»Mach so weiter … ja … so …« Nora Hill starrte über Flemming die Wand hinter dem Schreibtisch an. Eine große Fotografie Hitlers hing dort. Des Führers ›stählerne‹ Augen blickten Nora entgegen. Sie stemmte die Füße gegen die Sessellehnen und die Handflächen hinter dem Oberkörper gegen die Schreibtischplatte. Dabei berührte sie Jacks Pistole, die sie Flemming gleich nach ihrer Ankunft gezeigt hatte, als sie ihr Alibi für diesen Morgen etablierte.
Das war vor einer Viertelstunde gewesen …
»… Cardiff hat mir diese Smith and Wesson gegeben … ein Erkennungszeichen für einen britischen Überläufer, der mit uns arbeiten will, wie Cardiff …«
»Herrgott, wo geht denn dieses Ding auf …« Flemming hörte kaum hin, er riß an dem durchlaufend geknöpften Wollkleid herum, bis sie ihm half. Sofort nach ihrem Eintreffen hatte er die schwere Doppeltür seines Büros versperrt und der Telefonzentrale mitgeteilt, daß er bis auf weiteres nicht zu sprechen sei.
»Jeden Montagmorgen zwischen neun und zehn soll ich im Café ›Pöchhacker‹ warten … da will der Mann hinkommen …« Gezerre an der Gürtelschnalle. »Oder er wird mich irgendwann auf der Straße ansprechen.« Mit zitternden Händen und gerötetem Gesicht öffnete der große, starke und gut aussehende Flemming einen Knopf des Kleides nach dem andern. Er war wie von Sinnen. »Darum habe ich mich von Albert auch nur bis zum Ring fahren lassen und ihn gebeten, dir zu sagen, daß ich später komme. Ich ging ins ›Pöchhacker‹ … Albert hat es dir doch gesagt, wie?« Er murmelte atemlos etwas Unverständliches.
»Was?«
Das Kleid fiel zu Boden. Nora trat einen Schritt zur Seite. Flemming küßte sie wild, während seine Hände ihre Brüste hielten, die Warzen unter dem Seidenhemdchen streichelten. Sie trug keinen Büstenhalter.
»Hat mich angerufen, ja …«
»Wo ist er? Paß doch auf, du machst das Hemd kaputt!«
»Na und! Albert? Wartet unten, nehme ich an … fuhr noch tanken und Öl wechseln, weil er Zeit hatte …« Flemming lachte. »Eine Menge Zeit hat der noch, bis er dich heimbringt … Daß du keinen Büstenhalter brauchst … Ich habe nie eine Frau mit so schönen Brüsten gesehen, nie … Ich liebe dich, Nora, ich liebe dich …«
Ich liebe dich! Die drei von gemeinem Mißbrauch am meisten entleerten Worte der Welt, dachte sie.
»Ich habe bis zehn Uhr fünfzehn gewartet … aber der Mann kam nicht … vielleicht kommt er nächsten Montag … oder irgendwann, irgendwo, ganz plötzlich …«
»Ja, vielleicht … Was ist das für ein Höschen? Lissabon, wie?«
»Ja.«
»So etwas können sie bei uns nicht machen … Herrgott, sieht das geil aus …« Er zog seine Jacke aus und warf sie auf einen Stuhl, er zerrte die Krawatte herunter, öffnete die Hose. »Schau her! Schau dir das an! Er hat auf dich gewartet. Alles für dich aufgehoben. Er war dir treu.« Wie treu? dachte Nora. So treu wie ich dir? Weniger? Noch weniger? »Du wirst es gleich merken … aber zuerst komm auf den Schreibtisch … zuerst das andere …«
»Carl …«
»Ich bin doch kein boche! Ich weiß, was man tun muß … In Frankreich hat einmal ein Mädchen gesagt, ich mache ›mi-mi comme un Parisien‹!« So war Nora Hill auf der Schreibtischplatte gelandet …
»Gut? Ist es gut?« Flemmings Atem flog.
»Ja … ja …«
»Noch? Soll ich noch, oder willst du jetzt …«
»Nein! Hör auf, sonst … komm … jetzt will ich …«
Er sprang auf, seine Hose glitt herab. Er drang in sie ein. Sie schlangen die Arme umeinander, Noras Schenkel schlossen sich hinter seinem Rücken. Sie wurde auf dem Schreibtisch hin und her gestoßen. Er hielt sie eisern fest, küßte ihre Schultern, ihre Brüste, sog an den Warzen.
»Jetzt!« stöhnte sie wild. »Jetzt … oh … oh …« Sie spielte nun kein Theater mehr. Schon ein Mann, dieser Carl Flemming, o ja, ein Mann war er, dieses Nazischwein.
Eineinhalb Stunden später fuhr Nora Hill heim. Sie wohnte in Flemmings Villa. Er hatte angekündigt, daß er schnellstens, sobald er aus dem Büro fort könne, nachkommen würde. Nora Hill saß im Fond von Flemmings Dienstwagen. Albert Carlson, sein Chauffeur, saß am Steuer. Er fuhr vorsichtig und gut, war vorbildlich höflich und redete nur, wenn Nora das Wort an ihn richtete. Sie verließen die Stadt und erreichten die Peripherie im Westen, beim Lainzer Tiergarten. Hier, in einem Park, lag die Villa, die Flemming bewohnte – ein mächtiger Rundbau, der aussah wie ein breiter Turm, mit gewundenen Steinornamenten im Jugendstil, aber auch mit blauen, roten und gelben Mosaikmustern verziert. Dieses Haus, das an ein Gebäude aus den Geschichten E. T. A. Hoffmanns erinnerte, hatte in den zwanziger Jahren ein exzentrischer Wiener Bankier bauen lassen. Der Bankier war schon 1937 emigriert, das Haus hatte von da an dauernd die Besitzer gewechselt, zuletzt war es vom Auswärtigen Amt gekauft worden. Für Flemming allein wäre es viel zu groß gewesen. Man hatte es ihm zugewiesen – und auch zahlreiches Personal –, denn hier übernachteten oder wohnten kürzere Zeit Kuriere, Agenten, Spitzel, Besucher aus Berlin und zwielichtige Gestalten verschiedener Nationalitäten.
Mit der größten Höflichkeit half Albert Carlson, der den ›Wanderer‹ auf der Kiesrampe vor dem Haupteingang zum Halten gebracht hatte, Nora Hill beim Aussteigen. Er trug eine graue Uniform mit Schirmkappe. »Ich bringe sofort das Gepäck!«
Nora nickte und ging die drei Stufen zum Eingang empor. Sie brauchte nicht zu warten, die Tür öffnete sich sofort. Ein Diener verneigte sich – er war von dem Wachposten, der im Gärtnerhaus bei der Parkeinfahrt Dienst tat, telefonisch verständigt worden.
»Oh, ich freue mich, Sie wiederzusehen, Fräulein Hill!«
»Ich mich auch, Konrad.« Nora ging an ihm vorbei in die große kreisförmige Halle des Hauses hinein, in der antike Möbel standen. In der Mitte sprudelte ein Springbrunnen. Das Bassin beherbergte seltene Fische. Tageslicht fiel durch ein Glasdach.
Nora Hill stieg die ebenfalls runde Treppe zum ersten Stock empor. Hier lag ihr Appartement. Ein Bad, dachte sie, ein heißes langes Bad jetzt. Sie blieb einen Moment auf der Treppe stehen.
»Ist etwas, gnädiges Fräulein?« fragte der Diener, der ihr folgte.
»Nein, gar nichts«, antwortete Nora, weitergehend. Sie hatte gedacht: Ob diese Valerie Steinfeld sich doch noch entschließt, den Prozeß zu führen? Und wenn nicht? Wenn ihrem Sohn dann etwas geschieht? Und wenn sie den Prozeß führt, und es geschieht ihm auch etwas? Herrgott, dachte Nora nun, während sie über einen runden Gang auf ihr Appartement zuging, es ist schlimm für Valerie Steinfeld. Nur mit sehr viel Glück wird sie sich und ihren Jungen durchbringen. Ach, aber wer braucht nicht sehr viel Glück, dachte sie, plötzlich wieder gleichgültig.
Vor der Villa hatte der grau uniformierte Chauffeur zwei schwarze Krokodillederkoffer aus dem Gepäckraum des Wagens genommen. Ein blauer Mantel und ein blauer Homburg lagen im Kofferraum. Chauffeur Albert Carlson, ein Mann mit hagerem, hungrig wirkendem Gesicht, stechenden Augen und zusammengewachsenen Brauen, legte eine Decke über Hut und Mantel, dann sperrte er den Kofferraum ab. Schon gut, daß ich das immer dabei habe, wenn der Alte mich losschickt, um Nora Hill zu holen, dachte er. Ich habe ja gewußt, einmal erwische ich sie bei etwas. Nun ist es soweit. Noch nicht weit genug. Ich muß noch mehr wissen. Und dann …
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»Daß Albert mich mit diesem Mantel und diesem Homburg beschattete, ja, daß er überhaupt stets hinter mir her war, das wußte ich damals natürlich noch nicht«, sagte Nora Hill. »Das hat er mir erst später erzählt, viel später – der Dreckskerl.« Sie trank das Glas, das Manuel Aranda während ihres Berichtes noch zweimal gefüllt hatte, aus und zerdrückte eine Zigarette im Aschenbecher. Das Feuer des offenen Kamins brannte mit hohen, züngelnden Flammen. Funken sprühten, wenn ein Holzscheit brach. »Ach, was heißt Dreckskerl – ein Mensch eben«, sagte die so jugendlich wirkende Mittfünfzigerin in dem silbernen Abendkleid.
Manuel fragte hastig: »Was geschah mit diesem Chauffeur? Was geschah überhaupt weiter?«
Nora Hill lächelte, ihr breiter Mund öffnete sich und zeigte die schönen Zähne.
»Hier, mein Freund, unterbreche ich.«
»Wieso? Hören Sie …«
»Es tut mir leid. Aber ich bin nun zu einem Punkt gekommen, der es erfordert, daß andere eine Lücke in meiner Erzählung füllen. Was mit mir in den nächsten sechs Wochen geschah, ist uninteressant. Mit Valerie Steinfeld geschah eine Menge, wovon ich bis zum heutigen Tag nichts weiß. Sie wollen doch die Geschichte Valerie Steinfelds – oder?«
»Natürlich!«
»Nun, die ganze Geschichte kenne ich auch nicht. Ich sagte Ihnen eingangs, dies ist kein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Es ist eine böse Geschichte. Auch andere Menschen haben wichtige Rollen in ihr gespielt. Diese Menschen sollen nun erzählen, was sie wissen – wie ich. Ich weiß noch einiges, und ich werde es Ihnen berichten – später. Zuerst müssen Sie herausfinden, was in jenen sechs Wochen geschah, die meiner Begegnung mit Valerie Steinfeld folgten. Es interessiert mich selber. Sehen Sie, ich habe Ihnen das Ende eines Wollknäuels in die Hand gegeben, das weit und wirr abgerollt ist. Sie müssen den Faden nun entlanggehen und ihn wieder zum Knäuel wickeln – nur so kommen Sie aus dem Labyrinth heraus, in das ich Sie geführt habe …«
»Großartig macht sie das«, sagte in dem Kleinmädchenzimmer Fedor Santarin.
»Yeah«, grunzte Gilbert Grant. »Großartig. Und was tun wir, bis Aranda die ganze Wahrheit zusammengesucht hat?«
»Er muß die ganze Wahrheit zusammensuchen, Gilbert, Sie Narr«, sagte der Russe ruhig. »Nur so wird er Noras Bitte erfüllen.«
In dem großen Wohnzimmer des Appartements sagte Manuel: »Was läßt Sie glauben, daß Valerie Steinfeld in diesen sechs Wochen viel erlebt hat?«
»Tatsachen«, sagte die Frau mit den gelähmten Beinen. »Bevor ich am sechzehnten November nach Lissabon flog, rief ich die Steinfeld an, wie verabredet. Wir trafen uns wieder in der Stephanskirche. Ja, sagte sie, nun habe sie sich doch entschlossen, den Prozeß zu führen. Sie sei auch schon bei diesem Doktor Forster gewesen. Die Sache laufe bereits.«
»Und sie sagte Ihnen nicht, was sie zu diesem Entschluß gebracht hatte?«
»Ich fragte sie. Sie wollte es nicht sagen. Ich bin ganz sicher, daß etwas Schwerwiegendes geschehen war. Sie hatte wahrscheinlich Angst, ihren Mann zu beunruhigen. Der sollte über mich und Jack Cardiff nur erfahren, daß sie tat, worum er sie ersucht hatte. Er sollte beruhigt sein.« Noras Blick glitt zur Seite. »Sie war eine großartige Frau«, sagte sie leise. »Der einzige Mensch in meinem Leben …« Nora goß sich selbst Whisky pur ein und trank hastig. »Sie müssen sehen, daß Sie Doktor Forster finden, mein Freund. Sie müssen mit Martin Landau reden. Dann komme wieder ich an die Reihe.« Sie lächelte nochmals und sah aus wie eine junge Frau. Aber ihr Lächeln war seltsam starr.
Grübelnd fragte Manuel: »Sie sagen, vor sechsundzwanzig Jahren hätten Sie Frau Steinfeld die Zyankali-Kapseln gegeben?«
»1943, im Sommer, ja. Die Situation war da schon viel gefährlicher geworden. Sie hatte mich darum gebeten. Ich verschaffte mir das Zyankali und gab es ihr. Wenn etwas passierte, dann wollte Valerie Steinfeld Gift für sich und den Jungen. Gutes, schnell wirkendes Gift, das unbegrenzt … entschuldigen Sie.«
Manuel schüttelte den Kopf.
»Nichts zu entschuldigen. Ich danke für Ihre Aufrichtigkeit. Aber …« Er hatte plötzlich Mühe, zu sprechen. »… aber warum brachte sie dann zuletzt meinen Vater und sich selber um mit diesen Kapseln?«
»Ich weiß es nicht, Herr Aranda.«
»Er war doch Argentinier! Er kann doch mit dieser Geschichte nichts zu tun gehabt haben! Oder?«
»Ein unsinniger Gedanke.«
»Nicht wahr?«
»Aber vielleicht doch nicht ganz so unsinnig.«
»Was heißt das?«
»Nichts, Herr Aranda. Sie wollen die Wahrheit finden. Es wird schwer sein.«
Manuel stützte den Kopf in die Hände.
»Sie sind nun noch viel verwirrter, als Sie es zuvor waren, natürlich. Und Sie werden weiter verwirrt werden, das ist sicher. Doch zuletzt werden Sie die Wahrheit kennen, die häßliche Wahrheit.«
»Wieso häßlich?«
»Die Wahrheit ist immer häßlich. Das wissen Sie doch – oder sind Sie noch zu jung dafür?«
Anstatt zu antworten, fragte er, aufstehend: »Und Herr Steinfeld? Und der Junge? Was wurde aus ihnen?«
Nora zuckte die Schultern.
»Ich war nach Kriegsende lange Zeit sehr krank. Es ist nämlich gerade damals passiert …«
Manuel blickte schnell auf die Krücken und wieder weg.
»Ich sah Frau Steinfeld erst Mitte März 1948 wieder. Da besuchte ich sie, in der Buchhandlung. Und fragte natürlich, wie sich die Dinge für sie entwickelt hätten. Wir waren vor Kriegsende oft zusammen gewesen – aber dann riß die Verbindung eben ab.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Sie war sehr elend und traurig. Beinahe verwirrt. Sie erzählte mir, ihr Mann habe sich scheiden lassen, und ihr Sohn habe eine Einladung angenommen, in den Vereinigten Staaten zu studieren und zu arbeiten. Er würde in Los Angeles leben.«
Manuel sagte hilflos: »Jemandem andern … ihrer Nichte … erzählte Frau Steinfeld, ihr Mann sei im Krieg gefallen, und der Junge sei nach Kanada ausgewandert, weil sie sich nicht miteinander verstanden. Das zeigt, daß ihre Nichte von der ganzen Geschichte überhaupt nichts weiß. Frau Steinfeld hat sie belogen.«
»Vielleicht belog sie uns beide«, sagte Nora Hill.
»Aber warum?«
»Sie kann Gründe dafür gehabt haben.«
»Wenn es stimmt, was sie Ihnen erzählt hat, dann müßte man doch ihren Mann finden können, falls der noch lebt – oder zumindest den Jungen, diesen Heinz!« Manuel wurde lauter. »Wenn es stimmt, was sie Ihnen erzählt hat, dann bedeutet das doch jedenfalls, daß sie den Prozeß damals gewann!«
»Nicht unbedingt. Heinz kann auch so durchgekommen sein. Und es muß nicht stimmen, was sie mir erzählt hat. Sie war verwirrt, ich sagte es schon. Als ich sie fragte, wie der Prozeß geendet hätte, behauptete sie, er sei überhaupt nicht zu Ende geführt worden.« Nora hob eine Hand. »Es ist alles sehr geheimnisvoll, was damals geschah. Auch für mich – heute noch.«
»Wenn der Junge in Amerika lebt – warum ist er dann nicht einmal jetzt nach Wien gekommen, nach dem Tod seiner Mutter?«
»Tja, warum nicht, Herr Aranda?« Nora Hill erhob sich, auf die Krücken gestützt. »Sie stehen am Anfang eines langen Weges. Ich will Ihnen helfen, soweit ich es vermag. Das letzte Rätsel müssen Sie selber lösen …«
»Erste Klasse«, sagte Fedor Santarin, ein künstliches Glied betrachtend, auf das Vergißmeinnicht-Blüten gemalt waren. Er hatte es aus einer Spielzeugkiste genommen. »Den bringt jetzt nichts mehr von der Verfolgung der Spur ab. Den hat das Jagdfieber gepackt – dank Nora. Trinken Sie einen Schluck auf ihr Wohl, Gilbert …«
»Es ist spät geworden«, sagte Nora zu Manuel. »Sie werden müde sein.«
»Ich muß fort«, sagte Manuel, dem in diesem Augenblick etwas eingefallen war.
Gemeinsam verließen sie das Appartement. An Manuels Seite schwang Nora Hill, fast graziös, auf ihren Krücken die Treppe in die Halle hinab, in der es nun sehr laut zuging. Neue Gäste waren gekommen. Sie tranken, redeten und tanzten mit den Mädchen. Jazz erklang aus Lautsprechern. Kellner eilten hin und her. Nora Hill grüßte nach verschiedenen Seiten. Manuel fühlte sich, als hätte er Fieber. Menschen stießen ihn an. Plötzlich stand der Diener Georg da. Er sagte Nora etwas ins Ohr. Sie nickte und wandte sich halb ab, um Georg ihrerseits etwas zu sagen. Im gleichen Moment verspürte Manuel eine Berührung. Er sah auf. Dicht neben ihm, in einem Nylon-Spitzencape, auf hochhackigen Schuhen, tanzte die rothaarige Yvonne mit einem Farbigen. Durch das Cape sah man ihren nackten Körper. Blitzschnell glitten Yvonnes Finger über Manuels Jacke. Dann verschwand das Mädchen schon wieder in der Menge. Manuel steckte eine Hand in die Tasche. Ein Zettel befand sich jetzt darin.
»Ich begleite Sie zum Ausgang«, sagte Nora Hill. Er fuhr herum. Sie sah ihn ernst an. Hat sie etwas gemerkt? überlegte er. Georg, der Diener, steuerte durch die Halle auf eine Tür zu, hinter der er verschwand.
»Der Schneefall hat aufgehört«, sagte Nora Hill, als Manuel in der Garderobe seinen Mantel anzog. Sie reichte Manuel eine Hand. »Sobald Sie mit den anderen gesprochen haben, besuchen Sie mich gleich wieder …« Sie blieb in der offenen Eingangstür stehen und sah ihm nach, wie er zu seinem Wagen ging. Er drehte sich um und winkte. Nora Hill hob eine Krücke und winkte mit ihr zurück. Dann schloß sie die Tür und eilte schnell durch den Gang der Garderobe in die Halle und auf jene Tür zu, hinter der Georg verschwunden war. Sie öffnete die Tür und trat in ein prächtig orientalisch eingerichtetes Zimmer. Georg gab eben einem eleganten Mann mit blassem Gesicht, umschatteten Augen, langen Wimpern und graumeliertem Haar Feuer für seine Zigarette.
»Guten Abend, cher ami«, sagte Nora Hill.
»Madame«, sagte Jean Mercier, Chef des französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ in Wien, sich schnell erhebend und zu ihr tretend, »ich bin entzückt, Sie zu sehen.« Er verneigte sich tief und küßte ihre Hand. »Ist er fort?«
»Ja.«
»Ich sagte Georg, daß ich ihn nicht sehen will. Er soll nicht wissen, wie ich ausschaue …«
»Das ist doch ganz klar. Sie können gehen, Georg.«
»Sehr wohl, Madame.« Der Diener verschwand.
Sofort fragte Mercier: »De Brakeleer ist gekommen?«
Nora nickte.
»Und?«
»Alles in bester Ordnung. Die Filmaufzeichnung muß tadellos geworden sein.«
»Wunderbar.« Mercier rieb sich die Hände.
»Die Aufzeichnung liegt in einer Recorder-Kassette. Ihre Kollegen erwarten Sie übrigens schon«, sagte Nora Hill.
»Mein Citroën steht direkt hinter der alten Kastanie, Madame. Hier sind die Schlüssel. Bitte legen Sie die Kassette in das Handschuhfach, sperren Sie ab und geben Sie mir die Schlüssel später zurück, wenn – oh!« Mercier hatte endlich Noras ironischen Blick bemerkt. »Wie konnte ich das vergessen.« Er entnahm seiner Brieftasche einen Scheck, den er ihr überreichte. Nora steckte ihn in den Ausschnitt des Kleides.
»Ich bin nur eine hilflose Frau«, sagte sie. »Ich darf kein Risiko eingehen. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«
»Gewiß.«
»Und deshalb werde ich mir erlauben, diesen Barscheck morgen vormittag erst einzulösen, bevor ich Ihnen die Aufzeichnung gebe. Am Nachmittag können Sie die Kassette holen.«
»Aber Madame …«
»Manche Leute kommen auf die seltsamsten Ideen. Zum Beispiel auf die, Schecks sperren zu lassen. Stellen Sie sich vor, so etwas gibt es. Ich muß wirklich achtgeben. Hier, Ihre Autoschlüssel, cher ami …«
Zu dieser Zeit fuhr Manuel Aranda schon durch eine stille, verschneite Villenstraße ostwärts, der Stadt entgegen. Es war kein Mensch zu erblicken. Manuel hielt und nahm aus der Tasche seiner Jacke den Zettel, den Yvonne dorthin gesteckt hatte. Er knipste die Lampe über dem Armaturenbrett an. In der nervösen, phantasievollen Schrift einer Intellektuellen waren diese Worte gekritzelt:
›Ich kann Ihnen vielleicht helfen. Habe bis Sonntag in der Villa Dienst, danach frei. Rufen Sie Sonntag gegen Mittag an. 86 57 41. Kommen Sie dann zu mir. Ihr Vater ist auch zu mir gekommen. Yvonne Werra.‹
45
»Aber du warst doch ihre Schwester! Du mußt doch wissen, ob es wahr ist oder nicht, mein Gott im Himmel! Ist es wahr?«
»Ich … Schau mal, Irene, versteh doch …«
»Was? Was? Was soll ich verstehen?«
»Dreißig Jahre ist das schon her … ein Dritteljahrhundert … alles längst zu Ende und vorbei … Und da sollten wir dir die Geschichte noch erzählen? Du warst doch so unglücklich, so aufgeregt, wir wollten dich nicht noch mehr aufregen …«
»Also, es ist wahr!«
Stille.
In der Telefonverbindung rauschte der Strom.
»Es ist wahr!« rief Irene Waldegg wild.
»Ja …« Die Antwort ihrer Mutter kam leise, unglücklich und stockend. »Und warum habe ich nie etwas davon erfahren? Von dir oder von Vater oder von Valerie? Es ist ja heute schließlich kein Verbrechen mehr, daß sie mit einem Juden verheiratet war und einen Halbjuden zum Sohn hatte!«
»Ja, heute ist es kein Verbrechen! Aber damals …! Und damals warst du ein Kind, ein kleines Kind, du hättest das alles gar nicht verstanden.«
»Und später? Nach dem Krieg?«
»Da ging es nicht.«
»Warum nicht?«
»Valerie hat uns verboten, dir etwas zu erzählen, sie selber wollte nie darüber reden. Es war ein zu großer Schock für Valerie, alles, was sie erlebt hatte. Und immer fürchtete sie, daß ein solches Regime, daß solche Verfolgungen wiederkämen … Ihr ständiger Alptraum war das …«
»Wieso Alptraum? Was ist denn mit Heinz geschehen? Und mit Valeries Mann? Hat sie den Prozeß nun geführt oder nicht?«
»Ja …« Die ferne Stimme bebte.
»Und hat sie ihn gewonnen oder verloren?«
»Weder … weder noch … Er wurde nie zu Ende geführt …«
»Was heißt das nun wieder?«
»Schrei doch nicht so, ich bitte dich! Ich … Sehr schön, jetzt hast du auch noch Vater geweckt … Nichts, Hans, nichts Wichtiges. Irene ruft aus Wien an. Ich erkläre dir alles später. Geh wieder ins Bett …« Geflüstert: »Mein Gott, er hat doch schon einen Schlaganfall hinter sich …«
»Was geschah mit …«
»Du sollst nicht schreien! Jetzt habe ich aber genug! An all dem ist nur dieser elende Ausländer schuld, dieser Chemiker, dieser Aranda …«
»Sein Sohn hört mit, Mutter. Am zweiten Hörer.«
»Tut mir leid. Sie können nichts dafür, Herr Aranda. Ihr Vater war in eine sehr gefährliche Sache verstrickt … Valerie auch …«
»Valerie auch?«
»Ja, auch!« Die Stimme aus Villach wurde schrill. »Sie hatte Geheimnisse … vor dir … vor uns allen …«
»Mutter! Du glaubst ja selber nicht, was du sagst!«
Irenes Mutter sprach jetzt ungewöhnlich schnell. »Ich flehe dich an, Irene, bohr da nicht weiter herum, sonst geschieht neues Unglück … Herr Aranda, wenn Sie schon mithören: Ich bitte Sie, meine Tochter zufriedenzulassen und nicht mit Ihren Nachforschungen zu behelligen.«
»Ich will aber, daß er mich damit behelligt!« rief Irene. Sie saß, einen weißen Kittel über dem Kleid, am Schreibtisch des Büros, das sich links an den großen Verkaufsraum der Möven-Apotheke anschloß. Ein zum Bett aufgeschlagenes Sofa stand darin. Der Verkaufsraum lag im Halbdunkel. An einer langen Wand glänzten große Flaschen und Tiegel, leuchteten zu Hunderten bunte Medikamentenpackungen. Von der Straße fiel Licht in die Apotheke. Es kam aus starken Lampen, die rund um die Neubauten schräg gegenüber angebracht waren – mächtige Hochhäuser. Als Manuel um 1 Uhr 30 eingetroffen war, hatte er die modernen Türme auf dem Areal des Allgemeinen Krankenhauses zum Himmel ragen gesehen. Da drüben lag eine Großbaustelle. Er las auf einer Tafel, daß hier ein Super-Klinikum entstand.
Manuel hatte Irene, die auch nachts die große dunkle Brille vor den verschwollenen, verweinten Augen trug, alles erzählt, was ihm widerfahren war. Irene, ungeschminkt nun, blaß und müde, hatte mit steigender Erregung zugehört. Dann war sie nicht davon abzubringen gewesen, sofort ihre Eltern in Villach anzurufen. Die Mutter hatte sich gemeldet. Die Mutter, deren Stimme nun mehr und mehr Angst verriet, wie Manuel grimmig konstatierte.
»Wozu? Du weißt doch schon alles … dank der Wühlerei von Herrn Aranda!«
»Mutter, er hört …«
»… mit, ja, das hast du schon gesagt! Lassen Sie meine Tochter in Ruhe, Herr Aranda! Es tut mir leid, was Ihrem Vater geschehen ist – aber wollen Sie unbedingt das Andenken an eine Tote beschmutzen?«
»Was heißt beschmutzen?« rief Irene. »Sein Vater wurde von Valerie getötet. Da wird er wohl das Recht haben, Nachforschungen anzustellen!«
»O Gott«, stöhnte die Stimme aus Villach, »o Gott, was soll ich bloß sagen?«
»Zum Beispiel, was mit Valeries Mann und mit Heinz passiert ist! Ich habe schon einmal gefragt!«
Irenes Mutter antwortete schnell: »Heinz ist nach Kanada gegangen und da umgekommen, und Paul Steinfeld hat sein Leben im Krieg verloren.«
»Er war doch in England!«
»Er … er kam … bei einem Luftangriff auf London kam er um … Valerie war furchtbar unglücklich darüber … darum wollte sie nie davon sprechen … Verstehst du das nicht?«
»Nein, Mutter. Ich verstehe es nicht. Und ich werde keine Ruhe geben, bis ich alles verstehe! Und auch …«
»Irene, mein Kleines, mein Liebling, bitte …«
»… Herr Aranda wird keine Ruhe geben vorher! Entschuldige, daß ich dich aus dem Schlaf gerissen habe. Gute Nacht.« Irene Waldegg legte auf. Unsicher holte sie eine Zigarette aus einer Packung. Manuel gab ihr Feuer. Die junge Frau mit dem braunen Haar und dem schönen, ernsten Gesicht stand auf und ging zu einem Waschbecken, wo sie einen Topf voll Wasser füllte, und danach zu einer elektrischen Heizplatte. Mit fahrigen Bewegungen begann sie zu hantieren.
»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte Manuel hilflos. »Aber ich dachte, ich müßte Ihnen sofort alles erzählen …«
»Das mußten Sie auch! Ich bin schon wieder in Ordnung. Ich mache uns jetzt starken Kaffee.«
»… und Sie sind doch genauso interessiert wie ich.«
»Natürlich! Ich danke für Ihr Vertrauen. Eines steht jetzt fest: Diese Nora Hill hat Sie nicht belogen.«
»Das ist richtig. Bis zu dem Anruf jetzt wäre es immer noch möglich gewesen, daß sie mir irgendeine phantastische Geschichte präsentiert hat. Nun, nachdem wir Ihre Mutter gehört haben, ist das nicht mehr möglich. Frau Hill präsentierte Tatsachen. Aber können Sie sich wirklich vorstellen, daß Ihre Tante in einen Spionagefall verwickelt war – und derart tief?«
Irene beschäftigte sich mit der Zubereitung des Kaffees. Die Zigarette hing ihr in einem Mundwinkel, während sie sprach.
»Es ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe. Sehen Sie eine andere? Ihr Vater kann mit diesem Prozeß nichts zu tun gehabt haben! Er war auf der anderen Seite der Welt, als all das hier geschah. Es ist unmöglich, daß er Valerie damals etwas angetan hat …«
»Aber haben Sie denn jemals die geringsten Anzeichen dafür bemerkt, daß Ihre Tante etwas mit Spionage zu tun hatte?«
»Nie.« Irene sah Manuel durch die dunklen Brillengläser an. In ihrem blassen Gesicht zuckte es. »Niemals in all den Jahren. Die Vorstellung ist auch phantastisch. Aber immer noch realistischer als die, daß Ihr Vater vor dreißig Jahren in Buenos Aires etwas tat, wofür sich Valerie nun in Wien gerächt hat …« Irene sank auf einen Stuhl. »Und ich glaubte, Valerie zu kennen. Ich muß wissen, was da passiert ist. Ich muß es wissen! Ich finde keine Ruhe mehr …«
»Ich auch nicht«, sagte Manuel. Er stand auf, trat zu Irene und strich behutsam über ihren Rücken. »Ich werde morgen wieder mit Landau sprechen. Und dann muß ich diesen Forster, den Rechtsanwalt, finden. Hoffentlich lebt der noch. Wenn das alles nicht so lange her wäre, wenn nicht so viel Zeit vergangen wäre seitdem …«
»Ich glaube, daß meine Mutter lügt«, sagte Irene abrupt.
»Ich glaube es auch«, sagte Manuel sehr verlegen.
Sie sahen einander ratlos an.
Ein Schneepflug ratterte draußen vorüber.
Manuel sagte nach einer Pause: »Chemiker wollte der Junge werden … Mein Vater war auch Chemiker …«
»Ein Zufall«, sagte Irene. Der Kaffee war fertig. Sie holte eine Zuckerdose, Kondensmilch, Geschirr. Sie goß zwei Tassen voll. »Übrigens – diese tief verschleierte Frau, die zu Valeries Begräbnis kam und so weinte, hat angerufen.«
»Wann?«
»Gegen acht. Sie war sehr aufgeregt. Sie hatte schon im ›Ritz‹ angerufen, aber Sie waren nicht da. Also versuchte sie es hier.«
»Was wollte sie? Wie heißt sie?«
»Bianca Barry. Die Frau eines Malers. Sie war eine Jugendfreundin von Heinz, sagte sie. Und sie habe nun erfahren, daß wir versuchen, herauszufinden, was geschehen ist.«
»Von wem hat sie das erfahren?«
»Von Martin Landau. Er hat sie angerufen und gewarnt.«
»Gewarnt?«
»Vor uns. Besonders vor Ihnen. Wem damit gedient wäre, wenn nun alles ans Licht käme, fragte Landau Frau Barry. Er habe mit seiner Schwester gesprochen. Sie sei seiner Meinung. Und darum bat er Frau Barry, sich so zu verhalten, wie er sich verhalten hat: Wenn Sie auftauchen – oder ich –, dann soll sie uns abweisen, keinesfalls etwas erzählen …«
»Der nette Herr Landau.«
Irene zündete am Stummel ihrer Zigarette eine neue an. Hastig blies sie den Tabakrauch aus.
»Frau Barry sprach in größter Eile. Ihr Mann sei gerade für kurze Zeit nicht zu Hause, sagte sie. Aber er sei zu Hause gewesen, als Landau anrief. Und er sei der gleichen Meinung wie sie: Wenn wir wissen wollen, was damals geschah, dann muß man es uns sagen! Frau Barry hat nichts zu verbergen, erklärte sie. Gleich darauf strafte sie sich selber Lügen.«
»Wieso?«
»Von dem Friedhofsbesuch wisse ihr Mann nichts. Darüber dürften wir keinesfalls reden. Sie stotterte herum, sehr nervös. Eifersüchtig, ihr Mann, immer schon gewesen. Hätte aber nicht den geringsten Grund. Nie gehabt. In der Art. Ich bekam den Eindruck, daß sie liebend gerne tun würde, worum Landau sie gebeten hat.«
»Und warum verhält sie sich dann so?«
»Weil ihr Mann doch daheim war, als Landau anrief! Jetzt kann sie nicht anders. Wir sollen morgen vormittag zu ihr kommen. Alseggerstraße, ich habe die Hausnummer. Elf Uhr. Ihr Mann wird auch da sein. Er hat sein Atelier in der Villa. Ich sagte, wir würden kommen. Nach einem Nachtdienst habe ich immer den nächsten Vormittag frei und …«
Die Glocke der Apotheke schrillte durchdringend.
Irene ging in den Verkaufsraum. Manuel hörte sie aufschreien. Er rannte ihr nach. Draußen vor der Tür, im Schnee und im Licht der Lampen der neuen Klinikbauten, lag ein Mann, reglos, mit verdrehten Gliedern, das Gesicht nach unten.
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LOT ABER GING VON ZOAR HINAUF UND LIESS SICH MIT SEINEN BEIDEN TÖCHTERN IM GEBIRGE NIEDER. DENN ER HATTE ANGST, IN ZOAR ZU WOHNEN. SO NAHMEN ER UND SEINE BEIDEN TÖCHTER WOHNUNG IN EINER HÖHLE.
ERSTES BUCH MOSE, KAPITEL 19, 30
In großen Buchstaben standen die Worte auf der Leinwand, weiß, Untergrund schwarz. Nach einer Weile verschwand das Insert, und es folgten Bilder einer Höhenlandschaft und einer Höhle, vor der ein sehr alter Mann, mit langem Stab, weißem Haar und tatterigen Bewegungen, und zwei hübsche Mädchen, eine Blonde und eine Dunkle, sich häuslich einrichteten.
Ein weiterer Zwischentitel erschien:
DA SPRACH DIE ÄLTERE ZU DER JÜNGEREN: »UNSER VATER IST ALT, EIN MANN IST NICHT DA, DER MIT UNS VERKEHREN KÖNNTE, WIE ES IN ALLER WELT BRAUCH IST. KOMM, WIR WOLLEN UNSEREN VATER MIT WEIN BERAUSCHEN UND UNS DANN ZU IHM LEGEN, DAMIT WIR VON IHM NACHKOMMEN ERHALTEN.«
ERSTES BUCH MOSE, KAPITEL 19, 31/32
Wilde Musik erklang, während der Stummfilm ablief. Ein Orchester tobte. Als der Zwischentitel verschwunden war, hatte sich die Situation geändert. Der alte Lot lag vor der Höhle auf dem Boden, schwer alkoholisiert. Leere Korbflaschen deuteten darauf hin, daß seine Töchter die Absicht der Älteren in die Tat umgesetzt hatten. Selber animiert, tanzten sie lasziv miteinander, dann begannen die Mädchen, sich ihrer Gewänder zu entledigen, bis sie nackt waren. Sie hatten üppige, schöne Körper. Aufpeitschend raste das Orchester. Die enthemmten Geschöpfe stürzten sich nun auf den Greis und rissen sein Gewand empor. Das monströse Glied eines jungen Mannes wurde sichtbar, noch im Ruhezustand. Lots Töchter spielten mit dem primären Geschlechtsmerkmal ihres Vaters, streichelten es, rieben es, und das Glied hob sich in einer gewaltigen Erektion. Lot kam zu sich. Er wollte Ruhe haben, aber die ließen seine Töchter ihm nicht. Die Blonde kniete nieder, wobei sie sich auf die Hände stemmte. Hoch streckte sie das Gesäß empor. Die Dunkle half Lot, sich aufzurichten. Sie schob ihn hinter ihre Schwester. Sein Gewand riß sie ihm vom Leib, wodurch deutlich wurde, daß es sich bei diesem Greis in der Tat um einen muskulösen jungen Mann handelte, der eine Perücke trug und auf uralt geschminkt war.
Zwischentitel:
»ES MUSS SEIN, VATER! DENKE AN DIE NACHKOMMEN!
WIR HABEN NUR DICH!«
Lot schien sich diesem Argument nicht verschließen zu können. Er nickte, packte die kniende Blonde in den Hüften, drängte sich zwischen ihre Unterschenkel und versuchte sein Bestes. Die nackte Dunkle assistierte. Es klappte noch nicht.
»WARTE! ICH STÜTZE DICH!«
Die Dunkle stützte Lot wirklich. Und nun legte der Vater los wie ein Stier. In Nah- und Großaufnahmen zeigte die Kamera seine Tätigkeit und die lustverzerrten Gesichter der Partner. Lots Kiefer mahlten. Seine blonde Tochter wand sich, zuckte, biß in den Sandboden. Die Begleitmusik donnerte.
»Also wir sind uns einig«, sagte Fedor Santarin deutsch, wobei er den beiden anderen Männern eine geöffnete, längliche Tüte aus Goldkarton mit Demel-Konfekt hinhielt. Grant winkte ab und füllte sein Glas halb voll Bourbon. Ein Tischchen stand zwischen den tiefen Fauteuils, in denen die Männer saßen. Mercier nahm ein Stückchen Krokant. »Ab sofort arbeiten wir zusammen. Chef aller Operationen ist Grant. Sein Vertreter bin ich. Mein Vertreter sind Sie, Mercier.«
Lot war ungeheuer in Fahrt gekommen. Sein Körper flog, ebenso jener der vor ihm knienden jüngeren Tochter. Die ältere Tochter war unter ihren Leib gekrochen, befingerte sich und spielte mit den Brustwarzen der andern.
Es war dies schon der dritte Streifen, den die drei Männer sich in Noras Kino, groß wie der Vorführraum eines Filmverleihs und sehr elegant mit Teppichen und Sitzgarnituren eingerichtet, ansahen. Sie hatten sich hierher zurückgezogen gleich allen Besuchern des Etablissements, die wichtige Dinge besprechen und ganz sicher sein wollten, daß kein verstecktes Mikrophon sie belauschte. Zu jedem Film lief laute Begleitmusik von Schallplatten.
Alles bei Nora hatte seinen Preis. Das galt auch für die Benützung des Kinos, gleichgültig, zu welchem Zweck. Die Vorführung eines Streifens kostete 800 Schilling. Getränke wurden vorher serviert und extra berechnet. Der Film lief auf jeden Fall, ob man es wünschte oder nicht. Nora Hill bestand darauf. Bei ihr mußte alles aussehen wie in einem ordentlichen Privatbordell.
»Was ist los, Mercier?« fragte Santarin. »Haben Sie es sich wieder anders überlegt?«
Der Franzose war über die Maßen erbittert. Selbstverständlich, daran rührte kein Zweifel, hatten diese beiden Lumpen Clairon, seinen Spitzenmann, auf dem Gewissen. Clairon war tot, beseitigt worden auf die eine oder andere Weise, das stand für Mercier fest. Aber er konnte nicht darüber sprechen, konnte nicht anklagen, denn damit hätte er auch den Auftrag seines Spitzenmannes zugegeben. Er mußte also schweigen. Verflucht!
»He, Mercier!«
»Wie könnte ich es mir anders überlegen?« sagte der Franzose wütend. »Mir bleibt ja keine Wahl.«
»Eben«, sagte Gilbert Grant. Er war noch immer nicht betrunken, trotz all des Whiskys, den er im Verlauf des Tages zu sich genommen hatte. Er sprach nur betont deutlich und etwas langsamer. »Diesmal sitzen Sie in der Scheiße, Mercier. Gewöhnen Sie sich an den Gedanken.«
»Wenn ihr den Doktor Aranda nicht hättet umlegen lassen, bevor ich …«
»Hören Sie sofort damit auf!« unterbrach der Russe ihn scharf. »Und fangen Sie nie mehr damit an! Doktor Aranda ist tot. Wir sind mit ihm einig geworden. Sie nicht. Ihr Pech. Aber deshalb ist unsere Situation genausowenig rosig wie die Ihre.«
»Nun, etwas rosiger doch«, sagte Mercier. Die drei Agenten sprachen alle deutsch.
»Ja, solange der Sohn am Leben ist und die Dokumente im Tresor bleiben«, sagte Grant. »Wenn da etwas passiert, und die Papiere kommen wirklich der Öffentlichkeit zu Augen und Ohren, können wir alle drei einpacken. Das mag Ihnen ein Trost sein.«
Die Kamera fuhr langsam an die jüngere Tochter heran. Ihr Leib flog auf und nieder. Lot hielt das Gesäß umklammert. Sein Glied schob sich rhythmisch tief hinein und wieder weit heraus.
»SO IST ES GUT, VATER!«
»Wie heißt diese wüste Musik?« knurrte Grant.
»Mazeppa«, sagte Santarin.
»Wie?«
»Mazeppa! Sinfonische Dichtung Nummer sechs von Franz Liszt. Sie sind wirklich ein ungebildeter Mensch, Gilbert! Sie kennen Mazeppa nicht?«
»Keine Ahnung.«
Lot und seine Tochter schienen sich langsam dem Höhepunkt zu nähern. Die junge Frau schlug mit den Fäusten in den Sand, ihr Mund stand weit geöffnet, sie keuchte unter der wilden Bearbeitung durch den Vater. Die ältere Tochter, in großer Erregung, rieb sich und preßte abwechselnd die Brüste der Jüngeren, unter denen ihr Kopf lag, zusammen.
»Sie sind ein Barbar, Gilbert«, sagte der Russe. »Kennen Sie das Stück auch nicht, Mercier?«
»Nein. Ich bedaure …«
Lot hatte sich jetzt von hinten weit über den Rücken seiner jüngeren Tochter gelegt, er hielt sie an den Schultern gepackt, leckte ihren Nacken und streckte dann den Kopf wieder hoch empor, wie eine Maschine arbeitend.
»NOCH … NOCH … SO … JA … SO …«
»Der kultivierte Westen«, sagte Santarin. »Mazeppa war ein Kosakenhetman. Ein ukrainischer Nationalheld. Victor Hugo, Ihr Landsmann, Mercier, hat ein Gedicht über ihn geschrieben. Und Liszt hat es vertont.«
»Man kann nicht alles wissen«, sagte der Franzose gereizt.
Lot und die jüngere Tochter setzten nun zu einem gewaltigen Finish an. Trommeln dröhnten, Fanfaren schmetterten.
Auf der Leinwand war es soweit. Die Tochter erlebte ihren Orgasmus, Lot ejakulierte in ungeheuren Stößen, das Gesicht zur Grimasse verzogen.
»JETZT! JETZT! JETZT!«
Die Blonde sank erschöpft zu Boden, Lot fiel über sie. Die dunkle Tochter lag mit gegrätschten Beinen da und rieb sich wie toll.
Auch ›Mazeppa‹ hatte einen Höhepunkt erreicht.
Arrogant sagte Santarin: »Nora hat die Platte eigens mir zuliebe ausgesucht. Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker. Sie hat doch eine so große Diskothek.«
»Und wie lange sollen die Papiere im Tresor bleiben?« fragte Mercier.
»Für alle Ewigkeit?«
»Natürlich nicht. Wir … das heißt Santarin hat einen Plan.«
»Was für einen Plan?«
Der Russe neigte sich in seinem Sessel vor und sagte dem Franzosen etwas ins Ohr. Dessen Augen leuchteten.
»Gratuliere, das ist etwas!«
»Nicht wahr?« Santarin sah Grant kurz an.
»Aber bis dahin darf eben nichts passieren«, sagte dieser.
Die ältere Tochter preßte ihre Brüste und rutschte im Sand hin und her. Sie hielt die Beine weit gespreizt. Lot hatte sich von der Blonden gelöst und war schon wieder aktionsfähig. Die ältere Tochter schien sich vor Erregung nicht mehr halten zu können.
»MICH AUCH, VATER! MICH AUCH! MANCHE FRAUEN SIND UNFRUCHTBAR. WIR DÜRFEN KEIN RISIKO EINGEHEN.«
Vater Lot warf sich über die ältere Tochter. Die jüngere half ihm, sie führte das Glied ein. Der Alte begann von neuem wie ein Rasender zu stoßen. Die Dunkle hatte ein lebhafteres Temperament. Sie strampelte, hielt die Beine hoch in die Luft, schlug mit den Armen auf den Rücken ihres Vaters, biß ihn in die Schulter und bewegte sich wie eine Schlange unter seinem Körper.
»TIEFER, VATER! TIEFER! NOCH TIEFER!«
»Aber dann erhalte ich die Papiere ja nie«, sagte Mercier. Er hatte Champagner getrunken und war etwas beschwipst. Nur Santarin hatte keinen Tropfen Alkohol zu sich genommen.
»Natürlich nie«, sagte Santarin. Es entging ihm, daß Mercier für einen Moment dünn lächelte. »Diesmal sind eben wir zum Ziel gekommen, mein Lieber …«
Liszts Sinfonische Dichtung steigerte sich immer noch weiter. Ebenso der Film. Was die Dunkle trieb, war mit dem, was die Blonde getrieben hatte, nicht zu vergleichen. Die ältere Tochter tobte wie eine Wölfin – wie die Streicher des Orchesters.
»AH! ICH STERBE! ICH STERBE! WEITER!
WEITER, VATER!«
Laut wurde an die Tür geklopft.
Santarin erhob sich und öffnete. Nora Hill schwang auf ihren Krücken herein.
Ein Mann im pelzgefütterten Ledermantel, mit vor Kälte gerötetem Gesicht, folgte ihr.
»Was ist los?« fragte Santarin den Mann im Ledermantel. Er sprach russisch.
»Wir haben einen Ruf von Gogol bekommen«, sagte der junge Russe, die Leinwand anstarrend wie eine Geistererscheinung. »Wir haben einen Ruf von Gogol bekommen. Wir haben einen Ruf von …«
Santarin gab ihm einen Stoß.
»Schau da nicht hin, du Idiot!«
Nora hob eine Hand und winkte zur Vorführkabine hinauf. Der Film brach ab, ebenso die Musik. In dem kleinen Kino flammte Licht auf. Grant und Mercier traten zu den anderen.
»Was für einen Ruf? Wo seid ihr überhaupt?« fragte Santarin, jetzt deutsch.
»Zwei Straßen von hier.« Der junge Mann sprach auch deutsch. »Gogol ist Aranda nachgefahren, das wissen Sie, Genosse.«
»Ja. Und wohin fuhr der?«
»In den Neunten Bezirk.«
»In den … Da ist doch die Apotheke von dieser Waldegg!« rief Mercier. »Ja«, sagte der junge Mann, »Gogol vermutet, daß er dahin will.«
»Na und?« fragte Grant.
»Gogol meldet, daß ihn ein grauer Skoda überholt hat, ihn und Aranda. Nummer W 453 579. Das ist nach unserem Wissen der Wagen von diesem Albaner …«
»Zagon?« rief Mercier aufgeregt.
»Ja, Zagon«, murmelte der immer noch verwirrte junge Mann.
»Gogol fährt allein hinter Aranda her, weil Genosse Santarin gesagt hat …«
»Schon gut!«
Bereits zwischen dem zweiten und dritten Film waren Santarin und seine Kollegen hinaus zu ihren Autos geeilt und hatten über Kurzwellensender ihren Zentralen von der getroffenen Vereinbarung Mitteilung gemacht. In dieser Nacht sollten die Sowjets Manuel ›beschützen‹.
Santarin sagte schnell: »Und Gogol vermutet – sicherlich zu Recht –, daß Zagon auch unterwegs zu der Apotheke ist, wie?«
»Ja, Genosse.«
Der elegante Russe sah Nora an, und seine Stimme war auf einmal ganz leise und sehr gefährlich: »Ich habe Ihnen doch gesagt, Madame, daß Zagon hier festgehalten werden soll, solange wir es für gut befinden. Sie erklärten, er sei mit einem Mädchen auf ein Zimmer gegangen, und das Mädchen habe ihm ein Schlafmittel in den Cognac gegeben.«
»So schien es ja auch!« antwortete Nora aufgebracht. »Coco ging mit Zagon. Alles lief glatt – habe ich geglaubt. Als Ihr junger Mann hier mir vom Pförtner gemeldet wurde, schaltete ich vorsichtshalber den Fernsehapparat ein, das türkische Zimmer. Ich kann nichts dafür, meine Herren! So etwas ist bei mir noch nie passiert.«
»Was sahen Sie?« rief Grant wütend.
»Coco liegt auf dem Bett und schläft. Zagon ist verschwunden. Er muß etwas vermutet und die Gläser vertauscht haben.«
»Aber wie ist er aus dem Haus gekommen?«
»Ein Fenster steht offen. Er wird sich an den Reliefs draußen festgehalten haben.«
»Und Zagons Wagen?«
»Den hatte er wahrscheinlich auf der Straße geparkt. Er mußte nur noch über die Mauer klettern. Wirklich, ich kann Ihnen nicht sagen, meine Herren …«
»Schon gut, Madame.« Santarin lächelte höflich. Dann wandte er sich an seine Kollegen: »Darüber besteht Einigkeit, wie?«
Die anderen nickten.
»Auf keinen Fall darf Zagon an Aranda heran. Wenn er es doch versucht, ist verabredet, was zu geschehen hat. Los, los, in eure Autos! Es müssen auch Wagen von euch zur Apotheke, und zwar schnellstens!« Santarin sagte zu dem jungen Mann im Ledermantel: »Verständige Gogol. Möven-Apotheke. Sofort. Die Jungen wissen, was sie zu tun haben, wenn sie den Albaner sehen. Sie bekommen noch Verstärkung. Sag ihnen das.«
»Ja, Genosse.«
»Hoffentlich ist es noch nicht zu spät«, murmelte Mercier.
»Vielleicht setzen wir uns endlich in Bewegung! Wie wäre das?« fragte Santarin.
Die vier Männer stürzten aus dem Vorführraum.
47
Irene Waldegg kam aus dem Büro zurückgeeilt. Sie hielt einen Yale-Schlüssel in der Hand und sperrte fahrig die Eingangstür der Apotheke auf. An Manuels Seite hastete sie ins Freie, hinaus in die Kälte. Die Straße lag verlassen, erhellt von den Lampen des neuen Klinikums. An den Straßenrändern parkten viele Wagen, in der Nähe Manuels blauer Mercedes. »Ist er nur ohnmächtig oder …« Manuel, der sich über den Reglosen im Schnee neigte, sprach den Satz nicht zu Ende, denn der Mann sprang plötzlich auf und rannte so schnell er konnte in die Apotheke hinein.
Manuel hatte ihn wiedererkannt. Es war jener Mann, der ihn bei Nora Hill angeredet hatte und verstummt war, als die Chefin herankam. »Das ist ja unglaublich!« Irene lief in den Laden zurück.
»Halt!« rief Manuel. Aber es war schon zu spät. Er sah, wie Irene plötzlich beide Arme hob. Er stürzte ihr nach. Als Silhouette vor der offenen Tür zum Büro stehend, sagte der Mann, der sich in den Schnee gelegt hatte, fließend deutsch, aber mit schwerem slawischen Akzent: »Sie auch, Herr Aranda! Arme hoch, los!« Er hielt einen Revolver in der Hand und kam plötzlich heran. Irene wich zurück. Manuel hob die Arme. Im Moment war da nichts zu machen. Der Eindringling warf die Eingangstür zu, sperrte ab und winkte mit der Waffe.
»Ins Büro!«
Er trieb Irene und Manuel vor sich her. Nun sahen sie ihn genau – die große, hagere Gestalt, die bleiche Haut, die hohen slawischen Backenknochen und den kleinen Schnurrbart. Das schwarze Haar des Mannes glänzte im Licht. Seine Smokingfliege saß schief, der Mantel war voller Schnee und Schmutz.
»Stehenbleiben!« Der Albaner tastete schnell über Manuels Anzug. Er suchte nach einer Waffe und fand keine. Zögernd sah er Irene an. »Wo ist Ihre Pistole? Erzählen Sie keine Märchen. Sie haben eine, wenn Sie Nachtdienst machen. Also?«
»In dem Schränkchen neben dem Schreibtisch«, sagte Irene. »In der obersten Lade.« Sie starrte den Mann entsetzt an, während der schon die bezeichnete Schublade aufriß. Was er sah, stellte ihn zufrieden. »Setzen Sie sich an den Schreibtisch. Beide. Hände auf die Tischplatte!« Er winkte mit dem Revolver. Sie folgten ihm. Er drehte einen Stuhl um und setzte sich ebenfalls, die Ellbogen auf der Rückenlehne, die Waffe im Anschlag. »Ich tue Ihnen nichts, Ehrenwort. Ich muß nur vorsichtig sein. Versuchen Sie also keine Dummheiten.«
»Was wollen Sie?« fragte Irene. Ihre Stimme schwankte.
»Ich muß mit Herrn Aranda sprechen. Herr Aranda kennt mich schon.« Der Albaner verneigte sich leicht im Sitzen. »Ich bitte um Verzeihung für mein Benehmen, Fräulein Waldegg. Ich heiße Zagon, Enver Zagon.«
»Was fällt Ihnen ein, Herr Zagon? Was soll das Klingeln und das Liegen im Schnee, als wären Sie tot?«
»Hätten Sie sonst die Eingangstür aufgesperrt, Fräulein Waldegg? Sehen Sie! Kein Apotheker wird nachts die Tür für einen Fremden öffnen. Und ich mußte hereinkommen, unter allen Umständen. Im übrigen komme ich als Freund.«
»Dann stecken Sie erst einmal die Kanone weg«, sagte Manuel böse.
Zagon überlegte, danach ließ er den Revolver in eine Manteltasche gleiten.
»Was wollen Sie?« schrie Irene plötzlich wild.
»Ich will Herrn Aranda helfen, daß weiß er schon. Nicht wahr, ich sagte es Ihnen bei Frau Hill.«
»Ja. Sie wissen etwas über meinen Vater.«
Enver Zagon nickte.
»Alles.«
»Was alles?«
»Weiß ich. Damit Sie Vertrauen zu mir fassen, muß ich noch etwas erklären: Albanien führt einen erbitterten Kampf gegen die verbrecherische imperialistisch-revisionistische Verräterclique in der Sowjetunion, die alle Ziele des Marxismus-Leninismus verrät. Unsere Verbündeten sind die heldenmütigen Söhne der Volksrepublik China. Die Welt ist aufgeteilt zwischen Washington und Moskau. Nun …«
»Hören Sie, es ist fast zwei Uhr früh. Können Sie uns nicht mit diesem Gesabber verschonen, Herr Zagon?«
»Das ist kein Gesabber! Das ist eine Sache von Tod oder Leben. Die imperialistisch-revisionistische Renegatenclique in der Sowjetunion und die kapitalistisch-reaktionären Kriegsverbrecher und Arbeiterausbeuter in Amerika haben sich zusammengesetzt und Verträge und Abkommen geschlossen. Die beiden Supermächte verfahren mit allen anderen Völkern ganz nach ihrem Belieben. Sie müssen dabei nur eine Bedingung beachten – sich vorher immer heimlich miteinander abzustimmen.«
»Aber was hat das mit meinem Vater zu tun?« fragte Manuel wütend. »Sofort. Manche Illusionisten meinen nun, daß diese Zweiteilung und Bevormundung der Welt Frieden und Ruhe garantieren. Sehen Sie Vietnam! Sehen Sie die Tschechoslowakei! Ruhe? Höchstens Totenruhe wie hier in Wien. Wie im Falle Ihres Vaters.« Enver Zagon zerrte am Kragen seines Smokinghemds. »Auch hier haben Amerikaner und Sowjets zusammengearbeitet. Auf das Innigste. Sie wissen, was sie von Ihrem Vater gemeinsam erwarben, ich muß es nicht erwähnen …« Ich wünschte, du würdest es erwähnen, dachte Manuel. »… und ich will es auch nicht, denn ich weiß nicht, wie weit diese Dame eingeweiht ist.«
»Vollkommen«, sagte Manuel.
»Trotzdem. Ich ziehe es vor, die Sache nicht beim Namen zu nennen. Sie wissen ja, wovon ich spreche.« Zagons Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Oder wissen Sie es etwa nicht?«
Manuel erschrak und hoffte, daß man es nicht bemerkte. Ich muß dieses Theater mitspielen, dachte er und sagte: »Natürlich weiß ich es.«
»Gut. Sie haben die Dokumente Ihres Vaters gelesen. Kam Ihnen nicht das kalte Grauen, als Sie erkannten – entschuldigen Sie, wenn ich so spreche, aber Sie werden meine Erregung begreifen, Sie müssen selber genauso erregt sein –, was Ihr gewissenloser, skrupelloser, verbrecherischer, ja, verbrecherischer Vater mit Amerikanern und Sowjets für ein Geschäft abgeschlossen hat?«
Irenes Augen waren hinter der dunklen Brille erschrocken auf Manuel gerichtet. Der würgte, nickte und schwieg. Wenn ich eine Ahnung hätte, wovon dieser Mann redet, dachte er. Auch Groll hatte schon so ähnlich gesprochen – nicht derart wüst. Was hat mein Vater getan? Was hat mein Vater getan?
»Und es ist typisch, absolut typisch, daß er mit Amerikanern und Sowjets abschloß. Darauf beruht die Kumpanei dieser beiden Totengräber unserer Welt. Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen ihnen muß gewahrt bleiben, immer, auf allen Gebieten. Warum sagen Sie nichts?«
»Ich höre Ihnen zu.«
»Sie finden keine Worte, das ist es! Sie sind erschüttert und entsetzt, ich kann das gut verstehen. Wenn Sie, Herr Aranda, dieses Verbrechen hinnehmen, wenn Sie es tolerieren, wenn Sie resignieren, wenn Sie aus Angst schweigen, dann sind Sie ein genauso großer Schuft wie Ihr Vater! Ein größerer noch! Unterbrechen Sie mich nicht! Ihr Vater hat bewußt Böses getan. Das ist schlimm. Sie wissen, daß er es tat. Wenn Sie nicht alles daransetzen, um gegen dieses Böse zu kämpfen, sind Sie schlimmer als er!«
Eine Pause folgte.
»Aber was hat Ihr Vater denn getan?« fragte Irene.
»Ah!« Zagon fuhr triumphierend auf, bevor Manuel antworten konnte. »Sie haben es ihr nicht gesagt! Sehr gut. Und sehr gut auch meine Vorsicht. Sie sind also schon in sich gegangen. Sie sind also auch wie wir der Meinung, daß Ihr Vater seinen Tod hier in Wien mehr als verdient hat!« Verzeih mir, Vater, verzeih mir, dachte Manuel und nickte.
»Auch dieser Tod war typisch, nicht wahr? Man hat ihn gebraucht, man hat ihn beseitigt, bevor er auch noch die dritte Nation bedienen konnte, mit der er verhandelte. Sie wissen, welche …«
»Frankreich …«
»Richtig.«
»Und Amerikaner und Sowjets haben ihn deshalb …«
»… liquidieren lassen, natürlich. Der übliche Vorgang. Sie sehen, wie diese Gangstermächte arbeiten. Skrupel kennen sie nicht!«
Irene sagte zornig: »Wenn Sie behaupten, daß meine Tante Herrn Arandas Vater im Auftrag der Amerikaner und Sowjets …«
»Nicht. Nicht. Sie sind nicht informiert. Sie sollen es auch nicht sein. So leben Sie sicherer.« Zagon sah Manuel an. »Wo sind die Dokumente?«
»In einem Tresor. Bestens verwahrt.«
»Ausgezeichnet. Damit haben Sie diese beiden Verbrecherstaaten praktisch in der Hand. Damit haben Sie die einmalige Chance, ihnen die Masken von den Fratzen zu reißen.«
»Wie?«
»Indem Sie mit uns zusammenarbeiten.«
»Wer ist uns?«
»Die Albanische Volksrepublik und die Volksrepublik China. Wir beschützen Sie …«
»Das können Sie doch gar nicht.«
»Und ob wir das können! Sie sagen zu, wir holen die Dokumente unter stärkster Bewachung – in ein paar Stunden sind wir mit dem Flugzeug in Tirana. Und von Tirana aus geben Sie alles, was in Wien geschehen ist, und alle Originaldokumente über Radio und Television und durch die Presse der Weltöffentlichkeit bekannt! Es passiert Ihnen nichts, das garantieren wir! Die Völker werden sich voll Wut und Entsetzen gegen diese Beherrscher der Erde …«
Das Telefon läutete.
Irene machte eine Bewegung.
»Lassen Sie es läuten!«
»Aber das kann ich nicht! Das darf ich nicht! Ich habe Nachtdienst. Ich mache mich strafbar, wenn ich mich nicht melde. Vielleicht ist das ein Arzt … Vielleicht braucht jemand ganz dringend ein Medikament, das ich vorbereiten muß …«
»Sie lassen den Hörer auf der Gabel! Verflucht, dann machen Sie sich eben strafbar! Hier geht es um ganz andere Dinge. Ein Arzt! Und wenn das Amerikaner sind oder Russen, die mich suchen?«
»Und wenn es Ihre eigenen Leute sind, die eine wichtige Botschaft für Sie haben?« fragte Manuel.
Zagon zögerte.
»Gut«, sagte er zuletzt. »Heben Sie ab.«
Irene meldete sich. Gleich darauf gab sie den Hörer Zagon. »Für Sie.« Der Albaner lauschte. Dann redete er schnell und abgehackt in seiner Muttersprache. Nach kurzer Zeit schon warf er den Hörer in die Gabel und sprang auf. Nun hielt er wieder den Revolver in der Hand.
»Ich hatte recht!« Zagon rang nach Atem. »Amerikaner und Sowjets! Und Franzosen! Alle hinter mir her! Alle schon draußen eingetroffen, sagen meine Leute …« Er eilte in den milchig erhellten Verkaufsraum und preßte sich an die Wand neben der Eingangstür. So sah er hinaus. Er bemerkte, daß Manuel hinter ihn trat. »Vorsicht! Bleiben Sie stehen! Da … da … und da drüben … ich kenne ihre verfluchten Wagen! Vier sind es! Und mein Wagen steht auf der Rückseite des Blocks. Ich soll sofort verschwinden … Aber hier komme ich nicht hinaus!« Er lief in das Büro zurück, gefolgt von Manuel. »Geben Sie mir den Schlüssel zum Hinterausgang!« rief Zagon.
»Es gibt keinen Hinterausgang«, sagte Irene ruhig.
»Natürlich gibt es einen! Drüben, am Ende Ihres Labors! Erzählen Sie mir nichts! Zwei unserer Leute haben ihn gesehen … sie kamen als Lieferanten …«
»Wann?«
»Als der Fall akut wurde. Am Tag, nachdem Ihre Tante den Doktor Aranda vergiftete. Da sahen die beiden sich hier um. Ein Hinterausgang ist da, er führt zum Hof. Drüben liegt eine Autowerkstatt. Dort schlage ich ein paar Fenster ein und komme zu meinem Wagen.«
»Der Hinterausgang ist zugemauert worden«, sagte Irene.
»Was?« Zagons Gesicht wurde grau. »Wann? Warum?«
»In den letzten Tagen. Der Hausbesitzer baut dort Garagen.«
»Was ist mit den Fenstern zum Hof?«
»Alle vergittert«, sagte Irene.
»Zum Teufel … Was mache ich jetzt?«
»Das hätten Sie sich früher überlegen sollen«, sagte Manuel laut und wütend. Was er sich über seinen Vater hatte anhören müssen, war sehr viel für ihn gewesen, besonders, weil er nach allem, was er wußte, die Behauptung des Albaners nicht mehr als bloße Rederei abtun konnte.
»Ich habe es mir überlegt!« Zagon hob den Kopf. »Ich kannte das Risiko. Ich habe es in Kauf genommen und alles so geschickt wie möglich angefangen.«
»Nicht geschickt genug«, sagte Manuel. »Was ist denn mit Ihren Leuten? Können die Ihnen nicht helfen?«
»Da sind auch welche draußen, natürlich. Aber was habe ich davon? Was habe ich von einer Schießerei? Sobald ich aus der Tür trete, geht es los. Und bevor jemand anderer getroffen wird, bin ich längst tot …«
»Bleiben Sie hier«, sagte Manuel. »Mir tut man nichts, dafür ist gesorgt. Wo ich bin, da sind auch Sie in Sicherheit.«
»Bin ich nicht! Ihnen wird man nichts tun … aber mir …«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Manuel. »Was kann man Ihnen hier denn schon tun?«
»Das werden Sie gleich erleben. Das kann jede Minute losgehen.«
»Sie meinen eine Schießerei?«
»Was dachten Sie? Die kommen hier herein! Und wie! Die ganze Tür besteht aus Glas. Ein, zwei Schuß, und sie sind im Laden! Und noch ein, zwei Schuß, und ich bin erledigt!«
»Langsam, langsam«, sagte Irene. »Wien ist nicht Chicago.«
»Nein, nicht? Warten Sie doch ab!« Zagons Hand, die den Revolver hielt, zitterte plötzlich.
»Aber das ist doch Unsinn!« Irene regte sich auf. »Mitten in der Stadt! Wir sind ein neutrales Land.« Zagon lachte böse. »Wenn das wirklich so aussieht, dann gibt es nur eines – Polizei muß her!« Irene griff nach dem Telefon. Zagon stieß sie gegen eine Wand zurück.
»Kommt nicht in Frage!«
»Keine Polizei?«
Der Albaner sagte grimmig: »Was wollen Sie denn der erzählen?«
»Die Wahrheit natürlich!«
»Kennen Sie die österreichische Polizei? Die machen sich doch sofort in die Hosen! Die kommen, wenn sie überhaupt kommen, zu spät, oder sie fangen es so an, daß mich die Hunde doch erwischen. Ich bin ja nur ein kleiner Scheißalbaner für die!«
Manuel dachte an alles, was der Hofrat Groll ihm erklärt hatte. »Sie haben recht«, sagte er.
»Ich habe …« Der Albaner sah ihn verblüfft an.
»Recht«, sagte Manuel. »So geht es auch nicht.«
»Dann gibt es doch nur eines: Die Dokumente!« rief Zagon. »Was ist mit denen?«
»Wo sind sie?«
»Bei einem Anwalt.«
»Rufen Sie ihn an! Er muß die Dokumente in die albanische Botschaft schaffen! Sofort … jetzt, nachts … Er tut doch, was Sie sagen, wie? Er muß es tun!«
»Sie sind ja verrückt! Dann haben wir alle keinen Schutz mehr.«
»Aber mein Tod hätte Sinn! Die Welt würde …«
»Hören Sie auf«, sagte Manuel. »Sie machen mich krank.« Er holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche und blätterte.
»Was wollen Sie?«
»Telefonieren.«
»Mit wem?«
»Doch mit der Polizei«, sagte Manuel. Im nächsten Moment preßte sich der Lauf des Revolvers gegen seinen Magen.
48
›Zwar vermag exakte Wissenschaft nichts über Gott auszusagen. Das wissen wir spätestens seit Immanuel Kant. Man kann aber, auf der Suche nach einer Weltanschauung die Grenze zwischen Wissenschaft und Ideologie überschreitend, zumindest folgenden Gedanken erwägen: daß Gott diese Welt hat entstehen lassen nicht als einen von Anfang an wohlgeordneten Kosmos, sondern als ein unendliches Spiel von Versuch und Irrtum, von Zufall und Notwendigkeit. Auch die Schönheit des Kolibris oder der Rose ist etwas Gewordenes – geworden, so lehrt es uns der Darwinismus, durch Mutation und Auslese. Das Universum (und in ihm alles Leben auf dieser Erde) als Gottes Spiel, das sich über die Jahrmillionen zum Kosmos ordnet – ist das nicht ein Gedanke, dem nachzuhängen sich lohnt?‹
Diese Worte standen, in winzig kleinen, präzisen Buchstaben auf einem weißen Blatt Papier, das vor dem Hofrat Wolfgang Groll lag. Vollgeräumt war der mächtige, antike Arbeitstisch mit Manuskripten und aufgeschlagenen Büchern. Eine alte Tischlampe, die einen beigefarbenen Pergamentschirm trug, beleuchtete das Durcheinander. Sonst lag das Arbeitszimmer der großen Wohnung des Hofrats in Dunkelheit. Alle Wände waren von Bücherregalen verdeckt. Ein Fenster stand halb offen. Frische, kalte Nachtluft strömte in den Raum. Ein alter Samowar stand auf einem Tischchen, ein Telefon auf einem anderen.
Groll hielt den Hörer ans Ohr.
Seit drei Minuten lauschte er Manuels Bericht. Von Zeit zu Zeit trank der Hofrat einen Schluck Tee. Er brauchte immer Unmengen von Tee, wenn er nachts arbeitete, und er arbeitete schon seit längerer Zeit. Der homosexuelle Mörder war nach einem Verhör von knapp zwei Stunden zusammengebrochen und hatte gestanden. Den Rest erledigten Grolls Kommissare. Er war heimgefahren und hatte es sich bequem gemacht. Pantoffeln. Ein alter Morgenmantel. Die Krawatte fort. So saß er nun da, ein Blatt des Manuskriptes zu dem Buch seines Lebens vor sich. Das Blatt trug die Seitenzahl 713. Es würden gewiß noch einmal so viele Seiten werden, bis das Werk vollendet war. Am schweren Fuß der alten Lampe lehnte ein kleiner, vergoldeter Rahmen. Unter ihm befand sich, von Glas bedeckt und geschützt, ein goldgelbes Ginkgo-Blatt. Groll hatte es stets vor Augen, wenn er in diesen Nachtstunden, die er liebte, hier saß und schrieb.
»… Herr Zagon rammte mir zuerst seinen Revolver in den Magen, als ich sagte, ich wollte die Polizei anrufen«, erklang Manuels Stimme. »Er hat kein Vertrauen zur österreichischen Polizei – aber das erzählte ich Ihnen schon.«
»Das erzählten Sie mir schon, Herr Aranda. Ein kluger Mann, Ihr Besucher.« Groll sah das gespaltene Ginkgo-Blatt an. Und immer, immer wieder in seinem Leben hatte dieses Blatt ihm etwas zu sagen, ›paßte‹ es zur Situation. Mit einem Zeigefinger strich Groll, das silbergraue Haar verwirrt, die Beine ausgestreckt, den massigen Leib vorgeschoben, die Umrisse des Blattes nach. Imperialistisch-revisionistische Renegatenclique – kapitalistisch-reaktionäre Kriegsverbrecher, dachte er. Die beiden großen Gegensätze in Koexistenz. Die äußerst verschiedenen Systeme – eines, auch jetzt und hier und in dieser Stadt und in dieser Nacht. Amerika und Rußland. Ost und West. Sind es zwei, die sich erlesen, daß man sie als eines kennt?
»Erst als ich Herrn Zagon von Ihnen erzählt hatte, stimmte er zu, daß ich telefonierte. Er kennt Sie natürlich …«
Groll dachte: Diese junge Frau, die Aranda nun immer wieder trifft. Die Gesetzmäßigkeit, die ewige Gesetzmäßigkeit, die Unentrinnbarkeit von dem allem. Exakter, vollkommener noch als Goethe es mit Sinn belegte, ist dieses Blatt Symbol, Urzeichen allen Lebens, alles Lebendigen. Der Mord an Arandas Vater, der Selbstmord Valerie Steinfelds, auch sie müssen zusammenhängen, unbedingt, unlösbar verkettet miteinander, ich weiß noch nicht wie, aber wir werden es einmal wissen. Valerie Steinfeld und Raphaelo Aranda. War das ein lebendig Wesen, das sich in sich selbst getrennt – und im Tode wieder vereint hat?
Groll hörte Manuels Stimme: »Was soll geschehen, Herr Hofrat? Was können wir tun? Ich weiß, daß Sie wenig, so wenig tun können. Aber Herr Zagon braucht Hilfe – schnell!«
Groll sagte: »Ich glaube, ich habe eine Lösung gefunden, eine österreichische Lösung …«
49
Mit zuckenden Blaulichtern und heulender Sirene bogen drei dunkelgrüne Funkstreifenwagen, von der Spitalgasse kommend, in die Lazarettgasse ein. Sie schleuderten auf der schneebedeckten vereisten Straße.
Eine Ambulanz, gleichfalls mit Blaulicht und Sirene, folgte unmittelbar. Die Autos hielten vor dem Eingang der Möven-Apotheke. Aus dem Rettungswagen kletterten drei Männer, aus den Funkstreifenwagen kein einziger.
In ein paar Fenstern der umliegenden Häuser flammte Licht auf, die Flügel wurden geöffnet, Menschen erschienen als Silhouetten in den hellen Vierecken. Erschrockene Stimmen erklangen.
Manuel, der mit Irene beim Eingang, jenseits der Glastür, gewartet hatte, sperrte sie nun eilends auf.
»Doktor Bernard«, sagte einer der drei Männer aus der Ambulanz. »Polizeiarzt. Sie haben das Kommissariat in der Boltzmanngasse angerufen wegen dieses Mannes …«
»Ja.«
»Wo ist er?«
Manuel wies zu dem erleuchteten Büro.
Der Arzt, zwei Sanitäter in grauer Uniform – ältlich und mager der eine, jung und untersetzt der andere, beide erbärmlich frierend – eilten in die Apotheke und den kleinen Raum hinein. Hier kauerte, in der äußersten Ecke, Enver Zagon auf dem Boden. Seine Augen rollten wild, seine Brauen zuckten, Speichel troff aus seinem Mund. Nun streckte er abwehrend beide Hände vor sich in die Luft. Sie zitterten wie in einem schweren Tremor. Der Hofrat Groll hatte Manuel am Telefon noch ein paar Ratschläge zur Weitergabe an Zagon erteilt … »Hilfe!« schrie der Albaner gellend. »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Die beiden Sanitäter eilten vor und hielten ihn an den Armen fest, der Polizeiarzt kniete vor Zagon nieder und betrachtete ihn aufmerksam.
»Ruhig … Seien Sie ganz ruhig … Wir sind Ihre Freunde …«
»Freunde?« kreischte Zagon. (»Es dürfte sich gut machen, wenn er möglichst laut lärmt«, hatte Groll gesagt.) »Ihr und Freunde! Verkleidet habt ihr euch! Glaubt ihr, ich erkenne das nicht? Laßt mich! Laßt mich! Ich tue alles, was ihr wollt, aber laßt mich leben! Bringt mich nicht um …« Er wand sich im Griff der Pfleger, die Augen verdrehten sich.
»Sofort in die Psychiatrische mit dem Mann«, sagte der Polizeiarzt, sich erhebend. Die beiden Sanitäter zerrten den hageren Albaner mit Mühe hoch. Er wehrte sich verzweifelt, spuckte, trat und schrie. Es half ihm nichts. Der Polizeiarzt sagte zu Irene: »Ist das sein Revolver?«
»Ja.«
»Ein Riesenglück hatten Sie. Akute Psychose, der Mann. Wie gelangte er bloß hier rein?«
»Er läutete. Als ich nach vorn zur Tür kam, stand er da und preßte schon die Waffe an das Glas, direkt gegen mich. Er schrie in die Sprechanlage, daß er sofort schießt, wenn ich nicht öffne«, log Irene ruhig, während der tobende Zagon an ihr vorbeigeschleppt wurde. Sie sagte, was Groll zu sagen empfohlen hatte.
(»Für den Polizeiarzt wird das völlig genügen. Der überweist den Mann an die Nervenklinik, wenn er nur richtig tobt. Was glauben Sie, wie gerne bei uns einer dem anderen die Verantwortung zuschiebt!«
»Und was geschieht mit Zagon?« hatte Manuel gefragt.
»Ach, er wird gebadet und in ein Bett gelegt. Bis dahin soll er sich sehr beruhigen, sagen Sie ihm. Damit er nicht weiß Gott was für starkes Zeug gespritzt bekommt. Sie werden ihm irgend etwas Mildes geben. Und ihn dabehalten.«
»Wie lange?«
»Solange die Untersuchungen dauern. Wenn er gut simuliert, drei bis vier Tage. Sonst nur einen oder zwei. Aber damit ist er auch schon gerettet. Von der Klinik weg können ihn seine Leute direkt abholen und in Sicherheit bringen. Und alle sind gedeckt. Die Polizei, die Klinik, ich weiß überhaupt erst morgen von der Geschichte – eine österreichische Lösung, ich sagte es Ihnen ja …«)
Draußen in der Kälte hatten sich Menschen angesammelt, die sensationslüstern zusahen, wie der sich verzweifelt wehrende Mann im Smoking und schmutzigem Mantel nun von den Sanitätern umständlich in die Ambulanz gezerrt wurde. Zagon brüllte wieder gellend um Hilfe. Die Menschen starrten mit offenen Mündern, aus denen weiße Atemsäulen stiegen. Ein Mann, der einen Pyjama und darüber einen dicken Mantel trug, sprach einen der zwei Polizisten an, die mittlerweile, in Anbetracht der unter Kontrolle gebrachten Situation, aus ihren Funkstreifenwagen gestiegen waren. Der Mann wollte wissen, was vorging.
»Verrückter«, sagte der Polizist.
»Wohin kommt er?«
»Na, rüber in die Psychiatrische natürlich.«
Durchdringend begann irgendwo ein Baby zu plärren.
Ein Mann mit Dufflecoat, der sich unter den Neugierigen befand, ging ein Stück die Straße hinunter zu einem schwarzen Lincoln. Hinter dem Steuer saß ein Mann, der gleichfalls einen Dufflecoat trug.
»Scheiße«, sagte der erste Mann, setzte sich neben den zweiten und warf den Schlag zu. »Warte, bis alle verschwunden sind. Dann laß den Motor an und hau ab, ich muß das der Zentrale melden.«
Er sprach englisch mit amerikanischem Akzent.
Während die Ambulanz losfuhr und ihre Sirene wieder zu heulen begann, während die Polizisten in ihre Wagen kletterten, die gleichfalls starteten und dem Rettungsauto folgten, berichtete der Amerikaner seinem Kollegen, was er gehört hatte.
»Also ist er uns entwischt. Verdammtes Pech.«
Die Neugierigen verschwanden hinter Haustoren. Die Eingangstür der Apotheke war nun wieder geschlossen.
»Vorwärts, Joe, tritt auf den Stempel«, sagte der erste Amerikaner. Der Lincoln glitt aus der Parklücke und nahm schnell Fahrt auf. Ein anderer Wagen folgte. Ein dritter. Zwei blieben zurück …
50
»Und nun? Es stimmt, was Nora Hill erzählt! Und es stimmt, was dieser Albaner erzählt! Mein Vater hat mit Amerikanern und Russen ein Geschäft gemacht. Ein furchtbares Geschäft. Und ich weiß nicht, welches …« Manuel Aranda hatte sich auf den Rand des provisorischen Bettes sinken lassen. Er hielt den Kopf in beide Hände gestützt. »Mein Vater – ein Verbrecher!«
»Nicht«, sagte Irene, die neben ihm saß. »Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren. Das ist doch alles Unsinn.«
»Nein, das ist es nicht! Nicht mehr jetzt. Jetzt wissen wir schon zuviel, um noch an die Unschuld meines Vaters zu glauben.«
»Und an Valeries Unschuld«, sagte Irene leise.
Die Nachtglocke schrillte.
Irene fuhr zusammen.
»Nein! Nicht schon wieder! Nicht … nicht …«
»Ich sehe nach.« Manuel stand auf und ging geräuschlos, auf Zehenspitzen, in den Verkaufsraum. Er lehnte sich an die Wand neben der Tür. Er hatte Irenes Pistole mitgenommen. Nun schob er den Sicherungshebel herunter und trat einen Schritt seitlich vor. Draußen in der Kälte stand, außer Atem, keuchend und dick vermummt, ein vielleicht zwölfjähriger Junge. Er redete ungewöhnlich schnell in die Sprechanlage: »Hier, bitte, das Rezept.« Er schob es durch den Metallschlitz unter dem Glockenknopf. »Der Herr Doktor hat gesagt, die Mutter soll es sofort nehmen. Sie hat solche Bauchschmerzen. Sie schreit! Bitte, machen Sie schnell, Herr Apotheker. Sie hat so arge Schmerzen wie noch nie. Es ist schrecklich …« Manuel sah, daß dem kleinen Jungen dicke Tränen über die Wangen liefen.
Irene war herangekommen. Sie knipste einen Schalter herunter. Neonlichtröhren flammten im Verkaufsraum auf.
»Spasmocibalgin«, las Irene von dem Rezept ab, das Manuel ihr reichte. In die Sprechanlage sagte sie: »Warte einen Moment.« Sie eilte zu den Schubladen.
Manuel ging in das Büro zurück. Er fühlte sich taumelig vor Benommenheit, von einem Moment zum andern war das nun schon vertraute Gefühl wieder da. Er mußte sich an der Wand entlangtasten, sonst wäre er gestürzt. Schwer ließ er sich auf Irenes Bett fallen. Diese kam wenige Minuten später in das Büro zurück. Manuel Aranda schlief bereits so tief, daß er nicht erwachte, als sie ihn laut ansprach, als sie ihm Jacke und Schuhe auszog, den Hemdkragen öffnete, die Krawatte lockerte und ihn ganz auf das Bett legte. Er murmelte im Schlaf, aber sie konnte nichts verstehen. Irene deckte Manuel zu und trat hinter den Schreibtisch. Sie glitt auf den Sessel und drückte den Arm der Lampe herab, bis er fast die Tischplatte berührte und der kleine Raum in Dunkelheit versank.
Laut fühlte Irene ihr Herz pochen. Plötzlich packte sie wilde Angst. In Panik rang sie nach Atem. Ihre Gedanken überstürzten sich. Valerie und Manuels Vater – tot beide, Verbrecher beide. Die Aufregung der Mutter. Das Geheimnis. Der Albaner. Der Nachtmahr, dieser irrsinnige Nachtmahr, in den sie und Manuel geraten waren. Was wird weiter geschehen? Wie wird das alles enden?
Die junge Frau preßte beide Fäuste gegen die Schläfen.
Angst! Angst!
Noch nie im Leben hatte sie solche Angst empfunden wie nun. Sie wagte nicht, sich zu rühren.
Die Angst! Die Angst!
Irene ließ die Fäuste sinken, öffnete sie, lehnte sich zurück und starrte in die Dunkelheit des Büros. So plötzlich, wie sie gekommen war, verschwand die Angst. Irene saß erschöpft und ruhig hinter dem Schreibtisch. Sie war sehr glücklich darüber, Manuels Atem zu hören.
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Vers zwei
Die Frage
Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als eines kennt?
1
Es war ein billiges Kuvert aus schlechtem, grauem Papier. Auf seiner Vorderseite stand in der unsauberen, wackeligen Schrift einer alten Schreibmaschine:
An:
Frau
Valerie Steinfeld
Gentzgasse 50 A
WIEN XVIII., ÖSTERREICH
Darunter, unterstrichen: WENN VERZOGEN, BITTE NACHSENDEN! Auf der Rückseite des Kuverts, am oberen Längsrand: Absender: Daniel Steinfeld, Al. 17 Maja 7/51, Warschau.
Manuel Aranda drehte den Umschlag hin und her. Er sah Irene Waldegg an. Sie erwiderte seinen Blick mit schreckerfüllten Augen. Die Augen waren noch immer gerötet, aber nicht mehr verquollen, Irene trug an diesem Vormittag keine Brille. Sie war jedoch immer noch stark geschminkt, um ihr elendes, erschöpftes Aussehen zu verbergen. Ein schwarzes Jersey-Kostüm, in dessen Revers eine goldene Brosche steckte, hatte sie angezogen, durchbrochene schwarze Nylonstrümpfe, schwarze Spangenschuhe … Um halb acht Uhr früh war Manuel von ihr in der Apotheke geweckt worden. Er hatte bis dahin tief und fest geschlafen und beim Erwachen zunächst nicht gewußt, wo er sich befand. Irene war für kurze Zeit am Schreibtisch eingenickt. Die Nachtglocke hatte nicht mehr geläutet …
»Sie müssen aufstehen und gehen, bevor meine Angestellten kommen, Herr Aranda.«
Er hatte sich schlaftrunken erhoben, Schuhe und Jacke angezogen.
»Wenn Sie sich waschen wollen … Ich koche inzwischen noch einmal Kaffee …«
Er war sich über das unrasierte Gesicht gefahren und hatte den Kopf geschüttelt.
»Ich mache mich besser auf den Weg ins Hotel. Tut mir leid, ich bin einfach eingeschlafen.«
»Ich war sehr … sehr froh darüber, daß Sie diese Nacht hier verbracht haben, Herr Aranda.«
Er hatte sie lange angesehen. Sie hatte die Brille abgenommen und seinen Blick erwidert.
»Um halb elf komme ich und hole Sie ab zu dieser Frau Barry.« Er war verlegen geworden.
»Gut.«
»Ich würde Sie gern noch nach Hause fahren. Ihr Wagen ist doch in Reparatur.«
»Das geht nicht. Ich muß warten, bis meine Leute da sind. Dann nehme ich die Straßenbahn. Es ist nicht weit …«
Manuel Aranda fuhr ins ›Ritz‹.
Sein Appartement dort war mit Stilmöbeln eingerichtet. In einer Ecke des Salons stand der gewaltsam geöffnete Karton, in dem sich alles befand, was Manuels Vater im Moment seines Todes auf dem Leib trug – alles mit Ausnahme des Safeschlüssels, der gestohlen worden war. Manuel glaubte, einen leichten Geruch nach Lysol zu verspüren, als er an dem Karton vorüber ins Badezimmer ging und den Heißwasserhahn der Wanne aufdrehte. Was mache ich mit den Sachen, überlegte er. Mit ihnen und all den anderen? Aufheben? Vor mir her heimschicken? Wegwerfen? Er kam zu keiner Entscheidung.
Nach dem Bad fühlte er sich besser. Er bestellte Frühstück und fand zu seinem Erstaunen, daß er Appetit hatte. Der starke Kaffee brachte ihn wieder ganz zu sich. Es war knapp nach dreiviertel neun, als das Telefon läutete. Manuel hob ab und vernahm eine weibliche Stimme, die ihm bekannt vorkam.
Die Stimme sprach gehetzt: »Herr Aranda? Gott sei Dank, daß ich Sie erreiche. Ihr Vater wohnte doch im ›Ritz‹. Da dachte ich, ich versuche es einmal, vielleicht wohnen Sie auch dort. Hier spricht Martha Waldegg, die Mutter von Irene.«
»Guten Morgen, Frau Waldegg. Was kann ich für Sie tun?«
»Das Gespräch heute nacht … als meine Tochter mich anrief … Sie haben ja mitgehört …«
»Ja.«
Die Stimme von Irenes Mutter kam nun stammelnd: »Das ist ein großes Unglück, das da geschehen ist, Herr Aranda … eine furchtbare Sache … und es kann noch viel mehr Unglück geschehen.«
»Frau Waldegg, pardon, mein Vater wurde ermordet – von Ihrer Schwester! Vielleicht denken Sie einmal daran.«
»Ich denke daran … dauernd … Ich wollte Sie nicht verletzen oder beleidigen, wahrhaftig nicht … Ich wollte Sie nur bitten, als eine Mutter, die Angst um ihr Kind hat, forschen Sie nicht weiter …«
»Ist Ihnen klar, was Sie mir zumuten?«
»Gewiß. Und trotzdem tue ich es.«
»Was heißt Angst um Ihr Kind?«
»Das … Ich kann das jetzt nicht erklären … Ich bin von daheim fortgelaufen, auf das nächste Postamt, damit mein Mann mich nicht hört …«
»Wieso haben Sie Angst um Irene?«
Daraufhin hörte Manuel, wie die Frau am anderen Ende der Leitung zu schluchzen begann.
»Frau Waldegg, Sie wissen Bescheid über vieles, was Ihre Tochter und ich nicht wissen … und andere Menschen auch nicht, zum Beispiel Ihr Mann. Stimmt das?«
Schluchzen.
»Stimmt das, Frau Waldegg?«
»Ja … ja … Es wäre … Eine Katastrophe wäre es, wenn Irene und mein Mann etwas davon erfahren würden … Hier steht das Glück einer Familie auf dem Spiel, das Schicksal von drei Menschen …«
»Und Sie denken, nachdem Sie mir das gesagt haben, werde ich aufhören, mich um die Sache zu kümmern?«
»Darum flehe ich Sie an!«
»Das ist absurd, Frau Waldegg. Ich werde alles tun, alles, hören Sie, um die Wahrheit zu finden. Ich kann dabei auf niemanden Rücksicht nehmen – auch nicht auf Sie.«
Nun weinte die Frau auf dem Postamt in Villach. Manuel ließ sie eine ganze Weile weinen. Er wußte, daß sie wieder sprechen würde. Sie sprach, endlich, von Schluchzen unterbrochen: »Also gut … Ich sehe Ihren Standpunkt ein … Ich will Ihnen alles sagen … unter einer Bedingung …«
»Welcher?«
»Daß Sie Irene kein Wort von diesem Anruf erzählen! Nicht ein einziges Wort!«
»Einverstanden«, sagte Manuel. Es muß wirklich eine schlimme Sache sein, die Irenes Mutter da verheimlicht, dachte er.
»Danke. Und dann müssen Sie zu mir nach Villach kommen … und davon darf Irene nichts merken … Ich kann hier nicht weg … kommen Sie … irgendwann nächste Woche …«
»Warum nicht früher?«
»Weil mein Mann nicht da sein darf, wenn Sie mich besuchen. Er muß nächste Woche für einen Tag nach Wien … zu unserem Notar da … wir haben ein Grundstück in Wien, das wir verkaufen wollen …«
»Wann fährt er?«
»Das ist noch nicht sicher. Ich rufe Sie rechtzeitig vorher an. Wenn Sie nicht im Hotel sind, hinterlasse ich eine Nachricht.«
»Gut, Frau Waldegg. Ich warte also. Länger als eine Woche warte ich nicht. Dann komme ich ohne Anmeldung.« Sie schrie leise auf. »Tut mir leid. Ich will wissen, was mit Frau Steinfeld wirklich los war! Leben Sie wohl, Frau Waldegg.«
Es kam keine Antwort mehr. Aus dem Hörer erklang plötzlich hemmungsloses Weinen. Dann war die Verbindung unterbrochen. Manuel saß reglos da und starrte den cremefarbenen Telefonapparat an. Langsam legte er den Hörer in die Gabel zurück.
2
»Herr Doktor Forster, hier spricht Manuel Aranda. Ich bin der Sohn von …«
»Ja, ich weiß. Ich habe über den Fall viel gelesen. Ihr Vater ist von dieser Frau Steinfeld vergiftet worden, nicht wahr?« Die Stimme klang alt und kultiviert. »Wie kommen Sie auf mich, Herr Aranda?«
»Sie haben vor vielen Jahren, 1942, die Vertretung von Frau Steinfeld in einem sehr ungewöhnlichen Prozeß übernommen.«
»Nicht von Frau Steinfeld. Von ihrem Sohn.«
»Aber …«
»Das ist etwas kompliziert. Ja, ich kannte beide, den Sohn und die Mutter. Und ich habe den Prozeß geführt. Es ist mir sehr nahegegangen, was damals geschah – obwohl ein Anwalt doch einiges gewöhnt ist, nicht wahr? Und als ich jetzt las, was Frau Steinfeld für ein Ende gefunden, was sie zuvor noch getan hat, war ich vollkommen entsetzt und begriff überhaupt nichts mehr. Ich nehme an, Sie wollen, daß ich Ihnen erzähle, was damals geschehen ist?«
»Wenn ich darum bitten dürfte, Herr Doktor. Ich hatte in Ihrer Kanzlei in der Rotenturmstraße angerufen, aber …«
»Die leitet schon seit elf Jahren mein Sohn. Ich habe mich vom Beruf zurückgezogen.«
»Ja, das sagte man mir. Und man gab mir Ihre Privatnummer und Ihre Adresse in der Sternwartestraße. Darf ich Sie da besuchen?«
»Gern, natürlich. Ich will Ihnen helfen, wo ich kann. Sie müssen einem alten Mann aber verzeihen. Mein Gedächtnis … Das ist schon so lange her … Ich muß die Akten einsehen.«
»Gibt es die noch?«
»Hoffentlich.«
»Bei Gericht? Kann ich vielleicht selber …«
»Im Justizpalast? Nein, Herr Aranda, da werden Sie kein Glück haben. Niemand darf fremde Akten einsehen. Außerdem werden sie gar nicht mehr da sein, sondern in Leipzig. Wenn sie dort noch existieren.«
»In Leipzig? Wie kamen sie nach Leipzig?«
»Das muß ich Ihnen erklären … Nein, nein, ich meinte meine Akten. Die müßten im Archiv der Kanzlei liegen. Ich werde meinen Sohn anrufen und veranlassen, daß man sie aushebt. Wenn wir Glück haben, ist noch alles da. Aber das Heraussuchen wird bestimmt einen Tag dauern …«
»Ich wollte Sie nicht überfallen. Heute ist Freitag. Dürfte ich Sie vielleicht morgen besuchen?«
»Falls Sie nichts mehr von mir hören, haben wir die Akten gefunden. Kommen Sie doch zum Kaffee, um sechzehn Uhr. Bis dahin habe ich die Unterlagen auch durchgesehen und mein Gedächtnis ausfgefrischt …«
3
»Herr Landau, ich bin …«
»Aranda! Sie sind Herr Aranda, ich kenne Ihre Stimme!« Der Buchhändler begann zu keuchen. »Was wollen Sie schon wieder?«
»Die Situation hat sich geändert. Von jetzt an lasse ich mich nicht mehr fortjagen. Von jetzt an werden Sie mir alles mitteilen, was Sie wissen – über Valerie Steinfeld und den Vaterschaftsprozeß, den sie geführt hat, und über …«
Landau jaulte auf: »Vaterschaftsprozeß?«
»Sie wissen genau, wovon ich rede.«
Landaus Stimme bebte: »Aber woher wissen Sie …?«
»Von Nora Hill.«
»O Gott.«
»Ja, o Gott. Ich weiß bereits sehr viel, Herr Landau. Auch, daß Sie Frau Barry angerufen und ihr nahegelegt haben, mir keinerlei Auskünfte zu geben. Hören Sie zu, Herr Landau: Wenn Sie das noch bei einem einzigen anderen Menschen versuchen, wenn Sie mir jetzt nicht rückhaltlos alles erzählen, will ich dafür sorgen, daß Sie in diese Affäre hineingezogen werden – und es ist, das haben Sie gewiß schon festgestellt, eine durchaus lebensgefährliche Affäre, auch jetzt noch, nachdem bereits zwei Menschen gestorben sind, die in sie verwickelt waren.« Angst muß man dem Ängstlichen machen, dachte Manuel, und fuhr fort: »Es könnte sehr leicht sein, daß Sie dann der dritte Tote sind. Nora Hill ist meine Verbündete geworden heute nacht. Sie wissen, was das für mich bedeutet – und für Sie!«
Das letzte war ein Pfeil ins Blaue.
Er traf.
Landau stotterte: »Drohen Sie mir doch nicht … mein Herz, Sie wissen, mein Herz … Ich will Ihnen ja erzählen, wie das alles war, immerhin, wenn Sie ohnedies schon davon gehört haben … aber Tilly!«
»Was, Tilly?«
»Meine Schwester … Wenn Sie hierherkommen, werden meine Angestellten ihr berichten, daß Sie da waren … und dann …«
»Was ist größer: Ihre Angst vor Ihrer Schwester oder Ihre Angst davor, ermordet zu werden wie mein Vater?«
»Ich … ich …«
Na also, dachte Manuel.
»Wir machen das anders«, sagte er. »Sie kommen zu mir, nicht ich zu Ihnen.«
»Ins ›Ritz‹?«
»Ja. In meinem Salon können wir ungestört sprechen.«
»Aber was sage ich im Geschäft? Ich muß doch immerhin einen Grund angeben, warum ich fortgehe …«
Eigentlich tut mir der arme Hund leid, dachte Manuel.
»Bibliothek!« rief Landau plötzlich.
»Was?«
»Es werden uns dauernd private Bibliotheken zum Kauf angeboten … Das ginge … Ich könnte immerhin sagen, daß ich mir eine ansehen muß … Daran würde Tilly nichts finden, daran ist sie immerhin gewöhnt … Wenn ich nur wieder zurück bin vor halb sieben … Da kommt sie nämlich … Und wenn ich dann noch nicht zurück bin …«
»Sie werden zurück sein. Ich erwarte Sie heute nachmittag um fünfzehn Uhr.«
4
Das war vor eineinhalb Stunden gewesen.
Und nun stand Manuel bei Irene und drehte den billigen Umschlag des Briefes in der Hand.
Sie sah ihn ratlos an.
»Begreifen Sie das? Aus Warschau? Daniel Steinfeld? Wer ist das? Was hat das zu bedeuten?«
»Wann kam der Brief?«
»Mit der Morgenpost.«
Sie sprachen in dem antik eingerichteten Wohnzimmer. Nebenan ertönte ein Staubsauger. Eine ältere Frau mit Kopftuch und Schürze hatte Manuel die Eingangstür geöffnet. Die Wohnung war, soweit er das beurteilen konnte, sehr groß. Von einer getäfelten fensterlosen Halle gingen Türen in zahlreiche Räume. Die Fenster des Wohnzimmers sahen auf einen stillen, weiten Hof hinaus, in dem drei alte, kahle Kastanienbäume, hoch beladen mit Schnee, standen.
Valerie Steinfelds Wohnung befand sich im dritten Stock des dunklen, gepflegten Hauses mit dem uralten, quietschenden und ruckenden Fahrstuhl. Viele Bücher gab es im Wohnzimmer, wertvolle Schränke, Kommoden und Truhen, auf denen silberne Leuchter standen, eine Sitzgarnitur und mehrere hohe Stehlampen.
»Wie, bitte?«
Irene hatte etwas gesagt, er hatte es nicht gehört.
»Ich sagte: Es könnte ein Verwandter von Valerie sein, ein Verwandter ihres Mannes. Aber ich weiß nichts von solchen Verwandten. Ich glaubte immer, Paul Steinfeld hätte keine gehabt. Ich rufe meine Mutter an!«
»Nein!« Er packte ihren Arm. »Warten Sie. Wir wollen den Brief erst lesen, vielleicht wissen wir dann mehr.«
»Den Brief lesen? Aber er ist doch an Valerie adressiert!«
Nebenan brummte der Staubsauger, laut und monoton.
»Wollen Sie ihn deshalb zurückgehen lassen?«
»Wer immer den Brief geschrieben hat, ahnte nicht, daß Valerie tot ist!«
»Vielleicht hilft es uns gerade deshalb, zu wissen, was er ihr mitzuteilen hat!«
Sie sahen sich an.
Nach ein paar Sekunden sagte Irene: »Öffnen Sie den Umschlag.«
Manuel riß ihn auf. Er entfaltete das gelbliche, faserige Papier, das sich darin befand, und las laut vor, was, mit der defekten Maschine geschrieben, auf dem desolaten Bogen stand: »›Warschau, 6. Januar 1969‹ – da lebte Frau Steinfeld noch!« Irene nickte. Ihre Hände rieben sich ineinander. Er las weiter: »›Meine liebe Valerie. Verzeih, wenn ich mich nach dieser kleinen Unendlichkeit, in der wir nichts voneinander hörten, an Dich wende, und vergiß bitte, bitte‹ – noch einmal, gesperrt –, ›daß Dein Mann und ich uns nicht leiden konnten. Wären wir einander gute Brüder gewesen, wer weiß, wäre alles vielleicht anders gekommen …‹« Manuel ließ den Bogen sinken. »Paul Steinfeld hatte einen Bruder!«
»Einen Bruder! Meine Mutter mußte es wissen! Aller Wahrscheinlichkeit nach! Das geht zu weit! Das kann sie nicht machen mit mir! Ich will sie zur Rede stellen …«
Manuel dachte an das Telefongespräch, das er geführt hatte, und sagte eindringlich: »Hören Sie auf damit, bitte! Ihre Mutter verheimlicht etwas – das wissen wir. Nun gut. Wenn sie es verheimlichen will, dann wird sie es uns auch jetzt nicht sagen, vor allem, wenn Sie in einer derartigen Stimmung mit ihr telefonieren. Wir müssen allein dahinterkommen – wie hinter alles in dieser Geschichte.«
»Sie haben recht. Es hätte keinen Sinn. Meine eigene Mutter!«
»Wir wissen nicht, was sie verschweigt«, sagte Manuel hastig. Er las: »›… wäre alles vielleicht anders gekommen. Wahrscheinlich auch nicht, wenn ich noch einmal darüber nachdenke. Er ist tot, und seit 1948 ist unser persönlicher Kontakt ganz abgerissen. Ich weiß, daß Du mich immer gern gehabt hast, obwohl wir uns so selten sahen. Es ist …‹«
»Sahen? Das heißt, er war in Wien! Wann? Nur 1948? Er schreibt, daß sie einander öfter sahen, wenn auch selten … Wie kam er nach Warschau?« rief Irene.
»Vielleicht war Frau Steinfeld einige Male in Warschau und hat ihn dort gesehen.«
»Nein! Sie war nie …« Irene brach ab. »Oder doch? Ich weiß doch überhaupt nichts Wichtiges von ihr.«
Manuel nahm wieder den Brief. »›Es ist nun eine Situation eingetreten, an die ich nie geglaubt habe, und in der ich – erschrick nicht! – dringend Deine Hilfe brauche …‹«
»Mein Gott, und sie ist tot, tot, tot!« Irene fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»›Vielleicht kannst Du Dir schon vorstellen, worum es sich handelt. Ich weiß nicht, wie und ob überhaupt Nachrichten zu Euch gedrungen sind. Darum diese dringende Bitte: Ein guter Freund von mir, ein gewisser Jakob Roszek, trifft mit seiner Familie am Dienstag, dem 21. Januar, um 7.40 Uhr, mit dem ›Chopin-Expreß‹ auf dem Wiener Ostbahnhof ein. Er hat eine Frau und eine fünfzehnjährige Tochter, sehr hübsch. Roszek ist groß und stark, er trägt eine dicke Brille und hat ein sehr breites, sehr blasses Gesicht. Er wird eine Pelzmütze tragen, die Frau und die Tochter Pelzmäntel. Die Tochter hat blondes Haar, wie die Mutter und beide haben blaue Augen. Als Erkennungszeichen werden Mutter und Tochter weiße Seidenschals lose über dem Haar tragen, Roszek wird ein großes, dickes Buch, in Leder gebunden, unter dem Arm halten.‹ Klammer. ›Shakespeares Gesammelte Werke in polnischer Sprache‹. Klammer zu.«
Irene sank auf einen Stuhl, während Manuel weiterlas. Sie sah ihn jetzt unentwegt an.
»›Du wirst meinen Freund bestimmt erkennen, liebe Valerie, denn er wird so lange auf dem Perron stehenbleiben, bis er angesprochen wird. Und wenn etwas schiefgehen sollte, will er Dich über die Lautsprecheranlage des Bahnhofs ausrufen lassen. Bitte, sei unter allen Umständen‹ – unterstrichen – ›am Dienstag um 7.40 Uhr am Ostbahnhof und höre Dir an, was Roszek erzählt. Er wird Dir alles genau erklären. Indem ich Dir im voraus für Deine Güte danke, bin ich, liebe Valerie, immer Dein alter Daniel.‹« Manuel sah auf und in Irenes Augen. »Nicht«, sagte er hastig. »Weinen Sie nicht schon wieder, bitte!«
»Es ist so … so unheimlich … Was soll ich tun?«
»Zum Ostbahnhof fahren, natürlich«, antwortete Manuel. »Wir werden hören, was dieser Roszek zu sagen hat.«
»Sie wollen mit mir …«
»Natürlich. Wieso? Oh, entschuldigen Sie. Wollen Sie lieber allein …«
»Aber nein«, sagte Irene, und ihre Augen schimmerten feucht, »ich danke Ihnen, wenn Sie mich begleiten, ich danke Ihnen überhaupt dafür, daß Sie mir jetzt so beistehen, Herr Aranda.«
»Und ich danke Ihnen«, sagte er leise. Der Staubsauger brummte laut. »Das ist aber nicht Agnes«, sagte Manuel schnell und verlegen.
»Wie?«
»Die Frau nebenan. Die mir die Tür geöffnet hat. Das ist nicht Agnes Peintinger … oder?«
»Nein.« Irene sah ihn noch immer an. »Das ist Frau Körner. Sie kommt dreimal wöchentlich und macht die Wohnung sauber, schon seit vier Jahren.«
»Wieso? Ist Agnes Peintinger tot?«
»Nein«, sagte Irene. »Aber sie mußte vor vier Jahren in ein Altersheim ziehen. Sie konnte nicht mehr arbeiten und auch nicht für sich selber sorgen. Es geht ihr gut im Heim. Ich besuche sie regelmäßig, einmal in der Woche. Auch Valerie …« Irene brach ab.
»Agnes weiß noch gar nichts?«
»Nein.«
»Aber wie ist das möglich?«
»Sie weiß es nicht, sie wird es nie wissen, nie zur Kenntnis nehmen«, sagte Irene Waldegg. »Sie lebt, körperlich noch sehr gesund für Ihr Alter, glücklich und vergnügt – in einer anderen Welt.«
»Was heißt das?«
»Sie ist in diesen letzten vier Jahren senil geworden. Vollkommen. Deshalb war sie auch nicht bei dem Begräbnis. Weil sie nichts mehr begreift von dem, was um sie vorgeht.«
5
Sechzehn bunte Karussellpferde standen in den Zimmern, auf Gängen, auf Treppenabsätzen. Es gab vier Jahrmarktsorgeln, mindestens zwei Meter breit und ebenso hoch. Es gab menschengroße Panoptikumspuppen – eine Wasserleiche im Smoking, eine Blumenfrau (mit einem Korb voller Wachsblumen), einen Rauchfangkehrer, einen Metzger, einen Polizisten, einen Boy ebenso wie Bardamen und Strichmädchen, die allesamt in den verschiedensten Zimmern standen oder auf kostbaren Stühlen thronten.
Es gab Hunderte von wunderbaren Muscheln, Steinen und Trachtenpuppen aus der ganzen Welt in Wandregalen, die in allen Räumen und im Stiegenhaus angebracht waren. Neben Kostbarkeiten gab es herrlichen Kitsch: Nippesfiguren, Hunde, Katzen, Vögel, Schäferinnen aus Porzellan. Es gab eine Pfeifensammlung, eine Sammlung großer und kleiner Buddhas. Es gab, in Kästen geschützt, die phantastischsten Arrangements leuchtend bunter Schmetterlinge. Auf Tischen lagen mit den Augen kaum noch zu fassende Mengen von orangengroßen Glaskugeln voll seltsamen Inhalts.
Die Villa war sehr geräumig, zweistöckig, mit steilen Stiegen, verwirrend vielen Zimmern und schmalen Gängen, die vom Boden bis zur Decke durch Bücherregale verdeckt waren. In einem Zimmer stand ein riesiger Vogel Strauß aus Holz, weiß bemalt, mit rotem Schnabel. Es gab eine Sammlung alter Uhren, eine Sammlung von Flaschenschiffen, eine Sammlung von unheimlichen, grotesken, in schreienden Farben gedruckten Plakaten aus Frankreich, Amerika, Japan und Indien – Plakaten für Ausstellungen, Theaterpremieren, berühmte Stummfilme, Nachtlokale, das ›Grand Guignol‹. Es war ein Museum, durch das der Maler Roman Barry Irene und Manuel führte, ein Museum, wie man es nur erträumen konnte.
Roman Barry, ein großer, kräftiger Mann Mitte der Vierzig, hatte ein fröhliches, rotbackiges Gesicht und einen gestutzten Kinnbart, der so schwarz war wie sein kurzgeschorenes Haar. Er trug Cordsamthosen, Sandalen und ein graues, loses Flanellhemd. Seine Kleidung zeigte, wie seine Hände, vielerlei Farbspuren.
»Bianca kommt sofort, sie telefoniert mit meinem Kunsthändler. Alles Geschäftliche erledigt sie.«
Manuel war von diesem Haus, das sich, mächtig und hoch, am oberen Ende der steilen Alseggerstraße erhob, so entzückt, daß er sogar für kurze Zeit den Grund seines Besuches vergaß und nur all die Kostbarkeiten sah, mit denen die Villa zum Bersten vollgestopft war.
Der Maler Roman Barry redete munter weiter: »Das Haus habe ich als verfallenen alten Kasten gekauft und umgebaut. Wenn man denkt … Vor fünfzehn Jahren lebte ich mit Bianca noch in einer Hütte am Waldrand von Salmannsdorf! Kein Mensch wollte meine Bilder haben. Ich habe Kinderbücher illustriert. Davon lebten wir. Inzwischen haben Bianca und ich die ganze Welt besucht, dauernd waren wir auf Reisen, und von überall brachten wir etwas mit, Sie sehen ja …« Er wies auf eine Wand, die vollkommen mit afrikanischen Masken bedeckt war. »Kommen Sie in die gute Stube. Bianca hat ein paar Brötchen gemacht …«
In der ›guten Stube‹ standen echte Biedermeiermöbel um einen liebevoll gedeckten Tisch. Hier hingen an den Wänden Bilder, auf denen sich Menschen bewegten, tanzten, pflügten, hämmerten oder sägten, wenn man eine Spieluhr aufzog – und prompt erklang ein Lied dazu.
Die Tür öffnete sich, und Bianca Barry kam herein. Sie trug einen Sportrock und einen hochgeschlossenen Pullover, eine lange, dicke Korallenkette und einen Ring mit buntem Emailleschild darauf. Sie war nicht geschminkt, ihre Haut sehr hell, das Haar, sportlich kurz geschnitten, brünett, der Mund voll und rot, die Augen waren grau. Sie hatte die schlanke, schöne Gestalt einer jungen Frau. Auch sie war sogleich freundlich und herzlich. Die freie, ungezwungene Atmosphäre dieses Hauses und seiner Bewohner übertrug sich auf Irene und Manuel. Bald saßen sie an dem runden Tisch, knabberten Backwerk, aßen kleine Sandwiches und tranken Vermouth oder Campari-Soda. Roman Barry trank Wein und rauchte eine große, prächtige Savinelli-Pfeife.
»Also los, Bianca«, sagte er. »Die Herrschaften warten.«
Die Frau, die so jung aussah, neigte sich vor. »Gut. Fangen wir an. Ich bin dreiundvierzig …«
»Nein!« rief Irene.
»… und werde bald vierundvierzig sein. Mein Mann ist fünfundvierzig. Wir haben eine fünfzehnjährige Tochter, Barbara, die jetzt in der Schule ist. Wir sind seit neunzehn Jahren verheiratet. Und meine erste große Liebe war Heinz Steinfeld. Sie nehmen sich doch bitte, was Sie wollen – Brötchen, Getränke. Bei uns bedient sich jeder selber. Ja, Heinz …« Sie sah blinzelnd zu ihrem Mann. »Roman ist noch immer eifersüchtig auf Heinz.«
»Keine Spur«, sagte Barry.
»Jaja«, sagte Bianca. »Schon gut, mein Alter. Wenigstens haben wir keine Geheimnisse voreinander, was?«
»Gott sei Dank«, sagte der Maler und trank einen mächtigen Schluck Wein.
»Deshalb habe ich Sie hergebeten. Ich erzähle Ihnen, wie das damals passiert ist mit Heinz … Sechzehn war ich, du liebe Güte! Und er nur ein halbes Jahr älter als ich. Wir gingen schon zwei Jahre miteinander – so heißt das in Wien, Herr Aranda. Aber wie gingen wir miteinander! Mit welcher Unschuld! Ach, es war die unschuldigste Liebe der Welt, glaube ich …« Bianca schlug ein Bein über das andere, verschränkte die Finger vor einem Knie und lächelte. Sie sprach schnell und sicher. »Ich wohnte mit den Eltern drüben in Döbling, ganz in der Nähe der Hohen Warte. Da lag meine Schule, ein Mädchengymnasium. Und gleich nebenan – nur ein Zaun und ein paar Bäume standen dazwischen – lag die Staatsschule für Chemie, an der Heinz studierte.«
»Lag? Sie liegt noch immer da«, sagte Irene.
»Wiederaufgebaut, ganz neu, nach dem Krieg. Bomben fielen darauf, bei einem der letzten Luftangriffe. Sie war völlig zerstört. Unserm Lyzeum ist wie durch ein Wunder nichts geschehen. Noch ein Glas Campari, Fräulein Waldegg? Aber ja doch! Ich mache es Ihnen. Mit viel Soda, ich weiß … Aus unserm Klassenfenster konnte man direkt in das Laboratorium sehen, in dem Heinz arbeitete. Er hatte immer bis vier Uhr nachmittag Unterricht – weil sie doch täglich so viele Stunden praktisch im Labor arbeiten mußten. Unser Unterricht war spätestens um halb zwei zu Ende. Und dann, wenn Heinz sich im Labor aufhielt und nicht gerade Theorie im Hörsaal hatte, machten wir uns immer Zeichen von Fenster zu Fenster – heimlich und vorsichtig natürlich.«
»Als Mischling durfte er offiziell keine Freundin haben – war das so?«
»Ja, das war so. Außerdem …« Bianca stockte.
»Sag es ruhig«, murmelte ihr Mann. Er trank eine Menge Wein, und er rauchte ununterbrochen.
»Nun ja, da war noch ein anderer Junge, der mich verehrte, sehr verehrte. Von ihm wollte ich aber nichts wissen. Der Junge hieß … Peter Haber«, sagte Bianca, wieder lächelnd. »Furchtbar eifersüchtig, der Peter Haber, und wütend, weil ich eben mit Heinz ging. Haber spionierte uns nach. Wir trafen uns oft am Nachmittag und an Sonntagen und in den Ferien überhaupt! Wir paßten sehr auf und nahmen uns sehr in acht. Dachten wir. In Wirklichkeit waren wir leichtsinnig, schrecklich leichtsinnig … Kinder eben noch … Und so mußte es kommen, wie es dann gekommen ist … am 21. Oktober. Ich erinnere mich an das Datum noch so genau, weil ich am 19. Geburtstag habe. Ja, am 21. Oktober 1942 war das …«
6
Eine Kationen-Bestimmung nach dem Schwefelwasserstoffgang.
Das machte Heinz Steinfeld nun fast schon im Schlaf.
Die Flüssigkeit in der Eprouvette, die er von Professor Salzer erhalten hatte, enthielt gelöste Metallverbindungen. Heinz sollte feststellen, um welche Metalle es sich handelte.
Dieses Halbjahr endete im Februar 1943, heute war Mittwoch, der 21. Oktober 1942, ein sonniger und warmer Tag, und Heinz Steinfeld hatte bereits zwei Drittel aller vorgeschriebenen Übungen für das ganze Semester mit glänzendem Erfolg hinter sich gebracht.
Er nahm einen Kolben von einer Apparatur, verdünnte mit heißem Wasser, ließ es erkalten und filtrierte. Wenn er so weitermachte, war er morgen mit der Analyse fertig.
Halb zwei!
Langsam und scheinbar geistesabwesend schlenderte Heinz zu einem der großen Fenster und blickte in den milden Sonnenschein hinaus. Gegenüber, bei der Mädchenschule, war ein Fenster auf gleicher Höhe geöffnet. Bianca stand da. Sie trug die weiße Bluse mit dem Spitzenkragen, die er besonders liebte. Sein Herz schlug schneller, als er sah, wie das schöne Mädchen nun verstohlen und behutsam den Daumen der rechten Hand erdwärts drehte. Er tat dasselbe. Sie nickte einmal kurz, dann war sie verschwunden. Heinz wanderte an seinen mit Apparaturen und Gläsern vollgeräumten Arbeitsplatz zurück und stellte den Glaskolben mit dem Filtrat auf ein Asbestgitter über einem Dreifuß, unter dem ein Bunsenbrenner stand. Er zündete den Brenner nicht an.
»Ich gehe jetzt zum Leitner«, sagte er, an den Jungen gewendet, der neben ihm arbeitete. Ganz nahe gab es ein kleines Gasthaus, das für die Studenten der Chemie-Staatsschule einen täglichen Mittagstisch bereitete – gegen entsprechende Mengen von Lebensmittelmarken. Das Essen war eintönig und schlecht. Nicht sehr viele Schüler gingen ›zum Leitner‹. Heinz Steinfeld ging. Das Essen schmeckte ihm nicht, aber er war anspruchslos, und dann hatte er einen sehr wichtigen Grund für den angeblich täglichen Besuch des kleinen Lokals. So konnte er jederzeit um die Mittagsstunde oder danach das Laboratorium verlassen …
7
Aus dem Gebäude tretend, bog er links in eine stille Seitenstraße und ging diese hinauf bis zu dem Sportplatz mit dem hohen Drahtgitterzaun. Dabei drehte er sich gelegentlich um. Die Straße war menschenleer. Heinz hatte seinen weißen Labormantel nun ausgezogen und trug Kniestrümpfe, Halbschuhe, eine kurze Hose und eine Tweed-Jacke. Er hatte noch nie lange Hosen getragen. Er besaß gar keinen richtigen Anzug.
Heinz Steinfeld war ein hochgeschossener, magerer Junge. Er hatte das schmale Gesicht, die blauen Augen und das blonde Haar der Mutter. Und Sommersprossen. Er trug keine Krawatte, sondern einen Schillerkragen. Krawatten konnte er nicht leiden.
Mit dem linken Fuß stieß er einen Stein vor sich her, während er auf den Sportplatz zuging. Heinz besaß keinen wirklichen Freund in der Schule, aber viele Jungen hatten ihn gern und waren kameradschaftlich und freundlich zu ihm. Sie behandelten ihn wie ihresgleichen, obwohl sie alle wußten, daß sein Vater Jude war. Das hatte ein Lehrer, der ihn nicht leiden mochte, einmal vor der Klasse ausposaunt. Aber Heinz konnte sich im allgemeinen auch über die Lehrer nicht beklagen. Natürlich gab es ein paar Hundertfünfzigprozentige, die ihn übersahen, reizten oder von Zeit zu Zeit mit Bemerkungen demütigten. Nun, das war bei den Mitschülern dasselbe. Auch da gab es ein paar Stänkerer. Nichts Schlimmes, obwohl Heinz sich immer elend, hilflos und entehrt vorkam, wenn er attackiert wurde. Er konnte sich doch nicht wehren! Gerne und leicht hätte er seine gleichaltrigen Quälgeister ordentlich verprügelt – aber auf so etwas durfte er sich nicht einlassen. Das sagte ihm der Direktor der Anstalt, Professor Dr. Karl Friedjung, in aller Deutlichkeit.
»Es ist ein großes Privileg, daß wir Sie hier ausbilden, Steinfeld. Sie haben sich stets besonders korrekt zu benehmen. Ich werde keinerlei Unregelmäßigkeiten hinnehmen.«
Der alte Quatschkopf, dachte Heinz und kletterte durch ein Loch im Gitter des Zaunes. Dieser Sportplatz gehörte dem Institut und dem Mädchen-Lyzeum gemeinsam. Weit hinten, an seinem Ende, erstreckte sich Gesträuch und Unterholz, durch das Heinz nun schritt, und hinter diesem erhob sich eine baufällige Baracke, in der allerlei Werkzeug, eine Planierwalze, Geräte und Gerümpel jeder Art ruhten. Sie mußten schon seit einer Ewigkeit hier ruhen, denn sie waren allesamt verrottet und verrostet. Die kleine Hütte schien man ganz vergessen zu haben. Heinz hatte sie entdeckt – vor einem Jahr. Das Schloß der Eingangstür konnte man leicht mit einem Stück gebogenem Draht öffnen. Hierher kam niemals jemand. Wenn keine Klasse turnte, war man weit entfernt von allen Menschen. Und geturnt wurde nur am Vormittag. Das alles hatte Heinz beobachtet und wieder beobachtet, bevor er Bianca von der Baracke erzählte. Nun stieß er mit einem Schuh dreimal kurz, zweimal lang gegen das Holz der Tür und öffnete sie. Im nächsten Moment stand Bianca vor ihm – in der geliebten weißen Bluse, einem schwarzen Rock, einem schwarzen Jäckchen. Ihre Schulmappe lag auf einer Kiste. Heinz schloß die Tür hinter sich. Jetzt war es dämmrig in der Hütte. Licht fiel durch Ritzen und erblindete Scheiben. Es roch nach Leder, Erde, altem Holz.
»Servus, Heinz!« Bianca strahlte ihn an.
»Servus!« Sie schüttelten sich die Hände, wie Jungen es tun. »Ich habe mich beeilt, so sehr ich konnte … Bist du schon lange da?«
»Ein paar Minuten.« Sie sah ihn zärtlich an. »Ich habe es ja auch näher – von unserm Schulgarten aus …« Bianca setzte sich auf eine alte Bank. »Komm zu mir. Da, ich habe dir etwas mitgebracht …« Sie hielt ihm einen großen, leuchtend roten Apfel hin.
Er wollte ihn nicht nehmen. Auf keinen Fall! Aber er mußte.
Zuletzt brachen sie ihn entzwei, jeder aß eine Hälfte. Irgend etwas bewegte Heinz, Bianca fühlte es. Sie war so groß wie er, und sie hatte den Körper einer erwachsenen Frau. Sanft zeichneten sich unter der Seidenbluse ihre Brüste ab. Er wird mir schon noch alles erzählen, er erzählt mir doch immer alles, dachte Bianca und fragte kauend: »Kennst du den Siegler und den Mach?«
Er nickte und sagte mit vollem Mund: »Vierter Jahrgang sind die schon. Was ist mit ihnen?«
»Die haben sich heute früh vor unserer Schule geprügelt.« Bianca strich über sein Haar und sah ihn an. »Die Pertramer hat zugeschaut. Die kennst du nicht. Eine besonders Hübsche aus der Siebenten. Richtig geprügelt.«
»Aber warum?«
»Na, wegen der Pertramer natürlich. Der Mach hat zuletzt aus der Nase geblutet und geheult. Ich finde das blöd, diese ewigen Prügeleien … nur wer am stärksten ist! Als ob es danach ginge. Du wirst nie so …« Sie streichelte jetzt seine Wange und rückte noch näher. Leise fragte sie: »Wenn du nach Amerika gehst, nimmst du mich dann auch bestimmt mit?«
»Ich kann nur nach Amerika gehen, wenn wir den Krieg verlieren.«
»Na, aber den verlieren wir doch – hast du selber gesagt!«
Er murmelte: »Man kann nicht gegen vier Fünftel der Welt einen Krieg gewinnen, das ist klar. Und schrecklich.«
»Schrecklich? Aber wenn wir gewinnen würden, könnten wir doch nie …«
Sein Gesicht verzerrte sich jäh zu einer Fratze des Hasses.
»Eben! Dank meinem Vater, dem Saujuden!«
Sie rückte von ihm ab.
»Heinz!«
»Na, es ist doch wahr! Schau mich an! Was bin ich seinetwegen? Geduldet, gerade noch geduldet. Wir dürfen uns nicht öffentlich sehen lassen. Ich darf nicht auf die Uni. Ich muß das Maul halten, immer. Das verdanke ich ihm, diesem …«
»Heinz! Ich geh weg, wenn du es noch einmal sagst. Du hast mir versprochen, daß du nie mehr so über deinen Vater redest. Er kann doch schließlich nichts dafür. Hat er sich seine Eltern aussuchen können?«
»Hat meine Mutter ihn heiraten müssen?« Heinz schleuderte den Apfelstrunk in eine Ecke. »Überhaupt keinen Instinkt hat die, kein Gefühl für das, was man einfach nicht tun darf! Und ich, ich bade es aus.«
Sie streichelte ihn wieder.
»Es geht doch … So arg ist es doch nicht … Viele sind auch sehr nett zu dir. Und schau, zum Beispiel mußt du nicht Soldat werden.«
»Ich wäre aber gern Soldat geworden!«
»Und ich wäre dann jeden Tag gestorben vor Angst um dich. Und ich will unbedingt leben mit dir!« Jetzt schmiegte sie sich an ihn, der verlegen und steif dasaß. »Weil du mir lieber bist als der Mach und der Siegler und alle anderen Jungen, die ich kenne, zusammen.« Sie sprach schnell weiter, um ihn von seinen düsteren Gedanken abzubringen. »In Physik hat uns der Hauswirth wieder Aufgaben diktiert, von denen verstehe ich kein einziges Wort. Wenn wir uns am Nachmittag treffen, hilfst du mir, ja?«
»Na klar!«
»Weißt du, Heinz, manchmal denke ich, es wird nach dem Krieg nie mehr so schön wie jetzt. Jetzt habe ich dich ganz für mich allein.«
»Ja, und?«
»Später, in Amerika, werden andere Leute zwischen uns kommen.«
»Lächerlich!« rief er.
»Doch, doch. Du wirst ein großer Mann werden. Und dann werden dir alle Frauen nachlaufen. Und vielleicht gibt es in Amerika so schöne, daß ich mich schämen muß.«
Sehr ernsthaft sagte Heinz: »Bianca! Für mich wirst du immer die Schönste sein! Und ich habe dir doch erst vorige Woche mein Ehrenwort gegeben, daß ich dich heirate, sobald wir dürfen. Nie wird eine andere Frau zwischen uns treten. Wenn wir erst Kinder haben, schon gar nicht. Kinder binden.«
Sie betrachtete ihn voll Liebe. Nun war sie ganz nahe vor ihm.
»Ich habe dir doch vom Siegler und dem Mach und der Pertramer erzählt, nicht?«
»Ja. Und?«
»Sie haben sich angeblich geprügelt, weil der Mach gesehen hat, wie die Pertramer und der Siegler sich geküßt haben. Hast du das auch schon einmal getan?«
»Was?«
»Ein Mädchen geküßt«, sagte sie und sah ihm fest in die Augen.
»Noch nie!«
Daraufhin schlang sie die Arme um ihn und küßte ihn zärtlich auf den Mund. Er war einen Moment wie versteinert. Dann hob auch er die Arme und preßte sie an ihren Rücken. Der Kuß nahm kein Ende. Heinz ließ eine Hand herabgleiten und berührte Biancas Brust. Sie seufzte glücklich. Jetzt preßte er seine Lippen fest auf die ihren.
In diesem Moment flog die Tür der Baracke auf, und ein schlanker, großer Mann trat in den Raum. Hinter ihm stand ein Junge, der nun wegrannte. Bianca, die sich blitzschnell von Heinz löste, hatte ihn dennoch erkannt. Es war Peter Haber, ihr eifersüchtiger Verehrer.
Der hat uns das eingebrockt! schoß es Bianca durch den Kopf. Das ist der Direktor der Chemieschule, wie heißt er, Friedjung, er ist sehr streng, hat mir Heinz erzählt. Lieber Gott!
Professor Dr. Karl Friedjung, der am linken Revers seiner Jacke das Parteiabzeichen trug, kostete die Situation aus. Er schwieg, wippte auf den Zehen, die Hände in den Jackentaschen, und schwieg. Er schwieg mindestens zwei Minuten lang. Bianca sah Heinz an. Der sah auf den Boden. »Nun«, sagte Friedjung zuletzt mit kalter, harter Stimme, »Sie haben mir nichts zu erklären, wie? Es hat Ihnen die Sprache verschlagen, was? Schön, sehr schön. Gratuliere, Steinfeld. Ein Mensch wie Sie, der es auf das peinlichste vermeiden sollte, unliebsam aufzufallen, ausgerechnet Sie … Und Sie, mein Fräulein, wie heißen Sie?«
Er nahm Block und Stift aus der Jacke.
Bianca nannte ihren Namen.
»Lyzeum nebenan?«
»Ja.«
»Klasse?«
»Sechs A.«
»Sie gehen jetzt nach Hause, Fräulein. Auf der Stelle. Ich werde der Leiterin Ihrer Schule umgehend Mitteilung machen. Und was Sie betrifft, Steinfeld, der gnadenhalber hier studieren durfte und unser Vertrauen derart schmählich mißbraucht hat, was Sie betrifft, Sie Lump, Sie Abschaum, so werde ich andere Maßnahmen ergreifen.«
»Herr Direktor«, begann Bianca verzweifelt, »bitte haben Sie ein Einsehen! Wir lieben uns und …«
»Sie lieben einander!« Friedjung mußte vor Entsetzen einen Schritt zurücktreten. »Ja, haben Sie denn keinen Funken Ehrgefühl im Leibe? Wissen Sie nicht, daß das, was Sie da treiben, an Rassenschande grenzt? Was heißt grenzt?« schrie er plötzlich los. »Es ist Rassenschande! Am hellichten Tag! Unfaßbar, so etwas! Und ich war blind! Ich habe Ihnen vertraut! Ich dachte, Sie würden sich eingliedern!«
»Wenn Peter Haber Sie nicht hierhergeführt hätte …« begann Bianca, doch Friedjung brüllte sie an: »Halten Sie den Mund! Der Junge hat nur seine Pflicht als guter Deutscher getan! Aber ich werde ein Exempel statuieren, Steinfeld, verlassen Sie sich drauf! Zittern und beben sollen Sie vor Angst und Schrecken! Los, Sie kommen mit mir ins Institut, packen alle Ihre Sachen, räumen Ihren Arbeitstisch und verlassen dann sofort die Schule! Sie dürfen das Institut nicht mehr betreten! Sie und eine Arierin … oder sind Sie auch keine?«
»Doch!«
»Unfaßbar! Und treibt Unzucht! Auf dem Institutsgelände! Das hat es noch nie gegeben! Und, Steinfeld, seien Sie versichert, das wird es auch nie wieder geben, du unverschämter, mieser kleiner Halbjud, du! Jetzt ist Schluß mit dir!«
8
Sie irrten durch die Stadt.
Sie wagten nicht, nach Hause zu gehen.
Vor jedem alten Mann, der ihnen nachsah, vor jeder Frau, die gegen sie stieß, hatten sie Angst, vor jedem Polizisten, jedem SA-Mann.
Zweieinhalb Millionen Menschen wohnten in Groß-Wien, und sie alle waren ihnen nun unheimlich, keinem konnten sie trauen, nein, keinem, denn jeder konnte ein Spitzel sein, ein Verfolger, ein Häscher, jeder konnte ihnen Böses tun. Zweieinhalb Millionen Menschen, und unter diesen zwei Halbwüchsige, die plötzlich wieder zu Kindern geworden waren – Kindern, die niemanden mehr hatten als einander.
Du unverschämter, mieser kleiner Halbjud, du! Jetzt ist Schluß mit dir! Was hat er damit gemeint, Bianca? Schluß mit mir? Was wird er tun? Was kann er tun? Ach, der kann alles tun, der kennt die höchsten Bonzen, ist ja selber ein hohes Tier, das dauernd nach Berlin fährt …
Warum fährt er nach Berlin?
Arbeitet an irgendeinem Projekt mit. Hat ein ganz großes Laboratorium im Institut. Hinter dem Mikrowaagen-Zimmer im ersten Stock. Da arbeitet er oft, auch noch nachts. Immer sind die Türen verschlossen. Aber ich habe Licht in den Fenstern gesehen, um Mitternacht war das einmal. Der braucht nur mit einem seiner Freunde zu telefonieren, und ich … Hör auf! Bitte! Sag es nicht. Es muß nicht so sein. Vielleicht beruhigt er sich.
Der? Nie! Der hat auf so etwas doch nur gewartet!
O Gott, Heinz, mein Vater ist auch in der Partei. Was werden meine Eltern sagen? Ich muß es ihnen doch erzählen.
Und ich meiner Mutter. Meine Mutter ist allein. Deine hat noch ihren Mann. Mein Vater, der feige Jud …
Heinz!
Ausgerissen ist er! Geflohen! Im Stich gelassen hat er meine Mutter!
Was heißt geflohen? Sollte er sich totschlagen lassen? Würdest du nicht auch fliehen, jetzt, wenn du könntest? Siehst du! Aber du kannst nicht. Ich auch nicht. Wir müssen nach Hause und …
Ich gehe nicht nach Hause! Ich traue mich nicht! Ich gehe nicht nach Hause …
Zehnmal, zwanzigmal wiederholte er diese und ähnliche Sätze in vielen Stunden des Herumirrens durch die große Stadt.
Sie trugen beide nur ihre Schulmappen. Heinz’ Bücher und eine große Kiste, in die all das chemische Gerät gepackt war, das er, wie jeder Schüler, selber hatte kaufen müssen, waren von dem freundlichen, mitleidvollen Pedell des Instituts in Verwahrung genommen worden.
Von Döbling bis zum Ersten Bezirk. Vom Ersten Bezirk bis zum Prater. Vom Prater bis zur Friedensbrücke …
Ich kann nicht mehr, Heinz … mir tun die Füße so weh …
Sie gingen in ein kleines, dämmeriges Kaffeehaus. Nach einer Viertelstunde schon trieben Angst und Unruhe sie weiter. Zurück in den Neunten Bezirk. Ein Kino. Sie nahmen Karten für die billigsten Plätze und setzten sich auf knarrende Holzstühle und hielten einander an den Händen, den vor Aufregung heißen, feuchten Händen.
Ein lustiger Film lief, die Leute im Kino lachten sehr.
Sie verstanden überhaupt nicht, was auf der Leinwand vor sich ging. Sie tuschelten miteinander. Dieselben Sätze der Furcht, immer dieselben. Zuschauer wurden wütend, zischten sie zur Ruhe, schimpften.
Erneut in Panik, eilten sie auch aus dem Kino. Nun war die milde Sonne dieses Tages schon untergegangen. Dämmerung, Dunkelheit kamen schnell. Es wurde kalt, eisig kalt. Immer noch irrten sie weiter. Über den Ring bis zur Oper. Stadtauswärts, die endlose Wiedner Hauptstraße hinauf. Fünf Uhr wurde es. Sechs Uhr. Halb sieben. Bianca stolperte schweigend neben dem schweigenden Heinz einher. In der Nähe des Südbahnhofs lehnte sie sich plötzlich schwankend gegen eine Hauswand.
Mir ist so schlecht … Ich glaube, ich muß brechen … Und ich kann nicht mehr laufen … Bitte, wir müssen nach Hause … Es ist mir egal, was geschieht … Ich kann nicht mehr … Sieh das ein, Heinz, sieh das doch ein …
Ich sehe es ja ein … Kannst du allein stehen?
Ja …
Da ist eine Telefonzelle. Ich … rufe meine Mutter an …
9
»Du Judenhure!« schrie Egmont Heizler. Er schlug seiner Tochter wuchtig ins Gesicht. Sie flog gegen den Schrank ihres Zimmers. Der Schlag brannte wie Feuer und trieb Bianca Tränen in die Augen. Wieder schlug Egmont Heizler, Philologe, Germanist, Verfasser wohlbekannter Werke über deutsche Literatur, Parteigenosse und, seiner wohltönenden Stimme und dramatischen Redebegabung wegen ›Gauredner‹, der Tochter ins Gesicht. »Du Saumensch! Keinen Funken Würde im Leib!«
»Aber seine Mutter hat doch angerufen!« stammelte Bianca. Sie war gerade heimgekehrt. »Heinz hat doch mit ihr gesprochen, und sie hat ihm gesagt, ich soll sofort nach Hause gehen, sie wird dich gleich anrufen und mit dir sprechen!«
Er lachte verächtlich. Sein Atem stank nach Schnaps.
»Ja, sie hat angerufen, diese … diese feine Dame! Unverschämte Person! Der habe ich vielleicht die Meinung gesagt!«
»Du hast mit ihr gestritten?«
»Gestritten? Gestritten ist gut! Der habe ich so Bescheid gestoßen, daß sie zuletzt kein Wort mehr herausbrachte, was, Mutti?«
»Ja, Vati«, bestätigte unglücklich eine kleine, graue Person, die sich hinter dem massigen Gatten halb verborgen hielt, klagend.
»Dein Magen …«
Egmont Heizler donnerte: »Sie und ich, wir haben jetzt eine Rechnung zu begleichen, habe ich ihr gesagt! Nicht nur Herr Direktor Friedjung und Sie! Nein, auch Sie und ich! Ihr Sohn hat meine Tochter verführt! Sie werden etwas erleben von mir! Sie können sich auf etwas …« – er rülpste laut – »… gefaßt machen, verehrte gnädige Frau!«
»Aber Heinz und ich haben doch nie …«
»Nenn nie mehr den Namen von diesem dreckigen Judenlümmel!«
»Er ist kein Jude! Er ist nur ein Mischling!«
Daraufhin erhielt sie die dritte Ohrfeige.
»Vati!« rief die Mutter. »Vati, bitte! Reg dich nicht so auf! Dein Magengeschwür!«
Doch der Registrator, Kritiker und Deuter des neueren deutschen Schrifttums dachte nicht an sein Magengeschwür. Wild schüttelte er das Haupt mit der Gerhart-Hauptmann-Mähne, während er, ziemlich betrunken, hochrot im teigigen Gesicht, brüllte: »Du wirst mir nicht widersprechen, du ehrvergessenes Ding! Du nicht!« Er trank schon seit einer ganzen Weile, der Gauredner Egmont Heizler, und er vertrug nicht viel. »Du hast deine Eltern hintergangen, du hast gelogen und betrogen! Heimlich hast du diesen dreckigen jüdischen Lumpen getroffen, wir wußten nichts davon! Nichts! Keinen blassen Schimmer hatten wir! Nicht wahr, Mutti?«
»Keine Ahnung«, echote die menschliche Maus kläglich.
»Das können wir beschwören! Und das werden wir beschwören, wenn es dazu kommt! Ich habe schon mit diesem Direktor Friedjung telefoniert und ihm zur Kenntnis gebracht, daß wir ahnungslos, völlig ahnungslos waren, und daß ich nun selbstverständlich die strengsten Maßnahmen ergreifen werde!«
»Du hast mit dem Friedjung …«
»Halt’s Maul!«
»Vati …«
»Laß mich, Mutti! Du übersiehst ja nicht, was das für Folgen haben kann für uns! Für mich! Ein Gauredner hat ein Vorbild zu sein! In jeder Beziehung! Und seine Familie auch! Statt dessen – was tut dieses niederträchtige Luder?« Er hob wieder eine Hand, um zuzuschlagen. Bianca wich vor ihm zurück. Er trieb sie durch das Zimmer. »Dieses niederträchtige Luder besudelt unseren guten Namen! Während Millionen in einem heroischen Kampf um die Zukunft des Reiches stehen, knutscht sie sich mit einem Judenschwein, widersprich, und du fängst noch eine, einem Judenschwein, sage ich, in der widerlichsten, abstoßendsten Weise!«
»Wir haben doch nur …«
»Du sollst das Maul halten! Ich rede, verstanden? Deine Strafe erhältst du schon! Sie wird dir noch bekanntgegeben werden!« Biancas Vater war außer Atem gekommen, rang nach Luft, hielt sich an einem Tisch fest, fing sich, brüllte weiter: »Als erstes wirst du uns jetzt, deiner Mutter und mir, dein heiliges Ehrenwort als Deutsche geben, daß du diesen Saujuden nie mehr wiedersehen wirst! Niemals mehr, verstanden?«
Bianca zitterte, die Arme schützend vor das Gesicht gehoben. So hatte sie sich das alles vorgestellt, nun war es so gekommen. Schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte, noch schlimmer!
»Verstanden?«
»Ja …«
»Dein Ehrenwort! Vorwärts! Ich warte!« schrie ihr Vater, heftig schwankend. »Na, wird’s bald?«
10
»… nun ja, und so gab ich natürlich dieses Ehrenwort«, berichtete Bianca Barry. Sie unterbrach sich, um einen Schluck Campari zu trinken. Ihr glattes, ungeschminktes Gesicht war während der Erzählung beherrscht und freundlich geblieben, die Stimme gleichmäßig. »Ach«, sagte sie nun, »wie lange ist das schon her, wie unendlich lange …«
Eine Pause entstand.
Manuel sah Bianca Barry an, die seinen Blick ruhig erwiderte. »Und was war vorher noch gewesen? Ich meine, bevor Sie sich von Heinz verabschiedeten?«
»Nun ja, seine Mutter sagte, sie wolle meinen Vater anrufen und beruhigen. Sie bestand darauf, daß wir jeder allein nach Hause fuhren. Wir folgten aufs Wort. Ich war so erschöpft, daß ich in der Straßenbahn einschlief und fast zu weit gefahren wäre. Sentimentaler Abschied? Natürlich. Wir gaben uns lange die Hand und sagten Lebewohl. Wir waren fest davon überzeugt, daß Heinz’ Mutter einen Ausweg finden würde. Kinder waren wir eben noch, Kinder …« Bianca unterbrach sich wieder und griff nach einer Zigarette. Manuel gab ihr Feuer. »Danke.« Die Frau mit dem hochgeschlossenen Pullover und dem Sportrock war ernst geworden. »Wir klammerten uns an den Gedanken, Frau Steinfeld würde uns helfen, aber dann …«
»Ja?« fragte Manuel.
»Dann kam doch alles anders! Dank meinem Vater, diesem Fanatiker. Ich erzählte es Ihnen ja. Wochenlangen Hausarrest erhielt ich. Eine Ewigkeit wurde jeder meiner Schritte kontrolliert. Einmal gelang es mir, mit Heinz zu telefonieren. Er hatte seiner Mutter auch das Ehrenwort geben müssen, mich nicht zu treffen. Wir hatten beide wahnsinnige Angst … Mein Vater und dieser Friedjung setzten Himmel und Hölle in Bewegung. Ich bekam das zu spüren – mächtig. Schwerster Verweis in der Schule. Verlust des Dienstgrades im BDM. Ich war Mädelschaftsführerin gewesen.«
»Im … wo?«
»Im ›Bund Deutscher Mädel‹, Herr Aranda. Dem weiblichen Pendant der Hitlerjugend für Buben. Da wurde ich beschimpft, und man sagte mir, welche Strafen mich erwarteten, wenn ich noch einmal, und so weiter.«
»Was geschah mit Heinz?«
»Das wußte ich lange nicht. Niemand wußte es. Dann sagte ein Mädchen aus meiner Klasse, sie hätte ihn gesehen. Auf einem Fahrrad. Das Mädchen hatte ihn angesprochen. Er war sehr ängstlich gewesen. Arbeitete als Rollenpendler.«
»Als was?«
»Zwischen Kinos. Ein Film besteht aus … aus acht oder zehn Rollen, glaube ich. Wenn mehrere Kinos denselben Film spielen, dann müssen diese Rollen, nachdem sie abgespult sind, ganz schnell von einem Kino zum andern gebracht werden. Damit eine Kopie in zwei Theatern laufen kann.«
»Und er kam nicht mehr an das Institut zurück?«
»Nie mehr«, sagte Bianca. »Dieser Friedjung verhinderte es, ermutigt und unterstützt von meinem feinen Vater.«
»Und Sie? Sie sahen sich nie mehr?« fragte Manuel.
Irene fühlte, daß Frau Barry nervös wurde, mehr und mehr, und daß sie krampfhaft versuchte, diese Nervosität zu verbergen.
»Doch … einmal … da hielt ich es einfach nicht mehr aus und wartete auf ihn in der Straße, durch die er jeden Abend, viele Male, radeln mußte.« Bianca senkte den Kopf. »Es war schrecklich … Er sah blaß und elend aus. Sein Äußeres vernachlässigt. Richtig abgerissen. Im Monteuranzug, eine alte Lederjacke darüber. Wir grüßten uns und sprachen ein paar Worte. Klägliche Worte, nichtssagende, eilige. Ich hatte viel zu große Angst, normal und länger mit ihm zu reden oder ihn gar zu treffen. Mein Vater bedrohte mich noch immer. Der BDM bedrohte mich. Meine Lehrer bedrohten mich. Dieser andere Junge, Peter Haber, beschattete mich ununterbrochen …«
Manuel hatte bemerkt, daß der bärtige Maler schon seit einiger Zeit mit ziemlich unglücklichem Gesicht an seiner Pfeife sog. Jetzt sagte er plötzlich laut: »Es tut mir leid … Es tut mir furchtbar leid, wirklich!«
»Was?« fragte Manuel verblüfft.
»Meine Frau will mich schonen. Damit bin ich durchaus nicht einverstanden! Ich habe mich damals benommen wie ein Schwein. Einzige Entschuldigung, wenn das überhaupt eine ist: Ich war so sehr in Bianca verliebt, daß ich gar nicht wußte, was ich tat. Einen Peter Haber hat es nie gegeben, den Namen hat Bianca erfunden. Ich, ich war Peter Haber!«
11
In der Stille, die folgte, füllte Roman Barry, ohne zu fragen, alle Gläser nach, und alle tranken schweigend. Erst nach einer langen Weile sagte Bianca leise: »Sie verstehen nicht, daß ich Roman, ausgerechnet ihn, dann geheiratet habe, nicht wahr?«
»Sie hatten gewiß Ihre Gründe«, meinte Manuel höflich.
»Viele Gründe, ja.« Bianca nickte. »Die Eltern tot, bei einem Luftangriff umgekommen, unser Haus war zerstört. Heinz war tot.«
»Was?« fragten Manuel und Irene gleichzeitig.
»Tot, ja. Auch bei einem Luftangriff umgekommen.«
»Bei einem Luftangriff?«
»Hat mir seine Mutter selbst gesagt. Im Februar oder März 1945 ist das passiert, ich weiß es nicht genau. Er war dienstverpflichtet als Hilfsarbeiter in einem Werk, das an der Donau lag. Dort fielen sehr viele Bomben …«
Wieder sahen Manuel und Irene sich an. Was hatte Valerie Steinfeld alles über ihren Jungen erzählt? Arbeit in Amerika? Tod in Kanada? Tod bei einem Luftangriff? Was war Wahrheit, was Lüge? Warum hatte sie überhaupt gelogen?
»Wann hat sie Ihnen das gesagt?«
»Dezember 45. Da kam ich nach Wien zurück. Ich wurde gleich nach dem Abitur in einen Rüstungsbetrieb gesteckt, wie wir alle damals, und der Betrieb wurde Mitte 44 verlagert – nach Oberösterreich. Ich war über ein Jahr lang von Wien fort. Roman wieder …«
»Mich zogen sie sofort nach dem Examen ein«, sagte der Maler und sah auf seine farbbeschmierten großen Hände. »Ich war doch eineinhalb Jahre älter als Heinz – einmal durchgefallen. Also machte ich noch den ganzen Schlamassel im Osten mit, bis zum Kampf um Berlin. Da erwischten mich die Russen. Aus der Gefangenschaft kam ich 1949 heim. Auch meine Eltern waren tot. Ich suchte Bianca und fand sie endlich. Sie lebte damals in einem Weekendhäuschen in Salmannsdorf, das ihrem Vater gehört hatte. Sie gab Sprachunterricht. Davon lebte sie. Ich hatte in der Gefangenschaft angefangen zu malen. Die Chemie hatte ich vergessen. An der Uni wäre ich nie angenommen worden, und als gewöhnlicher Betriebschemiker anderswo auch nicht. Ich hatte keine blasse Ahnung mehr. Und keine Lust. Und da …«
Bianca warf den Kopf zurück. »Und da heirateten wir dann, 1950. Roman war ein anderer Mensch geworden, ein ganz anderer.«
»Weiß Gott«, sagte der. »Ich hatte meine Lektion gelernt. Dieses verfluchte Pack! Diese Nazipest! Wenn ich heute einen solchen Drecksack treffe, gibt es jedesmal einen Skandal.«
»Und wenn er etwas getrunken hat, eine Prügelei«, sagte Bianca.
Der Maler sagte: »Sehen Sie, es wird mir nachhängen bis an mein Lebensende, daß ich mich damals so gegen Heinz benahm. Ich habe ihm das Studium unmöglich gemacht, ich …«
»Rede keinen Unsinn«, sagte Bianca schnell. »Friedjung hat es ihm unmöglich gemacht!«
»Ich, ich, ich habe Friedjung zu dem Gartenschuppen gebracht! Mit mir hat alles angefangen! Und darum bin ich schuld daran, daß Heinz ein so elendes Leben führen mußte. Aber wenigstens bin ich nicht schuld an seinem Tod. Für eine amerikanische Bombe kann ich doch nichts – wie?«
»Das fragt er immer und immer wieder«, sagte Bianca leise.
»Nicht wahr, so ist es doch?« Roman Barrys Stimme klang flehentlich. Manuel nickte.
»So ist es, natürlich«, sagte Irene. »Außerdem waren auch Sie noch ein halbes Kind damals. Ich kann das alles gut verstehen. Sogar Ihre Heirat, als Sie einander dann wiedertrafen … zwei Menschen, jeder allein, jeder verloren …«
»Und der Direktor der Anstalt?« fragte Manuel. »Dieser Friedjung? Was wurde aus dem?«
»Keine Ahnung. Angeblich türmte der, als die Russen kamen«, sagte Barry. »Hat man uns wenigstens erzählt.«
Manuel blickte erstaunt auf und fragte: »Wohin?«
»In den Westen natürlich. Muß ziemlich viel Butter auf dem Kopf gehabt haben. Aber was er dann tat …«
Manuel wurde aufgeregt.
»Würden Sie ihn wiedererkennen?«
»Heute? Nach so vielen Jahren? Ich weiß nicht …«
»Hier!« Manuel hatte seine Brieftasche gezogen und ihr eine Fotografie entnommen. »Sehen Sie sich das Bild an, bitte!«
»Wer ist das? Ihr Vater?«
»Ja. Bitte, betrachten Sie die Fotografie genau. Ist das Karl Friedjung?« Das Ehepaar Barry senkte die Köpfe über dem Farbfoto. Es zeigte einen großen, leicht untersetzten Mann, lachend, mit sonnengebräuntem Gesicht, ganz in Weiß gekleidet, auf dem Deck einer kleinen Yacht. Raphaelo Aranda hielt eine Pfeife in der Hand. Sein Haar war grau und gelichtet. Er winkte.
»Die Aufnahme wurde voriges Jahr gemacht«, sagte Manuel. In seinem Gesicht hatten sich hektische rote Flecken gebildet. »Bemerken Sie eine Ähnlichkeit? Ist er es? Könnte er es sein?«
»Ich habe Friedjung vor fünfundzwanzig Jahren zuletzt gesehen«, sagte Bianca hilflos. »Aber trotzdem: Nein, das ist er nicht!«
»Und Sie?« Manuel wandte sich an den Maler. »Sie waren in der Anstalt! Sie haben Friedjung viel öfter gesehen als Ihre Frau! Leider habe ich kein Foto von früher. Aber theoretisch könnte mein Vater Friedjung sein, es ginge aus mit den Zeiten. Wenn er bei Kriegsende nach Argentinien floh …«
»Wie alt sind Sie?« fragte der Maler.
»Sechsundzwanzig.«
»Also wurden Sie 1943 geboren. Falls Friedjung und dieser Mann identisch sind, dann müßten Sie ja noch hier geboren sein. Haben Sie keine Erinnerung?«
»Nicht die geringste. Und nach meinen Papieren wurde ich in Buenos Aires geboren – wie auch mein Vater und meine Mutter.«
»Es könnte Friedjung sein«, sagte Barry langsam. »Mit allen Vorbehalten. Fünfundzwanzig Jahre. Ein Foto. Wie sehr verändert sich ein Mensch in einem Vierteljahrhundert. Aber die Stirn … und die Nase … auch der Mund … er könnte es sein … könnte, könnte, könnte … doch er ist es unmöglich nach dem, was sie selber sagen.«
»Vielleicht sind alle Papiere, die er besaß, gefälscht?« Manuel hatte Mühe, zu sprechen. »Vielleicht …«
»Herr Aranda, bitte, regen Sie sich nicht so auf!«
»Wenn er es wirklich war – das alles ist phantastisch, ich weiß, ich weiß –, wenn er es wirklich war, dann hatte Frau Steinfeld doch einen guten Grund, ihn zu töten! Er hat ihren Jungen ins Unglück gestürzt! Er hat seine Aussichten, Chemiker zu werden, zerstört! Durch Friedjungs Schuld mußte Heinz als Rollenpendler arbeiten …«
»Auch in dieser Fabrik an der Donau!« Bianca nickte.
»Und dort kam er schließlich um! Dafür wird Frau Steinfeld auch Friedjung verantwortlich gemacht haben!« Manuel nahm das Foto, das Barry ihm reichte.
Irene fragte: »Wissen Sie, ob dieser Friedjung verheiratet war?«
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte der Maler.
»Ich auch nicht«, sagte Bianca. Irene sah, wie ihre Nervosität stieg und stieg.
»Verwandte?«
»Keine Ahnung.« Barry blies eine Wolke von Tabakrauch von sich. Irene berührte Manuels Arm. Mit dem feinen Gefühl einer Frau für das, was in einer anderen Frau vorgeht, hatte sie bemerkt, daß Biancas Nervosität sich einem Ausbruch näherte. Irene sagte: »Nun müssen wir aber gehen. Wir haben lange genug gestört.«
»Gestört? Ich bitte Sie! Bleiben Sie doch zum Essen! Lassen Sie uns noch weiter überlegen …« Barry brach ab, denn Irene war bereits aufgestanden, und auch Bianca hatte sich erhoben. »Tja, wenn Sie wirklich gehen wollen«, sagte der Maler. »Aber rufen Sie an, kommen Sie wieder, jederzeit. Falls Sie irgendeine Frage haben … falls wir Ihnen irgendwie helfen können …«
Er ging, an Manuels Seite, aus dem Zimmer. Die beiden Frauen hatten es schon verlassen und stiegen eine Treppe hinab, an deren Wänden Marionetten, chinesische Rollenbilder und Holzkästchen mit Hunderten von winzigen Krügen, Tassen und Gläsern, Murmeln und Talismanen hingen.
Bianca half Irene in den Breitschwanzpersianer, der über einem Schaukelpferd gelegen hatte. Dabei näherte sie ihren Mund einem Ohr Irenes und flüsterte hastig: »Ich muß Sie noch einmal sprechen … allein … ohne meinen Mann … Ich konnte vor ihm nicht die Wahrheit erzählen … Ja, ich habe gelogen … Es war alles ganz anders … Aber ich mußte Sie hierher bitten, damit er beruhigt ist … Sie hören von mir …«
»Wann?« flüsterte Irene.
Die Männer kamen die Treppe herab.
»Weiß noch nicht … kann schwer weg … rufe Sie an oder Herrn Aranda … Ich … ich liebe Heinz noch immer … Ich habe immer nur ihn geliebt …«
Die beiden Männer betraten die Garderobe.
Sofort lächelte Bianca Barry, ihren Gatten, wieder an – offen, fröhlich, voller Zuneigung und Herzlichkeit.
12
»Sie hat also gelogen!« Manuel fuhr die Herbeckstraße hinab, stadteinwärts. Er war, nach Irenes Bericht über Bianca Barrys letzte Sätze, sehr aufgeregt. »Hat sie nur gelogen?«
»Sehr viel auf jeden Fall, ich hatte schon beim Zuhören das Gefühl.«
»Und wir können nichts tun als warten, bis sie sich wieder meldet. Wenn sie sich meldet!«
Manuel erreichte die schmutzige Trasse der alten Vorortbahn und bog nach rechts. Sobald er einen Viadukt durchfahren hatte, sagte er gereizt: »Und der Mann? Ob er auch gelogen hat?«
»Man kann es nicht wissen. Sie meinen das, was er sagte, als Sie ihm das Bild Ihres Vaters zeigten?«
»Ja. Ich werde den Hofrat Groll anrufen. Vielleicht kann er feststellen lassen, was aus diesem Friedjung geworden ist. Oder wenigstens, ob er noch lebende Verwandte hat. Am Nachmittag besucht mich Martin Landau. Ich möchte Ihnen gern sofort berichten, was ich bei ihm herausbekomme. Darf ich … Könnten wir wohl miteinander zu Abend essen?«
Sie sah hinaus in den Sonnenschein und die Schneeschleier, die der Ostwind durch die Luft trug.
»Ich habe heute abend leider keine Zeit. Ich bin verabredet.«
»Schade.« Auf einmal fühlte Manuel sich grenzenlos enttäuscht und verlassen. Idiot, sagte er zu sich selber, was hast du gedacht? Daß eine schöne junge Frau keinen Freund hat?
»Sind Sie gekränkt? Meine Verabredung ist schon seit ein paar Tagen getroffen. Ich konnte doch nicht wissen …«
»Ich benehme mich wie ein Narr, verzeihen Sie«, sagte er. »Wie komme ich dazu, mich in Ihr Privatleben zu mischen?«
»Oh, Sie hätten Grund! Wir sind doch Gefährten geworden in dieser kurzen Zeit.«
»Durch die Umstände. Nur durch die Umstände. Hoffentlich ist Ihr Freund nicht böse darüber.«
»Das ist er nicht«, sagte Irene plötzlich kurz und kühl.
13
»Herr Aranda! Endlich! Ein Herr wartet in der Halle auf Sie – seit einer guten halben Stunde. Ich sagte ihm, ich wüßte nicht, wann Sie wiederkämen.« Graf Romath war Manuel entgegengeeilt, als dieser die erste Halle des ›Ritz‹ betreten hatte.
»Wo sitzt der Herr?«
»Drüben rechts in der Ecke.«
»Danke.« Manuel reichte einem Pagen seinen Mantel und ging schnell in die zweite Hotelhalle hinein. Aus einem Fauteuil erhob sich ein kleiner Mann mit behaarten Händen, schwarzem Kraushaar und olivenfarbener Haut.
»Guten Tag, Herr Aranda.« Der Kleine sprach fließend spanisch. »Mein Name ist Gomez. Ernesto Gomez.« Er holte einen Paß aus der Tasche.
»Bitte …«
»Ich glaube Ihnen. Warum soll ich da noch Ihren Paß …«
»Weil ich eine Aufforderung zu überbringen habe und will, daß Sie ganz sicher sind, mit wem Sie es zu tun haben. Sie sehen, ich gehöre zur argentinischen Botschaft.«
»Das sehe ich. Wollen wir uns nicht setzen? Was darf ich Ihnen bestellen, Herr Gomez?« Auch Manuel sprach nun spanisch.
»Nichts, danke. Herr Aranda, wir fordern Sie in Ihrem eigensten Interesse auf, hier in Wien alle Recherchen sofort abzubrechen und nach Buenos Aires zurückzukehren.«
»Moment«, sagte Manuel verblüfft. »Woher wissen Sie, daß ich hier in Wien Recherchen anstelle?«
»Wir wissen es.«
»Können Sie mich zwingen, heimzufliegen?«
»So, wie Sie sich bisher verhalten haben, nein.«
»Dann werde ich in Wien bleiben.«
Im Gesicht des kleinen Mannes regte sich nichts. Seine Stimme wurde leiser, als er erklärte: »In diesem Falle, Herr Aranda, sieht die Botschaft sich außerstande, Ihren Schutz zu übernehmen, geschweige denn zu garantieren, beziehungsweise Ihnen zu helfen, wenn Sie mit österreichischen oder anderen ausländischen Stellen oder Personen in Konflikt geraten.«
»Was ist los?« Manuel war, seit er Irene verlassen hatte, gereizt und aggresiv. »Was soll das? Wollen Sie mich einschüchtern?«
»Keineswegs.«
»Oder liegt der Botschaft daran, daß ich nicht herausfinde, was mein Vater hier getan hat?«
»Die Botschaft ist nur an Ihrem Wohlergehen interessiert. Ein anderes Interesse hat sie nicht.«
»Ich könnte mir aber durchaus ein anderes Interesse vorstellen – nach allem, was ich bereits herausgefunden habe!«
»Was Sie sich vorstellen können, ist eine Sache, auf die wir keinen Einfluß haben, Herr Aranda. Sie sprechen von Ihrem Vater. Auch ihn haben wir gewarnt – eindringlich und zu wiederholten Malen. Er schlug alle Warnungen in den Wind und zog es vor, mit seinem Leben zu spielen – so wie Sie jetzt. Ihr Vater – mein Beileid übrigens – verlor sein Leben hier in Wien. Das gleiche kann sehr leicht Ihnen widerfahren.«
Manuel packte den kleinen Mann am Arm.
Er fragte grob: »Wovon sprechen Sie? Was wissen Sie? Los, spucken Sie es schon aus! Warum nennen Sie mir nicht die wahren Gründe für Ihr Herkommen?«
Mit erstaunlicher Kraft machte der kleine Mann sich schnell frei und stand auf. Er verbeugte sich förmlich.
»Sie kennen die Antworten auf alle Ihre Fragen, Herr Aranda. Es ist Ihnen also nicht zu helfen. Bedauerlich. Guten Tag.« Damit ging er schon fort, in die vordere Halle hinaus und dort zur Garderobe. Er nahm seinen Mantel und seinen Hut und verließ das Hotel, ohne noch einmal zurückzusehen.
Manuel blickte ihm nach. Eine kurze Weile stand er reglos. Dann murmelte er einen halben Fluch und trat gleichfalls aus der Ecke.
Sollten sie doch alle zum Teufel gehen! Er würde den Weg aus diesem Labyrinth finden, von dem Nora Hill gesprochen hatte – wenn es sein mußte, ganz allein. Einer war da, auf den er sich stets verlassen konnte, einer wenigstens. Was habe ich doch immer noch für ein Glück, dachte Manuel, während er sich beeilte, an ein Telefon zu kommen. Als er im Salon seines Appartements den Hörer abhob und das Mädchen in der Zentrale bat, ihn mit dem Sicherheitsbüro zu verbinden, leuchtete auf dem Schaltbrett des großen Telefonapparates im Büro des Grafen Romath ein rotes Lämpchen auf. Der elegante Herr, in sein Zimmer zurückgekehrt, hob gleichfalls den Hörer ab und vernahm gerade, wie der Beamte in der Vermittlung des Sicherheitsbüros sich meldete.
Dann erklang Manuels Stimme, der seinen Namen nannte und den Hofrat Groll zu sprechen verlangte. Er wurde sofort verbunden. Der Graf Romath lehnte sich, Hörer am Ohr, im Sessel hinter dem Schreibtisch zurück und schloß die Augen. Er tat das immer, wenn er besonders konzentriert zuhörte, es war eine Angewohnheit von ihm.
14
»… und da sagt der Kröpelin, die Erika, seine jüngste Tochter, die hat ein Kind gekriegt, aber sie hat auf Teufel komm raus keine Ahnung, wer der Vater ist. Ich weiß nicht recht, was ich da sagen soll, und so murmle ich nur: ›Das ist traurig, Kröpelin, daß deine Tochter so ein Malheur gehabt hat, aber das kommt jetzt sehr häufig vor. Heute muß eben ein jeder sein Opfer bringen‹«, erklang eine bieder-gutmütig gefärbte Männerstimme aus dem Lautsprecher des ›Minerva 405‹.
Die buntkarierte Wolldecke über dem Radio und ihrem Kopf, saß Valerie Steinfeld dicht vor dem Apparat, beide Hände an den Knöpfen des Gerätes. Leise, leise, das war zu laut! Und noch genauer einstellen! Über der Männerstimme lag der ständige Heulton zahlreicher deutscher Störsender, doch jetzt, am Abend, war der Empfang trotzdem sehr gut. Der Sprecher, der meisterhaft den scheinbar gehorsamen, harmlosen Tonfall eines kleinen Soldaten imitierte, redete weiter: »… und auch der Fritz Ziegenbart tröstet Kröpelin. ›Dafür‹, sagt er, ›haben wir den Hochkaukasus erobert!‹ Da starrt ihn der Kröpelin eine Sekunde lang an, als ob er etwas sagen wollte, aber er sagt gar nichts und reicht mir nur einen Brief. Und in dem Brief teilt ihm seine Frau mit, daß seinem Jungen beide Beine abgeschossen worden sind in Nordafrika. Und wie ich das vorgelesen habe, weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich sagen kann, und der Fritz Ziegenbart murmelt nur verlegen vor sich hin: ›In Nordafrika, da stehen wir eisern bei El-Alamein …‹«
Valerie fühlte, wie die Hände feucht wurden und kalte Schauer über den Rücken liefen. Ihr Mann sprach da, Paul, ihr geliebter Paul – das war seine Stimme! Verstellt zwar war sie, die Stimme, absichtlich und hochbegabt verstellt, um den richtigen Tonfall des ›Gefreiten Adolf Hirnschal‹ zu treffen, eines geistigen Bruders des braven Soldaten Schwejk. Aber sie erkannte in dieser Stimme die ihres Mannes, ihres Mannes, nach dem sie sich sehnte mit jeder Faser ihres Körpers. Pauls Stimme, Pauls Stimme![1] Im hintersten Gewölbe der Buchhandlung fluchte Martin Landau leise und kraftlos vor sich hin. Voll Bitterkeit dachte er an das, was Valerie da im Teekammerl tat, obwohl sie wußte, wie sehr er darunter litt, obwohl sie wußte, daß er jetzt, am Abend und in der Dunkelheit dieses 21. Oktober 1942 nicht, wie sonst immer zu Mittag, um den Häuserblock laufen konnte, ohne Aufsehen zu erregen.
Dringende Briefe waren an diesem Abend zu erledigen gewesen an das Finanzamt, an die Reichsschrifttumskammer, an den ›Nationalsozialistischen Deutschen Buchhändlerverband‹, darum war Landau nach Geschäftsschluß mit Valerie noch im Laden geblieben. Er konnte nicht Maschineschreiben. Er hatte ihr die Briefe diktiert, einen nach dem andern. Fünf Minuten vor sieben Uhr hatte sie ihre Arbeit unterbrochen.
»Ich muß jetzt London hören, dann machen wir weiter.«
Er hatte gewußt: Sie wird London hören! Nichts und niemand – am wenigsten ich – kann sie davon abbringen.
Und so war Landau, angstgeschüttelt und zornig wie stets, so weit wie möglich von Valerie fortgeeilt und hatte sich auf einen Bücherstapel im letzten Magazin gesetzt, brummend zuerst, dann kläglich fluchend, Tränen der ohnmächtigen Empörung in den Augen, langsam vor Furcht erstarrend am ganzen Körper, während Valerie, unter ihrer Decke, das Morsesignal für ›V‹, das berühmte Fingerzeichen Churchills für ›Victory‹, das Motiv des ›Schicksals, das an die Pforte klopft‹ aus Beethovens Fünfter Symphonie, das Pausenzeichen ›ihres‹ Senders, und dann die Ansage hörte: »Hier spricht London! Hier spricht London! Hier spricht London!«
In dem nach Moder riechenden Gewölbe saß Landau und dachte voll Selbstmitleid: Verbieten sollte ich es ihr. Verbieten, jawohl! Aber ich bin eben immer viel zu gut.
Das war Martin Landau wirklich. Nicht viel zu gut, aber gut. Er war ein guter und ein schwacher Mensch. Ein sehr schwacher allerdings – ein Ästhet, ein Traumwandler!
Stundenlang konnte dieser Martin Landau beispielsweise von versunkenen Kulturen erzählen. Wenn man ihn aber am Ende eines Tages fragte, wie hoch der Umsatz gewesen sei, was er verkauft und eingenommen habe, dann errötete er sanft, hob die ohnedies ewig leicht gehobene linke Schulter noch etwas höher, legte den Kopf noch etwas schiefer, lächelte und rieb die Hände ineinander. Er hatte keine Ahnung.
Dazu war Valerie Steinfeld da. Die wußte einfach alles, sorgte für alles, kümmerte sich um alles, was das Geschäft anging. Und was sein Privatleben betraf, so war da Tilly, die sich aller persönlichen Dinge annahm, seine Anzüge in Ordnung hielt, Wäsche und Schuhe für ihn kaufte – im dritten Kriegsjahr nicht mehr einfach und auch nicht immer ganz Legal – und die als Hausfrau in der mit Kunstschätzen angefüllten Villa in Hietzing waltete.
Martin Landaus Interesse an längst vergangenen Reichen und Kulturen war natürlich (jeder, der ihn etwas näher kannte, begriff das sofort) nur der Versuch einer Flucht vor allem, was ihn die Zeit, in der er lebte, unerbittlich mitzuerfahren zwang.
Und dabei hatte alles so erhebend begonnen. Denn immerhin …
Immerhin!
Das war Martin Landaus Lieblingswort.
Immerhin gab es, als Hitler nach Österreich kam, in dem kleinen Land mehr als 600 000 Arbeitslose, zehn Prozent der Bevölkerung. Immerhin kaufte kaum ein Mensch mehr Bücher, und das Geschäft ging elend. Immerhin regierte vielerorts der Pöbel die Straße, und es bestand die Gefahr, daß der Bolschewismus das Land überollte. Es wurden häufig sogar bereits Offiziere beschimpft! Immerhin war Österreich ein Teil des deutschen Sprachraums von alters her und sein ›Anschluß‹ an Deutschland ein Akt, den Martin Landau zuerst ehrlich und von Herzen begrüßte.
Er stand an der Ringstraße, als über diese die Männer der ›Österreichischen Legion‹ marschierten, nach Deutschland geflohene, nun heimkehrende Nationalsozialisten. Elegante neue Uniformen trugen sie, glänzende Stiefel, die Sturmriemen ihrer Kappen um das Kinn. So paradierten jene Männer, die – einer Überzeugung wegen, immerhin! – jahrelanges Exil ertragen hatten, nun mit ihren Schellenbäumen, Fahnen und Standarten, sangen das ›Wiener Jungarbeiterlied‹: »Es pfeift von allen Dächern, für heut die Arbeit aus«, und links zwei drei, und rechts zwei drei, und Zucht war da und Ordnung und Disziplin, und links zwei drei und des Jubels, zwei drei, der Erschütterung, zwei drei, und des Stolzes unter den dichtgedrängten Massen war kein Ende, »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen …«, und gar manches Auge wurde feucht, zwei drei … Auch Martin Landaus Auge, gewiß. Wer das nicht miterlebt hatte, sollte schweigen, der konnte das nie verstehen, also durfte er auch nicht darüber lästern. Nein, das konnte keiner nachempfinden, der nicht dabeigewesen war, und auch nicht, daß man danach natürlich, halb hingerissen, halb erschrocken vor so viel Macht und neuer Gewalt, eilends in die Partei eintrat, besten Glaubens, denn immerhin: Plötzlich gab es wieder Stärke, Führung, Nationalstolz! Keine Bettler mehr auf den Straßen! Keinen Hunger mehr unter dem Proletariat! Es gab kein Proletariat mehr! Nur noch Volksgenossen!
Wenn einer Martin Landau damals gesagt hätte, was gleich danach geschehen sollte – er hätte nur gelacht. Und war doch einer der Dümmsten nicht, war einer, der an das Edle und Gute glaubte, an den Beginn einer neuen Zeit. Immerhin!
Oh, und dann der erste Schock, der erste grauenvolle Augenblick des Entsetzens, da er feststellen mußte, daß sein guter alter Freund Paul Steinfeld zu Recht und eben noch zur rechten Zeit geflüchtet war. Als fünf Tage nach Pauls Abfahrt der weltbekannte Kulturhistoriker Egon Friedell – er hatte zu allem andern auch noch gleichfalls in der Gentzgasse gelebt, unweit den Steinfelds – aus dem Fenster in den Tod sprang, nachdem SA-Leute sein Haus betreten hatten! Und der nächste Schock, der sogleich folgte, als Martin Landau sah, wie alte Juden Straßen mit Lauge säubern mußten, begafft und verhöhnt von Kindern, Bürgern, Wienern mit dem bekannten goldenen Herzen, bespien, an Bart und Haaren gezerrt, getreten von SA-Leuten.
Du mein Gott!
Er hatte geweint, tagelang mußte er unvermittelt immer wieder in Tränen ausbrechen danach, und Valerie und Tilly brachten es selbst gemeinsam nicht fertig, ihn zu beruhigen. Nein, nein, das war zu entsetzlich. Und es wurde noch entsetzlicher. Menschen verschwanden zu Tausenden in Kerkern, in Lagern; es kam der Überfall Hitlers auf die Tschechoslowakei, der Überfall auf Polen; es kam der Krieg. Und was mit den Juden weiter geschah …
Aber was konnte man tun?
Wieder austreten aus der Partei?
Landau erschrak halb zu Tode, wenn er nur an die Konsequenzen dieser Möglichkeit dachte. Austreten und sich selber einsperren, quälen, umbringen lassen? Das sollte ihm erst einer vormachen!
Und weiter ging der Alptraum, immer weiter.
Die Bücher, die verboten wurden!
Der Gelbe Stern!
Und die Tafeln beim Eingang von Cafés und Restaurants:
HUNDEN UND JUDEN IST DER EINTRITT VERBOTEN!
Und dann die ersten Berichte von Soldaten auf Heimaturlaub, geflüstert weitergegeben – über Massen-Geiselerschießungen, über Deportationen, über ›Vergasungen‹ und den Mord an Hunderttausenden in Konzentrationslagern, Konzentrationslagern, Konzentrationslagern, überall schien es nun Konzentrationslager zu geben, und was darin geschah, mußte grauenvoll sein!
Nein, er war schon lange kein Nationalsozialist mehr, der arme Martin Landau. Er half, in beständiger Furcht, wo er nur konnte. Daß er Valerie sofort, ganz am Anfang bereits, geholfen und sie angestellt hatte, das war selbstverständlich gewesen. Dagegen hatte nicht einmal Tilly etwas einzuwenden gehabt. 1921 schon war er Valerie begegnet – achtzehnjährig. Er hatte sich damals sehr für Kunstgeschichte interessiert, genau wie Valerie, die an Kursen der Volkshochschule teilnahm. Bei seinen häufigen Besuchen der Albertina, jenes Museums nahe der Oper, das eine weltberühmte Sammlung von Handzeichnungen und Graphiken enthält, war er Valerie immer wieder begegnet und hatte sich mit ihr befreundet, auf sehr scheue, gehemmte Art, die einzige, in der Martin Landau sich mit anderen Menschen befreunden konnte. Dann hatte Valerie Paul Steinfeld geheiratet, der damals politischer Redakteur einer großen Zeitung war. Zum Rundfunk kam er erst 1930. Valerie hatte die Männer miteinander bekannt gemacht, sie waren nun sehr häufig zusammengetroffen in der Wohnung der Steinfelds – es war noch nicht jene in der Gentzgasse –, Martin hatte die Geburt des Sohnes erlebt, seine Freundschaft war inniger und inniger geworden mit den Jahren.
Selbstverständlich, daß er da half, als die Not kam, 1938. Selbstverständlich, daß er auch – zitternd – anderen Menschen, Verfolgten, später half, wenn Valerie ihn darum bat, ihnen beizustehen. Immer mehr quälte Landau sich mit Selbstvorwürfen, immer nervöser, zerfahrener wurde er. Und ein richtiges Wrack war er, als dann Nora Hill erschien.
Ihr Besuch hatte ihn entsetzlich erschreckt. Noch mehr erschreckte ihn, was Valerie berichtete, nachdem sie aus der Stephanskirche und von dem Gespräch, das sie dort mit Nora Hill geführt hatte, zurückkehrte. Er atmete auf, als Valerie sagte: »Das tue ich nicht. Einen solchen Wahnsinnsprozeß führe ich nicht. Niemals!«
Niemals, Gott sei Dank.
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – so zu leben bemühte sich Martin Landau nun, und darum duldete er auch nie, daß Valerie ihm erzählte, was sie im Radio erfahren hatte. Richtig tobsüchtig wurde er, als sie es einmal versuchte.
»Nein! Nein! Nein!« rief er da, mit sich überschlagender Stimme. »Ich will es nicht hören! Immerhin schlimm genug, was alles passiert …« Ganz und gar unlogisch war, was er da schrie, er wußte es, und darum schrie er um so lauter: »Wie viele Verbrechen geschehen, wie grauenhaft ist dieser Krieg! Wem wird man die Schuld geben zuletzt? Uns! Uns, die wir niemandem etwas Böses getan haben, Valerie, mir … Millionen kleinen Leuten hier in der Heimat, und den armen Hunden, die an der Front stehen und kämpfen! Kämpfen müssen gegen einen unerbittlichen Feind! Wie viele fallen! Die Besten! Die Jüngsten! Für diesen Wahnsinn, ja, Wahnsinn sage ich! Aber immerhin, das kann heute jeder sagen! Damals, als es begann, da konnte es noch keiner erkennen …«
Da war ein großes Mitleid über Valerie gekommen, und sie hatte gesagt: »Verzeih. Ich werde dir nie mehr etwas erzählen.«
Und sie versuchte es nie mehr …
»… ist damit zu Ende. Wir kommen wieder mit der zwölften Sendung dieses Tages in deutscher Sprache um zwanzig Uhr auf den Langwellen 1600 und 1800 Meter, auf Mittelwelle im 285-, 340-, 398-, 415- und 450-Meter-Band, und auf Kurzwelle im 18-, 20-, 24-, 28- …«
Das Telefon rasselte.
Valerie fuhr zusammen. Während sie sich die Decke vom Kopf riß und auf das alte Sofa warf, schaltete sie den Apparat ab.
Wieder klingelte der schwarze Metallkasten mit seiner verrosteten Gabel, in der waagerecht ein schwerer altmodischer Hörer mit verrostetem Sprechtrichter hing. Valerie meldete sich: »Buchhandlung Landau.«
Im nächsten Augenblick wurde sie von einer Wortflut ihres Sohnes überschwemmt: »Ich habe zu Haus angerufen, Mami, aber die Agnes hat gesagt, du bist noch nicht da … Es ist etwas Schreckliches passiert, es tut mir so leid … Erwischt hat er uns … Sei nicht böse, bitte, sei nicht böse …«
Valerie – sie trug einen Verkäuferinnenmantel aus schwarzem Glanzstoff – ließ sich in den alten Sessel vor dem vollgeräumten Schreibtisch sinken. »Stopp! Noch einmal, Heinz. Aber langsam und der Reihe nach.«
Er berichtete mit bebender Stimme, was vorgefallen war – halbwegs verständlich und chronologisch. Und schloß mit einem Schluchzen: »… da haben wir uns dann nicht mehr nach Hause getraut!«
Valerie stützte den Kopf in eine Hand. Ich wußte es, dachte sie. Ich habe es kommen sehen. Einmal passiert etwas. Immer habe ich es gefürchtet. Nun ist es passiert.
»Das war ja ein Wahnsinn von euch! Ausgerechnet in der Hütte hinter dem Turnplatz. Wo ich euch hundertmal gebeten habe, vorsichtig zu sein. Ein Wahnsinn!«
»Ja, ja, ich weiß … aber wir haben uns immer da getroffen …«
»Allmächtiger!«
»… und nie ist etwas passiert! Es war dieser Roman Barry, du weißt schon. Der ist mir nach und hat dann den Direktor verständigt … Was wird der jetzt machen, Mami? Ich bin doch ein Halbjud!«
Sie zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Aber sie schaffte es, daß ihre Stimme fest und ruhig klang: »Hör jetzt damit auf. Wirst du tun, was ich dir sage?«
»Ja, Mami, deshalb rufe ich ja an … Wir müssen etwas tun … Wir können nicht immer weiter durch Wien laufen … Der Bianca ist schon ganz schlecht … Und die Agnes hat gesagt, Biancas Mutter hat angerufen und gefragt, ob sie mit mir zusammen ist …«
»Ich werde sie anrufen, gleich. Und ihr alles erklären … vorsichtig, damit sie sich nicht zu sehr aufregt … Ich bringe das schon in Ordnung.«
»Ja, Mami? Ja? Glaubst du, du kannst das?«
»Wir reden darüber. Aber ihr müßt jetzt nach Hause, so schnell wie möglich. Weg von den Straßen. Bianca fährt heim, du fährst heim – jeder allein! Versprichst du mir das?«
»Ja … ja … aber …«
»Kein Aber. Zuerst heimfahren. Ich bin hier schon fertig und komme. Also beeile dich gefälligst!«
Martin Landau, bleich und verstört – er hatte das Telefon läuten gehört und danach Valeries Stimme –, trat fast lautlos in das Teekammerl. Valerie sah zu ihm auf und bemerkte seinen entsetzten Blick. Sie lächelte ihm tapfer zu. Aber das half nichts bei ihm.
»Heinz?« flüsterte er.
Sie nickte, während sie in den Hörer sagte: »Überlaßt alles mir, ich werde schon einen Weg finden.«
Martin Landau war zu dem Radioapparat gestürzt. Er stellte ihn schleunigst wieder auf die Wellenlänge des Reichssenders Wien ein.
»Also Schluß jetzt«, sagte Valerie und legte den Hörer in die fleckige Gabel.
Landau knurrte: »Wieder auf London gelassen! Wie oft soll ich dir noch sagen …«
»Ich hätte das schon verdreht!«
»Vergessen hättest du es!« rief er plötzlich mit dünner Stimme. »Weißt du, was uns blüht, uns beiden, wenn man uns je dabei erwischt? Weißt du …«
Valerie schrie ihn an: »Halt den Mund! Kannst du denn immer nur an dich denken, du Feigling?«
Er ließ sich vor Schreck und Verblüffung auf das alte Sofa fallen, dessen Spiralfedern laut krachten, und starrte Valerie mit offenem Mund an. Sie strich ihm über das glanzlose Haar. »Entschuldige, bitte. Ich weiß nicht, was ich tue. Etwas mit Heinz ist passiert …«
15
»Sie berichtete mir die ganze Geschichte, und sie wurde ruhiger, während sie sprach«, sagte Martin Landau.
Es war 15 Uhr 35, und der Buchhändler saß, Manuel gegenüber, in einem Sessel des Salons. Zwischen ihnen stand ein fahrbarer Tisch, auf dem ein Ober zwei große Kannen Tee und eine kleine Platte Petits fours serviert hatte. Die Sonne schien noch immer an diesem 17. Januar 1969, schräg fielen ihre Strahlen auf eine honiggelbe Tapete, auf den honiggelben Velours und eine Chinabrücke, die bunt aufleuchtete. Aus der Tiefe drang gedämpft der Lärm des Verkehrs auf der Ringstraße durch die geschlossenen Fenster.
Landau war auf die Minute pünktlich gewesen. Manuel hatte eben (von einer Telefonzelle aus, wie ihm eingeschärft worden war) seinen verabredeten täglichen Anruf bei dem Anwalt Dr. Stein absolviert und sich solcherart als unversehrt gemeldet.
»Also doch keine Grippe, lieber Doktor …« (›Grippe‹ war das Erkennungswort für diesen Tag, das vierte Wort, das Manuel sprach.)
Sie hatten kurz geplaudert. Dann hatte sich der Anwalt verabschiedet. Das siebente Wort in seinem ersten Satz – das Kennwort für morgen – war ›Wochenende‹ gewesen.
Kaum hatte Manuel sein Appartement wieder erreicht, da meldete man ihm Landaus Eintreffen.
»Er möchte doch bitte heraufkommen …« Manuel war dem Buchhändler bis zum Lift entgegengegangen. Landau, schief die Schulter, schief der Kopf wie stets, entschuldigend lächelnd wie stets, hatte einen pelzgefütterten Mantel und einen seltsam altmodischen Hut getragen. Er war zunächst noch in Panik gewesen.
»Sie haben mich erpreßt! Das wissen Sie doch immerhin, nicht wahr? Sie sagten, wenn ich nicht komme, ziehen Sie mich in diese Spionagegeschichte hinein!«
»Das habe ich nicht gesagt. Woher wissen Sie überhaupt, daß es eine Spionagegeschichte ist?«
»Meinen Sie, ich habe grundlos solche Angst? Es ist eine Spionagegeschichte, davon sind wir überzeugt, Tilly und ich! Wer weiß, was für ein Doppelleben Valerie geführt hat. Darum wollten wir uns ja auf jeden Fall heraushalten …«
»Das ist jetzt leider nicht mehr möglich, Herr Landau. Nun müssen Sie schon vernünftig sein und tun, was ich will.«
»Ich bin ja hier! Aber das ist eine lange Geschichte. Heute kann ich Ihnen bestimmt nicht alles …«
»Sie kommen wieder. Hier sind Sie sicher. Hier werden wir uns unterhalten – bis ich alles weiß.«
»Wenn Tilly je erfährt …«
»Sie erfährt nichts, sofern Sie vernünftig sind. Was wollen Sie trinken?«
»Trinken?«
»Tee? Kaffee? Schokolade?«
»Oh. Ach so. Tee bitte.«
Nachdem der Tee gekommen war, hatte Landau sich etwas beruhigt und zu erzählen begonnen – über jenen Abend des 21. Oktober 1942, und über sich, hauptsächlich noch über sich. Er empfand das Bedürfnis, seine Haltung, sein Wesen und seine Reaktionen zu rechtfertigen, nicht als ein wirklicher Lump, als ein wirklicher Feigling dazustehen. Was er berichtete, beeindruckte Manuel. Landau wurde ihm plötzlich sympathischer. Ein Mensch. Ein armer, irrender, im Grunde anständiger Mensch. Jedenfalls sah es so aus …
»Wie spät ist es?«
»3 Uhr 37. Sie haben alle Zeit von der Welt. Nehmen Sie noch Petits fours …«
In seinem Büro stand der Graf Romath vor Adolph Menzels ›Maskensouper‹. Er hatte die Tür versperrt, danach das Leistenstückchen des Rahmens herabgedrückt und sprach nun in den Miniatursender, dessen Antenne herausgezogen war.
»Landau erzählt, was diese Steinfeld im Krieg erlebt hat – mit ihrem Sohn«, erklärte er gerade in englischer Sprache. Auf dem Schreibtisch, neben der Vase mit den Inka-Lilien und ihren gelblich-braunen Blüten, die goldgelb gefleckt waren, stand ein ganz kleiner schwarzer Lautsprecher, den man sofort in einer Anzugtasche verschwinden lassen konnte. Sein kurzes Kabel war durch eine Buchse mit dem großen Telefonapparat verbunden. Ein hochempfindliches Mikrophon in Manuels Salon befand sich über der oberen Leiste zum Schlafzimmer. Da hatte es ein Hauselektriker, der, wie Romath, für die Amerikaner arbeitete, schon am Tage vor der Ankunft von Manuels Vater installiert, ebenso den kleinen Lautsprecheranschluß im Büro des Grafen. Die Verbindung lief über einen Telefondraht. Niemand wußte davon – außer den Eingeweihten.
Eingeweiht in derlei schien auch der Hofrat Groll zu sein. Er hatte Manuel, als sie im Billardzimmer des Cafés ›Ritz‹ die Dokumente aus dem schwarzen Köfferchen nahmen, gesagt: »Sicherlich gibt es Abhöranlagen in Ihrem Appartement. Und sicherlich hat der Graf den Auftrag, Sie weiter schärfstens zu überwachen. Wenn Sie sich also oben mit jemandem unterhalten, denken Sie daran, daß der Direktor – oder jemand anderer – mithört. Dagegen läßt sich kaum etwas machen. Im ›Ritz‹ steht der Graf den Amerikanern und Russen zu Diensten – also der weitaus stärkeren Partei, die mit Ihrem Vater offensichtlich ins Geschäft gekommen ist. Ich rate Ihnen, zu bleiben. Nach dem Plan, der mir vorschwebt, wird Ihnen nichts zustoßen.«
Der Graf Romath hatte schon viele Gespräche abgehört, die im Salon des Appartements 432 geführt worden waren – Gespräche von Manuels Vater. Nun hörte er ein Gespräch des Sohnes ab …
»Okay, Able Peter«, erklang eine Stimme aus dem kleinen Sender. »Machen Sie weiter!« Die Stimme gehörte einem Mann, der seinen Wagen 1000 Meter vom Büro entfernt in einer Nebenstraße geparkt hatte. »Aber das ist doch uninteressant …«
»Sie haben Ihren Auftrag – und Sie werden ihn erfüllen, verstanden?« Die Stimme klang scharf. »Oder haben Sie genug? Wollen Sie nicht mehr? Sagen Sie nur ein Wort, Able Peter …«
»Hören Sie auf, Sunset! Ihr habt mich in der Hand, das weiß ich.«
»Melden Sie sich wieder, wenn Landau gegangen ist oder wenn Sie etwas Wichtiges hören. Wir sind immer hier. Over.«
»Over«, sagte der Graf, drückte die Antenne in den Sender zurück und versteckte ihn wieder in dem Bilderrahmen. Er schloß die Tür auf und setzte sich an den Schreibtisch. Sein Gesicht war weiß wie sein Haar, und seine Lippen zitterten. Soll das ewig so weitergehen, dachte er verzweifelt, werden die mich nie mehr in Frieden lassen? Niemals mehr? Das halte ich nicht aus. Das kann ich nicht. Das will ich nicht. Ich will aber auch nicht ins Zuchthaus. Also was tue ich? Also schalte ich das Mikrophon wieder ein …
Er tat es, und es erklang Landaus Stimme. »… Valerie war gefaßt, jedenfalls hatte ich da noch den Eindruck. Außerordentlich gefaßt, wenn Sie bedenken, wie groß immerhin stets ihre Angst um den Jungen war. Sie rief Biancas Eltern an. Der Vater machte ihr eine schreckliche Szene. Tobte herum, beschimpfte sie! Valerie behielt die Fassung – es war kaum zu glauben. Immerhin hatten wir dann aber einen kleinen Streit …«
Die Stimme Manuel Arandas: »Streit?«
16
»Ich möchte, daß du mit mir fährst«, sagte Valerie Steinfeld.
»Aber warum?«
»Ich muß mit Heinz reden, er ist furchtbar aufgeregt. Dich hat er gern, du bist der Onkel Martin für ihn, der immer nett zu ihm war.«
»Na und?« rief Landau gereizt. »Was hat das damit zu tun?«
»Heinz wird sich leichter beruhigen, wenn du da bist und er seine Aggressionen nicht so direkt an mir abreagieren kann.«
»An dir?«
»Natürlich! Wer hat seinen Vater geheiratet?«
»Jetzt ist es fast acht Uhr. Wenn ich mit dir gehe, komme ich immerhin vor zehn nicht nach Hause. Und Tilly wird inzwischen verrückt vor Sorge!«
»Die rufst du natürlich an, jetzt gleich.«
»Nein, bitte, Valerie, laß mich da heraus! Laß mich heimgehen. Ich wüßte überhaupt nicht, was ich Heinz sagen soll. Du machst das viel besser allein. Ich …« Er holte erschrocken Luft. »Was tust du da?«
»Ich wähle eure Telefonnummer.«
»Nein!« Er sprang vor, schlug die Gabel hinunter und hielt sie fest.
»Nein! Nein! Ich will nach Hause! Valerie, so laß mich doch nach Hause gehen!«
Sie stritten ein kurze Weile, dann sagte Landau erbittert: »Also gut, ich komme mit. Ich will es nicht. Das weißt du. Aber du bestehst immerhin darauf. Weil du auch weißt, daß ich dir nichts abschlagen kann.«
»Ja.« Valerie lächelte. »Natürlich darum.«
»Eine Gemeinheit ist das«, rief er betrübt. »Du nützt das aus, meine Schwäche.«
»Natürlich«, sagte Valerie wiederum. »Und nun ruf deine Schwester an.«
Er rief an. Er erklärte Ottilie, die ihn dauernd mit Fragen unterbrach, bis er vor Ärger und Aufregung stotterte, er werde später kommen und warum. Ottilie sprach so laut, daß Valerie ihre Stimme verstehen konnte: »Das paßt mir aber gar nicht, Martin! Überhaupt nicht paßt mir das!«
»Glaubst du, ich bin entzückt? Aber sie ist immerhin ein so alte Freundin von uns …«, sagte Landau, und zu Valerie gewandt, eine Hand über dem Sprechrohr, anklagend: »Da hörst du es!«
»Alte Freundin, bah! Heinz ist ihr Sohn, und wenn er etwas ausgefressen hat, dann ist das seine und ihre Sache!«
»So lang kennen wir uns«, stöhnte er kläglich.
Tillys Stimme wurde milder: »Also, meinetwegen geh mit Valerie. Aber du sagst nichts, du tust nichts, was dich in diese Sache hineinzieht, verstanden?«
»Freilich, Tilly, Freilich …«
»Du hältst dich da raus! Den Buben beruhigen, das ist das Äußerste! Sag Valerie, wenn sie es sich nicht mit mir verderben will, dann läßt sie dich sofort danach gehen und kümmert sich um ihre eigenen Angelegenheiten!«
»Sie hat es schon gehört, du schreist so.«
»Dann ist es ja gut. Und um halb zehn bist du hier. Spätestens!«
»Ja, Tilly, halb zehn. Servus.« Er legte den Hörer hin, stand bebend da und äußerte, Schulter hochgezogen, Kopf schief gelegt, mit aller Empörung, die er besaß, in der Stimme: »Zum Kotzen ist das!«
»Was?«
»Alles!« schrie der kleine, sanfte Mann auf. »Ihr seid mir alle zum Kotzen! Meine Schwester und du und dein Balg und diese ganze verfluchte Welt!«
»Natürlich, Martin«, sagte Valerie. »Und jetzt komm, zieh schön deinen Mantel an.«
17
»Hätte sie sich nicht überlegen können, wen sie heiratet? Hätte sie sich nicht überlegen können, mit wem sie ein Kind macht?«
»Heinzi! Heinzi! So darfst du nicht von deiner Mutter reden!«
»Darf ich nicht? So! Wer kann denn jetzt ausbaden, was sie angerichtet hat? Ich hab mir meinen Vater nicht aussuchen können! Ich laufe jetzt nur als Untermensch herum seinetwegen!«
»Heinzi! Das ist … ein Sünde ist das, wie du sprichst! Dein guter Vater! Der liebe gnädige Herr! Der beste Mensch von der Welt ist das immer gewesen …«
»Ach was! Ein verfluchter Jud ist er!«
»Halt den Mund, ja? Aber schnell! Ich hab deinen Vater schon gekannt, da warst du noch gar nicht geboren! Und ich sag dir, er ist ein wunderbarer Mann!«
Die lauten Stimmen waren bis in das stille Stiegenhaus zu hören, als Valerie mit Martin Landau aus dem alten, baufälligen Lift trat und ihre Wohnungstür aufschloß.
»Schön, sehr schön«, murmelte Landau, erbleichend.
»Das werden wir gleich haben«, sagte Valerie aufgebracht. Sie hängten ihre Mäntel schnell in der Garderobe auf und betraten dann das große Wohnzimmer, in dem Heinz mit Agnes Peintinger stritt.
Die Agnes, seit zwanzig Jahren Haushälterin bei Valerie, war eine kleine, resolute Frau von vierundvierzig Jahren. Sie stammte aus dem Mühlviertel. Als junges Mädchen war sie nach Wien gekommen und gleich zu den Steinfelds. Bei ihnen war sie geblieben, hatte ihnen die Treue gehalten in guten und nun in bösen Zeiten. Für Paul Steinfeld empfand sie herzliche Bewunderung. Die kleine Frau, die da in einem Hauskleid, eine Küchenschürze darüber, den zornroten Heinz anschrie, hatte ein Bäuerinnengesicht mit Entennase, breitem Mund und kleinen Augen, eine ungewöhnlich hohe Stirn und dunkles Haar, das schon grau wurde und im Nacken zu einem Knoten gefaßt war. Rauhe, rotgearbeitete Hände von erstaunlicher Größe hatte die Agnes und sehr kleine Füße. Trotz ihrer zierlichen Gestalt war sie außerordentlich kräftig und unermüdlich.
Ein ängstlich gehütetes Geheimnis umgab ihr Privatleben. Nie sprach sie offen über ein gewiß schreckliches Erlebnis, das sie, ein Mädchen noch, gehabt haben mußte, nur manchmal kam es zu Andeutungen. In all den vielen Jahren, die Valerie sie kannte, hatte die Agnes nie einen Freund gehabt, nie heiraten wollen. Sie war nun schon eine ältliche Jungfer geworden – mit einem Mann in der fernen Vergangenheit, der ihr, so ergaben jene gelegentlichen Andeutungen, Schlimmes angetan hatte. War sie vergewaltigt worden? Hatte sie ein Bauernjunge, ein Knecht, ein Großbauer zu seiner Geliebten gemacht und dann davongejagt, betrogen, im Stich gelassen?
Der Dorfpfarrer ihres Geburtsortes Leonfelden – das jedenfalls schien festzustehen – hatte die Agnes in der Zeit ihrer offenbar einzigen und so unglücklichen Liebesaffäre getröstet, ihr Mut zugesprochen, über das Schwerste hinweggeholfen, denn von Hochwürden Ignaz Pankrater sprach die kleine Frau immer wieder, er besaß ihr ganzes Vertrauen, ihr ganzes Herz.
Lange Jahre nach der Agnes und auf Umwegen, die sein vorgeschriebener Berufsweg diktiert hatte, war auch Ignaz Pankrater in Wien eingetroffen, um eine kleine Kirche im XVI. Bezirk – Ottakring, einer tristen Proletariergegend, in der nur arme Leute lebten – zu betreuen. Die Agnes war unendlich glücklich gewesen über sein Erscheinen, und ohne Zögern hatte sie die Kirche nahe der Gentzgasse verlassen. Regelmäßig besuchte sie seither Hochwürden Pankrater in seinem bescheidenen Gotteshaus, betete dort, beichtete dort, besuchte den Pfarrer privat und erzählte ihm von ihren Nöten, Befürchtungen und Sorgen. Und der nun schon neunundvierzigjährige ehemalige Landpfarrer, den es in die Stadt verschlagen hatte, spendete Rat und Trost, immer wieder …
Valerie und Martin Landau standen jetzt im Wohnzimmer. Heinz starrte sie böse an. Die Anges rang ihre abgearbeiteten Hände.
»Daß Sie endlich da sind, gnä’ Frau! Es ist schrecklich, ganz schrecklich, was der Heinzi alles sagt! Ich muß mich so aufregen, ich …«
»Schon gut, Agnes. Hör mal, Heinz, hast du den Verstand verloren? Draußen im Stiegenhaus kann man dich hören!«
»Soll man doch! Soll man doch! Das ist mir scheißegal! Tag, Onkel Martin.«
»Du, wenn du nach allem, was du angestellt hast, jetzt auch noch frech bist, kannst du etwas erleben!« rief Valerie.
»Ja? Was denn? Was denn? Was kann ich denn noch erleben?« schrie Heinz. »Was denn noch?«
»Du sollst nicht so schreien«, sagte Valerie und zwang sich, es ruhig zu sagen. Sie dachte: Mein Gott, der arme Junge, was muß in ihm vorgehen, und sagte: »Jetzt wollen wir in Ruhe über alles reden. Onkel Martin ist eigens mitgekommen, um uns überlegen zu helfen, was wir am besten tun können.«
Heinz schrie in einem Paroxysmus von Wut und Verzweiflung: »Ich bin ein dreckiger Halbjud! Da kann man nichts tun! Da kann man überhaupt nichts tun! Da muß man das Maul halten und kuschen und warten, was die anderen tun! Sie werden schon was tun, die anderen! Mein feiner Vater …«
»Hör sofort damit auf!« rief Martin Landau unglücklich.
»Du hast wohl vergessen, wer an all dem wirklich schuld ist, was passiert ist!« sagte Valerie, nähertretend.
»Einen Dreck habe ich das vergessen!« schrie der Junge außer sich. »Ich denke an nichts anderes! Dein Mann, mein Vater, dieser Scheißjud ist schuld an allem!«
Im nächsten Moment schlug Valerie ihm ins Gesicht, so fest sie konnte. Er taumelte zurück. Rot brannte der Abdruck ihrer Hand auf seiner Wange. Aber er weinte nicht.
Keuchend standen Mutter und Sohn sich gegenüber.
»Herr Jesus im Himmel, was bist du bloß für ein Bub«, klagte die Agnes.
»Wie kann ein Mensch nur so böse sein … so schrecklich böse! Deine arme Mutter … denkst du nicht auch an die? Was die für Kummer und Sorgen hat? Das ist dir gleich!«
Martin Landau, im Hintergrund, begann: »Also wirklich, Heinz, das ging immerhin zu weit! Du wirst dich sofort entschuldigen!«
Es klingelte.
Nun erstarrten sie alle, es war, als hätte man ein laufendes Filmband plötzlich angehalten.
Es klingelte wieder, ungeduldig, mehrmals.
»Ich gehe schon«, sagte Valerie. Die anderen blieben zurück, ohne sich anzusehen, ohne ein Wort zu sprechen. Von draußen klangen undeutlich Valeries Stimme und die eines Mannes herein.
Martin Landau dachte verzweifelt: Polizei. Bonzen. Gestapo. Aus. Alles aus. Und ich hier, mitten drin, mitten drin, o du mein Gott.
Die Wohnungstür fiel zu. Valeries Schritte kamen näher, sie betrat das Zimmer, ein Kuvert in der Hand.
»Expreßbrief«, sagte sie, während sie den Umschlag aufriß und einen Bogen Papier entfaltete. Er trug in der linken oberen Ecke den Namen und die Adresse der Chemie-Staatsschule, weiter unten und rechts das Datum, 21. Oktober 1942, und der Brieftext begann ohne Anrede. Valerie überflog ihn. Sie lehnte sich gegen die Tür.
»Was ist, gnä’ Frau?« rief die Agnes.
»Wer schreibt da?« fragte Martin Landau, leise und unglücklich.
Klanglos las Valerie: »›Ich teile Ihnen mit, daß Ihr Sohn, der jüdische Mischling Ersten Grades, Heinz Steinfeld, wegen schwerer sittlicher Verfehlungen sowie wegen Zersetzung des nationalsozialistischen Gemeinschaftsgeistes durch mich mit sofortiger Wirkung vom Unterricht suspendiert worden ist. Ich habe den Fall bereits zur Kenntnis des Herrn Gauleiters und Reichsstatthalters für Wien gebracht, der die entsprechenden Schritte gegen Ihren Sohn anordnen wird. Professor Doktor Karl Friedjung, Direktor.‹«
Nachdem Valerie das letzte Wort gelesen hatte, war es wieder totenstill im Raum. Niemand regte sich. Niemand sah den andern an. Die Agnes bewegte fast unmerklich die Lippen. Die Agnes betete.
18
Valerie ging, den Brief in der Hand Iangsam durch das Zimmer zu einem Fenster. Sie wandte allen den Rücken, während sie abwesend den Vorhang berührte. Hinter diesem war eine schwarze Papierrolle herabgelassen – die Verdunkelungsvorrichtung, wie an allen Fenstern der Stadt. Verdunkelt wegen feindlicher Flugzeuge war ganz Wien, war ganz Deutschland. Valerie hob die schwarze Papierrolle seitlich etwas an. Im Hof war es so finster, daß sie nicht einmal die nächsten Äste der drei großen, alten Kastanienbäume erblicken konnte. Dennoch starrte sie in diese Finsternis, mindestens eine Minute lang. Hinter ihr blieb es still, absolut still. Tief Atem holte Valerie, bevor sie sich umdrehte und mit fester Stimme sagte: »Nun gut, wenn es also keinen anderen Weg gibt! Du brauchst keine Angst zu haben, Heinz. Gar keine.« Sie mußte schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. »Es wird nichts geschehen, überhaupt nichts.«
»Aber der Friedjung schreibt doch, daß er schon den Schirach verständigt hat!« Jetzt schrie Heinz nicht mehr. Jetzt saß er, klein, angsterfüllt und bleich, auf einer Truhe.
Valerie mußte wieder schlucken, sie mußte es nun dauernd.
»Schirach wird nichts unternehmen. Denn du bist kein Mischling.«
»Was?« flüsterte Heinz. »Was bin ich nicht?«
»Du bist kein jüdischer Mischling Ersten Grades.« Jedes Wort bereitete Valerie Mühe. Sie stemmte die Hände hinter sich auf das Fensterbrett, um Halt zu haben. Nun ist es soweit, daß ich es tun muß, dachte sie. Ja, nun muß ich es tun, und schnell.
»Aber wenn mein Vater doch Jude ist …«
»Der Mann, mit dem ich verheiratet bin, ist Jude«, sagte Valerie Steinfeld langsam, leicht würgend, mit jedem Wort ringend, »aber dieser Mann ist nicht dein Vater.«
»Jesus, Maria und Josef!« rief die Agnes.
Martin Landau ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste. Sie hat mich überrumpelt, dachte er. Hereingelegt hat sie mich, betrogen! Das also schwebte ihr vor, als sie mich überredete, hierher zu kommen. Ist das eine Niedertracht, nein, ist das eine Gemeinheit!
Landau tat Valerie Unrecht: Sie hatte ihn nicht mit dieser Absicht hergebracht, sie hatte wirklich nur gewünscht, einen Mann zur Seite zu haben, wenn sie mit ihrem Sohn sprach. Der Ausschlag, das zu tun, was sie nie tun wollte, war durch den Brief gekommen, diesen furchtbaren Brief des Direktors Friedjung.
Heinz hatte sich erhoben. Er starrte seine Mutter an. Er stotterte: »Nicht mein Vater … aber wieso … aber was heißt … aber das gibt es doch nicht!«
»Das gibt es«, sagte Valerie, und nun kam ihre Stimme plötzlich ruhig und ohne Mühe über die Lippen, flach jedoch, fremd und kalt, unmenschlich fast, so wie ihr Gesicht plötzlich kalt, fremd und unmenschlich wirkte in seiner Starrheit. »Natürlich gibt es das, Heinz. Ich habe nie darüber gesprochen, weil es alles andere als angenehm für mich ist, darüber zu sprechen … Jetzt muß es sein. Ich habe meinen Mann betrogen.«
»Also immerhin …«, begann Landau erbittert.
»Sei still, Martin, ja?« Valerie sah ihn an. Er schwieg. Die Agnes bekreuzigte sich. »Ich habe mich nie sehr gut mit meinem Mann verstanden. Ich habe ihn schon bald nach der Heirat mit einem andern betrogen. Dieser andere ist dein Vater, Heinz, nicht mein Mann. Und dieser andere ist Arier.« Valeries Worte kamen wie von einer Schallplatte. »Und darum bist du kein Mischling, darum bist auch du Arier, reiner Arier!« Nun mußte Valerie doch tief Luft holen, mühsam ging es, weh tat es in der Brust. »Und das werde ich jetzt öffentlich erklären. Vor Gericht. Du kannst dir denken, daß ich es vermeiden wollte, solange ich konnte. Aber nun tue ich es.«
Die drei Menschen vor ihr rührten sich nicht. Die Gesichter der Erwachsenen waren verstört oder verzerrt vor Schreck. In dem Gesicht des Jungen zuckte es. Er fragte atemlos: »Ist das auch wirklich wahr, Mami?«
»Das ist wirklich wahr, Heinz.«
»Aber … aber … aber wer ist dann mein Vater, mein wirklicher Vater?«
Eine Sekunde verstrich, zwei Sekunden verstrichen, drei Sekunden verstrichen. Heinz’ Blick irrte hin und her.
»Wer, Mami, wer?«
»Kannst du es dir nicht denken?«
Der Junge stammelte: »Der … der Onkel Martin?«
Valerie nickte.
Heinz lief zu Landau. Er atmete schnell, in seinem Gesicht begann sich eine unendliche Glückseligkeit zu verbreiten.
»Wirklich? Wirklich, Onkel Martin?«
Das ist die größte Infamie, die man sich denken kann, dachte Landau. Er zitterte vor Wut und Schwäche, hin und her gerissen zwischen grenzenlosem Zorn, aber auch grenzenlosem Mitleid, als er diese feuchten, bittenden, fragenden Kinderaugen sah. Die allergrößte Infamie von der Welt! Wenigstens noch einmal reden mit mir hätte Valerie müssen vorher, mich fragen, ob ich auch einverstanden bin. Herrgott, was wird Tilly sagen, entsetzlich. Und wenn Valerie jetzt diesen Prozeß beginnt … Furchtbar, ganz furchtbar ist das! Warum muß mir das passieren? Womit habe ich so etwas verdient?
»Onkel Martin, wirklich?«
Und in dem Moment, da er wiederum die flehende Stimme des Jungen hörte, ging eine große Verwandlung mit dem ewig geduckten, verschreckten Martin Landau vor sich. Er reckte sich. Sein Gesicht wurde entschlossen und ernst. Seine Stimme klang fest und freundlich: »Ja, mein Junge, es ist wahr.«
»Lieber Gott im Himmel, steh uns bei!« murmelte die Agnes.
Plötzlich fühlte Landau sich von Heinz umarmt und auf beide Wangen geküßt. Er haßte es, wenn man ihn umarmte, er haßte es, wenn man ihn küßte, oh, was für eine Situation!
»Ich bin ja so froh!« rief Heinz. »So froh! Ich habe es gewußt! Immer, immer habe ich es gewußt!«
»Was?« fragte Martin Landau, zurückweichend, während Heinz ihn losließ.
»Daß da etwas nicht stimmen kann! Daß ich kein Halbjud sein kann! Daß ich ein Arier sein muß!« Heinz rannte zu Valerie. Er umarmte sie und küßte auch sie, viele Male. Dazu stammelte er: »Verzeih mir, Mami, bitte, verzeih mir, daß ich so geschrien hab … alles, was ich gesagt hab … Ich konnte doch nicht wissen … Oh, Mami, Mami, das ist der schönste Tag in meinem Leben! Ich danke dir, daß du es nun doch gesagt hast, daß du es jetzt vor Gericht sagen willst …«
Valerie war in Rage gekommen, ihr Atem ging schnell, die Worte überstürzten sich, es war, als wollte sie alles, was ihr das Herz zusammenpreßte, aussprechen, schnell, schnell, bevor sie es sich anders überlegte, auf daß ihre Handlung unwiderrufbar werde: »Und nicht nur dem Gericht werde ich es sagen, Heinz, auch diesem blödsinnigen Friedjung! Der soll sich wundern, der Idiot!«
»Der Idiot!« wiederholte Heinz, glücklich lachend. »Agnes, hörst du das alles, hörst du das? Ich bin kein Halbjud! Ich bin ein Arier! Und der Onkel Martin ist mein wirklicher Vater, nicht der Jude! Oh, Mami, Mami …«
Die Agnes betete leise.
»Das war also eine schlechte Ehe, die du geführt hast …«
Die Stimme Nora Hills klang in Valeries Ohren: »Ihr Mann hat geschrien, Sie sollen alles, alles, alles tun, um den Jungen zu schützen!«
»Eine schlechte Ehe, ja«, sagte Valerie.
»Ich habe es mir gedacht! Oft habe ich es gespürt. Nein, wirklich, Kinder spüren das! Und darum habe ich ihn ja auch nicht mögen, darum habe ich einen solchen Haß auf ihn, nicht? Weil er doch gar nicht mein Vater ist!«
Valerie hörte plötzlich geisterhaft ihre eigene Stimme: »… seinen Vater, den haßt er wie die Pest! Ist das nicht schrecklich?«
Und Nora Hills Stimme antwortete geisterhaft in Valeries Ohren:
»Schrecklich? Wunderbar ist das!«
»Was hast du gesagt, Mami?«
Sie fuhr auf. Dicht, ganz dicht vor ihr waren Heinz’ fragende Augen, sein befreites, seliges Gesicht.
»Ich … ich habe … Ja, das wird so sein, wie du sagst, Heinz. Natürlich, du hast ihn nie mögen, das hast du mir oft genug erzählt in den letzten Jahren …« In den letzten Jahren, dachte Valerie. Früher, da hatte er seinen Vater geliebt. »Das ist die Erklärung, freilich.«
»Und weiß er es?«
»Nein. Niemand hat es bis zu diesem Moment gewußt, nur Martin und ich.«
Heinz begann wieder zu lachen.
»Was hast du?«
»Er weiß es nicht!« Heinz lachte immer lauter. »Nie hat er es gewußt, der dumme Jud, und jetzt sitzt er in England und weiß nicht, daß ich es jetzt weiß! Gar nichts weiß er! Gar nichts! Ist das komisch! Ist das …«
Er brach jäh ab. »Mir ist schlecht«, sagte er stammelnd. »Ich muß mich hinlegen …«
»Warte, ich bringe dich …«
»Nein, es geht schon! Ich hab dich lieb, Mami, so lieb!« Heinz stolperte von ihr fort zur Tür. Er kam an Landau vorbei. »… und dich, Onkel Martin …« Ein Schluchzen: »… Vater!« Er verschwand. Gleich darauf hörten die drei Zurückbleibenden die Tür seines Zimmers zufallen.
Valerie hielt den Blicken Landaus und der Agnes stand. Der schmächtige Buchhändler biß sich auf die Lippe, er sah aus, als wolle er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Aber er schwieg. Nur die Fäuste hielt er wieder geballt.
Das Schweigen dauerte an.
»Agnes!« sagt Valerie schließlich.
»Ja, gnä’ Frau?«
»Was haben Sie dazu zu sagen?«
Die Agnes zögerte. Dann sank ihre Stimme zu einem Flüstern herab.
»Das ist doch alles nicht wahr, gnä’ Frau! Herr Landau, es ist nicht wahr, gelt? Ich sag’s immer, wie’s ist, das wissen gnä’ Frau. Und so sag ich jetzt: Was die gnä’ Frau da dem Heinz erzählt hat, das kann nicht wahr sein! Die gnä’ Frau und der gnä’ Herr haben die beste Ehe von der Welt geführt, ich weiß das, ich war doch dabei all die Jahr’! Nie werd ich das glauben! Nie! Und es ist auch nicht wahr!«
»Nein«, antwortete Valerie, gleichfalls flüsternd, »nein, Agnes. Natürlich ist es nicht wahr.«
19
Agnes Peintinger blinzelte. Sie schüttelte den Kopf. Sie kam näher. Sie fragte leise: »Aber warum haben gnä’ Frau es dann gesagt?«
»Ja«, rief Landau unbeherrscht, »wenn du immerhin …«
»Warte!«
Er verstummte unter Valeries Blick.
»Weil ich den Jungen retten will, Agnes, darum habe ich es gesagt. Weil ich den Jungen retten muß!« Sie wies nach dem Brief, der auf einem Tisch liegengeblieben war. »Schirach, der die geeigneten Schritte gegen meinen Sohn anordnen wird!« Ihre Gestalt krümmte sich. Sie zeigte einen Moment lang die Zähne wie die Tiermutter, die um ihr Junges kämpft. »Habt ihr das schon vergessen?«
»Ich …«, begann Martin Landau und wurde wieder unterbrochen.
»Dir danke ich, Martin. Sehr danke ich dir! Nie werde ich dir das vergessen.« Valerie sprach herzlich und sehr bewegt.
»Der arme Junge«, stammelte Martin verlegen. »Was soll man denn …«
»Ich muß diesen Prozeß jetzt führen, Agnes.« Valerie sprach schnell weiter: »Nur so schütze ich Heinz vor den Nazis, diesen Mördern, nur so bringe ich ihn noch durch! Glauben Sie, mir ist das eben leichtgefallen? Und glauben Sie, mir wird das leichtfallen, was ich jetzt noch alles tun und sagen muß? Aber es gibt keinen anderen Weg! Und mein Paul, Ihr verehrter gnädiger Herr, der ist einverstanden mit dem, was ich mache! Der will es sogar, schon lange will er es!«
»Woher wissen gnä’ Frau das?« fragte die kleine Wirtschafterin sehr unruhig.
»Ich habe Nachricht von ihm bekommen … aber nie darüber reden! Ich werde es tun, und ihr zwei, ihr müßt mir dabei helfen!«
»Guter Gott«, murmelte Landau.
»Warum hast du denn gesagt, ja, du bist der richtige Vater?«
»Weil … wenn du schon … da gab es doch immerhin gar keine andere … Herrgott, was hätte ich denn sagen sollen?« rief er.
»Unsinn! Du hast es gesagt, weil du ein guter Mensch bist. Und Sie, Agnes, Sie sind auch ein guter Mensch, das wissen wir alle. Sie werden mir helfen, nicht wahr?«
»Freilich, gnä’ Frau, wenn gnä’ Frau glauben, es muß sein, natürlich helfe ich, nur …« Die Agnes brach ab, seufzte und sah zu Boden.
»Nur was?«
Den Blick gesenkt, flüsterte die Agnes: »Wenn gnä’ Frau einen Prozeß anfangen, werden die mich fragen vor Gericht?«
»Natürlich. Sie werden eine ganz wichtige Zeugin sein.«
»Und ich muß dann so antworten, daß es ausschaut, als ob die gnä’ Frau wirklich den gnä’ Herrn betrogen hat mit dem Herrn Landau?«
»Selbstverständlich! So müssen Sie antworten. Wir überlegen uns das alles, ich weiß auch schon einen Anwalt, zu dem gehe ich so bald wie möglich, und der wird mir sagen, was wir tun müssen, was wir sagen müssen. Keine Angst, Agnes, ganz genau werden Sie wissen, was die besten Antworten sind, noch bevor Sie gefragt werden. Warum schauen Sie immer auf den Boden?«
»Weil es nicht das ist«, flüsterte die Agnes.
»Was ist es denn?«
»Wenn ich das alles sag, dann sind das doch lauter Lügen!«
»Aber Sie belügen die Nazis, Agnes, Sie belügen diese gottlosen Schweine, um den Heinz zu retten. Das ist doch nicht richtiges Lügen. Das ist doch …«
Die Agnes hob langsam den Kopf, sie sagte sehr leise, sehr langsam und sehr ernst: »Ich bin nur ein dummer Trampel vom Land, gnä’ Frau, aber das weiß ich: Es gibt nicht solche und solche Lügen vor dem Allmächtigen. Es gibt nur die Lüge!«
»Es gibt Notlügen!«
»Die werden mich doch alles beschwören lassen, gnä’ Frau! Was war das? Die Tür vom Heinzi? Nein. Ich hör schon Gespenster. Die werden es mich doch beschwören lassen! Und das gibt es nicht, einen Notmeineid! Und ein Meineid ist eine Todsünde!«
»Agnes, seien Sie vernünftig! Es geht hier um ein Menschenleben! Und da wollen Sie mir nun doch nicht helfen?«
Die Agnes flüsterte betrübt: »Ich will! Ich will! Aber vorher muß ich mit meinem Geistlichen Herrn reden und ihm alles erzählen!«
Valerie flüsterte: »Also gut, gehen Sie zu Ihrem Pfarrer. Erzählen Sie ihm alles. Natürlich müssen Sie sich mit ihm aussprechen, wenn Sie allein nicht fertig werden mit dieser Sache.«
Die Agnes fuhr sich mit der Hand über die Augen. Leise sagte sie: »Sind das Zeiten, lieber Gott, sind das schreckliche Zeiten. Der Hitler, dieser Hund! Und der gute gnädige Herr so weit weg …«
Mit einem Stöhnen wandte Martin Landau sich plötzlich ab.
»Was hast du?« fragte Valerie.
Er antwortete nicht.
»Martin, was ist?«
Stoßweise und schwer verständlich kamen seine Worte: »Und ich in der Partei … Und die Tilly … Ich … Jetzt trau ich mich nicht mehr nach Hause!«
20
Ottilie Landaus Stimme klang schrill vor Empörung: »Einmal läßt man dich aus den Augen, schon stellst du so etwas an! Was hast du dir dabei gedacht? In welch eine Geschichte willst du dich denn da einlassen? Martin, bist du noch normal?«
Fast eineinhalb Stunden hatten Martin Landau und Valerie Steinfeld benötigt, um die Gloriettegasse zu erreichen.
In der großen Diele der 1892 erbauten Villa, die immer noch in dem dunklen, massigen Stil der Vor-Jahrhundertwende eingerichtet war – genau, ganz genau wie zu Lebzeiten der Eltern –, hatte Valerie dann erzählt, weshalb sie so spät kamen. Tilly war elegant, aber nach einer Mode von vorgestern gekleidet. Sie hatte schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar, ein schmales Gesicht, ausdrucksvolle dunkle Augen, eine etwas zu groß geratene, etwas zu spitze Nase und einen kleinen, sehr schmallippigen Mund. Heftiger und heftiger bewegt war sie unter dem großen Bild einer architektonisch getreuen Stadtansicht Wiens im Jahre 1758, vom Belvedere aus gesehen, hin und her geschritten.
Hatte schweigend gelauscht, die Tilly, war, nach Ende des Berichts, mit verschränkten Armen unter dem Gemälde stehengeblieben und erst nach einer kurzen Weile über ihren Bruder hergefallen, der beklommen und hilflos wie immer auf einem mit Leder überzogenen, hochlehnigen Stuhl hockte.
»… wenn Valerie sich mit den Nazis einlassen will – bitte, das ist ihre Sache! Es ist ihr Sohn. Sie muß wissen, was sie tut!«
»Ich weiß es auch«, rief Valerie erregt, weil Ottilie von ihr wie von einer nicht Anwesenden, in der dritten Person, sprach.
Tilly beachtete die Unterbrechung nicht.
»Aber ein Mann wie du? Ein Mann, der schon Angst hat, wenn es morgens um sieben läutet? Ja, kennst du denn überhaupt die Nazis wirklich, diese Saubande? Weißt du, was die mit dir machen?« Tilly lief wieder in der Diele auf und ab. »Ich bin wahrhaftig eine Anti-Nazi! Ich hasse dieses dreckige Pack! Aber«, fuhr sie fort, und ihre Stimme wurde plötzlich weich, »diesem Pack bist du doch nie gewachsen, nie im Leben, mein armer Martin! Wenn die dich bei einer einzigen Vernehmung scharf anfassen – und das werden sie, verlaß dich drauf! –, dann kippst du doch um, dann brichst du doch zusammen!«
»Ich werde nicht zusammenbrechen!« rief er trotzig und halbherzig, schrecklich halbherzig, die Schulter hochgezogen, den Kopf schief. »Ich muß Valerie jetzt helfen, das ist meine Pflicht! Sehr einfach, zu sagen, daß man die Nazis haßt – und nichts gegen die Nazis zu tun! Valerie ist immerhin unsere älteste Freundin, wir dürfen sie jetzt nicht im Stich lassen!« Er sah die älteste Freundin der Geschwister Landau an, als wollte er sagen: Da hast du es. Ich wußte ja, warum ich mich nicht nach Hause wagte.
»Valerie!« rief Tilly. »Valerie mit ihrem Wahnsinnsplan! Entschuldige, meine Liebe, aber niemals, hörst du, niemals kann das gutgehen, was du vorhast! Verbrecher sind die Nazis! Die größten Verbrecher der Geschichte! Mörder, Schweine, Schufte, Lumpen – aber eines sind sie nicht: dumm! Dumm sind die nicht! Und du, eine Frau allein, willst es mit dieser Brut aufnehmen?«
»Ja«, sagte Valerie.
»Dann wirst du Unglück bringen über dich und Heinz und alle, die da mitmachen!« rief Martins Schwester leidenschaftlich. »Unglück, Unglück, ich weiß es genau! Wie wird es enden? Was erwartet euch? Gefängnis, Zuchthaus, KZ, der Galgen …«
»Galgen …«, stammelte ihr Bruder.
»Jawohl, vielleicht sogar der Galgen! Kennst du diese Pest? Weißt du, wie sie so etwas bestrafen, wenn sie euch erst einmal der Lüge überführt haben? Es tut mir leid, Valerie. Aber ich nehme nichts zurück, kein Wort. Ich bin verantwortlich für Martin, unserer Mutter habe ich versprochen, daß ich ihn beschütze, immer. Du kennst ihn. Du weißt, wie er ist.« Nun sprach sie, als sei ihr Bruder abwesend. »Weltfremd, hilflos ist er. Und du? Du nimmst keine Rücksicht darauf! Nicht die geringste Rücksicht nimmst du! Du reißt Martin mit hinein in diesen Irrsinn! Du bringst ihn dazu, einen Meineid zu schwören, zu lügen, du, du …«
Martin stand langsam auf. Er sagte, die Augen ins Leere gerichtet, ruhig und sehr deutlich: »Es wird keine Lüge sein, Tilly. Es wird kein Meineid sein. Ich bin wirklich der Vater von Heinz.«
Tilly taumelte gegen eine alte Kommode zurück.
»Was … was?« krächzte sie.
Es ist das Aufbegehren gegen eine lebenslange Bevormundung, dachte Valerie. Sie hat ihm nun einmal zu oft gesagt, daß er lebensuntüchtig, verloren und hilflos ist ohne ihren Schutz. Er will es nicht mehr hören.
Er will beweisen, was er tun kann – ohne sie! Welch ein Glück ich habe …
»Jawohl!« rief Martin Landau, plötzlich verblüffend sicher und entschlossen. »Jawohl, ich bin der Vater von Heinz! Ich habe Paul mit Valerie betrogen!«