Wächter der Ewigkeit

Der vorliegende Text ist für die Kräfte des Lichts akzeptabel.

Die Nachtwache

Der vorliegende Text ist für die Kräfte des Dunkels akzeptabel.

Die Tagwache

Erste Geschichte Die gemeinsame Sache

Prolog

Lächelnd sah Lera Viktor an. In jedem Mann - und mochte er noch so erwachsen sein - steckte ein kleiner Junge. Viktor war jetzt fünfundzwanzig und damit natürlich erwachsen. Mit der ganzen Überzeugung einer verliebten neunzehnjährigen Frau würde Valerija diese Ansicht verteidigen.

»Verliese«, flüsterte sie Viktor ins Ohr.»Verliese und Drachen. Huhu!«

Vitja schnaubte. Sie saßen in einem Raum, der schmutzig gewirkt hätte, wäre er nicht so dunkel gewesen. Um sie herum drängten sich aufgeregte Kinder und verlegen lächelnde Erwachsene. Auf einer mit mystischen Symbolen bemalten Bühne alberte ein junger Mann mit weiß geschminktem Gesicht und wallendem schwarzen Umhang herum. Von unten strahlten ihn einige purpurrote Lampen an.

»Gleich werden Sie dem Entsetzen begegnen!«, schrie der Mann mit gedehnter Stimme.»Ah! Ah, ah, ah! Selbst mir jagt das, was Sie sehen werden, Angst ein!«

Seine Aussprache war so klar und artikuliert, wie es nur bei Schauspielstudenten der Fall ist. Sogar Lera, die kaum Englisch sprach, verstand jedes Wort.

»Mir hat das unterirdische Budapest gefallen«, flüsterte Viktor ihr zu.»Dort gibt es echte alte Katakomben… wirklich interessant.«

»Und das hier ist nur ein großes Gruselkabinett.«

Viktor nickte entschuldigend.»Dafür ist es kühl«, meinte er.

Der September in Edinburgh war heiß. Am Morgen hatten Vitja und Lera Edinburgh Castle besucht, das Hauptziel aller touristischen Wallfahrten. Anschließend hatten sie in einem der unzähligen Pubs etwas gegessen und ein Pint Bier getrunken. Und jetzt hatten sie etwas gefunden, wo sie der Mittagshitze entkommen konnten.

»Sie wollen es sich wirklich nicht noch einmal überlegen?«, erkundigte sich der Mime im schwarzen Umhang mit beschwörender Stimme.

Hinter Lera ließ sich leises Weinen vernehmen. Als sie sich umdrehte, stellte sie erstaunt fest, dass da ein etwa sechzehnjähriges - also ein fast schon erwachsenes - Mädchen weinte, das bei ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder stand. Von irgendwoher aus der Dunkelheit tauchten Angestellte auf, um rasch die ganze Familie hinauszuführen.

»Das ist die Kehrseite des europäischen Wohlstands«, stellte Vitja oberlehrerhaft fest.»Würde in Russland ein erwachsenes Mädchen in einem Gruselkabinett Angst kriegen? Das allzu ruhige Leben bringt die Leute dazu, sich vor allen möglichen Albernheiten zu fürchten…«

Lera verzog das Gesicht. Viktors Vater war Politiker. Kein sehr einflussreicher, dafür aber ein ausgesprochen patriotischer, der stets und überall die Verderbtheit der westlichen Zivilisation nachzuweisen wusste. Was ihn freilich nicht daran hinderte, seinen Sohn zum Studium nach Edinburgh zu schicken.

Und Viktor, der zehn Monate im Jahr im Ausland verbrachte, wiederholte hartnäckig die väterlichen Tiraden. Einen Patrioten wie ihn traf man in Russland kaum noch an. Mitunter amüsierte Lera das, manchmal ärgerte es sie aber auch ein wenig.

Glücklicherweise ging der Einleitungsteil gerade zu Ende, und der gemächliche Streifzug durch»Schottlands Verliese«begann. Unter einer Brücke in der Nähe des Bahnhofs hatten geschäftstüchtige Menschen triste Betonräume in winzige Kämmerchen unterteilt. Sie hatten trübe Glühbirnen installiert und überall Stofffetzen und Plastikspinnennetze aufgehängt. Die Wände zierten Bilder von Wahnsinnigen und Mördern, die Edinburgh im Laufe seiner langen Geschichte heimgesucht hatten. Und so unterhielt man die lieben Gäste.

»Das ist ein spanischer Stiefel!«, verkündete die junge, in Lumpen gehüllte Frau, die sie durch dieses Zimmer führte, mit heulender Stimme.»Ein schreckliches Folterinstrument!«

Begeistert kreischten die Kinder auf. Die Erwachsenen dagegen schauten betreten drein, als habe man sie dabei erwischt, wie sie Seifenblasen aufsteigen ließen oder mit Puppen spielten. Um der Langeweile zu entgehen, blieben Lera und Viktor zurück und küssten sich unter dem Geleier der Fremdenführer. Ein halbes Jahr waren sie jetzt bereits zusammen. Beide konnten sich des außergewöhnlichen Gefühls nicht erwehren, diese Beziehung entwickle sich für sie zu etwas Besonderem.

»Jetzt gehen wir durchs Spiegellabyrinth!«, teilte der Fremdenführer mit.

So komisch das auch klingen mochte - das stellte sich in der Tat als interessant heraus. Lera hatte immer geglaubt, bei den Beschreibungen von Spiegellabyrinthen, in denen man sich verirrte und mit voller Wucht mit der Stirn gegen das Glas prallte, handle es sich um Übertreibungen. Wie sollte man denn nicht erkennen, wo Glas, wo ein Durchgang war?

Jetzt zeigte sich indes: das konnte passieren. Sogar sehr leicht. Lachend liefen sie gegen die kalten Spiegelflächen, tasteten mit den Armen herum, irrten durch den lärmenden Menschenreigen, der im Nu von einer Hand voll Personen zu einer wahren Masse anschwoll. Viktor winkte zwischendurch jemandem einladend zu, und als sie endlich aus dem Labyrinth heraus waren - perfiderweise war die Tür auch als Spiegel getarnt -, blickte er sich lange um.

»Suchst du jemanden?«, fragte Lera.

»Nö.«Viktor lächelte.»Unsinn.«

Dann folgten noch einige Säle mit den finsteren Attributen mittelalterlicher Kerker und schließlich der»Blutfluss«. Die Besucher, inzwischen still geworden, setzten sich in einen langen metallenen Kahn, der langsam über das dunkle Wasser»ins Schloss zu den Vampiren«glitt. Hohngelächter und bedrohliche Stimmen zerrissen die Dunkelheit. Über ihren Köpfen schlugen unsichtbare Flügel zusammen. Das Wasser grummelte. Der Eindruck wurde einzig dadurch zunichte gemacht, dass der Kahn bloß fünf Meter fuhr - danach gaukelten den Bootsinsassen ins Gesicht blasende Ventilatoren die Bewegung vor.

Gleichwohl wirkte der Horror auf Lera. Sie schämte sich für ihre Angst, empfand sie aber dennoch. Viktor und sie saßen auf der letzten Bank, um sie herum war niemand, vorn stöhnten und kicherten die Schauspieler gemäß ihrer Vampirrolle, hinter ihnen…

Hinter ihnen war Leere.

Trotzdem wollte Lera das Gefühl nicht verlassen, da wäre jemand.

»Vitja, ich habe Angst«, stieß Lera hervor und griff nach seiner Hand.

»Dummerchen…«, flüsterte ihr Viktor ins Ohr.»Fang mir jetzt bloß nicht an zu weinen, okay?«

»Gut«, versicherte Lera.

»Ha, ha, ha! Hier sind schreckliche Vampire!«, imitierte Viktor den Tonfall der Schauspieler.»Ich spüre genau, wie sie sich an mich heranschleichen!«

Lera schloss die Augen und packte seine Hand noch fester. Jungs! Sie alle sind Jungs, selbst mit grauen Haaren noch! Weshalb musste er sie so erschrecken?

»Autsch!«, schrie Viktor durch und durch überzeugend auf. Um dann hinzuzufügen.-»Jemand… jemand beißt mich in den Hals…«

»Blödmann!«, meinte Lera lakonisch, ohne die Augen zu öffnen.

»Lerka, jemand trinkt mein Blut…«, brachte Viktor mit verzagter und ersterbender Stimme heraus.»Aber ich habe nicht einmal Angst… wie im Traum…«

Ein kalter Wind wehte aus den Ventilatoren, das Wasser gluckerte gegen den Kahn, wilde Stimmen heulten. In der Luft hing sogar ein Geruch, der an Blut erinnerte. Kraftlos sank Viktors Hand nach unten. Voller Wut kniff Lera ihn heftig in die Hand, doch Viktor zuckte nicht einmal zusammen.

»Du machst mir Angst, du Blödmann«, rief Lera ziemlich laut.

Viktor antwortete nicht, sackte allerdings sanft gegen sie. Damit sah die Situation schon nicht mehr ganz so furchtbar aus.

»Ich werde dir noch selbst die Kehle durchbeißen!«, drohte Lera. Das schien Viktor peinlich zu berühren. Er schwieg. Zu ihrer eigenen Überraschung fügte Lera hinzu:»Und dann trinke ich dein ganzes Blut. Hast du verstanden? Sofort… nach unserer Hochzeit.«

Zum ersten Mal sprach sie dieses Wort im Zusammenhang mit ihrer Beziehung aus. Wie gebannt wartete sie auf Viktors Reaktion. Schließlich musste jeder unverheiratete Mann auf das Wort»Hochzeit«reagieren! Entweder erschrocken oder begeistert.

Viktor schien jedoch an ihrer Schulter eingedöst zu sein.

»Hab ich dich erschreckt?«, fragte Lera. Dann lachte sie nervös. Und öffnete die Augen. Um sie herum herrschte nach wie vor Dunkelheit, obwohl das Geheul sich inzwischen gelegt hatte.»Gut… ich werde dich nicht beißen. Und zu heiraten brauchen wir auch nicht!«

Viktor schwieg.

Die Mechanik quietschte, der Eisenkahn fuhr noch einmal fünf Meter durch den schmalen ausbetonierten Graben. Ein trübes Licht ging an. Die lärmenden Blagen strömten zum Ufer. Ein Mädchen von drei, vier Jahren hielt ihre Mutter bei der Hand und nuckelte an einem Finger, während sie immer wieder den Kopf zurückdrehte und Lera nicht aus den Augen ließ. Was interessierte sie denn bloß so? Eine junge Frau, die in einer ausländischen Sprache sprach? Nein, das konnte nicht sein, nicht in Europa…

Lera seufzte und schaute zu Viktor hinüber.

Der schlief tatsächlich! Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen zu einem Lächeln erstarrt.

»Was hast du denn?«Lera schubste Viktor sanft - worauf er umzukippen und mit dem Kopf auf die Eisenkante des Boots aufzuschlagen drohte. Lera schrie auf und konnte Viktor gerade noch auffangen und auf die Holzbank betten. Was bedeutete das? Was geschah hier bloß? Warum war er so schlaff, so willenlos? Auf ihren Schrei hin kam sofort ein Angestellter herbeigeeilt - in schwarzem Umhang, mit Eckzähnen aus Plastik und schwarz und rot geschminkten Wangen. Behände sprang er in den Kahn.

»Ist mit Ihrem Freund alles in Ordnung, Miss?«Der Mann war noch sehr jung, vermutlich ein Altersgenosse Leras.

»Ja… nein… ich weiß nicht!«Sie sah den Angestellten an, doch der war selbst verwirrt.»Helfen Sie mir! Wir müssen ihn aus dem Boot schaffen!«

»Ob es was mit dem Herzen ist?«Der Mann beugte sich hinunter, um Viktor bei den Schultern zu packen - und zog die Hände zurück, als habe er sich verbrannt.»Was ist das? Was soll der dumme Scherz? Licht! Wir brauchen Licht!«

Ohne Ende schüttelte er seine Hände, von denen dicke dunkle Tropfen wegspritzten. Lera stand wie versteinert da und starrte auf Viktors reglosen Körper. Das Licht ging an, ein grelles weißes, alle Schatten verbannendes Licht, das die Stätte des Schreckens in die Bühne einer erbärmlichen Farce verwandelte.

Doch auch die Farce endete zusammen mit der Gruselvorstellung. An Viktors Hals klafften zwei Schnittwunden. Aus ihnen sickerte träge wie die letzten Tropfen Ketchup aus einer umgedrehten Flasche Blut. Die wenigen, stoßweise austretenden Tropfen wirkten umso schauriger, weil die Wunden so tief waren. Und noch dazu direkt über der Schlagader lagen… als stammten sie von zwei Rasierklingen… oder von zwei sehr spitzen Zähnen…

Und dann fing Lera an zu schreien. Hoch und schrecklich, mit geschlossenen Augen, während sie mit den Armen vor sich in der Luft herumfuchtelte wie ein kleines Mädchen, vor dessen Augen gerade sein Lieblingskätzchen von einem Laster auf dem Asphalt zerquetscht worden war.

Schließlich steckt in jeder Frau - und mag sie noch so erwachsen sein - ein kleines, verängstigtes Mädchen.

Eins

»Wieso konnte ich das?«, fragte Geser.»Und wieso konntest du es nicht?«

Wir standen inmitten einer endlosen grauen Ebene. Der Blick konnte in dieser ganzen Weite keine leuchtenden Farben ausmachen, brauchte sich aber nur einmal an einem einzigen Sandkorn festzuhaken, um es golden, glutrot, azurblau und grün aufflackern zu lassen. Über uns prangte es weiß und rosa, gleichsam als erstrecke sich am Himmel ein Land, darinnen Milch und Honig fließen.

Wind ging, und kalt war es. In der vierten ZwielichtSchicht fror ich immer, was jedoch nur meine individuelle Reaktion war. Bei Geser traf beispielsweise das genaue Gegenteil zu: Er schwitzte, sein Gesicht leuchtete knallrot, über seine Stirn rannen kleine Schweißperlen.

»Meine Kraft reicht nicht«, antwortete ich.

»Falsch!«Gesers Gesicht changierte jetzt ins Purpurrote.»Du bist ein Hoher Magier. Wenn auch nur zufällig, aber so ist es nun einmal. Warum werden wohl Hohe Magier auch Magier außerhalb jeder Kategorie genannt?«

»Weil sie sich durch ihre Kraft nur noch so geringfügig voneinander unterscheiden, dass dieser Unterschied nicht mehr messbar ist und man nicht mehr sagen kann, wer schwächer oder stärker ist…«, brummelte ich.»Das weiß ich doch, Boris Ignatjewitsch. Trotzdem reicht meine Kraft nicht. Ich kann nicht in die fünfte Schicht eintreten.«

Geser blickte zu Boden. Wirbelte mit der Schuhspitze Sand auf, schleuderte ihn in die Luft. Trat nach vorn - und verschwand.

Was war das? Ein Tipp?

Ich schleuderte ebenfalls etwas Sand in die Luft. Trat vor - versuchte aber vergeblich, meinen Schatten zu fassen zu kriegen.

Da war kein Schatten.

Nichts hatte sich verändert.

Nach wie vor klebte ich in der vierten Schicht fest. Mir wurde immer kälter, der Dampf von meinem Atem stob schon nicht mehr als weiße Wolke auf, sondern hagelte in pikenden Nadeln auf den Sand herab. Ich drehte mich um, denn es ist psychologisch immer leichter, die Flucht nach hinten anzutreten, machte einen Schritt und kam in der dritten Schicht des Zwielichts heraus. In dem farblosen Labyrinth aus von der Zeit zerfressenen Steinplatten, über denen ein tiefer schwerer Himmel graute. Hier und da mäanderten vertrocknete Halme über die Steine, eine wuchernde Ranke, die der Frost festgenagelt zu haben schien.

Jetzt noch einen Schritt. Die zweite Schicht des Zwielichts. Das Steinlabyrinth verschwand unter einem Astgeflecht…

Und noch einen. Die erste Schicht. Schon ohne Steine. Bereits wieder mit Wänden und Fenstern. Mit den bekannten Wänden der Moskauer Nachtwache, wenn auch in ihrer Zwielicht-Erscheinung.

Mit letzter Kraft schleppte ich mich aus dem Zwielicht in die reale Welt. Direkt in Gesers Arbeitszimmer.

Selbstredend saß der Chef bereits in seinem Sessel. Während ich schwankend vor ihm stand.

Wie? Wie hatte er mich überholen können? Schließlich war er in die fünfte Schicht abgetaucht, als ich mich auf den Weg aus dem Zwielicht gemacht hatte.

»Als ich gesehen habe, dass du es nicht schaffst«, meinte Geser, ohne mich auch nur anzusehen,»habe ich das Zwielicht auf direktem Wege verlassen.«

»Aus der fünften Schicht direkt in die richtige Welt?«Ich konnte meine Verblüffung nicht verhehlen.

»Ja. Wundert dich das?«

Ich zuckte mit den Achseln. Da gab es nichts zu wundern. Wenn Geser mich überraschen wollte, konnte er aus dem Vollen schöpfen. Vieles wusste ich noch nicht. Und in diesem Fall…

»Ein Jammer«, riss mich Geser aus meinen Gedanken.»Setz dich, Gorodezki.«

Ich nahm Geser gegenüber Platz. Legte die Hände auf die Knie und senkte sogar den Kopf - als ob ich mich irgendwie schuldig fühlte.

»Ein guter Magier erlangt seine Fähigkeiten immer im richtigen Moment, Anton«, meinte der Chef.»Solange du nicht lebensklüger wirst, wirst du auch nicht stärker. Solange du nicht stärker wirst, beherrschst du auch die hohe Magie nicht. Solange du die hohe Magie nicht beherrschst, bleiben dir gefährliche Orte verschlossen. Deine Lage ist einmalig. Dich hat der…«Er verzog das Gesicht.»… der Zauber des Fuaran erwischt. Du bist ein Hoher Magier geworden, ohne darauf vorbereitet zu sein. Ja, du hast Kraft. Ja, du kannst sie lenken… Und das, was dir früher schwergefallen ist, bewerkstelligst du heute ohne Probleme. Wie oft bist du denn schon in der vierten Zwielicht-Schicht gewesen? Und jetzt hockst du da, als ob das nichts wäre?! Eben! Und das, was du bisher noch nicht bewerkstelligst…«

Dann verstummte er.

»Ich werde es lernen, Boris Ignatjewitsch«, versicherte ich.»Schließlich sagen mir doch alle, dass ich große Fortschritte mache. Olga, Swetlana…«

»Das tust du ja auch«, stimmte Geser mir ohne Weiteres zu.»So dämlich bist du nun auch wieder nicht, dass du dich überhaupt nicht entwickeln könntest. Aber im Moment erinnerst du mich an einen unerfahrenen Autofahrer, der ein halbes Jahr lang in einem Shiguli gegondelt ist und plötzlich hinter dem Steuer eines Rennwagens von Ferrari sitzt! Nein, schlimmer noch, hinter dem eines Kippers, eines BelAS von zweihundert Tonnen, der in einer Spirale aus der Sandgrube hochfährt… und neben dir ein Abgrund von hundert Metern! Und da unten fahren auch Kipper. Eine unbedachte Bewegung, ein Herumreißen des Lenkrads oder Tritt aufs Pedal - und es heißt für alle Gute Nacht.«

»Das versteh ich ja.«Ich nickte.»Aber ich hatte es nicht darauf angelegt, ein Hoher zu werden, Boris Ignatjewitsch. Sie waren es, der mich auf die Jagd nach Kostja geschickt hat…«

»Ich mache dir in keiner Weise einen Vorwurf und versuche, dir viel beizubringen«, erwiderte Geser. Dann fügte er recht übergangslos hinzu:»Wenn du dich bloß endlich wie mein Schüler verhalten würdest!«

Ich hüllte mich in Schweigen.

»Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll…«Geser trommelte mit den Fingern auf eine vor ihm liegende Mappe.»Dich auf alltägliche Aufgaben ansetzen? Eine Schülerin hat einen obdachlosen Tiermenschen gesehen. In Butowo ist ein Vampir aufgetaucht. Eine Zauberin hat wirklich gezaubert. In meinem Keller ist ein geheimnisvolles Klopfen zu hören. Das bringt doch nichts. Mit diesem Quatsch wirst du bei deiner Kraft spielend fertig. Da lernst du nichts. Soll ich dich hinterm Schreibtisch versauern lassen? Das willst du ja wohl selbst nicht, oder?«

»Das wissen Sie doch ganz genau, Boris Ignatjewitsch«, antwortete ich.»Geben Sie mir eine richtige Aufgabe. Eine, bei der ich mich einfach weiterentwickeln muss.«

»Aber sicher.«In Gesers Augen funkelte es ironisch auf.»Ich organisiere einen Überfall auf die Spezialdepots der Inquisition. Oder ich gebe dir den Auftrag, den Sitz der Tagwache zu stürmen…«Dann schob er die Mappe über den Tisch.»Lies das.«

Geser selbst öffnete eine identische Mappe und vertiefte sich in die Lektüre der handgeschriebenen, aus einem Schulheft herausgerissenen Seiten.

Woher kamen eigentlich bei uns im Büro diese altmodischen Pappmappen, die noch mit einer ausgefransten Schnur zusammengebunden wurden? Ob wir im letzten Jahrhundert gleich mehrere Tonnen davon gekauft hatten? Oder sie kürzlich bei einer Organisation heimarbeitender Invaliden aus humanistischen Gründen erworben hatten? Stellte man die Dinger in einem steinalten Kombinat in irgendeinem Muchosransk-Fliegenschisshausen her, das der dortigen Nachtwache gehörte?

Letztendlich blieb die Tatsache, dass im Zeitalter der Computer, Kopierer, durchsichtiger Plastikhüllen und fester schöner Ordner mit einem bequemen Klemmver-schluss unsere Wache die lappigen Pappmappen mit Schnüren benutzte. Peinlich, peinlich - vor allem gegenüber ausländischen Kollegen!

»Mappen aus organischem Material lassen sich problemlos mit Schutzzaubern belegen, die eine Sondierung aus der Ferne verhindern«, erklärte Geser.»Aus demselben Grund werden nur Bücher benutzt, um Magie zu lehren. In einem Text, der im Computer gespeichert ist, steckt keine Magie mehr.«

Ich sah Geser in die Augen.

»Ich habe noch nicht einmal den Versuch unternommen, deine Gedanken zu lesen«, bemerkte Geser.»Solange du dein Gesicht nicht unter Kontrolle hast, besteht dafür nämlich keinerlei Notwendigkeit.«

Jetzt spürte auch ich die Magie, die der Mappe entströmte. Ein leichter Schutz- und Alarmzauber, der für Lichte kein Problem darstellte. Nebenbei bemerkt könnten ihn auch Dunkle ohne Weiteres aufheben - jedoch nicht lautlos.

Als ich die Mappe aufschlug, die der Große Geser mit einem schmalen Band verschnürt hatte, entdeckte ich vier topaktuelle, noch nach Druckerschwärze riechende Zeitungsausschnitte, ein Fax und drei Fotos. Drei der Artikel waren auf Englisch, auf sie konzentrierte ich mich zunächst.

Der erste kurze Artikel beschäftigte sich mit einem Zwischenfall in der Sehenswürdigkeit»Schottlands Verliese«. Soweit ich es verstand, war in dieser Einrichtung, einer recht banalen Variante eines Gruselkabinetts,»aufgrund eines technischen Defekts«ein russischer Tourist gestorben. Die Verliese waren geschlossen worden, die Polizei hatte Ermittlungen eingeleitet und untersucht, ob den Angestellten etwas vorzuwerfen sei.

Der zweite Artikel war wesentlich ausführlicher. Ein»technischer Defekt«wurde hier mit keinem Wort erwähnt. Der Text war ein wenig trocken, ja, sogar pedantisch. Mit wachsender Unruhe las ich, dass es sich bei dem Toten um den fünfundzwanzigjährigen Viktor Prochorow handelte, den Sohn»eines russischen Politikers«, der in Edinburgh studiert und die Verliese zusammen mit seiner Freundin Valerija Chomko besucht hatte, die aus Russland zu Besuch gekommen und in deren Armen er an Blutverlust gestorben war. In der Dunkelheit der touristischen Attraktion hatte ihm jemand die Kehle durchgeschnitten. Oder etwas hatte sie ihm durchgeschnitten. Der arme Kerl hatte zusammen mit seiner Freundin in einem kleinen Kahn gesessen, der langsam über den Blutfluss geschippert war, einen kleinen Kanal, der sich um das Schloss der Vampire schlängelte. Ob aus der Mauer vielleicht ein spitzer Eisenhaken herausgeragt haben mochte, der Viktor den Hals aufgeschlitzt hatte?

Kaum hatte ich diese Stelle erreicht, seufzte ich und sah Geser an.

»Du hast immer ein gutes Händchen gehabt, wenn es… äh… um Vampire ging«, meinte der Chef, wobei er sich kurz von seinen Papieren losriss.

Der dritte Artikel entstammte irgendeiner schottischen Boulevardzeitung. Hier erzählte der Schreiber natürlich eine schaurige Geschichte über moderne Vampire, die in der Finsternis der Sehenswürdigkeiten ihren Opfern das Blut aussaugen. Das einzige originelle Detail war die Versicherung des Journalisten, Vampire saugten ihre Opfer normalerweise nicht derart aus, dass diese stürben. Als echter Russe musste der russische Student jedoch derart betrunken gewesen sein, weshalb der arme schottische Vampir ebenfalls in einen Rausch geriet und sich darüber vergaß.

Trotz des tragischen Ausmaßes der Geschichte musste ich lachen.

»Die Boulevardpresse ist überall auf der Welt gleich«, bemerkte Geser, ohne den Blick zu heben.

»Das Schlimmste ist jedoch, dass es genauso war«, meinte ich.»Bis auf die schwere Trunkenheit natürlich.«

»Ein Glas Bier zu Mittag«, bestätigte Geser.

Der vierte Artikel stammte aus einer unserer Zeitungen. Ein Nachruf. Dem Abgeordneten der Staatsduma Leonid Prochorow wurde Beileid ausgesprochen anlässlich des tragischen Todes seines Sohns…

Ich nahm mir das Fax vor.

Wie ich vermutet hatte, handelte es sich dabei um den Bericht der Nachtwache aus Edinburgh, Schottland, Großbritannien.

Als leicht ungewöhnlich konnte der Adressat gelten, nämlich Geser persönlich, nicht der diensthabende Fahnder oder der Leiter der Internationalen Abteilung. Auch der Ton des Briefs war etwas persönlicher als sonst in offiziellen Dokumenten.

Der Inhalt dagegen erstaunte mich nicht im Mindesten.

»Mit Bedauern teilen wir mit… die Ergebnisse sorgfältiger Untersuchungen… vollständiger Blutverlust… keine Anzeichen einer Initiierung… die Fahndung hat keine Ergebnisse erbracht… hinzugezogen wurden die besten Mitarbeiter… wenn die Moskauer Wache es für notwendig erachtet, jemanden zu schicken… die herzlichsten Grüße an Olga, ich freue mich sehr für dich, du alter Wei…«

Der Rest des Faxes fehlte. Offenbar folgte nun nur noch Persönliches. Deshalb kriegte ich auch keine Unterschrift zu sehen.

»Foma Lermont«, teilte Geser mir mit.»Der Chef der schottischen Wache. Ein alter Freund.«

»Hmm.«In Gedanken versunken zog ich die Silbe in die Länge.»Also…«

Abermals trafen sich unsere Blicke.

»Ob er ein Verwandter von Michail Jurjewitsch ist, musst du ihn schon selbst fragen«, sagte Geser.

»Das meine ich gar nicht. Wei - steht das für Weiser?«

»Wei steht für…«Geser stockte und schielte mit offenkundigem Missfallen auf das Blatt. »Wei heißt Wei. Das geht dich nichts an.«

Ich schaute mir die Fotos an. Ein junger Mann, der Unglücksrabe Viktor. Und eine blutjunge Frau. Seine Freundin, da gab es keinen Zweifel. Schließlich noch ein älterer Mann. Viktors Vater?

»Indirekte Fakten lassen auf einen Überfall von einem Vampir schließen. Aber warum sollen wir uns damit befassen?«, fragte ich.»Es sterben doch immer wieder Landsleute im Ausland. Auch durch Vampire. Haben Sie kein Vertrauen zu Foma und seinen Leuten?«

»Doch. Aber sie haben wenig Erfahrung. Schottland ist ein friedliches, gemütliches und ruhiges Land. Sie können das nicht schaffen. Und du hast schon oft mit Vampiren zu tun gehabt.«

»Hab ich. Aber trotzdem - liegt es daran, dass sein Vater ein Politiker ist?«

»Was ist der denn schon für ein Politiker?«Geser verzog das Gesicht.»Ein Geschäftsmann, der es zum Abgeordneten gebracht hat, indem er bei Wahlen still und heimlich ein paar Hebel in Bewegung gesetzt hat.«

»Klipp und klar. Aber ich glaube nicht, dass es keine besonderen Gründe gibt.«

Geser seufzte.»Der Vater des Jungen ist vor zwanzig Jahren als potenzieller Lichter identifiziert worden. Als ein recht starker sogar. Von einer Initiierung hat er jedoch mit der Begründung abgesehen, er wolle ein Mensch bleiben. Die Dunklen hat er gleich weggejagt. Mit uns ist er jedoch in Kontakt geblieben. Manchmal hat er uns sogar geholfen.«

Ich nickte. Sicher, ein seltener Fall. Menschen verzichteten nicht oft auf die Möglichkeiten, die sich uns Anderen eröffneten.

»Man kann also sagen, dass ich mich Prochorow senior gegenüber schuldig fühle«, meinte Geser.»Und wenn ich schon seinem Sohn nicht mehr helfen kann… dann werde ich wenigstens dafür sorgen, dass der Mörder nicht ungestraft davonkommt. Du fährst nach Edinburgh, findest den verrückten Blutsauger und machst ihn fertig.«

Das war ein Befehl. Aber auch sonst hätte ich mich nicht gegen den Auftrag gesträubt.

»Wei…«Unwillkürlich geriet ich ins Stocken.»Weiß man schon, wann ich fliege?«

»Nein, geh in die Internationale Abteilung. Du musst erst noch die notwendigen Papiere vorbereiten lassen, dir die Flugtickets und Geld abholen. Und eine Legende.«

»Eine Legende? Für mich?«

»Ja. Du wirst inoffiziell ermitteln.«

»Weitere Weisungen?«

»Keine. Kontakt unterhältst du nur mit Foma…«Aus irgendeinem Grund runzelte Geser die Stirn und betrachtete mich mit unbegreiflichem Misstrauen.»Hör auf, dich über mich lustig zu machen, Anton!«

Verständnislos starrte ich Geser an.

»Wei steht für Weiberheld«, murmelte Geser.»Du weißt schon, die Jugend… die freien Sitten der Renaissance… Schluss jetzt, geh! Sieh zu, dass du den nächsten Flug kriegst.«Einen Moment zögerte er, dann fügte er jedoch hinzu:»Falls Swetlana nicht dagegen ist. Wenn doch, gib mir Bescheid, dann versuche ich, sie zu überzeugen.«

»Sie wird dagegen sein«, behauptete ich im Brustton der Überzeugung.

Was nahm Geser mir eigentlich krumm? Und warum hatte er mir erklärt, was es mit dem Weiberhelden auf sich hatte?

Swetlana stellte einen Teller vor mich hin, auf dem sich Bratkartoffeln und Pilze türmten. Danach legte sie Messer und Gabel hin, stellte den Salzstreuer, einen Teller mit eingesalzenen Gurken, ein Glas und ein kleines, gerade mal hundert Gramm fassendes Fläschchen mit Wodka auf den Tisch. Die Flasche kam direkt aus dem Kühlschrank und begann in der Wärme sofort zu schwitzen.

Was für ein Idyll!

Der Traum eines jeden Mannes, der von der Arbeit nach Hause kommt. Die Gattin, die am Herd hantiert und nicht nur schmackhafte, sondern auch ungesunde Sachen auf den Tisch bringt. Ob sie mich um etwas bitten wollte? Meine Tochter spielte leise mit einem Baukasten, hatte sie doch mit fünf Jahren aufgehört, sich für Puppen zu interessieren. Allerdings baute sie weder Autos noch Flugzeuge, sondern kleine Häuser. Vielleicht würde sie Architektin werden?

»Sweta, ich soll dienstlich nach Edinburgh fahren«, wiederholte ich für alle Fälle noch einmal.

»Ja, ich hab’s gehört«, entgegnete Sweta gelassen.

Das Fläschchen auf dem Tisch hob sich in die Luft. Der geschliffene Verschluss schraubte sich aus dem Flaschenhals heraus. Der kalte Wodka ergoss sich mit festem, transparentem Strahl ins Glas.

»Ich muss noch heute Abend fliegen«, sagte ich.»Nach Edinburgh gibt es keinen Direktflug, deshalb muss ich in London umsteigen…«

»Dann trink nicht so viel«, warnte Swetlana.

Die Karaffe machte eine Kehrtwendung und verschwand im Kühlschrank.

»Ich habe geglaubt, es würde dir etwas ausmachen«, bemerkte ich bedripst.

»Weshalb sollte es das?«Swetlana trug auch für sich einen vollen Teller auf. Und setzte sich neben mich.»Würdest du dann nicht fliegen?«

»Doch…«

»Siehst du. Außerdem würde dann noch Geser anrufen und mir auseinandersetzen, wie wichtig deine Reise ist.«Swetlana verzog das Gesicht.

»Sie ist wirklich wichtig.«

»Ich weiß.«Swetlana nickte.»Ich habe heute Morgen gespürt, dass man dich weit wegschicken würde. Dann habe ich Olga angerufen und sie gefragt, was in den letzten Tagen so passiert ist. Na ja… sie hat mir von dem Jungen in Schottland erzählt.«

Erleichtert nickte ich. Swetlana wusste Bescheid. Bestens. Damit konnte ich mir Lügen und Ausflüchte sparen.

»Eine merkwürdige Geschichte«, sinnierte Swetlana.

Ich zuckte die Schultern und trank die mir zugestandenen vierzig Gramm auf ex. Genussvoll biss ich in eine Salzgurke.

»Was soll daran seltsam sein?«, murmelte ich mit vollem Mund.»Entweder ein wilder Vampir oder einer, der vor Hunger ausgerastet ist… das kommt bei denen oft genug vor. Allerdings hatte da jemand einen besonderen Sinn für Humor. Einen Menschen im sogenannten Vampirschloss für Touristen zu ermorden!«

»Pst.«Swetlana runzelte die Stirn und blickte demonstrativ in Nadjuschkas Richtung.

Voller Eifer machte ich mich ans Essen. Ich liebe knusprige Bratkartoffeln, noch dazu in Gänseschmalz gebraten, mit Speckschwarten und einem Berg Steinpilzen - frischen, wenn gerade die Zeit dafür ist, sonst getrockneten. Alles war in Ordnung, alles lief gut, Mama und Papa unterhielten sich über dies und das, übers Kino und über Bücher, eigentlich gab es gar keine Vampire…

Leider konnte man unserer Tochter nicht weismachen, Vampire existierten nicht. Sie sah sie nämlich ganz vorzüglich. Mit Mühe hatten wir es ihr abgewöhnen können, in der Metro oder im Oberleitungsbus lauthals herauszuplatzen:»Ma, Pa, guckt doch mal, der Onkel ist Vampir!«Glücklicherweise schrieben die Fahrgäste dergleichen stets kindlicher Einfalt zu, aber gegenüber den Vampiren brachte es uns natürlich in eine peinliche Lage. Manche hatten noch nie einen Menschen angefallen, sondern freiwillig immer nur Spenderblut getrunken und ein rundum anständiges Leben geführt. Und dann zeigte in der Menge eine fünfjährige Göre mit dem Finger auf sie und lachte:»Der Onkel ist ein Untoter, läuft aber herum!«Aber was sollten wir tun? Sie bekam immer mit, worüber wir sprachen - und machte sich ihren eigenen Reim darauf.

Diesmal interessierte sich Nadja jedoch nicht für unser Gespräch. Sie setzte nämlich gerade auf ein Häuschen aus gelben Plastiksteinen ein rotes Ziegeldach.

»Ich glaube, irgendein bestimmter Sinn für Humor spielt hier gar keine Rolle«, sagte Swetlana.»Deswegen würde Geser dich sicher nicht durch ganz Europa jagen. Außerdem besteht die Wache in Schottland ebenfalls nicht aus Dummköpfen, früher oder später würden auch sie den Blutsauger finden.«

»Weshalb dann? Über den Jungen habe ich alles in Erfahrung gebracht. Ein guter Kerl, aber kein Heiliger. Und ganz bestimmt kein Anderer. Kein Dunkler hätte Grund, ihn vorsätzlich umzubringen. Der Vater des Jungen hat es abgelehnt, ein Anderer zu werden, arbeitet jedoch inoffiziell mit der Nachtwache zusammen. Ein seltener Fall, aber nicht einmalig. Ich habe alles überprüft: Es gibt nichts, wofür die Dunklen sich rächen müssten.«

Swetlana seufzte. Sie linste zum Kühlschrank hinüber - und die Karaffe kehrte flugs zurück.

Und mit einem Mal wurde mir klar, dass sie sich über irgendwas Sorgen machte.

»Sweta, hast du in die Zukunft geblickt?«

»Ja.«

Auf jene Weise in die Zukunft zu blicken, wie es die Wahrsager oder Scharlatane für sich beanspruchen, ist nicht möglich. Selbst für einen Großen Anderen nicht. Aber man kann die Wahrscheinlichkeit verschiedener Ereignisse abschätzen: Gerätst du in dieser Straße in einen Stau oder nicht? Stürzt dein Flugzeug ab? Kriegst du eine bestimmte Sache hin? Stirbst du oder überlebst du das drohende Chaos? Einfach ausgedrückt: Je genauer die Frage, desto genauer die Antwort. Was erwartet mich morgen? - diese Frage brauchst du gar nicht erst zu stellen.

»Ja und?«

»Dein Leben ist bei dieser Untersuchung nicht in Gefahr.«

»Gut«, meinte ich ehrlich erleichtert. Dann nahm ich das Fläschchen, um Swetlana und mir einzuschenken.»Danke. Das beruhigt mich.«

Wir tranken - und schauten einander entgeistert an.

Dann schossen unsere Blicke zu Nadjuschka hinüber. Unsere Tochter saß auf dem Fußboden, ganz mit ihrem Baukasten beschäftigt. Als sie spürte, dass wir sie anstarrten, fing sie an, leise vor sich hinzusummen:»Lalala, lalala.«

Normalerweise stellen Erwachsene mit solchen Liedchen in Witzen Mädchen dar. Sehr ungezogene Mädchen. Die etwas in die Luft sprengen, zerbrechen oder eine Frechheit von sich geben wollen.

»Nadeshda!«, sagte Swetlana in eiskaltem Ton.

»Lalala…«, steigerte Nadja ihren Gesang.»Was denn? Du hast doch selbst gesagt, Papa soll vor dem Flug nichts mehr trinken. Wodka trinken ist ungesund, das hast du selbst gesagt! Maschas Papa hat auch getrunken, er hat getrunken und ist von zu Hause weggegangen…«

In ihre Stimme schlich sich ein jämmerlicher Unterton.

»Nadeshda Antonowa!«, herrschte Swetlana sie streng an.»Erwachsene Menschen haben das Recht… manchmal… ein Gläschen Wodka zu trinken. Hast du deinen Vater schon mal betrunken gesehen?«

»Am Geburtstag von Onkel Tolja«, antwortete Nadja wie aus der Pistole geschossen.

Swetlana warf mir einen höchst beredten Blick zu. Schuldbewusst breitete ich die Arme aus.

»Und trotzdem«, beharrte Swetlana.»Du hast nicht das Recht, mit Zauberei gegen deine Mama und deinen Papa vorzugehen. Als ich noch klein war, hätte ich mich so etwas nie getraut!«

»Und Papa?«

»Papa auch nicht. Und dreh dich sofort um! Soll ich etwa mit deinem Rücken sprechen?«

Nadja drehte sich um. Trotzig presste sie die Lippen aufeinander. Nachdenklich legte sie einen Finger an die Stirn. Ich konnte mir kaum das Lachen verkneifen. Kleine Kinder lieben es, solche Gesten zu imitieren. Und es stört sie in keiner Weise, dass nur die Helden aus den Zeichentrickfilmen nachdenken, indem sie den Finger an die Stirn legen, nicht aber die echten Menschen.

»Gut«, räumte Nadja ein.»Mama, Papa, verzeiht mir bitte. Ich werde es nie wieder tun. Ich mache alles wieder gut!«

»Das ist nicht nötig!«, rief Swetlana aus.

Doch es war schon zu spät. Das Wasser, das sich anstelle des Wodkas im Glas befunden hatte, verwandelte sich unversehens in Wodka zurück. Möglicherweise aber auch in Spiritus.

Direkt in unserem Magen.

Ich spürte, wie in meinem Bauch eine kleine Bombe zu explodieren schien. Ächzend stopfte ich mir eine fast kalte Kartoffel in den Mund.

»Anton, jetzt sag doch wenigstens irgendwas!«, verlangte Swetlana.

»Nadja, wenn du ein Junge wärst, würde ich dir jetzt mit dem Gürtel den Popo versohlen!«, beteuerte ich.

»Was für ein Glück, dass ich ein Mädchen bin«, erwiderte Nadjuscha ohne eine Spur von Angst.»Was ist denn nun schon wieder, Pa? Ihr wolltet schließlich Wodka trinken. Also habt ihr ihn bekommen. Er ist schon in euch drin. Du hast doch selbst gesagt, Wodka schmeckt nicht gut, wenn man ihn im Mund hat. Weshalb solltest du ihn also trinken?«

Swetlana und ich sahen uns an.

»Sie behält immer das letzte Wort«, kapitulierte Swetlana.»Lass uns deinen Koffer packen. Soll ich ein Taxi rufen?«

»Nicht nötig«, meinte ich kopfschüttelnd.»Semjon holt mich ab.«

Selbst am späten Abend war die Ringautobahn wie zugestopft. Semjon schien das aber gar nicht mitzukriegen. Ich wusste nicht einmal, ob er sich die Wahrscheinlichkeitslinien kalkuliert hatte oder das Auto einfach mit den Instinkten eines Fahrers mit hundert Jahren Praxis lenkte.

»Dein Erfolg ist dir zu Kopf gestiegen, Anton«, murmelte er, den Blick starr auf die Straße gerichtet.»Warum hast du Geser nicht einfach gesagt. Nein, ich fahre nirgendwo allein hin, ich brauche einen Partner, gib mir Semjon mit…«

»Woher sollte ich denn wissen, dass du Schottland so liebst?«

»Wie, woher?«, empörte sich Semjon.»Schließlich habe ich dir doch erzählt, wie wir im Krieg in Sewastopol gegen die Schotten gekämpft haben!«

»Nicht vielleicht gegen die Deutschen?«, korrigierte ich ihn unsicher.

»Nein, die Deutschen kamen erst später«, meinte Semjon lakonisch.»Ja, dazumal gab es noch Recken… die blauen Bohnen zischten uns um die Ohren, die Kanonenkugeln flogen, an der Sechsten Bastion gab es einen Nahkampf… und wir beide haben uns wie die Idioten mit Magie beballert. Zwei Lichte, nur war er mit der englischen Armee eingetroffen… Wie der meine Schulter erwischt hat! Mit der Lanze der Qual… Da hab ich ihm mit dem Freeze geantwortet, hab ihn vom Kopf bis zu den Zehen eingefroren!«Er nickte zufrieden.

»Und wer hat gewonnen?«, fragte ich.

»Weißt du nicht einmal, wer den Krimkrieg gewonnen hat, oder was?«, ereiferte sich Semjon.»Wir natürlich. Ich habe Kevin gefangen genommen. Später habe ich ihn in Schottland besucht. Das war allerdings schon im 20. Jahrhundert… 1907? Oder 08?«

Er riss das Lenkrad herum und überholte einen sportlichen Jaguar.»Selber Schnecke, du Arsch!«, schrie er durchs offene Fenster.»Und dann noch rumpöbeln…«

»Du blamierst ihn vor seiner Freundin«, erklärte ich, während ich auf den hinter uns entschwindenden Jaguar achtete.»So ein oller Wolga hängt ihn ab!«

»Seiner Freundin gegenüber soll er nicht im Auto den tollen Mann markieren«, brachte Semjon weltmännisch hervor,»sondern im Bett. Da ist es zwar noch peinlicher, wenn er versagt, aber weniger tragisch… Na, egal. Pass auf… wenn du Schwierigkeiten hast, ruf Geser an und bitte ihn, mich dir zu Hilfe zu schicken. Schließlich sind wir Kumpel. Dann gehen wir zu Kevin, sitzen gemütlich zusammen und trinken Whisky. Aus seiner eigenen Brennerei übrigens!«

»Gut«, versprach ich.»Sobald was passiert, lasse ich dich kommen.«

Hinterm Ring wurde es ruhiger. Semjon gab Gas (nie im Leben würde ich glauben, dass unter der Motorhaube unseres Streifenwolgas wirklich der serienmäßige SMS-406 steckte), und fünfzehn Minuten später fuhren wir auf Domodedowo zu.

»Ach, was hatte ich heute für einen wunderbaren Traum!«, meinte Semjon, während er auf den Parkplatz fuhr.»Ich zuckel durch Moskau, aus irgendeinem Grund in einem schrottreifen Laster, neben mir sitzt einer von unseren Leuten… Und plötzlich sehe ich, dass Sebulon auf der Straße steht. Der, warum auch immer, wie ein Penner aussah. Ich geb Gas und versuch, ihn über den Haufen zu fahren! Aber er hustet mir eins! Und stellt eine Barriere auf! Etwas hebt uns in die Luft, wir machen einen Salto und springen über Sebulon rüber. Dann fahren wir weiter.«

»Hast du denn nicht gewendet?«, fragte ich.

»Wir hatten es eilig«, seufzte Semjon.

»Du solltest weniger trinken, damit du nicht solche Sachen träumst.«

»Aber diese Träume machen mir nichts aus«, meinte Semjon beleidigt.»Im Gegenteil, sie gefallen mir. Wie eine Szene aus einer Parallelwelt… Teufel auch!«

Er trat scharf auf die Bremse.

»Wohl eher sein bevollmächtigter Vertreter…«, meinte ich, während ich dem Chef der Tagwache ins Gesicht blickte. Sebulon stand auf dem Parkplatz - und zwar genau dort, wo Semjon hinfahren wollte. Einladend winkte er uns zu.»Sollen wir deinen Traum Wirklichkeit werden lassen?«, fragte ich.»Was meinst du?«

Aber Semjon stand der Sinn nicht nach Experimenten. Langsam fuhr er weiter, Sebulon wich zur Seite aus, wartete, bis wir zwischen einem dreckigen Shiguli und einem alten Nissan geparkt hatten, öffnete dann die Tür und nahm im Fond Platz.

Dass die Blockierung der Tür nicht funktionierte, erstaunte uns nicht.

»Guten Abend, Wächter«, sagte der Hohe Dunkle leise.

Semjon und ich sahen einander an. Um dann den Blick wieder auf den Rücksitz zu lenken.

»Wohl eher gute Nacht«, bemerkte ich. Selbst wenn Semjon tausendmal mehr Erfahrung hatte als ich - das Gespräch musste ich führen. Als derjenige, der über mehr Kraft verfügte.

»Richtig«, pflichtete Sebulon mir bei.»Das ist Ihre Zeit. Sie fliegen nach Edinburgh?«

»Nach London.«

»Und dann nach Edinburgh. Um den Fall Viktor Prochorow zu untersuchen.«

Zu lügen hätte mir nichts gebracht. Das brachte überhaupt nie etwas.

»Ja, natürlich«, erwiderte ich.»Haben Sie etwas dagegen, Dunkler?«

»Ich unterstütze dieses Vorhaben durchaus«, beteuerte Sebulon.»So seltsam das auch klingen mag, aber ich stelle mich fast nie quer.«

Er trug Anzug und Krawatte, hatte den Knoten allerdings gelockert und den obersten Knopf des Hemds aufgemacht. So dass mit dem ersten Blick unmissverständlich klar war: ein Mensch, der entweder seinen Geschäften nachgeht oder im Staatsdienst steht… Der Fehler läge bereits im Wort»Mensch«.

»Was wollen Sie dann von uns?«, erkundigte ich mich.

»Ich möchte Ihnen eine gute Reise wünschen«, entgegnete Sebulon ungerührt.»Und viel Erfolg bei der Aufklärung des Mords.«

»Was geht Sie das denn an?«, fragte ich nach einer bedrückenden Pause.

»Leonid Prochorow, der Vater des Verstorbenen, ist vor zwanzig Jahren als Anderer identifiziert worden. Als starker Dunkler. Bedauerlicherweise…«Sebulon seufzte.»… wollte er sich nicht initiieren lassen. Er ist ein Mensch geblieben. Dennoch hat er stets gute Beziehungen zu uns unterhalten und uns bisweilen ausgeholfen. Wenn der Sohn eines Freundes von dir von einem kleinen Blutsauger ermordet wird, der die Kontrolle über sich verliert, verstehe ich keinen Spaß mehr. Finde den Kerl, Anton, und lass ihn auf ganz kleinem Feuer schmoren.«

Semjon hatte an meiner Unterredung mit Geser nicht teilgenommen. Aber irgendetwas wusste er über Leonid Prochorow - jedenfalls ließ die Art, wie er sich bestürzt das schlecht rasierte Kinn kratzte, darauf schließen.

»Das habe ich sowieso vor«, meinte ich vorsichtig.»Machen Sie sich da mal keine Gedanken, Großer Dunkler.«

»Aber vielleicht brauchst du unvermutet Hilfe?«, fuhr Sebulon unbeirrt fort.»Man kann ja nie wissen, mit wem man es zu tun bekommt. Nimm das…«

In Sebulons Hand tauchte ein Amulett auf, eine aus Knochen geschnitzte Figur, die einen zähnefletschenden Wolf darstellte. Der Figur entströmte deutlich spürbar Kraft.

»Dies sei dir Verbindung, Hilfe, Rat. Alles zusammen.«Sebulon beugte sich auf dem Rücksitz vor, um mir mit heißem

Atem etwas ins linke Ohr zu flüstern.»Nimm es… Wächter. Es wird dir gute Dienste erweisen.«

»Glaub ich nicht.«

»Nimm es trotzdem.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Na gut, in Ordnung«, seufzte Sebulon.»Wenn es ohne diese dummen theatralischen Effekte nicht geht… Ich, Sebulon, schwöre beim Dunkel, dass ich mein Amulett Anton Gorodezki, einem Lichten Magier, aushändige, ohne dabei Hintergedanken zu hegen, ohne jedwede Absicht, seiner Gesundheit, seinem Geist oder seinem Bewusstsein Schaden zuzufügen, und ohne eine Gegenleistung einzufordern. Wenn Anton Gorodezki meine Hilfe annimmt, geht er damit weder für sich noch für die Kraft des Lichts oder die Nachtwache verbindliche Verpflichtungen ein. Als Zeichen meiner Dankbarkeit für die akzeptierte Hilfe gestatte ich der Nachtwache Moskaus drei lichte magische Handlungen bis zum dritten Grad einschließlich vorzunehmen, ohne heute oder in Zukunft im Gegenzug ein entsprechendes Zeichen der Dankbarkeit zu erwarten. Möge das Dunkel mein Zeuge sein!«

Neben der Wolfsfigur begann eine dunkle Kugel zu kreisen, ein schwarzes Loch im Miniaturformat, eine direkte Untermauerung des Schwurs durch die Urkraft.

»Ich würde trotzdem nicht…«, setzte Semjon warnend an.

Genau in diesem Moment klingelte in meiner Tasche jedoch das Handy, das sich von selbst auf den Freisprechmodus schaltete. All diese Funktionen benutzte ich niemals: Freisprechanlage, Organizer, Spiele, Fotoapparat, Taschenrechner und Radio. Das Einzige, was ich benutzte, war der ins Handy eingebaute Player. Gut, auch diese Konferenzschaltung mochte durchaus ihre Vorteile haben…

»Nimm es«, sagte Geser.»In diesem Punkt lügt er nicht. Und in welchem Punkt er lügt, kriegen wir schon noch raus.«

Dann brach die Verbindung ab.

Sebulon lachte auf und hielt mir nach wie vor die Figur hin. Wortlos klaubte ich sie vom Handteller des Dunklen Magiers und steckte sie in meine Tasche. Einen Schwur musste ich nicht leisten.

»Also, viel Erfolg«, meinte Sebulon.»Ach ja! Wenn es dir keine Mühe macht, dann bring mir doch aus Edinburgh eine Magnetfigur für den Kühlschrank mit.«

»Wozu?«, fragte ich.

»Ich sammle die Dinger«, erklärte Sebulon lächelnd.

Dann verschwand er. Drang in irgendwelche tiefen Schichten des Zwielichts ein. Natürlich versuchten wir nicht, ihn zu verfolgen.

»Dass ihm das nicht peinlich ist«, bemerkte ich.

»Für den Kühlschrank«, murmelte Semjon.»Ich kann mir schon vorstellen, was er im Kühlschrank aufbewahrt… Einen Magneten! Bring ihm ein Gläschen Strychnin mit! Misch es mit schottischem Haggis und gib es ihm.«

»Huggies sind Windeln«, sagte ich.»Gute, wir haben sie für unsere Tochter gekauft.«

»Haggis ist auch eine schottische Spezialität.«Semjon schüttelte den Kopf.»Obwohl… was den Geschmack angeht… da dürfte kein großer Unterschied bestehen.«

Zwei

In unserer Zeit ist es nicht leicht, sich dem Vergnügen des Fliegens zu überlassen. Die Abstürze von veralteten Boeing-737 und Tu-154, gedankenversunkene Schweizer Fluglotsen und treffsichere ukrainische Raketenschützen sowie arabische Terroristen jeglicher Couleur - all das lädt nicht unbedingt dazu ein, die Zeit gelöst in einem komfortablen Sessel zu verbringen. Und selbst wenn der Cognac aus dem Duty-free-Shop billig ist, die Stewardess aufmerksam, Essen und Wein durchaus akzeptabel, vermag sich der Mensch kaum zu entspannen.

Zum Glück war ich kein Mensch. Geser und Swetlana hatten sich die Wahrscheinlichkeitslinien angesehen. Außerdem war ich selbst auch in der Lage, die Zukunft einige Stunden im Voraus zu spüren. Ein problemloser, ja, ein ganz vorzüglicher Flug, eine sanfte Landung in Heathrow, den Anschlussflug nach Edinburgh würde ich bekommen…

Insofern durfte ich mich also ruhig in meinem Sitz der Businessclass zurücklehnen - den ich vermutlich nicht der plötzlichen Großzügigkeit des Chefs zu verdanken hatte, sondern der Tatsache, dass sonst kein Ticket mehr zu kriegen war - den akzeptablen chilenischen Wein trinken und voller Mitgefühl zu der auf jugendlich getrimmten Frau gegenüber vom Gang hinübergucken. Sie litt an ungeheurer Angst. Immer wieder bekreuzigte sie sich und flüsterte lautlos ein Gebet.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, streckte mich im Zwielicht nach ihr aus und strich ihr sacht über den Kopf. Nicht mit den Händen, sondern mit meinem Bewusstsein. Ich berührte die wiederholt gefärbten Haare mit einer Sanftheit, die bei den Menschen nur Mütter kennen und die unverzüglich jeden Kummer vertreibt.

Die Frau entspannte sich und schlief schon in der nächsten Minute ein.

Der neben mir sitzende Mann mittleren Alters war weitaus ruhiger - und von seltener Ausgelassenheit. Geschäftig öffnete er einige kleine Flaschen Gin, die die Stewardess ihm gebracht hatte, mischte sie im soliden Verhältnis von 1:1 mit Tonic und trank sie auf ex. Danach nickte er ein. Er sah aus wie ein typischer Vertreter der Boheme: Jeans, ein Baumwollpullover, ein kurzer Bart. Ein Schriftsteller? Musiker? Regisseur? Wen London nicht alles anzog… von Geschäftsleuten und Politikern bis hin zu Bohemiens und reichen Lebemännern.

Auch ich könnte es mir jetzt gemütlich machen, aus dem Fenster auf die dunklen Weiten Polens hinunterschauen und in Ruhe nachdenken.

Vor Sebulons Auftauchen hatte alles relativ einfach ausgesehen. Der junge Vitja war einem hungrigen oder dummen Vampir zum Opfer gefallen (oder einem, der beides war). Und gestorben. Der Vampir selbst war untergetaucht, sobald er seinen Hunger gestillt hatte und ihm klar geworden war, was er da angerichtet hatte. Die Nachtwache Edinburghs brauchte nur nach den guten alten Polizeimethoden vorzugehen und würde früher oder später, wenn sie sich alle einheimischen und zugereisten Blutsauger vorgenommen und deren Alibis überprüft hatte, eine Observation einleiten, um den Mörder zu fassen. Geser hegte offenbar Schuldgefühle gegenüber Viktors Vater, der - obwohl er kein Anderer hatte werden wollen - der Nachtwache bisweilen behilflich gewesen war, weshalb der Chef die

Aufklärung beschleunigen wollte. Gleichzeitig gab er mir damit die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln.

Klang das logisch?

Absolut. Und in keiner Weise merkwürdig.

Dann tauchte Sebulon auf.

Und unser guter Leonid Prochorow, dieser verhinderte Lichte, stand plötzlich in völlig neuem Licht da! Stellte sich auch als verhinderter Dunkler heraus! Und da er der Tagwache ebenfalls hin und wieder half, hegte auch Sebulon den brennenden Wunsch, den Mörder von Viktor zu bestrafen.

Konnte so etwas möglich sein?

Anscheinend ja. Anscheinend hatte dieser Mann auf zwei Hochzeiten zugleich getanzt. Wir Anderen können nicht sowohl dem Licht als auch dem Dunkel dienen. Die Menschen haben es da leichter. Die meisten von ihnen leben sogar nach ebendiesem Prinzip.

In dem Falle… in dem Falle könnte der Mord an Viktor geplant gewesen sein. Sebulon könnte dahintergekommen sein, dass Prochorow auch uns hilft - und sich gerächt haben, indem er dessen Sohn umbrachte. Natürlich nicht eigenhändig.

Oder umgekehrt. Wie traurig das auch klingen mochte, doch auch Geser hätte durchaus den Mord in Auftrag gegeben haben können. Oh, nicht um sich zu rächen, gewiss nicht! Der Große findet immer eine moralisch einwandfreie Formulierung, mit der er seinen Wunsch rechtfertigt.

Stopp. Warum sollte mich Geser dann nach Edinburgh schicken? Wenn er schuldig war, dürfte er nicht davon ausgehen, dass ich ihn decken würde!

Und Sebulon hätte, wenn er schuldig wäre, noch viel weniger Grund, mir zu helfen. Denn ihm würde ich es, ungeachtet all seiner Schöntuerei, mit Vergnügen heimzahlen!

Folglich brauchten die Großen nichts mit der Sache zu tun zu haben…

Ich nippte an dem Wein. Stellte das Glas ab.

Die Großen hatten also mit der Sache nichts zu tun, verdächtigten sich aber gegenseitig. Und beide setzten sie auf mich. Niemals - und das wusste Geser - würde ich mir die Möglichkeit, Sebulon in die Suppe zu spucken, entgehen lassen. Ebenso - und das war Sebulon klar - würde ich im Zweifelsfall sogar gegen Geser vorgehen.

Immerhin etwas. Im Grunde konnte ich mir sogar kaum etwas Besseres wünschen. Ein Großer Lichter und ein Großer Dunkler, die im weltweiten Kampf zwischen Licht und Dunkel durchaus über einige Erfahrung verfügten, standen auf meiner Seite. Auf ihre Hilfe durfte ich rechnen. Zudem würde mir noch Foma Lermont helfen, dieser Schotte, dessen Familienname für ein russisches Herz so angenehm klang. Damit würde der Vampir nicht die geringste Chance haben zu entkommen.

Eine beruhigende Aussicht. Schließlich kam das Böse nur allzu oft ungestraft davon.

Ich erhob mich und schlängelte mich an meinem Sitznachbar vorbei in den Gang. Schaute auf die Anzeigentafel. Die Toilette vorn im Flugzeug war besetzt. Natürlich könnte ich jetzt einfach warten. Aber ich wollte mir die Füße vertreten. Deshalb zog ich den Vorhang beiseite, der die Businessclass von der Economyclass trennte, und schlenderte zum Ende des Flugzeugs.

Wie hieß es doch so schön:»Die Passagiere der Economyclass landen zusammen mit denen der ersten Klasse - nur weitaus billiger.«Nun, eine erste Klasse gab es in unserem Flugzeug nicht, aber auch die Businessclass war nicht schlecht, mit ihren bequemen breiten Sitzen und dem großzügigen Abstand zwischen den Reihen. Und die Stewardessen waren etwas aufmerksamer, das Essen schmeckte etwas besser, die Getränke flossen etwas reichhaltiger.

Die Fluggäste der Economyclass zogen allerdings auch kein langes Gesicht. Hier schlief oder döste einer, viele Passagiere lasen Zeitungen, Bücher oder Reiseführer. Ein paar Menschen arbeiteten an ihren Notebooks, ein paar spielten etwas. Einer, anscheinend ein echtes Original, steuerte das Flugzeug. Soweit ich es verstand, handelte es sich dabei um einen ausgesprochen realistischen Flugsimulator, und der Spieler flog eben unsere Boeing-767 von Moskau nach London. Ob er auf diese interessante Weise wohl seine Aerophobie bekämpfte?

Selbstverständlich sprachen etliche Passagiere auch dem Alkohol zu. Wie oft man auch darauf hinweisen mochte, dass dieser während eines Flugs besonders schädlich ist, es würden sich doch immer ein paar Unerschrockene finden, die sich ihren Weg über den Wolken auf diese Weise versüßen wollten.

Ich marschierte zum Ende des Gangs. Hier waren die Toiletten ebenfalls besetzt, sodass ich ein paar Minuten warten musste, wobei ich den Blick auf die Hinterköpfe der Fahrgäste gerichtet hielt. Prachtvolle Frisuren, mädchenhafte Pferdeschwänze, kurze Igel, funkelnde Glatzen, komische kindliche Irokesen. Hundert Köpfe, die über ihre jeweiligen Londoner Angelegenheiten nachdachten…

Die Toilettentür öffnete sich, und herauskam ein junger Mann, der sich an mir vorbeizwängte. Ich betrat das Klo.

Und hielt inne.

Drehte mich um.

Der Mann war um die zwanzig. Breitschultrig und etwas größer als ich. Einige Jugendliche bekommen erst nach ihrem achtzehnten Lebensjahr einen Wachstumsschub und breite Schultern. Früher erklärte man das mit dem positiven Einfluss der Armee, die aus einem Jungen einen Mann macht. Letztendlich sind es aber bloß Hormone, die sich in diesem Organismus auf ebendiese Weise bemerkbar machen.

Ein Durchschnittsgesicht.

»Jegor?«, sprach ich ihn in fragendem Ton an.

Und spähte rasch durchs Zwielicht.

Ja, ohne Frage. Selbst wenn er eine Eisenmaske getragen hätte, hätte ich ihn erkannt. Jegor, der Lockvogel Sebulons, den sich Geser geschnappt und so geschickt für seine Zwecke eingespannt hatte. Der früher der einmalige Junge mit der unbestimmten Aura gewesen war.

Inzwischen war er zu einem jungen Mann herangewachsen. Den immer noch eine unbestimmte Aura umhüllte. Ein durchscheinendes Leuchten, das gewöhnlich farblos war, sich manchmal jedoch auch rot, blau, grün und gelb einfärbte. Wie der Sand in der vierten Schicht des Zwielichts - du brauchst nur genau hinzusehen und erkennst alle Farben der Welt. Ein potenzieller Anderer, der selbst im Erwachsenenalter noch werden konnte, was er wollte. Ein Lichter oder ein Dunkler.

Sechs Jahre hatte ich ihn nicht gesehen!

Was für ein Zufall!

»Anton?«Er war nicht weniger verwirrt als ich.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich.

»Ich fliege.«Eine dämliche Antwort.

Dennoch stand ich ihm in nichts nach und kriegte eine noch idiotischere Frage fertig.»Wohin?«

»Nach London«, antwortete Jegor.

Und plötzlich, als ginge ihm mit einem Mal die ganze Komik unseres Gesprächs auf, lachte er los. So leicht und sorglos, als nehme er weder der Nachtwache noch Geser, mir oder sämtlichen Anderen dieser Welt etwas krumm.

Im nächsten Moment klopften wir uns gegenseitig auf die Schulter und brummten den üblichen Quatsch ä la»Das nenn ich Überraschung!«,»Erst vor Kurzem habe ich an dich gedacht…«,»Nie hätte ich damit gerechnet…«. Kurzum, wir verhielten uns genauso, wie es sich gehört, wenn man gemeinsam etwas Bedeutsames, aber nicht gerade Angenehmes erlebt, sich dann zerstritten hat und später, weil es doch so lange her war, in Erinnerung vor allem interessante Momente findet.

Trotzdem waren wir einander nicht so gewogen, um uns zu umarmen und von Rührung übermannt zu werden.

Die Passagiere in unserer Nähe beäugten uns, anscheinend jedoch voller Sympathie. Eine zufällige Begegnung von zwei alten Bekannten an einem so unerwarteten Ort wie in einem Flugzeug ruft stets das Wohlwollen der Zuschauer hervor.

»Bist du meinetwegen hier?«, fragte Jegor dann doch mit einer Spur seines früheren Misstrauens in der Stimme.

»Bist du bescheuert?«, empörte ich mich.»Ich bin geschäftlich unterwegs!«

»Alle Achtung.«Jegor kniff die Augen zusammen.»Arbeitest du immer noch da?«

»Klar.«

Inzwischen achtete niemand mehr auf uns. Auch wir fingen an, allmählich nervös auf der Stelle zu treten, denn wir wussten nicht, worüber wir uns noch unterhalten sollten.

»Du… wie ich sehe… bist du noch nicht initiiert?«, fragte ich plump.

Eine Sekunde lang spannte Jegor sich an.»Ihr seid doch alle gleich!«, meinte er dann mit einem Lächeln.»Weshalb hätte ich das tun sollen? Du weißt doch ganz genau… mit Mühe schaffe ich den siebten Grad. Damit bin ich kein großes Licht. Und - wenn du so willst - auch kein großes Dunkel. Deshalb habe ich alle fortgejagt.«

In meiner Brust heulte es schmerzlich auf.

Solche Zufälle konnte es nicht geben.

Wie Leonid Prochorow war auch Jegor ein Mensch geblieben, hatte er nicht den Weg zu den Anderen gewählt.

Das Licht soll mich strafen - aber solche Zufälle gab es nicht!

»Wohin fliegst du?«, fragte ich erneut, was bei Jegor einen weiteren Lachanfall auslöste. Vermutlich galt er als die Seele jeder Clique: Er lacht gern und ansteckend.»Okay, das habe ich verstanden. Nach London. Zum Studium? Oder machst du da Urlaub?«

»Im Sommer Urlaub in London?«Jegor schnaubte.»Dann könnte ich doch gleich in Moskau bleiben, oder? Dieser Asphaltdschungel oder jener - das ist doch alles eins… Ich fahre zum Festival.«

»Nach Edinburgh?«, hakte ich nach, obwohl ich die Antwort bereits kannte.

»Ja. Ich habe die Zirkusschule abgeschlossen.«

»Was?«Jetzt war es an mir, große Augen zu machen.

»Ich bin Illusionist.«Jegor schmunzelte.

Das war ein Ding!

Wobei - für einen Anderen war das eine hervorragende Tarnung. Selbst ein nicht Initiierter verfügt über Fähigkeiten, die, so gering sie auch sein mögen, jene eines Menschen dennoch übersteigen. Von einem Zauberkünstler erwartet man Wunder. Die Menschheit hat ihnen eine Lizenz zum Zaubern und magischen Handeln ausgestellt.

»Klasse!«, meinte ich ehrlich.

»Schade, dass du nach London fliegst«, seufzte Jegor.»Ich hätte dich gern zu einer Vorstellung eingeladen.«

Und da beging ich eine Dummheit.»Ich fliege nicht nach London, Jegor«, erklärte ich.»Ich muss auch nach Edinburgh.«

Man sieht nur selten, wie die Freude im Nu aus einem Gesicht kriecht, um Unmut und sogar Verachtung Platz zu machen.

»Alles klar. Wozu braucht ihr mich diesmal?«

»Jegor, du…«Dann stockte ich.

Brachte ich den Mut auf, ihm zu sagen, er habe mit all dem nichts zu tun?

Nein.

Denn das glaubte ich selbst nicht.

»Alles klar«, wiederholte Jegor. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Sitz in der Mitte des Flugzeugs zurück. Mir blieb nichts weiter übrig, als ins Klo zu gehen und die Tür hinter mir zu schließen.

Es roch nach Tabak. Trotz aller Verbote verdrückten sich die Raucher immer wieder auf eine Zigarette in die Toilette. Ich blickte in den Spiegel - das zerknautschte Gesicht eines Menschen, der zu wenig geschlafen hatte. Selbst wenn ich viel mehr und viel weniger als ein Mensch war… Ich wollte mit der Stirn gegen den Spiegel schlagen, was ich dann auch tat.»Idiot, Idiot, Idiot…«, flüsterte ich lautlos.

Was mich entspannte. Ich glaubte wieder, dass ich nur auf eine ganze normale Dienstreise geschickt worden war.

Aber konnte das wirklich sein, wenn es Geser höchstpersönlich war, der mich losgeschickt hatte?

Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, blieb noch einen Moment stehen und starrte finster auf mein Spiegelbild. Zu guter Letzt pinkelte ich, drückte mit dem Fuß auf ein Pedal, worauf ein bläuliches Desinfektionsmittel in das Stahlbecken schoss, wusch mir die Hände und spritzte mir noch einmal Wasser ins Gesicht.

Wer steckte hinter dieser Operation? Geser oder Sebulon?

Wer hatte mich auf den gleichen Weg geschickt wie Jegor, den Jungen, der kein Anderer hatte werden wollen? Und weshalb?

Wessen Spiel war das? Wessen Regel? Und vor allem: Wie viele Figuren standen eigentlich auf dem Brett?

Ich holte Sebulons Geschenk aus meiner Tasche. Ein mattgelber Knochen. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass der Künstler eigentlich einen schwarzen Wolf hatte darstellen wollen. Einen ausgewachsenen schwarzen Wolf, der den Kopf in den Nacken geworfen hatte, um ein sehnsüchtiges durchdringendes Geheul anzustimmen.

Verbindung, Hilfe, Rat…

Die Statuette schien stinknormal zu sein. In den Kiosken mit Andenken lagen solche Dinger zu Hunderten und Tausenden aus, wenn auch aus Plastik, nicht aus Knochen. Doch ich spürte die Magie, die die Figur durchströmte. Ich brauchte bloß fest die Hand um sie zu schließen… und mir etwas zu wünschen. Mehr nicht.

Brauchte ich Hilfe von den Dunklen?

Ich widerstand der Versuchung, die Figur im Klo runterzuspülen, und steckte sie zurück in meine Tasche.

Schließlich gab es keine Zuschauer, die diese pathetische Geste zu schätzen gewusst hätten.

Ich kramte in meiner Tasche nach einem Päckchen Zigaretten. So viel rauche ich zwar eigentlich nicht, dass mir ein vierstündiger Flug etwas ausmachen würde, aber jetzt wollte ich mich einfach einem menschlichen Vergnügen überlassen. Das kennen alle Anderen - je reifer wir werden, desto mehr neigen wir zu dummen kleinen Angewohnheiten. Als müssten wir uns an die kleinsten Erscheinungsformen unserer Natur klammern - und als gebe es dafür keinen zuverlässigeren Anker als unsere Laster.

Als ich bemerkte, dass ich das Feuerzeug in der Tasche meines Jacketts gelassen hatte, fachte ich jedoch ohne zu zögern durch eine hochthermische Entladung zwischen Daumen und Zeigefinger einen Bogen an, um mir die Zigarette an einem magischen Feuer anzustecken.

Frischgebackene Andere versuchen alles mit Magie zu bewerkstelligen.

Sie rasieren sich mit der Kristallklinge, bis sie sich die halbe Wange oder das Ohrläppchen absäbeln. Sie kochen ihr Essen mit Fireballs, auch wenn sie dabei die Suppe an den Wänden verspritzen und die Hacksteaks von der Decke kratzen müssen. Sie überprüfen die Wahrscheinlichkeitslinien, bevor sie sich in einen gemütlichen Oberleitungsbus setzen.

Ihnen gefällt es einfach, Magie anzuwenden. Wenn es ihnen zu Gebote stünde, würden sie sich mit ihrer Hilfe nach dem Scheißen auch noch den Hintern abwischen.

Dann werden die Anderen erwachsener, klüger und geiziger. Allmählich begreifen sie, dass Energie immer Energie bleibt und es angemessener ist, sich aus dem Sessel zu erheben und zum Schalter zu gehen, als einen Strom reiner Kraft zum Knopf zu schicken. Dass das Beefsteak auf einem elektrischen Herd viel besser gerät als auf magischem Feuer. Und dass man auf eine Schramme besser ein Pflaster klebt und sich den Avicenna für ernsthafte Verletzungen aufspart.

Später - und dies natürlich nur, wenn der Andere nicht dazu verdammt ist, auf dem untersten Niveau zu versauern - kommt die wahre Meisterschaft. Dann achtest du nicht mehr darauf, wie du dir eine Zigarette anzündest: mit einem Feuerzeug oder mit Magie.

Ich stieß einen Rauchfaden aus.

Geser?

Sebulon?

Gut, Rätselraten brachte nichts. Ich durfte nur nie vergessen, dass wohl alles weitaus komplizierter war, als es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Dann ging ich zu meinem Platz zurück, denn wir würden bald landen.

Über dem Ärmelkanal schüttelte es uns wie üblich in der Luft. Doch die Landung war weich, die normale Passkontrolle brachten wir im Handumdrehen hinter uns. Die übrigen Passagiere gingen zur Gepäckausgabe (bis auf den nicht initiierten Jegor hatte kein weiterer Anderer im Flugzeug gesessen), während ich ein wenig zurückblieb, um meinen Schatten auf dem Boden zu suchen. Mit einem Blick zwang ich die graue Silhouette, Volumen zu gewinnen und sich mir entgegenzuheben. Dann trat ich in meinen Schatten ein und fand mich im Zwielicht wieder.

Hier sah es noch fast so aus wie zuvor. Es gab Wände, Fenster und Türen. Nur war alles grau, ausgeblichen. Die normalen Menschen waberten als langsame Schatten durch die reale Welt. Ohne zu wissen, warum, versuchten sie, einen äußerlich völlig unscheinbaren Abschnitt des Gangs zu meiden, und beschleunigten sogar den Schritt.

Ihren Zollschalter suchten Andere besser im Zwielicht auf, um die Menschen nicht zu beunruhigen. Dafür legen sie einen Zauber, den Kreis der Nichtbeachtung, über den Schalter, worauf die Menschen sich alle Mühe geben, ihn zu ignorieren. Aber mich könnten sie durchaus bemerken - wenn ich mit dem Nichts sprach.

Deshalb ging ich im Zwielicht auf den Kontrollposten zu, und erst als ich ihn erreicht hatte, trat ich im Schutz des Zaubers wieder in die reale Welt ein.

Zollbeamte gab es zwei: einen Lichten und einen Dunklen. Ganz wie es sich gehörte.

Andere bei einem Grenzübertritt zu kontrollieren ist meiner Ansicht nicht sehr durchdacht. Vampire und Tiermenschen müssen sich in der Wache vor Ort registrieren lassen, wenn sie über Nacht in einer Stadt bleiben. Begründet wird das damit, dass die niederen Dunklen allzu oft der tierischen Seite ihrer Natur freien Lauf lassen. Nun gut. Andrerseits ist jeder Magier, sei er nun ein Dunkler oder ein Lichter, fähig, Dinge anzurichten, dass ein Vampir sich vor Entsetzen ins Grab stürzen würde. Aber lassen wir das. Gehen wir einfach davon aus, es sei so Tradition - und bislang hat niemand den Wunsch verspürt, das zu ändern, trotz aller Proteste seitens der Vampire und Tiermenschen. Aber welchen Sinn sollte es haben, zu kontrollieren, ob Andere eine Landesgrenze überschreiten? Das ist nur für Menschen wichtig: illegale Einwanderung, Schmuggel, Drogen… und schließlich Spione. Obwohl Spione bereits seit einem halben Jahrhundert nicht mehr mit angeschnallten Elchhufen an den Füßen die Kontrollstreifen passieren oder nachts über dem Gebiet des Feindes mit einem Fallschirm abspringen. Ein Spion, der auf sich hält, fliegt mit dem Flugzeug und quartiert sich in einem guten Hotel ein. Was die Anderen angeht - so ist unsere Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt, und selbst ein schwacher Magier könnte die Bürgerschaft jedes x-beliebigen Staates ohne Probleme erhalten. Wozu also für uns diese dumme Kontrolle?

Vermutlich geht das auf die Inquisition zurück. Formell unterstehen die Zollbeamten der Nacht- und der Tagwache vor Ort. Aber auch die Inquisition erhält einen täglichen Bericht. Dem man dort weitaus mehr Aufmerksamkeit widmen dürfte.

Und entsprechende Schlussfolgerungen ziehen.

»Guten Abend. Ich bin Anton Gorodezki«, stellte ich mich vor, als ich den Zollschalter erreicht hatte. Papiere kennen wir nicht - und das ist auch gut so. Immer wieder kursieren Gerüchte, jeder von uns würde ein magisches Siegel erhalten, so wie es für Vampire bereits üblich ist. Oder im normalen Pass der Menschen würde eine Eintragung vorgenommen, den diese nicht sehen können.

Doch noch kamen wir ohne Bürokratie aus.

»Ein Lichter«, konstatierte der Dunkle. Ein schwacher Magier, nicht höher als sechster Grad. Der absolut kümmerlich aussah: schmale Schultern, mager, klein, blass, mit spärlichem Blondhaar.

»Ein Lichter«, bestätigte ich.

Mein Pendant von der Londoner Nachtwache stellte sich als lebenslustiger dicker Schwarzer heraus. Den mit seinem Kollegen nur verband, dass er ebenfalls jung und schwach war, höchstens sechster oder siebter Grad.

»Hallo, Bruder!«, begrüßte er mich fröhlich.»Anton Gorodezki? Wo arbeitest du?«

»Nachtwache, Russland, Moskau.«

»Grad?«

In dem Moment wurde mir klar, dass sie meine Aura nicht durchdringen konnten. Wenn ich auf der vierten oder fünften Kraftstufe gestanden hätte, würden sie sie dechiffrieren können. Alles, was darüber hinausging, verschmolz für sie zu einem einzigen kompakten Leuchten.

»Ein Hoher.«

Der Dunkle nahm irgendwie Haltung an. Sicher, sie alle sind egoistisch und individualistisch. Zollen aber jemandem, der über ihnen steht, Respekt.

Der Lichte riss die Augen auf.»Oh!«, rief er.»Ein Hoher! Bleiben Sie lange hier?«

»Ich bin auf der Durchreise. Nach Edinburgh. In drei Stunden fliege ich weiter.«

»Privat? Oder dienstlich?«

»Eine Dienstreise«, antwortete ich ohne nähere Erklärung.

Die Lichten sind natürlich liberal und demokratisch. Aber auch sie verehren die Hohen.

»Sind Sie dort ins Zwielicht eingetreten?«Der Dunkle machte eine Kopfbewegung in Richtung des Zollschalters für die Menschen.

»Ja. Haben mich die Überwachungskameras etwa aufgenommen?«

»Nein.«Der Dunkle schüttelte den Kopf.»Hier haben wir alles unter Kontrolle. Aber in der Stadt würde ich Ihnen empfehlen aufzupassen. Dort gibt es viele Kameras. Sehr viele. Die Menschen bemerken ab und an, wie wir verschwinden und wiederauftauchen. Dann müssen wir unsere Spuren beseitigen.«

»Ich werde noch nicht einmal den Flughafen verlassen.«

»In Edinburgh gibt es ebenfalls Kameras«, mischte sich der Lichte ein.»Weniger, aber trotzdem… Haben Sie die Koordinaten der Edinburgher Wache?«

Dass er die Nachtwache meinte, betonte er nicht extra. Das verstand sich von selbst.

»Ja«, antwortete ich.

»Ein guter Freund von mir hat in Edinburgh ein kleines Hotel im Familienbesitz«, ergriff der Dunkle wieder das Wort.»Schon seit über 200 Jahren. In der Nähe von Edinburgh Castle, in der Royal Mile. Wenn es Sie nicht stört, dass er ein Vampir ist…«

Was war das nur! Überall wimmelte es von Vampiren!

»… dann wäre hier seine Visitenkarte. Es ist ein sehr gediegenes kleines Hotel. Anderen gegenüber aufgeschlossen.«

»Ich hege Vampiren gegenüber keine Vorurteile«, versicherte ich und nahm die Karte an mich.»Früher war ich sogar mit Vampiren befreundet.«

Und einen Vampir, mit dem ich befreundet gewesen war, hatte ich in den Tod geschickt…

»Im Sektor B gibt es ein gutes Restaurant«, schaltete sich der Lichte wieder ein.

Sie bemühten sich so aufrichtig darum, mir zu helfen, dass ich nicht wusste, wie ich diesen Kordon der Freundlichkeit und Gefälligkeit passieren sollte. Zum Glück landete gerade ein weiteres Flugzeug und hinter mir tauchten weitere Andere auf. Mit jenem eingemeißelten Lächeln, für das sich die Muskulatur eines russischen Menschen so schlecht eignet, begab ich mich zur Gepäckausgabe.

Da ich absolut keinen Appetit hatte, sparte ich mir den Besuch im Restaurant. Ich schlenderte ein wenig durch die Flughafenhalle, trank einen doppelten Espresso, döste in einem Sessel im Wartesaal und bestieg gähnend das Flugzeug. Wie zu erwarten, nahm Jegor dieselbe Maschine. Doch jetzt blickten wir demonstrativ aneinander vorbei. Genauer, er blickte demonstrativ an mir vorbei, während ich ihn einfach nur nicht ansprach.

Eine Stunde später landeten wir in Edinburgh.

Es ging auf Mittag zu, als ich mich in ein Taxi setzte. In eines dieser wunderbar bequemen englischen Taxis, nach denen du dich zurücksehnst, sobald du Großbritannien verlässt. Ich begrüßte den Fahrer, gab einem spontanen Impuls nach - und reichte ihm die Visitenkarte des»aufgeschlossenen Hotels«. Obwohl für mich ein Zimmer in einem normalen Hotel der Menschen reserviert war. Aber die Möglichkeit, mit einem sehr alten schottischen Vampir (zweihundert Jahre sind selbst für sie keine Kleinigkeit) in ungezwungener Atmosphäre zu sprechen, reizte mich ungeheuer.

Das Hotel lag tatsächlich im historischen Stadtzentrum, auf einem Hügel in der Nähe des Edinburgh Castle. Ich ließ das Fenster herunter und schaute mich mit der Neugier eines Menschen, der zum ersten Mal in ein neues und interessantes Land kommt, nach allen Seiten um.

Edinburgh beeindruckte mich. Sicher, mich hätte vermutlich jede alte Stadt beeindruckt, in der nicht vor sechzig Jahren die Feuerwalze des Zweiten Weltkriegs durchgedonnert war, um alte Kirchen, Schlösser, Häuser und Häuschen in Schutt und Asche zu legen. Trotzdem gab es hier etwas Besonderes. Vielleicht lag es an der Burg selbst, die sich so anmutig auf dem Berg erhob und die Stadt gleich einer steinernen Krone schmückte. Vielleicht lag es an den vielen Touristen in den Straßen, die, mit Kameras behängt, in Urlaubsstimmung dahinschlenderten und sich Schaufenster und Denkmäler anguckten. Es ist ja immer das Gefolge, das den König macht. Und sei es das Spitzengewebe der Straßen mit den altertümlichen Häusern und dem Kopfsteinpflaster, welches zwanglos die Burg säumte.

Selbst mit der prachtvollsten Krone auf dem Kopf kommt ein König nicht ohne würdevolles Kleid aus. Den nackten König aus dem Märchen von Andersen konnten seine auf dem Kopf funkelnden Brillanten schließlich auch nicht retten.

Das Taxi hielt an einem dreistöckigen Steinhaus, dessen schmale Fassade von zwei Geschäften eingezwängt wurde, die von Besuchern barsten. In den Schaufenstern hingen Kilts und Schals in unterschiedlichen Farben, standen die obligatorischen Whiskyflaschen. Was sollte man auch sonst von hier mitbringen? Aus Russland gibt’s Wodka und Matrjoschkas, aus Griechenland Ouzo und bestickte Tischdecken - und aus Schottland Whisky und Schals.

Ich stieg aus dem Taxi, bekam vom Fahrer meinen Koffer und bezahlte. Dann sah ich mir das Gebäude an. Über dem Eingang prangte ein Schild:»Highlander Blood«.

O ja. Ein dreister Vampir.

Im grellen Sonnenlicht blinzelnd ging ich zur Tür. Allmählich wurde es heiß. Die Legende, Vampire vertrügen das Sonnenlicht nicht, war nicht mehr und nicht weniger als das: eine Legende. Dabei war ihnen Sonne einfach nur unangenehm. Und an solchen heißen Sommertagen kann ich sie sogar verstehen.

Die Tür öffnete sich nicht eilfertig vor mir, mit irgendeiner Automatik hatte man sich im Hotel offenbar noch nicht angefreundet. Deshalb stieß ich sie mit der Hand auf und trat ein.

Immerhin schien es eine Klimaanlage zu geben. Denn diese kühle Frische dürfte sich trotz der dicken Steinwände kaum von der Nacht gehalten haben.

Das kleine Vestibül lag im Halbdunkel und wirkte vielleicht gerade deshalb so gemütlich. Hinter dem Rezeptionstresen erblickte ich einen nicht mehr jungen, höchst respektablen Herrn. Gepflegter Anzug, Krawatte mit Nadel, das Hemd mit silbernen Manschettenknöpfen, die als Distel gearbeitet waren. Ein volles Gesicht, Schnauzbart, rotwangig, kurzum das blühende Leben. Seine Aura ließ zudem keinen Zweifel: ein Mensch.

»Guten Tag.«Ich trat an die Rezeption heran.»Ihr Hotel wurde mir empfohlen… Ich würde gern ein Einzelzimmer haben.«

»Für einen Menschen?«, fragte der Herr mit dem freundlichsten Lächeln.

»Ja, für eine Person«, antwortete ich.

»Mit Zimmern sieht es momentan sehr schlecht aus, das Festival…«Der Herr seufzte.»Vorbestellt hatten Sie doch nicht?«

»Nein.«

Abermals seufzte er bekümmert auf, dann fing er an, irgendwelche Papiere durchzublättern - als gäbe es in diesem kleinen Familienhotel derart viele Zimmer, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, ob noch eins frei war.»Und wer hat Sie uns empfohlen?«, fragte er, ohne den Blick zu heben.

»Der Dunkle vom Zoll in Heathrow«

»Ich denke schon, dass wir Ihnen weiterhelfen können«, meinte der Mann ohne jede Verwunderung.»Was für ein Zimmer hätten Sie denn gern? Ein lichtes oder ein dunkles? Falls Sie… ähäm… einen Hund dabeihaben, hätten wir ein sehr komfortables Zimmer, das selbst der größte Hund selbstständig verlassen… und in das er wieder zurückkommen kann… ohne jemanden zu stören.«

»Ich brauche ein lichtes Zimmer«, sagte ich.

»Gib ihm die Luxussuite im dritten, Andrew«, erklang es da hinter mir.»Das ist ein hoher Gast. Ein sehr hoher.«

Nachdem ich von dem Mann am Empfang den gleichsam herbeigezauberten - wobei natürlich keinerlei Zauberei im

Spiel war, der Mann hatte einfach geschickte Hände - Schlüssel entgegengenommen hatte, drehte ich mich um.

»Ich bringe Sie persönlich hinauf«, meinte ein blondhaariger junger Mann, der neben dem Zigarettenautomaten an der Tür stand, die zu dem kleinen Restaurant des Hotels führte. Häufig verzichtet man in solchen Hotels ja auf ein Restaurant und bringt das Frühstück aufs Zimmer, doch die Gäste hier hatten einen etwas zu exotischen Geschmack…

»Anton«, stellte ich mich vor, während ich den Besitzer des Hotels betrachtete.»Anton Gorodezki aus Moskau. Nachtwache.«

»Bruce«, erwiderte der Jüngling.»Bruce Ramsay, Edinburgh. Besitzer dieser Einrichtung.«

Er sah aus, als könnte er ohne weiteres den Dorian Gray in einer Verfilmung von Wildes Roman spielen. Ein junger, graziöser und unerhört frischer Schönling, dem man das Schild»Zu jeder Schandtat bereit!«umhängen sollte.

Nur seine Augen waren alt. Grau, farblos, mit dem gleichmäßig rosa eingefärbten Weiß eines zweihundert Jahre alten Vampirs.

Der junge Mann nahm meinen Koffer - wogegen ich nicht das Geringste einzuwenden hatte - und stieg eine schmale Holztreppe hoch.»Leider haben wir keinen Fahrstuhl«, meinte er im Gehen.»Das Haus ist alt und zu klein, um hier einen Schacht einzubauen. Außerdem bin ich an Fahrstühle nicht gewöhnt. Ich glaube, so ein mechanisches Scheusal würde dieses wundervolle Haus verschandeln. Ich hasse diese modernisierten Häuser, die alte Fassaden haben, hinter denen sich öde Standardwohnungen verbergen. Zugegeben, wir haben auch selten Gäste, denen das Treppensteigen schwerfällt… Tiermenschen machen die steilen Stufen vielleicht etwas aus, deshalb sind wir stets darauf bedacht, sie im Parterre unterzubringen, dort gibt es ein spezielles Zimmer, oder im ersten Stock… Was hat Sie eigentlich in unsere ruhige Stadt verschlagen, Hoher Lichter?«

Er selbst war auch nicht gerade ohne. Ein Vampir, der über Kraft ersten Grades verfügte, wenn diese auch nicht hundertprozentig magisch - nicht so wie bei mir-, sondern vampirisch war. Trotzdem konnte man ihn durchaus als Anderen ersten Grades bezeichnen.

»Der Vorfall in den Verliesen«, teilte ich ihm mit.

»Das habe ich mir gedacht.«Schwungvoll zwei Stufen auf einmal nehmend, ging der Jüngling voran.»Ein höchst unangenehmer Vorfall. Situationskomik schätze ich normalerweise, ohne Frage… Aber das ist nicht lustig. Die Zeiten sind vorbei, in denen man einfach auf einen netten Menschen zugehen und ihn bis auf den letzten Tropfen leer trinken konnte. Sie sind längst vorbei!«

»Sehnen Sie sich nach der Vergangenheit zurück?«, platzte ich heraus.

»Manchmal«, antwortete der junge Mann. Dann lachte er.»Aber jedes Alter und jede Zeit hat ihre Vorteile, oder etwa nicht? Die Menschen werden zivilisierter, sie hören auf, Hexen zu jagen und an Vampire zu glauben. Und so werden auch wir zivilisierter. Man darf Menschen nicht einfach behandeln, als wären sie rechtloses Vieh. Die Menschen haben es verdient, dass wir sie respektieren, und sei es nur als unsere Vorfahren. Und seine Vorfahren sollte man doch achten, oder?«

Bedauerlicherweise konnte ich dem nicht widersprechen.

»Das Zimmer ist sehr schön, es wird Ihnen gefallen«, fuhr der Vampir fort, als er den dritten Stock erreichte. Hier gab es nur zwei Türen. Die Treppe führte noch weiter hinauf, zu einer Mansarde.»Rechts ist die Luxussuite für Dunkle, die auch äußerst exquisit ist, denn ich habe sie nach meinem eigenen Geschmack eingerichtet und bin sehr stolz auf das Design. Und hier ist Ihr Zimmer.«

Einen Schlüssel brauchte er nicht. Er klopfte einfach sanft mit der Hand auf das Schloss, und die Tür öffnete sich. Eine alberne, ja, für so einen alten Vampir sogar merkwürdige Angeberei.

»Wir haben einen sehr guten Innenarchitekten an der Hand, einen Lichten Autodidakten. Er verfügt nur über den sechsten Grad, doch für diese Arbeit ist ja keine Magie vonnöten«, fuhr Bruce fort.»Auf meine Bitte hin hat er drei Zimmer nach dem Gusto der Lichten eingerichtet. Sonst ist die Einrichtung natürlich etwas origineller, wie Sie sich denken können…«

Ich betrat das Zimmer. Und blieb zur Salzsäule erstarrt stehen.

Niemals hätte ich geglaubt, so einen Geschmack zu haben.

Um mich herum strahlte alles in Weiß, Beige und Rosa. Das Parkett war aus hellem, ausgeblichenem Holz, die Wände mit beigefarbener Tapete tapeziert, auf der hellrosa Blumen prangten. Altmodische Möbel, aber ebenfalls aus hellem Holz, und schneeweißer Atlas. An der Wand stand ein großes Ledersofa. In welcher Farbe? Weiß natürlich. An der Decke hing ein Kristalllüster. Vor den Fenstern durchscheinender Tüll und Übergardinen aus zartrosafarbenem Stoff.

Wie musste hier am Morgen die Sonne brennen…

Eine Tür führte in ein kleines Schlafzimmer. Ein gemütlicher Raum mit Doppelbett. Rosafarbene Seidenbettwäsche. Auf dem Toilettentisch stand eine kleine Vase mit einer frischen, purpurroten Rose, dem einzigen leuchtenden Tupfer im ganzen Zimmer. Hinter einer zweiten Tür lag das Bad, das winzig, jedoch mit einem hochtechnologischen Zwitterwesen aus Whirlpool und Duschkabine aufwartete.

»Widerwärtig und stillos«, seufzte Bruce hinter mir.»Aber vielen gefällt es.«

Sein Gesicht im Spiegel drückte leichten Verdruss aus. Offenbar hatte ihm die Idee, sein Hotel mit diesem sanitären Wunder auszustatten, überhaupt nicht gefallen.

Ohne mich umzudrehen, nickte ich dem Vampir zu. Dass Blutsauger kein Spiegelbild werfen, war genauso eine Lüge wie ihre absolute Sonnenunverträglichkeit und Angst vor Knoblauch, Silber und Espenholz. Im Gegenteil: Sie sind deutlich im Spiegel zu erkennen, selbst wenn sie den Blick eines Menschen ablenken.

Und wenn man sie im Gespräch nicht anschaut, ja, mehr noch, wenn man ihnen ohne Bedenken den Rücken zukehrt, macht sie das in höchstem Maße nervös. Denn Vampiren stehen etliche Möglichkeiten zur Verfügung, für die sie ihr Gegenüber direkt ansehen müssen.

»Ich werde mit Vergnügen ein Bad nehmen«, versicherte ich.»Aber später. Hätten Sie vielleicht zehn Minuten für mich Zeit, Bruce?«

»Sind Sie offiziell hier in Edinburgh, Lichter?«

»Nein.«

»Dann habe ich natürlich Zeit.«Der Vampir setzte ein strahlendes Lächeln auf. Und nahm im Sessel Platz.

Ich setzte mich ihm gegenüber. Mir ebenfalls ein Lächeln abringend, guckte ich dem jungen Mann aufs Kinn.

»Wie gefällt Ihnen das Zimmer?«, wollte Bruce wissen.

»Ich glaube, es würde ein unschuldiges Mädchen von siebzehn Jahren begeistern«, antwortete ich ehrlich.»Fehlt nur noch ein weißes Kätzchen.«

»Wenn Sie wollen, können wir beides für Sie organisieren«, schlug der Vampir freundlich vor.

Damit durfte der weltliche Teil des Gesprächs wohl als beendet gelten.

»Ich bin inoffiziell in Edinburgh«, wiederholte ich.»Gleichzeitig aber auf Bitte der Leitung der Nacht-… und der Tagwache Moskaus.«

»Wie ungewöhnlich…«, kommentierte der Mann leise.»Der verehrte Geser und der hochwürdige Sebulon schicken ein und denselben Boten… noch dazu einen Hohen Magier… noch dazu wegen eines solch nichtigen Anlasses. Oh, es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen helfen zu können.«

»Beunruhigt Sie persönlich, was vorgefallen ist?«, fragte ich ganz direkt.

»Natürlich. Ich habe mich dazu ja auch schon geäußert.«Bruce runzelte die Stirn.»Wir leben nicht mehr im Mittelalter. Wir sind Bürger Europas, und zwar im 21. Jahrhundert. Die alten Verhaltensmuster müssen überwunden werden…«Er seufzte und schielte zur Badezimmertür hinüber.»Man sollte keine Waschschüssel und kein Plumpsklo benutzen, wenn es Wasserleitungen und Kanalisation gibt. Selbst wenn die Waschschüssel vertrauter und angenehmer ist… Bei uns, müssen Sie wissen, erfreut sich in letzter Zeit eine Bewegung großen Zuspruchs, die für humane Beziehungen zu den Menschen eintritt. Ohne Lizenz trinkt schon niemand mehr Blut. Auch mit Lizenz versuchen wir, einen tödlichen Ausgang zu vermeiden… von Kindern unter zwölf trinken wir fast nie etwas, selbst wenn sie uns per Los zugewiesen werden.«

»Und warum ausgerechnet bis unter zwölf?«

»Historisch hat sich das so entwickelt.«Bruce zuckte die Schultern.»Wissen Sie, was zum Beispiel in Deutschland als das schrecklichste Verbrechen gilt? Der Mord an einem Kind unter zwölf Jahren. Wenn es bereits zwölf ist - und sei es auch erst seit gestern -, liegt ein völlig neuer Tatbestand vor, der auch anders geahndet wird… Bei uns ist es also heute nicht mehr üblich, Kinder anzurühren. Zurzeit fechten wir ein Gesetz durch, nach dem Kinder gänzlich aus der Lotterie herausgenommen werden sollen.«

»Das ist sehr rührend«, murmelte ich.»Aber wer hat sich dann den Jungen ohne Lizenz munden lassen?«

Bruce dachte nach.»Wissen Sie, da kann ich nur mit Mutmaßungen dienen…«

»Genau die interessieren mich.«

Bruce zögerte kurz, dann lächelte er breit.»Was gibt es da groß zu spekulieren? Einem Jungvampir ist die Sicherung durchgebrannt. Vermutlich einer jungen Frau, die erst vor Kurzem zur Vampirin geworden ist. Der Junge gefiel ihr… dann das ganze Ambiente, das so erregend ist, ganz im Geist der alten Überlieferungen… Da konnte sie sich einfach nicht mehr beherrschen.«

»Sie glauben, es handelt sich um eine Frau?«

»Vielleicht auch um einen Mann. Wenn er schwul ist. Das muss zwar nicht unbedingt sein…«Bruce senkte peinlich berührt den Blick.»Aber es ist immer irgendwie angenehmer… physiologisch irgendwie natürlicher…«

»Und eine zweite Variante?«, fragte ich, nachdem ich mit Mühe jeglichen Kommentar heruntergeschluckt hatte.

»Ein Auswärtiger. Irgendein Tourist. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist alles aus den Fugen geraten, jeder reist jetzt hierhin und dorthin…«Missbilligend schüttelte er den Kopf.»Gewisse verantwortungslose Personen nutzen das aus.«

»Ich will Ihre Wachen nicht behelligen, Bruce«, meinte ich.»Sonst glaubte man womöglich noch, die Moskauer Kollegen würden an ihrer Professionalität zweifeln. Vielleicht könnten Sie mir sagen, wer hier in der Stadt der wichtigste Vampir ist. Der Dienstälteste, Höchste… Welchen Titel gebrauchen Sie für ihn?«

»Ich gebrauche für ihn gar keinen.«Bruce lächelte breit. Dann klapperte er kurz und demonstrativ mit seinen Hauern, indem er aus dem Oberkiefer erst zwei lange spitze Eckzähne herauswachsen ließ, die er dann wieder zurückzog.»Aber mich spricht man mit Meister an. Das Wort gefällt mir nicht unbedingt, da es aus dummen Büchern und Filmen entliehen ist. Doch wenn es ihnen gefällt, sollen sie mich eben so nennen.«

»Für einen Meister sind Sie aber doch noch recht jung«, bemerkte ich erstaunt.»Nur zweihundert Jahre.«

»Zweihundertachtundzwanzig Jahre, drei Monate und elf Tage«, stellte Bruce richtig.»Ja, ich bin noch jung. Aber das hier ist Schottland. Sie müssen sich vergegenwärtigen, wie misstrauisch, stur und ihrem Aberglauben verhaftet dieses Volk von Highlandern ist! In meiner Jugend hat es nicht ein Jahr gegeben, in dem sie nicht einem von uns einen Pflock aus Espenholz ins Herz geschlagen hätten.«

Vielleicht täuschte ich mich ja, aber in Bruce’ Stimme schwang offener Stolz auf seine Landsleute mit.

»Werden Sie mir helfen, Meister?«, fragte ich.

»Nein.«Bruce schüttelte den Kopf.»Selbstverständlich nicht! Wenn wir herausfinden, wer diesen Russen umgebracht hat, werden wir ihn bestrafen. Allein. Nicht tödlich, aber hart. Den Wachen wird indes niemand ausgeliefert.«

Selbstverständlich nicht. Was hatte ich denn erwartet?

»Ich brauche wohl nicht zu fragen: Haben Sie ihn nicht schon zufällig gefunden und bestraft?«, setzte ich noch einmal an.

»Brauchen Sie nicht«, antwortete Bruce seufzend.

»Dann muss ich mich also selbst dranmachen, den Verbrecher zu suchen?«, meinte ich in bewusst jämmerlichem Ton.»Oder soll ich einfach in Ihrer wunderschönen Stadt ein paar nette Urlaubstage verbringen?«

»Als Dunkler kann ich Ihnen natürlich nur eine einzige Antwort geben.«In Bruce’ Stimme klang jetzt Ironie an.»Machen Sie Urlaub. Entspannen Sie sich, schauen Sie sich die Museen an, gehen Sie spazieren. Wer interessiert sich schon für einen toten Studenten?«

In dem Moment spürte ich, dass ich mich nicht länger zusammenreißen wollte. Ich sah Bruce in die Augen. In die dunklen Löcher der Pupillen, in denen es fröhlich purpurrot loderte.

»Und wenn ich dich kleinkriege, du toter Blutsauger?«, fragte ich.»Kleinkriege, ausweide und dazu bringe, auf all meine Fragen zu antworten?«

»Nur zu«, erwiderte Bruce mit sanfter, fast zärtlicher Stimme.»Versuch’s nur, Hoher. Glaubst du etwa, du seist uns unbekannt? Glaubst du etwa, wir wussten nicht, woher deine Kraft kommt?«

Auge in Auge.

Pupille in Pupille.

Ein schwarzer pulsierender Tunnel, der mich ins Nichts zog. Ein roter Funkenwirbel eines fremden, gestohlenen Lebens. Ein verführerisches Flüstern in den Ohren. Die ätherische, erhabene, überirdische Schönheit im Gesicht dieses vampirischen Jünglings.

Vor ihm auf die Knie fallen…

In Begeisterung und Bewunderung losweinen: welche Schönheit, Weisheit, welch Wille…

Um Verzeihung bitten…

Er war sehr stark. Immerhin verfügte er über zweihundertjährige Erfahrung, multipliziert mit der vampirischen Kraft ersten Grades.

Und diese Kraft bekam ich in vollem Umfang zu spüren. Ich stand auf starren, fremden Beinen. Machte einen unsicheren Schritt.

Bruce lächelte.

Genau wie vor acht Jahren die Vampire in dem Moskauer Tordurchgang gelächelt hatten, in dem ich dem hilflosen, dem Ruf ausgelieferten Jegor nachjagte…

Ich legte so viel Kraft in meine mentale Attacke, dass, wenn man daraus einen Fireball formen würde, eine Feuerkugel entstünde, die drei Dutzend Häuser durchdringen und die Festungsmauer der alten schottischen Burg durchschlagen würde.

Bruce’ Pupillen erbleichten, verloren ihre Farbe. Den betörenden schwarzen Tunnel brannte ein weißes Licht nieder. Vor mir saß, vor- und zurückschaukelnd, ein ausgetrockneter Alter mit jungem Gesicht. Die Haut blätterte ihm vom Gesicht, fiel in so winzigen Schuppen ab, wie man sie vom Haar kennt.

»Wer hat Viktor ermordet?«, fragte ich. Nach wie vor strömte die Kraft wie ein dünner Strom durch mich, wand sich einer elastischen Schlinge gleich heraus und bohrte sich in das Auge des Vampirs.

Er schwieg, schaukelte jedoch in einem fort in seinem Sessel vor und zurück. Ich hatte ihm doch nicht das Gehirn weggeätzt? Oder was da bei ihm anstelle des Gehirns saß? Was für ein gelungener Auftakt meiner inoffiziellen Untersuchung!

»Weißt du, wer Viktor ermordet hat?«, formulierte ich meine Frage um.

»Nein«, gab Bruce leise Auskunft.

»Hast du irgendeinen Verdacht?«

»Ja… zwei. Ein junger… eine junge Vampirin hat die Kontrolle über sich verloren… Ein Auswärtiger… ein zugereister Vampir…«

»Was weißt du noch über diesen Mord?«

Schweigen. Als ordne er seine Gedanken, bevor er zu einer langen Antwort ansetzte.

»Was weißt du noch davon? Was wissen die Mitarbeiter der hiesigen Wachen nicht?«

»Nichts…«

Ich unterbrach den Kraftzustrom. Ließ mich in den Sessel fallen.

Was sollte ich jetzt tun? Was, wenn er eine Beschwerde bei der Tagwache einreichte? Ein unmotivierter Überfall, ein Verhör…

Eine Minute lang schaukelte Bruce noch in seinem Sessel, dann seufzte er, und das Bewusstsein kehrte in seinen Blick zurück.

Das Bewusstsein und das Bedauern.

»Ich bitte um Verzeihung, Lichter«, sagte er leise.»Ich möchte mich aufrichtig entschuldigen.«

Ich brauchte einige Sekunden, um ihn zu begreifen.

Ein Meister der Vampire - das ist nicht nur der stärkste, geschickteste und klügste Blutsauger. Sondern auch derjenige, der niemals eine Niederlage erlitten hat.

Eine Beschwerde von Bruce zöge für mich große Schwierigkeiten nach sich. Für ihn bedeutete sie freilich den Verlust seines Status.

Und dieser höfliche alte Jüngling brannte vor Ehrgeiz.

»Ich nehme die Entschuldigung an, Meister«, erwiderte ich.»Wir wollen Stillschweigen über den Vorfall bewahren.«

Bruce beleckte sich die Lippen. Sein Gesicht rötete sich, gewann seine bisherige Liebenswürdigkeit zurück. Auch seine Stimme klang wieder voller, hatte er doch verstanden, dass es durchaus nicht in meinem Interesse lag, den Vorfall publik zu machen.

»Ich würde jedoch darum bitten…«In diesem letzten Wort schwangen sowohl Nachdruck wie offener Hass mit.»… solche Attacken nicht zu wiederholen, Lichter. Diese Aggressivität war durch nichts begründet.«

»Du hast mich zum Duell herausgefordert.«

»De jure nicht«, konterte Bruce prompt.»Denn das Ritual der Herausforderung wurde nicht vollzogen.«

»De facto doch. Wollen wir etwa die Inquisition damit behelligen?«

Er blinzelte. Und verwandelte sich in den gastfreundlichen Hotelbesitzer von vorhin zurück.

»Gut, Lichter. Wer Altes aufrührt…«

Leicht schwankend erhob sich Bruce. Ging zur Tür. An der Schwelle drehte er sich noch einmal um.»Mein Haus ist jetzt dein Haus«, brachte er mit unverhohlenem Missmut hervor.

»Dieses Zimmer ist deine Wohnung. Ich werde es nicht ohne Aufforderung betreten.«

Wie seltsam es auch anmutete, doch diese alte Legende stimmte. Vampire konnten ein fremdes Haus nicht ohne Einladung betreten. Freilich wusste niemand, warum dem so war.

Die Tür schloss sich hinter Bruce. Ich gab die Armlehnen des Sessels wieder frei. Auf dem weißen Atlas blieben die Abdrücke meiner feuchten Hände zurück. Dunkle Abdrücke.

Es ist nicht gut, nachts nicht zu schlafen. Die Nerven gehen einem dann durch.

Dafür wusste ich jetzt immerhin, dass der Meister der Edinburgher Vampire über keinerlei Informationen über den Mörder verfügte.

Ich packte meinen Koffer aus. Hing einen hellen Leinenanzug und ein paar frische Hemden auf Bügel. Sah aus dem Fenster. Schüttelte den Kopf. Holte Shorts und ein T-Shirt mit dem Aufdruck Nachtwache heraus. Das war natürlich blöde - aber war das etwa der einzige bekloppte Aufdruck auf einem T-Shirt?

Plötzlich fesselte ein in schnörkeliger Schönschrift abgefasster Text, der in einem Rahmen an der Wand hing, meine Aufmerksamkeit. Einen ähnlichen Rahmen hatte ich bereits unten bemerkt, einen weiteren im Treppenhaus. Ob die Dinger überall im Hotel rumhingen? Als ich näher heranging, las ich voller Verwunderung:

By oppression’s woes and pains,

By your sons in servile chains,

We will drain our dearest veins

But they shall be free!

»Du Hundesohn aber auch!«, sagte ich. Fast begeistert. Selbst Menschen, die in diesem Hotel unterkamen, würden in diesen Versen von Robert Bums nichts Schlimmes sehen!

Ohne Frage dürfte Bruce ein ähnlicher Sinn für Humor auszeichnen wie den Vampir, der sein Opfer im»Vampirschloss«leer getrunken hatte. Ein hervorragender Kandidat für die Rolle des Mörders.

Wogegen leider eins sprach: Bei dem Schlag, den Bruce hatte einstecken müssen, wäre er einfach nicht mehr in der Lage gewesen zu lügen.

Drei

Touristen sind einfach die schrecklichste Gattung der Menschen. Manchmal hege ich den bösen Verdacht, jedes Volk versuche, seine unangenehmsten Vertreter ins Ausland zu schicken: die lautesten, impertinentesten, dümmsten. Vermutlich lässt sich jedoch alles viel einfacher erklären. Vermutlich gibt es im Kopf eines jeden Menschen einen geheimen Knopf, mit dem man von Arbeit auf Urlaub um- und gleichzeitig achtzig Prozent des Hirns ausschaltet.

Die verbleibenden zwanzig Prozent reichen im Urlaub ja mehr als aus.

Ich mischte mich in die Menge, die langsam zur Burg auf dem Hügel trottete. Dabei wollte ich keinesfalls die karge Behausung der stolzen schottischen Könige studieren. Sondern lediglich die Atmosphäre der Stadt in mich aufnehmen.

Eine Atmosphäre, die mir gefiel. Wie in jedem touristischen Ort war die Fröhlichkeit teilweise gespielt, erhitzt, durch Alkohol hochgepeitscht. Trotzdem genossen die Menschen um mich herum ihr Leben, lächelten einander an und vergaßen für eine Weile ihre Sorgen.

Autos fuhren selten vorbei - und wenn, meist Taxis. Die meisten Menschen gingen zu Fuß. Die Ströme vom und zum Edinburgh Castle vermischten sich, bildeten träge Strudel um die Straßenkünstler herum, plätscherten in schmalen Rinnsalen in die Pubs und sickerten durch die Türen der Geschäfte. Ein endloser menschlicher Fluss.

Ein herrlicher Ort für einen Lichten. Wenn auch ermüdend.

Ich bog in eine Gasse ein und schlenderte gemächlich hinunter zu einer Senke, die die Alt- von der Neustadt trennte. Auch hier gab es Pubs und Souvenirläden. Aber weniger Touristen. Das Pulsieren des ungezügelten Karnevals war zum Erliegen gekommen. Mit Hilfe einer Karte - das war leichter, als Magie anzuwenden - steuerte ich eine Brücke an, die sich über diese gigantische Senke spannte, die früher einmal den Loch Nor gebildet hatte. Inzwischen hatte die Stelle die letzte Phase der Evolution durchlaufen und sich in einen Park verwandelt, einen Ort, an dem Einheimische und jene Touristen, die vom Lärm und vom Gewusel genug hatten, spazieren gehen konnten.

Auf der Brücke stauten sich die Touristen dann wieder. Sie enterten doppelstöckige Autobusse, bestaunten die Straßenkünstler, aßen Eis und guckten gedankenversunken zur alten Burg auf dem Hügel hinüber.

Auf einer kleinen Wiese tanzten säbelschwingend Kosaken.

Jener peinlichen Neugier folgend, mit der ein froh gelaunter Tourist im Ausland seine arbeitenden Landsleute beäugt, näherte ich mich ihnen.

Leuchtend rote Hemden. Weite Pluderhosen. Säbel aus einer Titanlegierung - die beim Fechten herrlich funkelten und mit denen sich trefflich herumfuchteln ließ. Ein erstarrtes Lächeln auf jedem Gesicht.

Vier Männer tanzten in der Hocke.

Und unterhielten sich in schönstem Russisch - wenn auch mit ukrainischem Akzent. In einer Geheimsprache, könnte man sogar sagen. Die in einer ziemlich stark zensierten Variante wie folgt geklungen hätte:

»He, du Knieficker!«, presste ein fröhlich tanzender Pseudokosak zwischen den Zähnen hervor.»Schlaf nicht ein, du Penner! Halt den Rhythmus, du Arschgeige!«

»Schnauze!«, blaffte der zweite Kostümierte nach wie vor lächelnd zurück.»Quatsch nicht blöd rum! Beweg deinen Arsch, du Krücke! Schließlich sollen die Leutchen was berappen«

»Tanka, du Flittchen!«, griff der Dritte ein.»Schieb los!«

Eine junge Frau in einem bunten Kleid fing an zu tanzen, was den Kosaken eine kurze Verschnaufpause gab. Trotzdem vermochte sie den Dreien noch angemessen und höchst gepflegt zu antworten.»Ihr Dumpfbacken, ich ersauf im Schweiß, und ihr hängt die Eier in die Sonne.«

Ich kämpfte mich aus der mit surrenden Kameras und klickernden Fotoapparaten bewaffneten Menge heraus. Neben mir wandte sich eine Frau in klarem Russisch an ihren Begleiter:»Wie ekelhaft… Was meinst du, ob die immer so fluchen?«

Eine interessante Frage. Immer? Oder nur im Ausland? Alle? Oder nur wir Russen? In der naiven und merkwürdigen Annahme, außerhalb Russlands verstünde niemand unsere Sprache?

Lieber bildete ich mir jedoch ein, alle Straßenkünstler würden sich so ausdrücken.

Autobusse.

Touristen.

Pubs.

Geschäfte.

Durch den Park irrte ein Pantomime, der nicht vorhandene Mauern betastete - ein trauriger Mensch in einem unsichtbaren Labyrinth.

Ein unerschütterlicher Schwarzer im Kilt spielte Saxofon.

Ich wusste schon, warum ich nicht gleich in die Verliese eilte. Erst musste ich noch diese Stadt in mich einsaugen. Sie spüren, mit meiner Haut, meinem Körper. Mit dem Blut in meinen Adern.

Ein Weilchen wollte ich noch durch die Menge streifen. Danach würde ich mir eine Eintrittskarte für das Gruselkabinett kaufen.

Die Einrichtung war außer Betrieb. Zwischen den steinernen Brückenpfeilern prangte noch das riesige Werbeplakat. Die als»Zugang ins alte Verlies«gestaltete Flügeltür stand offen, doch in Brusthöhe versperrte ein Seil den Durchgang. An ihm hing eine Tafel, die freundlich darüber Auskunft gab, dass die Einrichtung aus technischen Gründen geschlossen bleibe.

Ehrlich gesagt, erstaunte mich das. Viktor war vor fünf Tagen gestorben. Ausreichend Zeit für jede Art polizeilicher Ermittlung. Die Nachtwache Edinburghs hätte sich ohnehin alles ansehen können, was sie für nötig erachtete, ohne die Menschen auch nur davon in Kenntnis zu setzen.

Und trotzdem: Geschlossen…

Mit einem Schulterzucken hob ich das Seil an, tauchte darunter hinweg und ging die schmale dunkle Treppe hinunter. Das Metallgitter der Stufen hallte unter meinen Füßen. Nach ein paar Treppenabsätzen erspähte ich erst die Toiletten, dann den schmalen Gang mit den geschlossenen Kassen. Hier und da brannten Lampen, doch vermutlich nicht die, die normalerweise die finstere Atmosphäre für die Besucher schufen. Sondern ganz gewöhnliche, trübe energiesparende Lampen.

»Ist hier irgendwo ein Mensch?«, rief ich in Englisch und staunte über die Doppeldeutigkeit der Worte.»He… ist hier ein… Anderer?«

Stille.

Ich lief durch einige Räume. Die Wände zierten Porträts von Menschen mit scheußlichen Fratzen, an denen Lombroso seine aufrichtige Freude gehabt hätte. Gerahmte Texte berichteten über Verbrecher, Wahnsinnige, Kannibalen und Schwarzkünstler. In Vitrinen fanden sich grob gearbeitete Modelle von abgehauenen Armen und Beinen, Phiolen mit dunklen Flüssigkeiten und Folterinstrumente. Aus Neugier sah ich sie mir durchs Zwielicht an. Nepp: Mit den Dingern war niemand gefoltert worden, sie ließen nicht die geringsten Spuren von Leid erkennen.

Ich gähnte.

Über mir waren Fäden gespannt, die ein Spinnennetz imitierten. An ihnen baumelten Lumpen. Noch weiter oben konnte ich eine Metalldecke mit unromantischen, untertassengroßen Nieten ausmachen. Früher musste diese Sehenswürdigkeit als höchst profaner, technischer Raum genutzt worden sein.

Etwas beunruhigte mich…

»Ist hier jemand? Lebendig oder tot, antworten Sie!«, rief ich erneut. Eine Antwort bekam ich auch diesmal nicht. Und trotzdem… Was machte mich nur so nervös? Da war doch eben… eine Unstimmigkeit… etwas, das ich im Zwielicht gesehen hatte…

Noch einmal spähte ich mit meinem Zwielicht-Blick durch die Räume.

Ha! Da war es, das Detail, das nicht passte!

Um mich herum wuchs kein blaues Moos, fehlte dieser harmlose, aber unangenehme Parasit. Er gedieh in der ersten Zwielicht-Schicht, stellte dort den einzigen permanenten Bewohner der grauen Kehrseite des Universums dar. Hier, wo die Menschen ständig eine wenn auch gespielte, karnevaleske Furcht empfanden, hätte das blaue Moos nur so wuchern müssen. Hätte es wie bizarre Stalaktiten von der Decke hängen müssen, hätte den Fußboden mit einem ekelhaften wabernden Teppich auslegen, hätte die Wände hochklettern müssen.

Aber nirgends gab es Moos.

Ob jemand die Einrichtung regelmäßig säuberte? Das Moos ausbrannte, wenn es ein Lichter, oder einfror, wenn es ein Dunkler war?

Hm, wenn es unter den Mitarbeitern einen Anderen gäbe, käme mir das sehr gelegen.

Wie als Antwort auf meine Überlegungen vernahm ich Schritte. Eilige, als habe jemand meine Schreie gehört und stürze aus einiger Entfernung durch dieses Labyrinth von Gassen aus Gipskarton herbei. Es verstrichen noch ein paar Sekunden, dann öffnete sich eine schwarz gestrichene Tür, die aus diesem Zimmer ins nächste führte.

Eintrat ein Vampir.

Kein echter, natürlich. Sondern einer mit einer normalen menschlichen Aura.

Ein Kostümierter.

Ein schwarzer Umhang, Eckzähne aus Plastik im Mund, weiße Schminke im Gesicht. Ordentliche Schminke. Nur die rotblonden lockigen Haare passten nicht ins Bild. Vermutlich trug er während der Arbeit eine schwarze Perücke. Auch die Plastikflasche mit Mineralwasser, aus der dieser Neuankömmling gerade einen Schluck nehmen wollte, fiel aus dem Rahmen.

Als der Mann mich sah, runzelte er die Stirn. Auf dem freundlichen Gesicht zeichnete sich zwar keine böse Miene ab, aber doch eine strenge, oberlehrerhafte. Er langte mit der Hand zum Mund und drehte sich kurz um. Als er mich wieder anblickte, trug er keine Hauer mehr.

»Mister?«

»Arbeiten Sie hier?«, fragte ich. Ich wollte keine Magie einsetzen und seinen Willen nicht brechen. Man kann sich immer so miteinander ins Benehmen setzen. Ganz wie es die Menschen tun.

»Ja, aber unsere Einrichtung ist geschlossen. Vorübergehend.«

»Wegen des Mords?«, hakte ich nach.

Der Mann verzog das Gesicht. Nach dieser Frage dürfte von seiner Freundlichkeit mit Sicherheit nichts mehr übrig sein.

»Ich weiß nicht, was Sie hier wollen, Mister… Das ist Privatgelände. Für Besucher geschlossen. Ich möchte Sie bitten, mit mir zum Ausgang zu kommen.«

Er trat einen Schritt auf mich zu und streckte sogar die Hand nach mir aus, mit seinem ganzen Gebaren unmissverständlich zum Ausdruck bringend, dass er mich notfalls mit Gewalt hinauskomplimentieren würde.

»Sind Sie dabei gewesen, als Viktor Prochorow ermordet worden ist?«, fragte ich.

»Wer sind Sie eigentlich?«Misstrauen packte den Mann.

»Ich bin ein Freund von ihm. Ich bin heute aus Russland angekommen.«

Dem Jungen entglitten die Gesichtszüge. Er wich zu jener Tür zurück, durch die er gerade den Raum betreten hatte. Sobald er sie zu fassen bekam, wollte er sie aufstoßen - doch die Tür öffnete sich nicht. Zugegeben: Das ging auf mein Konto.

Jetzt geriet der Junge in absolute Panik.

»Mister… ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen! Wir alle bedauern den Tod von Viktor! Mister… Genosse!«

Das letzte Wort brachte er in Russisch hervor. Aus welchem alten Kriegsfilm er es sich wohl gemerkt hatte?

»Was haben Sie denn?«Jetzt war ich derjenige, der nichts mehr begriff. Ich ging auf ihn zu. Ob ich wirklich so viel Glück gehabt hatte? Und zufällig einem Menschen begegnet war, der etwas wusste? Der bei dem Mord dabei gewesen war? Warum sollte er sonst so in Panik geraten?

»Bringen Sie mich nicht um, mich trifft keine Schuld!«, flehte der Junge. Seine Haut strahlte jetzt weißer als die Schminke.»Genosse! Sputnik, Wodka, Perestroika! Gorbatschow!«

»Für das letzte Wort würde man dich in Russland sofort umbringen«, murmelte ich und kramte in meinen Taschen nach Zigaretten.

Ein echt missglückter Ausspruch. Und meine Bewegungen machten es nicht besser. Der Junge verdrehte die Augen und stürzte zu Boden. Die Mineralwasserflasche fiel neben ihn.

Aus purem Trotz verzichtete ich auch jetzt auf Magie. Ich schlug ihm leicht gegen die Wangen und gab ihm ein paar Schluck Wasser. Dann bot ich ihm voller Sorge eine Zigarette an.

»Du hast gut lachen«, sagte der Mann düster, als wir in den Pseudofolterstühlen Platz nahmen. Im Sitz klaffte ein Loch, in dem sich ein bedrohlicher Pflock verbarg, der mit Kurbel und Hebel funktionierte.»Lach nur…«

»Ich lache nicht«, meinte ich lakonisch.

»Du lachst, wenn auch innerlich.«Der Junge zog gierig an der Zigarette. Dann streckte er mir die Hand entgegen.»Jean.«

»Anton. Ich habe gedacht, du seist Schotte.«

Nicht ohne Stolz schüttelte Jean die rotblonden Locken.»Nein… Franzose. Aus Nantes.«

»Studierst du hier?«

»Und verdiene mir mit diesem Job etwas dazu.«

»Was soll bloß dieses dämliche Kostüm?«, fragte ich.»Es kommen doch sowieso keine Besucher.«

Jean errötete so schnell, wie es nur Rotblonde und Albinos vermögen.

»Der Chef hat mir heute den Auftrag gegeben aufzupassen, solange wir noch geschlossen haben. Ich habe gedacht… dass vielleicht die Polizei wiederauftauchen würde, um etwas zu überprüfen. Allein ist es hier aber nicht sehr gemütlich. In dem Kostüm fühlte ich mich… ruhiger.«

»Ich hätte mir beinah in die Hosen gemacht«, beschwerte ich mich bei dem Jungen. Nichts hilft besser gegen Stress als solch ein niedriger Stil.»Hast du denn vor irgendwas Angst?«

Jean schielte zu mir herüber.»Wer weiß denn was von ihm?«, fragte er schulterzuckend.»Der Junge wurde bei uns ermordet. Vielleicht glaubt jemand, wir haben uns da was zuschulden kommen lassen… Aber was? Was? Obendrein ist er Russe! Weiß doch jeder… dass man da mit allem rechnen muss… Darüber haben wir auch diskutiert, zu Anfang im Spaß… Dann ernsthafter. Womöglich kommt sein Vater, Bruder oder Freund… und ermordet uns alle.«

»Darum geht es also«, begriff ich.»Also… ich kann dir versichern, dass die Blutrache in Russland nicht sehr verbreitet ist. Außerdem gibt es sie doch bei den Schotten auch.«

»Sag ich ja, oder?«, stimmte mir Jean völlig unzusammenhängend zu.»Was für eine Barbarei! Wie die Wilden! Und das im 21. Jahrhundert, in einer zivilisierten Welt…«

»Und dann eine durchgeschnittene Kehle«, stieß ich ins selbe Horn.»Was ist denn nun eigentlich mit Viktor passiert?«

Der Junge schielte zu mir herüber. Zog an der Zigarette.»Ich glaube, du lügst«, meinte er kopfschüttelnd.»Du bist kein Freund von Viktor. Du bist vom russischen KGB. Man hat dich geschickt, damit du den Mord aufklärst. Stimmt’s?«

Sah er sich etwa tatsächlich alte Kriegsfilme an? Ich musste lachen.

»Weißt du, Jean«, erwiderte ich halb flüsternd,»ich darf deine Frage nicht beantworten.«

Der Franzose nickte sehr ernst. Dann trat er die Zigarette sorgfältig auf dem Fußboden aus.

»Gehen wir, Russe. Ich zeige dir die Stelle. Aber rauch jetzt nicht mehr. Hier ist alles aus Lumpen und Pappe, das brennt wie Zunder. Huch!«

Er stieß gegen die Tür - die sich natürlich ohne Probleme öffnen ließ. Nachdenklich betrachtete Jean sie und zuckte dann mit den Schultern. Wir gingen an weiteren Zimmern vorbei.

»Das ist es, dieses beschissene Vampirschloss«, brummte Jean finster. Er tastete an der Wand entlang, fummelte an einem Schalter herum - und sofort erstrahlte das Licht wesentlich heller.

Obwohl: Dunkelheit passte viel besser zu diesem Ort. Im Licht wirkte die Einrichtung einfach läppisch. Bei dem Blutfluss, über den man zu den Vampiren schippern musste, handelte es sich um eine lange, drei Meter breite Metallröhre, in die Wasser gelassen war.

Nicht sehr tief.

Es reichte etwa bis zu den Knien.

Der Metallkahn schwamm natürlich nicht im Wasser. Als ich mit dem Fuß gegen die Bordwand trat, bemerkte ich, dass das Boot auf kleinen Rädern auf dem Boden stand. Unter Wasser ließ sich zudem ein Drahtseil erkennen, mit dem das Boot von einem»Ankerplatz«zum nächsten bugsiert wurde. Insgesamt war die Röhre höchstens fünfzehn Meter lang. Auf halber Strecke tauchte der Eisenkahn in einen mit schweren Vorhängen (die jetzt zurückgezogen waren) abgeteilten Raum ein. An dessen Decke hing ein Ventilator von beeindruckender Größe. Auf eine Wand war in groben Umrissen ein finsteres Schloss gemalt, das sich auf einem Felshang erhob.

Ich ging zur Spitze des Kahns und schaute in den dunklen Raum. Stimmt schon, ein idiotischer Platz, um vom Leben Abschied zu nehmen. Also dann… In den letzten fünf Tagen konnten die Spuren durchaus verschwunden sein, aber ich wollte es trotzdem versuchen.

Ein Blick durchs Zwielicht brachte nichts. Ich entdeckte die schwachen Spuren der Anderen, von Lichten wie von Dunklen, doch die stammten von den Experten der Wachen, die den Tatort untersucht hatten. Keine Anzeichen von einem Vampirpfad. Aber Manifestationen des Todes spürte ich. Und zwar so klar, als seien nicht fünf Tage verstrichen, sondern höchstens ein, zwei Stunden. Er hatte keinen schönen Tod gefunden, dieser junge Russe…

»Wer ist für den Ton zuständig?«, fragte ich.»Man kriegt doch bestimmt ein Jammern oder Winseln zu hören? Oder ein furchterregendes Heulen? Die Touristen werden hier doch sicherlich nicht in aller Stille durchgeführt?«

»Das kommt vom Band«, informierte mich Jean niedergeschlagen.»Da drüben sind die Lautsprecher und dort…«

»Achtet denn hier niemand auf die Touristen?«, wollte ich wissen.»Was ist, wenn jemandem schlecht wird?«

»Das machen wir schon«, gab Jean zögernd zu.»Sehen Sie da rechts das kleine Loch in der Wand? Dort muss immer jemand stehen und alles im Auge behalten.«

»Im Dunkeln?«

»Er hat ein Nachtsichtgerät…«Jean wurde immer verlegener.»Eine normale Videokamera, mit der man auch Nachtaufnahmen machen kann. Er steht da und schaut auf den Bildschirm…«

»Aha…«Ich nickte.»Und was hast du gesehen, als Viktor ermordet wurde?«

Entweder hatte er sich inzwischen etwas beruhigt, oder er fand sich einfach in sein Schicksal - auf alle Fälle widersprach er nicht.»Wie kommen Sie denn darauf, dass ich hier war?«, fragte er bloß.

»Weil du als Vampir verkleidet bist. Schließlich könnte ja auch einer der Besucher eine Videokamera dabeihaben, mit der er Nachtaufnahmen machen kann. Deshalb schminkt ihr euch auch, nicht wahr? Ich glaube, hier hat jeder seine Rolle. Deshalb musst du auch während der Vorstellung dieses Kostüm getragen haben und in der Nähe gewesen sein.«

»Ja, stimmt«, meinte Jean nickend.»Ich stand dort. Nur habe ich nichts gesehen, das müssen Sie mir glauben. Alle haben wie immer dagesessen. Niemand ist über Viktor hergefallen, niemand hat sich ihm genähert.«

Ich unterließ es, ihn darüber aufzuklären, dass ein hungriger Vampir - und er muss sehr hungrig gewesen sein, um so erbarmungslos auf Jagd zu gehen - auch mit einer Nachtkamera nicht aufgenommen werden würde, denn so ein Gerät reagiert auf Infrarotstrahlen. Die Körpertemperatur eines hungrigen Vampirs ist jedoch nicht höher als die seiner Umgebung. Allenfalls gäbe es schwache Spuren auf dem Band…

»Zeichnet ihr die Touren auf?«

»Nein, natürlich nicht. Wozu sollten wir auf diese Weise Band vergeuden?«

Ich hockte mich hin und fuhr mit der Hand durchs Wasser. Das kalt und modrig war. Offensichtlich hatte sich niemand die Mühe gemacht, es zu wechseln… Falls die Ermittlungen jedoch noch nicht abgeschlossen waren, war auch daran nichts verwunderlich.

»Haben Sie etwas entdeckt?«, fragte Jean neugierig.

Ich antwortete nicht. Sondern schaute mit geschlossenen Lidern ins Wasser. Mit meinem Zwielicht-Blick, der durch die Realität zum Kern der Dinge vordringt.

Die Röhre füllte sich mit trübem Kristallglas. Dieses durchzogen glutrote Adern. Am Boden der Röhre hatte sich eine orangefarbene Suspension zusammengeballt.

Im Wasser befand sich das Blut eines Menschen.

Viel Blut.

Vier Liter.

Von ihm dürften wohl auch die starken Manifestationen des Todes herrühren. Blut speichert die Dinge besser als alles sonst auf der Welt.

Wenn man bei der Polizei auf die Idee gekommen wäre, eine gründliche Analyse des Wassers vorzunehmen, hätte man wohl festgestellt, dass Viktors Blut vollständig in den Graben geflossen war. Vampire hatten mit dem Verbrechen nicht das Geringste zu tun.

Allerdings suchte die Polizei ohnehin nicht nach Vampiren. Das Wasser hatten sie vermutlich sogar analysiert. Falls nicht, dann nur deshalb, weil sie sowieso nicht am Ergebnis zweifelte. Den Hals aufgeschnitten, ritsch, ratsch, das Blut ins Wasser, blubb, blubb… Nur einem Anderen konnte der idiotische Gedanke kommen, in dieser Touristenattraktion nach einem Vampir zu suchen!

»Manchmal sieht man den Wald vor Bäumen nicht…«, murmelte ich, während ich mich erhob.»Schöne Scheiße…«

Ein grausamer Mord, in der Tat. Man konnte dem Mörder seinen schwarzen Humor nicht absprechen. Doch die Tat ging uns nichts an. Sollte die Edinburgher Polizei ruhig in der Sache ermitteln.

Aber weshalb wurde der Junge ermordet? Eine bescheuerte Frage, gewiss. Für den Tod gibt es weitaus mehr Gründe als für das Leben. Ein junger, hitzköpfiger Mann. Der Vater Geschäftsmann und Politikheini. Viktor könnte aus eigener Schuld, aber auch wegen der Angelegenheiten seines Vaters dem Verbrecher zum Opfer gefallen sein. Oder ganz ohne Grund.

Geser und Sebulon mussten beide gleichermaßen einem Irrtum aufgesessen sein. Denn sie hatten dort eine Gefahr gesehen, wo gar keine lauerte. Und nie gelauert hatte.

»Vielen Dank für deine Hilfe«, wandte ich mich an Jean.»Ich muss jetzt gehen.«

»Und du bist doch ein russischer Polizist«, meinte Jean voller Genugtuung.»Hast du was herausgefunden?«

Mit einem vielsagenden Lächeln schüttelte ich den Kopf.

»Ich begleite dich noch, Anton«, sagte Jean seufzend.

In der Nähe der Verliese stieß ich auf einen einladenden Pub mit der Bezeichnung»Wachtelkönig und Fähnchen«. Drei kleine, durchgehende Räume, dunkle Wände und Decken, alte Lampen, Bierkrüge, Bilder und allerlei Kinkerlitzchen an den Wänden. Der Bartresen mit einem Dutzend Hähnen und einer Batterie an Flaschen - allein der Whisky zählte rund fünfzig Sorten. Alles, was einem bei dem Ausdruck»schottischer Pub«in den Sinn kommt, gab es hier - zum großen Vergnügen der verschiedensprachigen Touristen.

Mir fielen Semjons Worte ein, weshalb ich Haggis und eine Tagessuppe bestellte. Von der Barfrau, einer kräftigen Lady mit Armen, die die ewige Arbeit an den Zapfhähnen gestählt hatte, bekam ich einen Krug Guinness. Ich steuerte auf den letzten Raum zu, den kleinsten, in dem es noch einen freien Tisch gab. Am Nachbartisch aß eine Gruppe Japaner. An einem Tisch am Fenster trank ein schnauzbärtiger, fülliger älterer Herr sein Bier, offensichtlich ein Einheimischer. Er machte einen verlorenen Eindruck - wie ein Moskauer, den es dummerweise an den Roten Platz verschlagen hat. Von irgendwoher erklang Musik, zum Glück jedoch nur leise und melodisch.

Die Suppe stellte sich als einfache Brühe mit Ei und Croutons heraus, der Haggis war letztendlich nicht mehr und nicht weniger als die schottische Variante von Leberwurst. Doch ich aß sowohl die Suppe wie auch den Haggis, die als Beilage gebrachten Pommes frites - und konnte mein touristisches Programm danach guten Gewissens als erfüllt betrachten.

Am besten schmeckte mir das Bier. Nachdem ich ein Glas getrunken hatte, rief ich zu Hause an. Sprach kurz mit Swetlana und teilte ihr mit, dass ich nicht lange hierbleiben müsste, da sich alles sehr schnell aufkläre.

Bevor ich den Chef der Edinburgher Nachtwache anrief, holte ich mir noch einen Krug Bier. Die Nummer von Foma Lermont hatte ich bereits eingespeichert.

»Ja bitte«, erklang es höflich, nachdem es ein paar Mal geläutet hatte. Noch dazu auf Russisch.

»Guten Tag, Thomas«, sagte ich, mich trotz allem gegen die russische Form des Namens entscheidend.»Ich bin Anton Gorodezki, Ihr Kollege aus Moskau. Geser hat mich gebeten, Ihnen einen herzlichen Gruß auszurichten.«

All das klang fürchterlich nach einem miserablen Agentenroman. Ich verzog sogar das Gesicht.

»Hallo, Anton«, antwortete man mir ungezwungen.»Ich habe schon auf Ihren Anruf gewartet. Wie war der Flug?«

»Ausgezeichnet. Ich bin in einem netten kleinen Hotel untergekommen, das ein wenig dunkel ist, aber im Zentrum liegt. Ich bin schon durch und ein wenig unterhalb der Stadt spaziert.«Das alles kam mir wie von selbst über die Lippen. Und mich in dieser äsopischen Sprache auszudrücken stellte ein unerwartetes Vergnügen dar.»Könnten wir uns vielleicht treffen?«

»Aber sicher, Anton. Ich komme gleich zu Ihnen«, versprach mein Gesprächspartner.»Obwohl… vielleicht wollen Sie lieber zu mir übersiedeln? Hier ist es gemütlicher.«

Ich hob den Blick und sah den älteren Herrn an, der am Fenster saß. Eine hohe Stirn, dichte Brauen, ein spitzes Kinn, kluge ironische Augen. Der Herr steckte das Handy in die Tasche und deutete mit einer Geste auf den freien Stuhl.

O ja, er hatte viel mit Geser gemeinsam. Selbstverständlich nicht äußerlich, aber in der Art seines Auftretens. Vermutlich dürfte Mister Thomas Lermont seine Untergebenen nicht schlechter zu deckeln verstehen als Boris Ignatjewitsch.

Ich schnappte mir mein Bierglas und wanderte zum Tisch des Chefs der Edinburgher Nachtwache hinüber.

»Nenn mich Foma«, ergriff er als Erster das Wort.»Das erinnert mich an Geser.«

»Kennen Sie sich schon lange?«

»Ja. Geser hat noch ältere Freunde, aber ich nicht… Ich habe schon viel von dir gehört, Anton.«

Ich hüllte mich in Schweigen. Was sollte ich darauf antworten? Bis gestern hatte ich noch nie vom Chef der Edinburgher Nachtwache gehört.

»Du hast mit Bruce gesprochen. Wie gefällt dir unser Meister der Vampire?«

Nach kurzer Überlegung gab ich meinen Eindruck wieder.»Er ist schlecht, unglücklich und ironisch. Aber sie sind alle schlecht, unglücklich und ironisch. Und natürlich hat er Viktor nicht ermordet.«

»Du hast ihn unter Druck gesetzt.«Das war keine Frage Fomas, sondern eine Feststellung.

»Ja. Das ist einfach so passiert. Er weiß nichts.«

»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.«Lermont trank einen Schluck Bier.»Das war sogar sehr gut. Der Ehrgeiz zwingt ihn, darüber Stillschweigen zu bewahren, aber wir haben nun alle Informationen… Gut, was hast du in den Verliesen entdeckt?«

»Das ist ein Gruselkabinett für kleine Kinder. Die Einrichtung ist momentan geschlossen, aber ich konnte mit einem der Schauspieler sprechen. Und mir den Tatort ansehen.«

»Und?«, fragte Lermont gleich interessierter.»Was hast du rausbekommen, Anton?«

Die Jahre des Umgangs mit Geser waren nicht vergebens gewesen. Jetzt witterte ich sofort, wenn die starke Hand eines Chefs einen kleinen Magier in den Dreck stampfen wollte, weil dieser über die Stränge geschlagen war.

»Dieser Blutfluss, in dem Viktor die Kehle durchgeschnitten worden ist…«Ich sah den unerschütterlichen Lermont an. Korrigierte mich.»In dem Viktor ermordet worden ist. Da ist Blut im Wasser. Viel menschliches Blut. Offenbar hat also kein Vampir dem Jungen das Blut ausgesaugt. Viktor wurde die Halsschlagader aufgeschlitzt, dann wurde er festgehalten, bis alles Blut in den Graben geflossen war. Aber man müsste trotzdem eine Analyse des Wassers vornehmen. Vielleicht sollten wir die Polizei hinzuziehen, damit die eine DNS-Analyse machen…«

»Warum ihr nur immer alle so an die Technik glaubt.«Foma verzog das Gesicht.»In dem Graben ist Viktors Blut. Das haben wir schon am ersten Tag überprüft. Mit absolut simpler Magie der Analogien, für die bereits die fünfte Kraftstufe ausreicht.«

Doch ich wollte mich nicht geschlagen geben. Die Kunst des Herauswindens hatte ich nämlich ebenfalls im Umgang mit Geser gelernt.

»Uns bringt das natürlich nichts, aber die Polizei sollte man darauf hinweisen. Sie sollte auch wissen, dass das Blut im Graben ist. Das würde ihr bei ihren Ermittlungen helfen und gleichzeitig alle Gerüchte über Vampire ein für alle Mal aus der Welt schaffen.«

»Unsere Polizei arbeitet sehr gut«, meinte Foma gelassen.»Sie haben ebenfalls alles überprüft und ermitteln weiter. Dumme Gerüchte zu unterbinden liegt freilich nicht in ihrer Macht. Aber wen interessiert schon diese einfältige Boulevardpresse…«

Ich fasste Mut. Was auch immer geschehen war - ich hatte schnell und klar die richtigen Nachforschungen durchgeführt.

»Meiner Ansicht nach brauchen wir in dieser Sache nicht weiter zu intervenieren«, stellte ich fest.»Ein Mord ist schrecklich, aber die Menschen sollen ruhig allein gegen das Böse kämpfen, das sie anrichten. Der Junge tut mir natürlich leid…«

Foma nickte und trank erneut ein paar Schluck von seinem Bier.»Der arme Junge, ja…«, sagte er dann.»Aber was machen wir mit dem Biss, Anton?«

»Mit was für einem Biss?«

Foma beugte sich ein wenig über den Tisch.»An Viktors Hals gibt es keine Wunde, Anton«, flüsterte er.»Ohne jeden Zweifel sind da aber Spuren der Eckzähne eines Vampirs. Nicht sehr schön, was?«

Ich spürte, wie mir die Ohren rot aufleuchteten.»Sicher?«, fragte ich dumm zurück.

»Hundertprozentig. Aber woher sollte der Mörder den Aufbau und die Funktionsweise eines vampirischen Eckzahns so genau kennen? Seitliche Einschnitte, ein Haken oder Bohrer, die Furche Draculas, eine Drehung beim Einstich…«

Inzwischen loderte mein ganzes Gesicht. Ich sah die Klasse förmlich vor mir, in der ich damals gelernt hatte, sah Polina Wassiljewna mit dem Zeigestock, sah ein riesiges Gummimodell auf dem Tisch: etwas Spitzes, Gedrehtes, wie ein Korkenzieher Gewundenes mit einem weißen Schild aus Plexiglas, auf dem in schwarzen Buchstaben geschrieben stand:»Rechter oberer Eckzahn eines Vampirs. Modell. 25:1 natürl. Gr.«Anfangs ließ sich das Modell auch bewegen, auf einen Knopfdruck hin verlängerte es sich und begann sich zu drehen. Doch der Motor war längst durchgebrannt, niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu reparieren, sodass der Eckzahn für immer in jener Position erstarrt blieb, in der Mitte zwischen Tarnung und vollem Einsatz.

»Ich habe meine Schlüsse voreilig gezogen«, gab ich zu.»Das ist meine Schuld, Mister Lermont.«

»Dich trifft keine Schuld, du wolltest einfach, dass die Anderen mit dieser Sache nichts zu tun haben«, meinte Foma großmutig.»Wenn du dir die Ergebnisse der Untersuchung angeschaut hättest, wäre dir die Fehlerhaftigkeit deiner Version gleich klar gewesen. Was sagst du jetzt?«

»Wenn der Vampir sehr hungrig gewesen und den Menschen bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt hätte…«Ich runzelte die Stirn.»… danach hätte er sich erbrechen können. Freilich nicht das gesamte Blut… Gab es im Wasser Spuren eines Anästhetikums?«

»Nein.«Foma nickte wohlwollend.»Das heißt jedoch nichts, der Vampir konnte unter Druck geraten sein und auf eine Betäubung verzichtet haben.«

»Stimmt«, räumte ich ein.»Entweder musste er sich also übergeben, oder er hat Viktor gebissen und ihn so lange festgehalten, bis alles Blut aus dem Jungen geströmt war. Aber wozu?«

»Um alle irrezuführen und die Untersuchungen zu erschweren.«

»Das ergibt keinen Sinn.«Ich schüttelte den Kopf.»Warum sollte er sie erschweren? Warum sollte er gleichzeitig Spuren eines vampirischen Bisses hinterlassen und dann das ganze Blut ausfließen lassen? Sie gehen sehr penibel mit Blut um, verschwenden es nicht. Bei uns gibt es sogar ein geflügeltes Wort für frischgebackene Vampire: Einen Tropfen Blut verschwenden ist so, wie die Mutter schänden.«

»Eine Erklärung lässt sich immer finden«, wandte Foma oberlehrerhaft ein.»Zum Beispiel, dass der mordende Vampir den Verdacht auf einen jungen hungrigen Vampir lenken wollte. Deshalb hat er den Jungen gebissen, aber sein Blut nicht getrunken, sondern in der Hoffnung verströmen lassen, dass es nicht entdeckt wird. Oder der Vampir war hungrig, hat zugebissen, ist dann aber zur Besinnung gekommen und hat das Blut lieber auslaufen lassen, um den Anschein zu erwecken, die Fakten seien manipuliert…«

Ich fuchtelte mit den Händen, eifrig bei der Sache und mit dem Gefühl, als spräche ich mit Geser.»Hören Sie doch auf, Bo… Foma! Sicher, man kann sich allerlei Versionen ausdenken, aber mir ist noch kein hungriger Vampir begegnet, der, nachdem er jemandem die Eckzähne in den Hals gehauen hat, auf das Blut verzichtet hätte. Dieser Streit bringt doch nichts. Viel wichtiger ist die Frage, warum der Junge ermordet wurde. Ist er ein zufälliges Opfer? Dann müssen wir in der Tat nach einem Auswärtigen oder Novizen suchen. Oder hat es jemand darauf angelegt, Viktor zu ermorden?«

»Ein Vampir kann einen Menschen mit einem einzigen Schlag ermorden«, meinte Foma.»Sogar ohne ihn zu berühren. Warum hätte er Spuren hinterlassen sollen? Viktor hätte an Herzversagen gestorben sein können - und niemand hätte Verdacht geschöpft.«

»Stimmt.«Ich nickte.»Dann… dann hat Ihr Meister recht. Es muss ein Auswärtiger gewesen sein, dem der Junge zufällig in die Hände gefallen ist. Er hat ihn gebissen, getrunken, ist erschreckt, hat das Blut ausgekotzt…«

»Möglicherweise«, pflichtete Foma mir bei.»Aber etwas beunruhigt mich an der Sache, Anton.«

Schweigend tranken wir unser Bier aus.

»Haben Sie versucht, Spuren vom Körper zu nehmen?«, fragte ich.

Dass ich damit die Abdrücke der Aura meinte, brauchte ich nicht extra zu sagen.

»Von einem Toten Aas nehmen?«Foma schüttelte skeptisch den Kopf.»Dabei kommt niemals etwas Vernünftiges heraus. Trotzdem haben wir es versucht, ja. Wir haben keine Spuren entdeckt… Was ist dir noch in den Verliesen aufgefallen, Wächter?«

»Da arbeiten Andere«, antwortete ich.»Es gibt da nirgends blaues Moos, obwohl der Ort von Emotionen birst. Jemand muss da regelmäßig sauber machen.«

»Dort arbeiten keine Anderen«, brummte Foma.»Dort wächst kein blaues Moos.«

Ungläubig blickte ich Foma an.

»Aus Neugier haben wir versucht, welches von draußen dort zu kultivieren. Es vertrocknet und zerfällt innerhalb einer Stunde. Eine Anomalie der Natur.«

»Hm… so was gibt es vermutlich«, meinte ich, während ich mir in Gedanken vormerkte, in den Archiven nachzuforschen.

»Ja, das gibt es«, bestätigte Foma.»Ich würde dich bitten, Anton, die Ermittlungen noch nicht abzuschließen. Etwas stört mich. Versuche, mit Viktors Freundin zu reden.«

»Ist das Mädchen denn noch hier?«

»Natürlich. Die Polizei hat sie gebeten, die Stadt zunächst nicht zu verlassen. Das Hotel Apex-City ist hier ganz in der Nähe. Wahrscheinlich dürfte es dir leichter fallen, mit ihr Kontakt aufzunehmen.«

»Verdächtigen Sie sie denn?«

Foma schüttelte den Kopf.»Sie ist ein normaler Mensch… Aber darum geht es mir auch gar nicht. Sie verkraftet den Tod ihres Freunds nur schwer und arbeitet bereitwillig mit der Polizei zusammen. Auch ein Mitarbeiter von mir ist bereits mit ihr in Verbindung getreten… indem er sich als Ermittler ausgegeben hat. Aber vielleicht würde es einem Landsmann leichter fallen, mit ihr zu sprechen. Womöglich erinnert sie sich doch noch an etwas. Eine Geste, einen Blick, ein Wort - kurzum, an irgendeine Kleinigkeit. Ich möchte diesen Fall einfach noch nicht zu den Akten legen und alles der Polizei überlassen, Anton.«

»Es wäre vermutlich hilfreich, wenn ich mich auch mit dem Besitzer der Verliese träfe«, schlug ich vor.

»Das würde dir nichts bringen«, winkte Foma ab.

»Warum nicht?«

»Weil diese dämlichen Verliese mir gehören!«, platzte Foma angewidert heraus.

»Äh…«Ich verstummte.»Also… aber dann…«

»Was, dann? Ich habe eine kleine Holding, die Scottish Colours, die im touristischen Segment tätig ist. Unsere Nachtwache ist Aktionär der Holding, mit dem Gewinn finanzieren wir unsere operative Arbeit. Wir organisieren Musikveranstaltungen und Zirkusvorführungen, halten Anteile an einigen Hotels, uns gehören vier Pubs, Schottlands Verliese, drei Reisebusse und eine Agentur, die Touristen zu den Seen bringt. Wie sollten wir auch sonst unser Geld verdienen?«Er grinste.»Ganz Edinburgh lebt von Touristen. Wenn du mal nach Glasgow kommst und es dich an den Stadtrand verschlägt, dann erschrick nicht. Du wirst zerfallene Gebäude, aufgegebene Hotels und stillgelegte Betriebe sehen. Die Industrie stirbt. Es rechnet sich nicht, in Europa Waren zu produzieren. In Europa ist es vorteilhafter, Dienstleistungen anzubieten. Was bleibt einem alten Barden sonst übrig, als Konzerte zu veranstalten und touristische Attraktionen zu unterhalten?«

»Ich verstehe das ja, es kommt nur so überraschend…«

»Andere arbeiten dort nicht«, wiederholte Foma.»Das ist ein seltsamer Ort… dort wächst kein blaues Moos… deshalb habe ich damals auch das Land gekauft. Aber bislang habe ich sonst nichts Ungewöhnliches entdecken können.«

»Dann handelt es sich bei dem Mord womöglich um einen Schlag, der gegen Sie gerichtet ist?«, fragte ich.»Gegen Sie persönlich oder gegen die Edinburgher Nachtwache? Möchte jemand die Lichten in Verruf bringen?«

Foma lächelte und erhob sich von seinem Stuhl.

»Genau deshalb brauche ich dich, Anton. Damit in die Untersuchung ein starker Magier von außerhalb involviert ist. Sprich mit Valerija, ja? Und schieb es nicht auf die lange Bank.«

Zunächst musste ich die Begegnung mit Valerija dennoch verschieben.

In der Nähe meines Hotels sah ich die übliche Touristenmenge, die einen Ring um einen Straßenkünstler gebildet hatte. Über den Köpfen der Menschen schwirrten, einen Regenbogen bildend, winzige bunte Kugeln durch die Luft. Aus irgendeinem Grund wusste ich sofort, wen ich gleich erblicken würde. Obwohl Jegor sich als Illusionist bezeichnet hatte und nicht als Jongleur.

Wie sich dann herausstellte, waren es insgesamt fünf Künstler. Drei junge Männer in greller Zirkuskleidung erholten sich gerade. Eine junge Frau mit einem flatternden, halb durchsichtigen Kleid lief mit einem Tablett vor den Zuschauern herum. Die rückten Münzen und Scheine recht bereitwillig heraus.

Im Moment trat Jegor allein auf. Mit seinem schwarzen Anzug, dem weißen Hemd und der Fliege wirkte er sehr förmlich und grenzte sich klar gegen die grell und sommerlich gekleidete Masse ab.

Jegor jonglierte mit kleinen bunten Bällen. O nein, er jonglierte nicht einfach… Seine rechte Hand schien rote, blaue und grüne Kügelchen von der Größe einer Kirsche in die Luft zu schießen. Die offene Hand, die er bewusst langsam drehte, demonstrierte, dass sie leer war. Dann schlossen sich die Finger, die Hand vollführte eine abrupte Bewegung - und ein weiterer Ball stieg auf. Die linke Hand fing die herabfallenden Bälle auf, presste sie zusammen, ließ sie in der Faust verschwinden, schnitt den Regenbogen ab, öffnete sich sodann wieder - und war leer.

Die Bälle kamen aus dem Nichts und verschwanden im Nichts. Es wurden immer mehr, als könne Jegor gar nicht alles aus der Luft zurückholen, was er hochgeschleudert hatte. Der Farbschirm leuchtete immer stärker, dichter, verwandelte sich in ein funkelndes, schillerndes Geflecht. Flimmerte vor den Augen. Die Finger bewegten sich jetzt so rasend, dass selbst der beste Taschenspieler nicht mehr hätte mithalten können. Den Zuschauern stockte der Atem. Der Straßenlärm rollte an den gebannten Ring der Menge heran - und verstummte gleich dem Grollen eines fernen Meeres. Die bunte Schnur in Jegors Händen peitschte.

Die Spannung wuchs. Die Frau hörte auf, Geld zu sammeln, da ohnehin niemand mehr auf sie achtete, drehte sich Jegor zu und ließ ihren verliebten, begeisterten Blick auf ihm verweilen.

Jegor riss die Hände mit einem Ruck auseinander, worauf sich ein zitterndes buntes Band zwischen ihnen spannte.

Die Zuschauer applaudierten, als kämen sie gerade wieder zu sich.

Mir fiel ein uralter Witz von einem Zauberkünstler ein, der in einem Zirkus angeheuert werden wollte.»Ich trete in die Manege und jongliere mit kleinen bunten Fischen. Können Sie sich das vorstellen? Die fliegen dann hoch zur Kuppel hinauf- und verschwinden. Nur wie ich das mache, das habe ich mir noch nicht überlegt…«

Der arme dumme Zauberkünstler. Um das zu bewerkstelligen, muss man ein Anderer sein. Und sei es auch ein nicht initiierter.

Denn selbst ohne Initiation, ohne den ersten Eintritt ins Zwielicht vermag ein Anderer weitaus mehr als ein einfacher Mensch. Mit Jegor verhielt sich alles noch komplizierter. In seiner Kindheit war er ins Zwielicht eingetreten. Er hatte es sogar bis in die zweite Schicht geschafft, wenn ihn dabei auch fremde Kraft genährt hatte, da seine eigenen Fähigkeiten minimal waren.

Doch zur endgültigen Initiation hatte er sich nicht durchgerungen. Er war geblieben, was er war: ein unbestimmter Anderer, der seine Fähigkeiten nicht bewusst kontrollieren konnte und sich weder dem Licht noch dem Dunkel zuwandte. Sein

Schicksalsbuch war umgeschrieben worden, er war in den Ausgangszustand zurückversetzt worden und hatte die Möglichkeit einer erneuten Wahl bekommen - von der er jedoch abgesehen hatte.

Denn er wollte ein normaler Mensch bleiben.

Jegor hätte selbst nicht sagen können, wie er seine Nummer hinbekam. Er war überzeugt, äußerst geschickt zu jonglieren, die Bälle unmerklich aus der einen Hand in die andre gleiten zu lassen, bevor er sie erneut in die Luft warf. Anschließend ersetzte er die Bälle ausgesprochen gewitzt durch ein spezielles Band, das der Bequemlichkeit halber an einigen Stellen beschwert war.

Doch eigentlich konnte so ein Trick nicht funktionieren.

Aber Jegor war sicher, die Nummer ohne jede Magie zu bewerkstelligen. Als wäre er ein normaler geschickter Mensch.

Die Zuschauer klatschten. Auf ihren Gesichtern stand lebhafte, unverfälschte Begeisterung geschrieben, wie man sie im Zirkus sonst wohl nur bei Kindern sieht. Die Welt war für sie einen Augenblick lang zauberhaft und erstaunlich gewesen.

Sie wussten nicht, dass sie tatsächlich so ist, unsere Welt…

Jegor verbeugte sich und ging schnellen Schrittes im Kreis herum - nicht um Geld einzusammeln, obwohl man ihm auch Scheine entgegenstreckte, sondern lediglich um den Zuschauern ins Gesicht zu blicken.

Er nährte sich! Ohne es zu wissen, nährte er sich von den Gefühlen der Zuschauer!

Rasch wollte ich aus der Menge verschwinden. Doch von hinten drängten Zuschauer gegen mich, um meine Beine hüpften Kinder herum, eine halb nackte Frau mit gepiercten Lippen atmete mir schwer ins Ohr. Ich schaffte es nicht. Jegor bemerkte mich. Und hielt inne.

Mir blieb nichts weiter übrig, als die Arme auszubreiten.

Eine Sekunde lang zögerte Jegor, dann flüsterte er seiner Kollegin mit dem Tablett etwas zu. Und schlängelte sich durch die Menge. Die Menschen traten beiseite, klopften ihm dabei jedoch anerkennend auf die Schultern und äußerten sich begeistert in den unterschiedlichsten Sprachen.

»Tut mir leid, aber ich bin zufällig hier vorbeigekommen«, entschuldigte ich mich.»Ich hätte nicht gedacht, dich hier zu sehen.«

Einen Moment starrte er mich an.»Ich glaub dir«, sagte er dann mit einem Nicken.

O ja, momentan stand ihm Kraft im Höchstmaß zur Verfügung. Eine Lüge hätte er intuitiv gespürt.

»Ich geh jetzt«, sagte ich.»Du bist gut, ich konnte mich gar nicht losreißen.«

»Warte, ich muss mir mal die Kehle anfeuchten.«Jegor schloss sich mir an.»Ich bin fix und fertig…«

Ein neugieriger Junge zupfte Jegor energisch am Ärmel. Freundlich blieb Jegor stehen und knöpfte seine Manschetten auf, um zu zeigen, dass er dort nichts versteckt hatte. Dann holte er aus der Luft eine leichte silbrige Kugel und überreichte sie dem ungläubigen Zuschauer. Der Kleine seufzte begeistert auf und rannte zu seinen in der Nähe stehenden Eltern.

»Du bist wirklich gut«, lobte ich ihn.»Trittst du auch ihn Moskau auf? Dann komme ich mit meiner Tochter in den Zirkus.«

»Nein, in Moskau nicht.«Jegor verzog das Gesicht.»Weißt du, wie schwer es bei uns im Zirkus für den Nachwuchs ist?«

»Ich kann es mir vorstellen.«

»Wenn du nicht aus einer Artistenfamilie kommst, wenn du nicht schon mit fünf Jahren durch die Manege gehüpft bist und nicht auf Beziehungen zurückgreifen kannst… Wenn man dir dann anbietet, im Ausland aufzutreten…«Jegor runzelte die Stirn.»Sei’s drum! Nächstes Jahr werde ich in einem französischen Zirkus auftreten, jetzt handle ich den Vertrag aus, das haben sie nun davon…«

Wir setzten uns in einem nahe gelegenen Cafe an einen im Freien stehenden Tisch. Jegor bestellte ein Glas Saft, ich einen doppelten Espresso. Schon wieder übermannte mich Müdigkeit.

»Bist du jetzt meinetwegen hier oder nicht?«, fragte Jegor scharf.

»Ich habe noch nicht einmal gewusst, dass du nach Edinburgh fliegst! Ich bin beruflich hier, wegen einer Sache, die nichts mit dir zu tun hat.«

Misstrauisch starrte Jegor mich an. Dann seufzte er und entspannte sich.»Dann entschuldige«, sagte er.»Im Flugzeug ist mir einfach der Kragen geplatzt. Ich mag deine Firma nicht gerade… und ich habe wahrlich keinen Grund, sie zu mögen.«

»Das ist völlig in Ordnung.«Demonstrativ streckte ich die Hände aus.»Ich nehm das nicht krumm. Man muss unsere Firma nicht lieben, das hat sie nicht verdient.«

»Hm.«Nachdenklich stierte Jegor in sein Glas mit Orangensaft.»Wie steht’s denn so bei euch? Geser ist wohl immer noch da, oder?«

»Sicher. Geser war da, ist da und wird da sein.«

»Wie geht es Tigerjunges und Bär?«Jegor lächelte, als erinnere er sich an etwas Schönes.»Haben sie geheiratet?«

»Tigerjunges ist tot, Jegor.«Ich erschauerte, als ich mir klarmachte, dass er nichts davon wusste.»Es gab da eine sehr hässliche Geschichte… bei der alle Federn gelassen haben.«

»Sie ist tot«, meinte Jegor nachdenklich.»Das tut mir leid. Ich mochte sie sehr. Sie war so stark, eine Tierfrau…«

»Eine Transformationsmagierin«, korrigierte ich ihn.»Ja, stark, aber auch sehr emotional. Sie hat sich auf einen Spiegel gestürzt.«

»Auf einen Spiegel?«

»Hmm… das ist ein besonderer Typ von Magier. Ein sehr ungewöhnlicher. Wenn eine Wache an Oberwasser gewinnt, kommt der Gegenseite manchmal so ein Spiegel zu Hilfe. Angeblich bringt ihn das Zwielicht selbst hervor, aber genau weiß das niemand. So ein Spiegelmagier kann im normalen Kampf nicht besiegt werden, denn er nimmt die Kraft des Kontrahenten auf und wirft jeden Schlag zurück. Damals ist er auf uns losgegangen… und Tigerjunges ist dabei gestorben.«

»Und der Spiegel? Habt ihr den getötet?«

»Witali Rohosa, so hieß er… Er hat sich dematerialisiert. Von selbst, das ist ihr Schicksal. Nur ein schwacher, unbestimmter Magier kann zum Spiegel werden. Er verliert dann sein Gedächtnis, begibt sich an den Ort, an dem die Kraft auf einer Seite sprunghaft zugenommen hat, und stellt sich auf die gegnerische Seite. Danach verschwindet der Spiegel, löst sich im Zwielicht auf.«

Ich redete bereits völlig automatisch weiter. Meine Gedanken waren ganz woanders.

In meiner Brust wuchs ein schmerzhafter kalter Klumpen heran.

Ein schwacher unbestimmter Magier?

»Geschieht ihm recht«, meinte Jegor rachelüstern.»Um Tigerjunges tut es mir leid… Ich denke oft an sie. An dich auch manchmal.«

»Wirklich?«, fragte ich.»Ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich?«

Ehrlich gesagt, war es mir im Moment völlig egal, an wen sich Jegor wie erinnerte.

Ein schwacher unbestimmter Magier.

Begibt sich an den Ort, an dem…

Löst sich im Zwielicht auf…

»Ein bisschen schon«, gestand Jegor.»Aber nicht sehr. Im Grunde trifft dich keine Schuld. Du hast halt eine… beschissene Arbeit. Am Anfang war ich natürlich wütend. Ich habe sogar mal geträumt, du seist mein Vater. Und dass ich, um dich zu ärgern, ein Dunkler Magier werde und für die Tagwache arbeite.«

Er hatte sein Gedächtnis ja nicht verloren! Ich durfte nicht einfach Parallelen zwischen Rohosa und Jegor ziehen.

»Ein komischer Traum«, meinte ich.»Man sagt ja, bei bestimmten Träumen handle es sich um parallele Realitäten, die in unser Bewusstsein einbrechen. Vielleicht ist das irgendwann einmal passiert. Natürlich wäre es dumm, zu den Dunklen zu gehen…«

Jegor hüllte sich in Schweigen.»Hör auf«, schnaubte er nach einer Weile.»Die Pest soll eure beiden Häuser holen. Ich mag weder die Dunklen noch die Lichten. Aber du kannst mich ruhig mal besuchen, Anton. Ich wohne hier in der Nähe. Im Apex-City. Dann stelle ich dir meine Kollegen vor, die sind alle wirklich prima!«

Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und erhob sich.»Ich muss noch arbeiten. Meine Nummer ist der Höhepunkt des Programms, ohne mich verdienen meine Kollegen nicht so viel.«

Am Saft hatte er kaum genippt.

»Jegor!«, rief ich ihm nach.»Warum bist du nach Edinburgh gekommen? Einfach so, aus eigenem Antrieb?«

Erstaunt schaute mich der Junge an.

»Nein, nicht einfach so. Eine Firma hat mich engagiert, die Scottish Colours. Schottisches Kolorit. Wir nennen sie Schrottlands Farben. Warum willst du das wissen?«

»Ich hätte dir im Notfall gern geholfen«, log ich, ohne zu zögern.»Jemanden zu finden, der dich engagiert.«

»Danke«, sagte Jegor mit einer Wärme in der Stimme, die mich beinah dazu gebracht hätte, vor Scham im Boden zu versinken.»Das ist nicht nötig. Aber trotzdem danke, Anton.«

Ich saß da und starrte auf die Rückstände am Boden der Tasse. Reichten mir die Zufälle immer noch nicht? Musste ich jetzt im Kaffeesatz lesen?

»Schrottlands Farben«, murmelte ich.

In meiner Brust herrschte inzwischen eine Kälte, die schon nicht mehr schmerzte.

Vier

Es gibt nichts Törichteres, als in einer fremden Stadt im Hotelzimmer zu sitzen. In der Gluthitze der spanischen Siesta - da lasse ich mir das noch gefallen. Und auch bei einem frischgebackenen Ehepaar auf Hochzeitsreise, für das die Größe des Bettes entschieden wichtiger ist als die Aussicht aus dem Fenster…

Valerija befand sich im Moment freilich in einer ausweglosen Situation. Die Stadt zu verlassen hatte ihr die Polizei verboten. Aber auszugehen, sich in die ausgelassene Menge zu mischen, in den nie versiegenden Strom von Touristen einzutauchen - danach stand ihr wahrlich nicht der Sinn.

Sie öffnete die Tür so rasch, als hätte sie an der Schwelle gelauert. Obwohl ihr natürlich niemand vorab hatte Bescheid geben können, denn an dem Mann hinter der Rezeption war ich im Kreis der Nichtbeachtung vorbeigegangen.

Die junge Frau trug nur Shorts und einen BH. Gewiss, es war ziemlich heiß. Selbst gute Hotels haben in Edinburgh keine Klimaanlage, das Klima ist nicht danach. Es war heiß - vor allem, wenn man getrunken hatte.

»Ja?«, sprach Lera mich mit betrunkener Stimme an.

Die schwarzen Haare trug die Frau als Bubikopf, sie war hübsch, dünn und recht groß.

Mit einer Hand hielt sie sich an der halb geöffneten Tür fest, die ins Bad führte. Ich hatte geklopft, als sie auf dem Weg zum Klo war.

»Guten Tag, Lera«, begrüßte ich sie höflich. Obwohl ich nicht gerade respekteinflößend aussah, nur Shorts und ein T-Shirt anhatte, wählte ich den Ton eines»Vertreters der Organe«.»Darf ich hereingekommen?«

»Warum nicht?«, entgegnete Lera.»Bit…«Sie hickste.»Bitte schön. Ich… bin gleich wieder da.«

Sie zog die Badezimmertür hinter sich zu, machte sich aber nicht einmal die Mühe abzuschließen. Kopfschüttelnd marschierte ich an dem ungemachten Bett vorbei und setzte mich in den Sessel am Fenster. Ein kleines Zimmer von steriler Gemütlichkeit. Auf dem Couchtisch entdeckte ich eine Flasche Whisky der Marke Glenlivet, die bereits zu mehr als der Hälfte geleert war. Während ich zur Badezimmertür hinüberblickte, schickte ich in Leras Richtung einen einfachen Zauber.

Aus dem Bad ließen sich hüstelnde Geräusche vernehmen.

»Brauchen Sie Hilfe, Lera?«, fragte ich, während ich mir zwei Fingerbreit Whisky eingoss.

Lera antwortete nicht. Sie kotzte.

In der Minibar fand sich kaltes Mineralwasser. Ich spülte Leras Glas aus, das nach Whisky roch. Dann goss ich ein wenig Wasser ein, das ich anschließend auf dem Teppich verschüttete. Danach schenkte ich noch mehr Wasser ein.

»Entschuldigen Sie bitte…«Die junge Frau kam halb gekrümmt, jedoch deutlich munterer wieder heraus.»Ich… Entschuldigen Sie.«

»Trinken Sie das Wasser, Lera.«Ich hielt ihr das Glas hin.

Eine sympathische Frau. Noch ganz jung. Und mit sehr unglücklichen Augen.

»Wer sind Sie?«Gierig leerte sie das Glas.»Mist… mir platzt gleich der Schädel.«

Sie setzte sich in den freien Sessel und umfasste ihren Kopf fest mit beiden Händen.

So würden wir nie ein Gespräch zustande bringen…

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Haben Sie ein Aspirin? Irgendetwas gegen Kopfschmerzen…«

»Altchinesische Massage«, sagte ich, während ich aufstand und hinter sie trat.»Gleich ist der Schmerz weg.«

»Och, ich glaube nicht an Massage. Männer reiben doch nur einfach rum, behaupten aber, sie würden etwas von Massage verstehen, nur damit sie uns befummeln können…«, setzte Lera an. Um dann zu verstummen, sobald meine Hände sie berührten und damit den Schmerz vertrieben.

Natürlich verstand ich nichts von Massage. Doch auf diese Weise konnte ich die Heilmagie kaschieren.

»Wie gut… Sie sind ein Zauberer…«, murmelte Lera.

»Völlig richtig«, bestätigte ich.»Ein diplomierter Lichter Magier.«

Also… die Verkrampfung der Gefäße lockern… den Alkohol aus dem Blut ziehen… und zwar… ja, durch die Nieren… die Metaboliten neutralisieren… Serotonin und Adrenalin aufs Normalmaß reduzieren… den Säuregehalt im Blut ausbalancieren… gut, gleichzeitig die Produktion von Salzsäure im Magen verringern…

Natürlich konnte ich mit Swetlana nicht mithalten. Sie hätte das alles mit einer einzigen Berührung vollbracht. Ich musste mich drei Minuten hart plagen: Über die Kraft verfügte ich, mir fehlte es an Fertigkeit.

»So ein Wunder kann es doch gar nicht geben«, sagte Valerija nervös. Dann drehte sie sich um und sah mich an.

»Doch, doch«, versicherte ich.»Sie werden gleich zur Toilette gehen wollen. Genieren Sie sich nicht und unterdrücken Sie nichts. Sie werden jede Viertelstunde pinkeln wollen. Bis der ganze Mist aus Ihrem Organismus draußen ist… Halt. Warten Sie noch einen Moment…«

Ich schaute aufmerksamer hin. O ja, in der Tat…

»Sie sollten nicht mehr trinken«, legte ich ihr nahe.»Überhaupt nicht mehr.«

Dann ging ich ins Bad und wusch mir die Hände. Das fließende Wasser spülte die Müdigkeit aus meinen Fingern und den Abdruck der durch das Leid entstellten Aura. Ich hätte mich auch mit Kraft reinigen können, doch die althergebrachten Mittel sind die zuverlässigsten.

»Was haben Sie da gesagt?«, sagte Lera finster, als ich zurückkam.»Danke für die Massage, die war sehr gut… Entschuldigen Sie mich bitte!«

Ich wartete, bis sie vom Klo zurückkam, von der schnellen und effektiven Reinigung ihres Organismus offenkundig wie vom Donner gerührt.»Sie sind schwanger«, erklärte ich ihr, sobald sie sich gesetzt hatte.»Sie sollten mit dem Trinken aufhören.«

»Meine Mens setzt morgen ein«, blaffte Lera so wütend los, dass mir klar war: Sie spürte es. Mit weiblicher Intuition hatte sie sofort begriffen, dass sie schwanger war. Sie wusste es, verdrängte den Gedanken jedoch - und überließ sich dem Suff.

»Sie wird nicht einsetzen.«

Sie widersprach nicht. Wollte nicht einmal wissen, woher ich das nahm. Vermutlich schrieb sie es der sagenhaften östlichen Medizin zu.

»Was soll ich ohne Mann mit einem Kind«, fragte sie.

»Das müssen Sie selbst entscheiden«, erwiderte ich.»Ich will Sie zu nichts drängen.«

»Wer sind Sie?«, fragte Lera schließlich.

»Gorodezki. Anton Gorodezki. Aus Moskau. Ich… ich soll die Umstände klären, unter denen Viktor gestorben ist.«

Lera seufzte.»Hat Viktors Vater seine Beziehungen spielen lassen…«, brachte sie bitter hervor.»Aber welchen Sinn… jetzt…«

»Die Wahrheit herauszufinden.«

»Die Wahrheit…«Die junge Frau goss sich Wasser ein und leerte das Glas. Ihr Organismus jagte das Blut jetzt mit gesteigertem Tempo durch die Nieren, um den Alkohol und die Stoffwechselprodukte auszuspülen.»Ein Vampir hat Viktor ermordet.«

»Es gibt keine Vampire, Lera.«

»Ich weiß. Doch wenn Ihr Freund sagt: ›Jemand trinkt mein Blut‹ und dann mit durchgebissener Kehle und völlig blutleer daliegt?«

In ihrer Stimme schwangen leise hysterische Untertöne mit.

»Der Graben, über den Sie geschippert sind, ist überprüft worden«, erklärte ich ihr.»Dort gab es Blut. Viel Blut. Beruhigen Sie sich, Lera. Vampire gibt es nicht. Jemand hat Ihren Freund ermordet. Er ist verblutet. Das ist schrecklich, grausam - aber Vampire gibt es nicht.«

Eine Minute lang schwieg sie.»Warum hat mir die Polizei das nicht gesagt?«, fragte sie dann.

»Sie hat ihre eigenen Gründe. Man befürchtet wohl ein Informationsleck. Möglicherweise verdächtigt man Sie sogar.«

Das erschreckte sie nicht im Geringsten, sondern brachte sie bloß auf.

»Diese Schweine. Ich kann nicht mehr schlafen, schütte bis zum Abend Whisky in mich rein, gestern hätte ich mir beinah irgendeinen Kerl ins Bett geholt… Allein habe ich Angst, verstehen Sie das? Furchtbare Angst. Und die schweigen… Entschuldigen Sie, ich bin gleich wieder da.«

Ich wartete, bis sie von der Toilette zurückkam.»Anscheinend habe ich es mit der Massage ein wenig übertrieben«, räumte ich ein.»Ich mache das nicht professionell… sondern habe nur hier und da etwas aufgeschnappt.«

»Was man Ihnen nicht alles beibringt«, kommentierte Lera, wodurch ich begriff, dass sie jetzt genauso wenig an meiner Tätigkeit für den KGB zweifelte wie der junge Franzose aus den»Verliesen«. Wir alle sind Kinder der Massenkultur. Wir alle glauben an die Klischees, die sie verbreitet. Du brauchst dich nicht einmal auszuweisen, wenn du dich wie ein Geheimagent in einem Thriller verhältst.

»Lera, ich möchte Sie bitten, sich zusammenzureißen und an alle Einzelheiten von Viktors Tod zu erinnern«, forderte ich sie auf.»Ich weiß, dass Sie das alles schon mehrfach geschildert haben. Versuchen Sie es trotzdem noch einmal.«

»Wir kletterten in dieses dämliche Boot«, fing Lera an.»Ich wäre fast hingefallen, denn man kann nicht sehr gut einsteigen, der Boden liegt sehr tief, was man in der Dunkelheit überhaupt nicht mitkriegt.«

»Erzählen Sie alles von Anfang an. Wie Sie morgens aufgestanden sind - fangen Sie damit an. Und lassen Sie nicht die winzigste Kleinigkeit aus.«

In Leras Augen loderte ein dreistes Feuerchen auf.»Also… wir sind um zehn aufgewacht, da war’s fürs Frühstück schon zu spät. Deshalb haben wir Liebe gemacht. Dann sind wir unter die Dusche gegangen. Da ging’s weiter…«

Mit wohlwollendem Lächeln nickte ich, während ich ihrer Geschichte zuhörte - die wirklich kein Detail aussparte. Als die junge Frau zu schluchzen anfing, ließ ich schweigend ein paar Minuten verstreichen. Ihre Tränen versiegten, Lera schüttelte den Kopf. Sah mir in die Augen.»Dann sind wir in einen Pub gegangen… ›Eiche und Band‹… um etwas zu essen. Wir haben auch jeder einen Krug Bier getrunken. Es war heiß, dann haben wir die Reklame für diese verfluchte Sehenswürdigkeit bemerkt. Viktor hielt das für interessant. Na ja… zumindest würde es dort kühl sein. Deshalb haben wir das Ding besucht.«

Nichts. Keine Spur. Außerdem sah ich nun ein, dass auch diejenigen, die Lera vor mir befragt hatten, Profis waren, die sie in die Mangel genommen, sie gezwungen hatten, sich an alles zu erinnern, die dutzendmal nachgefragt und immer weitere Fragen gestellt hatten. Was sollte ihr da jetzt noch Neues einfallen?

Als sie abermals den Kahn und den unkomfortablen Einstieg beschreiben wollte, hob ich die Hand.»Stopp, Lera. Dieses Spiegellabyrinth… Sie haben gesagt, das sei am interessantesten gewesen. Ist auch dort nichts Außergewöhnliches passiert?«

Warum ich das fragte, wusste ich nicht. Vielleicht, weil ich an Jegor dachte. Vielleicht, weil mir die alte und unzutreffende Legende einfiel, der zufolge Vampire kein Spiegelbild haben.

»In dem Spiegellabyrinth…«Lera runzelte die Stirn.»Ach ja! Doch. Vitja hat jemandem zugewinkt. Als ob er einen Bekannten gesehen hätte. Später hat er mir dann gesagt, dass er sich wohl getäuscht hatte.«

»Und Sie, Lera? Haben Sie jemand Bekanntes gesehen?«

»Nein.«Sie schüttelte den Kopf.»Da ist alles voller Spiegel. Man verliert sich wirklich in den Gesichtern, in den Menschen. Das ist etwas ärgerlich… und ich habe versucht, nicht hinzusehen.«

»Haben Sie eine Vermutung… wen er gesehen hat?«

»Wäre das denn wichtig?«, fragte Lera ernst.

»Ja«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.

Das war sehr wichtig. Das war eine eindeutige Spur. Wenn in den Verliesen ein Vampir gewesen wäre, der den Blick der Besucher ablenkte, hätte man ihn im Spiegellabyrinth trotzdem gesehen. Und vielleicht hatte Viktor ihn nicht nur bemerkt - sondern auch erkannt.

Warum könnte diese Entdeckung eine Gefahr dargestellt haben? Ein Mensch besucht die Verliese - was sollte schon dabei sein? Warum brach ein Vampir deshalb in Panik aus und ermordete den völlig harmlosen, armen Studenten?

Ich wusste es nicht. Noch nicht.

»Ich glaube, Viktor dachte, einen Bekannten entdeckt zu haben… der nicht von hier war«, sagte Lera nach kurzer Überlegung.»Denn er hat sich ziemlich gewundert. Wenn es jemand von der Uni gewesen wäre, hätte er gewinkt und ihm ein Hallo zugerufen. Doch er hat nur gewinkt, nicht gerufen. Na, wie man das eben macht, wenn man sich nicht ganz sicher ist, ob man wirklich einen Bekannten entdeckt oder sich getäuscht hat. Und dann, als er niemanden fand, war er irgendwie irritiert. Er hat gemeint, er habe sich geirrt. So… als ob er sich selbst davon überzeugen würde, dass es nicht sein konnte. Hat Vitja seinen Mörder gesehen, Anton?«

»Ich fürchte ja.«Ich nickte.»Möglicherweise ist genau das der Grund, weshalb er ermordet wurde. Vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.«

»Soll ich der Polizei davon erzählen?«, erkundigte sich Lera.

Ich dachte kurz nach.»Warum eigentlich nicht?«, meinte ich achselzuckend.»Wenn möglich, erwähnen Sie aber bitte meinen Besuch hier nicht, ja? Aber das, woran Sie sich erinnern, das können Sie erzählen.«

»Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie den Mörder gefunden haben?«

»Ganz bestimmt.«

»Sie lügen.«Lera schüttelte den Kopf.»Sie lügen… nichts werden Sie mir sagen.«

»Ich schicke Ihnen eine Postkarte«, versprach ich nach kurzem Schweigen.»Mit einer Ansicht Edinburghs. Wenn Sie diese Karte bekommen, bedeutet das, dass Viktor gerächt ist.«

Sie nickte.»Anton, wenn ich… was soll ich mit dem Kind machen?«Ihre Frage erwischte mich, als ich bereits an der Tür war.

»Das müssen Sie selbst entscheiden. Vergessen Sie nicht, dass niemals jemand etwas für Sie entscheidet. Weder der Präsident, noch Ihr Chef, noch ein guter Zauberer.«

»Ich bin neunzehn«, sagte Lera leise.»Ich habe Vitka geliebt. Aber er lebt nicht mehr. Mit zwanzig Jahren mit einem Kind, aber ohne Mann dazustehen…«

»Das ist Ihre Entscheidung. Aber trinken Sie so oder so nicht mehr«, bat ich sie.

Dann schloss ich die Tür hinter mir.

Der Abend senkte sich herab, hinter mir lag schon eine schlaflose Nacht, verbracht in Flughäfen und Flugzeugen. Ich trank einen weiteren Kaffee und blickte bedauernd auf die Zapfhähne fürs Bier: Ein Pint würde jetzt genügen, um mich völlig auszuknocken. Dann rief ich Geser an, um ihm kurz darüber Bericht zu erstatten, was ich heute herausbekommen hatte.

»Ein Vampir im Moskauer Umfeld Viktors«, sinnierte Geser.»Danke, Anton, aber seine Moskauer Kontakte haben wir bereits vollständig überprüft… Gut, gehen wir sie noch einmal genauer durch. Wir werden alles ausgraben, angefangen beim Kindergarten. Was willst du jetzt machen?«

»Mich ausschlafen«, antwortete ich.

»Hast du schon erste Vermutungen?«

»Hier ist irgendwas im Gang, Geser. Ich weiß nicht genau, was, aber etwas sehr Großes.«

»Brauchst du Hilfe?«

Ich wollte schon ablehnen - da fiel mir Semjon ein.

»Falls Semjon nicht zu beschäftigt ist, Boris Ignatjewitsch…«

»Hat er solche Sehnsucht nach Schottland?«, schnaubte Geser.»Gut, ich schicke ihn dir. Wenn er nicht trödelt, trefft ihr euch morgen früh. Schlaf dich aus.«

Von Jegor erzählte ich nichts. Mit einem kurzen Blick auf den Anzeiger für den Ladezustand steckte ich das Handy weg. Komisch, die Batterie war noch voll. In Moskau gab das Handy innerhalb von einem Tag seinen Geist auf, obwohl ich es kaum benutzte. Und im Ausland funktionierte es problemlos eine ganze Woche lang. Ob das Netz hier besser war?

Blieb noch eine Sache. Eine unangenehme.

Ich holte die Wolfsfigur heraus und stellte sie auf den Tisch.

Verbindung, Hilfe, Rat?

Ich nahm die Figur in die Hand und schloss die Augen. »Sebulon«, rief ich innerlich.

Stille. Keine Antwort. Funktionierte sie vielleicht nicht so?

»Sebulon!«

Bildete ich mir das ein, oder spürte ich tatsächlich den Blick von jemandem auf mir?

Mir fiel wieder ein, dass Sebulon niemals sofort reagierte. Selbst dann nicht, wenn ihn seine Geliebte rief.

»Sebulon!«

»Was schreist du so, Gorodezki?«

Ich öffnete die Augen. Natürlich war niemand da.

»Ich brauche Rat, Dunkler.«

»Frag.«

Wie gut, dass in einem solchen Gespräch kaum Gefühle vermittelt werden. Vermutlich grinste Sebulon gerade. Ein Lichter wandte sich an ihn um Hilfe.

»Als der Spiegelmagier zu Ihnen gekommen ist, haben Sie ihn da gerufen, Sebulon?«

Diese Frage hatte er mit Sicherheit nicht erwartet.

»Der Spiegel? Witali Rohosa?«

»Ja.«

Eine Pause. Oh, er kannte die Antwort, ganz gewiss. Er entschied nur, ob er die Wahrheit sagen oder lügen sollte.

»Einen Spiegel kann man nicht rufen, Lichter. Ihn bringt das Zwielicht hervor.«

»Was muss passieren, damit ein Spiegel auftaucht?«

»Eine Seite der Kraft muss ein entscheidendes Übergewicht erlangen. Dieses Übergewicht muss schlagartig, muss zu schnell erworben sein. Der Spiegel ist gekommen, weil Geser Swetlanas Kraftniveau zu rasch angehoben, Olga abermals ins Spiel gebracht und… das Schicksal deiner zukünftigen Tochter umgeschrieben hat, indem er aus ihr die Höchste der Hohen gemacht hat.«

»Kann man vorhersehen, wer der nächste Spiegelmagier wird?«

»Ja. Es ist ein Anderer, dessen Ausgangskraft minimal ist. Er darf nicht initiiert sein. Er muss sowohl gegenüber dem Licht als auch gegenüber dem Dunkel Antipathien hegen. Oder umgekehrt: sowohl das Licht als auch das Dunkel lieben. Ein Mensch wie auch ein Anderer, die am Scheideweg stehen, machen keinen Unterschied zwischen der Kraft des Lichts und der des Dunkels. Solche Anderen gibt es, wenn auch selten. In Moskau sind es zwei: Viktors Vater und… dein junger Freund Jegor. Aber der ist jetzt schon ein richtiger Mann, oder?«

»Warum ist Rohosa aus der Ukraine gekommen?«

»Weil nicht wir entscheiden, wer Spiegel wird. Ich habe auf seine Ankunft gehofft, aber vorab weiß niemand etwas davon. Ein Spiegel kann kommen - oder auch nicht. Er kann gleich auftauchen oder erst Tage oder sogar Monate später an dem Ort eintreffen, an dem das Gleichgewicht gestört worden ist. Habe ich deine Neugier befriedigt?«

»Ja.«

»Dann erwarte ich im Gegenzug dieselbe Freundlichkeit. Wer hat Viktor ermordet? Und was hat ein Spiegelmagier damit zu tun?«

»Diese Information wird Sie nicht gerade glücklich machen, Sebulon. Ich glaube, dass Viktor in der Absicht ermordet worden ist, die schottische Nachtwache zu diskreditieren. Die Einrichtung gehört nämlich ihr. Und was den Spiegel angeht… ich fürchte, es kann hier zu einer Destabilisierung der Lage kommen. Und zwar in einem Maße, die die Ankunft eines Spiegels nötig macht. Gibt es in Edinburgh Kandidaten für diese Rolle?«

Er glaubte mir. Offenbar glaubte er mir.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er gedankenverloren. »Das hat mich nie interessiert.«

»Das war’s dann. Wenn Sie etwas herausbekommen, seien Sie doch so freundlich und lassen es mich wissen.«

Ohne sein Gelächter abzuwarten, öffnete ich meine Hand und beendete somit die Verbindung. Die Figur glänzte schweißig, was sie fast lebendig wirken ließ.

Das war’s, Zeit ins Hotel zu gehen. In die gemütliche Luxussuite für Lichte, in das Königreich von Weiß, Rosa und Beige, zu den Spitzenvorhängen und der Seidenbettwäsche.

In dem Moment klimperte das Handy fordernd los.

»Ja?«Ich presste das Mobiltelefon ans Ohr, fing den Blick des Kellners auf und fuhr mir mit einem Finger über den Handteller, gleichsam als stellte ich einen Scheck aus. Der Kellner lächelte gequält, warf einen Blick auf die eine Tasse, die vor mir stand, und kritzelte 2 £ auf die Rechnung.

»Anthony, mein Freund«, meldete sich Lermont. Dieses»Anthony«verriet mit sofort, dass jemand mithörte, der nicht zu wissen brauchte, dass ich Russe war.»Als du die ›Verliese‹ verlassen hast, wie ging es da meinem Mitarbeiter?«

»Gut.«

»Er ist ermordet worden, Anthony. Könntest du nicht herkommen?«

Ich zischte etwas, das die Zensur nicht passiert hätte, und kramte Kleingeld aus meinen Taschen. Also… erst die Burg, dann der Park und die Brücke…

»Wenn ich gleich ein Taxi kriege, bin ich in fünf Minuten da.«

»Beeil dich«, befahl Lermont.

Ein freies Taxi fand ich sofort, ich musste nicht einmal auf Magie zurückgreifen, um einen besetzten Wagen leer zu kriegen. In Edinburgh stand es mit den Taxis ohnehin ganz prächtig. Ich stieg ein, holte eine Zigarette heraus und steckte sie mir an. Der Fahrer quittierte das mit einem leicht unzufriedenen Blick, sagte jedoch nichts. Immerhin ließ ich auf meiner Seite das Fenster ganz herunter. Er hatte ja recht - wenn nach mir Nichtraucher einsteigen würden…

Doch ich wollte jetzt unbedingt rauchen.

Idiot! Was für ein Idiot ich doch war! Da geriet ich wegen Jegor in Aufruhr, machte mir um Valerija Sorgen… Aber meinen Kopf zum Denken zu benutzen - wofür ist er denn sonst da? -, darauf kam ich nicht. Mein Besuch in den»Verliesen«war nicht unbemerkt geblieben, irgendjemand hatte uns belauscht. Weshalb der arme Jean, dieser nervöse französische Student, nie wieder nach Nantes zurückkehren würde…

Und das war meine Schuld.

Aber was hatte sich Lermont eigentlich bei der Sache gedacht? Schloss die Einrichtung und stellte einen Menschen ab, um auf alles aufzupassen. Keinen Anderer^ keinen Kampfmagier, der sich mit einem Vampir von Gleich zu Gleich hätte auseinandersetzen können, sondern einen verschreckten, geschminkten Jungen im Faschingskostüm.

Ich stellte mir den rotblonden Jungen vor, wie er mit bleichem Gesicht - das jetzt allerdings nicht von der Schminke herrührte, sondern vom Blutverlust - zwischen den scheußlichen Folterwerkzeugen lag. Allein ist es hier aber nicht sehr gemütlich. Verzweifelt, jedoch nur halblaut fing ich an zu fluchen.

Was für ein Blödmann ich war, was für ein Blödmann…

Lermont erwartete mich am Eingang zu den ›Verliesen‹. Er wirkte so finster und böse, wie es ein Lichter nur sein konnte.

»Gehen wir.«Ohne sich umzudrehen, stapfte er los. Raschen Schrittes durchliefen wir die leeren Räume und kamen zum Blutfluss. Schon wieder hier?

Foma stieg schweigend in ein Boot. Ich folgte ihm. Nachdem Foma mit der Hand herumgefuchtelt hatte, knirschte der Mechanismus auf, und das Boot setzte sich in Bewegung.

»Haben Sie schon die Polizei gerufen?«, fragte ich.

»Noch nicht. Nur meine Leute… und einen Beobachter der Dunklen.«

»Wo sind sie?«

»Ich habe sie gebeten, ein paar Räume weiter zu warten. Ich habe ihnen gesagt, dass ich einen unabhängigen Experten zur Untersuchung der Leiche hinzuziehen möchte. Einen gewöhnlichen Menschen. Dich sollten wir vorerst aus dem Spiel lassen…«

Der Kahn kroch durch einen kurzen verdunkelten Abschnitt, dann legte er am zweiten»Ankerplatz«an.

»Nun denn«, sagte Foma finster.

Ich kletterte aus dem Boot und folgte Foma in den nächsten Raum. In dem Hinrichtungswerkzeuge ausgestellt waren. An der Decke hing eine Schaufensterpuppe mit einer Schlinge um den Hals, auf der Guillotine… o nein, das war keine Puppe. Abermals hatte der Mörder seinen Sinn für Humor unter Beweis gestellt.

Um einem Menschen den Kopf mit einem stumpfen Requisitenmesser eines Guillotinemodells abzuschlagen, braucht man übermenschliche Kräfte. Zum Beispiel die eines Vampirs.

In dem weißen Plastikeimer unter der Guillotine stand bis zur Hälfte Blut. Der abgehackte Kopf lag daneben.

Ich hockte mich hin, nahm den Kopf vorsichtig in die Hand. Schreien wollte ich - als mir mein Unvermögen, meine Dummheit aufgingen.

»Ich würde zu gern wissen, welches Schwein…«, brachte Foma hervor.»Der Mann hat siebzehn Jahre lang bei mir gearbeitet…«

»Das Schwein gibt sich als junger rotblonder Franzose aus«, erwiderte ich.»Als ein Franzose, der mit leichtem Akzent spricht. Der wie zwanzig aussieht. Es liebt theatralische Effekte. Ist höchst gewitzt. Und ein hervorragender Schauspieler.«

Behutsam bettete ich den abgehackten Kopf auf dem Fußboden. Sah den entgeisterten Lermont an.»Jemand hat mich wie einen kleinen Jungen an der Nase herumgeführt«, erklärte ich ihm.»Ich habe mit dem Mörder gesprochen, zwei Schritt von der Leiche entfernt. Und mir ist nichts aufgefallen. Nichts!«

Den Kopf des ermordeten Wachmanns zierte schwarzes Haar, durchzogen von einzelnen grauen Strähnen - wie es bei einem Mann von über fünfzig auch zu erwarten war. Blind blickte er vom Boden aus zu uns hoch.

»Man kann seine Natur nur gegenüber Schwächeren verbergen.«Lermont durchbohrte mich mit einem ungläubigen Blick.»Das ist ein Axiom. Versuche meine Aura zu bestimmen.«

Ein seltsames Gespräch neben dem Körper eines Menschen mit abgehacktem Kopf. Ein seltsamer Ort, seltsame Verbrechen, seltsame Gespräche…

Die Aura Lermonts, lodernde gelb-grüne Funken, ein pikender Kraftigel, wurde trüb. Die Stacheln zogen sich ein, verblassten. Nur ein paar Sekunden später umgab Lermont die glatte, vielschichtige Aura, die charakteristisch für einen Menschen ist.

Ein untrügliches Merkmal eines Anderen ist die zerklüftete, aufgebrochene Aura. Sie kann sich in Spitzen und Zapfen aufstacheln, Trichter bilden, mit Ritzen klaffen. All diese Merkmale einer offenen energetischen Kontur signalisieren die Fähigkeit, nicht nur - wie die Menschen - Energie abzugeben, sondern sie auch aufzunehmen. Aufzunehmen, umzuarbeiten und Wunder zu schaffen.

Eine menschliche Aura ist glatt, vielschichtig und kompakt. Menschen geben die Kraft nur ab, nehmen sie aber nicht auf. Und die gleichmäßige Hülle der Aura stellt ihren Versuch dar, sich zu schützen, dem langsamen und unmerklichen Abfluss von Leben Einhalt zu gebieten.

Ja, jetzt sah Lermont wie ein Mensch aus.

Fast wie ein Mensch…

Als ich genauer hinschaute, bemerkte ich nämlich fahle Stacheln in seiner Aura. Foma hatte sich sehr gut maskiert. Doch ich konnte seine Verteidigung durchbrechen.

»Ja«, räumte ich ein.»Aber diesen jungen Franzosen habe ich nicht so genau sondiert. Seine Tarnung hätte funktionieren können.«

»Damit wäre dein rotblonder Gesprächspartner allerdings ein Hoher Vampir. Oder ein Hoher Magier, der sich als Vampir ausgibt.«Foma nickte zufrieden.»Niemals hätte er sich jedoch maskieren und gleichzeitig seine Aura tarnen können. Das ist gut, Anton! Das ist sogar sehr gut! Damit kennen wir jetzt seine physische Erscheinung: jung, rotblond… so viele Hohe Andere gibt es ja nun nicht auf der Welt.«

»Den Umhang hat er sich wahrscheinlich hier besorgt«, vermutete ich.»Und die falschen Zähne. Als er gehört hat, wie ich mich näherte, ist er nicht geflohen, sondern mir in aller Ruhe entgegengekommen… und hat sich prompt eine passende Legende ausgedacht.«

»Ich kann mir sogar vorstellen, wofür er den Umhang brauchte«, stellte Foma düster fest, während er auf den blutbespritzten Boden blickte.»Er muss sich beschmiert haben… Gib mir sein Bild, Anton.«

Mit geschlossenen Augen versuchte ich, mich so genau wie möglich an den Franzosen zu erinnern. Dann warf ich das Bild in Gedanken Lermont zu.

»Hm«, sagte der Schotte.»Gut. Das überprüfe ich in unserem Bildarchiv.«

»Ob wir die Inquisition informieren sollten?«, fragte ich.

»Nein.«Lermont schüttelte den Kopf.»Noch ist das nicht nötig. Diese Ereignisse sprengen noch nicht den Rahmen eines normalen Verbrechens, das ein einziger Dunkler begangen hat.

Die Edinburgher Tagwache wird keinen Protest einlegen. Versuchen wir ohne die Inquisition auszukommen, Anton. Zumindest so lange wie möglich.«

Ich widersprach nicht. Es ist kein sonderliches Vergnügen, die Inquisition um Hilfe zu bitten.

»Brauchen Sie meine Hilfe noch?«

»Nein. Geh dich ausschlafen«, forderte Lermont mich auf.»Die Polizei werden wir nicht einschalten, die Ermittlungen liegen jetzt ganz und gar bei uns. Meine Mitarbeiter werden versuchen, Spuren festzustellen, ich werde die Hohen überprüfen.«

Ächzend beugte Lermont sich über den abgeschlagenen Kopf, als hoffe er, irgendwelche Hinweise zu entdecken, die der unvorsichtige Verbrecher hinterlassen hatte.

Er sollte mal etwas gegen seinen Bierbauch unternehmen…

»Foma«, rief ich ihn leise.»Foma, was gibt es hier, in Schottlands Verliesen?«

»Wie?«Er drehte sich nicht einmal um.

»Was suchen die Dunklen hier?«

»Das ist eine Touristenattraktion, Mister Gorodezki«, gab Foma kalt zurück.»Eine Attraktion, mehr nicht.«

»Ist ja schon gut«, meinte ich, bevor ich ging.

Für den Mörder hätte keine Notwendigkeit bestanden, an den Tatort zurückzukommen. Wenn er einen Hinweis hinterlassen hätte, wäre er bereits entdeckt worden, sei er nun normaler oder magischer Art.

Doch er war zurückgekommen und hatte erneut getötet. Um die Nachtwache weiter aufzubringen? Quatsch. Um den Verdacht auf Lermont zu lenken? Noch größerer Mist.

Also hatte er beim ersten Mal etwas ganz Bestimmtes nicht tun, nicht vollbringen können. Weshalb er hatte wieder hierherkommen müssen.

Was konnte Lermont verstecken? An diesem nicht gerade durchschnittlichen Ort. An dem zum Beispiel kein blaues Moos wuchs. Das stellte eine außergewöhnliche Anomalie dar. Die Struktur des Zwielichts ist nicht homogen. So gibt es beispielsweise Orte, an denen es schwieriger ist, es zu betreten, und solche, an denen es einfacher ist. Ich hatte auch von Zonen gehört, an denen der Zugang ins Zwielicht gänzlich unmöglich sein sollte. Aber das blaue Moos, dieser Parasit, gedeiht überall…

Nachdem ich mich etwa hundert Meter von der Brücke entfernt hatte, blickte ich durchs Zwielicht.

Aha.

Dort, wo ich stand, wilderte das Moos nur so. An den Pubs und Cafes bildete es ganze Girlanden. An den Wohnhäusern kroch es dichter hoch als an den Büros und Geschäften. An den Kreuzungen, an denen die Autofahrer nervös wurden, spross ebenfalls mehr Moos.

Alles völlig normal.

Zur Brücke hin, in der Nähe des Eingangs zu den Verliesen, wurde das blaue Moos sogar immer dichter und dichter! Es drängte dorthin, was mich nicht verwunderte. Immer mehr und mehr Moos - und dann vertrocknete es plötzlich zehn Meter vor der Tür, als sei es gegen eine unsichtbare Barriere gestoßen.

Seltsam. Wenn es dort irgendeinen für das Moos schädlichen Faktor gegeben hätte, würde es nach und nach spärlicher wachsen. Doch diese Erklärung dürfte wohl kaum zutreffen…

Ich streckte die Hand nach einer in der Nähe wuchernden Mooskolonie aus, einem plüschigen blauen Fleck auf dem Asphalt.»Brenne!«, befahl ich.

Die Kraft strömte durch mich hindurch, doch noch hielt ich sie zurück. Damit das Moos nicht sofort entflammte. Sondern sich blähte, bauschte und versuchte, die Gratisenergie umzuwandeln. Dann schwoll die Kraft an, und das Moos unterlag. Es ergraute, verdorrte… und verbrannte schließlich.

Jetzt sah ich es. Wenn du weißt, was du suchst, liegt alles glasklar vor dir.

Die durch den Raum treibende Kraft, diese von den Menschen ausgestoßene Lebensenergie, verschwand ungleichmäßig im Zwielicht, Gewiss, sie sickerte unablässig durch das Gewebe des Universums hindurch - in die erste Schicht, die zweite, die dritte… Aber in der Nähe der Verliese klaffte ein Loch, zu dem ein ununterbrochener Kraftstrom wogte. Als hätte jemand in den Stoff, durch den etwas langsam tropfte, in einen Stoff, mit dem man Wasser filterte, ein kleines Loch geschnitten.

Ein Übermaß an Nahrung für einen hirnlosen Parasiten. Das Moos kroch zu der Touristenattraktion, angezogen von dem Kraftstrom und jenen Emotionen, die von den erschreckten Besuchern stammten. Es kroch dorthin - und vertrocknete.

Mir schwante, warum Foma Lermont gerade hier diese Sehenswürdigkeit eingerichtet hatte. Die an einer Stelle zusammenfließende Energie musste vor gewöhnlichen Anderen getarnt werden. Hier würde man die überbordende Gratiskraft den beschwipsten Touristen zuschreiben, den erschrockenen Kindern, dem endlosen Edinburgher Karneval.

Mich würde nicht wundern, wenn Foma diese außerordentlichen Anstrengungen, Edinburghs Popularität weiter zu erhöhen, ausschließlich wegen eines einzigen Zieles unternommen hatte: um diesen Ort zu tarnen.

Denn an einem gab’s nichts zu rütteln: Auch die Lichten spielen mitunter sinistre Spiele.

Langsam schlenderte ich eine der Straßen, die zur Royal Mile führten, hinauf. Hier wimmelte es nicht so von Touristen. Die Straße war dunkel, nur aus den Fenstern drang Licht nach draußen, alle Geschäfte waren bereits geschlossen. Doch sie müsste geradenwegs zum Hotel führen. Nichts wollte ich jetzt lieber als schlafen. Ob ich vielleicht doch ein Taxi nehmen sollte? Allerdings brauchte ich zu Fuß nur zehn Minuten…

Nachdem ich in eine zwischen den Häusern liegende Gasse gebogen war, fand ich mich auf einem kleineren Platz oder in einem größeren Innenhof wieder. Ich steuerte auf ein winziges, sich nur einen Meter über das Straßenpflaster erhebendes Denkmal zu. Auf einer Steinschale, aus der ein kleiner Strahl emporsprudelte - handelte es sich nun um einen zu klein geratenen Springbrunnen oder um einen Trinkbrunnen? -, saß ein bronzener Papagei. Darunter prangte eine Tafel. Unter Zuhilfenahme meines Feuerzeugs las ich, dass dieser Brunnen von einem Bürger der Stadt in Erinnerung an seinen geliebten Papagei aufgestellt worden war, der im fortgeschrittenen Alter an Lungenentzündung gestorben war…

Hinter mir knallte es, und etwas stieß mich heftig gegen die Schulter. Und zwar so heftig, dass ich einige Schritte machen musste, um nicht mit dem Gesicht in der mit Wasser gefüllten Schale zu landen.

Ein heißer Strom lief mir über den Rücken.

Was war das? Was?

Erneut knallte es. Scheppernd flog etwas von dem Bronzevogel ab. Um mich endgültig davon zu überzeugen, dass ich dem Tod am Denkmal des Papageien nur knapp entgangen war, klatschte eine heiße Kugel zischend in die Brunnenschale.

Jemand schoss auf mich!

Auf mich! Einen Anderen!

Einen Hohen Magier!

Der mit einer einzigen Handbewegung Paläste zu zerstören und Städte aufzubauen vermochte!

Nun gut, das mit den Städten war Angeberei - zu zerstören ist immer leichter als etwas zu schaffen.

Ich duckte mich hinter dem Brunnen und sah ins Dunkel. Niemand. Und… durchs Zwielicht!

Das Ergebnis verdutzte mich.

Jemand schoss zweifelsohne aus der Gasse, die parallel zu der verlief, durch die ich zu diesem Platz gelangt war. Doch ich sah niemanden! Weder einen Anderen noch einen Menschen!

Bloß gut, dass die Wunde nicht allzu ernst war. Die Kugel hatte das weiche Gewebe durchdrungen. Keine Sekunde danach hatte ich im Reflex das Blut gestillt. Gleich würden mir einige gute Heilzauber einfallen, um die durchtrennten Muskeln wieder zusammenwachsen zu lassen…

Ein weiterer Schuss. Die Kugel sauste über meinen Kopf hinweg, zerzauste mir sogar das Haar. Dem leisen Geräusch nach zu urteilen, musste es sich um eine Waffe mit Schalldämpfer handeln. Und da ich immer noch nicht tot war, musste jemand entweder mit einer Pistole schießen - und ein guter Schütze sein - oder mit einem Scharfschützengewehr - und als Schütze nichts taugen.

Aber warum sah ich ihn nicht?

Indem ich mit den Händen wedelte, überzog ich die ganze Gasse mit einem fünfminütigen Morpheus. Dann, nach kurzem Zögern, schickte ich den Zauber auch in die Fenster, über das Dach des Gebäudes und in die Nachbargassen. Ein kurzer Schlaf würde den Menschen nicht schaden. Der Morpheus ist ein sanfter Zauber, einem Menschen bleiben fünf Sekunden, bevor er endgültig ausgeknockt wird. Wer steht, kann sich noch setzen, Mütter, die Kinder im Arm halten, legen diese hin, Autofahrer drosseln die Geschwindigkeit. Es würde keine Opfer geben. Vermutlich nicht.

Stille.

Hatte ich ihn getroffen?

Ich stand auf und schaute abermals durchs Zwielicht. Okay, wer auch immer du sein magst, wenn du jetzt eingeschlafen bist, ist deine Maskierung dahin…

Ein Knall. Ein kaum wahrnehmbarer Blitz in der Gasse. Dann traf meine arme rechte Schulter eine zweite Kugel! An derselben Stelle.

Sicher, ich könnte mich mit dem Gedanken trösten, dass ich dort ohnehin schon verwundet war. Aber es tat weh! Warum tat es nur so weh, wenn da schon ein Loch klaffte?!

Ich hockte mich so hin, dass mich der Brunnen gegen den Schützen abschirmte. Jetzt konnte es keine Zweifel mehr geben, da ballerte jemand tatsächlich aus dieser Gasse auf mich.

Was sollte ich tun? Fireballs in die Dunkelheit schießen? In der Hoffnung, den maskierten Schützen wenigstens damit zu treffen? Alles um mich herum mit dem Weißen Höhenrauch versengen? Mir den Schild des Magiers umhängen und in den offenen Kampf ziehen? Aber wenn ich den Feind nicht sah, dann stand mir ein Magier gegenüber, dessen Kraft meine überstieg!

Oder sollte ich Hilfe rufen? Die Polizei? Geser und Foma?

Stopp.

Auf Geser und Foma konnte ich eventuell verzichten.

Was hatte Sebulon gesagt? Verbindung, Hilfe, Rat?

Hilfe könnte ich jetzt gebrauchen.

Ich holte die Figur aus der Tasche und stellte sie auf das Kopfsteinpflaster. Um sie ganz sanft mit meiner Kraft zu streifen.»Ich! Brauche! Hilfe!«, schrie ich.

Alles geschah in Sekundenschnelle. Die Luft peitschte mir so stark ins Gesicht, dass ich im ersten Moment glaubte, der unbekannte Schütze werfe jetzt mit Granaten. Dabei transformierte sich nur die Figur, blähte sich, fiel zusammen, verwandelte sich in einen schwarzen zottigen Schatten. In der Dunkelheit blitzten weiße Zähne auf, funkelten gelbe Wolfsaugen. Mit einem Satz sprang der Tiermensch über den Brunnen hinweg. Um sich dann gleich nach rechts zu stürzen. Ein Schuss knallte, ging aber offenbar ins Leere. Der Wolf sprang von links nach rechts, so geschickt, wie es nur ein Wesen vermag, auf das man schon mit Schusswaffen Jagd gemacht hat, und hetzte in die Gasse. Ich hörte ein Brüllen, dann fiel etwas, schepperte metallen. Nach wie vor knallten Schüsse, gleichmäßig in einem Abstand von ein, zwei Sekunden, doch etwas sagte mir: Die Kugeln gingen ins Leere, der Schütze bedeutete keine Gefahr mehr.

Ich sprang auf, rannte dem Wolf hinterher, schützte mich dabei aber für alle Fälle mit dem Schild. Schließlich kam ich sogar darauf das zu tun, was von Anfang an nicht schlecht gewesen wäre: Licht zu schaffen. Das war ein absolut simpler Zauber, den jeder Lichte Magier beherrschte. Ich rief die Urkraft an - und über mir wogte in der Luft ein grellweißes Feuer.

Sofort sah ich den, der mich beinahe getötet hatte. Den, der im Zwielicht nicht auszumachen war.

Ein metallischer Dreifuß, der an ein Profistativ für Videokameras erinnerte. Auf dem Dreifuß thronte auf einer Drehscheibe ein Zylinder mit funkelnden Linsen. Auf dem Zylinder war in einer stoßgedämpften Halterung ein kurzes Gewehr mit runder Trommel (wie die Schpagin aus alten Sowjetzeiten) und langem geriffelten Schalldämpfer auf dem Lauf befestigt. Ein stahlverkleidetes Kabel lief zum Abzug und mündete in eine Klammer, die um diesen geschlungen war.

Der Roboter funktionierte noch. Mit leisem Surren der Motoren bewegte sich der Zylinder, die Klammer spannte sich um den Abzug - und das in den Himmel gerichtete Gewehr schoss in die Luft. Als ich mich vorbeugte, bemerkte ich, dass mir Blut über die Schulter lief. Den Zylinder bediente eine sichere Hand… An einer Seite gab es eine winzige Klappe, auf der in chinesischen Schriftzeichen etwas eingraviert war:»Schütze I«. Weiter folgte die Nummer: 285590607. Unter den Hieroglyphen war mit wenigen Strichen ein lächelndes rundes Kindergesicht gezeichnet.

Diese Spaßvögel…

Ich fuhr mit dem Fingernagel unter die Klappe, öffnete sie und legte den Schalter auf»Aus«um.

Schütze I schnurrte leise mit den Servomotoren auf, bevor er verstummte.

»Ein Gruß aus dem Reich der Mitte«, kommentierte ich und setzte mich neben den Roboter. Betrachtete die kurze Antenne, die aus dem Zylinder herausragte. Der eigentliche Schütze konnte sonst wo sein. Ich hatte gegen einen Roboter gekämpft.

Wobei ich sehr davon profitiert hatte, dass das Visier leicht schief stand.

»Das hat mir gerade noch gefehlt«, meinte ich mit einem Blick auf den Roboter.»Wohin soll das bloß noch führen? Müssen wir uns jetzt Zauber gegen die Technik einfallen lassen?«

Aus der Dunkelheit trat der Wolf heraus. Er setzte sich mir gegenüber hin und fing an, seine Pfote zu lecken. Eine Wunde konnte ich nicht erkennen, der Werwolf dürfte sich jedoch an dem heißen Lauf verbrannt haben, als er den Dreifuß zu Boden geworfen hatte.

»Wenn die Dreifüße der Marsianer Flöhe gehabt hätten, hätten die genau so ausgesehen«, sagte ich zum Wolf.»Hast du den Krieg der Welten gelesen?«

Anfangs glaubte ich, er würde nicht antworten. Außerdem können nicht alle Tiermenschen sprechen, wenn sie sich in ein Tier verwandelt haben. Doch nach einer Weile bedachte mich der Wolf mit einem aufmerksamen Blick.»Ken-ne nur den Film«, bellte er.

»Dann weißt du ja, was ich meine«, erwiderte ich.»Vielen Dank.«

»Leck dei-ne Wun-de.«

»Ich bin kein Verwandlungsmagier, der seine Wunde leckt…«Während ich die Hand auf die rechte Schulter presste, konzentrierte ich mich. Mir verschwamm alles vor Augen, in der Hand pulsierte der Schmerz. Eine widerliche Sache, so eine Schusswunde. Selbst für einen Magier. Sweta… ja, sie hätte mich binnen weniger Minuten geheilt.

»Wem bist du denn auf den Schwanz getre-ten?«Die Worte kamen dem Werwolf jetzt bereits besser über die Lippen.»Dem Ei-ffel-turm?«

Im ersten Moment begriff ich nicht, dass er einen Scherz machte.»Oh, oh, was für eine scharfe Zunge«, meinte ich kopfschüttelnd.»Da bekommt der Satiriker Petrosjan wohl Konkurrenz. Vielen Dank für die Hilfe. Bist du verletzt?«

»Die Pfote«, brummte der Wolf kaum hörbar, bevor er diese wieder beleckte.»Das Gewehr war heiß.«

»Verwandel dich in einen Menschen zurück, dann heile ich dich.«Ich stand auf. Mein Blut war bereits zum Stillen gebracht. Nachdem ich einen Tarnzauber über den abgeschalteten Dreifuß geworfen hatte - nun würde man an seiner Stelle etwas Banales nach persönlichem Gusto sehen -, klemmte ich ihn mir unter den linken Arm. Ein schweres Ding. Das stark nach heißem Metall, bitter nach Schießpulver und nach irgendwas Öligem roch. Trotzdem musste ich es mitschleppen, schließlich konnte ich nicht mitten in der Stadt eine Waffe stehen lassen.

»Spä-ter«, kläffte der Wolf ausweichend.»An ein-em si-che-ren Ort. Wo wohnst du?«

»Im Hotel. Es wird dir gefallen. Gehen wir. Versuch nur, die ganze Zeit dicht an meiner Seite zu bleiben und wie ein braver Hund auszusehen.«

Der Wolf knurrte, bedeckte seine Hauer aber sofort. Da das Tier nicht sehr groß war, konnte es in der Dunkelheit durchaus als Schäferhund durchgehen.

Ehrlich gesagt, glaubte ich nicht, dass die Schwierigkeiten damit für heute ein Ende hatten. Doch zum Hotel gelangten wir ohne weitere Probleme. An der Rezeption langweilte sich ein neuer Portier, der jedoch keine Fragen stellte. Offenbar hatte man ihn über mich ins Bild gesetzt und entsprechende Anweisungen gegeben. Den Tiermenschen musterte er neugierig, schwieg indes auch in diesem Fall. Ich trat an den Tresen heran.»Den Schlüssel für die dunkle Luxussuite oben«, bat ich.

Der Mann erhob keine Einwände. Gab mir einfach den Schlüssel.»Sie können wohl nicht in einem Zimmer schlafen?«, wollte er dann aber doch wissen.

»Ich bin gegen Tierhaare allergisch«, teilte ich ihm mit.

Aus dem Restaurant klangen Stimmen und Gläserklirren herüber. Die Gäste genossen den Abend. Ich dagegen verspürte keinen besonderen Wunsch, mich jenem entspannten Treiben anzuschließen, bei dem kein Cocktail so gern getrunken wurde wie Bloody Mary - dessen Bezeichnung freilich wörtlich genommen wurde.

Fünf

Erst schloss ich die Tür für den Wolf auf, dann die zu meinem Zimmer. Der Wolf tauchte in die Dunkelheit seiner Suite ein, drehte sich um und stieß die Tür mit dem Maul zu. Unmittelbar darauf ließ sich ein schmatzendes, reißendes Geräusch vernehmen, als werde feuchter Schaumstoff zerrissen. Der Werwolf verwandelte sich in einen Menschen zurück.

Ich ging in mein Zimmer, schaltete das Licht ein und schloss die Tür. Den Schützen I, der immer noch nach Schießpulver roch, stellte ich in eine Ecke. Dann zog ich mein blutgetränktes T-Shirt aus, schmiss es in den Mülleimer. Und schaute mich im Spiegel an.

Ein prachtvolles Bild. Eine blutverkrustete Schulter, eine schreckliche, glutrote Narbe an der Stelle, an der die Kugeln eingedrungen waren.

Egal. Hauptsache, die Wunde heilte. Dazu genügte der Avicenna, und morgen früh würde nichts mehr zu sehen sein. Was kann uns Zauberern eine Schusswunde schon anhaben? Nix! Kein Wort verlieren wir über dergleichen. Trotzdem zog ich die Vorhänge vor und schaltete die Deckenlampe aus. Wenn mir jemand eine Kugel in den Kopf jagte, würde keine Magie mich mehr retten.

Während ich unter der Dusche stand, um mir Schweiß und Blut abzuwaschen und auch, zugegeben, um einfach den warmen Wasserstrahl zu genießen, versuchte ich, mir das Unerklärliche zu erklären.

Bei den schottischen Verliesen handelte es sich um eine anomale Zone, in der die Kraft aus unserer Welt herausfloss. Wohin? Offenbar in die unteren Schichten des Zwielichts. So weit war alles klar.

Den Studenten Vitja hatte ein Vampir ermordet. Warum? Weil Viktor ihn im Spiegellabyrinth gesehen und erkannt hat. Dem Vampir musste sehr daran gelegen sein, sein Inkognito zu wahren. Auch das war klar.

Jegor hatte man als potenziellen Spiegel nach Edinburgh eingeladen. Und zwar als einen Magier, der Partei für die Nachtwache ergreifen sollte - Foma würde sich schließlich nicht ins eigene Fleisch schneiden! Er befürchtete eine ernsthafte Auseinandersetzung, in der die Dunklen die Oberhand behalten würden. Seine Angst musste zudem so groß sein, dass er sich auf jede erdenkliche Weise zu schützen versuchte. Mich hatte Geser offensichtlich ebenfalls auf Fomas Bitte hin nach Schottland geschickt. Auch das war noch recht klar.

Der Rest blieb mir ein Rätsel.

Viktor hatte man das Blut ausgesaugt - doch nur ein Vampir mit seinem wie eine Vakuumpumpe funktionierenden Hals vermochte das innerhalb von drei, vier Minuten zu bewerkstelligen. Der Vampir hatte das Blut jedoch in den Graben ablaufen lassen. Warum? War er satt? Ein Vampir war nie satt genug, um auf eine weitere Portion zu verzichten. Blut bedeutet ja nicht nur Nahrung, sondern auch Energie - und zwar in der einzigen Form, in der Vampire sie aufnehmen können. Ein Vampir verarbeitet getrunkenes Blut innerhalb von einer Viertelstunde. Warum hätte er es vergießen sollen? Um den Verdacht von Vampiren abzulenken? Aber die Menschen glaubten ohnehin nicht an Vampire, und die Wache würde alles anhand der Form der Wunde erkennen.

Warum war der Wachtposten beseitigt worden? Noch dazu auf so grausame Art und Weise? Hatte er jemanden in den Verliesen gestört? Freilich, es gibt hunderterlei Arten, einen Menschen auszuschalten, ohne ihm Schaden zuzufügen. Zum Beispiel den Morpheus. Den Ruf der Vampire. Oder schlicht einen Knüppel über die Rübe, hart, aber nicht tödlich! Dieser Mord war einfach unverständlich, unnötig…

Dann der schießende Roboter, der alles vollends verwirrte! Manchmal setzen sowohl wir als auch die Dunklen Schusswaffen ein. Vor allem die jungen Anderen, in denen tief verwurzelt der Glaube an schwere Pistolen, an mit silbernen Kugeln geladene Maschinengewehre und leistungsstarke Granaten sitzt… Aber im friedlichen Edinburgh einen ferngesteuerten Schießroboter loszulassen! Mir war nicht mal klar gewesen, dass solche Dinger inzwischen die Phase des Prototyps hinter sich gelassen haben und in China am Band hergestellt werden. Gewiss, viel Aufwand erfordern sie nicht: ein Drehkranz, eine Videokamera und ein Nachtsichtgerät, eine Halterung für eine x-beliebige Handwaffe und ein Auslöser. Derjenige, der mir das Ding in den Weg gestellt hatte, blieb in sicherem Abstand versteckt, behielt den Schirm der Funkanlage im Auge, fuhrwerkte mit dem Joystick herum und drückte den»Feuer«-Knopf. Das konnte ein Magier, aber auch ein Vampir tun. Und letzten Endes sogar ein Mensch.

Was ging hier vor? Woher rührte diese Aggression gegen mich? Einen Hohen Lichten, einen Mitarbeiter der Nachtwache zu überfallen stellte ein schwerwiegendes Vergehen dar. Derjenige, der das getan hatte, hatte nichts mehr zu verlieren…

Nachdem ich mich ordentlich abgetrocknet hatte, warf ich mir den weißen Seidenbademantel über und verließ das Bad. Ich musste was essen. Und sei es nur Schokolade aus der Minibar. Und mir an die hundert Gramm Whisky genehmigen. Oder ein Glas Wein. Danach könnte ich mich auf das Seidenlaken fallen lassen und einschlafen. Tief und traumlos.

Als hätte jemand meine Gedanken gelesen, klopfte es an der Tür. Aufstöhnend gürtete ich den Bademantel zu, ging zur Tür und öffnete.

Vor mir stand ein Teenager. Oder eine junge Frau von vielleicht fünfzehn Jahren, ein Alter, das sich nur schwer klassifizieren ließ. Das Mädchen war barfuß, die kurzen schwarzen Haare schimmerten feucht, und offenbar trug sie nicht mehr als einen Bademantel aus schwarzer und roter Seide.

»Kann ich reinkommen?«, fragte sie mit der Stimme einer Musterschülerin.

»Ich hätte gleich draufkommen müssen«, meinte ich.»Komm rein.«

»Und wie hätten Sie das erraten sollen?«, wollte das Mädchen mit gesenktem Blick wissen.»Indem Sie die Statuette genauer untersucht hätten?«

»Ein Mikroskop hatte ich nicht dabei. Aber ein männlicher Wolf hätte mit Sicherheit die Waffe bepinkelt.«

»Puh, ganz schön ungehobelt, noch dazu für einen Lichten!«Das Mädchen runzelte die Stirn. Ging zum Sessel, setzte sich und schlug die Beine übereinander.»Nicht bepinkelt, sondern markiert! Es ist doch okay, dass ich rübergekommen bin, oder? Ich bringe Sie damit doch nicht in Verlegenheit?«

»Nein, zu deinem Leidwesen nicht, Mädchen.«Ich öffnete bereits die Minibar.»Möchtest du etwas trinken?«

»Warme Milch mit Honig.«

Ich nickte.»Gut. Ich rufe im Restaurant an.«

»Hier gibt es keinen Zimmerservice.«

»Für mich werden sie eine Ausnahme machen«, behauptete ich voller Überzeugung.

»Gut, schenken Sie mir Wein ein. Roten.«

Für mich goss ich einen Whisky mit Eis ein. Dabei entdeckte ich die kleine Flasche Drambuie, die nur fünfzig Gramm fasste, und goss sie in den Whisky. Das, was ich für einen tiefen Schlaf brauchte, war ein ordentlicher Schluck Rusty Nail. Wenn das Mädchen auf Milch mit Honig verzichtete, hieß das für mich nicht, auf Whisky mit Honig verzichten zu müssen…

»Wem sind Sie denn nun in die Quere gekommen?«, wollte das Mädchen wissen.»So etwas habe ich zum ersten Mal gesehen, dass jemand aus einer Maschinenkanone schießt…«

»Das war keine Kanone.«

»Als ob das eine Rolle spielt«, schnaubte meine Besucherin.»Ich bin ein Mädchen, da darf ich mich irren.«

»Du bist kein Mädchen, du bist eine Tierfrau.«Aufmerksam betrachtete ich ihr Gesicht.»Und ich erinnere mich an dich.«

»Ja?«Mit einem Mal fiel jede Bravour von ihr ab.»Wirklich?«

»Natürlich. Du bist Galja. Du hast damals die Hexe Arina gesehen, als sie meine Tochter entführt hat.«

»Stimmt.«Das Mädchen lächelte.»Und ich habe gedacht, Sie hätten mich längst vergessen…«

»Nein.«Ich hielt ihr das Glas mit dem Wein hin.»Danke. Du hast mir damals sehr geholfen.«

»Sie haben eine nette Tochter.«Tapfer trank sie den Wein, verzog das Gesicht nur leicht.»Und eine sehr schöne Frau.«

Ich nickte.»Was willst du hier machen?«, fragte ich dann.

»Ich weiß nicht.«Sie zuckte die Schultern.»Sebulon hat mir gesagt, das sei eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Ich müsste Ihnen helfen, auch wenn Sie ein Lichter sind. Sollte Sie immer verteidigen.«

»Und warum ausgerechnet du?«, fragte ich.»Entschuldige, aber schließlich bist du noch sehr jung. Und du verfügst nur über den fünften Grad.«

»Weil ich…«Galja geriet ins Stocken.»Ich habe Ihnen doch geholfen, oder? Obwohl ich nur den fünften Grad habe.«

»Das hast du.«Ich trank meinen Cocktail auf ex.»Entschuldige, aber ich möchte jetzt fürchterlich gern schlafen.«

»Ich auch. Aber bei mir drüben ist es so schrecklich. Alles ist rot und schwarz. Könnte ich nicht hier bei Ihnen bleiben?«Sie sah mich an - bis sie verlegen den Blick senkte.

Ich stellte das Glas ab.»Natürlich«, meinte ich nickend.»Nimmst du das Sofa? Ein Kissen und eine Decke bringe ich dir.«

»Ein Lichter…«, sagte das Mädchen gedehnt, eingeschnappt und enttäuscht.»Gut, ich verlasse diese paradiesischen Gemächer und begebe mich in meine Filiale der Hölle. Dort dürfte es lustiger sein!«

Mit dem Glas in der Hand schritt sie stolz zum Zimmer hinaus. Neugierig blickte ich ihr hinterher. Ihr Zimmer war tatsächlich in glutroten und schwarzen Tönen gehalten. Auf dem Boden entdeckte ich schwarze Fellknäuel: Das Mädchen hatte sich so schnell verwandelt, dass das Fell sich nicht vollständig zurückgebildet hatte.

Als Galja die Tür hinter sich zuzog, streckte sie mir die Zunge heraus.

Worauf ich, indem ich mich rasch verzog, leise zu lachen anfing.

Frühreife, Emanzipation und sexuelle Revolution! Nein, ich würde nicht lügen. Es schmeichelte mir, dass dieses Mädchen vor vier Jahren auf mich abgefahren war. Oder nicht damals vor vier Jahren. Möglicherweise hatte sie sich ja erst später in mich verliebt. Im Nachhinein, sozusagen. Als eine Hormonwelle die Zeit für romantisches Schmachten und diffuse Wünsche mit sich brachte.

Und was sie nicht alles tat, um mich zu verführen! Mit übereinander geschlagenen Beinen hatte sie den Bademantel herunterrutschen lassen und mir kokette Blicke zugeworfen.

Doch das Absurdeste von allem: Sie wäre so oder so gekommen, egal zu wem. Nach der Transformation steigt bei Tiermenschen die Libido stark an. Manche machen sich das ganz bewusst zunutze, um sich den Ruf leidenschaftlicher und unermüdlicher Liebhaber zu erwerben.

O ja, mitunter ärgerte es mich schon, dass ich ein Lichter war…

Allerdings wollte ich im Moment so dringend schlafen, dass ich nicht einmal den Wunsch verspürte, mich erregenden sexuellen Phantasien mit der jungen Tierfrau zu überlassen. Völlig automatisch wirkte ich ein paar Alarm- und Schutzzauber, handelte es sich dabei doch um ein Ritual ähnlich dem des abendlichen Zähneput-zens. Dann schlüpfte ich ins Bett, lauschte dem Lärm draußen auf der Straße - die Stadt vergnügte sich noch, die Stadt dachte noch nicht ans Schlafen. Ich schnappte mir mein Handy, stellte den Player an und schloss die Augen. Die Zeit der Walkmen war zusammen mit den Schallplatten untergegangen, die Zeit der MD-Player schien es im Grunde gar nicht gegeben zu haben, und nun endete die Zeit der CDs. Es bleibt die kalte Ziffer MP3. Auch daran hatten wir uns gewöhnt. Es irritierte uns nicht mehr.

Das ist der Anfang vom Licht.

Dunkel die Nacht, ohne eignes Gesicht.

Doch ins Dunkel trat jemand hinein.

Auch bei dir wird’s so sein, du weißt’s nur noch nicht.

Ist es Wahn, der da spricht?

Denn es klingt wie ein Hohn,

Doch grad das ist der Anfang vom Licht,

Das Ende der Angst,

So nur formt sich ein Ton.

Das ist das Ende der Angst.

Hast getrunken aus giftigen Kräutern den Trank

Nach dem Buch im verbotenen Schrank.

Und wenn du jetzt schreist, ist das schon ein Beweis.

So viel Elend und Leid. So viel Qual ohne Lohn.

Aber nur das ist der Anfang vom Licht,

das Ende der Angst,

So nur formt sich ein Ton.

Bald ist es Zeit zu begraben.

Also grab zum Gezeter der Diebe und Raben

Und begrab deinen Tod.

Zauber dir Leben, weissage dir Licht.

Die Spur schwindet nicht.

Der letzte Freund ging davon.

Das ist der Anfang vom Licht, das Ende der Angst,

So formt sich ein Ton.

Ich schlief ein. Und im Traum schoss niemand auf mich. Niemand hackte jemandem den Kopf mit einem stumpfen Messer ab. Niemand jagte jemandem hinterher.

Mädchen in seidenen Bademänteln gab es dort nicht, aber auch für Sweta hatte sich kein Platz gefunden. Und nur ein Blick, ein neugieriger, missbilligender Blick, wollte mich einfach nicht freigeben.

Vom Klingeln des Handys geweckt zu werden ist immer unangenehm. Selbst wenn deine geliebte Frau oder ein alter Freund anruft.

Es tagte bereits. Ich riss den Kopf vom Kissen los, sah mich im Schlafzimmer um - alles in Ordnung, nur die Decke hatte ich im Schlaf zu Boden geworfen. Ich langte nach dem Mobiltelefon, sah mir die Nummer an.

Statt einer Telefonnummer stand nur bescheiden»Sebulon«dort, obwohl ich die Nummer des Dunklen natürlich nicht eingespeichert hatte.

»Ja, Dunkler.«

»Wie geht es dir, Anton?«, fragte Sebulon teilnahmsvoll.»Ist die Schulter verheilt?«

»Danke der Nachfrage, alles in Ordnung.«Unwillkürlich berührte ich die Stelle, an der gestern noch eine Wunde geklafft hatte. Die Haut war rosa und juckte.

»Freut mich, dass mein Geschenk dir geholfen hat«, fuhr Sebulon in demselben freundlichen Ton fort.»Ich wollte dir ein paar Informationen zukommen lassen. In Großbritannien gibt es keine Anwärter für die Rolle des Spiegels. Es gibt einen in Frankreich, einen in Polen, zwei in Italien… mir ist jedoch völlig schleierhaft, was Thomas geritten hat, ausgerechnet Jegor nach Edinburgh zu holen.«

Alles klar. Meiner naiven Schläue blieb der Erfolg versagt. Sebulon war trotz allem auf die Wahrheit gestoßen.

»Ich hoffe nur, er wird nicht gebraucht«, meinte ich.

»Natürlich, sicher«, stimmte Sebulon mir zu.»Was für eine Schweinerei, den Jungen erneut für die Zwecke des Lichts einzuspannen… Anton, mein Guter, was geht da eigentlich vor? Ich habe gehört, gestern sei ein zweiter Mord geschehen. Wurde noch einem Mensch das Blut abgelassen?«

»Ja«, bestätigte ich, während ich mich im Bett aufsetzte.»Noch einem. Ihm wurde der Kopf mit einem Guillotinemodell abgeschlagen.«

»Und was ist mit seinem Blut geschehen?«, wollte Se-bulon wissen.

»Es wurde in einen Putzeimer aufgefangen.«

»Verstehe.«

»Wie schön, dass Sie wenigstens etwas verstehen«, bemerkte ich.

»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Anton…«Sebulon zögerte.»Frag Foma, wann er das letzte Mal seinen Grabnachbarn besucht hat.«

»Was?«Ich meinte, mich verhört zu haben.»Das Grab des Nachbarn?«

»Wann er das letzte Mal seinen Grabnachbarn besucht hat«, wiederholte Sebulon amüsiert. Dann beendete er das Gespräch.

Halblaut vor mich hinfluchend, stand ich auf und ging ins Bad. Brachte mich in Ordnung und nahm eine kalte Dusche. Zog mir ein kurzärmeliges Hemd und Jeans an, weil mir aus irgendeinem Grund der Sinn nicht mehr nach unseriösen Shorts und T-Shirt stand. Wenn das Wetter es erlaubt hätte, wäre ich sogar in Pullover und Jackett geschlüpft.

Abermals klingelte das Handy.

»Hallo, Geser«, meinte ich nach einem Blick aufs Display.

»Wie geht’s dir?«

»Meine Schulter ist wieder in Ordnung«, antwortete ich, ohne den geringsten Zweifel daran zu hegen, dass Geser über alles Bescheid wusste.

»Was soll das heißen? Deine Schulter ist wieder in Ordnung?«

»Gestern Abend hat man auf mich geschossen.«In knappen Worten berichtete ich ihm von dem Vorfall. Durch das Handy drang eine derartige Grabesstille an mein Ohr, dass ich wie bei einem alten Telefon ins Mikro blies.

»Ich frage mich…«, meinte Geser kalt.»Ich überlege…«

»Vielleicht könnte ich zunächst einmal frühstücken?«

»Mach das«, gestattete mir der Chef.»Danach suchst du Foma auf. Sag ihm, die Zeit der Geheimniskrämerei und Spielchen sei vorbei. Er soll die Rune überprüfen.«

»Welche genau?«, fragte ich im Ton eines Menschen, der tagein, tagaus Runen überprüft.

»Die Rune Merlins.«

»Ach Ja…«, meinte ich, während ich langsam anfing, mir einen Reim auf alles zu machen.»Merlins… Sollte sie etwa nicht mehr im Grab sein?«

Ich hatte einen Schuss auf gut Glück abgegeben, doch anhand von Gesers Schweigen begriff ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.

»Anton, woher weißt du…«Er fluchte kurz.»Finde Foma und sprich in aller Offenheit mit ihm! Ich setze mich ebenfalls mit ihm in Verbindung.«

»Zu Befehl!«, antwortete ich in abgehacktem Ton. Dann steckte ich das Handy in die Tasche.

Ging es darum?

Es gab eine Rune. Eine Rune im Grab. Im Grab Merlins.

Aber Merlin war doch eine Figur aus der Mythologie, oder? König Artus, die Ritter der Tafelrunde, Merlin… Niemand von ihnen hatte je existiert!

Hm! Genauso wenig wie der Große Geser und Thomas Rhymer existieren. Oder verrückte Vampire, Tiermädchen, Lichte Heiler und aufmüpfige junge Magier, die zufällig das höchste Kraftniveau erreicht hatten…

Seltsamerweise besserte sich meine Stimmung daraufhin zusehends. Weil es in der Sache anscheinend vorwärts ging? Ich eilte die Treppe hinunter, begrüßte an der Rezeption den Mann von gestern und öffnete die Tür zu dem kleinen Restaurant.

Es saß kein einziger Mensch darin.

Nur zwei junge Vampire und das Tiermädchen.

Die Vampire aßen Carpaccio, Galja ein Omelett. Erstaunlich, denn normalerweise vertilgen Tiermenschen nach zwei aufeinanderfolgenden Transformationen gern kiloweise Fleisch.

»Guten Morgen«, begrüßte ich sie alle miteinander.

Die Vampire lächelten schief und nickten. Galja spießte mit der Gabel das Omelett auf. Natürlich: Die Hormonwelle war verebbt, jetzt fühlte sie sich verlegen. Von irgendwoher hatte sie sich etwas zum Anziehen besorgt: schwarze Hosen, eine weiße Bluse, ein kurzärmeliges Jäckchen. Etwas in der Art tragen die Schüler in japanischen Zeichentrickfilmen.

»Hallo«, begrüßte ich sie, während ich mich neben sie setzte.»Ausgeschlafen?«

»Hm.«

»Hast du keine Albträume gekriegt? Dein Zimmer ist grauenvoll, kein Wunder, dass du Angst hattest, dort zu schlafen. Der Designer hat ganz schön übertrieben, stimmt’s?«

Nachdenklich sah Galja mich an. Schob sich ein Stück Omelett in den Mund und kaute.»Vielen Dank, Lichter. Aber du gefällst mir, ehrlich. Soll ich dir was zu essen holen? Dich verwöhnen?«

»Mach das«, stimmte ich zu.

Das Mädchen ging zu dem Büfett. Omelett und Spiegelei wurden in Tiegeln warm gehalten, dazu Brot, Wurst, Käse, Butter und frische Kräuter. In der Ecke neben der Küchentür stand ein kleiner Kühlschrank. Ob darin wohl das Blut für die Vampire aufbewahrt wurde? Oder ob der Barmann das abends ausschenkte? Momentan bediente niemand an der Theke, selbst über den Zapfhähnen fürs Bier steckten bunte Kappen.

Mein Handy klingelte schon wieder.

»Lasst mich doch wenigstens essen«, bat ich, während ich nach dem Ding langte.

»Anton?«

»Ja, Foma.«

»Sind Sie schon auf, Anton?«

»Ja. Ich frühstücke gerade.«

»Ich schicke Ihnen einen Wagen. Könnten Sie in fünfzehn Minuten aus dem Hotel kommen?«

»Äh…«Ich starrte Semjon an, der gerade in der Tür auftauchte. Freudestrahlend winkte Semjon mir zu.»Das schaff ich. Kann ich vielleicht einen Kollegen mitbringen?«

»Diese Dunkle? Das Tiermädchen? Das würde nichts bringen.«

»Nein, gerade ist ein Kollege aus Moskau eingetroffen. Ein Lichter Magier.«

Foma seufzte.

»Gut, Gorodezki. Kommen Sie zu zweit. Der Fahrer weiß, wohin er Sie bringen muss.«

»Ich muss Sie noch etwas fragen«, meinte ich.

Lermont seufzte erneut.»Ich fürchte, ich muss… Ihnen auch etwas erzählen. Beeilen Sie sich, ich warte.«

Während ich das Handy wegsteckte, lächelte ich Galja an, die mit Tellern und einem Kännchen Kaffee auf mich zusteuerte. Gleichzeitig näherte sich von der Tür her Semjon.

»Ich habe Ihnen Kaffee gebracht. Irgendwie habe ich gedacht, Sie würden den lieber trinken als Tee«, verkündete das Mädchen stolz. Dann blickte sie misstrauisch zu Semjon hinüber.

»Oh! Galotschka Dobronrawowa!«Semjon setzte ein breites Lächeln auf.»Ja, ja, ich erinnere mich noch an dich… Was macht die Schule? Wie geht es Marina Petrowna?«

Auf dem Gesicht des Mädchens erglühten rote Flecken. Sie stellte das Geschirr auf dem Tisch ab.

»Stell dir vor«, vertraute Semjon mir an,»Galotschka mochte ihre Chemielehrerin nicht. Da hat sie angefangen, ihr Angst einzujagen. Abends hat sie in Tiergestalt die Lehrerin vor ihrem Haus abgepasst, geknurrt und die Zähne gebleckt. Kannst du dir das vorstellen? Bei dem Mann dieser bescheidenen Chemielehrerin handelte es sich jedoch um einen einfachen Milizionär der Streife. Von der Invasion aggressiver Hunde leicht beunruhigt, verließ er am dritten Abend, ganz wie im Märchen, das Haus, um seine Frau von der Arbeit abzuholen. Als er unsere Galotschka entdeckt hat, wie sie in den Büschen die Zähne fletschte, wurde ihm klar, dass es sich nicht um einen Hund, sondern um einen Wolf drehte, worauf er nach seiner Pistole griff und das ganze Magazin abfeuerte. Zwei Kugeln landeten übrigens in Galotschkas Popo, als sie vor dem grimmigen Ordnungshüter türmen wollte. Dann überschlugen sich die Ereignisse, wir haben herausgefunden, worum es ging, sind zu Galja nach Hause gefahren, haben mit ihr geredet… Ein klarer Fall, auf die Inquisition konnten wir verzichten. Wir haben die ganze Angelegenheit auch so unter Kontrolle gekriegt.«

Das Mädchen drehte sich um und rannte aus dem Restaurant. Die Vampire schickten ihr nachdenkliche Blicke hinterher.

»Du hättest nicht so streng sein sollen«, wies ich ihn zurecht.»Sie hat sich gestern in einen Kugelhagel gestürzt, um mich zu retten.«

Semjon klaubte sich ein Stück Wurst vom Tablett. Kaute.»Pure Soja…«Er seufzte.»Dass sie sich dem Kugelhagel aussetzt, ist ja gut. Aber dass sie Jagd auf ihre Lehrerin gemacht hat?«

»Ist schlecht«, kommentierte ich finster.

Das Taxi, das auf uns wartete, bestiegen wir zusammen mit dem in einen Bademantel gehüllten Schießroboter. Der metallische Dreifuß ragte heraus, worüber wir uns jedoch kaum Gedanken machten.

Beim Fahrer handelte es sich um einen Menschen. Offenbar heuerte man in der Edinburgher Wache weitaus häufiger Menschen an als bei uns. Rasch ließen wir das touristische Zentrum hinter uns und fuhren in Richtung Meer.

»Danke, dass du mich hast kommen lassen«, sagte Semjon, der mit unverhohlenem Vergnügen zum Fenster hinausschaute.»Ich hatte genug davon, in Moskau rumzusitzen… Erzähl mal, was hier vor sich geht.«

Ich fing an zu berichten. Anfangs hörte Semjon noch mit dem arroganten Interesse eines alten erfahrenen Kämpfers zu, dem ein Frischling irgendwelche Horrorgeschichten schildert. Dann wurde er ernster.

»Bist du dir sicher, Antocha? Damit, dass die Kraft irgendwohin verschwindet?«

»Soll ich den Fahrer bitten, zu wenden und bei den Verliesen vorbeizufahren?«

Semjon seufzte. Schüttelte den Kopf.»Ein Depot«, meinte er lakonisch.

»Und das heißt?«

»Ein Geheimversteck. Dort wird etwas sehr Wichtiges verborgen gehalten.«

»Semjon, ich verstehe aber trotzdem nicht…«

»Stell dir einmal vor, dass du ein sehr, sehr starker Magier bist, Anton. Und beispielsweise bis in die fünfte Zwielicht-Schicht vordringen kannst.«

»Das kann ich nicht.«

»Es dir vorstellen?«

»Ich kann nicht dorthin vordringen. Vorstellen - das ist einfach.«

»Also stell es dir vor. Du kannst so tief eindringen, wie kein Anderer sonst, den du kennst. Und jetzt musst du plötzlich etwas sehr Wertvolles verstecken. Ein magisches Artefakt, einen starken Zauber… von mir aus auch einfach einen Sack voll Gold. Was tust du? Ein Loch buddeln? Das wird man entdecken. Vor allem, wenn du eine magische Sache versteckst, denn sie wird die Kraft um sich herum in Aufruhr bringen, egal, wie gut du sie tarnst. Deshalb nimmst du dieses Ding, gehst tief ins Zwielicht…«

»Und lasse es dort. Mal angenommen, in der fünften Schicht.«Ich nickte.»Aber dieser Gegenstand aus unserer Welt will wiederauftauchen…«

»Deshalb brauchst du einen beständigen Kraftzulauf. Hm… als ob du einen schwimmenden Gegenstand am Boden der Badewanne halten willst. Er selbst will wieder aufsteigen. Aber wenn du ihn von oben herunterdrückst, indem du Wasser drauf laufen lässt…«

»Ich hab’s verstanden, Semjon.«

»Hast du eine Idee, wer da was versteckt haben könnte?«

»Ja«, gestand ich.»Aber erst will ich Foma danach fragen.«

In meiner Tasche klingelte schon wieder das Handy. Was für eine Strafe…

»Ja?«, meldete ich mich, ohne vorher aufs Display zu schauen.

»Hier ist Geser, Anton.«

Die Stimme des Chefs klang irgendwie merkwürdig. Als ob er verwirrt sei.

»Was gibt’s?«

»Ich habe mit Foma gesprochen… Er hat mir versprochen, offen mit dir zu reden. Und mit Semjon, da er nun schon mal da ist…«

»Danke, Boris Ignatjewitsch.«

»Anton…«Geser verstummte.»Da ist noch was… Wir haben in der Vergangenheit von Viktor Prochorow gegraben. Und etwas gefunden.«

»Ja?«Mir schwante, dass mich nichts Gutes erwartete.

»Kam dir sein Foto nicht bekannt vor?«

»Ein normaler junger Mann. Ein typischer Moskauer, eine Allerweltsvisage.«Ich ertappte mich dabei, wie ich grob wurde - wie immer, wenn Nervosität mich packte.»In jedem Institut trifft man solche Jungen… jeder zweite sieht so aus.«

»Versuch, dir Viktor jünger vorzustellen. Als Teenager, als Jungen…«

Ich strengte mich ehrlich an.»Dann sehe ich einen durchschnittlichen Moskauer Schüler vor mir«, antwortete ich.»In jeder Schule trifft man…«

»Vermutlich hast du ihn schon mal gesehen, Anton. Sogar mehrmals. Er war der Klassenkamerad deines ehemaligen Nachbarn Kostja Sauschkin. Und er war ein guter Bekannter von ihm, man kann sogar sagen, ein Freund. Vermutlich hat er ihn oft besucht. Du bist ihm bestimmt öfters über den Weg gelaufen, wenn er mit der Schultasche herumgefuchtelt und ohne Grund gekichert hat.«

»Das kann nicht sein…«, flüsterte ich. Gesers Worte brachten mich dermaßen aus der Fassung, dass mich noch nicht einmal die nie beispiellose Anschaulichkeit seiner Erzählung verwunderte. Mit dem Ranzen fuchtelnd und kichernd? Das war gut möglich. Wenn bei dir im Haus Kinder wohnen, stolperst du automatisch über ihre Schulmappen, hörst ihr Gelächter und trittst in Kaugummibrocken. Wer würde sich da noch an Gesichter erinnern…

»Das ist die Wahrheit, Anton. Der einzige Vampir, den Viktor kannte, war Kostja Sauschkin.«

»Aber Kostja ist tot, Geser!«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Geser.»Genauer gesagt, wir gehen davon aus.«

»Er hat sich nicht retten können«, behauptete ich.»Niemals hätte er das gekonnt. Dreihundert Kilometer über der Erde. Dort gibt es keine Kraft. Er ist in der Atmosphäre verbrannt. Er ist verbrannt, begreifst du das, Geser? Verbrannt!«

»Schrei nicht so«, bat Geser ruhig.»Ja, er ist verbrannt. Wir haben den Skaphander bis zum Ende auf den Radarschirmen verfolgt. Wir wissen aber nicht, ob wirklich Kostja Sauschkin in diesem Raumanzug steckte, Anton. Bei der Höhe ließ sich das nicht mit Sicherheit feststellen. Wir müssen an alles denken. Wir müssen das genau berechnen.«

Dann unterbrach er die Verbindung. Ich sah Semjon an, der traurig den Kopf schüttelte.»Ich habe alles gehört, Anton.«

»Und?«

»Solange du die Leiche nicht gesehen hast, solltest du es mit der Beerdigung nicht eilig haben.«

Foma Lermont lebte in einem Vorort. In einem ruhigen und teuren Bezirk voller gemütlicher Cottages und gepflegter kleiner Gärten. Er empfing uns dann auch gleich im Garten. Der Chef der Edinburgher Nachtwache saß in einer efeuumrankten Holzlaube und legte auf einem zerkratzten Zeitungstisch Patiencen. In weichen grauen Hosen und einem Polohemd sah er wie ein friedliebender Bürger aus, der kurz vor der Rente stand. Noch ein Schock Enkelkinder um ihn herum - und fertig wäre der Seniorvorstand einer Großfamilie. Bei unserem Erscheinen erhob sich Lermont höflich, um Semjon und mich zu begrüßen.»Die geht sowieso nicht auf…«, murmelte er, nachdem er die Karten zu einem Haufen zusammengeschoben hatte.

»Foma, ich glaube, wir sollten jetzt offen miteinander reden.«Ich schielte zu Semjon hinüber.»Sie haben doch nichts dagegen, wenn mein Kollege dabei ist?«

»Nein. Geser hat sich für ihn verbürgt.«

»Heute hat mich Sebulon von der Moskauer Tagwache angerufen, Foma.«

»Ich weiß, wer Sebulon ist.«

»Er hat gesagt… er hat mich gebeten, Sie zu fragen… wann Sie das letzte Mal Ihren Grabnachbarn besucht haben.«

»Heute Nacht«, gab Lermont leise Auskunft.

»Und Geser… hat mich nach einer Rune gefragt. Der Rune Merlins.«

»Die Rune ist nicht im Grab«, erwiderte Lermont. Dann richtete er den Blick auf Semjon.»Was weißt du über Merlin?«, fragte er.

»Er war ein Magier.«Semjon kratzte sich den Nacken.»Ein Großer Lichter Magier. Vor sehr langer Zeit.«

Dann sah Lermont wieder mich an.»Und du?«, wollte er wissen.

»Ich habe gedacht, Merlin sei eine mythologische Figur«, gab ich offen zu.

»In gewisser Weise habt ihr beide recht.«Lermont lächelte.»Der Große Lichte Magier Merlin ist in der Tat eine mythologische Figur. Der echte Merlin war… weniger angenehm. Sicher, er hat dem kleinen Artus geholfen, das Schwert aus dem Stein zu ziehen und König zu werden. Obwohl… unter uns gesagt… Artus überhaupt keinen Anspruch auf den Thron hatte. Merlin war kein ausgemachter Schurke. Er setzte seine Ziele einfach nur mit allen Mitteln durch. Ist es nötig, einen König auf den Thron zu heben, der uns ergeben ist? Dann tun wir das. Soll der König von seinen Untergebenen geehrt und geliebt werden? Natürlich - wozu sollten wir uns unnütze Probleme schaffen! Erziehen wir den König zu einem edlen und erhabenen Menschen. Gestatten wir dem König seine eigenen, seine königlichen Spielereien… eine prächtige Tafelrunde und kühne Ritter. Aber wisst ihr auch, dass Artus’ Tod durch die Hand eines Kindes, das an einem bestimmten Tag geboren worden war, bereits vor der Geburt Mordreds vorausgesagt worden war? Und wisst ihr, was der edle Artus getan hat?«

»Darüber will ich lieber nicht nachdenken.«

Lermont lachte auf. »Dann ließ König Artus nach allen Kindern schicken, die um den ersten Mai geboren, von Herren gezeugt und von Damen zur Welt gebracht worden waren; denn Merlin hatte ihm gesagt, derjenige, der ihn vernichten würde, wäre am ersten Mai geboren. Deshalb ließ Artus sie alle kommen, bei Strafe des Todes. Und so wurden viele Söhne von Herren ausfindig gemacht und zum König geschickt, auch Mordred, der Sohn von König Lots Weib, und alle Kinder wurden auf ein Schiff gebracht, einige vier Wochen alt, andere noch jünger. Und es geschah, dass das Schiff auf ein Riff lief und in Stücke zerschellte. Fast alle kamen ums Leben, nur Mordred wurde an Land gespült, wo ihn ein braver Mann fand, der ihn aufzog, bis er vierzehn Jahre alt war, und ihn dann an den Hof brachte«, zitierte er.»So wird es am Ende des ersten Buchs über König Artus berichtet«, erklärte er.»Weiter heißt es dann: So waren viele Herren und Barone dieses Reiches erzürnt, denn sie hatten ihre Kinder verloren, und viele gaben mehr noch als Artus Merlin die Schuld, doch aus Furcht oder Liebe hielten sie Frieden.«

»Ein würdiger Erneuerer der Sache von König Herodes«, brummte Semjon.

Ich schwieg. Der Zeichentrickfilm fiel mir ein, den Nadjuschka so liebte. Über den jungen König Artus. Über den lustigen und komischen Zauberer Merlin. Ich malte mir eine Fortsetzung dieses Films aus: Wie der erwachsene Artus, von Merlin aufgehetzt, befiehlt, auf ein altes, nicht mehr seetüchtiges Schiff die schreienden, weinenden Kinder zu verfrachten, die von all dem nichts begriffen…

Und dieser König sollte das Symbol für Reinheit und Edelmut sein? Der in Legenden besungene Artus?

»Die Übereinstimmungen mit dem ruhmreichen Jungen aus dem Disney-Zeichentrickfilm sind nicht allzu groß, oder?«, fragte Lermont, als habe er meine Gedanken gelesen.»Oder mit dem wundervollen Magier, der ihn unter seine Fittiche nahm? Aber ihr dürft Artus keinen Vorwurf machen. Das war sein Schicksal. Diesem Lehrer musste er begegnen.«

»Wie hat Mordred überlebt?«, wollte ich wissen.

In Lermonts Augen funkelte es ironisch auf.»Das ist schwer zu sagen. Wie ist denn der Junge namens Artus zum Thronfolger geworden? Vielleicht hat Mordred gar nicht überlebt. Doch es gab Menschen, die dem Jungen erzählt haben, er sei der Sohn Artus’, der versucht habe, ihn als Baby zu ermorden. Spielt es eine Rolle, wessen Blut durch seine Adern floss? Entscheidend ist doch, wofür er sich selbst hielt.«

»Lebt er noch?«

»Mordred? Nein, natürlich nicht. Er war schließlich nur ein Mensch. Wie Artus auch. Sie sind vor sehr langer Zeit aus dieser Welt geschieden.«

»Und Merlin?«

»Auch er ist für immer ins Zwielicht gegangen…«Lermont nickte.»Aber Merlin war wirklich ein großer Magier. Meiner Ansicht nach sogar der größte Magier aller Zeiten. Ich glaube…«Er schielte zu Semjon hinüber.»… Merlin war ein Null-Magier.«

Ich nickte. Logisch. Eine magische»Temperatur«von null. Merlin hatte nicht einen Tropfen in den Strom jener Kraft abgegeben, die die Welt durchdringt - da er nicht über einen einzigen Tropfen verfügte. Gerade deshalb handelte es sich bei ihm um einen großen Magier. Er nahm fremde, durch den Raum wabernde Kraft auf - und wirkte mit ihrer Hilfe Wunder.

Solche starken Magier wurden weltweit nie wieder geboren.

Es kam jedoch eine Zauberin zur Welt. Meine Tochter. Nadja.

»Merlin hat einige Artefakte zurückgelassen«, fuhr Lermont fort.»Spielend hat er dergleichen geschaffen, als koste es ihn nicht die geringste Mühe. Da ist natürlich Excalibur. Dann der Umhang Merlins. Die Schale Merlins. Das Kristall Merlins. Der Stab Merlins.«

»Mit der Bezeichnung dieser Dinge hat er sich wohl nicht groß aufgehalten, oder?«Semjon lachte los, verstummte jedoch gleich wieder.

»Die Rune Merlins?«, fragte ich.

Lermont schüttelte den Kopf.

»Die Rune Merlins ist nur ein Schlüssel. Sie wurde bislang in Merlins Grab aufbewahrt, zweiundzwanzig Meilen von… von dem Ort entfernt, an dem man das Grab von Thomas Rhymer vermutet. Selbstverständlich ruht nicht Merlin im Grab, aber etwas von dem großen Magier ist dort niedergelegt worden. Ihr könnt mich für sentimental halten, doch ich habe schon oft mein Grab besucht. Zu Merlins Grab dagegen gehe ich nicht gern. Ich habe auf Schutzzauber vertraut. Was ein Fehler war. Das Grab ist geplündert worden.«

»Ich dachte immer, das Grab Merlins liege in der Bretagne«, brachte Semjon hervor.

»Nein. Südlich von Edinburgh. In der Nähe des Städtchens Peebles, am Zusammenfluss von Tweed und Powsail. Es ist nicht allzu weit von hier.«

»Und worum genau handelt es sich bei der Rune?«, fragte ich.

»Um einen Stein. Der bis zum Anschlag mit Magie aufgeladen ist und in den kaum zu entziffernde Zeichen eingeritzt sind. Die Rune Merlins…«Lermont blickte uns beide an, zögerte, fuhr dann aber doch fort:»… ist der Schlüssel, genauer gesagt, der Hauptteil des Schlüssels, mit dem man in ein Geheimversteck gelangt, das Merlin einst am Boden eines Sees angelegt hat. Den See gibt es schon lange nicht mehr, aber das Versteck hat natürlich überdauert.«

»Ein Versteck im Zwielicht!«, hakte ich nach.

»Ja.«

»In der fünften Schicht?«

Lermont seufzte.»Bis in die fünfte Schicht könnte ich es auch schaffen, mein junger Freund. Oder ich würde Geser rufen. Oder Andrew. Es würden sich Hohe finden, die bis in die fünfte Schicht vordringen könnten. Aber dieses Versteck hat Merlin geschaffen. Es liegt auf dem tiefsten Grund. Also in der siebten Schicht.«

»Hast du Töne!«, rief Semjon begeistert aus.»In der siebten? Dann gibt es die also tatsächlich, diese siebte? Das ist kein Märchen?«

»Es gibt sie. Mir ist nur nicht klar, wer von den heute auf dieser Welt Lebenden dorthin gelangen kann…«Lermont breitete die Arme aus.

»Und der Schlüssel? Die Rune?«

»Die Rune… Ich habe die Inschrift gelesen, sie erlaubt es, einen Hüter in der fünften Schicht zu passieren. Aber danach muss man noch weiter. Und das schaffe ich nicht.«

»Haben Sie es denn wenigstens einmal versucht?«, wollte ich wissen.

»Wozu?«Lermont fuchtelte mit den Händen.»Soll ich wirklich im Zwielicht nach Merlins Erbe herumsuchen? Du musst dir vor Augen halten, wie er veranlagt war, Anton… Glaubst du etwa, du würdest dort etwas Gutes vorfinden?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Man nimmt an, in dem Geheimversteck liege der Kranz der Schöpfung«, meinte Lermont.»Das klingt verführerisch, nicht wahr? Doch ich vertrete die Auffassung, der Kranz der Schöpfung bedeute letztendlich das Ende der Schöpfung.«

Semjon wollte schon den Mund öffnen, überlegte es sich dann aber und schwieg.

»Und die übrigen Teile des Schlüssels? Wie sehen die aus?«, fragte ich.»Ist das die Kristallene Krawattennadel Merlins? Oder der Alte Schuh Merlins?«

Lermont schüttelte den Kopf.»Das ist der unangenehmste Teil der Geschichte. Euch ist klar, dass um das Versteck herum Kraft aus unserer Welt in die entsprechende Schicht des Zwielichts sickert?«

»Ja.«

»Wenn ihr in den ›Verliesen‹ versucht, ins Zwielicht einzudringen, würdet ihr nur bis in die dritte Schicht gelangen. Dort stoßt ihr auf eine Barriere, einen Wirbel aus Kraft. Diese Barriere stellt das Gewicht dar, mit dem das Versteck am Boden des Universums gehalten wird, und schützt es gleichzeitig gegen Neugierige.«

»Es dürfte nicht so viele Neugierige geben, die in der Lage sind, bis in die dritte Schicht vorzudringen…«, brummte Semjon. Und rieb sich den Nacken.»Entschuldigen Sie, ich sage ja schon gar nichts mehr!«

»Die Rune Merlins kann also nicht helfen, weiter als bis in die dritte Schicht vorzudringen«, fuhr Foma fort.»Ich war überzeugt davon, dass niemand außer mir dieses Geheimnis kennt, und auch ich bin nur zufällig darauf gestoßen, als es zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Brücke einen Unfall gegeben hat… Eine junge Frau war auf eine spitze Eisenstange gefallen und hatte sich die Halsschlagader aufgeschlitzt.«

»Das Blut«, verstand ich.

»Ja. Wenn ein Mensch stirbt, tritt so viel Blut aus, dass das Zwielicht kurzfristig mit Energie übersättigt ist. Der Wirbel in der dritten Schicht kam zum Stehen und man konnte weitergehen.«

»Muss dafür unbedingt ein Mensch sterben?«, fragte ich.

»Das weiß ich nicht. Wie du dir denken kannst, habe ich das nicht überprüft. Konserviertes Blut funktioniert jedoch nicht, das ist sicher. Deshalb hat mich der Mord in den ›Verliesen‹ auch so beunruhigt. Doch die Schutzzauber am Grab Merlins waren nicht angerührt worden. Kein Mensch hatte sich dem Grab genähert, niemand hatte es geöffnet. Daraufhin habe ich mich beruhigt und alles einem Zufall zugeschrieben. Bis ich dann heute Nacht zum Grab gefahren bin.«

»Und festgestellt haben, dass es mit einem ferngesteuerten Gerät geöffnet worden ist«, ergänzte ich.»Oder nicht? Mit einer Art Roboter, wie sie in Atomkraftwerken eingesetzt werden?«

»Woher weißt du das?«, erkundigte sich Lermont.

»Gestern hat man mit so was auf mich geschossen.«Ich nickte zu dem Dreifuß mit dem Gewehr hinüber, den Semjon außen an die Laube gelehnt hatte.»Ein ferngesteuertes Maschinengewehr.«

Ohne jedes Interesse betrachtete Lermont die Waffe.»Wir sind alt geworden, Anton.«Er lächelte bitter.»Wir plustern uns auf, aber wir sind alt geworden… Geser, Al-Ashaf, Rustam, Giovanni, ich… alle sonstigen Alten, die die Welt noch ohne Elektrik kennen, ohne Dampflokomotiven und Schießpulver. Die ältesten Magier, die kundigsten… und wohl auch die stärksten. Wir haben die neue Generation unterschätzt. Raketen, Roboter, Telefone…«Er stülpte die Lippen vor. Schaute zu seinem adretten Häuschen hinüber - mit jener Sehnsucht, die ich bisweilen auch in Gesers Augen sah.

Vermutlich zwang mich ebendiese Sehnsucht, Geser alles zu verzeihen, was er auf dem Posten des Chefs der Nachtwache anrichtete.

»Einer der Jungen«, fuhr Foma fort.»Einer von den Jungen, Fähigen, die sich nicht scheuen, Technik einzusetzen.«

»Ich glaube, ich weiß, wer das ist«, flüsterte ich.»Kostja Sauschkin.«

»Der Hohe Vampir, der das Fuaran an sich gebracht hat?«Lermont runzelte die Stirn.»Diese Geschichte kenne ich. Aber er ist doch gestorben!«

»Niemand hat seinen Körper gesehen«, entgegnete ich.»Zumindest… hätte er keine Angst, Merlins Erbe an sich zu bringen. Und auch Technik würde er ohne zu zögern einsetzen. Außerdem… dürfte er mich hassen. So sehr, dass er versuchen könnte, mich zu erschießen. Und das ist meine eigene Schuld! Ich habe ihn in den Tod geschickt. Er hat überlebt - und will sich jetzt rächen.«

»Zieh keine voreiligen Schlüsse, Anton«, gab Semjon zu bedenken. Dann erklärte er Foma schuldbewusst:»Nehmen Sie ihm das nicht übel, Mister Lermont! Anton ist ein junger Mann, ein Hitzkopf. Gestern glaubte er noch, Kostja sei tot. Dann überlegt er sich von heut auf morgen wieder alles anders. Es gibt aber etwas, über das wir uns jetzt Gedanken machen sollten. Was glauben Sie, Mister Lermont, haben diese Mistkerle dieses feine Versteck Merlins schon gefunden?«

»Merlin war ein Magier alten Schlages«, antwortete Lermont nach kurzer Überlegung.»Der Schlüssel müsste sich deshalb aus drei Elementen zusammensetzen. Die Drei ist die Zahl der Magie, die Zahl der Kraft. Die Drei, die Sieben und die Elf.«

»Hm, sicher, das sind Primzahlen«, stimmte Semjon zu.»Das wissen alle. Aber was ist der dritte Teil des Schlüssels?«

»Vom zweiten habe ich, wie gesagt, zufällig erfahren«, erklärte Lermont.»Vom dritten weiß ich gar nichts. Ich nehme lediglich an, dass es ihn geben muss. Doch was es genau ist - ein Gegenstand, ein Zauberspruch, ein Opfer, eine Tageszeit -, das weiß ich nicht. Vielleicht muss man in einer Neumondnacht nackt ins Zwielicht eintreten und dabei eine Distel im Mund halten. Merlin war ein ausgemachter Spaßvogel.«

Wir hüllten uns in Schweigen. Nach einer Weile lächelte Lermont verkrampft.»Gut, Freunde. Ich habe euch alle Geheimnisse offenbart, die mir bekannt sind. Ich glaube, wir sollten nicht vorschnell in Panik geraten. Das Geheimversteck Merlins wird ein Hoher Anderer von beispielloser Kraft bezwingen, der erneut in den Verliesen jemandes Blut vergießen und das dritte Fragment des Schlüssels an sich bringen wird. Aber worum es sich bei diesem Fragment handelt, weiß niemand. Beruhigen wir uns also, gehen ins Haus und trinken Tee.«

»Die Tradition des englischen Teetrinkens!«, brachte Semjon anerkennend hervor.

Amüsiert blickte Foma ihn an.»Nicht des englischen«, korrigierte er ihn.»Vergesst nicht, dass ihr in Schottland seid. Seid nun Gäste in meinem Haus…«

»Ich hätte da noch eine Frage«, unterbrach ich Lermont.»Wozu haben Sie Jegor nach Edinburgh eingeladen?«

»Meinst du den jungen Illusionisten?«Lermont seufzte.»Ich wollte mich absichern. Wenn hier ernsthaft alles aus den Fugen geriete, würde in erster Linie unsere Nachtwache darunter zu leiden haben. Viele Kampfmagier stehen mir nicht zur Verfügung. Ein Spiegel ist das Beste, was man gegen…«

»Gegen wen?«, hakte ich nach, als Lermont mitten im Satz abbrach.

Der späte Nachfahr Lermontows blickte mich mit einer solchen Verärgerung an, dass ich einen guten Eindruck von der familientypischen Hitzköpfigkeit des vor seiner Zeit aus dem Leben geschiedenen russischen Dichters erhielt.

»Merlin! Seid ihr jetzt zufrieden?«

»Glauben Sie denn, dass er…«

»Nichts hat Merlin so geschätzt wie seine eigene Person. Und als Kranz der Schöpfung hätte er durchaus die Möglichkeit bezeichnen können, sich selbst aus dem Nichts wieder herauszuziehen. Das wäre ganz gewiss ein Spaß nach seinem Geschmack.«

»So etwas hat es noch nie gegeben.«Semjon schüttelte den Kopf.

»Stimmt. Doch auch Magier wie Merlin hat es nie wieder gegeben. Sein Wesen… seine Seele, wenn ihr so wollt, kann noch irgendwo da unten, in der siebten Schicht, schlummern… bis ein ausreichend starker Magier dort hingelangt. Grob gesagt, bis ein dummer Körper der schwarzen Seele Merlins eine neue Heimstatt bietet! Würde es euch gefallen, wenn der Große Merlin in die Welt zurückkäme? Mir nicht! Und für diesen Fall wollte ich einen potenziellen Spiegelmagier zur Hand haben. Vielleicht hätte das funktioniert. Vielleicht hätte Jegor sich in einen Spiegel verwandelt und Merlin vernichtet. Was stört dich daran, Gorodezki?«

»So geht das nicht!«, rief ich mit einem Schmerz aus, der mich selbst überraschte. In meinem Kopf verhedderte sich bereits alles: Kostja, den ich getötet hatte und der vielleicht noch lebte; der Dunkle Magier Merlin, den es nach Auferstehung dürstete; Jegor, der von all dem nichts ahnte…»Seit seiner Kindheit missbrauchen wir ihn für unsere Operationen! Und jetzt wollen wir ihn in die Hölle werfen, uns hinter diesem Jungen vor Merlin verstecken? Er ist doch noch ein Kind!«

»Sehr schön!«Lermont hob jetzt ebenfalls die Stimme.»Du bringst höchst überzeugende Argumente vor! Jetzt lege ich dir mal die persönlichen Angaben zu allen potenziellen Spiegelmagiern vor. Nennst du mir dann einen? Wählst du einen alternativen Kandidaten? Wir hätten da ein neunjähriges Mädchen, einen fünfzehnjährigen Jungen, einen jungen Ehemann und Vater, eine schwangere Frau… niemals werden sie sich diesen unbestimmten Zustand bis ins Alter bewahren können, früher oder später müssen sie zwischen Licht und Dunkel wählen! Sie alle sind noch jung, fast noch Kinder! Triffst du eine Auswahl? Nimmst du mir diese Gemeinheit ab?«

»Ja!«, schrie ich und sprang auf.»Ja, das tue ich. Ich nehme dir das ab! Zeig mir deine Dossiers, Herr Foma Lermont!«

»Sofort!«Er hatte sich ebenfalls erhoben.»Wähl nur, wähl!«

Wir standen da, blickten einander böse in die Augen. Und erfassten nicht auf Anhieb, dass uns beiden Tränen übers Gesicht liefen.

Sechs

Keine Ahnung, ob Lermont die Dossiers tatsächlich angeschleppt hätte oder nicht. Noch viel weniger wüsste ich zu sagen, was ich in dem Fall getan hätte. Vermutlich wohl doch einen anderen Kandidaten für die Rolle des Spiegelmagiers gewählt.

Doch dazu sollte es nicht kommen.

Zunächst bemerkte ich, wie Lermont die Gesichtszüge entglitten. Er blickte an mir vorbei, auf die Straße.

Dann hörte ich, wie ein Motor aufheulte, und drehte mich um.

Ein kleiner weißer Transporter schoss die Straße entlang, wendete plötzlich und durchbrach ohne Weiteres den symbolischen Holzzaun, der Lermonts Cottage säumte. Mit wildem Geheul der Reifen, unter denen Erde und Schotter aufspritzten, bremste er.

Die hinteren Türen des Kastenwagens waren vorab herausgenommen worden. Zwei Menschen sprangen heraus, ein dritter, der im Transporter sitzen blieb, eröffnete das Feuer aus einem auf einen Drehkranz montierten Maschinengewehr.

Foma reagierter als Erster. Er stellte einen Schild auf, sobald das Auto in seinen Garten raste. Oder stellte er ihn gar nicht auf? Handelte es sich womöglich um einen Sicherheitszauber, der für einen solchen Überfall bereits vor langer Zeit gewirkt worden war?

Das Maschinengewehr krachte, das Geräusch hallte im Laderaum des Wagens wider und wurde zu uns herübergetragen. Als würde es mit einem riesigen Blechmegafon verstärkt. Zusammen mit diesem Geräusch hagelte es Blei. Doch die Kugeln erreichten uns nicht: Sanft kamen sie zum Stehen, hingen einen Moment - als handle es sich hier um einen Spezialeffekt in einem Film - reglos in der Luft und fielen dann zu Boden.

Die beiden Männer, die herausgesprungen waren, trugen dunkle Masken, gingen hinter dem Transporter in Deckung und eröffneten aus Maschinenpistolen das Feuer. In dem Fahrerhäuschen zeigte sich niemand.

Wer waren die? Idioten?

Semjon fuchtelte mehrmals mit einer Hand. Ich konnte den harmlosen Zauber Morpheus ausmachen, der den Angreifern noch ein paar Sekunden ließ, in denen sie ihr Kriegsspielchen fortsetzen konnten, und den sofort wirkenden Opium. Die Zauber versagten jedoch, der Beschuss ging weiter, die Kugeln mussten nach wie vor in der Luft zwischen uns abgefangen werden. Ich sah genauer hin: Nein, das waren keine Anderen. Sondern gewöhnliche Menschen. Bei jedem schimmerte allerdings der Funken eines Schutzamuletts auf der Brust.

»Bring sie aber nicht um!«, schrie Foma, als ich den Arm hob.

Zum sofortigen Einsatz war ich nur mit zwei Dreifachschneiden ausgestattet, denn ich hätte nie damit gerechnet, so in die Bredouille zu geraten. Indem ich auf das MG zielte, schleuderte ich beide Schneiden. Der erste Schuss ging daneben, der zweite traf - und verwandelte die Waffe in einen Haufen klein geraspelten Metalls. Das Krachen nahm ein wenig ab, jetzt schossen sie nur noch aus den Maschinenpistolen, allerdings so unsicher, als seien sie auf eine unsichtbare Barriere gestoßen. Gut. Jeder Schutz hat seine Grenzen, und unter dem Beschuss des Maschinengewehrs wäre unserer bald zusammengebrochen.

Uns überfielen Menschen! Normale Menschen, wenn auch mit Schutzamuletten ausgestattet. Nicht nur, dass es dergleichen noch nie gegeben hatte, es war auch dumm. Es ist eine Sache, einen Magier aus einem Hinterhalt zu beschießen, noch dazu mit einer ferngesteuerten Waffe. Aber so: Auge in Auge, drei Schützen gegen drei Magier… Worauf hofften sie?

Nur darauf, unsere Aufmerksamkeit abzulenken!

Gerade noch rechtzeitig drehte ich mich um, um die weiße Rauchspur zu sehen, die auf uns zujagte. Die Rakete war vom Dach eines Hochhauses abgeschossen worden, das etwa einen Kilometer von hier entfernt stand. Und sie steuerte präzise auf ein Ziel zu: genau auf die Laube.

»Foma!«, schrie ich und schleuderte auf gut Glück einen Freeze gegen die Rakete. Doch entweder verfehlte dieser temporäre Gefrierzauber sein Ziel, oder die Rakete war ebenfalls gegen Magie gefeit - jedenfalls geschah nichts.

»Ins Zwielicht!«, schrie Foma.

Manchmal ist es besser zu gehorchen, als sich eigene, originelle Auswege zu überlegen. Ich trat ins Zwielicht, wobei ich mehr oder weniger in einem Rutsch in der zweiten Schicht landete. Neben mir tauchte Lermont auf, der die erste Schicht ebenfalls für unzureichend erachtete. Zu meiner Verblüffung hielt sich Foma jedoch nicht lange in der zweiten Schicht auf: Er fuchtelte mit der Hand und drang tiefer ins Zwielicht ein. Ohne etwas zu begreifen, folgte ich ihm in die dritte Schicht. Was sollte das? Eine starke Explosion in der realen Welt konnte in der ersten Schicht nachhallen, würde aber auf keinen Fall die zweite erreichen… Sollte Foma freilich mit dem Schlimmsten, mit dem Undenkbaren rechnen - eine Atombombe würde ohnehin die Materie in allen Schichten des Universums durchglühen.

Eine weiße Flamme ließ den grauen Dunst aufleuchten. Der Boden unter unseren Füßen bebte leicht. Leicht - aber unverkennbar!

»Wo ist Semjon?«, brüllte ich.

Lermont breitete nur die Arme aus. Wir warteten noch ein paar Sekunden, bis in der normalen Welt keine Granatsplitter mehr durch die Luft flogen, die Flammen erstickt waren und keine rauchenden Teilchen der Laube mehr niedergingen.

Dann kehrten wir zurück.

Lermonts adrettes Cottage war entglast und mit dem feinen Staub der Scherben überzogen. Aus einem der Fenster im ersten Stock stak ein kräftiger Ast heraus, den die Explosion von einem in der Nähe stehenden Baum abgesäbelt hatte.

Der Transporter war auf die Seite gekippt. Neben ihm lagen zwei reglose Körper. Ein dritter Mann - entweder der Maschinengewehrschütze oder der Fahrer, der sich klugerweise in Sicherheit gebracht hatte - robbte langsam, die steifen Beine nachziehend, zum Zaun.

Mitleid empfand ich im Grunde nicht mit ihm. Ein gewöhnlicher Bandit, den man eingesetzt hatte, um unsere Aufmerksamkeit von der abgefeuerten Rakete abzulenken. Er hatte gewusst, auf was für ein mieses Spiel er sich einließ.

An der Stelle der Laube befand sich jetzt ein kleiner Trichter, in dem sich frisch gehackte weiße Holzscheite auftürmten. Über uns kreisten flatternd die Spielkarten, bis sie dann landeten - ein merkwürdiger Zufall hatte sie nicht verbrannt, sondern in die Luft geschleudert.

Semjon entdeckten wir neben dem Wagen. Er steckte in einer funkelnden durchscheinenden Kugel, die aus Kristall gemeißelt schien. Die Kugel rollte langsam dahin - und Semjon, Arme und Beine ausgebreitet, mit ihr. Seine Haltung parodierte auf so komische Weise das berühmte Bild»Der Goldene Schnitt«, dass ich dumm loskicherte. Der gedrungene, kurzbeinige Semjon glich dem muskulösen Athleten, den Leonardo da Vinci gezeichnet hatte, nun wirklich nicht.

»Ein sehr unbequemer Zauber«, kommentierte Lermont erleichtert.»Wenn auch zuverlässig.«

Die Kristallkugel bekam Risse und löste sich in Seifenschaum auf. Semjon, der in diesem Moment auf dem Kopf stand, drehte sich geschickt herum und landete auf den Füßen.»Ist das bei Ihnen samstags so üblich, Mister Lermont?«, fragte er, während er sich mit dem Finger im Ohr herumpolkte.»Oder ist das unserem Besuch geschuldet?«

Lermont ging mit keiner Silbe auf diese phantasielose Stichelei ein. Er legte den Kopf schräg, als lausche er auf eine Stimme. Und machte ein immer finstereres Gesicht.

Plötzlich schuf er mit zwei Bewegungen vor sich den schillernden Rahmen eines Portals.»Mir nach, meine Herren«, sagte er.»Ich fürchte, das war nur ein Ablenkungsmanöver.«

Noch bevor ich dazu kam zu fragen, was er mit dem umgekippten Transporter zu tun gedachte oder mit der in die Luft gejagten Laube, dem fortkriechenden Banditen und den am Ende der Straße auftauchenden Nachbarn, öffnete sich in unserer Nähe ein zweites Portal, aus dem ein Anderer nach dem nächsten sprang.

Keine gewöhnlichen Lichten aus der Nachtwache, sondern Andere, die Polizeiuniformen, kugelsichere Westen und Helme trugen. Andere mit Maschinenpistolen im Anschlag!

O ja, die Kunst des Kokettierens beherrschst du, Thomas Rhymer! Von wegen: die Technik nicht schätzen! Wer’s glaubt, wird selig…

Lermont trat ins Portal. Ich zögerte kurz, wartete auf Semjon. Der hielt jedoch plötzlich inne und bohrte den Blick in einen hageren rotblonden Mann.»Kevin!«, rief er.»Altes Haus!«

»Simon, du Bauerntropf!«, schrie der Rotblonde begeistert.»Wo willst du denn hin? Warte!«

Sie umarmten sich und klopften einander mit jenem Enthusiasmus auf den Rücken, wie ich ihn von den irren Hasen aus den Werbespots für Batterien kannte.

»Nachher, später quatschen wir in aller Ruhe«, murmelte Semjon, nachdem er sich aus Kevins Umarmung befreit hatte.»Mist, das Portal erlischt schon… Ich hab dir Wein aus Sewastopol mitgebracht. Erinnerst du dich noch? Einen Muscadet, ein feines Tröpfchen!«

Ich spuckte aus und schüttelte den Kopf. Was sollte denn das - nachher, später… Im Kino harrte auf den Helden, der einem alten Freund solche Worte sagte, ein rascher, unabwendbarer Tod.

Nur gut, dass wir keine Helden aus einem Actionfilm sind.

Ich trat ins Portal.

Um mich herum ein milchiges Licht. Eine Leichtigkeit, die sich nur mit der vergleichen lässt, die Kosmonauten kennen. Geheime Pfade, die Menschen nicht beschreiten können.

Was stand den Anderen in der Polizeiuniform jetzt bevor? Sie würden den zufälligen Zeugen das Gedächtnis löschen, alle Spuren der Explosion beseitigen und die Attentäter verhören, falls diese am Leben blieben. Sie mussten jene Drecksarbeit leisten, die im Grunde den Alltag der Wachen ausmacht.

Wer konnte das getan haben? Den Mitarbeiter einer Wache zu überfallen zeugt schon von ungeheurer Dummheit. Den Chef der Wache plus zwei ausländische Magier anzugreifen - das hatte es noch nie gegeben. Dafür auch noch Menschen einzusetzen…

Schlagartig wurde mir klar, dass der Franzose aus den Verliesen ebenfalls ein Mensch gewesen war. Kein Hoher Magier, der sein Wesen vor mir tarnte. Sondern ein ganz gewöhnlicher Mensch. Wenn auch ausgesprochen geschickt, kaltblütig und schauspielerisch versiert. Kein Bauer - wie die in den Tod geschickten Banditen. Ob er vielleicht auch die Rakete auf uns gejagt hatte?

Dann noch der Vampir. Konnte das Kostja sein? Konnte er wirklich überlebt haben?

Um die Verwirrung komplett zu machen, trugen die Banditen Schutzamulette, die es ihnen erlaubten, auf Zeit zu spielen. Vampire konnten keine Amulette herstellen. Das war die Arbeit eines Magiers, eines Zauberkundigen oder einer Hexe!

Mit wem hatten wir es hier zu tun? Wer suchte im Zwielicht nach Merlins Erbe?

Und war dieser Jemand in der Lage, bis zur siebten Schicht vorzudringen?

Das Portal endete wie immer unvermutet. Das weiße Licht im Rahmen schrumpfte, ich trat in es hinein - und im selben Moment packte mich schon jemand bei der Schulter, zog mich scharf nach links, riss mich nach unten und stieß mich hinter eine improvisierte Barrikade, die aus einigen umgekippten Tischen bestand.

Gerade noch rechtzeitig. Über meinen Kopf schoss eine Kugel hinweg.

Ich war in Schottlands Verliesen gelandet. In einem der ersten Räume.

Neben mir duckte sich Lermont hinter der Barrikade, ein schwarzer Anderer ersten Grades hatte mich auf den Boden gezogen. Der Zahl der Zauber nach, mit denen seine Finger behangen waren, musste es sich um einen Kampfmagier handeln.

Abermals krachte ein Schuss. Jemand feuerte aus der offenen Tür, die in den Nachbarraum führte.

»Was ist passiert, Foma?«Verständnislos sah ich ihn an.»Warum liegen wir hier rum? Wir müssen einen Schild aufstellen…«

Lermont rührte sich nicht einmal, doch an der Tür entstand eine Barriere, die diese vollständig einnahm. Noch bevor ich mich über die Dummheit des schottischen Magiers wundern und über meinen eigenen Scharfsinn freuen konnte, ging bereits ein weiterer Schuss los. Die Kugel pfiff über uns hinweg - die Barriere hatte sie nicht aufhalten können.

»Entschuldigung, das hätte ich wissen müssen…«, brummte ich.»Können sie durchs Zwielicht?«

»Es ist das gleiche Dilemma wie mit der Rakete«, erklärte Lermont.»Die Kugeln sind magisch manipuliert, damit sie bis in die zweite Schicht eindringen.«

»Gehen wir in die dritte!«

»In der dritten ist die Barriere!«, erinnerte mich Lermont. Bedripst schwieg ich.

Der schwarze Magier richtete sich leicht auf und schickte einige Zauber in den Gang. Ich machte den Opium, den Freeze und den Popanz aus. Zur Antwort gab es weitere Schüsse. In immer demselben präzisen, mechanischen Rhythmus…

»Lermont, das ist ein Roboter!«, platzte ich heraus.»Das ist genauso ein Roboter wie der, der auf mich geschossen hat, Lermont!«

»Ja und? Gegen leichte Zauber ist er immun. Sollen wir ihn mit Fireballs beschießen, ein Feuer anzünden und die Brücke über uns zum Einsturz bringen?«

O nein, Thomas Rhymer geriet weder in Panik noch fiel er der Verzweiflung anheim. Ohne Frage versuchte er, sich etwas einfallen zu lassen. Vermutlich hatte er sogar irgendeinen Plan. Nur wollte ich nicht noch länger warten…

Aus dem Portal, das nach wie vor in der Luft hing, trat Semjon heraus. Sofort ging er in die Hocke und watschelte auf die Barrikade zu. Eben! Bisweilen nützt Erfahrung mehr als Kraft…

Irgendwo in der Ferne, hinter den Mauern und Türen, ließ sich ein Schrei vernehmen. Der markerschütternde Schrei eines Menschen, der am höchsten Ton abriss.

Und manchmal nützt Wut mehr als Erfahrung.

Ich glitt ins Zwielicht.

In die erste Schicht. Die Dekoration schien Realität zu werden. Die Mauern aus Gipskarton und Plastik versteinerten, unter meinen Füßen raschelten trockene Halme. Wahrscheinlich hatte die menschliche Phantasie diese Räume im Zwielicht geschaffen, denn zu viele Menschen kamen hierher, die die Regeln des Spiels für voll nahmen und sich zwangen, an diese Verliese zu glauben.

An die Verliese und die Drachen.

Ein kleiner Drache mit aufgestellten roten Schuppen passte in einem steinernen Bogen auf und versperrte mir den Durchgang. Er reichte mir bis zur Schulter, stand auf zwei Pfoten und hatte einen langen, wie einen Korkenzieher gedrehten Schwanz. Nervös schlugen die Flügel mit Flughäuten in seinem Rücken zusammen. Die funkelnden Facettenaugen starrten mich an, das Maul öffnete sich - und stieß eine Flammenwolke aus.

So siehst du also im Zwielicht aus, Schütze I…

Ich sprang zur Wand hin und beschoss den Drachen mit einem Fireball. Einem ganz kleinen nur, um in der realen Welt keine Erschütterungen zu erzeugen.

Dann verschwand ich in die zweite Schicht.

Die Verliese hatten sich nicht verändert. Dafür war der Drache hier schwarz und etwas größer. Seine nunmehr gerundeten Augen waren dunkel, außerdem hatte er aufragende Ohren. Der Schuppenpanzer war zu einem starren Fell oder zu eng am Körper anliegenden Chitinnadeln mutiert. Das Maul hatte sich nach vorn verlängert. Die Flügel waren zu kleinen zuckenden Pfoten geworden. So dürfte meiner Meinung nach ein Zwitterwesen zwischen dem großohrigen Phantasiewesen Tscheburaschka und dem Krokodil Gena aussehen, wie ich sie aus Nadjuschkas Zeichentrickfilmen kannte.

Das Maul öffnete sich, ein Bündel blauer Funken schlug mir entgegen.

Ausweichend machte ich ein paar Schritte. Und wollte - die Barriere erneut vergessend - in die dritte Schicht des Zwielichts eintreten.

Kurz glaubte ich gegen eine Wand zu laufen, eine elastische, federnde, aber undurchdringliche Wand. Doch dieser Eindruck verflüchtigte sich in Sekundenschnelle.

Und schon im nächsten Moment fand ich mich in der dritten Schicht wieder.

Wo ich sofort verstand, was es mit dem menschlichen Todesschrei auf sich hatte.

Jemand hatte die Barriere erneut geöffnet. Mit dem frischen Blut von einem Menschen.

Dafür gab es den Drachen hier nicht…

Ich rannte den Gang entlang, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, den schießenden Roboter auszuschalten. Lermont würde schon selbst mit ihm fertig werden. Keine Frage. Mir kam es jetzt einzig und allein darauf an, den Mörder zu fassen. Wer auch immer er sein mochte: ein Vampir, ein Magier oder Zauberkundiger. Ein Unbekannter- oder ein ehemaliger Freund.

Anscheinend handelte es sich hier um den Mittelpunkt der Verliese. Wo sich die Kraft konzentrierte, das Zentrum des Trichters befand, das Schlüsselloch. Es war derselbe Blutfluss, nur wirkte er hier wie ein Graben, in dem ein pechdicker schwarzer Brei Blasen warf. Ein funkelnder schwarzer Tisch. Auf dem ein regloser Körper in einem blutgetränkten weißen Kittel lag.

Anscheinend musste diesmal einer der Menschen sein Leben lassen, die die Edinburgher Nachtwache angeheuert hatte. Einer der Pathologen oder sonstigen Experten, die für Lermont arbeiteten.

Hatte Lermont in den Verliesen etwa keine zuverlässigen Wachtposten aufgestellt? Hatte er keinen Hinterhalt für die Attentäter geplant? Hatte er die Menschen, die ihm vertrauten, der Willkür des Schicksals überlassen?

Ein Blick in die reale Welt sagte mir alles.

Er hatte Wachtposten aufgestellt. Einen Hinterhalt geplant.

Aber er hatte die Stärke des Feinds unterschätzt.

Sechs Leichen zählte ich in dem Raum. Drei von ihnen waren irgendwelche Söldner. Sie trugen paramilitärische, zu keiner Armee gehörende Uniformen und Maschinenpistolen - an deren Magazinen matt die in die Kugeln gelegten Zauber aufleuchteten. Bei einem handelte es sich um einen Lichten Magier ersten Grades. Den Toten hatten die in ihn hineingejagten Salven aus den Maschinenpistolen regelrecht in zwei Hälften gerissen. Die unverbrauchte Kraft sickerte träge mit einem nebligen weißen Leuchten aus dem Magier heraus. Bei zwei weiteren Erschossenen handelte es sich um Menschen, die von der Nachtwache angeheuert worden waren. Die Schutzamulette, die sie nicht hatten retten können, loderten mit kleinem Feuer auf ihrer Brust. Auch sie waren mit der Waffe in der Hand gestorben - nach wie vor pressten sich die toten Finger um die Pistolen.

Zu wie vielen waren sie gekommen, die Angreifer? Und wie viele waren über die dritte Schicht hinaus ins Zwielicht vorgedrungen?

Noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, huschte ein schneller grauer Schatten durchs Zwielicht, der aus der ersten Schicht zu mir in die dritte vordrang. Vor mir stand Bruce.

Der Meister der Vampire sah schlimm aus. Die Brust von Kugeln zerfetzt. Er atmete schwer, aus seinem Mund ragten die Eckzähne.

»Aha!«, rief ich mit einer Begeisterung, die Bruce sofort richtig deutete.

»Bleib stehen, Lichter!«, heulte er.»Ich bin auf deiner Seite! Lermont hat mich gebeten, zu dir zu kommen!«

»Und wer hat auf dich geschossen?«

»Der Roboter im Gang!«

Ich kniff die Augen zusammen, verfolgte den Vampirpfad. Ja, die Fußabdrücke des Untoten kamen durch den Gang, vom Eingang in die Verliese her. Das Blutbad hatte nicht er angerichtet.

Auf ihn hatte Lermont also gesetzt, um den ferngesteuerten Schützen zu überwinden. Einen Toten kann man selbst mit magisch manipulierten Kugeln nur schwer töten.

»Wer ist das?«Ich drückte mich nicht genauer aus, doch Bruce verstand mich.

»Ich weiß es nicht! Keiner von uns! Ein Fremder! Er hatte zwei Dutzend Menschen bei sich, aber sie sind inzwischen alle tot. Auch Lermonts Wachtposten sind tot!«

»Folgen wir ihm!«, befahl ich.

Bruce zögerte. Er äugte zu dem aus dem Körper austretenden Blut hinüber - im Unterschied zu den übrigen Toten war dieser Mensch gerade erst gestorben und seine Leiche fand sich in allen Schichten des Zwielichts zugleich wieder. Der Tod stellt sehr starke Magie dar…

»Wag es ja nicht«, warnte ich ihn.

»Ihm macht das eh nichts mehr aus«, brummte Bruce.»Ihm macht es nichts mehr aus, aber ich muss mich noch mit wer weiß wem schlagen!«

Das war ekelhaft - entsprach jedoch der Wahrheit. Aber einem Vampir einen toten Kollegen als Futter zu überlassen…

»Wenn du das Blut austrinkst, entsteht die Barriere wieder«, fand ich ein Argument zu meinen Gunsten.»Gehen wir. Du schaffst es schon.«

Bruce verzog das Gesicht, widersprach aber nicht. Er senkte den Kopf, als wolle er ein Hindernis rammen, und trat in die vierte Schicht ein.

Ich folgte ihm.

Sich die Brust haltend, stand Bruce da. Es schüttelte ihn. In seinen Augen stand nackte Angst geschrieben. Bis auf Bruce gab es hier niemanden. Nichts und niemanden. Die Unterwelt war verschwunden. Nur Sand war zurückgeblieben, grauer und zugleich farbiger Sand, nur hier und da verstreute schwarze Findlinge… Und dann noch der rosa-weiße Himmel ohne Sonne.

»Anton… tiefer kann ich nicht.«

»Warst du schon einmal in der fünften?«

»Nein!«

»Ich auch nicht. Gehen wir!«

»Das schaffe ich nicht!«, jammerte der Vampir.»Verflucht, siehst du denn nicht, dass ich sterbe.«

»Du bist längst tot!«

Bruce schüttelte so wütend den Kopf, als wolle er ihn sich vom Hals abschrauben.

Wenn mich nur der leiseste Verdacht beschlichen hätte, er mache mir etwas vor, hätte ich ihn gezwungen. Gezwungen oder für immer ruhig gestellt.

Doch der Eintritt in die vierte Schicht hatte ihm offenbar tatsächlich die letzten Kräfte geraubt.

»Geh Lermont holen!«, befahl ich.

Mit unverhohlener Erleichterung stürzte Bruce zurück. So strebt ein dem Erstickungstod naher Taucher aus tödlichen Tiefen empor.

Inzwischen suchte ich im Sand nach meinem Schatten.

Er musste da sein. Ich musste doch einen Schatten werfen. Den ich mit Sicherheit finden würde.

Sonst würde etwas Schreckliches passieren.

Zum Beispiel Merlin von den Toten auferstehen. Und um der Edinburgher Nachtwache, die schon schwere Verluste hatte hinnehmen müssen, zu helfen, würde ein Spiegelmagier hinzugezogen. Jemand, der sich allem zum Trotz sein Gleichgewicht bewahrt hatte.

Der Zauberkünstler Jegor.

Was für ein blendender Augenblick in seiner Karriere - bevor er umkam, sich im Zwielicht dematerialisierte, von dem unerbittlichen Willen der Urkräfte ins Nichts geworfen.

Machte es mir etwa immer noch etwas aus, Menschen auszunutzen?

Brüllend trat ich einen Schritt nach vorn. Diesen Schatten durfte ich nicht im Sand suchen. Den musste ich in mir selbst suchen.

Eisiger Wind peitschte mich - und ich fiel in die fünfte Schicht des Zwielichts hinein.

Landete mit dem Gesicht in grünem Gras.

Kalter böiger Wind heulte. Das Sonnenlicht sickerte durch die am Himmel dahinsegelnden violetten Wolken, durch dicke, irgendwie schneeige Wolken. Eine hügelige Ebene, bewachsen mit hohem pikenden Gras, erstreckte sich bis zum Horizont. Irgendwo in weiter Ferne donnerte es, zuckten Blitze auf - die verkehrt herum, von der Erde in den Himmel, in die violetten Wolken, einschlugen.

Ich erhob mich und schluckte, denn meine Ohren waren wie verstopft. Die gewohnte beklemmende Empfindung im Zwielicht, die schleichende Schwäche, der Wunsch, unverzüglich in die reale Welt zurückzukehren, verschwanden. Die fünfte Schicht stellte sich als energetisch ausbalanciert heraus. Als meine Augen sich an sie gewöhnt hatten und ich genauer hinsah, gewahrte ich, dass die Farben um mich herum trotz allem nicht so satt wie sonst waren. Das Gras war grün - aber blass. Die Wolken eher graublau als violett. Selbst die Blitze schienen matt, brannten nicht in der Netzhaut der Augen.

Trotzdem… Hier konnte man anscheinend leben.

Ich ließ den Blick schweifen. Und entdeckte im niedergedrückten Gras den Hüter.

Es war ein Golem, ein Wesen, aus Ton geschaffen und durch Magie zum Leben erweckt. Ein seltenes Ding, wie es schon seit langem von niemandem mehr erzeugt wird. Ein mittelalterlicher Roboter, den man bisweilen versucht hatte, zur Arbeit einzusetzen, meist jedoch als Hüter schuf.

Nur glich der klassische Golem einem Menschen aus Ton und wurde durch Runen belebt, die man in eine spezielle Öffnung legte (der Sinn für Humor der Magier rutschte hier meist unter die Gürtellinie).

Dieser Golem war jedoch eine Schlange. Eine Art Anakonda aus Lehm von zehn Metern Länge, dick wie der Rumpf eines erwachsenen Menschen, wobei an beiden Enden der Schlange Köpfe mit gierig gebleckten Zähnen saßen. Die rötlich-graue Haut erinnerte an einen schlecht gebrannten Ziegelstein. Die Augen des Golems waren auf - und diese Augen erschreckten mich mehr als alles sonst. Es schienen die Augen eines Menschen zu sein.

Aber wieso»schienen«? Wenn Merlin den Golem geschaffen hatte…

Genau in der Mitte verjüngte sich der Körper der Schlange. Hier befand sich eine kleine, handtellergroße Mulde. In ihr lag ein grauer quadratischer Stein mit halb verwitterten keltischen Schriftzeichen.

O ja, ein seltsamer Golem. Die Rune hatte ihn nicht belebt, sondern getötet.

Oder eher - nach dem bösartigen Glanz in seinen Augen zu urteilen - bewegungslos gemacht.

Noch einmal schaute ich mich um. Bis auf mich und den reglosen Golem war hier niemand. Der Grabräuber war bereits tiefer gegangen.

Nun denn!

Ich rief mir die Kampfzauber ins Gedächtnis, alles, was stark war, mir einfiel und wofür meine Kräfte reichten, um es mir zum raschen Einsatz zurechtzulegen. Ich sollte darauf gefasst sein, mich jede Sekunde in den Kampf zu stürzen. Natürlich nur, falls ich tiefer gehen konnte…

»Anton, warte!«

In der Luft materialisierten sich drei Männer: Lermont, Semjon und ein mir unbekannter Schwarzer. Wobei Lermont sowohl Semjon als auch den Schwarzen - indem er sie unterm Arm gepackt hielt - förmlich hinter sich herschleifte. O ja, stark war er, sehr stark…

»So was Schönes!«Begeistert blickte Semjon sich um.»Och… also hierher…«Kaum erblickte er den Golem, verstummte er jedoch. Er trat an ihn heran und stieß ihn sacht mit dem Fuß an. Schüttelte den Kopf.»Puh… was für ein Tierchen… Hast du ihn ausgeschaltet, Anton?«

»Ich fürchte, der lässt sich nicht so leicht ausschalten.«Ich wies auf die Rune. Dann wandte ich mich Foma zu.»Gehen wir weiter, Mister Lermont?«

»Kannst du das denn?«

»Ich werde es versuchen.«

Zweifelnd schüttelte Lermont den Kopf.»Ihr kommt nicht weiter mit«, meinte er, indem er zu seinen Schützlingen hinüberschielte.»Ich habe euch hierhergeschleift wegen… des Monsters. Aber hier endet die Reise für euch. Wartet so lange hier, wie ihr könnt, dann geht zurück.«

Er seufzte tief - und löste sich in Luft auf.

Ich machte einen Schritt nach vorn.

Nichts.

Noch einen. Und noch einen. Und noch einen.

»Klappt es nicht?«, fragte Semjon voller Anteilnahme.

Was soll’s, immerhin hatte ich es bis in die fünfte Schicht geschafft, hier war alles ruhig - aber noch tiefer konnte ich nicht!

Ein Schritt. Noch ein Schritt. Wo war mein Schatten?

»Anton…«Semjon schüttelte mich an der Schulter.»Bleib stehen, Anton. Du vergeudest bloß deine Kraft.«

»Ich gehe«, flüsterte ich.»Ich muss…«

»Gar nichts musst du. Lermont ist erfahrener. Er schafft das allein.«

Ich schüttelte den Kopf. Versuchte, mich zu entspannen. Hierher war ich voller Zorn gekommen. Vielleicht musste ich nun auf Gelassenheit vertrauen? Vor mir lag lediglich eine Wasserscheide. Der schmale Film der Oberflächenspannung zwischen den Welten, eine Grenze, hinter der offenbar die Lebenskraft zu wachsen anfing. Die erste Schicht war praktisch tot, verdorrt, unfruchtbar. Die zweite bereits etwas lebendiger. Die dritte und die vierte ließen unsere Welt erahnen. Die fünfte… In der fünften konnte man beinah leben. Hier gab es Farben, hier war es kalt, aber nicht so sehr, dass man fror, hier wuchs Gras, regnete es, tobten seltsame Gewitter. Was würde mich in der sechsten erwarten? Ich musste mir vergegenwärtigen, wohin ich aufbrach. In eine Welt, die Eis atmete, die tot und verloren war? In der man nur mit Mühe atmen konnte, schleppend ging und stockend sprach?

Nein. So würde die sechste Schicht nicht sein. Sie würde noch heller sein als die fünfte. Noch lebendiger. Noch näher an der echten Welt dran.

Ich nickte meinen Gedanken zu.

Und trat aus der fünften Schicht in die sechste.

Hier herrschte Nacht. Vielleicht keine sommerliche, aber eine warme. Am Himmel erblickte ich keinen einzigen Stern, aber immerhin prangte dort der Mond. Hier zog sich kein grauer Streifen über den Himmel wie in der ersten Schicht. Hier leuchteten nicht die drei winzigen farbigen Monde aus der zweiten Schicht. Hier strahlte ein ganz normaler Mond, wie ihn der menschliche Blick kannte.

Aber kein einziger Stern. Denn Sterne sind nichts für Andere.

Im weißen Schein des Mondes wirkte die Welt fast real. Echte, lebende Bäume, mit Blättern an den Ästen, die im Wind raschelten. Es roch nach Gras und nach Feuer… Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich zum ersten Mal im Zwielicht einen Geruch wahrnahm. Vermutlich würde ich, wenn ich das Gras kaute, auch den bitteren Geschmack seines Saftes schmecken.

Es roch nach Feuer?

Ich drehte mich um - und sah Lermont. Der jedoch kein dicklicher älterer Herr mehr war, sondern in seiner Zwielicht-Gestalt vor mir stand.

Thomas Rhymer war ein weißhäutiger Riese von etwa drei Metern. Seine Haut strahlte ein trübes milchiges Licht aus. Er fing Klumpen weißen und bläulichen Feuers aus der Luft, presste sie allesamt in seinen riesigen Händen zusammen, gleichsam als forme er Schneebälle, und warf sie weit weg. Ich verfolgte die Flugbahn: Die zischenden Flammenknäuel schossen über die Ebene dahin, machten die wenigen Bäume dem Erdboden gleich und verloschen in einer dunklen, sich entfernenden Wolke. Die brennenden Bäume deuteten auf Fehlwürfe hin.

»Foma!«, schrie ich.»Hier bin ich!«

Der Riese formte in seinen Händen einen weiteren großen Ball. Grunzend warf er ihn der dunklen Wolke hinterher. Dann drehte er sich um.

Sein Gesicht war frappierend. Zugleich uralt und blutjung, gut und hart, schön und furchterregend.

»Der junge Magier hat die Barriere überwunden«, dröhnte Thomas.»Der junge Magier ist mir zu Hilfe geeilt…«

Er war jetzt nicht ganz bei sich - wie alle Anderen, die im Kampfeseifer die Gestalt der tiefen ZwielichtSchichten annehmen.

Mit wenigen Schritten überwand Thomas die Strecke, die zwischen uns lag. Mir kam es so vor, als erzittere unter seinen Schritten sogar die Erde.

»Sie haben es nicht geschafft, mein Freund…«Der alte Barde legte mir eine schaufelgroße Hand auf die Schulter.»Sie sind nur bis zur sechsten Schicht gekommen. Thomas hat sie vertrieben, jawohl. Thomas hat sie vertrieben wie feige kleine Hunde.«Lermont brachte sein Gesicht nahe an meins.»Aber nur, weil die Feinde den Kampf nicht angenommen haben«, flüsterte er mir vertrauensvoll zu.»Sie haben hier genug Zeit verbracht, um einzusehen, dass sie niemals in die siebte Zwielicht-Schicht vordringen würden.«

»Wie viele waren es, Thomas?«

»Drei, mein Freund. Die richtige Zahl.«

»Hast du sie dir genau angesehen?«

»Nur flüchtig.«Thomas schüttelte den Kopf.»Die Aura kannst du hier nicht ausmachen, aber Thomas hat ein Geringes vollbracht. Ein Dunkler Anderer, ein Vampir. Ein Lichter Anderer, ein Zauberkundiger respektive Heiler. Ein Inquisitor, ein Kampfmagier. Die drei wollten sich Merlins Erbe aneignen. Die drei hätten es beinahe geschafft. Drei Hohe. Aber selbst Hohe können nicht in die siebte Schicht des Zwielichts vordringen.«

»Ein Dunkler, ein Lichter und ein Inquisitor?«, frage ich erstaunt.»Zusammen?«

»Das Erbe Merlins lockt alle. Sogar die Lichten. Was glaubst du, junger Magier, warum Thomas deine Ankunft innerhalb seiner Wache geheim halten wollte?«

»Waren es alles Männer?«, wollte ich wissen.

»Alles Männer. Alles Frauen. Woher soll Thomas das wissen? Thomas hat sie nicht abgetastet. Thomas hat einen flüchtigen Blick auf ihre Auren erhascht…«

»Wir müssen gehen, Thomas.«Ich schaute dem Riesen in die Augen.»Es ist Zeit für uns, Thomas. Zeit, nach Hause zu gehen.«

»Weshalb?«, wunderte sich der Riese.»Hier ist es doch schön, junger Magier. Hier kann man leben. Verzauberte Erde, das Königreich der Feen und Zauberer… Thomas möchte sich hier ansiedeln, Thomas möchte sein Zuhause finden…«

»Thomas Lermont, du bist das Haupt der Nachtwache! Ganz Schottland steht unter deinem Schutz! Hexen, Vampire, Werwölfe… willst du denen etwa freien Lauf lassen?«

Thomas schwieg, und einen Augenblick lang vermeinte ich, er würde Widerstand leisten. Dass er nun doch sein Feenreich gefunden hatte, in das er der Legende nach bereits vor vierhundert Jahren eingezogen war.

Natürlich würden die Dunklen nicht über die Stränge schlagen. Es würde Hilfe kommen, aus England, aus Irland und aus Wales. Sowohl in Europa wie auch in Amerika würden sich Lichte finden, die der verwaisten schottischen Wache beistehen würden.

Aber wäre das Verschwinden Lermonts nicht jener Tropfen, der aus Jegor einen Spiegel machen würde?

»Gehen wir, mein junger Freund«, stimmte Lermont zu.»Du hast recht, ja, du hast recht. Ich überstürze die Dinge… noch ist die Zeit nicht gekommen… Aber hör dir das an, junger Magier! Hör dir an, wie die Stille klingt, wie die Zikaden im Gras singen, wie die Nachtvögel die Luft mit ihren Flügeln schlagen…«

Vielleicht zwang er mich, etwas zu hören, vielleicht war es aber wirklich so - jedenfalls vernahm ich durch den schweren Atem des Riesen hindurch sowohl die Stille wie auch die Geräusche.

»Sieh dir an, wie heiß das Feuer lodert, wie silbrige Blätter das Mondlicht einfangen, wie dunkel das Gras unter unseren Füßen ist…«, flüsterte Lermont.»Hier kann man leben…«

Ich sah es.

»Nur wenige Andere sind zu ihren Lebzeiten hier gewesen…«Lermont seufzte.»Wir gelangen erst nach unserem Tod hierher, weißt du. Und dann ist es für immer…«

Über meinen Rücken rann ein Schauer. Ich erinnerte mich an die Toten aus unserer Wache. Igor, Tigerjunges, Andrej…

»Wusstest du das? Hast du das vorher gewusst?«

»Alle Hohen, die in die fünfte Schicht eintreten können, wissen das.«Thomas’ Stimme klang traurig.»Aber das ist ein zu gefährliches Wissen, junger Magier.«

»Warum?«

»Man sollte nicht wissen, was einen nach dem Tod erwartet. Thomas weiß es - und er trägt schwer daran. Thomas zieht es hierher. Weg von den Menschen, diesen harten und gierigen Menschen. Weg von all dem Bösen und all dem Guten der Menschen. Es ist so süß… in der Welt der Anderen zu leben.«

»Zu leben.«

»Zu leben, junger Magier… Hier brauchen selbst die Vampire kein Blut. Hier ist nichts wie gewohnt, hier ist alles anders. Hier ist alles so, wie es sein sollte. Dies ist die richtige Welt… in der fünften, der sechsten und der höchsten, der siebten Schicht. Hier werden den Weisen, die das Universum studieren, Türme bis in den Himmel errichtet. Die Städte pulsieren vor Leben, sind voller Licht und Dunkel. Durch jungfräuliche Wälder streifen Einhörner, und Drachen bewachen ihre Felshöhlen. Hierher kommen wir… ich früher, du später… und unsere Freunde werden uns entgegenkommen. Ich werde mich auch freuen, dich wiederzusehen, junger Magier.«

Eine Riesenhand legte sich um meine Schultern, als sei ich ein Kind. Foma seufzte tief und schwer.»Aber noch ist die Zeit nicht gekommen«, fuhr er fort.»Noch nicht. Wenn ich in die siebte Schicht vordringen könnte… würde ich nicht zurückkehren. Aber dafür reichen meine Kräfte nicht. Und deine auch nicht, junger Magier.«

»Ich habe keine Eile«, brummte ich.»Ich habe…«

Was hatte ich? Eine Frau und eine Tochter? Sie waren Andere. Hohe Andere. Wir könnten alle zusammen hierherkommen. In die Städte aus Licht und Dunkel… in denen Alissa und Igor glücklich miteinander leben können, in denen niemand mehr an die dummen kleinen Menschen denkt…

Ich erschauerte. Kam es mir nur so vor, oder war ich auch gewachsen? Oder schrumpfte Lermont?

»Gehen wir, Foma!«

»Warte. Sieh dir das an!«

Über uns tanzte plötzlich ein weißes Feuerchen. Foma streckte seine Pranke aus, um auf die Platte aus transparentem roten Stein zu zeigen, die versteckt im Gras lag. Was war das? Ein Rubin von der Größe eines Tabletts?

Ich hockte mich hin. Strich mit der Hand über die glatte Oberfläche. Sah mir die Zeilen keltischer Buchstaben an.

»Was steht hier, Foma?«

»Das hat Merlin geschrieben.«In Lermonts Stimme schwang sein Wissen mit.»Das hat Merlin geschrieben, und gleichzeitig ist es sowohl das Schlüsselloch wie auch das dritte Element des Schlüssels. In Coelbrenschrift steht hier…«Er verstummte.»Wenn man es gepflegt ausdrückt, dann…«

»Sag es irgendwie!«, schrie ich, da ich beinah körperlich spürte, wie die Zeit verrann.

Der Kranz der Schöpfung liegt verborgen hier.

Ein Schritt nur bleibt.

Doch erben solln ihn nur die Starken und die Klugen.

Die Worte trug Foma mit fremder, zarterer und melodischerer Stimme vor. Sobald seine Stimme erklang, fingen die in den Stein geritzten Buchstaben zu leuchten an, als habe man unter der roten Tafel eine starke Lampe angeschaltet. Ein Buchstabe nach dem nächsten verwandelte sich in eine zarte Lichtsäule, die in den Himmel schlug.

Alles erhältst du und nichts, bringst du ihn an dich.

So geh voran, wenn du stark bist wie ich;

Wenn du klug bist wie ich, weich zurück.

Anfang und Ende, Kopf und Schwanz, alles ist eins im

Kranz der Schöpfung. So sind Leben und Tod nicht zu trennen.

Der letzte Buchstabe flammte weiß auf, kaum dass Lermont das Wort»Tod«aussprach.

»Ich hasse Karaoke«, meinte ich.»Was hat das alles zu bedeuten?«

»Thomas weiß nicht mehr als du, junger Magier.«Der Riese packte mich mit beiden Armen.»Und jetzt gehen wir!«

Ich ging davon aus, dass Lermont sofort in die Realität zurückwollte. Doch nein, zunächst kehrte er in die fünfte Schicht zurück, wo er Semjon und dem Schwarzen zuwinkte.»Geht!«

Er brauchte sie nicht lange zu bitten. Dann zwinkerte Lermont mir zu, beugte sich über den Golem - und zog aus dem Körper der Schlange die Rune Merlins heraus.

Die Augen des Raubtiers funkelten zornig auf. Der Körper schraubte sich schlaufenartig in die Luft, die beiden Mäuler öffneten sich synchron.

Doch wir befanden uns bereits außerhalb der Reichweite des Hüters. In der normalen Menschenwelt. In einem Raum voller toter Körper.

Der angejahrte, dickliche Lermont ließ mich los und fiel zu Boden. Sein Gesicht war schweißgebadet, sogar an den abstehenden Ohren hingen Tropfen.

Um uns herum tobte die übliche Aufregung: Die Lichten nahmen die Spuren der Auren auf, untersuchten die Körper, sammelten Fleischproben und Blutstropfen zur Analyse. Auf mich und den mir folgenden Semjon richteten sich sofort misstrauische Blicke, über unsere Körper tasteten die Fühler ihrer Zauber. Als sie in uns die Lichten erkannten, noch dazu solche höheren Ranges, stellten die Wächter verwirrt ihre Sondierung ein.

Etwas abseits erblickte ich Bruce. Der Meister der Vampire sah bereits nicht mehr wie eine wandelnde Leiche aus, auf seine Wangen hatte sich sogar eine leichte Röte gelegt. Er hockte in einer Ecke und trank etwas aus einem Glas. Ich schaute nicht näher hin, was genau.

»Alle Achtung!«, sagte Semjon, der den Kopf hin und her drehte. Er wirkte absolut glücklich.»Nie und nimmer hätte ich geglaubt, in die fünfte Schicht vorzudringen wie der Große Geser oder Thomas Rhymer. Ach… jetzt habe ich auch vor dem Sterben keine Angst mehr…«

Er zwinkerte mir zu.

»Ich näh dir den Mund zu«, presste Lermont mit altbekannter Intonation hervor.»Die fünfte Schicht des Zwielichts ist kein Thema für Gequassel.«

»Natürlich«, lenkte Semjon sofort ein.»Ich habe einfach so, aus meiner Dummheit heraus, losgeschwatzt…«

»Foma…«Ich streckte die Hand aus, um dem Magier hochzuhelfen.»Vielen Dank… dass Sie zurückgekehrt sind. Und auch für das, was Sie mir gezeigt haben, danke ich Ihnen.«

»Komm mit.«Raschen Schrittes ging Foma in den Nebenraum, zum»Ankerplatz«, wo im dunklen Wasser sanft der Eisenkahn schaukelte. Ich folgte ihm. Lermont spannte über uns den Schirm der Stille aus - und sofort verstummte jedes Geräusch.»Du möchtest mich etwas fragen?«

»Ja. Wer waren die?«

»Ich weiß es nicht.«Foma holte ein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.»Man hat schon mehrfach versucht, das Erbe Merlins an sich zu bringen. Ich bin mir aber nicht sicher, dass es unbedingt dieselben Anderen waren… Der letzte Versuch liegt mehr als ein Jahrhundert zurück. Außerdem hat früher niemand in so großem Umfang Menschen eingesetzt… Das alles ist sehr ernst, Anton. Aber wir haben es geschafft, mit dem dritten Schlüssel hat Merlin alle genarrt.«

»Was bedeutet dieses Gedicht?«

»Es ist ein Rätsel. Damals liebte man Rätsel sehr, Anton. Es gehörte zum guten Ton, dem Gegner die Möglichkeit des Siegs einzuräumen. Eine trügerische Möglichkeit, gleichwohl eine Chance.«

»Eins ist klar: Es führt noch ein Schleichweg in die siebte Schicht, man muss sich nicht den Kopf auf direktem Wege einrennen«, sagte ich.

»Offenbar, ja. Aber diesen Schleichweg kenne ich nicht. Und wenn ich etwas darüber wüsste, würde ich es dir nicht sagen.«

»Wirst du Merlins Geheimversteck bis ans Ende der Zeiten schützen?«

»Solange ich es kann.«Lermont drehte die Rune Merlins in den Händen. Seufzte.»Zumindest bewacht der Hüter jetzt wieder die fünfte Schicht. Und der Feind muss es erst noch einmal schaffen, die Rune an sich zu bringen.«

»Vernichte sie, Foma!«

»Es gibt keine einfachen Lösungen, Anton«, meinte er kopfschüttelnd.»Wenn ich die Rune vernichte, wird der Hüter auch verschwinden. Ich werde ein zuverlässigeres Versteck für sie finden. Du brauchst nicht zu wissen, wo. Und… vielen Dank… für deine Hilfe.«

»Das heißt wohl: Und jetzt hau ab!«Ich lächelte.

»Das heißt: Vielen Dank für deine Hilfe. Je mehr Außenstehende hier sind, desto mehr Aufhebens wird um den Vorfall gemacht werden. Ich bin dir und Semjon zu Dank verpflichtet. Die Flugtickets werden euch ins Hotel gebracht.«

»Alles klar. Ich danke Ihnen auch, Foma.«Ich verbeugte mich.»Möge das Licht mit Ihnen sein!«

»Warte!«, meinte Thomas sanft. Er trat auf mich zu, um mich überraschend zu umarmen.»Ich danke dir, das wollte ich sagen! Nimm es mir nicht übel. Wir werden jetzt genug Probleme und reichlich Gäste von der Inquisition haben. Du möchtest hier doch nicht einen Monat lang festhängen?«

»Pass auf den Kranz auf, Foma«, sagte ich nach einer kurzen Pause.

»Denk über das, was du gesehen hast, nach, Anton, Ich bin sicher, dass in die Ereignisse einer deiner Landsleute verwickelt ist. Geh das Geheimnis von deiner Seite an - und wir werden uns wieder treffen.«

»Wenn ich herausfinde, wer es von uns ist, mach ich Kleinholz aus ihm«, versprach ich.»Auf Wiedersehen, Thomas Rhymer.«Die Klinke in der Hand fügte ich dann noch hinzu:»Ach ja, wir sind daran gewöhnt, erster Klasse zu fliegen.«

»Ihr solltet mir dankbar sein, wenn ich euch nicht als Frachtgut aufgebe«, bot mir Foma Paroli. Um sich gleich darauf umzudrehen und zurückzugehen - zu seinen Mitarbeitern.

Epilog

»Ja, es bringt Unglück, einem Freund mitten im Gefecht zu sagen, wir würden uns noch sehen«, brachte Semjon düster hervor.»Keine Minute konnten wir miteinander reden. Und jetzt fliegen wir wie die Idioten wieder nach Hause zurück. Wenn wir doch wenigsten eine Woche… hübsch an einem See, Fische fangen…«

»Semjon, denen steht die Inquisition ins Haus, die würde uns einen Monat festhalten.«

»Ja und? Wäre das so schlimm?«

»Ich habe Familie.«

»Ach ja, stimmt…«Semjon seufzte.»Das Töchterchen… Kann die Kleine denn schon laufen?«

»Verarschen kann ich mich selber, Semjon!«

Wir blieben vor dem Hoteleingang stehen. Grinsend rieb Semjon sich die Nasenwurzel.

»Also gut… wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Fünf, sechs Stunden. Wenn sie uns Tickets für die Abendmaschine geben.«

»Dann zieh ich jetzt los und besorg mal ein paar Souvenirs. Soll ich dir was mitbringen?«

»Was denn?«

»Wie, was? Whisky und Schals. Für die Herren Whisky, für die Damen Schals. Normalerweise nehme ich je fünf von beidem.«

»Gut, bring mir auch was mit.«Ich winkte mit der Hand ab.»Und zusätzlich noch einen Kinderschal, falls du einen siehst. Was Lustiges.«

»Wird erledigt.«

Ich betrat das Vestibül. Hinter der Rezeption war niemand, dafür lag auf dem Tresen ein Umschlag, auf dem in großen Buchstaben»Anton Gorodetsky«stand. Im Umschlag steckten drei Tickets erster Klasse, für mich, Semjon und Galja Dobronrawowa. Nicht nur, dass Foma mit einer unwahrscheinlichen Effizienz arbeitete, er hatte auch noch an das Tiermädchen gedacht.

Im dritten Stock klopfte ich an die Tür der dunklen Luxussuite. Keine Reaktion. Ich lauschte - da drinnen rauschte Wasser. Daraufhin holte ich Galjas Ticket aus dem Umschlag und schob es unter der Tür durch.

Dann suchte ich in meinen Taschen nach dem Schlüssel und ging in mein Zimmer.

»Gehjetztganzlangsamzumsesselundsetzdichhin«, forderte der rotblonde junge Mann mich auf, der sich mir in Schottlands Verliesen als Jean vorgestellt hatte.

Seine Position hatte er vortrefflich gewählt. Am Fenster, durch das blendendes Sonnenlicht fiel. Mein Schatten lag irgendwo hinter mir - nutzte mir also rein gar nichts.

»Gehlangsamundohnehastzumsessel«, ratterte der Mann herunter.

Er lief jetzt in der Schnellspur, ihn hüllte ein grünes Licht ein, das einem Amulett in seiner Hand entströmte: Äußerlich glich es einer dieser Perlenketten, wie sie Hippies tragen. Seine Reflexe überstiegen die eines Menschen damit um ein Vielfaches. Und in Anbetracht der Uzi, deren Magazin die magisch manipulierten Kugeln rot leuchten ließen, wäre jeder Widerspruch unklug gewesen.

»Sprich deutlicher«, bat ich, während ich zum Sessel hinüberging und mich setzte.»Da du mich nicht gleich erschossen hast, gehe ich davon aus, dass wir noch etwas zu besprechen haben.«

»Duirrstdichzauberer«, erwiderte der Mann, wobei mir dieses komische, kindliche»Zauberer«auffiel.»Ichhabedenbefehldichzuermorden. Abervorherwillichdichetwasfragen.«

»Dann frag.«

Ich brauchte meinen Schatten. Ich musste den Kopf zurückdrehen, damit ich meinen Schatten ausmachen und ins Zwielicht eintauchen konnte. Dort wäre ich schneller als er.

»Haltdenkopfstill! Wenndudeinenschattenanblickstschießeichsofort. Wievielseidihr?«

»Was?,«

»Wievielschweinewiedichgibtesaufderwelt?«

»Nun…«Ich dachte nach.»Meinst du damit Lichte oder Dunkle?«

»Egal.«

»Uun-gee-fäähr jee-deer Zeehnt-taau-seend-stee«, zog ich jede Silbe in die Länge. Nicht aus Gemeinheit, sondern weil ich mein Gegenüber davon überzeugen wollte, dass er zu schnell sprach. Doch ob er die Wirkung des Zaubers überhaupt regulieren konnte?

»Ichhasseschweine«, bekundete der Mann.»Ichsolldirsagendassdudeinenfreundverratenhastunddentodverdienst…«

An der Tür klopfte es. Der Blick des Mannes huschte zu ihr hin. Dann wandte er sich wieder mir zu. Mit einer einzigen Bewegung zog er die Tischdecke vom Tisch und warf sie über die Maschinenpistole, die er nach wie vor auf mich gerichtet hielt.»Antworte!«, befahl er mir.

»Wer ist da? Es ist offen!«, rief ich.

Wenn das Semjon war, dann hatten wir noch Chancen.

Die Tür öffnete sich, und Galja trat ein. Allerdings in einer Aufmachung, die mir den Atem stocken ließ. Ein schwarzer

Minirock und ein fast durchsichtiges rosa Top - Lolita ließ schön grüßen.

Auch Jean erstarrte.

»Hallo.«Das Mädchen kaute etwas. Konzentrierte sich - und brachte eine ansehnliche Blase zustande. Als die Blase platzte, zuckte Jean zusammen. Ich fürchtete schon, er würde jetzt anfangen loszuballern, doch er behielt die Kontrolle über sich.»Und wer bist du?«

Sie starrte Jean mit einem Blick an, der den Mörder feuerrot werden ließ. Und ihn dazu brachte, seinen Text herunterzurattern und sich gleichzeitig dabei zu verhaspeln:»Ichbinzubesuch.«

»Also, Anthonys Freunde bekommen es etwas billiger.«Das Mädchen zwinkerte dem jungen Mann zu. Hüftschwenkend kam sie auf mich zu.»Ich habe mein Höschen bei dir vergessen«, erklärte sie.»Du hast es wohl nicht gefunden?«

Ich konnte bloß noch den Kopf schütteln.

»Ach, scheiß auf das Ding«, beschloss Galja. Dann beugte sie sich langsam zu mir herunter, um ihre Lippen in Richtung der meinen zu spitzen und Jean auf diese Weise die Möglichkeit zu geben, ihr… Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was er jetzt zu sehen bekam!

Und wie er hinsah!

»Pass auf«, flüsterte Galja. Die Augen des Mädchens blickten ernst drein. Ängstlich. Dennoch berührte sie meine Lippen - und in ihren Augen loderten spitzbübische Funken…

Nur kurz, nur für den Moment, bevor sie sich in eine Wölfin verwandelte. Auf eine grobe, schreckliche Weise, Blutstropfen verspritzend und Hautfetzen von sich schleudernd, ohne Zeit auf eine vollständige Transformation zu verschwenden. Sie verwandelte sich - und sprang als schwarzer zerzauster Schatten auf den Mörder zu.

Er schoss genau in dem Moment los, als ich nacheinander zwei Dreifachschneiden gegen ihn schleuderte.

Die erste säbelte ihm die Hand mit der MP ab und hackte ein Stück seines Körpers weg. Wo die zweite gelandet war, begriff ich nicht gleich. Ich sprang auf, stürzte auf die sich am Boden krümmende Wölfin zu. Ihr Körper hatte alle Kugeln aufgenommen, die für mich bestimmt gewesen waren. Es waren nicht einmal viele, fünf oder sechs. Wenn sie bloß nicht mit einem Zauber belegt gewesen wären…

Jean stand schwankend da. Sah mich mit verständnislosen Augen an.

»Wer hat dich geschickt?«, schrie ich, während ich mit der Dominante auf ihn einschlug, einem Zauber, der zu absolutem Gehorsam zwingt.

Jean seufzte und versuchte, den Mund zu öffnen - worauf sein Kopf in drei Teile zerschellte. Mein zweiter Schuss hatte seinen Kopf getroffen.

Sein Körper wankte und krachte zu Boden, direkt neben das Tiermädchen. Aus der Halsschlagader schoss pulsierend das Blut.

Wäre sie doch eine Vampirin und keine Tierfrau…

Ich beugte mich über sie. Und sah, dass sich das Mädchen in einen Menschen zurückverwandelte.

»Wag das ja nicht! Du stirbst!«

»Ich sterbe sowieso«, brachte sie klar und deutlich hervor.»Aber ich will nicht… als Tier…«

»Du wirst nicht…«

»Dummer… Lichter.«Einen Moment schimmerte Ironie in ihrer Stimme durch.

Ich erhob mich. Meine Hände waren voller Blut. Unter meinen Füßen gluckste Blut. Der enthauptete Körper des Mörders zuckte krampfhaft.

»Was ist hier…«Semjon blieb wie erstarrt in der Tür stehen. Fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Fluchte.

In der anderen Hand trug er zwei Tüten. Eine mit Flaschen. Die zweite vermutlich mit Schals.

»Hier? Hier ist gar nichts los«, bemerkte ich mit einem Blick auf das tote Mädchen.»Die Vorstellung ist leider schon zu Ende.«

Den Magneten für Sebulon kaufte ich im Flughafen von Edinburgh, während Lermont und Semjon die Tickets aktualisierten. Wir brauchten jetzt nur noch zwei Plätze und ein Ticket für eine nicht normative Fracht, eine lange Holzkiste, die mit Zaubern belegt war. Einer der Zauber schützte den Inhalt vor Zerfall. Ein zweiter überzeugte die Zöllner davon, dass keine Notwendigkeit bestand, diese Kiste zu kontrollieren, da in ihr ganz harmlose Skier lagen.

Der Magnet war banal, aber hübsch: ein Schotte im Kilt und mit Dudelsack. Ich steckte ihn in die Tasche und baute mich vor einem Stand mit Postkarten auf, wo ich eine mit einer Ansicht des Edinburgh Castle wählte, die ich in den Reiseführer von Großbritannien einlegte. Noch durfte ich sie Lera nicht schicken. Doch ich hoffte sehr, früher oder später das Versprechen erfüllen zu können, das ich Viktors Freundin gegeben hatte.

Semjon war ungewöhnlich still. Er verlor sich nicht in Erinnerungen daran, wie die Flugzeuge in den Pioniertagen der Luftfahrt ausgesehen hatten, machte keine Spaße. Wir passierten die Pass- und die Zollkontrolle und nahmen unsere Plätze im Flugzeug ein. Semjon holte eine kleine Flasche Whisky heraus und sah mich fragend an. Ich nickte. Wir tranken direkt aus der Flasche, was uns den missbilligenden Blick der Stewardess eintrug. Unverzüglich verschwand sie in ihrem Eckchen, um mit Gläsern und einigen Fläschchen zurückzukehren, die sie Semjon schweigend reichte.

»Sei nicht traurig«, meinte Semjon leise.»Dunkle bleiben immer Dunkle. Sie wäre herangewachsen und ein Monster geworden. Vermutlich.«

Ich nickte. Gewiss, er hatte recht. Das musste selbst ein so dummer Lichter wie ich begreifen…

Ich lehnte mich im Sitz zurück und schloss die Augen. Dachte daran, dass ich sogar vergessen hatte, die Wahrscheinlichkeitslinien zu überprüfen: Würde das Flugzeug abstürzen? Egal… Was machte das für einen Unterschied aus? Die Menschen fliegen, ohne an etwas Schlimmes zu denken. Versuche ich das doch auch mal…

»Ich habe mir alles angeschaut«, meinte Semjon.»Wir starten mit zehn Minuten Verspätung, landen aber pünktlich. Günstiger Wind. Wir haben Glück, oder?«

Ich stülpte mir die Einwegkopfhörer aus einem Plastikbeutel auf und stöpselte den Stecker in die Dose, die in der Armlehne verborgen war. Fingerte über die Tasten, wählte einen Kanal. Als ich ein bekanntes Lied hörte, hielt ich inne:

Geschenktes sollst du nicht verlieren,

Bedaure nicht, was du verloren.

Mit Tränen kannst du ihn nicht rühren,

Den Burschen an den Himmelstoren.

Doch er durchschaut uns ganz und gar,

Singt keine Psalmen, macht uns klar,

Dass es nur eine Frage gibt:

Hast du gelebt? Hast du geliebt?

Hast du gelebt? Hast du geliebt?

Hast du gelebt? Hast du geliebt?…

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