Wenige Tage später saßen Katia und Arkad im Garten von Nikolskoi auf einer Bank im Schatten einer alten Esche; Fifi lag neben ihnen auf dem Boden, in jener graziösen Biegung des schlanken Leibes, welche von den russischen Jägern wegen der Ähnlichkeit mit der des großen Steppenhasen »Rußkalage« getauft ist. Arkad und Katia schwiegen beide; er hielt ein halbgeöffnetes Buch in der Hand, sie sammelte Brotkrümchen auf dem Boden ihres Korbes und warf sie einer kleinen Spatzenfamilie hin, welche mit der für sie bezeichnenden furchtsamen Frechheit zwitschernd bis an ihren Fuß herangehüpft war. Ein leichter Wind, der in den Blättern des Baumes spielte, trieb abwechselnd über die Allee und über den gelben Rücken Fifis Flecken goldenen Lichtes hin, während Arkad und Katia sich in eintönigem Schatten befanden; nur in seltenen Zwischenräumen erschien ein leuchtender Punkt, lebhaft wie eine Flamme, auf den Haaren des jungen Mädchens. Beide schwiegen, aber die Art, wie sie schwiegen, eines neben dem anderen sitzend, zeugte von vollkommener Harmonie; keins von beiden schien das andere zu beachten, während es sich doch glücklich fühlte, an seiner Seite zu sitzen. Ihre Züge sogar hatten sich verändert, seit wir sie verlassen haben; Arkad schien ruhiger, Katia belebter und kühner.
»Finden Sie nicht, daß die Esche auf russisch einen bezeichnenden Namen hat; ich kenne keinen Baum, dessen Laubwerk so leicht und durchsichtig ist.«
Katia blickte langsam auf und erwiderte:
»Ja.«
Und Arkad dachte: die tadelt mich wenigstens nicht, wenn ich mich poetisch ausdrücke.
»Heine,« sagte Katia mit einem Blick auf das Buch, das Arkad auf den Knien hatte, »Heine lieb ich nicht, weder wenn er lacht, noch wenn er weint. Ich lieb ihn, wenn er traurig und träumerisch ist.«
»Und ich, ich lieb ihn, wenn er lacht,« antwortete Arkad.
»Das ist ein alter Rest der satirischen Richtung Ihres Geistes.«
»Ein alter Rest!« dachte Arkad, »wenn Bazaroff das hörte.«
»Warten Sie nur, wir werden Sie schon ändern.«
»Wer das? Sie?«
»Wer? meine Schwester; Porphyr Platonitsch, mit dem Sie bereits nicht mehr streiten; meine Tante, die Sie vorgestern zur Kirche begleitet haben.«
»Ich konnte das nicht abschlagen! und Anna Sergejewna – von der wissen Sie, daß sie in vielen Punkten mit Eugen übereinstimmte.«
»Meine Schwester stand damals unter seinem Einfluß, so gut wie Sie.«
»So gut wie ich? haben Sie denn bemerkt, daß ich mich diesem Einfluß schon entzogen habe?«
Katia antwortete nichts.
»Ich weiß,« fuhr Arkad fort, »daß er Ihnen immer mißfallen hat.«
»Ich habe kein Urteil über ihn.«
»Wissen Sie was, Katharina Sergejewna? jedesmal wenn ich diese Antwort höre, glaube ich nicht daran. Meines Erachtens ist niemand zu hoch für unser Urteil. Das ist ganz einfach eine Ausrede.«
»Nun wohl! Ich will Ihnen sagen, daß er mir nicht geradezu mißfällt, aber ich fühle, daß wir zwei verschiedenen Welten angehören, und daß auch Sie im Grund ihm völlig fremd sind.«
»Warum das?«
»Wie soll ich sagen... er ist ein Raubvogel; er ist wild, und Sie und ich, wir sind gezähmt.«
»Auch ich, ich wäre gezähmt?«
Katia nickte bejahend.
Arkad kraute sich hinter dem Ohr.
»Wissen Sie, Katharina Sergejewna, daß das, was Sie mir da sagen, ein wenig beleidigend ist?«
»Möchten Sie lieber ein Raubvogel sein?«
»Nein, aber ich möchte stark und energisch sein.«
»Das hängt nicht von uns ab; Ihr Freund wills nicht sein, und doch ist ers.«
»Hm! also meinen Sie, daß er einen großen Einfluß auf Anna Sergejewna habe?«
»Ja! aber niemand kann sie lange beherrschen,« fügte Katia leise hinzu.
»Woraus schließen Sie das?«
»Sie ist sehr stolz... oder nein, das wollte ich nicht sagen, sie hält viel darauf, unabhängig zu sein.«
»Darauf hält jeder von uns,« antwortete Arkad, fragte sich aber gleich darauf: »Wozu nützt es?« Katia hatte denselben Gedanken. Wenn sich junge Leute oft sehen, kommen ihnen die gleichen Gedanken im gleichen Augenblick.
Arkad lächelte, und, zu Katia geneigt, sagte er:
»Gestehen Sie, daß Sie sie ein wenig fürchten.«
»Wen?«
»Nun – sie,« erwiderte Arkad mit bedeutungsvollem Ausdruck.
»Und Sie?« sagte dagegen Katia.
»Und ich auch; merken Sie, was ich sage: und ich auch.«
Katia erhob drohend den Finger.
»Das überrascht mich,« sagte sie; »nie war meine Schwester Ihnen so zugetan, wie gegenwärtig; sie wars viel weniger bei Ihrem ersten Besuch.«
»Wahrhaftig?«
»Haben Sie's nicht bemerkt? Das ist Ihnen nicht angenehm?«
Arkad wurde nachdenklich.
»Wodurch habe ich mir die Gewogenheit Anna Sergejewnas erworben? Vielleicht weil ich ihr Briefe von Ihrer Mutter gebracht?«
»Ja; aber noch aus anderen Gründen, die ich Ihnen nicht sagen werde.«
»Warum?«
»Ich werde sie Ihnen nicht sagen.«
»Oh, ich zweifle keineswegs daran, Sie sind sehr eigensinnig.«
»Eigensinnig? das ist wahr.«
»Und Sie beobachten sehr scharf.«
Katia blickte Arkad von der Seite an.
»Hat Sie vielleicht etwas verstimmt? An was denken Sie?«
»Ich frage mich, woher Sie Ihr Beobachtungstalent haben. Sie sind so furchtsam, so mißtrauisch; Sie vermeiden jedermann...«
»Ich habe viel allein gelebt, das lehrt uns nachdenken wider Willen. Aber Sie sagen, daß ich jedermann fliehe; haben Sie das Recht, dies zu sagen?«
Arkad warf Katia einen dankbaren Blick zu.
»Sie haben recht,« erwiderte er; »aber Leute in Ihrer Lage, das heißt reiche Leute, haben selten Beobachtungstalent; gleich den gekrönten Häuptern kommt ihnen die Wahrheit nur durch Zufall.«
»Aber ich bin nicht reich.«
Arkad blieb ganz erstaunt und verstand sie zuerst nicht.
»In der Tat, das ganze Vermögen gehört ihrer Schwester,« dachte er endlich, und dieser Gedanke war ihm durchaus nicht unangenehm. – »Wie gut Sie das gesagt haben,« setzte er laut hinzu.
»Wie meinen Sie das?«
»Sie haben es gut gesagt: ohne gemachte Einfachheit, ohne falsche Scham und ohne Ziererei. Ich denke mir nämlich, daß jeder, der weiß und sagt, daß er arm ist, etwas wie Stolz empfinden muß.«
»Ich habe nichts dergleichen empfunden, dank meiner Schwester; ich weiß nicht, wie es kam, daß ich mit Ihnen von meiner Lage gesprochen habe.«
»Sei's; aber gestehen Sie, daß das fragliche Gefühl, ich wollte sagen, der Stolz, Ihnen nicht ganz und gar fremd ist.«
»Wie das?«
»Zum Beispiel, und ich hoffe, daß meine Frage Sie nicht beleidigt, könnten Sie sich entschließen, einen reichen Mann zu heiraten?«
»Wenn ich ihn sehr liebte... aber nein, ich glaube, daß ich ihn selbst in dem Falle nicht heiraten würde.«
»Ah! sehen Sie,« rief Arkad, »und warum könnten Sie sich nicht dazu entschließen?«
»Weil selbst die Lieder von einer ungleichen Heirat abraten.«
»Sie lieben vielleicht zu herrschen, oder...«
»O nein, wozu taugt es? Im Gegenteil, ich wäre gern bereit, mich zu unterwerfen, aber die Ungleichheit scheint mir etwas Unerträgliches. Sich selbst achten und sich unterwerfen, ich begreif es, das ist das Glück; aber die Ungleichheit, ein Leben voll Unterordnung... nein, das hab ich satt.«
»Sie haben es satt,« wiederholte Arkad, »ja so! Sie haben nicht umsonst dasselbe Blut in den Adern, wie Anna Sergejewna. Sie haben denselben Unabhängigkeitssinn, wissen sich aber besser zu verstellen. Ich bin überzeugt, daß Sie nie zuerst eine Neigung eingestehen würden, wie heilig und mächtig sie auch wäre...«
»Aber das scheint mir doch ganz natürlich,« sagte Katia.
»Sie sind beide klug; Sie haben ebensoviel und vielleicht mehr Charakter als jene.«
»Vergleichen Sie mich nicht mit meiner Schwester, ich bitte Sie,« versetzte Katia hastig, »da bin ich zu sehr im Nachteil. Sie scheinen vergessen zu haben, daß meine Schwester alles für sich hat, Schönheit, Geist und... Sie besonders, Arkad Nikolaitsch, Sie sollten so was gar nicht sagen, und dazu noch in so ernstem Ton.«
»Was verstehen Sie unter dem ›Sie besonders‹, und weshalb setzen Sie voraus, daß ich scherze?«
»Gewiß scherzen Sie.«
»Glauben Sie? und wenn ich meiner Sache gewiß wäre, wenn ich sogar glaubte, noch viel mehr sagen zu können?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»In der Tat? Nun ich sehe, daß ich Ihr Beobachtungstalent zu hoch gerühmt habe.«
»Wieso?«
Arkad antwortete nichts und wandte sich ab; Katia fand noch einige Krümchen in ihrem Korb und wollte sie den Sperlingen zuwerfen. Aber der Schwung, den sie ihrer Hand gab, war zu stark, und die Vögel flogen davon, ohne etwas aufzupicken.
»Katharina Sergejewna,« nahm Arkad plötzlich das Wort, »es ist Ihnen ohne Zweifel gleichgültig, aber ich muß Ihnen sagen, daß ich Sie nicht allein Ihrer Schwester, sondern jedem, wer es auch sei auf der Welt, vorziehe...«
Damit stander plötzlich auf und entfernte sich mit raschen Schritten, als ob er über die Worte erschrocken wäre, die er ausgesprochen hatte.
Katia ließ ihre beiden Hände und das Körbchen auf ihre Knie sinken, neigte den Kopf und blickte Arkad lange nach. Eine leichte Röte färbte allmählich ihre Wangen, aber ihr Mund lächelte nicht, und ihre Augen drückten ein gewisses Erstaunen aus; man sah, daß sie zum erstenmal ein Gefühl empfand, dessen Name ihr noch unbekannt war.
»Du bist allein?« fragte neben ihr Frau Odinzoff, »ich glaubte, Arkad hätte dich begleitet.«
Katia schlug die Augen zu ihrer Schwester auf, welche, mit Geschmack, selbst mit Eleganz gekleidet, grad aufrecht in der Allee stand und mit der Spitze ihres Sonnenschirms die Ohren Fifis berührte.
»Ganz allein,« sagte Katia.
»Ich seh es wohl,« erwiderte ihre Schwester lachend; »er ist also auf sein Zimmer gegangen?«
»Ja!«
»Ihr habt zusammen gelesen?«
»Ja!«
Frau Odinzoff nahm Katia am Kinn und hob ihr den Kopf in die Höhe.
»Ich hoffe nicht, daß ihr in Streit geraten seid?«
»Nein,« erwiderte Katia, indem sie die Hand ihrer Schwester sanft entfernte.
»Wie ernst du mir antwortest! Ich glaubte ihn hier zu finden und wollte ihm einen Spaziergang vorschlagen. Er hat mich schon lange darum gebeten. Man hat deine Stiefeletten aus der Stadt gebracht, geh und probiere sie an. Ich habe gestern bemerkt, daß du sie nötig hast; die, welche du trägst, sind abgebraucht. Ich finde, daß du dich in dieser Beziehung sehr vernachlässigst, und doch hast du einen reizenden Fuß! Deine Hand ist auch schön... aber sie ist ein wenig groß, deshalb müßtest du mehr Aufmerksamkeit auf deine Füße wenden, aber du bist nicht kokett.«
Frau Odinzoff entfernte sich, indem sie ihr elegantes Kleid leicht dahinrauschen ließ. Katia stand von der Bank auf, nahm den Band Heine und ging ins Haus zurück; sie probierte jedoch die Stiefeletten nicht an.
»Ein reizender Fuß,« dachte sie, während sie leicht und langsam die Terrasse hinaufging, deren Stufen die Sonne erwärmt hatte. – »Nun, er wird bald zu meinen reizenden Füßen liegen.«
Fast sogleich aber überkam sie ein Gefühl von Scham, und sie lief rasch ins Haus hinein.
Arkad ging den Korridor entlang nach seinem Zimmer; der Haushofmeister kam ihm nach und meldete ihm, daß ihn Bazaroff erwarte.
»Eugen!« rief er fast erschrocken, »ist er schon lange angekommen?«
»In dieser Minute; aber er hat befohlen, Anna Sergejewna seine Ankunft nicht zu melden, und er hat sich sofort auf Ihr Zimmer führen lassen.«
»Sollte es zu Hause ein Unglück gegeben haben?« dachte Arkad, stieg eiligst die Treppe hinan und riß die Tür weit auf.
Kaum hatte er Bazaroff erblickt, als er sich beruhigte, obgleich einem geübteren Auge ohne Zweifel der Ausdruck innerer Aufregung in den immer energischen, aber etwas abgemagerten Zügen seines Freundes nicht entgangen wäre. Er saß auf dem Fenstersims, den staubbedeckten Mantel um die Schultern und die Mütze auf dem Kopfe; er rührte sich nicht, sogar als sich ihm Arkad um den Hals warf und einen Freudenschrei ausstieß.
»Das ist einmal eine Überraschung! durch welchen Zufall?« wiederholte dieser, im Zimmer auf und ab gehend wie einer, der sich einbildet, entzückt zu sein, und es zu verstehen geben will. – »Wie stehts zu Hause? hoffentlich befinden sich alle wohl und ist alles in Ordnung?«
»In Ordnung ist alles, aber nicht alle befinden sich wohl,« antwortete Bazaroff. »Nun sei nur ruhig, laß mir ein Glas Kwaß bringen, setz dich und höre, was ich dir in wenig Worten, aber hoffentlich hinreichend klar und deutlich sagen werde.«
Arkad wurde ruhig, und Bazaroff erzählte ihm sein Duell mit Paul Petrowitsch. Arkad war sehr erstaunt, sogar ergriffen davon, hielt aber nicht für nötig, das kundzugeben. Er fragte bloß, ob die Wunde seines Onkels wirklich ungefährlich sei, und als Bazaroff ihm antwortete, sie sei sehr interessant, aber durchaus nicht vom medizinischen Gesichtspunkte aus, zwang er sich zu einem Lächeln, empfand jedoch in seinem Innersten etwas wie Scham und Schrecken. Bazaroff schien sehr wohl zu verstehen, was in seinem Freunde vorging.
»Ja ja,« sagte er, »so ists, wenn man unter einem adeligen Dache lebt, man nimmt selber die Gewohnheiten des Mittelalters an, man wird ein Raufbold. Ich will jetzt die Alten wieder besuchen, habe aber unterwegs angehalten... um dir die ganze Geschichte zu beichten, könnte ich sagen, wenn ich nicht eine unnütze Lüge für eine Dummheit hielte. Nein, ich bin hierhergekommen, der Teufel weiß, warum! Siehst du! es ist manchmal gut, sich beim Schopf zu fassen und sich rauszureißen, wie eine Rübe aus der Rabatte, und das ists, was ich jetzt getan habe... Es hat mich aber die Lust angewandelt, zum letztenmal die Stelle zu sehen, die ich verließ, die Rabatte, in der ich Wurzel geschlagen hatte.«
»Ich hoffe, daß diese Worte nicht mir gelten,« sagte Arkad in bewegtem Ton; »ich hoffe nicht, daß du beabsichtigst, dich von mir zu trennen?«
Bazaroff sah ihn fest und durchdringend an.
»Du, sollte dir das wahrhaftig Kummer machen? Mir scheint, daß du dich bereits von mir getrennt hast. Du bist so frisch, so sauber... Ich vermute, deine Sachen mit Frau Odinzoff gehn wunderschön.«
»Welche Sachen meinst du?«
»Hast du nicht um ihretwegen die Stadt verlassen, mein Vögelchen? Apropos, wie stehts mit den Sonntagsschulen dort? Bist du etwa nicht verliebt, oder bist du schon in der Periode der Ehrbarkeit angelangt?«
»Eugen, du weißt, daß ich immer offen mit dir war; nun, ich schwöre dir, ich nehme Gott zum Zeugen, daß du im Irrtum bist.«
»Hm! Gott zum Zeugen... Das ist ein neuer Ausdruck,« sagte Bazaroff halblaut; »warum nimmst du die Sache so pathetisch? Mir ists vollkommen gleichgültig; ein Romantiker würde sagen: ich fühle, daß unsere Wege sich zu scheiden anfangen; ich beschränke mich zu sagen, daß wir uns einander zum Überdruß satt haben.«
»Eugen...«
»Das Unglück ist nicht groß, mein Teurer, man bekommt noch ganz andere Dinge satt im Leben. Jetzt, glaub ich, könnten wir auseinandergehen. Seitdem ich hier bin, ist mirs ganz herzbrecherisch zumut, wie wenn ich mich an den Briefen Gogols an die Frau des Gouverneurs von Kaluga vollgestopft hätte. Ich habe die Pferde nicht ausspannen lassen.«
»Wo denkst du hin! Das ist unmöglich!«
»Und warum?«
»Von mir gar nicht zu reden, bin ich überzeugt, daß Frau Odinzoff es im höchsten Grad unschicklich finden würde, denn ganz sicher wünscht sie, dich zu sehen.«
»Was das betrifft, so bist du, denk ich, im Irrtum.«
»Ich bin im Gegenteil sicher, daß ich recht habe,« antwortete Arkad. »Wozu die Verstellung? Bist du, weil wir einmal auf dies Kapitel gekommen sind, nicht um ihretwegen hierhergekommen?«
»Vielleicht; aber du bist darum nicht weniger im Irrtum.«
Arkad hatte gleichwohl recht. Frau Odinzoff wünschte Bazaroff zu sehen und ließ es ihm durch den Haushofmeister sagen. Bazaroff kleidete sich um, um zu ihr zu gehen; sein neuer Frack war im Koffer obenauf gepackt, so daß man ihn herausnehmen konnte, ohne etwas in Unordnung zu bringen.
Frau Odinzoff empfing Bazaroff nicht in dem Zimmer, wo er ihr seine Liebe so unvermutet erklärt hatte, sondern im Salon. Sie reichte ihm mit herzlichem Ausdruck die Fingerspitzen, ihr Gesicht verriet jedoch einen unwillkürlichen Zwang.
»Anna Sergejewna,« sagte Bazaroff rasch, »vor allem muß ich Sie beruhigen. Sie sehen einen Sterblichen vor sich, der vollkommen wieder zur Vernunft gekommen ist, und der hofft, daß die andern seine Dummheiten vergessen haben. Ich verreise auf lange Zeit, und obgleich ich nicht sentimental bin, wie Sie wissen, wär mir der Gedanke doch peinlich, daß Sie sich meiner mit Mißfallen erinnern...«
Frau Odinzoff atmete tief auf, wie jemand, der den Gipfel eines hohen Berges erreicht hat, und ein leichtes Lächeln belebte ihre Züge. Sie reichte Bazaroff nochmals die Hand, und als er sie drückte, erwiderte sie diesen Druck.
»Möge derjenige von uns, der auf das Vergangene zurückkommt, eins seiner Augen verlieren,« sagte sie zu ihm, »um so mehr, als, ehrlich gestanden, ich selber damals auch gesündigt habe, wenn nicht aus Koketterie, so doch in irgendeiner anderen Weise. Mit einem Wort, lassen Sie uns Freunde sein wie zuvor, das Ganze war nur ein Traum, nicht wahr, und wer erinnert sich eines Traums?«
»Wer erinnert sich dessen! Überdem ist die Liebe eine gemachte Empfindung.«
»In der Tat? Es freut mich sehr, das zu erfahren.«
So redete Frau Odinzoff, so redete seinerseits Bazaroff; sie glaubten beide, wahr zu sein. Wie weit waren sie's, indem sie so redeten? Sie wußten es vermutlich selber nicht, und dem Verfasser ist es auch nicht bekannt. Aber die Unterhaltung nahm eine Wendung, die dafür zu sprechen schien, daß sie sich gegenseitig volles Vertrauen schenkten.
Frau Odinzoff fragte Bazaroff, was er bei den Kirsanoffs getan habe. Er war nahe daran, ihr sein Duell mit Paul Petrowitsch zu erzählen, der Gedanke hielt ihn jedoch zurück, daß sie ihn im Verdacht haben könnte, er wollte sich interessant machen, und so begnügte er sich zu sagen, er habe die Zeit mit Arbeiten zugebracht.
»Und ich,« erwiderte Frau Odinzoff, »ich habe zuerst den Spleen gehabt, Gott weiß, warum! ich war fast entschlossen, auf Reisen zu gehen; stellen Sie sich das vor! Ich habe mich jedoch allmählich wieder gefaßt; Ihr Freund Arkad ist erschienen, und ich bin wieder ins Geleise gekommen, in meine wahre Rolle.«
»Was ist das für eine Rolle, wenn man fragen darf?«
»Die Rolle einer Tante, Gouvernante, Mutter, wie Sie's nennen wollen. Apropos, wissen Sie, daß ich lange Ihre intime Freundschaft mit Arkad nicht begriffen habe; ich fand ihn ziemlich unbedeutend. Jetzt aber hab ich ihn kennen gelernt, und ich bin überzeugt, daß er sehr intelligent ist... und vor allem jung, sehr jung... Ach, wir sind es nicht mehr, Eugen Wassilitsch!«
»Schüchtert ihn Ihre Gegenwart noch immer so ein?« fragte Bazaroff.
»Ist denn?...« begann Frau Odinzoff, fuhr aber, sich plötzlich verbessernd, fort: »Er ist viel zutraulicher geworden und unterhält sich gern mit mir, früher hat er mich gemieden. Übrigens muß ich bekennen, daß auch ich seine Gesellschaft nicht suchte. Katia und er sind jetzt Freunde geworden.«
Bazaroff fühlte eine Aufwallung von Ungeduld. »Das Weib kann das Heucheln nicht lassen,« dachte er.
»Sie behaupten, er habe Sie gemieden,« versetzte er mit kaltem Lächeln, »aber die schüchterne Liebe, die Sie ihm eingeflößt, ist jetzt ohne Zweifel kein Geheimnis mehr für Sie?«
»Wie! auch er!« rief Frau Odinzoff unwillkürlich aus.
»Auch er,« wiederholte Bazaroff mit einer ehrerbietigen Verneigung. »Ist es möglich, daß Sie es nicht bemerkt haben und daß ich der erste bin, der Ihnen diese Neuigkeit mitteilt?«
Frau Odinzoff schlug die Augen nieder.
»Sie täuschen sich,« erwiderte sie.
»Ich glaub es nicht, aber ich hätte vielleicht schweigen sollen.«
Bazaroff dachte dabei: »Das wird dich lehren, die Heuchlerin zu spielen.«
»Warum hätten Sie nicht davon reden sollen? Ich glaube jedoch, daß Sie auch in diesem Falle einem vorübergehenden Eindruck eine zu große Bedeutung beigelegt haben. Ich fange an zu vermuten, daß Sie zur Übertreibung neigen.«
»Sprechen wir von etwas anderem, Madame.«
»Warum denn?« erwiderte sie, was sie jedoch nicht hinderte, auf einen anderen Gegenstand der Unterhaltung überzugehen.
Sie fühlte sich immer etwas unbehaglich Bazaroff gegenüber, obgleich sie sich eingeredet hatte, daß alles vergessen sei, wie sie ihn versichert. Bei der einfachsten Unterhaltung mit ihm, im Scherze sogar, empfand sie ein leises Gefühl von Furcht. So plaudert und scherzt man auf einem Dampfschiff auf hoher See, geradeso sorglos wie auf dem festen Lande; aber beim geringsten widrigen Zufall, beim kleinsten unvorhergesehenen Umstand ist auf allen Gesichtern eine eigentümliche Unruhe zu lesen, welche das fortwährende Bewußtsein einer fortwährenden Gefahr verrät.
Die Unterhaltung zwischen Frau Odinzoff und Bazaroff dauerte nicht lange. Anna Sergejewna wurde immer ernster, sie gab zerstreute Antworten und lud ihn schließlich ein, mit ihr in den Salon zu gehen. Sie fanden dort die Fürstin und Katia.
»Wo ist denn Arkad Nikolajewitsch?« fragte Frau Odinzoff. Als sie hörte, daß er schon seit einer Stunde verschwunden sei, schickte sie nach ihm.
Nachdem man in allen Richtungen gesucht hatte, fand man ihn endlich auf einer Bank am Ende des Gartens das Kinn in seine Hände gestützt, in tiefes Nachdenken versunken. Die Gedanken, welche den Gegenstand desselben bildeten, waren ernst, aber keineswegs traurig.
Er wußte, daß Frau Odinzoff mit Bazaroff allein war, und empfand nicht die mindeste Eifersucht; er sah im Gegenteil sehr heiter aus; er schien entschlossen, etwas zu tun, das ihn erfreute und verwunderte zu gleicher Zeit.
Der Gatte der Frau Odinzoff war kein Freund von Neuerungen gewesen, aber immer bereit, »den weisen Eingebungen eines geläuterten Geschmacks« nachzukommen, und infolge dieser Neigung hatte er in dem Garten zwischen der Orangerie und dem Weiher eine Art griechischer Säulenhalle von Backsteinen errichten lassen. Die Wand, welche den Hintergrund dieses Baues bildete, enthielt sechs zur Aufnahme von Statuen bestimmte Nischen, welche Herr Odinzoff vom Ausland kommen lassen wollte. Diese Statuen sollten die Einsamkeit, das Schweigen, das Nachdenken, die Schwermut, die Scham und das Zartgefühl vorstellen. Eine davon, die Göttin des Schweigens, mit dem Finger auf den Lippen, war angekommen und aufgestellt; aber gleich am Tage der Aufstellung schlugen ihr Gassenjungen die Nase ab, und obgleich ein benachbarter Stubenmaler sich anheischig gemacht hatte, ihr wieder eine »doppelt so schöne Nase« anzusetzen, ließ sie Herr Odinzoff doch wegnehmen, und man stellte sie in die Ecke einer Tenne, wo sie zum großen Schrecken abergläubischer Bäuerinnen stehenblieb. Seit vielen Jahren hatte dichtbelaubtes Gebüsch die Vorderseite der Halle überwachsen. Nur die Säulenkapitäle überragten noch die lebendige grüne Mauer. In der Säulenhalle war es immer sehr kühl, selbst während der heißesten Jahreszeit.
Anna Sergejewna liebte den Ort nicht mehr, seit sie dort auf eine Natter gestoßen war; Katia aber kam oft und setzte sich auf eine große Steinbank, welche unter einer der Nischen stand. Von der schattigen Kühle umfangen, las und arbeitete sie oder überließ sich dem süßen und sanften Gefühl einer tiefen Stille, ein Gefühl, das jeder kennt und dessen Reiz darin besteht, schweigend und fast unwillkürlich dem mächtigen Lebensstrom zu lauschen, der sich beständig rings um uns und in uns ergießt.
Am Morgen nach Bazaroffs Ankunft saß Katia auf ihrer Lieblingsbank, und Arkad befand sich wieder an ihrer Seite. Sie hatte eingewilligt, mit ihm nach der Säulenhalle zu gehen. Es war nur noch eine Stunde bis zum Frühstück; die Hitze des Tages hatte die Morgenfrische noch nicht vertrieben. Arkads Gesicht hatte den gleichen Ausdruck wie tags zuvor; Katia schien befangen. Ihre Schwester hatte sie gleich nach dem Tee in ihr Kabinett gerufen und ihr, nach einigen Liebkosungen, die Katia immer etwas erschreckten, den Rat gegeben, in ihrem Betragen gegen Arkad etwas behutsamer zu sein und namentlich das Alleinsein mit ihm zu vermeiden, da diese allzu häufigen »à part« der Tante und dem ganzen Haus auffielen. Zudem war Anna Sergejewna schon abends zuvor schlecht aufgelegt gewesen, und Katia selber war in Unruhe, als ob sie sich etwas vorzuwerfen hätte. Als sie daher dem Wunsche Arkads willfahrte, hatte sie sich gelobt, daß dies das letztemal sein sollte.
»Katharina Sergejewna,« sagte plötzlich Arkad mit einer unbeschreiblichen Mischung von Sicherheit und Befangenheit, »seitdem ich das Glück habe, mit Ihnen unter einem Dach zu leben, habe ich schon über eine Menge Dinge mit Ihnen geplaudert, eine Frage aber nie berührt... die sehr wichtig für mich ist. Sie haben gestern bemerkt, daß man mich hier anders gemacht habe,« fügte er bei, indem er den fragenden Blick Katias zu gleicher Zeit suchte und vermied; »in der Tat habe ich mich auch in vielen Dingen geändert, und Sie wissen es besser als irgend jemand, wem ich in Wirklichkeit diese Veränderung verdanke.«
»Ich... Sie...« erwiderte Katia.
»Ich bin nicht mehr der anmaßende Bursche, der ich bei meiner Ankunft hier war,« versetzte Arkad; »nicht umsonst habe ich mein dreiundzwanzigstes Jahr hinter mir. Mein Gedanke ist immer noch, mich der Welt nützlich zu machen und alle meine Kraft der... dem Triumph der Wahrheit zu weihen; ich suche aber mein Ideal nicht mehr da, wo ich es ehemals suchte; es scheint mir... viel näher zu liegen. Bisher verstand ich mich selber nicht, ich befaßte mich mit Problemen, die über meine Kräfte gingen... Endlich sind mir die Augen aufgegangen, dank meinem Gefühl... Ich drücke mich vielleicht nicht ganz klar aus, aber ich hoffe, Sie verstehen mich.«
Katia antwortete nicht und sah Arkad nicht mehr an.
»Ich denke,« fuhr er mit erregter Stimme fort, während über seinem Haupte ein Buchfink sein sorgloses Lied in den Zweigen einer Birke sang, »ich denke, daß es Pflicht jedes ehrlichen Mannes ist, sich offen und freimütig in bezug auf die zu zeigen,... auf die, welche... mit einem Wort die, welche ihm teuer sind, und darum... bin ich entschlossen...«
Hier wurde Arkad von seiner Beredsamkeit im Stich gelassen; er verwickelte sich in seinen Phrasen, verlor die Fassung und mußte innehalten; Katia saß immer mit gesenkten Augen da; sie begriff nicht, wo er hinauswollte, und doch schien sie etwas zu erwarten.
»Ich sehe voraus, daß ich Sie überrasche,« fuhr Arkad fort, sobald er sich wieder gesammelt hatte, »um so mehr, als dies Gefühl gewissermaßen Bezug... gewissermaßen... wohlverstanden... auf Sie hat. Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir gestern Mangel an Ernst vorgeworfen haben,« fügte er hinzu mit der Miene eines Mannes, der, in einen Sumpf geraten, fühlt, daß er mit jedem Schritt tiefer einsinkt, und nichtsdestoweniger immer vorwärts geht, in der Hoffnung, rascher wieder herauszukommen. »Diesen Vorwurf macht man oft... jungen Leuten, selbst dann, wenn sie ihn nicht mehr verdienen... und wenn ich mehr Selbstvertrauen hätte...« Komm mir doch zu Hilfe! Komm! dachte Arkad in seiner Verzweiflung; aber Katia rührte sich nicht. »Und wenn ich hoffen könnte...«
»Wenn ich Ihren Worten Glauben schenken dürfte,« sagte plötzlich neben ihnen Frau Odinzoff mit ihrer ruhigen, klaren Stimme.
Arkad schwieg augenblicklich, und Katia erbleichte. Ein kleiner Fußpfad führte hart an dem Gebüsch vorüber, das die Halle verbarg; Frau Odinzoff hatte ihn mit Bazaroff eingeschlagen. Sie konnte weder von Katia noch Arkad gesehen werden, diese hörten aber ihre Worte und beinahe ihren Atem. Die Spaziergänger machten noch einige Schritte und blieben wie mit Absicht gerade vor der Halle stehn.
»Sehen Sie,« fuhr Frau Odinzoff fort, »Sie und ich, wir haben uns getäuscht; keins von uns beiden steht mehr in der ersten Jugend, ich zumal; wir haben gelebt, wir sind beide müde, wir sind, warum soll ichs nicht aussprechen, beide gescheit, wir haben uns erst gegenseitig interessiert, unsere Neugier wurde rege... dann...«
»Dann hab ich den Dummkopf gemacht,« fiel Bazaroff ein.
»Sie wissen, daß das nicht der Grund unseres Bruchs war. Das eine ist sicher, daß wir einander nicht nötig hatten; wir hatten zuviel... wie soll ich sagen? zuviel Verwandtes. Wir haben das nicht sogleich eingesehen. Dagegen Arkad...«
»Den hatten Sie nötig?« fragte Bazaroff.
»Hören Sie auf, Eugen Wassilitsch! Sie behaupten, ich sei ihm nicht gleichgültig, und in der Tat schien mirs auch immer, daß ich ihm gefiele. Ich weiß, daß ich seine... Tante sein könnte, aber ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich seit einiger Zeit öfters an ihn denke. Seine Jugend und sein natürliches Wesen haben für mich eine gewisse Anziehungskraft.«
»Einen gewissen Zauber... das ist das Wort, dessen man sich in dergleichen Fällen bedient,« erwiderte Bazaroff mit dumpfer und ruhiger Stimme, der man aber doch die aufsteigende Galle anmerkte. – »Arkad spielte gestern noch den Geheimnisvollen und hat mit mir weder von Ihnen noch von Ihrer Schwester gesprochen, das ist ein ernstes Symptom.«
»Er ist mit Katia durchaus wie ein Bruder,« sagte Frau Odinzoff, »und das gefällt mir, obgleich ich eine derartige Vertraulichkeit zwischen ihnen nicht zugeben sollte.«
»Ists die Schwester, die in diesem Augenblick aus Ihnen spricht?« fragte Bazaroff langsam.
»Gewiß... aber warum bleiben wir stehen? gehen wir weiter. Welch sonderbare Unterhaltung wir führen, nicht wahr? Ich hätte nie geglaubt, daß ich Ihnen so was sagen könnte! Sie wissen, daß... obgleich ich Sie fürchte, ich großes Vertrauen zu Ihnen habe, weil ich weiß, daß Sie im Grund sehr gut sind.«
»Erstens bin ich ganz und gar nicht gut, und zweitens bin ich Ihnen sehr gleichgültig geworden, und doch sagen Sie mir, daß ich gut sei!... Das ist, als ob Sie einen Blumenkranz aufs Haupt eines Toten setzten.«
»Eugen Wassilitsch, wir sind keine Meister...« erwiderte Frau Odinzoff.
In diesem Augenblick aber bewegte ein Windstoß die Blätter und verwehte ihre Worte.
»Aber Sie sind frei?...« sagte einige Augenblicke darauf Bazaroff.
Das war alles, was man von ihrer Unterhaltung verstehen konnte. Das Geräusch ihrer Tritte verlor sich mehr und mehr, und es war wieder still.
Arkad wandte sich nach Katia um; sie war noch in derselben Stellung, nur den Kopf hatte sie etwas tiefer gesenkt.
»Katharina Sergejewna,« sagte er mit zitternder Stimme und gefalteten Händen, »ich liebe Sie mit Leidenschaft und wie das Leben, und liebe nur Sie allein auf der Welt. Ich wollte es Ihnen gestehen, und im Fall einer günstigen Antwort wollte ich um Ihre Hand bitten... weil ich nicht reich bin und mich zu jedem Opfer fähig fühle... Sie antworten nicht? Sie glauben mir nicht? Sie denken, daß ich das unbesonnen so hinsage? Aber rufen Sie sich diese letzten Tage zurück. Können Sie zweifeln, daß alles, verstehen Sie mich wohl, alles, auch der letzte Rest, spurlos verschwunden ist? Blicken Sie mich an, sagen Sie mir ein einziges Wort... Ich liebe... ich liebe Sie... glauben Sie mir doch!«
Katia warf einen ernsten, klaren Blick auf Arkad und sagte nach langem Besinnen mit unmerklichem Lächeln zu ihm: »Ja.«
Arkad sprang von der Bank.
»Ja! Sie haben ja gesagt, Katharina Sergejewna! was bedeutet dies Wort? heißt es, daß Sie an die Aufrichtigkeit meiner Worte glauben... oder gar... oder gar... ich wag es nicht auszusprechen...«
»Ja!« antwortete Katia, und diesmal verstand er sie.
Er ergriff ihre großen schönen Hände und drückte sie an sein Herz; die Freude drohte ihn zu ersticken. Er taumelte und wiederholte beständig: »Katia! Katia!« Auch sie fing an zu weinen und lachte wieder unter ihren Tränen. Wer diese Tränen in den Augen eines geliebten Weibes nicht gesehen hat, der begreift es nicht, wie selig das von Dank und Leidenschaft trunkene Männerherz sein kann.
Am andern Morgen früh ließ Frau Odinzoff Bazaroff zu sich in ihr Kabinett bitten und überreichte ihm mit gezwungenem Lächeln ein gefaltetes Briefpapier. Es war ein Brief von Arkad, in welchem er um die Hand Katias anhielt.
Bazaroff durchflog denselben und mußte sich bezwingen, ein Gefühl boshafter Schadenfreude zu unterdrücken.
»Herrlich!« sagte er; »gleichwohl behaupteten Sie gestern noch, daß er für Katharina Sergejewna nur die Liebe eines Bruders empfinde? Was denken Sie ihm zu antworten?«
»Was raten Sie mir?« erwiderte Frau Odinzoff, fortwährend lächelnd.
»Ich meine,« erwiderte Bazaroff ebenfalls mit Lachen, obgleich er sich nicht so sehr dazu zwingen mußte wie sie, »ich meine, Sie müssen den beiden Ihren Segen geben. Die Partie ist in jeder Beziehung gut; das Vermögen der Kirsanoffs ist ziemlich bedeutend; Arkad ist der einzige Sohn, und sein Vater ist ein braver Mann, der ihm in keiner Beziehung Schwierigkeiten machen wird.«
Frau Odinzoff ging einigemal im Zimmer auf und ab; sie wurde abwechslungsweise rot und bleich.
»Sie glauben?« nahm sie das Wort, »auch ich sehe keine Hindernisse. Es freut mich für Katia... und für Arkad Nikolajewitsch. Ich werde, wohlverstanden, die Einwilligung seines Vaters abwarten, er selber mag gehen und sie holen. All das beweist aber nur, daß ich gestern abend recht hatte, als ich Ihnen sagte, daß wir alt sind, Sie und ich... Wie ich davon nur nichts merken konnte. Das beschämt mich wahrlich!«
Frau Odinzoff fing aufs neue an zu lachen und kehrte sich gleich darauf ab.
»Die heutige Jugend ist verteufelt schlau,« sagte Bazaroff seinerseits lachend. »Leben Sie wohl!« setzte er nach kurzem Schweigen hinzu. »Ich wünsche, daß Sie die ganze Angelegenheit möglichst erfreulich zu Ende führen, ich werde mich aus der Ferne darüber freuen.«
Frau Odinzoff wandte sich rasch nach ihm um.
»Wollen Sie denn abreisen? Warum wollen Sie jetzt nicht bleiben... Bleiben Sie doch... Ihre Unterhaltung ist so angenehm... Man glaubt am Rand eines Abgrunds hinzuwandeln. Im ersten Augenblick hat man Angst, dann aber fühlt man eine Kühnheit, die uns überrascht. Bleiben Sie!«
»Ich weiß Ihre Einladung zu schätzen, so sehr wie die gute Meinung, welche Sie von meiner geringen Unterhaltungsgabe haben. Aber ich finde, daß ich schon zu lange mit einer Welt verkehre, die nicht die meine ist. Die fliegenden Fische können sich wohl eine Zeitlang in der Luft halten, schließlich fallen sie aber doch in das Wasser zurück; erlauben Sie mir auch, in mein natürliches Element unterzutauchen.«
Frau Odinzoff blickte Bazaroff an, ein bitteres Lächeln verzog ihr bleiches Gesicht. »Der hat mich geliebt!« dachte sie und reichte ihm mit der Miene freundlichen Bedauerns die Hand. Aber auch er hatte sie verstanden.
»Nein!« sagte er, indem er einen Schritt zurücktrat, »obgleich arm, hab ich noch nie ein Almosen angenommen. Leben Sie wohl und gesund!«
»Ich weiß gewiß, daß wir uns nicht zum letzten Male sehen,« versetzte Frau Odinzoff unwillkürlich bewegt.
»Was ereignet sich nicht alles in dieser Welt!« antwortete Bazaroff. Damit grüßte er Anna Sergejewna und verließ das Zimmer.
»Du denkst dir also ein Nest zu bauen?« sagte Bazaroff zu Arkad, während er seinen Koffer packte. »Du hast recht! Das ist ein guter Gedanke. Nur hattest du unrecht mit deiner Hinterhaltigkeit. Ich erwartete, daß du dich ganz woanders hinwenden würdest. Du warst aber vielleicht selber darüber erstaunt?«
»Ich hab es in der Tat durchaus nicht vermutet, als ich dich verließ,« antwortete Arkad. »Du bist aber nicht ganz ehrlich, wenn du mir sagst: ›Das ist ein guter Gedanke‹; als ob ich deine Ansicht über die Ehe nicht kennte!«
»Ei, mein Teuerster,« versetzte Bazaroff, »wie sprichst du heute! Siehst du, was ich da mache? Ich habe einen leeren Raum in meinem Koffer entdeckt und stopfe ihn mit Heu aus, so gut ich kann; so muß mans auch mit dem Lebenskoffer machen; man muß ihn mit allem ausfüllen, was einem in die Hände kommt, wenn nur keine leere Stelle drin bleibt. Nimm mirs nicht übel, ich bitte dich; du erinnerst dich wahrscheinlich, wie ich immer von Katharina Sergejewna gedacht habe? Es gibt junge Mädchen bei uns, die für wahre Wunder gelten, einzig deshalb, weil sie bei der richtigen Gelegenheit zu seufzen wissen; aber die deine wird sich durch andere Verdienste Geltung verschaffen, und zwar derart, daß du ihr untertänigster Diener sein wirst. Übrigens ist das ganz in Ordnung.«
Bazaroff schlug den Deckel des Koffers zu und richtete sich auf.
»Nun muß ich dir zum Abschied wiederholen – denn wir wollen uns nicht täuschen, wir scheiden für immer, und du mußt davon so gut überzeugt sein wie ich –: Du handelst weise; unser rauhes, trauriges Vagabundenleben paßt nicht für dich. Dir fehlts an Verwegenheit und an Bosheit; aber zum Ersatz ward dir Jugendmut und Jugendfeuer gegeben. Das reicht aber nicht aus für das Werk, an dem wir arbeiten. Und dann kommt ihr Herren vom Adel niemals über eine hochherzige Entrüstung oder eine hochherzige Entsagung hinaus, was nicht viel heißen will. Ihr glaubt, große Männer zu sein, glaubt, auf der Zinne menschlicher Vollkommenheit zu stehen, wenn ihr eure Dienerschaft nicht mehr prügelt, und wir, wir verlangen nichts, als geschlagen zu werden und wiederzuschlagen. Unser Staub würde dir die Augen röten, unser Kot dich beschmutzen. Du bist wahrlich nicht auf unserer Höhe. Du bewunderst dich mit Wohlgefallen, du freust dich, dir selber Vorwürfe machen zu können; aber das ist unsereinem langweilig; wir haben was anderes zu tun, als uns zu bewundern oder Vorwürfe zu machen, wir brauchen andere Mannschaft auf unserm Schiff. Du bist ein vortrefflicher Junge; aber nichtsdestoweniger ein süßes Herrchen, ein liberales Junkerchen und ›volatou‹, um mit meinem edlen Vater zu reden.«
»Du sagst mir für immer Lebewohl, Eugen?« versetzte Arkad traurig. »Ist das alles, was du mir zu sagen findest?«
Bazaroff kratzte sich den Nacken.
»Ich könnte noch etwas Gefühlvolles hinzusetzen, Arkad, aber ich werde es nicht tun. Das hieße Romantik treiben, Bonbons lutschen. Nimm noch einen guten Rat von mir: Heirate möglichst rasch; richte dir dein Nest gut ein und zeuge viele Kinder! Es werden gewiß Leute von Geist sein, weil sie zu rechter Zeit kommen, nicht wie du und ich. Doch ich sehe, die Pferde sind da... Vorwärts! Ich habe von den andern allen Abschied genommen. Nun! sollen wir uns umarmen?«
Arkad warf sich an den Hals seines alten Meisters und Freundes, und ein Tränenstrom floß über seine Wangen.
»Das ist die Jugend,« sagte Bazaroff ruhig; »aber ich rechne auf Katharina Sergejewna! sie wird dich im Handumdrehen trösten.«
»Leb wohl, Bruder!« sagte er zu Arkad, als er die Telege schon bestiegen hatte, und auf zwei Raben deutend, die auf dem Dach des Stalles nebeneinander saßen, setzte er hinzu: »Das ist ein gutes Beispiel! versäume nicht, es zu befolgen.«
»Was willst du damit sagen?« fragte ihn Arkad.
»Wie? ich hielt dich für stärker in der Naturgeschichte. Weißt du nicht, daß der Rabe der achtbarste unter den Vögeln ist? er liebt das Familienleben. Nimm ihn zum Vorbild! Adieu, Signor!«
Die Telege setzte sich in Bewegung und rollte davon.
Bazaroff hatte wahr gesprochen. Arkad vergaß noch am gleichen Abend im traulichen Gespräch mit Katia seinen Meister ganz und gar. Er fing schon an, sich ihr unterzuordnen, und Katia war hierüber keineswegs erstaunt. Am andern Morgen mußte er sich nach Marino zu Nikolaus Petrowitsch verfügen. Frau Odinzoff war großmütig genug, den jungen Leuten zulieb, die sie nur anstandshalber nicht gar zu lange allein ließ, die Fürstin zu entfernen, welche durch die Nachricht von der bevorstehenden Heirat in einen Zustand weinerlicher Erregtheit geraten war. Anna Sergejewna selber fürchtete anfänglich, der Anblick des Glücks der beiden jungen Leute möchte ihr etwas peinlich sein, es kam aber ganz anders. Anstatt sie zu ermüden, interessierte und erweichte sie dies Schauspiel. Sie war darüber erfreut und betrübt zugleich.
»Es scheint, daß Bazaroff recht hatte,« dachte sie, »es ist nichts in mir als Neugierde, nur Neugierde, Liebe zur Ruhe und Egoismus...«
»Kinder,« sagte sie mit gepreßter Stimme, »ist es wahr, daß die Liebe eine gemachte Empfindung ist?«
Aber Katia und Arkad verstanden diese Frage nicht, Frau Odinzoff flößte ihnen eine gewisse Furcht ein; die Unterredung, die sie ganz unabsichtlich belauscht hatten, wollte ihnen nicht aus dem Kopfe. Übrigens waren sie bald wieder beruhigt; und sehr natürlich, Frau Odinzoff beruhigte sich selber.