen. Er ist nämlich krank - und Mutter auch und Marianne."

„Teufel, wir haben keine Zeit, Junge! Aber wir müssen's ja wohl tun. Komm mit."

Als wir zwei oder drei Schläge gemacht hatten, sagte ich: „Vater wird Ihnen ja mächtig dankbar sein. Alle rennen gleich weg, wenn ich sie bitte, mir zu helfen, und ich kann das Floß doch nicht allein ans Ufer ziehen."

„So 'ne Gemeinheit! Aber es ist doch irgendwie komisch. Sag, Junge, was ist denn mit deinem Vater los?"

„Er hat - nun, es ist fast gar nichts."

Sie hörten auf zu rudern. Es war gar nicht mehr weit bis zum Floß. Der eine sagte: „Junge, du lügst. Was hat dein Vater? Antworte!"

„Ich will's ja sagen, Herr, aber lassen Sie uns nicht im Stich! Bitte, rudern Sie doch weiter, Sie brauchen dem Floß ja nicht so nahe zu kommen."

„Zurück, John, zurück!" rief der eine. „Bleib uns vom Halse, Junge. Verdammt noch mal, ich glaub, der Wind bläst gerade hierher! Warum hast du nicht gleich gesagt, dass dein Vater die Blattern hat? Willst du, dass wir uns alle anstecken?"

„Ach je", heulte ich laut, „jeder, dem ich's erzählt hab, ist ja gleich fortgelaufen!"

„Na ja, man kann's ihnen ja auch nicht verdenken. Es tut uns wirklich mächtig leid für dich, aber siehst du, wir wollen die Blattern nicht haben. Pass auf, ich sag dir, was du jetzt tust: Rudere ungefähr zwanzig Meilen den Fluss runter, dann kommst du zu 'ner Stadt, sie liegt auf der linken Seite vom Fluss. Wenn du Hilfe holst, sagst du den Leuten, deine Familie hätte Fieber. Sei nicht wieder so dumm, den Leuten zu verraten, was wirklich los ist. Ich glaub, dein Vater ist arm, hat ja auch wirklich Pech gehabt. Ich leg dir ein Zwanzigdollarstück auf dies Brett, das nimm dir, wenn es vorbeitreibt."

„Warte noch, Parker", sagte jetzt der andere Mann, „leg dieses Zwanzigdollarstück noch dazu. Leb wohl, Junge, und tu so, wie Herr Parker dich geheißen hat."

Sie ruderten weg, und ich kletterte in unser Wigwam. Aber Jim war nicht da. Ich sah überall nach, konnte ihn aber nicht finden. Ich rief: „Jim!"

„Hier ich sein, Huck. Sein sie fort? Du nicht sprechen laut!"

Er war im Wasser, genau unter dem Steuerruder, und nur seine Nase guckte raus. Ich sagte ihm, dass sie weg wären und dass er wieder aufs Floß kommen könnte.

„Ich haben alles mit angehört und sein gesprungen in die Fluss, um zu schwimmen an Land. Du sie haben aber mächtig angeschmiert, Huck, und alter Jim dir nie wird das vergessen, Kind."

Dann haben wir uns erst mal über das Geld gefreut. Es hat unserer Kasse einen mächtigen Aufschwung gegeben. Jim sagte, wir könnten jetzt ja mit einem Dampfer weiterfahren, und mit so viel Geld könnten wir kreuz und quer durch die freien Staaten gondeln. Er meinte, noch zwanzig Meilen mit dem Floß wären ja nicht viel, aber er möchte doch sehr gern bald da sein.

Gegen Morgen legten wir an, und diesmal versteckte Jim das Floß besonders gut. Dann schuftete er den ganzen Tag, knüpfte alles, was wir hatten, in Bündeln zusammen und machte sich fertig, dass Floß zu verlassen.

Um zehn Uhr abends sahen wir auf der linken Seite Lichter. Ich kletterte ins Boot, um mich zu erkundigen, und fand auch bald einen Mann, der in einem Boot saß und angelte. Ich fragte ihn:

„Herr, ist diese Stadt Cairo?"

„Cairo? - Nein, du bist wohl verrückt!"

„Wie heißt diese Stadt denn, Herr?"

„Wenn du's wissen willst, geh doch selbst und sieh nach! Und wenn du mich jetzt noch länger belästigst, kriegst du was, was dir bestimmt nicht angenehm ist."

Ich ruderte zum Floß zurück. Jim war schrecklich enttäuscht, aber ich hab ihm gesagt, die nächste Stadt war vielleicht Cairo.

Wir fuhren weiter und kamen an 'ner anderen Stadt vorbei und ich wollte wieder nachfragen. Aber Jim sagte, das könnte Cairo gar nicht sein, Cairo läge nicht so hoch. Das hatte ich ganz vergessen. Wir haben wieder angelegt, denn ich hatte plötzlich einen bestimmten Verdacht, und Jim auch. Ich sagte:

„Vielleicht sind wir im Nebel an Cairo vorbeigefahren."

„Du nicht reden darüber, Huck. Arme Nigger nie haben Glück. Aber ich immer haben gesagt, dass Schlangenhaut noch nicht fertig ist mit Unglück."

„Ich wünschte, ich hätt die Schlangenhaut nie gesehen, Jim - ich wünschte, ich hätt sie nie angefasst"

„Du nicht konnten wissen, es bringen Unglück, Huck. Du nicht haben Schuld."

Zwei oder drei Tage und Nächte verstrichen; ich kann fast sagen: sie schwammen vorbei - so ruhig und still und schön waren sie. Der Fluss war jetzt an einigen Stellen anderthalb Meilen breit und wir fuhren nur des Nachts, bei Tage versteckten wir unser Floß und schliefen. Sobald es Nacht war, fuhren wir wieder los; wenn wir dann in der Flussmitte waren, ließen wir das Floß mit der Strömung treiben. Wir zündeten unsere Pfeifen an, ließen unsere Beine im Wasser baumeln und redeten über alle möglichen Dinge.

Es ist wunderschön, auf einem Floß zu leben. Manchmal legten wir uns auf den Rücken und betrachteten den Himmel, der übersät war mit Sternen, und dann haben wir uns darüber unterhalten, ob sie wohl jemand gemacht hat oder ob sie ganz einfach schon immer dagewesen sind. Jim meinte, vielleicht hätte der Mond sie gelegt, und das hat mir irgendwie eingeleuchtet; ich hab nämlich schon Frösche gesehn, die fast genau so viel gelegt haben.

Eines Morgens nahm ich unser Boot und machte mich auf den Weg nach einem nahen Zypressenwald, um dort Beeren zu suchen. Wie ich grade an so 'ner Art Kuhpfad entlangrudere, kommen da plötzlich zwei Männer angerannt. Ich dachte schon, jetzt war alles aus, denn die beiden waren doch sicher hinter mir oder Jim her. Ich wollte mich schon gerade eiligst davonmachen, als sie mich anflehten und bettelten, ich sollte ihnen das Leben retten - sie sagten, sie hätten gar nichts getan und würden trotzdem von Hunden und Männern verfolgt. Sie wollten gleich in mein Boot springen, aber da hab ich gesagt:

„Warten Sie 'nen Augenblick. Ich kann noch keine Hunde und Pferde hören. Sie haben noch Zeit, ein kleines Stück das Ufer entlangzulaufen und dann durchs Wasser zu mir zu waten, dann verlieren die Hunde Ihre Spur."

Sie taten's, und sobald sie im Boot waren, bin ich zum Floß zurückgerudert. Ungefähr zehn Minuten später hörten wir weit entfernt Hunde und auch Männer, die riefen; wir konnten sie aber nicht sehen. Und als wir schließlich an unserem Floß ankamen, war alles wieder still. Wir versteckten uns hinter dem Uferwäldchen und waren nun sicher. Einer der Burschen, die ich gerettet hatte, war so an die siebzig oder noch älter und hatte einen ganz kahlen Kopf und 'nen grauen Backenbart. Er trug einen alten, abgetragenen Schlapphut und ein dreckiges Wollhemd. Die Enden von seiner zerrissenen blauen Hose hatte er in die Stiefel gestopft, und dann hatte er noch selbstgestrickte Hosenträger - nee, nur einen. Über dem Arm trug er 'nen alten, langen Mantel mit glatten Messingknöpfen. Der andere Kerl war ungefähr dreißig und 'n bisschen moderner angezogen. Beide Männer hatten große verschlissene Reisetaschen bei sich.

Nach dem Frühstück streckten wir uns alle im Gras aus und redeten, und das erste, was rauskam, war, dass sich die beiden gar nicht kannten.

„Was haben Sie denn verbrochen?", fragte der Kahlköpfige den anderen.

„Nun, ich bin rumgereist und hab ein Mittel verkauft, das den Zahnstein von den Zähnen entfernen soll - und es tat's ja auch wirklich, nur entfernte es manchmal auch den Schmelz. Aber ich bin eine Nacht länger im Ort geblieben, als ich eigentlich sollte, und wollte mich gerade davonmachen, als ich Sie traf und Sie mir sagten, dass man hinter Ihnen her wäre. Da ich aber selbst gefürchtet habe, dass ich Scherereien kriegen könnte, bin ich eben mit Ihnen weggerannt. Das ist alles und wie steht's mit Ihnen?"

„Nun, ich habe ungefähr eine Woche Versammlungen für Alkoholgegner abgehalten, und ich kann Ihnen nur sagen, ich war der Liebling aller Frauen, Jung und Alt. Pro Nacht habe ich manchmal fünf oder sechs Dollar eingenommen - zehn Cent pro Kopf, Kinder und Nigger Eintritt frei -, das Geschäft wuchs und wuchs, bis es sich so'n bisschen rumsprach, dass ich ab und zu mal 'n Schluck aus meiner Whiskyflasche nehme. Ein Nigger hat mich heute morgen geweckt und mir gesagt, die Leute versammelten sich schon mit ihren Hunden und Pferden und sie würden bald da sein. Ich hab nicht mehr aufs Frühstück gewartet, ich hatte keinen Hunger mehr."

„Mensch", sagte der Jüngere, „ich glaube, wir sollten gemeinsam was unternehmen! Was meinen Sie?"

„Ich bin nicht abgeneigt - was ist Ihr Hauptberuf?"

„Drucker; ich fabriziere aber auch Arzneien und verstehe etwas von Heilkuren durch Magnetismus und Schädelkunde. Bin manchmal auch Schauspieler -Tragöde, verstehen Sie. Ich gebe Gesangs- und Geografiestunden in Schulen und halte Vorträge. - Oh, ich beschäftige mich mit allem, was mir so gerade über den Weg läuft, und es ist also eigentlich keine Arbeit. Und was tun Sie?"

„Ich hab viel gedoktert, als ich noch jünger war. Besondere Erfolge hatte ich mit Handauflegen bei Krebs und Lähmungen und solchen Sachen. Ich kann auch die Zukunft voraussagen, wenn mir jemand vorher ein bisschen über die Person erzählt."

Für eine Weile sagte niemand etwas, dann seufzte der jüngere Mann auf und sagte: „Jaja!"

„Warum stöhnen Sie?", fragte der Kahlkopf.

„Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich mich einmal in einer solchen Gesellschaft befinden würde." Und er wischte sich die Augen.

„Sie Dummkopf, ist Ihnen die Gesellschaft nicht gut genug?", fragte der Kahlkopf frech und anmaßend.

„Ja, sie ist gut genug für mich, sie ist so gut, wie ich sie verdiene. Denn wer anders als ich selbst hat mich aus meiner Höhe heruntergerissen? Ich verdiene dies alles ja. Lass die kalte Welt mir das Schlimmste antun -eins weiß ich genau: irgendwo ist auch für mich ein Grab. Die Welt mag mir alles nehmen, meinen Besitz, meine Lieben, alles, aber das kann sie mir nicht nehmen." Und wieder wischte er sich die Augen.

„Zum Teufel, wir haben Ihnen doch nichts getan! ", sagte der Kahlkopf.

„Nein, ich weiß, ich mache Ihnen ja auch keine Vorwürfe, meine Herren. Ich war es ja selbst, der mich so heruntergebracht hat."

„Heruntergebracht wovon?"

„Ach, Sie würden mir doch nicht glauben - die Welt glaubt mir ja nie. Das Geheimnis meiner Geburt..."

„Das Geheimnis Ihrer Geburt? Wollen Sie damit sagen... "

„Meine Herren", sagte der junge Mann jetzt sehr feierlich, „ich will mein Geheimnis lüften, da ich glaube, dass ich Ihnen Vertrauen schenken darf. Von Rechts wegen bin ich ein Herzog!"

Jims Augen wurden kugelrund und ich glaube meine auch. Dann sagte der Kahlkopf:

„Nein, das stimmt doch nie und nimmer!"

„Doch! Mein Urgroßvater, der älteste Sohn des Herzogs von Bridgewater, floh gegen Ende des Jahrhunderts in dieses Land, um hier die reine Luft der Freiheit zu atmen. Er heiratete, starb und hinterließ einen Sohn; sein Vater in Europa starb um die gleiche Zeit. Nun eignete sich der zweite Sohn des gestorbenen Herzogs Titel und Güter an und der erstgeborene Sohn, der wirkliche Herzog, wurde übergangen. Und ich bin der direkte Nachkomme dieses Herzogs - ich bin der Herzog von Bridgewater. Hier bin ich nun also, ausgestoßen und verloren, verachtet von der kalten Welt und zu der Gesellschaft von Schwerverbrechern auf einem Floß verdammt."

Jim und ich bemitleideten ihn natürlich sehr. Wir versuchten, ihn zu trösten, aber es hatte nicht viel Zweck; er sagte, das Einzige, was wir tun könnten, wäre, ihn anzuerkennen. Wir haben gesagt, wir wollten's tun, wenn er uns nur sage, wie man's macht. Er sagte, wir müssten uns verbeugen, wenn wir mit ihm sprächen, und ihn mit „Euer Gnaden" oder „Eure Hoheit" ansprechen - es mache ihm auch nichts aus, wenn wir ihn einfach mit „Bridgewater" ansprächen. Und einer von uns solle ihm bei Tisch aufwarten und ihn auch sonst bedienen.

Nun, das war ja leicht, und so haben wir's auch getan. Während des Essens stand Jim hinter ihm, wartete ihm auf und sagte: „Will Euer Gnaden haben von dies oder das?", und jeder konnte sehen, wie wohl es ihm tat.

Aber der alte Mann wurde immer stiller, und das Getue um den Herzog schien ihm gar nicht zu passen. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben und sagte am Nachmittag:

„Hören Sie zu, Bridgewater, Sie tun mir ja wirklich sehr leid, aber Sie sind nicht der Einzige, dem es so ergangen ist."

„Nein?"

„Nein, Sie sind nicht der Einzige, der das Geheimnis seiner Geburt zu lüften hat."

Und er fing tatsächlich an zu heulen.

„Was meinen sie nur?"

„Bridgewater, kann ich Ihnen vertrauen?", fragte der alte Mann, immer noch schluchzend.

„Bis zum bitteren Tode."

Er nahm die Hand des Alten, drückte sie und sagte: „Und nun das Geheimnis Ihrer Geburt, sprechen Sie!"

„Bridgewater, ich bin der selige Dauphin!"

Ich kann nur sagen, dass Jim und ich diesmal regelrecht erschrocken waren. Dann fragte der Herzog: „Was sind Sie?"

„Ja, mein Freund, es ist wahr, Ihre Augen sehen in diesem Moment auf den armen verschollenen Dauphin Ludwig XVII., Sohn von Ludwig XVI. und Marie Antoinette."

„Sie! In Ihrem Alter! Sie meinen wohl, Sie wären der selige Karl der Große; Sie müssen doch bestimmt schon sechs- oder siebenhundert Jahre alt sein."

„Es ist der Kummer, Bridgewater, nur der Kummer. Sorgen haben meine Haare grau gefärbt und mich frühzeitig kahlköpfig werden lassen. Ja, meine Herren, Sie sehen tatsächlich den verstoßenen, rechtmäßigen König von Frankreich vor sich."

Und jetzt heulte er so sehr, dass Jim und ich gar nicht mehr wussten, was wir tun sollten; denn er tat uns sehr leid, und wir waren mächtig stolz, ihn auf unserem Floß zu haben. Deshalb versuchten wir, ihn zu trösten, aber er sagte, es hätte keinen Zweck; am liebsten wäre er tot und hätte alles hinter sich. Allerdings täte es ihm manchmal wohl, wenn ihn die Menschen seinem Rang entsprechend behandelten. So sollten wir zum Beispiel das Knie beugen, wenn wir mit ihm sprächen, und ihn mit „Majestät" anreden.

Jim und ich hofierten ihn jetzt sehr, wir taten dies und das für ihn und standen so lange, bis er uns erlaubte, uns hinzusetzen. Dies tat ihm mächtig wohl und er fühlte sich ganz behaglich und glücklich. Der Herzog aber tat sauer, als er sah, wie sich die ganze Sache machte; der König jedoch war sehr freundlich zu ihm und sagte, dass man des Herzogs Urgroßvater und überhaupt alle Herzöge von Bridgewater sehr gern im königlichen Palast gesehen hätte. Aber der Herzog schien noch immer beleidigt; schließlich sagte der König: „Da wir nun wahrscheinlich eine ganze Weile auf diesem Floß zusammen sein werden, Bridgewater, hat es doch wirklich keinen Zweck, sauer zu sein. Es ist ja nicht meine Schuld, dass ich nicht als Herzog geboren bin, und es nicht Ihre Schuld, dass Sie kein König sind. Weshalb soll man sich also aufregen? So, geben Sie mir Ihre Hand, Herzog, und lassen Sie uns Freunde sein!"

Der Herzog tat's, und Jim und ich waren mächtig froh, als wir's sahen, denn es war doch 'ne scheußliche Sache gewesen, wenn wir Streitigkeiten auf dem Floß gehabt hätten.

Nun, es dauerte nicht lange, bis ich rauskriegte, dass diese Lügner weder König noch Herzog, sondern nur heruntergekommene Betrüger waren. Aber ich habe nichts gesagt, sondern alles für mich behalten; 's ist immer am besten so, dann hat man auch keinen Ärger und keine Scherereien.

Die beiden Betrüger

Sie fragten uns 'ne ganze Menge und wollten wissen, weshalb wir das Floß bei Tage versteckten, anstatt zu fahren - ob Jim etwa ein entlaufener Neger wäre? Da sagte ich:

„Du meine Güte, würde 'n ausgerissener Neger nach Süden fahren?" Das sahen sie ein, aber ich musste die Sache ja einigermaßen einleuchtend machen und sagte deshalb:

„Meine Familie hat in Pike Country, in Missouri, gelebt, und da bin ich auch geboren. Sie sind alle gestorben außer Vater und meinem Bruder Ike. Deshalb wollte mein Vater alles aufgeben und zu unserem Onkel Ben ziehen, der ungefähr vierund vi erzig Meilen entfernt von Orleans wohnt. Mein Vater war ziemlich arm und hatte Schulden, und als er die beglichen hatte, blieben uns nur sechzehn Dollar und unser Neger Jim. Das reichte natürlich nicht für'n Dampfer. Ja, und als der FIuss stieg, hatte Vater eines Tages 'ne Glückssträhne - er ergatterte dieses Floß. Also wollten wir mit dem Floß nach Orleans fahren.

Aber Vaters Glück hielt nicht an; eines Nachts rammte ein Dampfer das vordere Ende des Floßes, und wir sprangen alle über Bord. Jim und ich sind wieder hochgekommen, aber Vater war betrunken, und Ike war erst vier Jahre alt. Wir haben sie nie mehr gesehen.

Ja, und in den nächsten Tagen hatten wir Scherereien, weil alle Leute glaubten, Jim war ein entlaufener Neger, und sie wollten ihn mir wegnehmen. Deshalb fahren wir seitdem nicht mehr tagsüber - des Nachts stört uns niemand."

Der Herzog sagte: „Lasst mich nur mal nachdenken -ich werde irgendwas erfinden, damit wir auch bei Tage fahren können. Aber es ist wohl am Besten, wenn wir nicht bei Tageslicht an dieser Stadt dort unten vorbeifahren - es könnte Unannehmlichkeiten geben."

Gegen Abend krochen der Herzog und der König in unsern Wigwam, um nachzusehen, wie die Betten waren. Der König sagte mir noch, wir sollten ja gut aufpassen, dann legten sich die beiden zur Ruhe.

Beim ersten Tageslicht versteckten wir wieder unser Floß. Nach dem Frühstück holte der König ein dreckiges altes Kartenspiel raus und er und der Herzog spielten eine Weile. Bald hatten sie aber keine Lust mehr und legten sich einen Schlachtplan zurecht, wie sie es nannten.

Der Herzog holte aus seiner Reisetasche 'ne Masse kleiner gedruckter Karten und las sie laut vor. Auf einer Karte stand: „Der berühmte Doktor Armand de Montalban von Paris wird einen Vortrag über Schädelkunde und Charakter halten an dem und dem Ort und dem Tag, zehn Cent Eintritt." Der Herzog sagte, der Doktor wäre er. Auf einer anderen Karte hieß es, er wäre der „weltberühmte ShakespeareSchauspieler Garrick der Jüngere aus London." Auf den nächsten Karten standen noch 'ne Masse andere Namen, und er hatte auch hier angeblich die wundervollsten Dinge getan, zum Beispiel Wasser und Gold mit 'ner Wünschelrute gefunden, hatte Verhexte von ihrem Bann befreit und so weiter. Schließlich sagte er:

„Aber die Muse der Schauspielkunst ist mir die liebste. Haben Sie jemals die Bretter betreten, Majestät?"

„Nein", sagte der König.

„Aber Sie werden es tun, noch bevor Sie drei Tage älter sind, gestürzte Hoheit", sagte der Herzog. „In der ersten Stadt, an der wir anlegen, werden wir einen Saal mieten und den Schwertkampf aus >Richard III. < und die Balkon-Szene aus >Romeo und Julia< aufführen. Wie gefällt Ihnen das?"

„Oh, ich bin natürlich dabei, wenn sich etwas bezahlt macht, Bridgewater, aber sehen Sie, ich verstehe nichts vom Theaterspielen und habe auch nie viel davon gesehen. War noch zu klein, als mein Alter so was im Palast aufführen ließ. Glauben Sie, dass Sie's mir beibringen können?"

„Mit Leichtigkeit."

„Gut, dann wollen wir doch gleich anfangen, es ist sonst so langweilig hier." Dann erzählte ihm der Herzog, wer Romeo war und wer Julia war, und er sagte, er spiele immer den Romeo, also solle der König Julia übernehmen.

„Aber wenn die Julia doch ein junges Mädchen ist, Herzog, wirken dann mein Bart und mein kahler Kopf nicht ein bisschen ungewöhnlich?"

„Machen Sie sich nur keine Sorgen deshalb. Diese Bauerntölpel werden das gar nicht merken. Und nebenbei sind Sie ja auch im Kostüm, und das macht fast alles aus. Julia steht auf dem Balkon und genießt den Mondschein, ehe sie zu Bett geht, und sie hat natürlich ein Nachthemd an und eine gekräuselte Nachthaube auf dem Kopf. Hier sind die Kostüme."

Der König war zufrieden, und der Herzog holte 'n Buch raus und fing an, wahnsinnig geschwollen daherzureden; dabei fuchtelte er wild mit den Armen, um zu zeigen, wie's gemacht wird. Dann gab er dem König das Buch und befahl ihm, seine Rolle auswendig zu lernen.

Drei Meilen weiter kamen wir an ein kleines Dorf, und nach dem Essen sagte der Herzog, er hätte jetzt 'n Plan ausgeknobelt, wie wir auch bei Tage fahren könnten, ohne dass es für Jim gefährlich werden würde. Er würde also in das Dorf gehen und die Sache in Ordnung bringen. Der König wollte mitgehen, um zu sehen, was es für ihn zu tun gäbe, und da uns der Kaffee ausgegangen war, meinte Jim, ich solle das Boot nehmen und welchen holen.

Als wir im Dorf ankamen, war kein Mensch auf der Straße, es war alles so still wie am Sonntag. Schließlich fanden wir 'n kranken Nigger, der sich auf einem Hinterhof sonnte, und der sagte uns, dass alles, was nicht zu jung oder zu alt oder zu krank war, zur Missionskundgebung gegangen war, die ungefähr 'ne Meile von hier im Walde abgehalten würde. Der König ließ sich von dem Nigger den Weg beschreiben und ich durfte mitgehen.

Der Herzog sagte, er wolle erst 'ne Druckerei finden. Wir fanden auch eine, die über 'ner Zimmermannswerkstatt lag. Alle Türen waren unverschlossen, obwohl auch die Drucker und Zimmerleute zur Kundgebung gegangen waren. Der Herzog zog seinen Mantel aus und sagte, jetzt war alles in Ordnung. Er blieb, und der König und ich machten uns auf den Weg zu der Versammlung.

Wir kamen nach 'ner halben Stunde da an und waren nass zum Auswringen, denn es war ein mächtig heißer Tag. Es waren mindestens tausend Leute da, und der Wald war voll von Pferdegespannen und Wagen. Da standen aus Stangen und Zweigen erbaute Zelte, wo man Limonade und Süßigkeiten und Wassermelonen und all so'n Zeugs kaufen konnte.

Die Predigten wurden unter 'ner ähnlichen Art von Zelten gehalten, die nur größer waren und mehr Menschen fassten. Die Prediger standen auf 'ner Art Podium an einem Ende vom Zelt. Die Frauen trugen Sonnenhüte, und 'n paar junge Männer waren barfuß. Als wir zum ersten Zelt kamen, sprach der Prediger gerade die ersten beiden Zeilen eines Chorais vor; alle sangen sie nach, und es war irgendwie großartig, wenn man's hörte, denn es waren viele Leute da. Dann sagte er wieder zwei Zeilen vor - und so weiter. Die Leute sangen immer lauter und schließlich brüllten sie fast.

Dann fing der Mann an zu predigen, und er tat es sehr ernsthaft, denn er lief immerzu auf dem Podium herum, dann lehnte er sich darüber und wedelte mit Händen und Füßen und donnerte seine Worte nur so in die Gegend. Und ab und zu hat er die Bibel genommen, sie hoch über seinem Kopf geschüttelt und gebrüllt: „Dies ist die eherne Schlange in der Wüste, schauet auf sie, auf dass ihr lebet!" Und das Volk brüllte: „Amen!"

Und so ging das weiter, man konnte kaum noch verstehen, was der Prediger sagte, denn jetzt riefen und weinten alle durcheinander. Viele Leute standen auf und bahnten sich ihren Weg durch die Menge zu den Büßerbänken, mit tränenüberströmten Gesichtern sangen und schrien sie.

Ja, und plötzlich musste ich doch feststellen, dass der König mitgerissen wurde; man konnte seine Stimme deutlich raushören. Und dann lief er zum Podium und bat den Prediger, zu den Leuten sprechen zu dürfen.

Er schrie ihnen zu, er wäre seit dreißig Jahren ein Pirat im Indischen Ozean gewesen. Da er im letzten Frühjahr bei einem Kampf viele Männer verloren hätte, war er jetzt zurückgekommen, um neue Leute anzuwerben. Glücklicherweise wär er aber gestern ausgeraubt worden und von 'nem Mississippi-Dampfer ohne einen Cent in dieses Dorf gekommen. Er sagte, er wär sehr froh darüber, denn seit heute wär er ein völlig verwandelter Mensch.

Aber er wolle keine Zeit verlieren und sich sofort wieder aufmachen zum Indischen Ozean, und den Rest seines Lebens wolle er damit zubringen, die anderen Piraten wieder auf den rechten Weg zu bringen. Er hätte zwar kein Geld, und es würde 'ne lange Zeit dauern, bis er da wäre, aber irgendwie würde, er's schon schaffen. Und jedes Mal, wenn er 'n Piraten überzeugt hätte, würde er ihm sagen: „O nein, danke nicht mir, sondern den lieben und edlen Leuten der Pokeville-Kundgebung und ihrem verehrten Prediger hier, dem wahrsten Freund, den ein Pirat jemals gehabt hat."

Und dann fing er an zu heulen, und alle heulten mit. Plötzlich rief jemand: „Sammelt für ihn! Sammelt für ihn!" Ja, und ein halb Dutzend Leute wollten's schon tun, als jemand schrie: „Nein, er soll selbst mit dem Hut rumgehen!" Und schließlich schrien's alle, auch der Prediger.

Und der König ging mit dem Hut durch die Menge, wischte seine Augen und segnete die Leute und dankte ihnen, dass sie so gut zu den fernen Piraten wären. Manchmal kam auch ein süßes Mädel zu ihm, dem die Tränen übers Gesicht liefen, und bat, ihn küssen zu dürfen - zur Erinnerung. Er erlaubte es jedes Mal, und manche Mädels küsste und drückte er fast fünf- oder sechsmal.

Als wir zum Floß zurückkamen und er sein Geld zählte, fand er raus, dass er achtundsiebzig Dollar und fünfundsiebzig Cent eingesammelt hatte. Und dann hatte er auch noch 'nen Zwölfliter-Krug mit Whisky geklaut, der unter 'nem Wagen gelegen hatte. Der König sagte, rund gerechnet war's der größte Erfolg, den er je beim Missionieren erlebt hätte.

Der Herzog hatte geglaubt, auch 'nen guten Erfolg gehabt zu haben, aber als er das ganze Geld vom König sah, glaubte er das nicht mehr so recht. Er hatte für 'nen Bauern zwei kleine Druckarbeiten erledigt und sich dafür vier Dollar bezahlen lassen.

Dann hatte er Zeitungsanzeigen angenommen, die zehn Dollar wert waren, aber er hatte sie ihnen für vier Dollar gelassen, weil sie im voraus bezahlt hatten. Alles in allem hatte er neuneinhalb Dollar eingenommen.

Dann zeigte er uns noch 'ne andere kleine Druckarbeit, die er gemacht hatte, weil sie für uns war. Es war ein Bild von 'nem entlaufenen Neger, der 'n Bündel an einem Stock über der Schulter trug, und darunter stand „200 Dollar Belohnung". Dann folgte noch 'ne Beschreibung, die haarklein auf Jim passte. Es hieß, er war letzten Winter von der St. -Jacques-Plantage unterhalb von New Orleans weggelaufen und hätte sich wahrscheinlich nach Norden gewandt. Derjenige, der ihn zurückbrächte, kriegte die Belohnung.

„Wenn wir wollen, können wir jetzt auch bei Tage mit dem Floß fahren", sagte der Herzog. „Wenn jemand kommt, können wir Jim ja fesseln und ihn in den Wigwam legen. Dann zeigen wir dieses Plakat und sagen, wir hätten ihn gefangen und führen jetzt nach Orleans, um die Belohnung einzuheimsen."

Wir alle sagten, dass das 'ne gute Idee vom Herzog wär und wir hätten sicherlich keine Scherereien, wenn wir auch bei Tage fahren würden. Aber es wär doch wohl besser, wenn wir uns jetzt aus dem Staube machten, den der Herzog mit seinen Druckarbeiten bestimmt aufgewirbelt hätte.

Bis gegen zehn Uhr haben wir uns ganz still verhalten, und erst dann sind wir losgefahren. Unsere Laterne haben wir erst angezündet, als wir ziemlich weit vom Dorf weg waren.

Als Jim mich rief, damit ich gegen vier Uhr morgens die Wache übernähme, sagte er: „Huck, du glauben, wir werden treffen mehr Könige auf diese Fahrt?"

„Nein", hab ich gesagt, „das glaube ich nicht."

„Oh", hat er gesagt, „das sein gut. Ich nichts haben gegen eins oder zwei Königs, aber das sein genug. Unser König sein mächtig betrunken, und der Herzog sein nicht viel besser."

Jim erzählte mir auch noch, er hätte den König dazu zu bringen versucht, mal französisch zu reden; er hätte endlich wissen wollen, wie's sich anhört. Aber der König hätte gesagt, er wär schon seit so langer Zeit in unserem Land und 's wär ihm so dreckig ergangen, dass er's vergessen hätte.

Die Sonne war schon aufgegangen, aber wir fuhren einfach weiter und legten nicht an. Schließlich krochen auch der König und der Herzog aus dem Wigwam. Sie sahen ziemlich mürrisch aus; nachdem sie aber ins Wasser gesprungen waren und sich so'n bisschen erfrischt hatten, fühlten sie sich wieder besser. Nach dem Frühstück setzte sich der König auf eine Ecke vom Floß, zog seine Schuhe aus, krempelte seine Hosen hoch und ließ dann seine Beine behaglich im Wasser baumeln. Danach zündete er seine Pfeife an und fing an, seinen Teil aus >Romeo und Julia< auswendig zu lernen.

Als er es schon ziemlich gut konnte, übten der Herzog und er zusammen. Der Herzog zeigte ihm immer wieder, wie es gemacht werden musste, ließ ihn seufzen und die Hand aufs Herz legen, und nach 'ner Weile sagte er, der König wär gar nicht so dumm. „Nur", sagte er, „Sie dürfen das >Romeo< nicht rausbrüllen wie 'n Ochse, sondern Sie müssen's zart und schmachtend sagen, denn Julia ist ein süßes, feines Mädchen, das niemals brüllt wie ein Esel."

Die erste Vorstellung, die die beiden Betrüger ein paar Abende später gaben, ging völlig daneben. Die Farmer hier am unteren Mississippi schienen keine besondere Vorliebe für Shakespeare zu haben und der König und der Herzog zogen mit leeren Händen ab.

Sie haben Jim verkauft!

Bald darauf haben sie es aber wieder versucht, und diesmal haben sie es ganz anders angefangen und den Leuten vorgemacht, sie kriegten was ganz Komisches zu sehen. Das stimmte auch wirklich, denn der König kam nackt und ganz bunt bemalt auf die Bühne und die Zuschauer haben sich halb tot gelacht. Dann aber haben sie sich furchtbar genasführt gefühlt, weil das ganze Stück damit schon zu Ende war. Trotzdem haben sie es sich nicht anmerken lassen, dass sie enttäuscht waren, sondern ihren Nachbarn erzählt, es wäre wunderbar gewesen; und so hatten die beiden Gauner am nächsten Tage wieder einen vollen Saal.

Am dritten Abend aber wollten die Einwohner des Ortes dem König und dem Herzog zeigen, dass sie sich nicht ungestraft auf den Arm nehmen ließen, und sie hatten sich die Taschen mit faulen Tomaten und anderem Zeugs vollgestopft. Aber damit hatten die beiden gerechnet und sich daher rechtzeitig aus dem Staube gemacht. Vierhundertfünfundsechzig Dollar haben die Schulte in den drei Nächten eingenommen! Ich hab noch nie gesehen, dass jemand solche Wagenladung voll Geld verdient hat. Aber vorläufig konnten wir uns nicht wieder am Ufer sehen lassen, weil die Nachricht von dem Betrug uns bestimmt schon längst vorausgeeilt war.

Tage vergingen, ohne dass wir anhielten. Wir fuhren immer weiter südlich in eine wärmere Gegend und waren schon sehr weit von zu Hause fort. Wir sahen Bäume, die mit spanischem Moos bewachsen waren, das wie lange graue Barte von den Ästen hing. Es war das erste Mal, dass ich so was sah; die Wälder sahen dadurch so feierlich und so düster aus.

Nach einer Weile fassten die beiden Betrüger neuen Mut und beschlossen, sich in den Dörfern zu betätigen. Zuerst hielten sie mal wieder 'ne Vorlesung über Enthaltsamkeit, bei der aber nicht so viel raussprang, dass sie sich davon hätten betrinken können. In einem anderen Dorf machten sie 'ne Tanzschule auf; da sie selbst aber wie 'n paar Kängurus tanzten, lachte das Volk sie aus und schmiss sie raus. Sie versuchten noch allerhand, aber sie hatten kein Glück. Schließlich wurden sie ganz niedergedrückt, lungerten auf dem Floß herum und sagten tagelang kein Wort.

Dann aber wurde es plötzlich anders; sie setzten sich zusammen in den Wigwam und sprachen 'ne lange Zeit leise und geheimnisvoll miteinander. Jim und ich wurden unruhig, denn wir meinten, dass sie bestimmt wieder 'ne neue Gaunerei ausheckten. Wir überlegten hin und her und kamen schließlich zu dem Schluss, dass sie in ein Haus oder in einen Laden einbrechen wollten oder irgendwas anderes. Da sind Jim und ich uns einig geworden, dass wir um nichts in der Welt was damit zu tun haben wollten - im Gegenteil, bei der ersten Gelegenheit würden wir sie verraten, um die Betrüger endlich loszuwerden.

Ja, und eines Morgens versteckten wir das Floß an einem sicheren Platz, ungefähr zwei Meilen unterhalb von 'nem kleinen schäbigen Dorf, es hieß Pikesville. Der König ging an Land, um sich, wie er sagte, „ein bisschen umzusehen". Er sagte noch, wenn er bis Mittag nicht zurückkäme, sollten der Herzog und ich nachkommen, denn dann war alles in Ordnung.

Wir blieben also in unserem Versteck. Der Herzog war aber verdrießlich und schimpfte uns wegen jeder Kleinigkeit aus. Wir konnten ihm nichts recht machen, immer wieder fuhr er uns an. Ich war froh, als es Mittag wurde und der König sich nicht hatte sehen lassen.

Also gingen der Herzog und ich in das Dorf und suchten den König. Schließlich fanden wir ihn völlig besoffen in dem Hinterzimmer von 'ner Schenke, und 'ne ganze Masse Taugenichtse verhöhnte ihn aus Jux. Er fluchte und drohte zwar mit aller Macht, war aber so voll, dass er ihnen nichts tun konnte. Jetzt fing auch der Herzog noch an, ihn auszuschimpfen, und der König schimpfte zurück, und sie hatten sich prächtig in der Wolle. Diesen Augenblick habe ich benützt, aus dem Zimmer zu huschen. Ich hab meine Beine in die Hand genommen und bin wie 'n Reh die Uferstraße entlanggelaufen. Ich kam ganz atemlos, aber voller Freude am Floß an und rief:

„Fahr zu, Jim, wir sind sie los!"

Aber ich kriegte keine Antwort und es kam auch niemand aus dem Wigwam! Jim war weg: Ich rief -und noch mal, und noch mal, aber es war immer vergeblich. Da hab ich mich hingesetzt und hab geheult, ich konnte nichts dafür. Aber ich konnte nicht lange still sitzen, und deshalb bin ich den Weg wieder zurückgegangen und hab versucht, mir zu überlegen, was ich wohl tun sollte. Da traf ich auf der Straße einen Jungen und fragte ihn, ob er einen fremden Nigger gesehen hätte.

Er sagte: „Ja."

„Wo?"

„'n Stück von hier weg, bei Silas Phelps. Er ist ja 'n entlaufener Neger und sie haben ihn gekriegt. Wolltest du ihn suchen?"

„Nee, ganz bestimmt nicht! Ich bin ihm im Wald übern Weg gelaufen, und er hat gesagt, er würde mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn ich schrie. Er hat mir gesagt, ich sollte mich hinsetzen und bleiben, wo ich war. Jetzt eben erst hab ich mich wieder aus dem Wald rausgewagt."

„Nun", sagte er, „jetzt brauchst du nicht mehr bange zu sein. Sie haben ihn ja erwischt. Er kommt aus 'm Süden, und es sind zweihundert Dollar für ihn ausgesetzt. Ist genauso, als wenn man Geld auf der Straße findet!"

„Ja. Wer hat ihn denn gefangen?"

„'n alter Kerl - 'n Fremder, der sein Anrecht auf das Geld für vierzig Dollar verkauft hat, denn er musste weiter und konnte nicht warten. Denk dir das nur! Ich hätte gewartet, und wenn's sieben Jahre gewesen wären."

„Ich auch", sagte ich, „aber vielleicht stimmt was nicht an der Sache."

„Doch, doch, es stimmt schon genau! Ich habe das Plakat ja selbst gesehen und der Nigger ist genau beschrieben. Du, hast du nicht 'n bisschen Kautabak für mich?"

Ich hatte keinen und so trollte er sich. Ich ging zurück zum Floß und setzte mich in unsern Wigwam, um nachzudenken. Aber es führte zu nichts. Nach allem, was wir für diese Schufte getan hatten, hatten sie tatsächlich das Herz gehabt, aus Jim einen lebenslänglichen Sklaven zu machen, noch dazu unter Fremden und für vierzig dreckige Dollar!

Ich hab mir gesagt, es war für Jim tausendmal besser, dort Sklave zu sein, wo seine Familie war. Deshalb wollte ich einen Brief an Tom Sawyer schreiben, und Tom sollte Fräulein Watson sagen, wo Jim war. Aber diese Absicht habe ich bald wieder aufgegeben, denn erstens würde sie so bitterböse sein, weil Jim so undankbar gewesen war, von ihr fortzulaufen, dass sie ihn sofort verkaufen würde; und zweitens - wenn sie's nicht täte - würde jeder so 'nen Nigger verachten, und Jim würde es immerzu merken und sich nicht mehr zu Hause fühlen. Und dann musste ich an mich denken! Überall würde es die Runde machen, dass Huck Finn einem Nigger geholfen hatte durchzubrennen. Aber so ist es eben: man dreht 'n krummes Ding und will dann nicht die Folgen auf sich nehmen.

Schließlich hatte ich eine Idee, und ich hab mir gesagt, ich will den Brief schreiben und dann versuchen zu beten. Es war wirklich erstaunlich, wie erlöst ich mich gefühlt hab, nachdem ich mich dazu entschlossen hatte. Ich nahm also Papier und Bleistift, setzte mich hin und schrieb:

Fraute* Wtfson, Ihr ausgerissener MlggerJSm Ist Wer 3 Heften von PlkesvfHe wtHerrPetpMt fcn und er w» *»n 9ehgcn BeVohntf^g abgeben wenn sie »im r^achrfcKt schicken.

Im nächsten Augenblick hab ich mich richtig gut und frei gefühlt und hab auch gewusst, dass ich jetzt beten konnte. Aber ich tat's nicht sofort, sondern legte das Papier hin und dachte nach - dachte, wie gut doch alles so gekommen war und wie nahe ich dran gewesen war, in die Hölle zu kommen.

Und dann hab ich an unsere Flussreise gedacht; und immerzu sah ich Jim vor mir, und ich sah, wie wir zusammen geredet und gesungen und gelacht haben. Und ich hab daran gedacht, wie er oft über mich gewacht hat und mich hat schlafen lassen, und wie er mich immer „Kind" genannt hat und alles für mich getan hat. Und dann fiel mir ein, wie er sich gefreut hat, als ich den Männern erzählt habe, wir hätten die Blattern an Bord, und wie er gesagt hat, ich war der beste Freund, den er jemals auf der weiten Welt gehabt hätte.

Ich guckte wieder auf den Brief, dann hab ich ihn in die Hand genommen; ich hab gehörig dabei gezittert, denn ich musste jetzt zwischen zwei Dingen entscheiden. Nur 'nen kleinen Augenblick hab ich noch gezögert, dann habe ich mir gesagt: Na ja, dann muss ich eben in die Hölle!

Und dann habe ich den Brief zerrissen. Es waren schreckliche Gedanken und schreckliche Worte, aber sie waren gesagt. Ich wollte an die Arbeit gehen und Jim noch mal stehlen - jetzt kam's ja sowieso nicht mehr darauf an. Wieder dachte ich hin und her und wie ich die ganze Sache wohl anfassen sollte, bis ich schließlich einen Plan ausgeknobelt hatte, der mir passte.

Sobald es dunkel war, ruderte ich zu 'ner kleinen bewaldeten Insel; da versteckte ich das Floß an 'nem sicheren Ort. Dann legte ich mich schlafen. Noch bevor es hell wurde, stand ich auf, aß mein Frühstück, zog meine guten Kleider an und packte noch ein paar Kleinigkeiten in ein Bündel. Dann nahm ich unser Boot, ruderte los und legte kurz darauf an einer Stelle an, von der es wohl nicht mehr weit bis zur Farm von Herrn Phelps sein konnte. Ich versteckte mein Bündel im Wald, lud Steine ins Boot und versenkte es und machte mir ein Zeichen, so dass ich es wiederfinden konnte.

Dann machte ich mich auf den Weg und kam bald an eine Mühle, an der ein Schild hing: „Phelps' Sägemühle". Nach ein paar Schritten kam ich an ein Farmhaus, aber ich konnte niemand sehen, obwohl ich meine Augen aufmachte. Deshalb bin ich weitergegangen, auf die Stadt zu. Ja, und der erste Mann, den ich sehe, ist der Herzog. Er hatte mich auch schon gesehen, und so konnte ich mich nicht mehr verdrücken. Er guckte ganz erstaunt und sagte:

„Hallo! Wo kommst denn du her?" Dann sagte er irgendwie froh: „Wo ist das Floß - gut versteckt?"

„Nee, das war gerade das, was ich Euer Gnaden fragen wollte!"

Er sah schon nicht mehr so fröhlich aus, als er sagte: „Wieso fragst du mich?"

„Nun", sagte ich, „als ich gestern den König in der Kneipe sah, wusste ich, dass wir ihn so schnell nicht da wegbringen würden; deshalb hab ich 'n bisschen in der Stadt rumgelungert, um mir die Zeit zu vertreiben. Da kam 'n Mann und bot mir zehn Cent an, wenn ich ihm helfen tät, ein Schaf mit einem Boot übern Fluss zu bringen. Aber wie wir's ins Boot zerrten und der Mann mir die Leine zu halten gab, hat es sich losgerissen, weil ich's hab nicht halten können. Wir natürlich hinterher, aber wir mussten's lange jagen, denn so schnell wurde es nicht müde.

Es war schon dunkel, als ich an die Stelle zurückkam, wo unser Floß lag. Aber als ich sah, dass es weg war, hab ich mir gesagt: Die haben Scherereien gehabt und mussten eilig weg; und sie haben sogar meinen Nigger mitgenommen. Er ist der einzige Nigger, den ich auf der ganzen Welt habe, und jetzt bin ich in einem fremden Land und hab nichts, wovon ich leben kann.

Deshalb hab ich mich hingesetzt und geheult. Aber wo ist das Floß geblieben und was ist aus dem armen Jim geworden?"

„Verdammt noch mal, weiß ich doch auch nicht! Der alte Narr hat 'n Geschäft gemacht und vierzig Dollar gekriegt, die er aber gleich mit den Nichtstuern versoffen hat. Als ich ihn dann schließlich mitkriegte und wir entdeckten, dass das Floß weg war, haben wir gesagt: Dieser kleine Spitzbube hat unser Floß geklaut und ist durchgebrannt!"

„Aber ich würde doch meinen Nigger nicht im Stich lassen, oder? Es war doch der einzige Nigger, den ich auf der Welt hatte."

„Hm, daran haben wir gar nicht gedacht. Übrigens sitze ich seitdem völlig auf dem Trockenen. Wo sind die zehn Cent? Gib her!" Ich hatte noch 'ne ganze Masse Geld, deshalb gab ich ihm zehn Cent, bat ihn aber, dafür Essen zu kaufen und mir was abzugeben, denn es wär alles Geld, das ich hätte. Er gab keine Antwort. Im nächsten Augenblick fauchte er mich an:

„Glaubst du, der Nigger wird uns verraten? Ich ziehe ihm das Fell ab, wenn er's tut!" „Wie kann er uns verraten? Ich mein, er ist durchgebrannt?"

„Nein! Dieser alte Narr hat ihn verkauft und das Geld nicht mal mit mir geteilt. Und jetzt ist alles futsch."

„Ihn verkauft?", sagte ich und hab angefangen zu heulen. „Aber es war mein Nigger und deshalb auch mein Geld! Wo ist er? Er gehört mir!"

„Hör auf zu plärren, er ist nun mal futsch. Aber ich will verdammt sein, wenn ich dir glaube. Wenn du uns verpfeifst... "

„Ich will niemand verraten, ich will nur meinen Nigger."

„Pass mal auf", sagte er schließlich, „wenn du versprichst, uns nicht zu verpfeifen, und das auch dem Nigger einschärfst, sage ich dir, wo er ist."

Ich versprach es, und er sagte: „Ein Bauer mit Namen Silas Ph—", und dann stockte er. Er hatte mir also die Wahrheit sagen wollen, hatte es sich dann aber anders überlegt. Er traute mir nicht, und deshalb sagte er: „Der Mann, der ihn gekauft hat, heißt Abram Foster, Abram G. Foster - und er wohnt ungefähr vierzig Meilen von hier."

„Gut", sagte ich, „das kann ich in drei Tagen schaffen. Ich gehe noch heute Nachmittag los."

„Nein, du gehst jetzt gleich los, verstanden! Und dass du ja keine Zeit verlierst oder unterwegs schwätzt!"

Das war genau das, was ich wollte, um freie Bahn zu haben für meine Pläne.

„Nun verdufte", sagte er, „und erzähle Herrn Foster, was du willst."

Vertauschte Rollen

Ich machte mich also auf den Weg und sah mich gar nicht mehr um, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mich beobachtete. Ich marschierte ungefähr eine Meile, dann kehrte ich um und ging eilig durch den Wald zurück auf Phelps' Farm zu.

Als ich auf der Farm ankam, war dort alles ganz still wie am Sonntag, und dabei war es heiß und sonnig. Die Leute waren wohl alle auf dem Feld. Und in der Luft summte es von Fliegen und Bienen. Dieses Geräusch macht mich immer ganz traurig, denn es ist so, als ob Geister flüstern - Geister von Leuten, die schon unendlich lange tot sind, und ich denke immer, sie sprechen über mich. Meistens wünscht man dann, man wäre tot, denn das ist das einsamste Geräusch, das ich kenne.

Plötzlich springen zwei Köter auf und kommen auf mich zu. Natürlich bin ich stehen geblieben und hab mich ganz ruhig verhalten. Aber innerhalb von 'n paar Sekunden war ich von Hunden umgeben, die bellten und kläfften. Immer mehr kamen; sie segelten über die Zäune und flitzten um die Ecken.

Eine Negerin kam aus der Küche gerannt mit 'ner Teigrolle in der Hand und vertrieb die Meute, dabei gab sie einigen 'n tüchtigen Klaps. Heulend liefen sie davon, kamen aber in der nächsten Sekunde zurück, wedelten mit den Schwänzen und versuchten, mit mir Freundschaft zu schließen. Köter sind sowieso im Grunde harmlos. Hinter der Negerin tauchten jetzt zwei kleine Niggerjungen und ein kleines Niggermädchen auf; sie hatten nichts an außer 'nem Leinenhemd. Sie verkrochen sich in den Rockfalten ihrer Mutter und guckten neugierig zu mir herüber. Und plötzlich kam 'ne weiße Frau aus dem Haus gerannt, vielleicht fünfundvierzig oder fünfzig Jahre alt, mit 'ner Spindel in der Hand, dahinter ihre weißen Kinder, die sich genauso an sie klammerten wie die kleinen Nigger an ihre Mutter. Sie strahlte übers ganze Gesicht und rief:

„Bist du es denn wirklich und wahrhaftig?"

Bevor ich darüber nachdenken konnte, war mein Ja auch schon raus.

Sie packte mich und drückte mich ganz fest; dann nahm sie meine Hände und schüttelte sie immer wieder; die Tränen kamen ihr in die Augen und liefen ihr übers Gesicht, und es schien, als könnte sie mich nicht genug drücken und schütteln. Schließlich sagte sie:

„Du ähnelst deiner Mutter nicht so sehr, wie ich geglaubt hab, aber das macht ja nichts, ich bin so glücklich, dass du endlich da bist. Kind, Kind, lass dich ansehen! Kinder, kommt her, es ist euer Vetter Tom!"

Aber sie senkten ihre Köpfe, steckten die Finger in den Mund und versteckten sich hinter ihrer Mutter. Sie sagte: „Lisa, beeil dich und mach ihm ein warmes Frühstück. Oder hast du schon auf dem Schiff gefrühstückt?"

Ich sagte, ich hätte schon gefrühstückt und sie nahm mich bei der Hand, und wir gingen ins Haus. Da setzte sie mich auf einen Stuhl und nahm wieder meine Hände und sagte:

„Nun lass dich richtig anschauen; all diese langen Jahre hab ich mich danach gesehnt, und jetzt bist du wirklich da! Wir hatten dich schon zwei Tage früher erwartet. Was hat dich aufgehalten - ist das Boot irgendwo festgefahren?"

„Ja- es... "

„Sag nur ruhig Tante Sally zu mir. Wo ist es festgefahren?"

Jetzt wusste ich nicht, was ich sagen sollte, denn ich wusste ja nicht, ob das Boot stromauf oder stromabwärts fuhr. Aber eine Eingebung sagte mir, das Boot würde stromaufwärts kommen - aus der Gegend von Orleans. Dann hatte ich plötzlich eine andere Idee, und ich sagte:

„Wir sind eigentlich nicht festgefahren - uns ist 'n Dampfzylinder geplatzt."

„Herr im Himmel! Jemand verletzt?"

„Nein, 'n Nigger wurde getötet."

„Da hast du aber Glück gehabt! Weihnachten vor zwei Jahren kam dein Onkel Silas mit der alten >Lally Rook< aus New Orleans, und da ist auch ein Zylinder geplatzt und ein Mann wurde schwer verletzt. Ich glaube, er ist nachher gestorben. Dein Onkel ist fast jeden Tag in die Stadt gefahren, um dich abzuholen. Jetzt ist er wieder hin, aber er wird wohl bald zurück sein. Du musst ihn auf der Straße getroffen haben, er ist ein älterer Mann mit einem..."

„Nein, ich habe niemand gesehen, Tante Sally. Das Schiff hat gerade bei Tagesanbruch angelegt und ich habe mein Gepäck am Anleger gelassen. Dann hab ich mich ein bisschen in der Stadt umgesehen, um mir die Zeit zu vertreiben, und deshalb bin ich den anderen Weg gekommen."

Vorsichtig log ich mich durch.

„Wem hast du dein Gepäck gegeben?"

„Oh, keinem."

„Kind, man wird es dir stehlen."

„Ich hab's sehr gut versteckt."

Ich wurde so unruhig, dass ich gar nicht mehr richtig zuhörte. Ich hätte so gern die Kinder mit nach draußen gelotst, um sie erst so 'n bisschen auszuquetschen, wer ich nun eigentlich wäre. Aber ich hatte keine Gelegenheit dazu, denn Frau Phelps redete immerzu. Gerade jetzt jagte sie mir wieder kalte Schauer über den Rücken; sie sagte nämlich:

„Aber hier sitzen wir nun und schwätzen und du hast mir noch nichts über meine Schwester oder die anderen erzählt. Jetzt werde ich meine Hände mal ein bisschen in den Schoß legen, und du musst mir alles erzählen.

Erzähle mir, wie's ihnen geht und was sie tun und was sie dir aufgetragen haben, mir zu sagen. Erzähle mir ruhig jede Kleinigkeit."

Ja, da saß ich nun in der Patsche. Es hatte gar keinen Zweck, jetzt das Blaue vom Himmel herunterzuschwindeln - ich musste die Wahrheit sagen. Ich machte schon den Mund auf, um anzufangen, da packte sie mich plötzlich und drängte mich hinters Bett. Sie flüsterte:

„Er kommt! Kopf runter - so, das genügt. Kinder, dass ihr mir kein Wort sagt!"

Ich konnte noch eben einen Blick auf den alten Herrn werfen, der gerade ins Zimmer trat. Frau Phelps lief auf ihn zu und sagte: „Ist er gekommen?"

„Nein", sagte ihr Mann.

„Herr, du meine Güte!", rief sie. „Was kann ihm nur passiert sein?"

„Ich kann es mir nicht vorstellen", sagte der alte Herr, „und ich muss sagen, es beunruhigt mich sehr."

„Beunruhigt!", sagte sie. „Ich bin verzweifelt! Er muss gekommen sein - du hast ihn nur verpasst auf der Straße."

„Aber Sally, auf der Straße kann ich ihn doch nicht verpassen, das weißt du doch."

„Oh, oh, was wird meine Schwester sagen! Er muss gekommen sein. Er..."

„Reg mich nicht noch mehr auf, Sally. Ich muss sagen, ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Ich habe keine Hoffnung mehr, dass er kommt. Sally, es ist schrecklich, einfach schrecklich, aber gewiss ist mit dem Schiff was passiert."

„Sieh mal, Silas, kommt da nicht jemand die Straße herauf?"

Er sprang zum Fenster, und Frau Phelps gab mir ein Zeichen, hinter dem Bett hervorzukommen. Als er sich umwandte, stand sie da, rot vor Aufregung, und strahlte übers ganze Gesicht. Ich stand neben ihr, ein bisschen tölpelhaft und schwitzend vor Angst. Der alte Herr starrte mich an und sagte:

„Wer ist denn das?"

„Was glaubst du denn, wer es ist?"

„Ich hab wirklich keine Ahnung. Wer?"

„Es ist Tom Sawyer!"

Auf Ehre, ich wär beinahe lang hingeschlagen! Aber ich hatte keine Zeit dazu, denn der Alte packte meine Hand und schüttelte sie immerzu und die Frau tanzte um uns herum und lachte und weinte. Dann überschütteten mich die beiden mit Fragen über Sid und Mary und sämtliche anderen Hausgenossen Tom Sawyers. Sie waren bestimmt glücklich, aber nicht so sehr wie ich. Mir war, als ob ich noch einmal geboren worden wär; so froh war ich, endlich zu wissen, wer ich eigentlich war. Ungefähr zwei Stunden musste ich erzählen, und ich hab mehr von meiner, das heißt von der Sawyer-Familie erzählt, als jemals in sechs Sawyer-Familien hätte passieren können.

Einesteils hab ich mich dann ganz gemütlich gefühlt, aber andererseits war's mir verdammt ungemütlich. Es war leicht und bequem, Tom Sawyer zu spielen und es blieb leicht bis zu dem Augenblick, in dem ich plötzlich 'n Dampfschiff den Fluss runterkeuchen hörte. Da hab ich mir gesagt: Mensch, angenommen, Tom Sawyer kommt mit dem Schiff! Und angenommen, er kommt hier rein und schreit meinen Namen raus, bevor ich ihm 'n Wink geben kann?

Nun, das durfte natürlich nicht passieren, ich musste die Straße raufgehen und ihn abfangen. Deshalb erzählte ich den beiden, ich wollte in die Stadt gehen, um mein Gepäck zu holen. Der alte Herr wollte mit, aber ich hab's nicht zugelassen, denn mit 'nem Pferd kann ich schon umgehen, und ich wollt ihm auch keine Umstände machen.

Ich machte mich also mit dem Wagen auf den Weg in die Stadt. Als ich schon ein Stück gefahren bin, seh ich plötzlich einen anderen Wagen auf mich zukommen. Es war wirklich Tom Sawyer, der da drin saß, und ich hielt an und wartete, bis er näher kam. Er hielt auch an und machte plötzlich den Mund auf und ließ ihn 'ne ganze Zeitlang offen. Dann schluckte er zwei - oder dreimal wie jemand, der 'ne ganz trockene Kehle hat, und sagte:

„Ich hab dir niemals was Böses getan. Du weißt das. Warum kommst du also zurück und erscheinst mir als Geist?"

Ich sagte: „Ich kann doch gar nicht zurückkommen, weil ich doch niemals tot war."

Als er meine Stimme hörte, wurde er ein bisschen sicherer, aber er war noch nicht ganz beruhigt. Er sagte: „Auf Ehre und Gewissen, du bist also kein Geist?"

„Auf Ehre und Gewissen, nein!"

Er kam rüber in meinen Wagen und betastete mich, und danach schien er wirklich ganz überzeugt zu sein. Er war so froh, mich wiederzusehen, dass er gar nicht wusste, was er tun sollte. Dann wollte er sofort alles erfahren, aber ich hab ihm gesagt, ich würd ihm ein andermal alles sagen. Wir fuhren ein kleines Stückchen weiter, damit sein Kutscher nicht hörte, was wir sagten. Und dann habe ich ihm erzählt, in was für 'ner Patsche ich säße, und ihn gefragt, was wir wohl tun sollten. Er sagte, ich sollte ihn für 'nen Augenblick nicht stören, dann dachte er und dachte. Schließlich sagte er: „Ich hab's! Nimm mein Gepäck und sag, es ist deins. Du fährst also jetzt ganz langsam nach Hause, so dass du auch zur richtigen Zeh da ankommst. Ich komme dann in ungefähr 'ner halben Stunde hinterher, und du musst so tun, als ob du mich nicht kenntest."

Ich sagte: „Das ist ja ganz schön, aber da ist noch was - niemand weiß davon, nur ich. Auf der Farm ist nämlich ein Nigger, und ich will ihn stehlen und aus der Sklaverei befreien. Es ist Jim vom alten Fräulein Watson."

„Nanu, aber Jim ist doch..."

Er redete nicht zu Ende, sondern dachte nach. Da sagte ich: „Ich weiß, was du sagen willst. Du sagst, es ist dreckig und gemein - aber was macht's? Ich bin wirklich gemein, und ich will ihn nun mal stehlen und erwarte, dass du darüber den Mund hältst. Willst du?"

Seine Augen leuchteten auf, als er sagte: „Ich werde dir helfen, ihn zu stehlen!"

Na, mir war, als ob ich 'n Schlag gekriegt hätte; es war das Erstaunlichste, was ich je gehört habe - und ich muss sagen, dass Tom Sawyer ziemlich in meiner Achtung gesunken ist. Aber ich konnt's immer noch nicht glauben: der Tom - ein Niggerdieb!

„Ach, Unsinn", sagte ich, „du machst ja nur Spaß!"

„Ich mach keinen Spaß."

„Na ja, also Spaß hin, Spaß her, wenn du irgendwas übern durchgebrannten Nigger hörst, vergiss nicht, dass du nichts von ihm weißt und dass ich nichts von ihm weiß."

Dann luden wir sein Gepäck in meinen Wagen und ich fuhr davon. Aber ich war so glücklich und so in Gedanken, dass ich ganz vergaß, langsam zu fahren. Ich kam also viel zu schnell nach Hause. Da sagte der alte Herr: „Wer hätte gedacht, dass die Stute es noch so in sich hätte. Sie hat nicht mal ein nasses Haar im Fell -nicht ein einziges. Es ist wunderbar. Ich würde das Pferd jetzt nicht mehr für hundert Dollar abgeben; ehrlich, ich tat's nicht; neulich hätte ich sie noch für fünfzehn Dollar verkauft und gedacht, sie wär nicht mehr wert."

Das hat er gesagt. Er war die gutmütigste alte Seele, die ich je getroffen habe. Aber das war eigentlich nicht erstaunlich, denn er war nicht nur ein Farmer, sondern auch ein Prediger, und er hatte hinten auf seiner Farm 'ne kleine Kirche, die er selbst und auf eigene Kosten gebaut hatte.

Nach ungefähr 'ner halben Stunde kam Toms Wagen am Hauseingang an. Tante Sally sah ihn durchs Fenster.

„Nanu, da kommt doch jemand! Wer ist es nur? Ich glaube tatsächlich, es ist ein Fremder. - Jimmy", sagte sie zu einem von den Kindern, „lauf zu Lisa und sag ihr, sie soll noch ein Gedeck fürs Essen auflegen."

Alle rannten zur Haustür, denn 'n Fremder kommt nicht jedes Jahr vorbei, und darum macht es sie fast krank, wenn er kommt - so neugierig sind sie alle. Jetzt kam Tom aufs Haus zu, und wir standen alle eingequetscht im Türrahmen. Tom trug seinen Sonntagsanzug und hatte dazu 'n Publikum - das war gerade das, was Tom Sawyer brauchte. Unter solchen Umständen machte es ihm gar keine Mühe, 'ne Masse „Stil" in die ganze Sache zu bringen. Er war nicht der Junge, der wie 'n Lamm angeschlichen kommt, nein, er kam würdevoll und ruhig an wie 'n Widder. Als er vor uns stand, lüftete er seinen Hut so zierlich, als ob's der Deckel einer Schachtel wär, in der Schmetterlinge schliefen, die er nicht stören wollte. Dann sagte er äußerst höflich; „Herr Archibald Nichols, wie ich annehme?"

„Nein, mein Junge", sagte der alte Herr, „dein Kutscher hat dich wohl hinters Licht geführt; die Nichols' wohnen ungefähr drei Meilen von hier entfernt. Aber komm herein, komm herein." Tom sah über die Schulter zurück und sagte: „Zu spät - er ist schon nicht mehr zu sehen."

„Ja, er ist schon fort, mein Junge, und du musst hereinkommen und mit uns essen. Dann werden wir anspannen und dich zu den Nichols' bringen."

„O nein, ich möchte auf gar keinen Fall, dass Sie sich so viele Umstände machen. Ich kann gehen - die Entfernung macht mir nichts aus."

„Wir werden dich aber gar nicht gehen lassen - das würde der Gastfreundschaft hier in den Südstaaten nicht entsprechen. Komm nur herein."

„Ja, komm doch", sagte Tante Sally, „es macht uns wirklich keine Umstände - nicht im geringsten. Du musst bleiben. Es ist ein anstrengender, staubiger Weg - wir können dich einfach nicht gehen lassen. Ich habe übrigens auch schon ein Gedeck für dich auflegen lassen, als ich dich kommen sah; deshalb darfst du uns jetzt nicht enttäuschen. Komm herein und fühl dich nur wie zu Hause."

Tom dankte ihnen herzlich und gewandt und ließ sich also bereden reinzukommen. Als er drin war, sagte er, er wäre 'n Fremder aus Hicksville in Ohio und sein Name wär William Thompson. Dann machte er noch 'ne Verbeugung.

Na ja, und dann fing er an zu reden und erzählte 'ne Masse über Hicksville und erfand viele Leute, die da wohnten. Ich wurde ein bisschen nervös und hätt gern gewusst, wie er mir wohl aus der Patsche helfen wollte; und schließlich, mitten im Erzählen, beugt er sich vor und küsst Tante Sally genau auf den Mund. Dann lehnt er sich wieder behaglich in seinen Stuhl zurück und schwätzt weiter; sie aber springt auf, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und sagt: „Du unverfrorener Bengel!"

Er sah 'n bisschen verletzt aus und sagte: „Sie erstaunen mich, gnä' Frau."

„Ich erst... Wer glaubst denn du, wer ich bin? Am liebsten möchte ich dir... Aber sag mal, wieso hast du mich eigentlich geküsst?"

Er sah 'n bisschen demütig aus und sagte: „Ich hab mir nichts Besonderes dabei gedacht, gnädige Frau. Ich hab nichts Böses gewollt. Ich - hab gedacht, Sie hätten's gern."

„Du Schafskopf!" Sie nahm den Spinnrocken in die Hand, und es sah aus, als müsste sie sich mächtig zusammennehmen, ihm nicht eins überzuziehen. „Wieso hast du geglaubt, ich hätte es gern?"

„Ich weiß nicht genau. Nur, man - man - hat mir gesagt, Sie hätten's gern."

„Soso, man hat es dir gesagt! Nun, wer immer es gesagt hat, ist genau so verrückt wie du. Hat man schon jemals so etwas gehört! Wer ist man?"

„Nun, alle. Alle haben's gesagt."

Sie konnte kaum noch an sich halten; ihre Augen funkelten, und ihre Finger zuckten, als ob sie ihn kratzen wollten. Sie sagte:

„Wer ist das - alle? Heraus mit den Namen!"

Er stand auf und sah 'n bisschen bekümmert aus und fummelte an seinem Hut rum. Dann drehte er sich zu mir um und sagte: „Tom, hast du nicht auch geglaubt, Tante Sally würde die Arme öffnen und sagen: >Sid Sawyer... <„

„Grundgütiger Himmel!", schreit sie und springt auf ihn zu. „Du unverschämter kleiner Nichtsnutz, mich so an der Nase herumzuführen... !"

Sie hat ihn immer wieder gedrückt und geküsst und ihn schließlich dem alten Herrn zugeschoben, der sich dann genommen hat, was noch übrig war. Nachdem sich alle ein bisschen beruhigt hatten, sagte sie: „Nein, ich hab noch nie so eine Überraschung erlebt. Wir haben dich nämlich gar nicht erwartet, sondern nur Tom. Eure Tante hat mir nie geschrieben, dass noch jemand kommt außer Tom."

„Außer Tom sollte ja auch eigentlich niemand herkommen", sagte er, „aber ich habe so lange gebettelt und gebettelt, bis sie mich schließlich in letzter Minute hat mitfahren lassen. Und als wir so aufm Schiff waren, da haben wir uns ausgedacht, dass es doch eine erstklassige Überraschung wäre, wenn Tom zuerst zu euch käme und ich mich hinterher als 'n Fremder ausgäbe."

Den ganzen Nachmittag haben wir uns über alles Mögliche unterhalten, und Tom und ich haben immerzu aufgepasst; aber es hat nichts genützt, denn niemand hat was von 'nem entlaufenen Nigger gesagt und wir haben natürlich nicht gewagt, das Gespräch darauf zu lenken. Aber beim Abendessen fragte einer der kleinen Jungen:

„Papa, dürfen Tom und Sid und ich zur Vorstellung gehen?"

„Nein", sagte der Alte, „heute ist sowieso keine, denn der entlaufene Nigger hat Burton und mir alles über die beiden Betrüger erzählt und Burton wollte es allen Leuten sagen. Ich glaube, man hat die dreisten Taugenichtse jetzt schon aus der Stadt gejagt."

Da war's also schon passiert und ich hatte es nicht verhindern können! Tom und ich sollten in einem Zimmer schlafen. Wir sagten, wir wären müde, und haben gleich nach dem Essen gute Nacht gesagt und sind in unser Zimmer raufgegangen. Wir sind dann aber aus dem Fenster gestiegen und den Blitzableiter runtergeklettert und nach der Stadt abgehauen; denn ich wollte dem König und dem Herzog noch schnell 'nen Wink geben, sonst würden sie bestimmt den Kürzeren ziehen. Auf dem Weg erzählte mir Tom haarklein, dass alle geglaubt hätten, ich wär ermordet worden, und dass kurz danach mein Alter plötzlich verschwunden und nicht mehr wiedergekommen wäre und wie sich alles aufgeregt hätte, als Jim durchgebrannt war. Danach hab ich Tom alles von den beiden Lumpen und ihren Betrügereien erzählt und so viel von unserer Fahrt mit dem Floß, wie ich eben konnte.

Als wir so gegen halb neun in die Stadt kamen, kommt uns da plötzlich 'ne tobende, schreiende Menge entgegen. Alle waren mit Fackeln bewaffnet; sie tuteten mit Hörnern und schlugen gegen Blechtöpfe.

Wir sind schnell zur Seite gesprungen, um sie vorbeizulassen; und als sie so an uns vorbeiziehen, seh ich, dass sie den König und den Herzog rittlings auf 'ner Stange sitzen haben - das heißt, ich wusste, dass es der König und der Herzog waren, denn sie sahen überhaupt nicht wie Menschen aus, sondern waren über und über mit Teer und Federn bedeckt. Sie sahen aus wie zwei übergroße Federbüschel, wie sie die Soldaten auf ihren Helmen haben. Na ja, ich war ganz krank von dem Anblick und die beiden Gauner haben mir sehr leid getan.

Mir schien's, als ob ich ihnen um nichts in der Welt mehr böse sein könnte, so schrecklich war's. Menschen können doch fürchterlich grausam zueinander sein. Aber jetzt war's zu spät und wir konnten nicht mehr helfen. Wir haben ein paar von den Männern gefragt, wie alles gekommen wär, und die sagten, dass die Leute zur Vorstellung gekommen wären und alle ganz unschuldig ausgesehen hätten; sie hätten sich auch ganz ruhig und still verhalten, bis der König angefangen hätte, seine Purzelbäume zu schlagen - da hat jemand 'n Signal gegeben, und die Menge hat sich auf die beiden Gauner gestürzt.

Wir wollen Jim stehlen!

Wir schlichen also nach Hause und ich fühlte mich nicht mehr so draufgängerisch, sondern irgendwie gemein und so, als ob ich an allem Schuld hätte -obwohl ich doch nichts getan hatte. Aber so ist es immer; dem Gewissen ist's ganz egal, ob man recht oder unrecht hat - es ist immer da und plagt einen. Es ist eigentlich für gar nichts gut, und trotzdem nimmt es mehr Platz ein als das ganze andere Innere vom Menschen. Tom Sawyer sagt das auch.

Wir hörten auf zu reden und fingen an zu denken. Schließlich sagte Tom: „Hör zu, Huck, wir sind ja doof gewesen, dass wir nicht eher daran gedacht haben. Ich glaub, ich weiß, wo Jim ist."

„Nee! Wo?"

„In der Hütte bei dem Aschenkasten. Hör mal, hast du denn nicht den Nigger mit dem Essen da reingehen sehen, als wir am Mittagstisch saßen?"

Ja"

„Was hast du wohl gedacht, für wen das Essen war?"

„Für'n Hund."

„Dachte ich zuerst auch, es ist aber nicht für 'n Hund."

„Wieso?"

„Weil 'ne Wassermelone dabei war."

„Das stimmt - das habe ich auch gesehen."

„Als er reinging, hat der Nigger das Vorhängeschloss aufgeschlossen und er hat wieder abgeschlossen, als er rauskam. Er hat doch 'nen Schlüssel geholt für Onkel Silas, als wir vom Tisch aufstanden. Ich wette, das ist der Schlüssel. Wassermelone deutet auf Mann, Schloss deutet auf Gefangenen, und Jim ist der Gefangene. In Ordnung - ich freu mich nur, dass wir's wie ein paar Detektive rausgeknobelt haben, denn 'ne andere Art ist keinen Schuss Pulver wert. Jetzt streng deinen Grips mal an und denk dir 'n Plan aus, wie wir Jim stehlen könnten, ich will mir auch 'n Plan zurechtlegen; wir nehmen dann den, der uns am Besten passt."

Dass ein Junge so viel im Kopf haben kann! Wenn ich Tom Sawyers Kopf hätte, dann tat ich ihn nicht verkaufen, selbst wenn ich dafür 'n Herzog oder 'n Matrose aufm Dampfer oder 'n Clown werden könnte. Ich hab also angefangen, mir 'n Plan auszudenken -aber eigentlich nur, um was zu tun, denn ich wusste genau, wer den besseren Plan haben würde.

Schon bald sagte Tom: „Fertig?"

„Ja", sagte ich. „Wir finden raus, ob's wirklich Jim ist, der in der Hütte sitzt. Dann hole ich mein Boot aus dem Wasser und bringe auch das Floß von der Insel rüber. Und in der ersten dunklen Nacht stehlen wir dem Alten, nachdem er zu Bett gegangen ist, den Schlüssel aus der Hosentasche und hauen mit Jim zusammen auf dem Floß ab. Tagsüber verstecken wir uns und fahren nur nachts, so wie's Jim und ich schon vorher gemacht haben. Wär das nichts?"

„Natürlich wär's was, aber es ist so verdammt einfach, dass die ganze Sache reizlos ist. Was ist 'n Plan schon wert, wenn er so einfach ist wie dieser? Der ist ja so milde wie Ziegenmilch, und, Huck, das würde ja nicht mehr Aufsehen machen, als wenn wir in 'ne Seifenfabrik einbrächen."

Ich hab nicht viel gesagt, denn ich hatte eigentlich nichts anderes erwartet, und ich wusste auch ganz genau, dass es an seinem Plan nichts auszusetzen gäbe.

Und so war's dann auch wirklich. Er erklärte mir seinen Plan und ich sah sofort, dass der fünfzehnmal mehr Stil hatte als meiner und dass er Jim genauso frei machen würde wie meiner. Und vielleicht würden wir sogar dabei ermordet! Ich war zufrieden und sagte, dann könnt's ja losgehen. Ich brauche euch gar nicht zu sagen, wie der Plan war, weil ich wusste, dass er doch noch ein paarmal umgeschmissen würde.

Aber eins stand fest: Tom Sawyer war wirklich und wahrhaftig entschlossen, den Nigger zu stehlen und ihn aus der Sklaverei zu befreien! Das kriegte ich irgendwie nicht in meinen Kopf rein! So'n anständiger Junge wie er! Ich fing an, ihm ins Gewissen zu reden, aber er schnitt mir's Wort ab und sagte: „Glaubst du, ich wusste nicht, was ich tue?"

Das war alles, was er sagte, und ich hab dann auch meinen Mund gehalten. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, noch mehr zu sagen, denn wenn Tom sich was vorgenommen hatte, dann führte er es auch aus.

Als wir heimkamen, lag das Haus dunkel und still da. Wir gingen zu der Hütte. An der Nordseite entdeckten wir eine viereckige Fensteröffnung, hoch oben, nur mit einem starken Brett vernagelt. Ich sagte:

„Hier haben wir's ja schon. Das Loch ist groß genug für Jim, wenn wir das Brett beseitigen."

Tom sagte, damit wär er nicht einverstanden, weil's zu einfach wäre. Er wollte die Sache auf eine kompliziertere Art ausknobeln.

Zwischen Hütte und Zaun war auf der hinteren Seite ein Anbau, der aus Brettern gemacht war und an der Dachrinne mit der Hütte zusammenstieß. Er war so lang wie die Hütte, nur schmaler. Die Tür an der Südseite war mit 'nem Vorhängeschloss gesichert. Tom ging zum Seifenkessel und holte das Eisen, mit dem man den Deckel anhebt; damit brach er eine der Krampen auf. Die Kette fiel runter. Wir öffneten die Tür und gingen hinein. Dann machten wir die Tür wieder zu, zündeten ein Streichholz an und entdeckten, dass der Schuppen an die Hütte angebaut war, aber keine Verbindungstür zu ihr hatte. Der Schuppen hatte keinen Fußboden und es war nichts drin als ein paar rostige Hacken, Spaten und 'n verbogener Pflug. Das Streichholz erlosch und wir machten uns davon, nachdem wir die Tür wieder verschlossen hatten.

Tom freute sich und sagte: „Nun geht alles klar. Wir werden ihn ausgraben, und das wird ungefähr 'ne Woche dauern."

Am anderen Morgen waren wir schon bei Tagesanbruch unten bei den Niggerhütten, um mit den Hunden Bekanntschaft zu machen und um mit dem Nigger Freundschaft zu schließen, der Jim die Mahlzeiten brachte - wenn es überhaupt Jim war, dem das Essen gebracht wurde. Die Nigger waren eben mit dem Frühstück fertig und gingen aufs Feld; Jims Nigger lud gerade Brot und Fleisch und all so'n Zeugs auf einen Blechteller und holte, nachdem die anderen gegangen waren, den Schlüssel aus dem Haus.

Der Nigger hatte 'n gutmütiges und dummes Gesicht, und sein Wollhaar war in lauter kleine Bündel gedreht, die er mit 'nem Zwirnsfaden umwickelt hatte. Das sollte Hexen fernhalten. Er sagte, die Hexen quälten ihn wieder furchtbar, und des Nachts tat er immer so seltsame Laute und Geräusche hören, und er wär noch niemals in seinem Leben so lange verhext gewesen. Darüber wurde er so aufgeregt, dass er ganz vergaß, was er eigentlich hatte tun wollen. Deshalb fragte Tom:

„Wofür is'n das Essen? Willst du die Hunde füttern?"

Langsam geht 'n breites Grinsen über das Gesicht von dem Nigger, und er sagt: „Ja, Master Sid, für 'n Hund, sogar für ganz seltsames Hund. Wollen du mitkommen und es sehen?"

„Ja"

Ich stoße Tom an und flüstere: „Willst du wirklich am helllichten Tage da reingehen? So war's aber nicht geplant."

„Nee, das stimmt - aber ich hab's umgeplant."

Zum Henker mit ihm! Aber wir gingen tatsächlich mit, obwohl ich's gar nicht gern tat. Als wir reinkamen, konnten wir fast gar nichts sehen, so dunkel war's; aber Jim war da und sobald er uns sah, schrie er los:

„Huck! O meine liebe Gott, und sein das nicht Master Tom?"

Ich hatte natürlich gewusst, dass es so kommen würde, ich hau es geradezu erwartet. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und jetzt platzte der Nigger los:

„Himmlischer Güte! Er kennen die jungen Herren?"

Tom sieht den Nigger an, sinnend und irgendwie höchst verwundert, und sagt: „Wer kennt uns?"

„Nun, der entlaufene Nigger da!"

„Ich glaube nicht - wie kommst du eigentlich auf diesen Gedanken?"

„Aber er hat doch geschreit und getan, als ob kennt die jungen Herren!"

Tom sagt erstaunt: „Na, das ist aber seltsam!" Und dann dreht er sich zu mir um und fragt: „Hast du jemand losschreien hören?"

Natürlich hab ich gesagt: „Nee, ich hab nichts gehört."

Tom dreht sich zu Jim um, betrachtet ihn, als ob er ihn noch nie gesehen hätte, und fragt: „Hast du was gesagt?"

„Nein", sagt Jim, „ich nichts haben gesagt."

„Hast du uns jemals vorher gesehen?"

„Nein, ich von nichts wissen."

Tom dreht sich zu dem Nigger um, der unglücklich und kummervoll aussieht, und sagt sehr ernst: „Was ist eigentlich los mit dir? Weshalb glaubst du denn, jemand hätte was gesagt?"

„Oh, es sein die verdammten Hexen, und ich wünschen, ich sein tot. Ich haben furchtbare Angst vor Hexen und ich manchmal fast sterben. Aber bitte, du niemand was davon erzählen, sonst Master Silas wird schimpfen. Er immer sagen, es geben kein Hexen nicht."

Tom gibt ihm 'n Groschen und sagt, er würde niemand was davon erzählen. Und als der Nigger zur Tür geht und auf den Groschen beißt, um zu sehen, ob er echt sei, da flüstert Tom Jim zu:

„Lass dir ja nicht einfallen, uns zu kennen. Und wenn du irgendwen bei Nacht graben hörst - dann sind wir es: Wir befreien dich!

Jim hatte nur Zeit, uns bei den Händen zu packen und sie zu drücken, dann kam der Nigger zurück und wir sagten, wir würden mal wieder vorbeikommen, falls der Nigger uns haben wollte. Er sagte, er war einverstanden, besonders im Dunkeln, denn die Hexen wären meistens im Dunkeln hinter ihm her, und dann war's gut, Leute bei sich zu haben.

Es war noch fast 'ne Stunde bis zum Frühstück, darum hauten wir ab und schlugen uns in die Wälder.

Tom sagte nämlich, wir müssten etwas Licht haben beim Graben und 'ne Laterne wäre zu hell und könnte uns Scherereien machen. Was wir haben müssten, wäre 'ne Menge von den verfaulten Holzkloben, die „Fuchsfeuer" heißen und nur ganz schwach glimmen, wenn man sie ins Dunkle legt. Wir schnappten uns 'nen Armvoll davon und versteckten sie im Kraut. Und dann setzten wir uns und Tom sagte 'n bisschen nörglerisch: „Verflixt noch mal, das ganze Unternehmen ist so leicht und komisch, wie's nur sein kann. Und deshalb ist es so vermuckt schwer, 'n komplizierten Plan zurechtzumachen. Die haben keinen Wächter, den man bewusstlos machen könnte - wirklich, eigentlich gehörte 'n Wächter dazu. Die haben nicht mal 'n Hund, dem man 'n Schlafmittel eingeben könnte. Und Jim, der hat 'ne Kette an einem Bein, 'ne zehn Fuß lange Kette, die am Bettpfosten festgemacht ist. Zu dumm! Alles, was uns zu tun bleibt, ist, dass wir's Bett anheben und die Kette abstreifen. Jim hätte schon längst aus dem Fensterloch rauskommen können, es hätte nur keinen Zweck für ihn, sich mit 'ner zehn Fuß langen Kette am Bein auf den Weg zu machen. Ei, zum Kuckuck noch mal! Huck, es ist aber auch alles verquer! Wir müssen alle Schwierigkeiten selbst erfinden. Hm, wenn ich's nur recht überlege: wir müssten irgendwas auftreiben, woraus wir 'ne Säge machen könnten, und das sobald wie möglich."

„Was wollen wir denn mit 'ner Säge?"

„Was wir damit wollen? Wir müssen doch den Pfosten von Jims Bett absägen, damit wir die Kette loskriegen."

„Wieso? Du hast doch gerade noch gesagt, man könnte das Bett anheben und die Kette abstreifen."

„Das sieht dir wieder ähnlich, Huck Finn! Manchmal bist du wie 'n Baby! Hast du denn noch niemals 'n Buch gelesen? Von Baron Trenck oder Casanova oder Benvenuto Tschellieni oder Heinrich IV. oder sonst irgend 'nem Helden? Wer hat denn schon jemals gehört, dass 'n Gefangener auf so 'ne altweiberhafte Weise befreit worden wär? Nee, die einzige Art, wie wirklich sachverständige Leute das machen würden, ist, den Bettpfosten abzusägen und alles genau so zu lassen und das Sägemehl aufessen, damit man's nicht finden kann. Und dann noch Dreck und Schmiere über die Schnittstelle gekleistert, so dass nicht mal der eifrigste Spürhund sie sehen kann und glaubt, der Bettpfosten wäre noch völlig heil. Am Abend, wenn du so weit bist, gibst du dem Pfosten 'nen Tritt und er fällt um; zieh die Kette runter und fertig. Bleibt nichts weiter, als die Strickleiter an der Brüstung anzubinden, dran runterzurutschen und sich im Burggraben unten ein Bein zu brechen - die Strickleiter ist nämlich neunzehn Fuß zu kurz, weißt du -, und da sind deine Pferde und deine treuen Vasallen, die dich aufheben und in den Sattel setzen. Und ab geht's nach dem heimatlichen Languedoc oder nach Navarra oder wohin sonst. Das ist 'ne Sache, Huck! Ich wollte, um diese Hütte herum wär ein Burggraben. Wenn wir in der Fluchtnacht genug Zeit haben, graben wir einen."

Ich sagte: „Was wollen wir mit 'nem Burggraben, wo wir ihn doch von unten her aus der Hütte rausholen?"

Aber er hörte überhaupt nicht auf mich. Er hatte mich und alles um sich her vergessen. Er hielt sein Kinn in der Hand und dachte nach. Mit einmal seufzt er und schüttelt den Kopf; dann seufzt er wieder und sagt:

„Nee, geht nicht - nicht genügend zwingende Gründe dafür."

„Wofür?", sage ich.

„Na, Jims Bein abzusägen", sagte er.

„Du meine Güte!", sage ich. „Dafür gibt's überhaupt keinen Grund. Weshalb wolltest du ihm wohl's Bein absägen?"

„Weil's einige der bekanntesten Leute so gemacht haben.

Aber da ist eins - wir können uns 'ne Strickleiter zulegen; wir können unsere Bettlaken zerreißen und ihm ganz leicht 'ne Strickleiter daraus machen. Die können wir ihm in einem Brot zuschmuggeln; so machen sie's meist."

„Was in aller Welt kann er denn damit anfangen?"

„Damit anfangen? Er kann sie in seinem Bett verstecken, nicht? So machen sie's alle, und darum muss er's auch so machen. O Huck, ich glaube, du machst niemals etwas so, wie's normal ist, du willst immer was Neues anfangen. Angenommen, er täte überhaupt nichts damit. Ist sie dann nicht in seinem Bett nachher, so dass sie ein Beweisstück haben, wenn er weg ist? Und meinst du nicht, dass sie Beweisstücke gut gebrauchen könnten? Natürlich! Und du willst ihnen keine zurücklassen? Das wär'n Ding: So was habe ich noch nie gehört!" Er schüttelte den Kopf.

„Gut", sagte ich, „wenn's normal ist und er sie haben muss, einverstanden! Aber da ist eins, Tom Sawyer: wenn wir wirklich unsere Bettlaken kaputtreißen und Jim 'ne Strickleiter daraus machen, dann kommt uns Tante Sally auf den Hals, so sicher, wie zwei mal zwei vier ist. Pass auf, wie ich mir das vorstelle: 'ne Leiter aus Hickorybast kostet nichts und wir machen nichts kaputt, und sie ist genauso gut und man kann sie genauso gut in 'n Brot stopfen und im Strohsack verstecken wie 'ne selbstgemachte Lumpenleiter. Und was Jim angeht, der hat doch sowieso keine Erfahrung, und darum ist es ihm egal, was für 'ne..."

„O verflixt, Huck Finn, wenn ich so dumm wär wie du, würd ich den Mund halten, darauf kannst du dich verlassen. Hat man denn schon mal von 'nem Staatsgefangenen gehört, der mit 'ner Hickorybastleiter geflohen wär? Geradezu lächerlich!"

„Wie du meinst, Tom, ganz wie du es für richtig hältst. Aber wenn ich dir raten darf, dann lass mich 'n Bettlaken von der Wäscheleine ausleihen."

Er war einverstanden. Und dabei fiel ihm noch was anderes ein, und er sagte: „Leih auch 'n Hemd aus."

„Was wollen wir denn mit 'nem Hemd, Tom?"

„Brauchen wir für Jim, damit er Tagebuch darauf führen kann."

„Tagebuch führen? - Jim kann doch nicht schreiben!"

„Nun gut, er kann nicht schreiben, aber er kann doch Zeichen auf das Hemd malen, nicht? Wir machen ihm 'n Federhalter aus 'nem alten Blechlöffel oder aus 'nem Nagel."

„Ach Tom, lass uns doch einfach 'ner Gans 'ne Feder ausrupfen und ihm daraus 'nen Federhalter machen, das wär besser und ginge auch schneller."

„Gänse laufen doch nicht in Kerkern rum, so dass die Gefangenen ihnen die Federn ausreißen können, du Simpel! Die machen ihre Federn immer aus dem härtesten, zähesten Stück von 'nem alten MessingKerzenhalter oder was sie sonst gerade finden können, und sie brauchen Wochen dazu, Monate sogar, um sie zurechtzufeilen - sie müssen sie nämlich an der Wand reiben. Sie würden nicht mal dann 'ne Gänsefeder gebrauchen, wenn sie eine hätten. Das ist eben nicht normal."

„Ja, sag mal, aber woraus machen wir ihm denn die Tinte?" „Viele machen sie aus Rost und Tränen, aber das tun nur einfache Leute und Frauen. Die Höheren nehmen eigenes Blut dafür. Jim kann das ruhig auch tun, und wenn er irgend 'ne belanglose, geheime Botschaft schicken will, damit die Welt erfährt, wo er gefangen gehalten wird, dann kann er sie ja mit 'ner Gabel unter 'nen Zinnteller kratzen und den Teller aus dem Fenster werfen. Der Mann mit der eisernen Maske hat das immer so getan, und das ist 'ne verflixt gute Methode."

„Aber Jim hat doch keine Zinnteller. Er kriegt sein Essen im Napf."

„Hat nichts zu sagen, wir können ihm 'n paar besorgen." Er hörte auf zu sprechen, weil wir das Horn zum Frühstück blasen hörten. Wir gingen also ins Haus.

An diesem Morgen lieh ich mir ein Bettlaken und ein weißes Hemd von der Wäscheleine aus; und ich fand einen alten Sack und tat sie da rein. Ich habe „ausleihen" dazu gesagt, weil mein Alter das auch immer dazu gesagt hat; aber Tom meint, das wär kein Ausleihen, das wär Stehlen. Er sagt, wir stellten Gefangene dar, und Gefangenen war's egal, wie sie irgendetwas kriegten, Hauptsache, sie kriegten es; und es nähm ihnen auch keiner nicht übel.

Gut, wie gesagt, wir warteten an diesem Morgen, bis jeder an seiner Arbeit war und keiner mehr nahe beim Hof zu sehen war. Dann schleppte Tom den Sack unter den Anbau und ich stand während der Zeit 'n Stück abseits Wache. Nach 'ner Zeit kam er wieder raus und wir setzten uns auf einen Holzhaufen. Er sagte:

„Alles in Butter bis auf die Werkzeuge und die können wir leicht beschaffen."

„Werkzeug?", fragte ich. „Für was denn?"

„Zum Graben natürlich! Wir wollen ihn doch schließlich nicht rausbeißen, he?"

„Sind denn die alten beschädigten Hacken und so weiter da drin nicht gut genug, dass man 'nen Nigger damit ausgraben kann?", fragte ich.

Er drehte sich zu mir um und sah mich so mitleidig an, dass ich hätte heulen können, und sagte:

„Huck Finn, hast du schon jemals von einem Gefangenen gehört, der Hacken und Schaufeln und die ganzen modernen Einrichtungen in seiner Garderobe hatte, so dass er sich damit hätte ausgraben können?"

„Na ja, gut", sagte ich, „wir brauchen also die Hacken und Schaufeln nicht, aber was brauchen wir dann?"

„'n paar große Messer."

„Und damit sollen wir das Fundament unter der Hütte weggraben?"

Ja"

„Verflixt noch mal, ist doch blöd, Tom."

Er sah mich irgendwie verständnislos und entmutigt an und sagte: „Hat keinen Zweck, dir überhaupt irgendwas beibringen zu wollen, Huck. Lauf und besorg die Messer."

Also hab ich's getan.

Entführung nach allen Regeln

In dieser Nacht, sobald wir annehmen konnten, dass alles schliefe, kletterten wir am Blitzableiter runter und schlössen uns im Anbau ein. Dann holten wir unseren Stapel „Fuchsfeuer" raus und gingen an die Arbeit. Tom meinte, wir sollten uns bis unter Jims Bett durchbuddeln, und wenn wir erst mal durch wären, könnte keiner in der Hütte jemals merken, dass da ein Loch wäre, weil Jims Bettdecke fast bis auf den Boden hing; man müsste sie anheben, wenn man das Loch darunter sehen wollte.

Wir gruben also und gruben mit unseren Messern, bis es fast Mitternacht war. Dann waren wir hundemüde und hatten Blasen an den Händen, aber wir konnten kaum sehen, dass wir überhaupt was geschafft hatten.

Endlich sagte ich: „Das ist keine Arbeit für Jahre, Tom Sawyer - die dauert Jahrzehnte!"

Er gab keine Antwort, aber er seufzte, und kurz darauf hörte er auf zu graben. Ich wusste, dass er 'ne Zeitlang überlegte.

Dann sagte er: „Hat keinen Zweck, Huck, so geht's nicht. Wir können uns jetzt nicht länger aufhalten, wir müssen uns beeilen, wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn wir noch so 'ne Nacht arbeiten müssten, dann könnten wir erst mal 'ne Woche Pause machen, damit unsere Hände wieder heil würden. Vorher könnten wir kein Messer mehr anrühren."

„Gut, Tom, aber was sollen wir machen?"

„Hör zu, es ist zwar nicht richtig, und es ist nicht moralisch, und ich hätte nicht gern, dass es sich rumspricht - aber es gibt nur eine einzige Möglichkeit: Wir müssen ihn doch mit den Hacken ausbuddeln, und so tun, als ob's Messer wären."

„Endlich wirst du vernünftig", sagte ich. „Du kommst langsam zu dir, Tom Sawyer. Hacken, jawohl! Moral hin, Moral her, und was mich angeht, ich kümmere mich sowieso 'n Dreck um die Moral. Wenn ich 'n Nigger klaue oder 'ne Wassermelone oder 'n Sonntagsschulbuch, dann kommt's mir nicht darauf an, wie ich es tue, Hauptsache, dass ich's tue."

„Na ja", sagte er, „wir haben in diesem Falle eine Entschuldigung für Hacken und für das So-tun-als-ob. Wenn es nicht so wäre, wäre ich nicht damit einverstanden und ließe nicht zu, dass die Regeln missachtet würden. Reich mir 'n Messer."

Er hatte sein eigenes Messer bei sich, aber ich gab ihm meins. Er schmiss es hin und sagte: „Gib mir ein Messer!"

Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte, aber dann dachte ich nach. Ich kramte in den alten Werkzeugen rum, suchte 'ne Hacke raus und gab sie ihm. Er nahm sie und fing an zu arbeiten und er sagte kein Wort. Er war immer so genau - alles nach den Regeln.

Ich schnappte mir 'ne Schaufel, und dann hackten und schaufelten wir abwechselnd, dass die Fetzen flogen. Wir schufteten ununterbrochen eine halbe Stunde lang, länger konnten wir's nicht mehr aushaken. Aber wir hatten immerhin ein recht beachtliches Loch aufzuweisen. Als ich oben im Zimmer ankam und aus dem Fenster guckte, sah ich, wie Tom am Blitzableiter heraufzukommen versuchte. Aber er konnte es nicht schaffen, seine Hände waren zu wund.

Schließlich sagte er: „Es hat keinen Zweck, ich schaffs nicht. Was meinst du, was ich machen soll? Hast du keine Idee?"

„Ja", sagte ich, „aber ich glaube, es ist nicht nach den Regeln: komm die Treppe rauf und tu so, als ob es 'n Blitzableiter wär."

So hat er's dann auch gemacht.

Am nächsten Tag stahl Tom im Hause einen Blechlöffel und einen Messingkerzenhalter, um Federn für Jim daraus zu machen, und sechs Talgkerzen. Ich hielt mich bei den Niggerhütten auf, wartete auf 'ne Gelegenheit und klaute drei Zinnteller.

Tom sagte: „Was wir jetzt rausfinden müssen, ist, wie wir die Sachen zu Jim reinschmuggeln können."

„Wir nehmen sie einfach mit durch das Loch, wenn wir damit fertig sind."

Er sah mich nur wütend an und sagte irgendwas von 'ner idiotischen Idee. Und dann machte er sich an seine Überlegungen. Nach 'ner Weile sagte er, er hätte zwei oder drei Methoden ausgedacht, aber es wäre noch nicht nötig, sich jetzt schon für eine zu entscheiden. Er sagte, wir müssten erst eine Nachricht zu Jim schicken.

An diesem Abend kletterten wir kurz nach zehn den Blitzableiter hinunter und nahmen eine von den Kerzen mit. Unterm Fensterloch horchten wir und hörten Jim schnarchen. Wir schmissen die Kerze zu ihm rein, aber er wurde nicht wach davon. Dann legten wir uns mächtig ins Zeug mit Hacke und Schaufel, und in ungefähr zweieinhalb Stunden hatten wir die Arbeit getan. Wir krochen unter Jims Bett und von da in die Hütte.

Wir tasteten rundum und fanden die Kerze und steckten sie an. Und dann standen wir für 'ne Weile über Jim und meinten, dass er gesund und munter aussah. Dann weckten wir ihn vorsichtig. Als er uns sah, freute er sich so, dass er fast heulte. Er nannte uns „Goldkinder" und gab uns alle nur möglichen Kosenamen, und er meinte, wir sollten 'nen Meißel auftreiben und damit sofort die Kette von seinem Bein losmachen, und dann sollten wir, ohne Zeit zu verlieren, abhauen.

Aber Tom machte ihm klar, dass das gar nicht nach den Regeln wäre, und er setzte sich hin und erzählte ihm ausführlich von unseren Plänen und dass wir sie jederzeit ändern könnten, sobald man Alarm schlüge. Er solle bloß keine Angst haben, wir würden schon dafür sorgen, dass er rauskäme, ganz gewiss.

Jim war einverstanden und wir saßen noch eine Weile da und erzählten uns von alten Zeiten. Dann stellte Tom 'ne ganze Reihe Fragen, und als Jim erzählte, dass Onkel Silas jeden Tag käme, um mit ihm zu beten, und dass Tante Sally käme, um nachzusehen, ob's ihm auch gut ginge und er genug zu essen hätte, und dass beide so nett wie möglich zu ihm wären, da sagte Tom:

„Jetzt weiß ich, wie wir's hinkriegen! Wir schicken dir einfach 'n paar von den Sachen durch die beiden."

Ich sagte: „Tu das nur nicht, das ist der blödsinnigste Vorschlag, der mir je zu Ohren gekommen ist."

Aber Tom hörte überhaupt nicht auf mich, er redete einfach weiter. So war er nun mal, wenn er sich was in den Kopf gesetzt hatte.

Er sagte also Jim, wie wir die Strickleiter und andere größere Gegenstände mit Hilfe von Nat, dem Nigger, der ihm das Essen brachte, reinschmuggeln wollten. Er solle gut aufpassen und zum Beispiel das Brot nicht anbrechen, solange Nat dabei wäre; und wir würden 'n paar kleinere Dinge in Onkels Rocktaschen stecken, und Jim müsste sie da rausklauen. Wir würden auch 'n paar Gegenstände an Tantes Schürzenbänder binden oder würden sie sogar in die Schürzentasche stecken, wenn wir dazu Gelegenheit hätten. Und er erzählte ihm, was für Gegenstände das sein würden und was er damit machen sollte. Und dann erklärte er ihm noch, wie er mit seinem Blut auf dem Hemd Tagebuch führen sollte, und all so was.

Das meiste hat Jim überhaupt nicht kapiert, aber er hat eingesehen, dass wir Weißen besser Bescheid wissen müssten als er. So war er denn auch einverstanden und sagte, er würde alles genauso machen, wie Tom es gesagt hatte. Schließlich krochen wir wieder durch das Loch und gingen ins Bett, unsere Hände sahen aus, als wenn jemand daran rumgeknabbert hätte.

Am Morgen gingen wir zum Holzhaufen und zerhackten den Messingkerzenhalter in handliche Stücke und Tom steckte sie zusammen mit dem Blechlöffel in die Tasche. Dann gingen wir zu den Niggerhütten und ich lenkte Nat ab. Während der Zeit stopfte Tom ein Stück Kerzenhalter mitten in ein Maisbrötchen, das in Jims Napf lag. Dann begleiteten wir Nat, um zu sehen, wie es klappte, und es klappte geradezu großartig: Als Jim reinbiss, brach er sich fast seine Zähne aus, und wirklich, es hätte kaum besser klappen können. Tom sagte das auch, Jim tat so, als ob's nur 'n Stein oder irgendwas gewesen wäre, was immer mal ins Brot gerät. Aber danach hat er in nichts mehr gebissen, bevor er nicht drei- oder viermal darin herumgestochert hatte.

So weit war's erst mal geschafft. Wir gingen zum Müllhaufen im Hof, wo die alten Stiefel, Lumpen, Flaschenscherben und ausgediente Blechsachen lagen und all so'n Dreck, und wir wühlten drin rum und fanden 'ne alte Blechwaschschale. Sie hatte Löcher, aber die stopften wir zu, so gut es ging, damit wir 'n Brot darin backen konnten. Diese Schale nahmen wir mit in den Keller, klauten Mehl und füllten sie damit voll.

Als wir zum Frühstück gingen, fanden wir 'n paar Nägel, und Tom sagte, die wären ganz brauchbar für den Gefangenen, damit könne er seinen Namen und seinen Kummer in die Verlieswände kritzeln. Einen davon steckte er in die Tasche von Tante Sallys Schürze, die über 'nem Stuhl hing, und den anderen stopften wir in das Band von Onkel Silas' Hut, der auf dem Schreibtisch lag. Wir hatten nämlich gehört, wie die Kinder sagten, ihr Vater und ihre Mutter würden an diesem Vormittag zur Bude des weggelaufenen Niggers gehen. Dann gingen wir frühstücken und Tom ließ den Blechlöffel in Onkel Silas' Rocktasche fallen. Tante Sally war noch nicht da.

Als sie kam, war sie erhitzt und rot und ärgerlich und konnte kaum das Gebet abwarten. Dann schenkte sie mit der einen Hand Kaffee aus und klopfte mit der anderen dem nächstbesten Kind mit dem Fingerhut auf den Kopf und sagte dabei:

„Ich habe ja schon alles Mögliche erlebt, aber so was noch nicht. Wo ist dein anderes Hemd geblieben, Silas?"

Mir fiel's Herz in die Hosen, und 'ne halbe Brotkruste rutschte mir die falsche Kehle runter. Ich musste husten und die Kruste schoss quer über den Tisch und landete genau im Auge eines Jungen. Der bog sich wie 'n Wurm an 'ner Angel und stimmte 'n Kriegsgeschrei an.

Nach einer Weile, als alles sich ein wenig beruhigt hatte, sagte Onkel Silas: „Das ist allerdings sehr komisch. Ich kann's nicht verstehen. Ich weiß ganz sicher, ich hab's von der Leine abgenommen, weil..."

„Es ist weg, darauf läuft alles hinaus, und du musst dich eben auf ein rotes Flanellhemd umstellen, bis ich mal Zeit habe, dir ein neues zu machen. Und das ist schon das dritte, das ich dir in zwei Jahren machen muss! Du hältst mich wirklich an der Arbeit mit deinen Hemden. Man sollte annehmen, du wärest ein bisschen sorgfältiger damit in deinem Alter! Und das Hemd ist noch nicht alles, was weg ist. Ein Löffel ist auch weg! Vorher waren es zehn, und jetzt sind es bloß noch neun. Das Kalb hat sicher das Hemd gefressen, nehme ich an, aber nie im Leben den Löffel, so viel ist sicher. Und das ist noch nicht alles!"

„Wieso, was fehlt denn noch, Sally?"

„Was noch fehlt? Sechs Kerzen! Kann sein, dass die Ratten die Kerzen gefressen haben, ich glaube, so wird's wohl sein. Es ist ein Wunder, dass sie nicht mit dem ganzen Haus davonspazieren, wo du dir immer vornimmst, ihre Löcher zu verstopfen, und es doch nicht tust. Und wenn sie nicht so dumm wären, dann schliefen sie in deinem Haar, Silas, und du würdest es nicht mal merken. Aber das eine ist sicher: Den Löffel kannst du nicht auf die Ratten schieben!"

„Nun ja, Sally, ich habe Schuld, und ich gebe zu: Ich bin nachlässig gewesen. Morgen am Tage werden die Löcher zugestopft."

„Oh, ich würde mich nicht beeilen, nächstes Jahr ist noch früh genug." In diesem Augenblick kam die Niggerfrau rein und sagte:

„Missus, ein Bettlaken sein weg."

„Ein Bettlaken weg? Zum Donnerwetter noch mal!"

„Ich stopfe die Löcher noch heute zu", sagte Onkel Silas und machte 'n sorgenvolles Gesicht.

„Oh, willst du den Mund halten! Denkst du etwa, die Ratten hätten das Bettlaken geholt? Wo ist es hingekommen, Lisa?"

„Wirklich und wahrhaftig, ich haben keine Ahnung, Frau Sally. Gestern es noch auf der Wäscheleine, aber jetzt einfach futsch, nicht mehr da."

„Ich glaube, die Welt geht unter! So was ist mir doch in meinem ganzen Leben noch nicht passiert. Ein Hemd, ein Laken und einen Löffel und sechs Ker..."

„Missus!", kommt da 'n kleiner gelber Wicht rein. „Es fehlen eine Kerzenleuchter von Messing."

„Raus mit dir, du Dreckspatz oder ich komme dir mit der Bratpfanne!"

Sie war regelrecht wild. Ich fing allmählich an, auf 'ne günstige Gelegenheit zu warten. Ich dachte, ich könnte rausschleichen und im Walde untertauchen, bis der Sturm sich gelegt hätte. Sie tobte in einem fort weiter. Sie machte den Aufruhr ganz allein und alle anderen waren ziemlich demütig und still. Endlich fischte Onkel Silas, und dabei sah er ziemlich blöd drein, den Löffel aus seiner Tasche. Sie hielt inne, mit offenem Mund und erhobenen Händen. Und was mich betraf, ich wünschte, ich wäre in Jerusalem oder sonstwo. Aber nicht lange; sie sagte nämlich zu Onkel Silas:

„Genau, wie ich's vermutet habe! Du hast ihn also die ganze Zeit über in der Tasche gehabt, und höchstwahrscheinlich hast du die anderen Sachen da auch. Wie ist er dahingekommen?"

„Weiß wirklich nicht, Sally", sagte er, als ob er sich entschuldigen wollte. „Du weißt doch, dass ich es dir sonst sagen würde. Ich habe vor dem Frühstück im Testament gelesen und glaube, ich habe ihn mir in die Tasche gesteckt, ohne es zu merken, wohl im Glauben, es wäre das Testament. Ja, so wird's wohl sein."

„Oh, um Himmels willen, lass einen doch mal zu Verstand kommen! Mach jetzt, dass du wegkommst, du mit deinem ganzen Geschimpfe, und komme mir nicht wieder unter die Augen, bevor ich meinen Seelenfrieden wiedergefunden habe."

Wenn ich Onkel Silas gewesen wäre, dann hätte ich ihre Worte gehört, selbst wenn sie sie leise zu sich selbst gesagt hätte, und ich wäre aufgestanden und hätte ihr gehorcht, und das sogar, wenn ich tot gewesen wär. Als wir durchs Wohnzimmer gingen, nahm der Alte seinen Hut, und da fiel der Nagel auf den Fußboden und er hob ihn nur auf und legte ihn auf die Garderobe. Er sagte kein Wort und ging einfach raus. Tom machte sich Sorgen, wo er nun 'nen Löffel herkriegen sollte. Er sagte, wir müssten ihn nun mal haben. Also ging er mit sich selbst zu Rate. Als er zu 'nem Ergebnis gekommen war, sagte er mir, was wir machen müssten. Dann stellten wir uns neben den Löffelkorb und warteten, bis wir Tante Sally kommen sahen. Und dann fing Tom an, die Löffel zu zählen. Er legte sie alle auf eine Seite und ich steckte mir einen in den Ärmel. Daraufhin sagte Tom:

„Sieh mal, Tante Sally, 's sind trotzdem nur noch neun Löffel."

Da sagte sie: „Geht spielen und lasst mich in Ruhe, ich weiß es besser, ich habe sie selbst gezählt."

„Aber ich habe sie zweimal gezählt, Tantchen, und ich sehe nur neun."

Man sah ihr an, dass sie keine Geduld mehr hatte, aber natürlich fing sie an zu zählen - jeder hätte das getan.

„Ich erstarre zur Salzsäule, es sind wirklich bloß neun!", sagte sie. „Wieso, was in aller Welt - ich zähle sie noch mal."

Also ließ ich den einen Löffel wieder reinrutschen, und als sie fertig war mit Zählen, sagte sie: „Zum Henker mit dem ganzen Dreck, jetzt sind's zehn!" Und sie sah ärgerlich und zugleich auch bekümmert aus.

Aber Tom sagte: „Wieso denn, Tantchen, ich glaube nicht, dass es zehn sind."

„Du Dummkopf, hast du nicht gesehen, dass ich sie gezählt habe?"

„Ich weiß, aber... "

„Gut, ich zähle sie noch mal."

Ich ließ also wieder einen verschwinden und es kamen wieder neun dabei raus, genau wie vorher. Sie hatte Tränen in den Augen, sie zitterte regelrecht am ganzen Körper, so wütend war sie. Aber sie zählte und zählte, bis sie so durcheinander war, dass sie sogar manchmal den Korb mitzählte. Dreimal ging's richtig auf und dreimal war's falsch. Dann nahm sie den Korb und schmiss ihn durchs Haus, und sie schrie, wir sollten sie alleinlassen, und wenn wir sie bis zum Mittag noch einmal belästigten, dann würde sie uns das Fell über die Ohren ziehen.

Wir hatten also den überzähligen Löffel und steckten ihn, gerade während sie uns den Laufpass gab, in ihre Schürzentasche. Und Jim hat ihn programmgemäß gekriegt, zusammen mit dem Nagel, und das noch vor Mittag.

Wir hängten an diesem Abend das Betttuch zurück auf die Leine und stahlen statt dessen eins aus ihrem Schrank, und 'n paar Tage lang haben wir das Betttuch fortwährend reingelegt und wieder rausgenommen, bis sie nicht mehr wusste, wieviel Laken sie hatte, und bis sie sagte, es wär ihr egal und sie hätte nicht die Absicht, sich noch weiter darüber aufzuregen, und um kein Geld in der Welt würde sie sie noch mal zählen, sie würde eher sterben.

Für uns war jetzt also alles in bester Ordnung, so weit das Hemd und das Laken und der Löffel und die Kerzen betroffen waren, und das alles mit Hilfe des Kalbs, der Ratten und des verdrehten Zählens; und was den Kerzenhalter betraf, das war nicht sonderlich bedeutend, darüber würde mit der Zeit schon Gras wachsen.

Das Brot aber das war 'ne Arbeit! Wir kamen aus den Schwierigkeiten nicht raus mit diesem Brot. Wir rührten es draußen in den Wäldern an, und da backten wir es auch; und schließlich kriegten wir es auch zustande, sogar recht zufriedenstellend. Wir wollten nichts weiter haben als 'ne Kruste, und der Teig wollte nicht richtig aufgehen, und immer wieder sackte er zusammen. Natürlich haben wir aber zum Schluss die richtige Methode rausgefunden, und die war, die Strickleiter mit dem Brot zusammen zu backen.

Wir haben uns also in der zweiten Nacht mit Jim zusammengetan, und dann haben wir das ganze Betttuch in schmale Streifen zerrissen und die dann zusammengeknotet. Und schon 'ne ganze Zeit vor Tagesanbruch hatten wir 'n herrliches Tau, mit dem man gut und gerne jemand aufhängen konnte. Wir taten so, als ob wir neun Monate dazu gebraucht hätten, es fertigzustellen.

Am Vormittag nahmen wir das Tau mit in den Wald, aber es passte nicht in das Brot. Weil's aus 'nem ganzen Bettlaken gemacht war, war es lang genug, dass man vierzig Brote damit hätte füllen können, wenn man nur gewollt hätte - und dann war noch 'ne ganze Masse übrig für Suppe, Wurst oder irgendwas anderes. Wir hätten 'n ganzes Essen damit füllen können. Aber das brauchten wir nicht. Alles, was wir brauchten, war gerade so viel, wie in das Brot ging, und so haben wir den Rest weggeschmissen. Wir taten das Brot in Jims Napf und die drei Zinnteller auf den Boden des Topfes unter das Essen.

So kriegte Jim alles ordnungsgemäß, und sobald er für sich allein war, hat er die Strickleiter aus dem Brot geholt und in seinem Strohsack versteckt, außerdem hat er 'n paar Zeichen auf 'n Zinnteller gekratzt und ihn aus dem Fenster geworfen.

Warnbriefe und Verhöre

Am nächsten Tage fragte Tom den Gefangenen: „Gibt's hier Spinnen, Jim?"

„O nein, Gott sei Dank nicht, Master Tom." „Gut, wir werden dir 'n paar besorgen. - Gibt's hier denn Ratten?"

„Ich noch keine haben gesehen." „Gut, wir werden dir 'n paar Ratten besorgen." „Aber warum denn, Master Tom? Ich nicht Ratten wollen, sie sein die widerlichsten Biester, wo gibt. Immer stören einen, laufen über einen und beißen in Fuß, gerade wenn schlafen wollen. Nein, nein, du mir geben Schlangen, wenn sein muss, aber nicht Ratten, ich nicht kaum können ihnen gebrauchen."

„Aber Jim, du musst sie haben, alle haben sie. Mach also nicht mehr so viel Geschrei darum. Es gibt keine Gefangenen ohne Ratten, noch nie dagewesen! Und sie dressieren die Ratten und streicheln sie und bringen ihnen Tricks bei, und sie werden mit der Zeit so anhänglich wie Fliegen. Aber du musst ihnen was vorspielen. Hast du irgendwas hier zum Musikmachen?"

„Ich nur blasen kann auf altes Kamm und Stück Papier, aber ich glauben, sie mögen nicht das Musik."

„O doch! Es ist ihnen ganz egal, was für 'ne Art von Musik sie hören, 'n Kamm ist lange gut genug für 'ne Ratte, alle Tiere haben Musik gern, besonders traurige Musik."

Am nächsten Morgen gingen wir also in die Stadt und kauften 'ne Rattenfalle aus Draht. Die brachten wir in den Keller vor das beste Rattenloch und ungefähr in einer Stunde hatten wir fünfzehn erstklassige Ratten. Und dann nahmen wir die Falle und brachten sie an 'nen sicheren Platz unter Tante Sallys Bett.

Aber während wir nach Spinnen aus waren, fand der kleine Thomas Franklin Benjamin Jefferson Alexander Phelps sie und machte die Klappe auf, um nachzusehen, ob die Ratten wohl rauskämen, und sie kamen wirklich raus. Und Tante Sally kam rein, und als wir zurückkamen, stand sie aufm Bett und machte 'n Riesenspektakel. Die Ratten taten, was sie konnten, um ihr die Langeweile zu vertreiben. Sie nahm also die Peitsche und vermöbelte uns beide damit, und dann haben wir ungefähr zwei Stunden gebraucht, wieder fünfzehn oder sechzehn Stück zu fangen.

Wir hatten jetzt 'n großartigen Vorrat an ausgewählten Spinnen, Käfern, Fröschen, Raupen und allem möglichen anderen Getier.

Wir fingen auch 'n paar harmlose Schlangen, und es hat noch nie so 'ne fröhliche Hütte gegeben wie Jims Hütte. Jim mochte die Spinnen nicht, und die Spinnen mochten Jim nicht, und darum lauerten sie ihm auf und machten ihm arg zu schaffen. Und er sagte, dass zwischen den Ratten und den Schlangen kaum noch Platz für sein Bett wäre, und wenn Platz genug da wäre, dann könnte da kein Mensch schlafen, es wäre immerzu so lebendig, weil die Viecher niemals alle zur gleichen Zeit schliefen und sich abwechselten. Er sagte, wenn er dieses Mal rauskäme, dann würde er nie wieder 'n Gefangener sein, nicht mal gegen Bezahlung.

Nun ja, nach ungefähr drei Wochen war alles ziemlich gut in Butter. Das Hemd hatten wir in 'nem Brot schon früh reingeschickt, und jedes Mal, wenn Jim von 'ner Ratte gebissen wurde, stand er auf und schrieb 'n bisschen in sein Tagebuch, solange die Tinte noch frisch war. Die Federn waren fertig, der Bettpfosten war durchgesägt, und wir hatten das Sägemehl aufgegessen und davon ganz erstaunliche Bauchschmerzen gekriegt. Es war das am schwersten verdauliche Sägemehl, das ich je gesehen habe. Das hat Tom auch gemeint. Aber wir hatten, wie ich schon gesagt habe, endlich alles geschafft, und wir waren auch alle ziemlich erledigt, vor allem Jim.

Der alte Phelps hatte schon 'n paarmal nach der Plantage unterhalb von Orleans geschrieben, sie sollten doch kommen und ihren weggelaufenen Nigger abholen, aber er hatte keine Antwort gekriegt, weil's die Plantage überhaupt nicht gab. Darum meinte er, er wollte Jim in den Zeitungen von St. Louis und New Orleans anzeigen. Als er die Zeitung von St. Louis erwähnte, lief's mir kalt den Rücken runter, und ich sah, dass wir keine Zeit zu verlieren hatten. Darum sagte Tom, es wär jetzt Zeit für die anonymischen Briefe.

„Was ist das?", frage ich.

„Eine Warnung für die Leute, dass irgendwas im Busch ist. Manchmal macht man's auf diese Weise, manchmal auf 'ne andere. Aber da spioniert immer jemand rum, der dem Schlossverwalter 'ne Nachricht zukommen lässt. Als König Louis XVI. aus den Tuilerien abhauen wollte, da hat's eine Dienerin gemacht, das ist 'ne ganz gute Methode, aber anonymische Briefe sind auch gut. Wir machen beides! Es ist auch gut für die Mutter des Gefangenen, die Kleider mit ihm auszutauschen, und dann bleibt sie drin, und er entkommt in ihren Kleidern. Das werden wir auch machen."

„Aber sieh doch mal, Tom, weshalb sollten wir wohl jemand davor warnen, dass was im Busch ist? Lass sie's doch selbst rausfinden, ist doch schließlich ihre Angelegenheit."

„Ja, ich weiß, aber man kann sich nicht auf sie verlassen. Sie haben sich von Anfang an zu dämlich benommen - haben alles uns überlassen, sie sind so vertrauensselig und holzköpfig, die merken überhaupt nichts. Wenn wir ihnen also keine Nachricht geben, dann benachrichtigt sie niemand, und es kommt uns überhaupt nichts in die Quere, und nach all unserer harten Arbeit geht die ganze Flucht völlig glatt. Dazu gehört überhaupt nichts, das kann jeder."

„Hm, Tom", sage ich, „wenn's nach mir ginge, würde ich's so machen."

„Mist!", sagt er und macht 'n ärgerliches Gesicht.

Ich sage also: „Ich wollte ja auch gar nichts dagegen sagen, ich richte mich ganz nach dir. Wie willst du das denn mit der Dienerin machen?"

„Die spielst du! Mitten in der Nacht schleichst du rein und klaust dem gelben Mädchen den Rock."

„Ach, Tom, das gibt doch Ärger am nächsten Morgen, denn sie hat doch bestimmt nur den einen."

„Weiß ich, aber du brauchst ihn doch nur 'ne Viertelstunde, um den anonymischen Brief zu überbringen und unter der Tür herzuschieben."

„Gut, ich mach's, aber ich könnte ihn genauso gut in meinen eigenen Klamotten rüberbringen."

„Aber du sähst dann nicht wie 'ne Dienerin aus, klar?"

„Schon gut, ich sag' ja nichts, ich spiel die Dienerin. Aber wer ist Jims Mutter?"

„Ich. Ich klaue 'n Kleid von Tante Sally."

„Gut, dann musst du aber auch in der Hütte bleiben, wenn Jim und ich abhauen."

„Kleinigkeit! Ich stopfe Jims Kleider mit Stroh aus und lege sie auf sein Bett; sie stellen Jims verkleidete Mutter vor. Jim nimmt das Kleid von der Niggerfrau und zieht es an, und dann machen wir alle zusammen, dass wir wegkommen."

Tom schrieb also den anonymischen Brief, und ich hab ihn unter der Haustür durchgeschoben, genau wie's Tom mir gesagt hatte. Darin stand:

Passt auf! Es braut sich was zusammen. Seid auf der Hut!

Unbekannter Freund."

In der nächsten Nacht steckten wir 'n Bild an die Haustür; Tom hatte es mit Blut gemalt, es war 'n Schädel und 'n Kreuz aus zwei Knochen.

Ich habe noch nie gesehen, dass 'ne ganze Familie so bange war! Wenn 'ne Tür schlug, sprang Tante Sally auf und schrie: „Autsch!" Wenn irgendwas hinfiel, sprang sie auf und schrie: „Autsch!" Wenn man sie zufällig berührte, und sie passte gerade nicht auf, dann schrie sie dasselbe. Und sie war auch bange, ins Bett zu gehen, aber sie wagte es nicht, aufzubleiben. Die ganze Sache klappte also sehr gut. Tom sagte, er hätte niemals 'ne Sache gesehen, die so gut geklappt hätte. Daran sähe man, dass wir alles richtig gemacht hätten.

Tom sagte also: „Jetzt auf zum großen Schlag!"

Am nächsten Morgen in der ersten Dämmerung hatten wir 'nen anderen Brief fertig und überlegten, was wir damit machen sollten. Wir hatten nämlich beim Abendessen gehört, dass sie die ganze Nacht durch an jede Tür 'n Nigger stellen wollten.

Tom kletterte den Blitzableiter runter, um auszukundschaften. Der Nigger an der hinteren Tür war eingeschlafen, und da steckte Tom ihm den Brief in den Nacken und kam zurück. In dem Brief stand:

Verratet mich nicht, ich will euer Freund sein, 'ne Bande von Halsabschneidern aus dem Indianergebiet will heute Nacht euren weggelaufenen Nigger klauen, und sie haben versucht, euch bange zu machen, damit ihr im Hause bleibt und sie in Ruhe lasst. Ich gehöre zur Bande, aber ich bin 'n frommer Mann und will die Sache aufgeben und wieder 'n ehrbares Leben führen. Sie wollen sich von Norden ranschleichen, am Zaun entlang, genau um Mitternacht. Mit 'nem falschen Schlüssel wollen sie den Nigger aus der Hütte holen. Ich halte mich 'n Stück abseits, und wenn's gefährlich wird, blase ich 'n Blechhorn. Aber wenn sie reinkommen, werde ich statt dessen bäh machen wie'n Schaf und überhaupt nicht blasen. Während sie seine Ketten losmachen, schleicht ihr euch hin und schließt sie ein. Und dann könnt ihr sie nach Bedarf umbringen. Tut nichts, was ich euch nicht empfohlen habe. Wenn ihr es trotzdem tut, dann schöpfen sie Verdacht und machen ein Mordsgeschrei. Ich will keine Belohnung haben, sondern nur wissen, dass ich recht gehandelt habe.

Unbekannter Freund."

Wir waren nach dem Frühstück so ziemlich obenauf und wir nahmen mein Boot und fuhren raus auf den Fluss, um zu angeln. Unser Mittagessen hatten wir mitgenommen und wir hatten viel Spaß und sahen nach dem Floß und wir fanden es in bester Ordnung.

Wir kamen zu spät zum Abendessen und fanden alle in solcher Aufregung und Sorge, dass sie nicht mehr wussten, was oben und unten war, und uns, 'ne Minute nachdem wir mit dem Essen fertig waren, ins Bett schickten. Und sie sagten uns nicht, was passiert war, und verrieten kein Wort von dem neuen Brief - aber das brauchten sie ja auch nicht, weil wir genauso viel darüber wussten wie jeder. Sobald wir die Treppe halb raufgegangen waren und sie uns den Rücken zugekehrt hatten, schlichen wir uns zum Schrank im Keller, packten gutes Essen ein, nahmen es mit rauf in unser Zimmer und gingen ins Bett.

Ungefähr um halb elf standen wir wieder auf, und Tom zog Tante Sallys Kleid an, das er geklaut hatte, und wollte anfangen zu futtern. Aber da sagte er auf einmal: „Wo ist die Butter?"

„Ich hab 'n Stück rausgelegt", sagte ich, „aufn Stück Maisbrot."

„Wenn das so ist, dann hast du sie auch da liegenlassen!"

„Wir kommen auch ohne zurecht", sagte ich.

„Wir kommen auch mit zurecht", sagte er, „schleich nur mal gerade in den Keller und hol sie. Und dann schlitterst du den Blitzableiter runter. Ich gehe hin und stopfe Stroh in Jims Kleider, um seine verkleidete Mutter darzustellen. Halte dich bereit, bäh zu schreien wie'n Schaf und dann abzuhauen, sobald du da bist."

Raus ging er, und ich ging runter in den Keller. Das Stück Butter, faustgroß, war noch da, wo ich's gelassen hatte. Und so nahm ich das Stück Maisbrot auch gleich mit und blies meine Kerze aus und stieg die Treppe rauf, ganz vorsichtig. Und ich kam auch ungeschoren ins Erdgeschoss, aber da kommt mir Tante Sally mit 'ner Kerze entgegen, und ich klatsche den ganzen Kram in meinen Hut und stülpe mir den Hut auf den Kopf. Und im nächsten Moment sieht sie mich und sagt:

„Bist du im Keller gewesen?"

Ja"

„Was hast du da unten gemacht?"

„Nix"

Ich dachte, sie würde mich jetzt laufen lassen, aber sie sagte: „Auf dem kürzesten Wege gehst du ins Wohnzimmer und bleibst da, bis ich komme. Du hast irgendwas im Schilde geführt und ich werd's rausfinden. Vorher lasse ich dich nicht wieder laufen."

Meine Güte, was für 'ne Menschenmenge war im Wohnzimmer! Fünfzehn Farmer, und jeder von ihnen hatte 'n Gewehr! Mir wurde richtig schlecht und ich taumelte nach 'nem Stuhl und setzte mich. Sie saßen da rum, einige von ihnen sprachen 'n bisschen mit leiser Stimme, und alle waren nervös und aufgeregt. Sie versuchten aber, so auszusehen, als ob sie's nicht wären. Aber ich wusste, dass sie's waren, weil sie immer ihre Hüte abnahmen und wieder aufsetzten und sich die Köpfe kratzten und sich anders hinsetzten und an ihren Knöpfen rumfummelten. Ich war selbst nicht ruhig, aber ich hab trotzdem nicht meinen Hut abgenommen.

Ich wollte, Tante Sally war gekommen, hätte mich abgefertigt und verhauen, falls sie's wollte, und mich dann weggelassen. Ich musste doch Tom sagen, wie wir dieses Unternehmen auf die Spitze getrieben hätten und dass wir endlich aufhören müssten rumzuspielen und mit Jim abhauen müssten, bevor diese Rowdys ihre Geduld verlören und uns auf die Pelle rückten.

Endlich kam sie und fragte mich aus, aber ich konnte nicht offen antworten. Ich wusste nicht mehr, was oben oder unten war; diese Männer waren nämlich inzwischen so nervös geworden, dass einige von ihnen sofort aufbrechen wollten, um die Räuber zu überfallen. Sie sagten, es wären nur noch 'n paar Minuten bis Mitternacht. Andere versuchten, sie zurückzuhalten - sie sollten noch auf das Schafssignal warten.

Währenddessen versetzte mir die Tante eine Frage nach der anderen, und ich zitterte am ganzen Körper und hätte jeden Augenblick aus den Schuhen kippen können, so bange war ich. Und es wurde so schrecklich heiß im Zimmer, und die Butter fing an zu schmelzen und lief mir den Nacken runter und hinter die Ohren.

Tante Sally sah es, wurde kreidebleich und schrie:

„Um Gottes willen, was ist los mit dir? Er hat Gehirnfieber, ich schwör's, und es läuft ihm aus!"

Und alle rennen sie, um es zu sehen, und sie nimmt meinen Hut ab, und da kommt das Brot raus und was von der Butter noch übrig war. Da schnappt sie mich und drückt mich und sagt:

„Oh, wie hast du mich aufgeregt! Und wie froh und dankbar bin ich jetzt, dass es nichts Schlimmeres war. Das Schicksal ist nämlich gegen uns, und als ich das Zeug eben gesehen hab, da dachte ich, du wärst verloren, denn an der Farbe und all dem konnte ich sehen, dass es nur dein Gehirn sein konnte, wenn... O Junge, Junge, warum hast du mir das nicht gleich gesagt, was du da unten gemacht hast, mir hätt's nichts ausgemacht. Nun aber schleunigst ins Bett, und lass dich nicht mehr sehen bis morgen früh!"

In einer Sekunde war ich oben und in der nächsten Sekunde schon wieder am Blitzableiter runtergerutscht. Und schon glitt ich durch die Dunkelheit nach dem Anbau vor Jims Hütte. Ich konnte vor lauter Eifer kaum ein Wort rauskriegen, aber ich hab Tom doch so schnell wie möglich gesagt, dass wir's jetzt wagen müssten und dass keine Minute zu verlieren wär - das ganze Haus wär voll von Männern mit Gewehren.

Seine Augen leuchteten förmlich auf und er sagte: „Wirklich? Nicht möglich! Ist das nicht gewaltig? O Huck, wenn ich's noch mal tun müsste, ich wette, ich würd zweihundert zusammenkriegen. Wenn wir's aufschieben könnten bis..."

„Beeil dich, komm!", sagte ich. „Wo ist Jim?"

„Gleich beißt er dich; wenn du deinen Arm ausstreckst, kannst du ihn berühren. Er ist angezogen, und alles ist fertig. Wir schleichen jetzt raus und geben das Schafssignal."

Aber dann hörten wir das Trampeln von Männerfüßen, die zur Tür kamen, wir hörten, wie sie mit dem Vorhängeschloss rumhantierten, und hörten, wie ein Mann sagte:

„Ich hab doch gleich gesagt, wir kämen zu früh; sie sind noch nicht hier - die Tür ist verschlossen. Passt auf, ich schließe 'n paar von euch in der Hütte ein, und ihr lauert ihnen im Dunkeln auf und legt sie um, wenn sie reinkommen. Ihr Übrigen verteilt euch in der Umgebung und horcht, ob ihr sie kommen hört."

Sie kamen also rein, konnten uns aber im Dunkeln nicht sehen und traten fast auf uns, während wir machten, dass wir unter das Bett kamen. Aber wir schafften es, und wir krochen aus dem Loch, schnell, aber vorsichtig - zuerst Jim, dann ich und als letzter Tom. So hatte Tom es befohlen.

Eine tolle Flucht

Wir waren jetzt im Anbau und hörten Schritte draußen ganz in der Nähe. Wir krochen also zur Tür, und da hielt Tom uns an und lugte aus dem Spalt, konnte jedoch nichts entdecken, es war zu dunkel. Endlich stieß er uns an und wir huschten nach draußen und bückten uns und atmeten nicht und gaben überhaupt keinen Laut von uns. Dann glitten wir vorsichtig wie Indianer nach dem Zaun.

Wir kamen auch hin, und Jim und ich kletterten drüber. Aber Toms Hose blieb an einem Splitter der oberen Latte hängen, und da hörte er schon die Schritte kommen. Er musste sich also losreißen, und dadurch brach der Splitter ganz ab und machte 'n Geräusch. Als er runtersprang und hinter uns herlief, da brüllt jemand:

„Wer ist da? Antwort oder ich schieße!"

Aber wir gaben keine Antwort, wir machten uns auf die Socken und hauten ab. Dann entstand 'n Aufruhr und die Kugeln sausten - peng, peng, peng - ganz hübsch an uns vorbei. Wir hörten sie brüllen:

„Hier sind sie! Sie wollen nach dem Fluss. Hinterher! Macht die Hunde los!"

Und da kommen sie an mit 'nem Affenzahn! Wir konnten sie hören, weil sie Stiefel trugen und schrien; aber wir trugen keine Stiefel, und wir schrien auch nicht. Wir waren auf dem Pfad zur Mühle, und als sie ziemlich nah an uns rangekommen waren, schlugen wir uns in die Büsche, ließen sie vorbeirennen und liefen dann hinter ihnen her. Und da kamen auch schon die Hunde und machten 'n Höllenspektakel.

Aber's waren ja unsere Hunde und darum blieben wir auf der Stelle stehen, bis sie uns eingeholt hatten. Als sie sahen, dass niemand da war außer uns und es nichts Aufregendes für sie gab, sagten sie bloß guten Tag und zuckelten gleich weiter, dem Geschrei und Geknatter nach. Und wir - wieder Volldampf voraus - hinterher, bis wir fast bei der Mühle waren. Dann schlugen wir uns durch die Büsche und gelangten schnell zu meinem Boot.

Wir sprangen rein und ruderten, was wir konnten, zur Flussmitte hin, aber wir machten nicht mehr Lärm, als unbedingt nötig. Dann machten wir uns in aller Ruhe und Gemütlichkeit auf den Weg nach der Insel, wo mein Floß war. Und währenddessen konnten wir hören, wie sie sich gegenseitig anschrien und anbellten, überall am ganzen Ufer - bis wir schließlich so weit weg waren, dass der Lärm schwächer wurde und aufhörte. Als wir aufs Floß klettern, sage ich:

„Endlich, alter Jim! Jetzt bist du wieder 'n freier Mann und ich wette, du wirst nie wieder 'n Sklave sein."

„Und es waren auch sehr gute Arbeit, Huck. Es waren geplant schön und es waren getan schön. Und es geben niemand, wo können machen eine Plan mehr kunterbunt und wunderbar als diese."

Wir waren alle ganz mächtig froh, aber Tom war am frohesten - er hatte nämlich 'ne Kugel in der Wade. Die Wunde tat ihm beträchtlich weh und sie blutete stark. Wir legten ihn also in den Wigwam und rissen eins von des Herzogs Hemden kaputt, um ihn damit zu verbinden. Aber er sagte:

„Gib mir die Lumpen; ich kann das selbst. Jetzt nur keinen Aufenthalt, keine Verzögerung, wo die Flucht so großartig geht."

Aber Jim und ich hielten Rat und dachten nach und nachdem wir für 'ne Minute überlegt hatten, sagte ich: „Raus mit der Sprache, Jim!"

Da sagte er: „Hm, ich die Sache sehen so, Huck. Wenn Tom wären der, den wir hätten befreit, und Kugel getroffen eine von die Jungen, würden er dann sagen: >O bitte mich retten, er nicht brauchen Doktor, Hauptsache, wir retten mich

Ich wusste immer, dass Jim innen weiß war und nur außen "n Nigger und ich nahm an, dass er's ganz ernst meinte. Es war also alles geregelt und ich sagte Tom, ich würde 'n Doktor holen. Er hat mächtig dagegen getönt, aber Jim und ich blieben dabei und gaben nicht nach.

Als er schließlich sah, dass ich das Boot fertig machte, sagte er: „Nun, wenn's denn sein muss! Aber verbinde dem Doktor vorher die Augen und lass ihn schwören, dass er nichts verrät! So machen sie's alle."

Ich sagte, ich würd's so machen, und haute ab. Jim wollte sich im Wald verstecken, sobald er den Doktor kommen sähe, und da bleiben, bis er wieder weg wäre.

Der Doktor war 'n alter Mann; ein sehr netter, freundlich aussehender alter Mann. Ich sagte ihm, mein Bruder und ich wären gestern Nachmittag auf 'ner Insel jagen gegangen und hätten auf 'nem Floß übernachtet, das wir gefunden hätten. Um Mitternacht ungefähr hätte er wohl im Traum an sein Gewehr gestoßen - es war nämlich losgegangen und hätte ihn ins Bein getroffen. Und nun bäten wir ihn, rüberzukommen und es zu behandeln, aber nichts davon zu erzählen, weil wir heute Abend nach Hause kommen und unsere Familie überraschen wollten.

„Wer ist eure Familie?", fragte er.

„Die Phelpse, da unten."

„Oh", sagte er, und 'ne Minute drauf: „Wie ist es noch mal gekommen, dass er angeschossen wurde?"

„Er hat geträumt", sagte ich, „und da hat's ihn erwischt."

„Einmaliger Traum!", sagte er.

Er steckte also seine Laterne an, holte seine Satteltaschen und wir machten uns auf den Weg. Als er aber das Boot sah, gefiel's ihm nicht. Er sagte, es wär groß genug für einen, schien ihm aber nicht sicher genug für zwei.

Da sagte ich: „Oh, Sie brauchen keine Bange zu haben, Herr Doktor, es hat uns drei ganz gut getragen."

„Welche drei?"

„Wieso? Mich, Sid und - und — die Gewehre. Ja, die meinte ich."

„Oh!", sagte er.

Aber er schaukelte das Boot 'n bisschen mit dem Fuß und schüttelte dann den Kopf und sagte, es wär wohl besser, wenn er nach 'nem größeren suchte. Aber sie waren alle angekettet und angeschlossen. Darum nahm er mein Boot und sagte, ich sollte warten, bis er zurückkäme, oder ich könnte auch weiter rumsuchen, oder vielleicht war's noch besser, ich ginge nach Hause und bereitete sie auf die Überraschung vor, wenn ich das wollte. Aber ich sagte, ich wollte's nicht, und so habe ich ihm nur gesagt, wo er das Floß finden könnte, und er hat sich auf den Weg gemacht.

Mit einmal kam mir 'n Gedanke. Ich überlegte mir: wenn er nun das Bein nicht mir nichts, dir nichts in Ordnung bringen kann? Angenommen, es dauert drei oder vier Tage? Was machen wir dann? Abwarten, bis er die Katze aus dem Sack lässt? Kommt nicht in Frage; ich weiß, was ich tue! Ich warte, und wenn er zurückkommt und sagt, er muss noch mal hin, dann gehe ich auch rüber, und wenn ich schwimmen muss! Und dann schnappen wir ihn, binden ihn und halten ihn fest und fahren flussabwärts. Wenn Tom ihn nicht mehr braucht, bezahlen wir ihm seine Arbeit und bringen ihn an Land.

Ich kroch in einen Holzhaufen, um 'n bisschen zu schlafen. Als ich wieder aufwachte, war die Sonne hoch über mir. Ich rannte nach dem Haus des Doktors, aber sie sagten mir, er wäre in der Nacht weggegangen und noch nicht zurück. Hm, denke ich, das sieht ja mächtig übel aus für Tom, und ich haue gleich ab zur Insel. Ich flitze also um die Ecke rum, und da renne ich doch fast mit dem Kopf gegen Onkel Silas' Bauch. Da sagt er:

„Nanu, Tom, wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, du Taugenichts?"

„Nirgends", sagte ich. „Ich hab Jagd gemacht auf den weggelaufenen Nigger - ich und Sid."

„Wieso, wo in aller Welt hast du gesteckt? Deine Tante hat furchtbare Angst um dich."

„Braucht sie nicht", sage ich, „uns hat nichts gefehlt. Wir sind den Männern und Hunden nachgelaufen, aber sie waren schneller als wir, und wir haben sie verloren. Aber wir meinten, wir hätten sie auf dem Wasser gehört, und darum haben wir unser Boot genommen und sind ihnen gefolgt, und dann sind wir rübergefahren, aber wir haben sie nicht finden können. So sind wir am Ufer umhergekreuzt, bis wir müde und erledigt waren. Dann haben wir's Boot festgebunden und sind eingeschlafen und erst vor 'ner Stunde wieder wach geworden. Danach sind wir hier rübergepaddelt, um zu hören, was es Neues gibt. Sid ist drüben in der Post, um 'n bisschen rumzuhorchen, und ich bin unterwegs, um was zu essen für uns zu besorgen. Anschließend wollen wir nach Haus."

Wir gingen also zur Post, um „Sid" zu holen. Aber wie ich natürlich wusste: Er war nicht da. Der Alte holte also nur 'n Brief von der Post ab und wir warteten noch 'ne Weile, aber „Sid" kam nicht. Schließlich sagt der Alte, ich sollte nur mitkommen, Sid könne zu Fuß nach Hause gehen, wenn er mit seiner Rumstrolcherei fertig wäre.

Als wir nach Hause kamen, war Tante Sally so froh, mich wiederzusehen, dass sie zugleich gelacht und geweint hat. Dann hat sie mich gedrückt und mir 'ne Tracht Prügel verpasst, eine von denen, die man schnell wieder vergisst, und sie sagte, Sid würde sie auch kriegen, sobald er käme.

Übrigens war das ganze Haus voll von Farmern und Farmersfrauen, die zum Essen eingeladen waren, und es war ein Geschwätz, wie man's noch nie gehört hat.

Tante Sally sagte gerade: „Ich hatte solche Angst, ich hab kaum gewagt, ins Bett zu gehen oder aufzustehen oder mich hinzulegen oder hinzusetzen, Schwester Ridgeway. Weshalb wollten sie ausgerechnet — warum, um Himmels willen, Sie können sich vorstellen, in was für einer Aufregung ich war, als Mitternacht herankam. Meine Güte, ich war so bange, sie würden mir jemand aus der Familie stehlen. Ich war so weit, dass ich nicht mehr nachdenken konnte. Hört sich jetzt, bei Tage, dumm genug an, aber ich sagte mir, da schlafen meine armen beiden Jungen oben in dem einsamen Zimmer, und ich war so nervös, dass ich raufgeschlichen bin und sie eingeschlossen habe. Wirklich! Jeder hätte das getan. Wissen Sie, wenn man nämlich so bange ist und es schlimmer und schlimmer wird und man ganz aus der Fassung gerät und man alle möglichen dummen Dinge tut - kommt einem so nach und nach der Gedanke: Stell dir vor, du selbst wärst ein Junge und wärst da oben, und die Tür wär nicht verschlossen, und du..." Sie brach ab, sah ein bisschen verwundert aus, drehte langsam den Kopf rum, und als ihre Augen auf mir landeten - stand ich auf und ging.

Ich sagte mir, wenn ich rausginge und 'n bisschen darüber nachdächte, könnte ich's besser erklären, wie es kam, dass wir an diesem Morgen nicht im Zimmer waren. Ich tat's also, wagte aber nicht, weit zu gehen.

Ziemlich spät am Tage gingen die Leute alle weg, und da bin ich reingegangen und habe ihr erzählt, der Lärm und das Schießen hätten mich und „Sid" wach gemacht, und die Tür war abgeschlossen gewesen, aber wir hätten den ganzen Zauber doch sehen wollen. Darum wären wir den Blitzableiter runtergeklettert und hätten uns beide dabei 'n bisschen weh getan. Darum wollten wir das nicht noch mal versuchen.

Dann habe ich ihr noch all das erzählt, was ich Onkel Silas schon vorher erzählt hatte. Sie sagte, sie vergäbe uns, vielleicht könnte man von Jungs nix anderes erwarten, denn alle Jungs wären 'ne Flegelbande, so weit sie's beurteilen könnte. Und dann hat sie mich geküsst, mir über den Kopf gestrichen und hat mich in 'nen braunen Sessel gesetzt. Aber auf einmal springt sie auf und sagt:

„Um Gottes willen, es ist fast Nacht, und Sid ist noch nicht hier. Was mag dem Jungen wohl passiert sein?"

Das war die Gelegenheit für mich. Ich springe also auf und sage: „Ich lauf schnell zur Stadt und hole ihn."

„Nein, kommt nicht in Frage", sagte sie, „du bleibst, wo du bist. Es ist genug, wenn einer fehlt. Wenn er zum Abendessen noch nicht hier ist, geht dein Onkel ihn suchen."

Nun, „Sid" war zum Abendessen noch nicht da. Also ging Onkel gleich nach dem Essen los.

So gegen zehn kam er wieder, 'n bisschen verstört; er hatte Tom nicht finden können. Tante Sally war sehr aufgebracht, aber Onkel Silas sagte, es wär kein Grund dazu vorhanden, Jungens wären nun mal Jungens.

Als ich dann ins Bett ging, nahm sie ihre Kerze, kam mit mir rauf und packte mich ein und bemutterte mich so sehr, dass ich mir richtig gemein vorkam, und ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. Und dann setzte sie sich aufs Bett und sprach 'ne ganze Zeit lang mit mir und sagte, was für'n wundervoller Junge Sid wäre, und sie schien nicht aufhören zu können, über ihn zu sprechen. Schließlich fing sie an zu weinen, und ich sagte ihr, Sid wär bestimmt nichts passiert, und er wär sicher am Morgen wieder da, und als sie endlich ging, da sah sie mir fest und gut in die Augen und sagte:

„Ich lasse die Tür auf, Tom, und der Weg durchs Fenster und am Blitzableiter steht dir offen. Aber du bist ein guter Junge, nicht? Du läufst nicht weg, tu mir den Gefallen!"

Ich wollte weiß Gott wie gern gehen, um zu sehen, wie's Tom ging, und hatte fest vorgehabt abzuhauen, aber hiernach wär ich nicht mal für 'n Königreich abgehauen.

Der Schwindel wird aufgedeckt

Der Alte war schon vor dem Frühstück wieder in der Stadt, hatte aber keine Spur von Tom finden können. Und dann saßen sie beide am Tisch, dachten nach und sagten kein Wort und sahen traurig drein und ihr Kaffee wurde kalt und sie aßen nichts. Nach 'ner Weile sagt der Alte:

„Habe ich dir gestern den Brief gegeben?"

„Was für einen Brief?"

„Der, den ich gestern von der Post abgeholt habe."

„Nee, du hast mir keinen Brief gegeben."

„Hm, dann habe ich es wohl vergessen."

Er wühlte also in seinen Taschen rum und ging dann woanders hin, wo er ihn hingelegt hatte, und holte ihn und gab ihn ihr. Da sagte sie:

„Ach, der ist ja von St. Petersburg, von meiner Schwester!"

Ich meinte, es täte ganz gut, wenn ich noch 'n Spaziergang machte, aber ich konnte mich nicht rühren. Noch bevor sie ihn aufmachen konnte, ließ sie ihn fallen und rannte los. Sie hatte nämlich was gesehen und ich auch. Es waren Tom Sawyer auf 'ner Matratze und der olle Doktor und Jim in Tantes Baumwollkleid mit auf dem Rücken gebundenen Händen und 'ne Masse Leute. Ich versteckte den Brief an der nächstbesten Stelle und lief raus. Sie warf sich über Tom und weinte und klagte:

„Oh, er ist tot. Ich weiß, er ist tot!"

Tom bewegte den Kopf 'n bisschen und murmelte irgendwas, und man konnte sehen, dass er nicht bei Bewusstsein war. Da warf sie ihre Hände in die Luft und schrie:

„Er lebt, Gott sei Dank! Mehr will ich gar nicht!" Und sie gab ihm 'n Kuss und flog aufs Haus zu, um das Bett fertig zu machen. Sie gab Befehle nach allen Seiten, den Niggern und allen anderen, so schnell ihre Zunge nur konnte.

Ich folgte den Männern, um zu sehen, was sie mit Jim tun würden; und der alte Doktor und Onkel Silas gingen hinter Tom her ins Haus. Die Männer waren recht barsch, und einige wollten Jim hängen als abschreckendes Beispiel für alle Nigger in der Umgegend, damit sie nicht versuchten wegzulaufen. Aber die ändern sagten, das sollten sie nicht tun. Erstens würde es auch nichts ändern, und zweitens wär er nicht unser Nigger, und sein Besitzer käme gewiss, und dann müssten wir für ihn bezahlen.

Sie schimpften Jim mächtig aus und gaben ihm hin und wieder eins hinter die Ohren, aber Jim sagte keinen Ton. Er ließ es sich auch nicht anmerken, dass er mich kannte. Sie brachten ihn in dieselbe Hütte, zogen ihm sein eigenes Zeug wieder an und ketteten ihn wieder fest, diesmal aber nicht an den Bettpfosten, sondern an eine große eiserne Krampe, die sie in den Fußbodenbalken gehauen hatten. Und sie ketteten auch seine Hände an und beide Beine und sagten, er kriegte nichts anderes als Brot und Wasser. Und dann kam der alte Doktor, guckte sich das an und sagte:

„Seid nicht wüster mit ihm als nötig, er ist nämlich kein schlechter Nigger. Als ich den Jungen da draußen gefunden habe, sah ich, dass ich die Kugel nicht ohne Hilfe rausschneiden konnte, und sein Zustand war nicht danach, dass ich ihn allein lassen konnte, wenn ich Hilfe holte. Es ging ihm allmählich immer schlechter und schließlich verlor er den Verstand und ließ mich nicht an sich rankommen. Er sagte, wenn ich ihm das Floß stähle, dann würde er mich umbringen, und all so ein dummes Zeug, und ich sah, ich konnte nichts mit ihm anfangen. Darum sagte ich, ich muss Hilfe haben, ganz gleich, wie.

Im Augenblick, wo ich das sagte, kommt dieser Nigger von irgendwoher gekrochen und sagt, er würde helfen. Und das hat er auch getan, und er hat es sehr gut getan. Natürlich habe ich mir gedacht, dass er ein weggelaufener Nigger ist, aber da steckte ich nun, und da musste ich den ganzen Tag über bleiben und die Nacht noch dazu. Es war eine unangenehme Situation, sage ich euch.

Endlich kamen ein paar Männer in einem Boot vorbei und ich hatte Glück. Der Nigger saß am Krankenlager, seinen Kopf auf den Knien, und war fest eingeschlafen. So habe ich sie reingewinkt, ganz sachte, und sie huschten an Land und packten ihn, bevor er wusste, wie ihm geschah, und wir hatten keine Schwierigkeiten. Weil der Junge endlich halbwegs eingeschlafen war, haben wir die Ruder umwickelt und das Floß angehängt und es ganz ruhig und sachte rübergerudert. Der Nigger hat überhaupt nicht gemuckt und kein Wort gesagt. Er ist kein schlechter Nigger, meine Herren, das ist meine Meinung."

Da sagte irgendwer: „Hm, hört sich ganz gut an, Doktor, das muss ich sagen."

Da wurden auch die anderen 'n bisschen milder, und ich war dem alten Doktor mächtig dankbar, dass er sich so für Jim eingesetzt hatte.

Ich hoffte, sie hätten ihm eine oder zwei Ketten abgenommen - die waren nämlich verflixt schwer -, oder sie hätten ihm Fleisch und Grünzeug zusammen mit seinem Brot und Wasser gegeben; aber sie dachten nicht daran, und es wäre für mich wohl nicht gerade das Richtige gewesen, mich einzumischen. Aber nach meiner Meinung war es ganz gut, den Bericht des Doktors irgendwie Tante Sally zu Ohren zu bringen, sobald ich den Sturm, der mir bevorstand, überstanden hätte.

Aber ich hatte genügend Zeit. Tante Sally hielt sich Tag und Nacht im Krankenzimmer auf, und wenn ich Onkel Silas irgendwo rumstreichen sah, bin ich ihm jedes Mal ausgewichen.

Am nächsten Morgen hörte ich, dass es Tom erheblich besser ging, und sie sagten, Tante Sally hätte sich hingelegt, um 'n bisschen zu schlafen. Ich huschte also in das Krankenzimmer. Ich war sicher: Wenn er wach war, konnten wir uns 'n glaubhaftes Garn für die Familie zurechtlegen.

Aber er schlief gerade, und zwar sehr friedlich; er war blass, nicht etwa feuerrot, wie er gewesen war, als er ankam. Ich setzte mich also zu ihm und wartete drauf, dass er aufwachte. Nach ungefähr 'ner halben Stunde kommt Tante Sally reingewetzt, und da war ich mal wieder aufgeschmissen. Sie machte mir 'ne Bewegung, dass ich still sein sollte, und setzte sich zu mir. Dann fing sie an zu flüstern und sagte, wir könnten uns jetzt alle freuen, denn Tom machte sich prima und er hätte schon seit 'ner Ewigkeit so fest geschlafen und er sähe besser und friedlicher aus.

Wir saßen also da und passten auf, und nach 'ner Weile bewegte er sich 'n bisschen. Dann machte er ganz normal seine Augen auf, sah sich um und sagte:

„Nanu, wieso bin ich denn zu Hause? Wie kommt das bloß? Wo ist das Floß?"

„In bester Ordnung", sagte ich.

„Und Jim?"

„Ebenfalls", sagte ich, aber es klang nicht so ganz überzeugend. Er merkte das aber nicht, sondern sagte:

„Gut, ausgezeichnet, jetzt ist alles in Ordnung und in Sicherheit. Hast du's Tante schon erzählt?" Ich wollte gerade ja sagen, aber sie redete dazwischen und sagte: „Was denn, Sid?"

„Wie wir das ganze Ding gedreht haben natürlich!"

„Was für ein ganzes Ding?"

„Das ganze Ding selbstverständlich! Kann doch nur von dem einen die Rede sein! Wie wir den weggelaufenen Nigger befreit haben, ich und Tom."

„Guter Gott! Den weg... Wovon spricht das Kind nur? O nein, schon wieder nicht recht bei Sinnen!"

„Nein, ich bin nicht von Sinnen, ich weiß genau, wovon ich spreche. Wir haben ihn wirklich befreit, ich und Tom! Wir haben's vorbereitet, und wir haben's getan, und wir haben's sogar erstklassig gemacht!" Jetzt war er im richtigen Fahrwasser, und sie unterbrach ihn nicht einmal. Sie saß nur da, starrte und starrte und ließ ihn plappern. Ich konnte sehen, dass es auch für mich keinen Zweck hatte, ihm in die Rede zu fallen.

„Du glaubst kaum, Tante", sagte er weiter, „wieviel Arbeit uns das gekostet hat! Wochen, jede Nacht, Stunde um Stunde, während ihr alle geschlafen habt. Und wir mussten Kerzen klauen und das Bettlaken und das Hemd und dein Kleid und Löffel und Zinnteller und Messer und viele andere Dinge. Du kannst dir einfach nicht vorstellen, was für 'ne Arbeit es war, die Sägen und Federn zu machen und die ganzen anderen Dinge! Du kannst dir aber auch nicht im Entferntesten ausdenken, wie viel Spaß das gemacht hat. Wir mussten auch das Bild malen mit dem Totenschädel und so weiter, und den anonymischen Brief von den Räubern mussten wir schreiben und mussten den Blitzableiter runterrutschen und das Loch unter der Hütte graben und die Strickleiter machen und sie in 'n Brot eingebacken reinschicken. Dann mussten wir ihm auch Löffel und Werkzeuge schicken, und in deiner Schürzentasche..."

„Um Himmels willen!"

„... und Ratten und Schnecken und all so'n Zeugs in die Hütte bringen als Gesellschaft für Jim. Und dann hast du Tom hier so lange mit der Butter in seinem Hut festgehalten, dass du uns fast das Unternehmen völlig verdorben hättest. Die Männer kamen nämlich schon, bevor wir aus der Hütte raus waren, und wir mussten uns beeilen, und dabei haben sie uns gehört und uns verfolgt. Ja, und dabei habe ich dann mein Andenken abgekriegt. Danach kamen die Hunde, aber sie hatten kein Interesse an uns und liefen nur dem Lärm nach. Schließlich nahmen wir unser Boot und fuhren nach dem Floß. Da war denn alles sicher, und Jim war 'n freier Mann, und wir haben das alles selbst gemacht. War das nicht Klasse, Tante?"

„So was habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Ihr wart das also, ihr Tunichtgute! Ihr habt das alles angestiftet und jeden hier fast verrückt gemacht! Oh, am liebsten würde ich euch gleich jetzt dafür büßen lassen. Wenn ich bedenke, dass ich nächtelang... Oh, warte nur, bis du gesund bist, du Taugenichts, dann werde ich euch beiden das Fell gerben!"

Aber Tom war so stolz und froh, er konnte nicht den Mund halten, er plapperte in einem fort. Sie redete immer dazwischen, fuchsteufelswild, und so redeten sie beide zugleich; 's hörte sich an wie 'ne Katzenversammlung. Da sagte sie: „Ja, jetzt hast du allen nur möglichen Spaß an der Sache, aber warte nur, wenn ich dich jemals wieder dabei erwische, dass du dich mit ihm abgibst..."

„Mit wem abgibst?", fragte Tom. Er hörte auf zu grinsen und machte 'n ganz erstauntes Gesicht.

„Mit wem? Mit dem weggelaufenen Nigger natürlich, mit wem sonst?"

Da sieht Tom mich ganz ernst an und sagt: „Tom, hast du mir nicht gerade gesagt, es war alles in Ordnung mit ihm? Ist er denn nicht weggekommen?"

„Er?", fragte Tante Sally. „Der weggelaufene Nigger? Natürlich nicht! Sie haben ihn wieder, und er steckt wieder in der Hütte bei Brot und Wasser, und sie haben ihn mit Ketten behängt, und so wird es bleiben, bis sein Eigentümer kommt und er verkauft wird."

Tom richtet sich kerzengerade im Bett auf, und mit glühenden Augen und geblähten Nasenlöchern schreit er mich an: „Sie haben kein Recht, ihn einzulochen! Hau ab und verlier keine Minute, lass ihn frei, er ist kein Sklave. Er ist frei wie irgendwer auf dieser Erde!"

„Was meint das Kind nur?"

„Ich meine genau das, was ich sage, Tante Sally, und wenn nicht bald einer geht, dann gehe ich selbst. Ich hab ihn mein ganzes Leben lang gekannt und Tom auch. Das alte Fräulein Watson ist vor zwei Monaten gestorben und sie hat sich so geschämt, dass sie ihn hatte nach Süden verkaufen wollen. Und darum hat sie ihn in ihrem Testament freigelassen."

„Warum in aller Welt wolltest du ihn dann befreien, wo du doch wusstest, dass er schon frei war?"

„Das ist vielleicht 'ne Frage! muss schon sagen, so was kann auch nur 'ne Frau fragen! Natürlich wollte ich Abenteuer erleben und hätte Kopf und Kragen dafür riskiert... Du lieber Himmel - Tante Polly!"

Wenn das nicht Tante Polly war, die da in der Tür stand, so süß und zufrieden wie 'n Weihnachtsengel, dann will ich tot umfallen.

Tante Sally sprang auf sie zu und hätte sie fast totgedrückt. Und sie weinte und all so was. Ich suchte mir inzwischen 'n brauchbaren Platz unterm Bett, denn für uns wurde es jetzt recht mulmig, schien mir. Ich schielte aus meinem Versteck heraus und sah, wie Toms Tante Polly sich gerade losmachte und Tom über ihre Brille weg anguckte, als wollte sie ihn in den Erdboden versinken lassen. Und dann sagt sie:

„Ja, du tust ganz recht, wenn du deinen Kopf abwendest, ich an deiner Stelle tat's jedenfalls, Tom!"

„Ach, du meine Güte!", sagte Tante Sally. „Hat er sich so verändert? Das ist doch gar nicht Tom, das ist Sid. Tom ist - Tom ist - ja, wo ist Tom eigentlich? Vor einer Minute war er noch hier."

„Du meinst wohl: wo ist Huck Finn, nicht? Sollte ich vielleicht so einen Tunichtgut wie meinen Tom nicht erkennen, nachdem ich ihn so lange Jahre großgezogen hab? Das wäre schlimm! Komm unter dem Bett hervor, Huck Finn!"

Das hab ich denn auch getan.

Toms Tante Polly hat dann alles über mich erzählt, wer ich war und so weiter. Und ich musste Rede und Antwort stehen. Als ich an die Stelle kam, wo Frau Phelps mich für Tom Sawyer gehalten hatte, da unterbrach sie mich und sagte: „Ach, sag doch weiter Tante Sally zu mir, ich habe mich jetzt daran gewöhnt, und es ist nicht nötig, es zu ändern!"

Ich erzählte also, dass ich, als Tante Sally mich für Tom Sawyer gehalten hatte, es einfach hinnehmen musste, 's gab einfach keine andere Möglichkeit. Und ich hätte auch gewusst, dass Tom nichts dagegen hatte und dass es für ihn 'ne ganz enorme Sache sein würde, 'n tolles Geheimnis. Er würde 'n Abenteuer daraus machen, und damit wäre er dann völlig zufrieden. Und so ist's ja auch gekommen; er hat dann so getan, als wäre er Sid und hat mir damit meine Lage so leicht gemacht wie möglich.

Tante Polly sagte, was Tom über das alte Fräulein Watson gesagt hätte, stimmte - sie hätte Jim tatsächlich in ihrem Testament freigelassen; Tom Sawyer hatte also wirklich die ganzen Schwierigkeiten und den ganzen Umstand auf sich genommen, um 'nen freien Nigger zu befreien.

Tante Polly sagte, als Tante Sally ihr geschrieben hätte, dass Tom und Sid gut und sicher bei ihr angekommen wären, hätte sie gemeint: Da sieh doch mal einer an! Damit hätte ich eigentlich rechnen sollen, als ich ihn ohne Begleitung reisen ließ. „Weil du, Sally, mir allem Anschein nach keine Antwort auf meine Briefe geben wolltest, musste ich also den ganzen Weg, elfhundert Meilen, flussabwärts fahren, um rauszufinden, was er diesmal im Schilde führt."

„Wieso, ich habe kein Wort von dir gehört!", sagte Tante Sally.

„Das ist aber erstaunlich, ich hab dir doch zweimal geschrieben und dich gefragt, was du damit gemeint hättest, dass Sid hier wäre."

„Ich habe keinen Brief gekriegt, Schwester."

Da dreht Tante Polly sich um, ganz langsam und würdevoll, und sagt: „Du, Tom!"

„Ja, was denn?" fragt er.

„Frag nicht so frech, du unverschämter Bengel. Gib die Briefe raus!"

„Was für Briefe?"

„Die Briefe! Pass bloß auf, dass ich dich nicht... !"

„Sie sind im Koffer. Da, jetzt weißt du's! Und sie sind noch genauso wie an dem Tage, als ich sie von der Post geholt habe. Ich habe nicht reingesehen, und ich hab sie nicht angerührt. Aber ich wusste, dass nichts Gutes darinstand, und ich dachte, wenn du's nicht eilig hättest, wollte ich..."

„Na, du hast aber wirklich verdient, dass man dir das Fell über die Ohren zieht! Und dann habe ich noch einen Brief geschrieben, in dem habe ich meinen Besuch angekündigt. Ich nehme an, der ist noch nicht... "

„Doch, der ist gestern angekommen. Ich habe ihn noch nicht gelesen, aber der ist in Sicherheit, ich habe ihn."

Ich hätte um zwei Dollar gewettet, dass sie ihn nicht hatte. Aber ich dachte mir, 's wär vielleicht genauso sicher, wenn ich auf die Wette verzichtete. Ich habe also nichts gesagt.

Als ich Tom zum ersten Mal allein zu fassen kriegte, habe ich ihn gefragt, was er sich eigentlich bei der Flucht so gedacht hat. Was er wohl getan hätte, wenn er's fertiggebracht hätte, den Nigger zu befreien, der schon frei war?

Er sagte, von Anfang an hätte er sich in den Kopf gesetzt, sobald wir Jim befreit hätten, gemeinsam mit uns den Fluss runterzufahren. Die Reise sollte aufm Floß vor sich gehen, und wir wollten 'ne Masse Abenteuer erleben, bis runter zur Flussmündung. Und dann erst hatte er Jim sagen wollen, dass er frei wäre. Er hätte ihn dann aufm Dampfer wieder mit nach Hause nehmen wollen, in ganz großem Stil, und hätte ihm die verlorene Zeit bezahlen wollen. Außerdem hätte er die Absicht gehabt, vorher nach Hause zu schreiben, sie sollten alle Nigger in der ganzen Umgegend auffordern, in die Stadt zu kommen und 'nen Fackelzug zu veranstalten und 'ne Blaskapelle mitzubringen. Dann hätte er als Held dagestanden und wir auch. Nach meiner Meinung war es so, wie's gekommen war, ungefähr genauso gut.

Im Handumdrehen hatten wir Jim von seinen Ketten befreit, und als Tante Polly und Onkel Silas und Tante Sally erfuhren, wie gut er dem Doktor geholfen hatte, Tom zu pflegen, da haben sie sich wer weiß wie um ihn betan. Sie haben ihn prima ausgestattet, ihm alles zu essen gegeben, was er haben wollte und er brauchte nichts zu tun. Wir holten ihn rauf ins Krankenzimmer, und er hat 'ne große Rede gehalten. Und Tom hat ihm vierzig Dollar dafür gegeben, dass er so geduldig den Gefangenen gespielt hatte. Jim fühlte sich ganz mächtig geschmeichelt, und dann kam er damit raus und sagte:

„Du sehen jetzt, Huck, was ich dir haben erzählen, damals auf Jackson-Insel? Ich dir gesagt haben, Jim wären gewesen mal reich und Jim werden wieder reich. Und das ist geworden wahr."

Und dann redete Tom in einem fort, und er redete und meinte, wir sollten alle drei in 'ner Nacht hier auskratzen, sollten uns 'ne Ausrüstung anschaffen und bei den Indianern auf Abenteuersuche gehen. Ich sagte: „In Ordnung, ist mir recht, aber ich hab kein Geld, die Ausrüstung zu kaufen, und ich könnte wohl auch keins von zu Hause kriegen. Wahrscheinlich ist nämlich mein Alter jetzt beim Notar Thatcher gewesen und hat sich's geholt und versoffen."

„Nee, das hat er nicht", sagt Tom, „das ist noch alles da, über sechstausend Dollar! Und dein Alter hat sich seit damals nicht mehr sehen lassen, jedenfalls nicht, solange ich da war."

Da sagte Jim 'n bisschen feierlich: „Ihm nie wiederkommen, Huck."

„Wieso, Jim?", fragte ich.

„Du nicht fragen, Huck, er nie kommen wieder und damit gut."

Aber ich ließ nicht locker, und da sagte er schließlich: „Du erinnern an Haus, wo geschwommen ist flussabwärts, damals? Darin doch gewesen ein Mann, zugedeckt! Und als ich Decke wegnehmen, da ich dich nicht lassen rankommen. Du sehen: deshalb du können kriegen deine Geld, wenn du wollen; das waren nämlich ihm!"

Tom ist jetzt wieder ganz gesund und trägt die Kugel an 'ner Uhrkette um seinen Hals, an Stelle von 'ner Uhr. Und alle naselang guckt er nach, wie spät es wohl ist. Da bleibt also nichts mehr, wovon ich noch schreiben könnte, und darüber bin ich verflixt froh; wenn ich nämlich vorher gewusst hätte, was für 'ne Arbeit es ist, 'n Buch zu schreiben, dann hätt ich gar nicht erst dabei angefangen. Und ich werd's auch nie wieder versuchen. Ich glaube aber, ich muss früher als die anderen ins Indianergebiet abhauen; was nämlich Tante Sally ist, die will mich adoptieren und zivilisieren, und das kann ich nicht ausstehen. Hab's schon mal durchgemacht. Herzlichst euer Huck Finn

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