Der Inspektor vom Brandschutz wies mit dem Finger auf das Räucherstäbchen, das in einem Tonschälchen glomm.
»Was ist das?«
»Opium«, antwortete eine junge Frau versonnen.
In der Buchhaltung senkte sich Stille herab. Auf dem Gesicht des Inspektors erschienen rote Flecke.
»Ich scherze nicht. Was ist das?«
»Ein indisches Räucherstäbchen. Es heißt Opium.«Mit einem Blick auf ihre Kollegen fügte die Frau verlegen hinzu:»Kommen Sie aber nicht auf falsche Gedanken, das ist nur die Bezeichnung! Opium ist da überhaupt keins drin!«
»Wenn Sie bei sich zu Hause Opium oder Hasch rauchen, ist mir das völlig einerlei.«Demonstrativ feuchtete der Inspektor sich die Finger an und löschte das Stäbchen.»Aber hier… hier liegen schließlich überall Papiere herum!«
»Ich pass ja auf«, empörte sich die Frau.»Außerdem ist das ein spezielles Räuchergefäß. Sehen Sie, die Asche fällt auf einen Keramikuntersetzer. Der Geruch ist so angenehm, alle mögen ihn…«
Sie sprach beruhigend und sanft auf ihn ein, wandte sich in jenem Ton an ihn, in dem Erwachsene kleinen Kindern etwas erklären. Der Inspektor wollte noch etwas hinzufügen, doch in dem Moment schaltete sich eine ältere Frau ein, die ein wenig abseits am größten Schreibtisch saß, das Gesicht den übrigen Buchhalterinnen zugewandt.»So leid es mir tut, Verotschka, aber der Inspektor hat völlig recht. Der Geruch ist schwer. Jeden Abend habe ich Kopfschmerzen davon.«
»In Indien reißt man wahrscheinlich permanent die Fenster auf«, mischte sich eine dritte Frau ins Gespräch.»Außerdem übertünchen sie damit ihre eigenen Düfte. Um die hygienischen Bedingungen ist es dort einfach fürchterlich bestellt. Die Latrinen liegen praktisch vorm Haus, und alles verfault im Handumdrehen, das Klima ist so. Da muss man den Gestank irgendwie vertreiben. Aber bei uns? Wozu?«
Eine vierte Frau, die in Veras Alter war, starrte kichernd auf den Bildschirm ihres Computers.
»Aber… das hättet ihr mir doch sagen können!«, rief Vera aus. In ihrer Stimme schwang ein weinerlicher Unterton mit.»Warum habt ihr denn nicht schon früher was gesagt?«
»Wir wollten dich nicht verletzen«, sagte die ältere Frau.
Vera sprang auf und stürzte, die Hände vors Gesicht gepresst, in den Flur hinaus. Ihre Absätze trommelten übers Parkett, in einiger Entfernung schlug die Toilettentür zu.
»Früher oder später hätten wir ihr das ohnehin sagen müssen«, meinte die ältere Frau seufzend.»Ich kann diese Kerzen einfach nicht länger ertragen. Egal, ob es nun Opium ist, Jasmin oder Nelken…«
»Erinnert ihr euch noch an Paprika und Kardamom?«, rief die junge Frau.»Einfach scheußlich!«
»Du solltest nicht so über deine Freundin herziehen. Sieh lieber nach Vera, sie hat sich das sehr zu Herzen genommen…«
Bereitwillig erhob sich die junge Frau und verließ die Buchhaltung.
Mit verständnislosem Blick betrachtete der Inspektor die Frauen. Dann sah er seinen Begleiter an, einen jungen, leicht pummeligen Mann in Jeans und T-Shirt. Neben dem im Anzug auftretenden Inspektor wirkte er völlig unsolide.
»Das reinste Tollhaus«, konstatierte der Inspektor.»Allenthalben werden die Bestimmungen zum Brandschutz missachtet. Wie kommt es, dass Sie noch nicht geschlossen wurden?«
»Ich kann mich selbst nur wundern«, versicherte der Mann.»Manchmal frage ich mich auf dem Weg zur Arbeit: Ob es das jetzt war? Ob dieses Chaos jetzt ein Ende hat? Man muss doch die Bestimmungen zur Sicherheit am Arbeitsplatz einhalten, darf sie nicht verletzen…«
»Zeigen Sie mir die Feuerschutztafel im ersten Stock«, unterbrach ihn der Inspektor mit einem Blick auf seinen Plan.
»Aber gern.«Der Mann hielt dem Inspektor die Tür auf. Zwinkerte den in der Buchhaltung zurückbleibenden Frauen zu.
Als der Inspektor die Tafel sah, nahm sein Missfallen ein wenig ab. Die Tafel war hübsch, neu, akkurat, rot gestrichen. Zwei Feuerlöscher, ein Eimer mit Sand, ein leerer, zylinderförmiger Eimer, eine Schaufel, ein Feuerwehrhaken und ein Brecheisen.
»Nun ja, schön, schön«, murmelte der Inspektor, während er den Eimer inspizierte und die Angaben zum Löschmittel des Feuerlöschers überprüfte.»Sogar irgendwie altmodisch. Das hätte ich nicht erwartet.«
»Wir geben uns alle Mühe«, beteuerte sein Begleiter.»In meiner alten Schule, da hing auch so ein Ding.«
Der Inspektor entrollte seinen Plan. Dachte einen Moment lang nach.»Jetzt wollen wir noch Ihre… Ihre Programmierer besuchen.«
»Aber sicher!«, freute sich der Mann.»Sie sitzen weiter oben, wenn Sie mir bitte folgen würden…«
An der Treppe trat er zur Seite, um dem Inspektor den Vortritt zu lassen. Dann drehte er sich um und betrachtete die Feuerschutztafel. Sie verblasste und löste sich in Luft auf.
Mit einem leisen Aufschlag fiel etwas zu Boden. Der Mann schmunzelte.
Nach der Visite bei den Programmierern durfte der Inspektor wieder mit Fug und Recht sein Missfallen bekunden. Die Programmierer (zwei Frauen und ein junger Mann) hatten sorglos an ihrem Arbeitsplatz geraucht, die Kabel der Computer bildeten wilde Knäuel (der Inspektor war sogar unter einen Tisch gekrochen und hatte ächzend eine Steckdose auf ihre Erdung überprüft). Als er eine Viertelstunde später wieder ins Parterre kam, betrat der Inspektor ein Zimmer mit der seltsamen Aufschrift»Diensthabender Weichensteller«und breitete seine Blätter auf dem Tisch aus. Der junge Mann in seiner Begleitung nahm ihm gegenüber Platz und beobachtete lächelnd, wie der Inspektor das Protokollformular ausfüllte.
»Was ist das für eine dumme Aufschrift an Ihrer Tür?«, wollte der Inspektor wissen, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.
»Diensthabender Weichensteller? Nun, das ist derjenige, auf den alles abgewälzt wird. Jemand kommt mit einer Überprüfung, in der Kanalisation ist ein Rohr geplatzt, man liefert Pizza oder Trinkwasser - und mit allem muss er sich beschäftigen. Als ob er Hausverwalter und Leiter der Wirtschaftsabteilung in einem sei. Eine langweilige Tätigkeit, der jeder von uns einmal nachkommen muss.«
»Was machen Sie hier eigentlich überhaupt?«
»Ist das für den Brandschutz relevant?«Der Mann dachte kurz nach.»Also… wir schützen Moskau vor den Ausgeburten des Bösen.«
»Das soll wohl ein Scherz sein?«Der Inspektor blickte den»diensthabenden Weichensteller«streng an.
»Keinesfalls.«
In dem Moment trat ein angejahrter, orientalisch wirkender Mann ohne anzuklopfen ein. Bei seinem Auftauchen erhob sich der Diensthabende unverzüglich.
»Nun, was gibt es denn?«, fragte der Neuankömmling.
»Eine Einlagerung in der Buchhaltung, eine in der Toilette, eine an der Brandschutztafel im ersten Stock«, antwortete der Diensthabende bereitwillig.»Alles in Ordnung, Boris Ignatjewitsch.«
Der Inspektor erbleichte.
»Lass, wir haben keine Brandschutztafel im ersten Stock«, bemerkte Boris Ignatjewitsch.
»Ich habe eine Illusion erzeugt«, prahlte Lass.»Hat sehr echt ausgesehen.«
Boris Ignatjewitsch nickte.»Gut«, meinte er.»Nur sind dir dabei die beiden Wanzen bei den Programmierern entgangen. Ich glaube, unser Gast vereint nicht zum ersten Mal die Tätigkeit eines Brandschutzinspektors mit der eines Spions… Ist es nicht so?«
»Wie können Sie nur…«, setzte der Mann an. Und verstummte.
»Peinlich ist es dir, dass du als Industriespion gearbeitet hast«, sagte Boris Ignatjewitsch.»So etwas ist widerwärtig! Du bist doch ein anständiger Mensch gewesen… früher einmal. Erinnerst du dich noch, wie du nach Sibirien gefahren bist, die Baikal-Amur-Magistrale mitgebaut hast? Dabei ging es nicht nur um Geld, sondern auch um die Romantik, die du gesucht hast, darum, dass du etwas Großes erleben wolltest…«
Über die Wangen des Inspektors kullerten Tränen. Er nickte.
»Und erinnerst du dich auch noch, wie du bei den Pionieren aufgenommen wurdest?«, fragte Lass munter.»Wie du zum Appell angetreten bist und daran gedacht hast, dich mit ganzer Kraft für den Sieg des Kommunismus einzusetzen? Und deine Gruppenleiterin hat dir das Tuch umgebunden und dich dabei beinahe mit ihren strammen Titten berührt…«
»Lass«, stieß Boris Ignatjewitsch mit eisiger Stimme aus.»Ich kann mich nicht genug darüber verwundern, wie du zu einem Lichten werden konntest.«
»An dem Tag hatte ich gute Laune«, räumte Lass ein.»Ich habe geträumt, ich sei ein kleiner Junge und reite auf einem Pony…«
»Lass!«, wiederholte Boris Ignatjewitsch.
Der Diensthabende verstummte.
In der eintretenden Stille war nur das Schluchzen des Brandschutzinspektors zu hören.»Ich… ich werde alles sagen… An die BAM bin ich gefahren, um mich vor den Alimenten zu drücken…«
»Die BAM interessiert mich nicht«, sagte Boris Ignatjewitsch in sanftem Ton.»Erzähl mir, wer dich gebeten hat, in unserem Büro Wanzen einzubauen.«
»Ihr könnt euch sicherlich denken, warum ich euch zusammengerufen habe«, meinte Geser.
Wir hatten uns zu fünft im Büro des Chefs eingefunden. Geser selbst, Olga, Ilja, Semjon und ich.
»Was gibt es da groß rumzuraten«, brummte Semjon.»Sie haben alle Hohen und Anderen ersten Grades versammelt. Nur Swetlana fehlt.«
»Swetlana fehlt, weil sie der Nachtwache nicht angehört.«Geser verzog das Gesicht.»Aber ich bezweifle nicht, dass Anton ihr alles erzählen wird. Und ich habe nicht die Absicht, ihm das zu verbieten. Eine Verletzung der Regeln werde ich ansonsten jedoch nicht dulden… Dies ist ein Treffen der Leitung der Nachtwache. Ich möchte Ilja gleich sagen… dass er von gewissen Informationen Kenntnis erlangen wird, von denen er unter normalen Umständen nichts erfahren hätte. Also erzähl sie nicht weiter. Niemandem.«
»Und was genau nicht?«, wollte Ilja wissen, wobei er seine Brille zurechtrückte.
»Vermutlich… vermutlich alles, was ich sagen werde.«
»Interessant, was Sie unter gewissen Informationen verstehen«, meinte Ilja nickend.»Wie Sie meinen. Wenn Sie es wünschen, bin ich bereit, mir das Zeichen des Straffeuers einbrennen zu lassen.«
»Auf Formalitäten können wir verzichten.«Geser holte ein Metallkästchen aus seinem Schreibtisch und fing an, darin herumzukramen. Unterdessen sah ich mich mit gewohnter Neugier um. Das Büro des Chefs wartete mit einer Unzahl von Kleinigkeiten auf, die er entweder für die Arbeit brauchte oder bei denen es sich schlicht um Erinnerungsstücke handelte. Als horte der Geizhals Pljuschkin aus den Toten Seelen seine Sachen, hüte ein Kind eine Kiste mit heiß ersehnten»Schätzen«oder als betrete man die Wohnung eines zerstreuten Sammlers, der ständig vergisst, was genau er eigentlich sammelt. Erstaunlich war zudem, dass anscheinend nie etwas verschwand, es in den Schränken kaum noch ein freies Plätzchen gab und dennoch in einem fort neue Exponate hinzukamen.
Jetzt blieb mein Blick an einem kleineren Terrarium hängen. Aus irgendeinem Grund hatte es keine Abdeckung, während auf das Glas ein Stück Papier mit den Buchstaben»OOO«oder den Ziffern»ooo«geklebt war. Das Terrarium beherbergte ein albernes, in China hergestelltes Spielzeug: ein kleines Plastikklo, auf dem in herrschaftlicher Pose eine Tarantel thronte. Zunächst glaubte ich, die Spinne sei ebenfalls aus Plastik oder aber krepiert, dann bemerkte ich jedoch, wie die Äuglein des Tiers funkelten und die Kiefer mahlten. Über das Glas kroch eine zweite Spinne, ein dickes, rundes Tier, das an eine zottelige Kugel auf Beinen erinnerte. Von Zeit zu Zeit hielt die Spinne inne, um einen Tropfen grünen Gifts gegen das Glas zu spucken - wobei sie ganz eindeutig etwas außerhalb des Terrariums anvisierte. Am Boden des Behältnisses hatte die Spinne ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Hier wuselten zudem weitere Insekten herum, die gierig ihre Fühler nach der Nahrung ausstreckten. Die Glückspilze, die etwas abbekamen, fingen fröhlich an zu hüpfen.
»Interessant, nicht wahr?«, fragte Geser, ohne den Blick zu heben.
»Hm… Was ist das?«
»Ein Simulakrum. Wie du weißt, studiere ich mit Vorliebe geschlossene soziale Gruppen.«
»Und was bildet das Simulakrum nach?«
»Ein faszinierendes Sozium«, wich Geser aus.»Das Grundmodell liegt natürlich mit der traditionellen Spinne im Glas vor. Hier haben wir es allerdings mit zwei Spinnen zu tun, von denen eine, da sie rechtzeitig irgendwo hinaufgeklettert ist, die dominante Position einnimmt, während die zweite den Schutz gegen Aggressionen von außen bildet und sich um die Mitglieder der Gesellschaft sorgt. Bei permanenter Aktivität der beiden Spinnen funktioniert das Simulakrum mit einem Minimum an Autoaggression. Man muss die Bewohner nur hin und wieder zur Entspannung mit frischem Bier besprenkeln.«
»Und niemand versucht auszubrechen?«, erkundigte sich Ilja.»Schließlich gibt es kein Dach…«
»Äußerst selten. Und nur diejenigen, denen es reicht, die Spinne im Glas zu mimen. Erstens wird im Terrarium die Illusion eines ständigen Kampfes gewahrt. Zweitens verstehen die Versuchstiere das Dasein im Glas als Ausdruck der eigenen Außergewöhnlichkeit.«Schließlich fischte Geser aus seinem Kästchen etwas heraus.»Genug«, verkündete er.»Schluss mit den Banalitäten. Hier habt ihr ein erstes Objekt, über das ihr nachdenken könnt. Was ist das?«
Schweigend betrachteten wir den grauen Klumpen Beton, der aus einer Mauer herausgehauen zu sein schien.
»Und untersteht euch, Magie einzusetzen!«, blaffte Geser.
»Ich weiß es«, verkündete Semjon entschuldigend.»Ich erinnere mich noch an die Geschichte. Ein Minisender. In den Fünfzigern… oder war es in den Sechzigern?… hat man versucht, uns abzuhören. Damals traten wir als Trust der Städtischen Elektrizitätswerke für Reparatur und Montage auf. Das Ding hatten wir irgendwelchen ausgebufften Jungs vom KGB zu verdanken, nicht wahr?«
»Stimmt«, bestätigte Geser.»Damals jagte man Spione, was das Zeug hielt. Unter diesem Vorwand hat man auch uns überprüft… Wir weckten bei den zuständigen Stellen Verdacht… Nur gut, dass wir beim KGB unsere Augen und Ohren hatten. Wir führten eine Desinformationskampagne durch, die wachsamen Genossen fassten einen Tadel für die sinnlose Vergeudung von teurer Ausrüstung ab… Und was ist das?«
In Gesers Händen blitzte eine beachtliche Stahlschraube auf. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht einmal, dass solche riesigen Schrauben überhaupt hergestellt werden.
»Darüber werdet ihr kaum etwas wissen«, erklärte Geser.»Der… wie ich hoffe… einzige Versuch der Dunklen, uns mit den Mitteln der Menschen auszuspionieren. 1979. Damals führte ich ein sehr ernstes Gespräch mit Sebulon. Danach unterschrieben wir eine Anlage zum Abkommen über verbotene Kampfmethoden.«
Die Schraube wanderte in das Kästchen. Stattdessen kamen nun zwei winzige braune»Tabletten«zum Vorschein.
»Das war, als sie versucht haben, uns das Haus abzuluchsen!«, rief Ilja lebhaft.»1996, stimmt’s?«
»Stimmt genau«, bestätigte Geser nickend.»Ein junger ambitionierter Oligarch vertrat die Auffassung, der einstige Staatsbetrieb und die heutige GmbH Stadtlicht sei eine absolut verlockende und schutzlose Rosine im Eigentumskuchen. Sobald sie allerdings durch ihr Abhören und die Observation herausgefunden hatten, was für Leute hier ein und aus gingen, um mit dem Direktor, einem alten Mann, Tee zu trinken, ließ der Oligarch all seine ehrgeizigen Pläne schlagartig fallen.«
»Natürlich gehörte auch das zur Desinformation?«, fragte Olga neugierig. Anscheinend richtete sich die ungewöhnlich ausführliche Ansprache des Chefs insbesondere an sie, der diese lang verjährten Ereignisse entgangen waren.
Semjon kicherte und sagte mit schleppendem Tonfall:»Tjaa, wichtige Fragen hast du da für die ganze Stadt zu entscheiden, Namensvetter, aber um Unterstützung bittest du nicht… Also, wenn was ist, brauchst du bloß vorbeizukommen.«
»Was das ›Wenn was ist, brauchst du bloß vorbeizukommen‹ angeht«, erwiderte Geser lächelnd,»da übertreibst du ein bisschen. Doch sei’s drum, man verurteilt keine Sieger… Aber all das ist Schnee von gestern. Unser heutiger Fang…«
Er holte aus dem Kästchen etwas, das an ein Stück Leukoplast erinnerte. Ein schmales weißes Quadrat, dessen eine Seite klebte, weshalb Geser es nur mit Mühe von seinem Finger abbekam.
»Die Technik schläft auch nicht«, meinte ich interessiert.»Aufnahmegerät und Sender?«
»Es wird dich vielleicht erstaunen zu hören, dass hier auch noch ein Magnetofon eingebaut ist«, entgegnete Geser.»Alles wird aufgezeichnet und einmal am Tag innerhalb von drei Sekunden mit einem kodierten Impuls gesendet. Ein nettes Spielzeug. Und ein teures. Grundlos schafft man so etwas nicht an.«
»Komm zur Sache, Boris«, bat Olga.
Geser warf das Spielzeug in den Kasten zurück. Und bedachte uns alle mit einem aufmerksamen Blick.»Vor einer Wochen waren Anton und Semjon in Edinburgh. Dort hat sich eine sehr unerfreuliche Geschichte zugetragen… Ich verzichte hier auf die Einzelheiten: Eine Gruppe von Anderen, zu der mindestens ein Lichter, ein Dunkler und ein Inquisitor gehörten, hat mithilfe von angeheuerten Menschen, die mit magischen Amuletten ausgestattet waren, versucht, eines der ältesten Artefakte an sich zu bringen. Den sogenannten Kranz der Schöpfung, den der Große Merlin angefertigt hat, kurz bevor er ins Zwielicht eingegangen ist.«
Ilja stieß einen Pfiff aus. Olga schwieg - entweder wusste sie das bereits von Geser, oder sie zog es vor, ihre Gefühle nicht preiszugeben.
»Erwähnen sollte ich noch, dass es sich bei den drei Anderen um Hohe handelt«, fuhr Geser fort.»Nun ja… vielleicht nicht bei allen dreien. Vielleicht nur bei zweien. Denn zu zweit könnten sie den dritten mit sich in die sechste Schicht des Zwielichts gezogen haben.«
Zu meinem Erstaunen gab Ilja daraufhin keinen Ton von sich. Sondern wirkte völlig erstarrt. Meiner Ansicht nach war er nie weiter als bis in die dritte Schicht vorgedrungen.
»Das alles ist an sich schon höchst unangenehm«, erklärte Geser.»Was für ein Artefakt Merlin in der siebten und mithin tiefsten Schicht des Zwielichts versteckt hat, weiß niemand von uns. Wir können jedoch mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass man mit diesem Artefakt die gesamte Zivilisation der Erde zerstören kann.«
»Ein weiteres Fuaran!«, fragte Semjon.
»Nein. Merlin wusste nicht, wie man Menschen in Andere verwandelte«, antwortete Geser kopfschüttelnd.»Aber es muss etwas sehr Wichtiges sein. Der Schutz des Artefakts ist jetzt verstärkt worden, neben der schottischen Nachtwache kümmert sich nun auch die Inquisition darum. Trotzdem ist die Situation sehr ernst. Wie ich erfahren habe, hat es in Moskau, New York, London, Tokio, Paris, Peking - kurzum, an allen Schlüsselpunkten des Planeten - Spionageversuche in den jeweiligen Wachen gegeben. Überall agieren Menschen, die ihre Auftraggeber nicht kennen. Und bislang hat die Suche nach den Missetätern noch keinen Erfolg gehabt.«
»Was ist da, in der siebten Schicht des Zwielichts, Geser?«, wollte Ilja wissen.»Ich weiß, normalerweise wird jemandem, der noch nicht in den tieferen Schichten war, nichts davon erzählt, aber…«
»Semjon wird dir erzählen, was er gesehen hat«, meinte Geser.»Er war in der fünften Schicht. Wenn du willst, frag Anton, er kann dir von der sechsten erzählen. Ich erlaube das. Aber was die siebte angeht…«
Alle sahen Geser neugierig an.
»Da war ich selbst nicht. Ich kann deine Frage nicht beantworten«, behauptete Geser mit fester Stimme.
»Ha«, rief Olga aus.»Ich bin überzeugt davon, dass du dort warst, Boris…«
»War ich nicht. Und um deine Frage gleich vorwegzunehmen, Sebulon auch nicht. Und auch niemand sonst von den mir bekannten Anderen. Ich vermute, dazu ist nur ein Null-Magier imstande. Jemand, der über absolute Kraft verfügt. Einer wie Merlin. Eine Zauberin, wie es Nadja Gorodezkaja werden wird…«
Daraufhin richteten sich alle Blicke auf mich.
»Solange sie nicht erwachsen ist, lass ich sie nicht ins Zwielicht eintreten«, stellte ich unmissverständlich klar.
»Das verlangt auch niemand von dir«, versicherte mir Geser.»Und… protestier jetzt nicht gleich los. Ich möchte, dass deine Nadja bewacht wird. Rund um die Uhr. Von mindestens zwei Kampfmagiern. Zweiten oder dritten Grades. Gegen Hohe würden sie sich zwar nicht lange halten können, doch wenn sie gute Artefakte bekommen, können sie Zeit herausschinden und Hilfe rufen.«
»Boris Ignatjewitsch!«Ilja griff sich an den Kopf.»Wo soll ich denn so viele Lichte zweiten und dritten Grades hernehmen? Soll ich etwa alle Einsatzkräfte von den Straßen abziehen?«
»Nun, nicht alle«, meinte Geser.»Immerhin verfügen vier Lichte über den zweiten Grad. Dritten Grades sind neun Andere. Alischer und Alexander können noch auf den dritten Grad angehoben werden.«
»Welcher Alexander? Korostylew?«, verwunderte sich Ilja.
»Nein. Malenkow.«
»Bei Sascha ist das möglich«, mischte sich Olga ein.»Ich könnte das in drei Tagen hinkriegen. Sogar in zweien.«
»Stopp!«, rief ich.»Stopp! Meine Meinung interessiert hier wohl niemanden?«
»Doch, das tut sie.«Geser sah mich neugierig an.»Bedenke nur, dass diejenigen, die bei der Suche nach dem Artefakt bislang gescheitert sind, früher oder später auf die Idee kommen werden, einen absoluten Magier für sich einzuspannen. Und davon gibt es weltweit nur einen. Eine. Deine Tochter. Bist du also einverstanden, sie beschützen zu lassen?«
»Was sagt denn Swetlana dazu?«
»Swetlana ist ihre Mutter«, warf Olga sanft ein.»Ich glaube, sie hat nicht vergessen, dass die Kleine schon einmal entführt worden ist. Sie weiß, dass sie ihre Tochter nicht rund um die Uhr beaufsichtigen kann.«
»Sweta wird einverstanden sein, Anton«, meinte Semjon nickend.»Da brauchst du nicht erst zu einer Wahrsagerin zu gehen.«
»Und wie soll ich die Straßen sichern, Boris Ignatjewitsch?«, lamentierte Ilja.»Als Ihr Stellvertreter für den Streifendienst lege ich hiermit offiziell Beschwerde dagegen ein! Soll ich etwa die Anderen vierten und fünften Grades eigenverantwortlich auf die Straße schicken? Die Dunklen werden ihnen auf der Nase herumtanzen!«
»Das werden sie nicht.«Geser runzelte die Stirn.»Sebulon wird ebenfalls Andere zweiten und dritten Grades für den Schutz von Nadja Gorodezkaja abstellen.«
Ich fasste mir an den Kopf. Dafür beruhigte sich Ilja.»Dann müssen wir nur die Hälfte der Leibwächter stellen? In dem Fall…«
»Nein, nicht die Hälfte. Zwei kommen von uns, zwei von den Dunklen.«
»Geser!«, rief ich aus.
»Das dient der Sicherheit deiner Tochter«, entgegnete Geser scharf.»Genug jetzt! Das Thema ist beendet! Weiter im Text. Du, Ilja, wirst nach der Sitzung noch hierbleiben, damit wir beide uns darüber beraten können, wen wir alles als Leibwächter abstellen und wie wir sie ausstatten.«
Ich hüllte mich in Schweigen. Obwohl es in mir kochte.
»Bislang haben wir nur über unsere Verteidigung gesprochen«, fuhr Geser fort.»Die Schutzmaßnahmen der Wache gegen die Spionagetechnik… und gegen einen möglichen Angriff von angeheuerten Menschen soll Olga ausarbeiten. Zieh Tolik von den Computerleuten hinzu. Und Lass von den Fahndern.«
»Der ist doch ein schwacher Magier«, schnaubte Olga.
»Dafür denkt er originell«, sagte Geser.»Im Falle eines aggressiven Zusammenstoßes von Anderen und Menschen weißt du selbst bestens Bescheid. Erfahrung kann man dir nicht absprechen.«
Neugierig beobachtete ich Olga. Ihre Erfahrungen dürften in der Tat nicht uninteressant sein…
»Jetzt erwarte ich von euch allen Vorschläge«, fuhr Geser fort.»Wie wollen wir angreifen?«
»Wen denn?«, platzte ich heraus.»Wenn wir nur wussten, wer hinter dieser Sache steckt…«
»Angreifen heißt nicht unbedingt, sich in den Kampf zu stürzen«, brachte Olga oberlehrerhaft hervor.»Angreifen heißt auch, den Gegner durch bestimmte Handlungen zu überraschen und seine Pläne zu durchkreuzen.«
Geser nickte zustimmend.
»Dann bleibt uns nur eine Möglichkeit«, meinte ich.»Von der Suche nach den Verrätern abgesehen, natürlich… aber das übernimmt vermutlich schon die Inquisition, oder? Wir müssen selbst in die siebte Schicht vordringen. Oder, falls wir das nicht schaffen… eine Kraftkette bilden.«
»Sebulon hat einen Kraftkreis vorgeschlagen«, bestätigte Geser mit einem Nicken.»Doch selbst wenn wir all unsere Kraft für einen aufbringen oder die Dunklen sich gegenseitig leersaugen… selbst wenn ein Menschenopfer gebracht würde… wird das nicht gelingen. Die Barriere zwischen den Schichten des Zwielichts würde nur exponentiell an Solidität gewinnen. Diese Möglichkeit haben wir bereits durchgespielt.«
»Sogar eine Opferung?«, wunderte sich Semjon.
»Ja«, erwiderte Geser streng.
»Dieser Spruch… in der sechsten Schicht…«Ich sah Geser an.»Ich habe Ihnen doch davon erzählt, wissen Sie noch?«
»Trag ihn vor«, forderte mich Geser mit einem Nicken auf.
Der Kranz der Schöpfung liegt verborgen hier.
Ein Schritt nur bleibt.
Doch erben sollen ihn nur die Starken und die Klugen.
Alles erhältst du und nichts, bringst du ihn an dich.
So geh voran, wenn du stark bist wie ich;
Wenn du klug bist wie ich, weich zurück.
Anfang und Ende, Kopf und Schwanz, alles ist eins im
Kranz der Schöpfung.
So sind Leben und Tod nicht zu trennen.
Ich hatte den Text aus dem Gedächtnis rezitiert.
»Was sagt uns das?«, fragte Geser fast belustigt.
»Wenn du klug bist wie ich, weich zurück«, wiederholte ich.»Es muss noch einen Schleichweg in die siebte Schicht geben! Man muss die Barriere nicht unbedingt durchbrechen.«
»Richtig.«Geser nickte.»Ich wollte, dass du derjenige bist, der uns darauf hinweist.«
Mitleidig sah mich Semjon an. Ah ja, alles klar. Wir hielten es wie in der Armee: Wer den Vorschlag macht, führt ihn auch aus.
»Überschätzen Sie bloß meine geistigen Fähigkeiten nicht«, brummte ich.»Natürlich werde ich darüber nachdenken. Ich werde auch Swetlana bitten, sich mit dem Problem zu befassen. Aber noch ist mir keine Idee gekommen. Vielleicht sollte ich mal in den Archiven graben?«
»Das tun wir schon«, versprach Geser.»Denn es gibt tatsächlich noch einen Weg.«
»Und es ist mir bestimmt, ihn zu gehen«, brachte ich hervor.»Richtig?«
»Deine Tochter ist in Gefahr, Anton«, erwiderte Geser schlicht.
»Ich geb mich ja schon geschlagen.«Ich breitete die Arme aus.»Gut, ich bin bereit. Wohin? In den Krater eines Vulkans? Ins Eis der Arktis? In den Kosmos?«
»Im Kosmos haben wir, wie du weißt, nichts verloren.«Geser runzelte die Stirn.»Es besteht eine gewisse Hoffnung… keine sehr große… Vielleicht ahnt einer von Merlins Gefährten, was genau dieser im Sinn hatte.«
»Dann muss man einen Altersgenossen finden, der noch am Leben ist…«, setzte ich an.
»Ich bin ein Altersgenosse… mehr oder weniger«, bekannte Geser mit gelangweilter Stimme.»Aber leider kannte ich Merlin nicht. Weder als er ein Lichter, noch als er ein Dunkler war. Was guckt ihr mich so an? Ja, das gibt es. Manchmal. Bei Hohen. Das steht jetzt aber nicht zur Debatte… Ich hoffe, keiner von euch hat vor, die Seite zu wechseln?«
»Kommen Sie zur Sache, Boris Ignatjewitsch«, bat ich.
»Merlin war… soweit das überhaupt möglich ist… mit einem Anderen befreundet, den ich unter dem Namen Rustam kenne.«
Ich warf Semjon einen Blick zu. Der zuckte die Schultern. Olga blickte ebenfalls verdutzt drein.
»Er hatte viele Namen«, fuhr Geser fort.»Früher hat er auch mal in der Wache gearbeitet. Vor sehr, sehr langer Zeit. Damals waren wir Freunde. Häufig haben wir uns im Kampf geholfen… haben oft einander das Leben gerettet. Später wurden wir dann zu Feinden. Obwohl er ein Lichter war und blieb.«
Geser verstummte. Anscheinend erinnerte er sich nicht gern an diese Zeit.
»Er ist nach wie vor am Leben. Er hält sich irgendwo in Usbekistan auf. Wo genau, weiß ich nicht. Von der Kraft her kann er sich mit mir messen, außerdem ist er in der Lage, sich zu maskieren. In der Wache arbeitet er längst nicht mehr. Vermutlich führt er inzwischen das Leben eines normalen Menschen. Du musst ihn finden, Anton. Finden und überreden, uns zu helfen.«
»Hmm«, brummelte ich.»Usbekistan? Ein Kinderspiel! Ich soll da ja bloß erstens die Lage sondieren, zweitens einen untergetauchten Magier finden, der stärker ist als ich…«
»Ich habe nicht gesagt, dass es leicht wird«, räumte Geser ein.
»Drittens ihn überreden, uns zu helfen.«
»Das wiederum ist ziemlich leicht. Er hat mir nämlich sechsmal das Leben gerettet - und ich ihm siebenmal.«Geser schmunzelte.»Er schuldet mir also noch was. Selbst wenn er mich nach wie vor hasst. Wenn du ihn findest, wird er dir Antwort geben…«
Aus Gesers Stimme schwand die Sicherheit - und das spürten alle.
»Es ist also nicht mal sicher, dass er überhaupt etwas weiß!«, polterte ich.»Aber am Leben ist er noch?«
»Vor zehn Jahren hat er noch gelebt«, erklärte Geser.»Mein Helfer, mein Devona, hat ihn gesehen. Und seinem Sohn von ihm erzählt.«
»Großartig.«Ich nickte.»Einfach vortrefflich. Vermutlich soll ich mich wie gehabt ohne Waffen und ganz allein auf den Weg machen?«
»Nein. Du wirst bestens ausgerüstet reisen, mit einem dicken Geldbündel und einem Sack nützlicher Artefakte.«
Ich brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass der Chef nicht scherzte.
»Und nicht allein«, fügte Geser hinzu.»Alischer wird dich begleiten. Du weißt selbst, dass im Orient Kraft und Geld nicht das Wichtigste sind. Weitaus entscheidender ist, dass einer von ihren Leuten für dich bürgen kann.«
»Jetzt auch noch Alischer…«, seufzte Ilja.
»Entschuldige«, sagte Geser ohne eine Spur von Schuldbewusstsein in der Stimme.»Gehen wir davon aus, dass wir uns im Kriegszustand befinden. Vor allem, weil dem wirklich so ist.«
Nur selten komme ich am helllichten Tag nach Hause. Wenn ich auf Streife gehe, kehre ich erst gegen Morgen zurück. Und an einem normalen Arbeitstag kann ich mich vor sieben Uhr nicht von der Arbeit losreißen. Selbst meine Fähigkeit, Staus in den Straßen zu erahnen, hilft mir dann nicht - weil die Staus überall sind.
Und selbstverständlich weiß jede Frau auch ohne Magie, dass ihr Mann nicht ohne Grund früher von der Arbeit nach Hause kommt.
»Papka«, verkündete Nadja. Natürlich wartete sie an der Tür. Sie spürt meine Ankunft von dem Moment an, da ich auf das Haus zukomme - falls sie gerade durch irgendwelche wichtigen Kinderangelegenheiten abgelenkt ist. Wenn sie sich langweilt, weiß sie es vom Augenblick an, in dem ich das Büro verlasse.
Ich versuchte, meine Tochter auf den Arm zu nehmen. Ihr Interesse galt jedoch in erster Linie dem Fernseher, wo gerade Zeichentrickfilme liefen.- Aus dem Wohnzimmer klang quäkendes»La, la, lala, lala, lala, lala!«herüber. Die töchterliche Pflicht war bereits erfüllt, der von der Arbeit heimkehrende Papa begrüßt und in seinen Händen und Taschen nichts Interessantes entdeckt worden.
Deshalb entwand sich Nadja geschickt meinen Händen und lief wieder zum Fernseher.
Ich zog mir die Schuhe aus, warf die unterwegs gekaufte Zeitschrift Der Autopilot auf das Schuhschränkchen und ging ins Wohnzimmer, wobei ich nebenbei meiner Tochter das Haar zerzauste. Nadja fuchtelte mit den Armen, da ich ihr die Sicht auf den Bildschirm versperrte, auf dem gerade ein blauer Elch mit einem halben Geweih Ski fuhr.
Swetlana steckte den Kopf zur Küchentür heraus. Aufmerksam betrachtete sie mich. Machte»hm«und verschwand wieder.
Indem ich sämtliche Versuche, meine Vaterfunktion wahrzunehmen, auf bessere Zeiten verschob, folgte ich Swetlana in die Küche. Sie kochte gerade Suppe. Ich habe nie begreifen können, warum Frauen so viel Zeit am Herd verbringen. Was gibt es da bloß so lange zu tun? Man braucht doch bloß Fleisch oder ein Huhn ins Wasser zu werfen und die Platte anzustellen - danach kocht alles von selbst. Nach einer Stunde tut man Nudeln oder Kartoffeln dazu, etwas Gemüse - und schon ist das Essen fertig. Das Salzen sollte man natürlich nicht vergessen, das ist dann schon das Schwierigste.
»Packst du deinen Koffer selbst?«, fragte Swetlana, ohne sich umzudrehen.
»Hat Geser angerufen?«
»Nein.«
»Hast du in die Zukunft geschaut?«
»Ich habe dir doch versprochen, dass ich das nicht tue, ohne dich vorher zu fragen…«Einen Moment lang schwieg Swetlana, denn ich war inzwischen hinter sie getreten und küsste sie auf den Hals.»Oder im äußersten Notfall…«
»Was sollte dann die Frage nach dem Koffer?«
»Anton, wenn du mittags von der Arbeit nach Hause kommst, lege ich mich abends allein ins Bett. Entweder musst du auf Streife oder auf Geschäftsreise gehen. Aber Patrouillendienst hattest du erst vorgestern, die Lage in der Stadt ist ruhig…«
Im Wohnzimmer lachte Nadja auf. Ich linste durch die Tür: Der Ski fahrende Elch raste mit aus den Höhlen quellenden Augen auf eine Kette von kleinen und eindeutig jungen Tieren zu, die im Entengang an einem Abhang entlangwatschelten. Oh, oh, gleich würde es eine Bescherung geben…
»Sweta, bist du sicher, dass Nadja solche Filme gucken sollte?«
»Sie guckt schließlich auch Nachrichten«, antwortete Swetlana gelassen.»Und jetzt keine Ausflüchte mehr. Was ist passiert?«
»Ich fahre nach Samarkand.«
»Deine Geschäftsreisen stecken einen interessanten geografischen Rahmen ab.«Swetlana schöpfte mit einem Löffel etwas Suppe, pustete und probierte.»Zu wenig Salz… Was ist da los?«
»Nichts. Bisher jedenfalls nicht.«
»Die armen Usbeken. Wenn du kommst, passiert garantiert etwas.«
»Geser hat heute eine Besprechung einberufen. Er hat alle Hohen und Anderen ersten Grades zusammengetrommelt…«
In knappen Worten berichtete ich Swetlana alles, was wir diskutiert hatten. Zu meinem Erstaunen reagierte sie überhaupt nicht darauf - selbst dann nicht, als ich ihr sagte, Nadja solle von jetzt an unauffällig von zwei Lichten und zwei Dunklen Magiern bewacht werden. Besser gesagt: Sie reagierte genauso, wie Olga es prophezeit hatte.
»Auf Geser ist trotz allem Verlass«, bemerkte Swetlana.»Ich habe schon selbst daran gedacht, ihn anzurufen… und um Schutz zu bitten.«
»Du hältst es wirklich… für möglich?«
Swetlana sah mich an. Nickte.»Solange ich in der Nähe bin, geschieht Nadja nichts«, meinte sie.»Glaub mir, ich mache auch aus drei Hohen Hackfleisch. Aber man kann nie vorsichtig genug sein. Wann fliegst du?«
»In fünf Stunden. Von Scheremetjewo aus.«
»Semjon braucht eine Stunde, um dich hinzubringen. Du hast noch rund zwei Stunden. Iss etwas, dann packen wir. Wie lange bleibst du weg?«
»Keine Ahnung.«
»Und wie viel Unterwäsche und Socken soll ich dir dann einpacken?«, fragte Swetlana praktisch denkend zurück.»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du unterwegs etwas wäschst.«
»Ich kaufe was Neues und schmeiß das Alte weg. Geser hat versprochen, mir einen Haufen Geld mitzugeben.«
»Bleibt die Frage, was er für einen Haufen hält«, hielt Swetlana zweifelnd dagegen.»Ich packe dir fünf Mal Unterwäsche ein. Setz dich an den Tisch, ich tu dir Suppe auf.«
»Papa!«, rief Nadja aus dem Wohnzimmer.
»Was ist, meine Kleine?«, erwiderte ich.
»Papa, wird Onkel Afandi mir Perlen schenken?«
Swetlana und ich guckten einander an - und liefen rasch ins Wohnzimmer. Nach wie vor sah sich unsere Tochter Zeichentrickfilme an. Gerade hatte sich auf dem Bildschirm eine Gesellschaft bunter Tiere um ein Lagerfeuer versammelt.
»Was für ein Onkel, Nadenka?«
»Onkel Afandi«, antwortete Nadja, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen.
»Was für ein Afandi?«, wiederholte Sweta geduldig.
»Was für Perlen?«, hakte ich nach.
»Der Onkel, zu dem Papa fährt«, verkündete Nadja im Ton Was seid ihr Erwachsenen doch dumm! »Und die Perlen sind blau. Und schön.«
»Woher weißt du, zu wem Papa fährt?«, fuhr Swetlana mit dem Verhör fort.
»Ihr habt doch gerade darüber geredet«, meinte Nadja ungerührt.
»Wir haben nicht darüber geredet«, widersprach ich.»Wir haben darüber geredet, dass ich auf Geschäftsreise nach Usbekistan fahre. Das ist ein schönes Land im Orient, in dem Onkel Geser früher einmal gelebt hat. Erinnerst du dich noch an Onkel Geser? Aber einen Afandi haben wir nicht erwähnt.«
»Dann habe ich mich wohl verhört«, räumte Nadja ein.»Dann gibt es einen solchen Onkel eben nicht.«
Swetlana schüttelte den Kopf und sah mich tadelnd an. Ich breitete die Arme aus - ja, ich bekenne meine Schuld, ja, ich habe alles verdorben. Mama hätte bei der Befragung viel mehr erfahren.
»Aber die Perlen gibt es trotzdem«, meinte Nadja völlig zusammenhangslos.»Bringst du mir welche mit, ja?«
Sie weiter nach Onkel Afandi zu fragen hatte keinen Sinn. Nadja hatte mit drei, vielleicht sogar schon mit zwei Jahren zufällig entdeckt, dass sie in die Zukunft blicken konnte. Ihre Prophezeiungen erfolgten jedoch ganz unbewusst, und man musste sie nur fragen:»Woher weißt du das?«, dann kapselte sich das Mädchen sofort ein.
»Meine Schuld«, gab ich meiner Reue Ausdruck.»Entschuldige, Sweta.«
Wir gingen in die Küche zurück. Schweigend tat Swetlana Suppe auf, schnitt Brot und legte mir einen Löffel hin. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie spiele die Rolle einer gewöhnlichen Hausfrau bewusst ironisch. Dabei war das ihre Entscheidung gewesen. Geser wäre entzückt, wenn sie in die Wache zurückkehrte.
»Rustam hat viele Namen… Hat Geser sich nicht so ausgedrückt?«, fragte Swetlana nachdenklich.
»Hm«, brachte ich hervor, während ich die Suppe schlürfte.
»Vielleicht heißt er jetzt Afandi.«
»Möglich ist alles.«Ich wollte mich im Grunde nicht allzu sehr daran klammern, durfte in meiner gegenwärtigen Lage aber auch nicht den geringsten Hinweis außer Acht lassen.»Ich werde mich erkundigen.«
»Gut, dass Alischer mit dir fährt«, bemerkte Swetlana.»Über-lass ihm die Fragen. Im Orient muss man taktvoll sein.«
»Ein ganz neuer Aspekt…«, blaffte ich gallig.»Entschuldige, aber heute musste ich mir schon die ganze Zeit kluge Gedanken über den Orient anhören. Die Flüsse der Beredtsamkeit haben den See meiner Aufmerksamkeit bereits über die Ufer treten lassen, o Rahat-Lokum meines Herzens!«
»Bring mir auch Rahat und Lokum mit, Papa!«, ließ sich meine Tochter prompt vernehmen.
Mit Alischer hatte ich im Dienst nur selten zu tun. Er zog die Arbeit»auf freier Wildbahn«vor, ließ keine Patrouille aus und tauchte in der Regel erst morgens mit vor Übermüdung roten Augen im Büro auf. Irgendwo hatte ich aufgeschnappt, er habe eine Affäre mit einer Frau aus der Buchhaltung, einer Anderen siebten Grades. Insgesamt wusste ich jedoch kaum etwas über ihn. Er war ein von Natur aus verschlossener Junge, und ich fange nicht gern von mir aus eine Freundschaft an.
Zu Semjon hatte er offenbar ein besseres Verhältnis. Als ich nach unten kam und ins Auto stieg, erzählte Semjon gerade einen Witz zu Ende. Ich nahm neben ihm Platz, als er nach hinten blickte und mit dem dünnen Stimmchen eines verzogenen Mädchens sagte:»Gut, Papa, dann nehmen wir den Umweg. Und unterwegs besorgst du mir immerblühende Rosen!«
Alischer lachte los und streckte mir erst danach die Hand hin.»Hallo, Anton.«
»Hallo, Alischer.«Ich drückte ihm die Hand und gab ihm meine Tasche.»Leg das auf den Rücksitz, ich habe keine Lust, den Kofferraum aufzumachen.«
»Wie geht es Swetka? Ist sie nicht böse?«, fragte Semjon, während er anfuhr.
»Nein. Wie kommst du denn darauf? Sie hat mir viel Erfolg gewünscht, mir ein leckeres Essen gekocht und einen Haufen kluger Ratschläge gegeben.«
»Eine gute Frau - die macht sogar ihrem Mann Freude!«, meinte Semjon munter.
»Wieso bist du heute so aufgekratzt?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.»Hat Geser dich etwa auch nach Samarkand geschickt?«
»Da kannst du bei ihm lange drauf warten«, seufzte Semjon gespielt.»Hört mal, Jungs, was wollt ihr eigentlich in Samarkand? Die Hauptstadt dort ist Binkent, das weiß ich genau.«
»Taschkent«, korrigierte ich ihn.
»Nein, Binkent«, sagte Semjon.»Oder doch nicht? Ah, jetzt fällt’s mir wieder ein! Die Stadt hieß Schasch!«
»So alt bist du nicht, Semjon, dass du dich noch an Binkent erinnern würdest«, warf Alischer amüsiert von hinten ein.»Binkent, Schasch - das ist lange her. Daran erinnert sich nur Geser. Und wir fliegen nach Samarkand, weil der älteste Lichte, der für die Wache arbeitet, dort lebt. In Taschkent ist die Wache zwar größer, wie es sich für die Hauptstadt gehört, aber im Schnitt arbeiten dort nur junge Andere. Sogar der Chef ist jünger als du.«
»Ach du…«Semjon schüttelte den Kopf.»Schon erstaunlich. Im Orient - und nur junge Andere in der Wache?«
»Die Alten im Orient kämpfen nicht mehr gern. Die Alten gucken gern schönen Mädchen hinterher, essen Pilaw und spielen Nardi, eine Art Tricktrack«, erklärte Alischer ernst.
»Fährst du oft nach Hause?«, fragte Semjon.»Zu deinen Verwandten oder Freunden?«
»Seit acht Jahren bin ich jetzt nicht zu Hause gewesen.«
»Wie kommt das?«, wunderte sich Semjon.»Hast du denn gar keine Sehnsucht nach Hause?«
»Ich habe kein Zuhause mehr, Semjon. Und auch keine Verwandten. Nicht einmal Freunde hat der Sohn eines Devonas.«
Eine bedrückende Stille senkte sich herab. Schweigend lenkte Semjon den Wagen.
Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus.»Wenn diese Frage nicht zu persönlich ist, Alischer… War dein Vater ein Mensch? Oder ein Anderer?«
»Ein Devona ist ein Diener, den sich ein mächtiger Magier schafft.«Alischers Stimme klang so monoton, als halte er einen Vortrag.»Der Magier findet einen Verrückten ohne Familie, den niemand braucht, und flößt ihm Kraft aus dem Zwielicht ein. Er pumpt ihn mit reiner Energie auf… so entsteht ein dummer, aber ausgesprochen kräftiger und magiebegabter Mensch… Obwohl - ein Mensch ist er dann eigentlich nicht mehr. Aber auch kein Anderer, denn all seine Kraft ist geliehen, ist ihm von dem Magier gegeben worden. Ein Devona dient seinem Gebieter treu, kann Wunder wirken… aber mit seinem Kopf ist nach wie vor nicht alles in Ordnung. Normalerweise wählt ein Magier Debile oder Mongoloide, denn sie sind nicht aggressiv und sehr ergeben. Die in sie geleitete Kraft verleiht ihnen Gesundheit und ein langes Leben.«
Wir schwiegen. Diese Offenheit hatten wir von Alischer nicht erwartet.
»Das Volk glaubt, ein Devona sei von Geistern besessen. In gewisser Weise stimmt das sogar… Es ist, als nähme man ein entleertes Gefäß und fülle es erneut. Nur dass es statt mit Verstand mit Ergebenheit gefüllt wird. Aber Geser ist nicht wie alle. Nicht einmal wie alle Lichten. Er hat meinen Vater geheilt.
Nicht ganz - das vermochte selbst er nicht. Mein Vater besaß früher nicht den geringsten Funken Verstand. Ich glaube, er litt an Imbezillität, anscheinend aufgrund eines organischen Hirnschadens. Geser hat seinen Körper geheilt, und mit der Zeit hat sich mein Vater den Verstand eines normalen Menschen angeeignet. Er hat aber nie vergessen, dass er davor ein kompletter Idiot gewesen war. Er wusste auch, dass sein Körper den Verstand erneut vertreiben würde, falls Geser ihn nicht rechtzeitig mit frischer Kraft auftankte. Aber er hat Geser nicht aus Furcht gedient. Er hat immer gesagt, er würde für Geser schon allein deshalb sein Leben hingeben, weil er einmal er selbst sein durfte. Ein Mensch sein durfte. Und natürlich dafür, dass er, der Narr, eine Familie hatte und einen Sohn bekam. Er hat immer befürchtet, ich könnte zum Idioten heranwachsen. Doch das war nicht der Fall. Nur… nur dass sich das Volk bei uns an alles erinnert. Daran, dass mein Vater ein Devona war, dass er zu lange gelebt hat, dass er einst völlig dumm war und sich nicht einmal selbst die Nase putzen konnte - an alles erinnern sich die Leute. Meine Mutter wurde von ihren Verwandten verstoßen, als sie meinen Vater heiratete. Mich haben sie auch nicht akzeptiert. Den Kindern hat man verboten, mit mir zu spielen. Denn ich war der Sohn eines Devonas. Der Sohn eines Menschen, der das Leben eines Tiers leben sollte. Es gibt nichts, wohin ich zurückkehren könnte. Mein Zuhause ist jetzt hier. Meine Arbeit besteht darin, zu tun, was Geser mir befiehlt.«
»Was für eine Geschichte…«, meinte Semjon leise.»Hart geht es bei euch zu… hart. Ich weiß noch, wie wir die Basmatschen gejagt haben…«Er verstummte und sah Alischer entschuldigend an.»Es ist doch nicht schlimm, wenn ich sie so nenne?«
»Was sollte daran schlimm sein?«, antwortete Alischer mit einer Gegenfrage.
»Na ja, vielleicht heißen diese Konterrevolutionäre ja heute bei euch nicht Basmatschen, sondern werden als Volkshelden bezeichnet…«
»Als Geser Kommissar in Turkestan war, hat mein Vater in seiner Einheit gekämpft«, erklärte Alischer stolz.
»Was heißt das, gekämpft«, fragte Semjon aufgeregt.»In welchem Jahr war das?«
»Anfang der Zwanziger.«
»Nein, ich rede von einer späteren Zeit… In Garm, 1929, als die Basmatschen über die Grenze gestürmt kamen…«
Lebhaft diskutierten sie die Ereignisse längst vergangener Tage. Soweit ich es verstand, wären Alischers Vater und Semjon sich beinah über den Weg gelaufen, denn beide kämpften zusammen mit Geser, als der sich dem Militärdienst in der Roten Armee zugewandt hatte. Ehrlich gesagt, konnte ich mir nicht ganz vorstellen, was Geser da im Bürgerkrieg gemacht hatte. Ein Hoher Lichter kann schließlich nicht mit Fireballs auf Weißgardisten und Basmatschen schießen! Aber anscheinend standen nicht alle Anderen der Revolution gleichmütig gegenüber. Manch einer hat sich wohl doch einer der beiden Seiten zugeschlagen. Und im Kampf gegen Konterrevolutionäre durchkämmten der Große Geser und Genossen die asiatischen Steppen und Weiten.
Außerdem - so schoss es mir durch den Kopf - begann ich wohl zu ahnen, weshalb Geser und Rustam sich zerstritten hatten.
Genauso soll es sein: Man muss morgens in einer fremden Stadt ankommen. Im Zug, mit dem Flugzeug - egal. Um einen noch jungen, unschuldigen Tag zu begrüßen…
Im Flugzeug war Alischer wieder wortkarg und nachdenklich geworden. Ich selbst döste fast die ganze Zeit über, während Alischer schweigend zum Fenster hinausblickte, als fände sich dort, auf der fernen, in Nacht getauchten Erde etwas Interessantes. Als wir in den Morgen hineinflogen und das Flugzeug langsam tiefer ging, fragte er mich noch vor der Landung:»Du hast doch nichts dagegen, Anton, wenn wir uns vorübergehend trennen?«
Neugierig blickte ich den jungen Magier an. Gesers Instruktionen sahen dergleichen nicht vor. Von seinen Freunden und Verwandten - genauer von deren Nichtexistenz - hatte Alischer bereits ausführlich berichtet.
Freilich war nicht schwer zu erraten, was der junge Mann, der mit gut zwanzig seine Heimat verlassen hatte, beabsichtigte.
»Wie heißt sie denn?«, fragte ich.
»Adolat«, erwiderte er ohne herumzudrucksen.»Ich möchte sie gern sehen. Um zu erfahren, was aus ihr geworden ist.«
Ich nickte.»Bedeutet dieser Name etwas?«, erkundigte ich mich.
»Alle Namen bedeuten etwas. Hast du Geser etwa nicht gebeten, dich mit usbekischen Sprachkenntnissen auszustatten?«, wunderte sich Alischer.
»Er hat es mir nicht vorgeschlagen«, nuschelte ich. Aber warum hatte ich eigentlich nicht selbst daran gedacht? Und wie konnte Geser ein solcher Lapsus unterlaufen? Die großen Weltsprachen müssen wir Anderen alle lernen, wenn auch mithilfe von Magie. Seltene Sprachen kann ein stärkerer oder erfahrener Magier in deinem Gedächtnis abspeichern. Geser hätte es tun können. Alischer nicht…
»Also hat er geglaubt, du brauchtest das nicht«, meinte Alischer nachdenklich.»Interessant…«
Offenbar vermochte Alischer sich nicht vorzustellen, dass Geser einen Fehler gemacht hatte.
»Brauche ich denn Usbekischkenntnisse?«, wollte ich wissen.
»Kaum. Hier sprechen fast alle Russisch. Nur die ganz Jungen und Dummen lernen es nicht mehr… Außerdem würde man dich sowieso nicht für einen Usbeken halten.«Alischer lächelte.»Adolat - das heißt Gerechtigkeit. Ein schöner Name, nicht wahr?«
»Ja«, pflichtete ich ihm bei.
»Sie ist ein normaler Mensch«, brummelte Alischer.»Hat aber einen schönen Namen. Einen lichten. Wir sind zusammen zur Schule gegangen…«
Durch das Flugzeug ging ein Rütteln, denn gerade wurde das Fahrgestell ausgefahren.
»Sicher, besuch sie nur«, meinte ich.»Ich glaube, zum Büro der Wache finde ich schon.«
»Es geht aber nicht nur um das Mädchen.«Alischer lächelte.»Meiner Ansicht nach wäre es ohnehin besser, wenn du zunächst allein mit den Wächtern vor Ort sprichst. Du zeigst ihnen Gesers Brief, bittest sie um Rat… Ich komme dann in einer oder anderthalb Stunden nach.«
»Du verstehst dich mit den Kollegen wohl nicht besonders gut?«, fragte ich leise. Alischer antwortete nicht - was auch eine Antwort war.
Ich trat aus dem Flughafengebäude, das ohne Zweifel erst kürzlich umgebaut worden war und absolut modern wirkte. Mein Gepäck bestand lediglich aus einer Tasche mit meinen Sachen und einer kleinen Tüte aus dem Duty-free-Shop. Ich blieb stehen, sah mich um. Ein strahlend blauer Himmel und schon am frühen Morgen sengende Hitze… Der Flughafen war fast leer, unsere Maschine war die erste gewesen, die nächste wurde erst in einer Stunde erwartet. Sofort umzingelten mich private Fahrer, die mir ihre Dienste anboten.
»Fahren wir, mein Teurer!«
»Ich zeige dir alles, da bekommst du gleich eine kostenlose Stadtrundfahrt!«
»Wohin wollen wir denn?«
»Steig ein, ich habe ein gutes Auto, mit Klimaanlage!«
Kopfschüttelnd beobachtete ich unterdessen einen älteren usbekischen Taxifahrer, der gelassen neben einem alten Wolga wartete, auf den mit einer Schablone ein eckiges Taxi gemalt war.
»Bist du frei, Vater?«
»Der Mensch ist frei, solange er an seine Freiheit glaubt«, antwortete der Taxifahrer philosophisch. Er sprach sehr gut Russisch, ohne jeden Akzent.»Steig ein.«
Wie bemerkenswert. Kaum gelandet, war mir - wieso auch immer - ein»Vater«entschlüpft, das der angesprochene Taxifahrer sogleich mit einer der blumigen Weisheiten des Ostens quittierte.»Stammt das von einem der großen Weisen?«, wollte ich wissen.
»Das stammt von meinem Großvater. Er war erst Rotarmist. Dann Volksfeind. Dann Direktor eines Sowchos. O ja, er war ein Großer.«
»Hieß er vielleicht Rustam?«, fragte ich.
»Nein, Raschid.«
Wir fuhren vom Parkplatz, und ich hielt das Gesicht in den durch das kleine Fenster hereinströmenden Wind. Die Luft war warm und frisch und roch völlig anders als in Russland. Die Straße erwies sich als ordentlich, genügte sogar hauptstädtischen Ansprüchen. Eine Wand aus Bäumen zog sich an ihr entlang, spendete Schatten und gab einem das Gefühl, die Stadt bereits erreicht zu haben.
»Klimaanlagen…«, meinte der Taxifahrer nachdenklich.»Alle versprechen ihren Fahrgästen jetzt Kühlung. Kannten unsere Großväter und Urgroßväter etwa Klimaanlagen? Sie öffneten einfach das Fenster im Auto, und das reichte ihnen!«
Verständnislos sah ich den Fahrer an.
»Ich mache bloß einen Spaß«, erklärte er lächelnd.»Sind Sie aus Moskau?«
»Ja.«
»Und ganz ohne Gepäck… Aijaijai!«Er schnalzte mit der Zunge.»Sie werden es doch wohl nicht verloren haben?«
»Ich musste dringend auf Dienstreise. Da fehlte mir die Zeit zum Packen.«
»Dringend? In unserer Stadt gibt es nichts, was dringend wäre. Seit tausend Jahren, zweitausend, dreitausend gibt es diese Stadt schon. Sie hat es sich abgewöhnt, uns mit etwas Dringendem zu überraschen.«
Ich zuckte die Schultern. Das Auto fuhr in der Tat irgendwie gemächlich dahin, was mich jedoch nicht weiter ärgerte.
»Wo soll es denn hingehen? Wir haben das Hotel Samarkand, das Hotel…«
»Nein, danke. Ich bin nicht zum Schlafen hier. Ich muss zum Basar. Zum Siab-Basar in der Altstadt.«
»Das lob ich mir!«, zeigte sich der Fahrer begeistert.»Ein Mensch, der weiß, wo er hin will und wozu. Kaum aus dem Flugzeug und gleich zum Basar. Ohne Gepäck, ohne Frau, ohne Probleme - so muss man leben! Aber Geld für den Basar haben Sie dabei?«
»Hab ich«, meinte ich nickend.»Wo kämen wir denn da hin? Ohne Geld zum Basar? Was wird denn die Fahrt kosten? Und was nehmen Sie, Sum oder Rubel?«
»Von mir aus auch Dollar oder Euro«, antwortete der Fahrer sorglos.»Und geben Sie mir so viel, wie Sie entbehren können. Ich erkenne doch einen guten Menschen, wozu soll ich da feilschen? Ein guter Mensch wird sich schämen, einem armen Taxifahrer zu wenig zu bezahlen. Er wird von sich aus mehr geben, als ich mit gutem Gewissen verlangen würde.«
»Und Sie sind ein guter Psychologe«, meinte ich lachend.
»Ein guter?«, fragte der Fahrer nickend.»Ja… vermutlich. Ich habe in Moskau meine Dissertation verteidigt. Vor langer Zeit…«Er verstummte.»Aber Psychologen braucht man heute nicht unbedingt. Als Taxifahrer verdiene ich mehr.«
Er verfiel in Schweigen. Ich wusste ebenfalls nicht, was ich darauf sagen sollte. Doch wir fuhren bereits in die Stadt ein, bald würde mir der Fahrer aufzählen, was ich mir unbedingt in Samarkand ansehen müsste: Da seien die drei Medresen, die das architektonische Ensemble des Registans bildeten, die Bibi-Chanum-Moschee… All das läge übrigens in unmittelbarer Nähe von Samarkands schönstem Basar, dem Siab-Basar, dessen Ruhm, wie dem Fahrer jetzt klar geworden sei, Moskau längst erreicht habe. Den Basar müsse ich auch besuchen, und zwar gleich als Erstes. Es wäre einfach eine Sünde, nicht dort hinzugehen. Aber ich sei ja ein kluger Mensch und würde einen solchen Fehler sicher nicht machen…
Vermutlich wäre der Fahrer in höchstem Maße erschüttert gewesen, wenn er gesehen hätte, wie ich am Eingang zum Basar vorbeiging. Selbstverständlich hatte ich einen Besuch dort eingeplant. Dienst ist Dienst - aber ein paar Eindrücke musste man von unterwegs auch mitbringen!
Aber nicht jetzt!
Sobald ich mich aus der lärmenden Menge vor dem Basareingang herausgekämpft hatte, stapfte ich an einer Schar Japaner vorbei - sogar hierher verschlägt es sie jetzt schon! -, die pflichtgemäß mit winzigen Fotoapparaten und Videokameras behangen waren. Dann bog ich in eine Straße ein, die direkt an Bibi-Chanum vorbeiführte. Die Moschee beeindruckte mich in der Tat. Die Keramikverkleidung der großen Kuppel glänzte azurblau im Sonnenlicht. Das Eingangsportal war so riesig, dass es meiner Ansicht nach den Pariser Triumphbogen sogar noch in den Schatten stellte. Das Fehlen von Flachreliefs an den Wänden machte die aufwendige Verzierung der glasierten blauen Ziegel mehr als wett.
Mich erwartete zunächst jedoch ein Bezirk, der nicht im Geringsten pompös oder touristisch war.
In jeder Stadt gibt es Straßen, die unter einem unglücklichen Stern erbaut wurden. Sie müssen keinesfalls immer am Stadtrand liegen. Manchmal verlaufen sie an tristen Fabrikgebäuden vorbei, manchmal neben der Eisenbahn oder einer Autobahn, mitunter liegen sie in der Nähe eines Parks oder einer Schlucht, die die Stadtherren aus Versehen erhalten haben. Niemand wohnt gern in einer solchen Straße, man zieht aber auch nur selten weg - als halte einen ein überlanger Schlummer fest. Das Leben hier folgt nicht den sonstigen Regeln, nicht dem üblichen Tempo…
Ich kenne einen Bezirk in Moskau, wo entlang einer von Bäumen bewachsenen Schlucht eine Einbahnstraße verläuft. Es scheint einer dieser typischen Schlafbezirke zu sein - freilich wortwörtlich in Schlummer versunken. Eines Winterabends rief mich ein Fehlalarm dorthin: Eine Hexe braute für jemanden ihre Tränke, hatte jedoch eine Lizenz. Unser Dienstwagen setzte mich dort ab, ich musste noch ein Protokoll darüber aufnehmen, dass keine Seite Forderungen erhob. Als ich das Haus wieder verließ, versuchte ich zu trampen, denn ich wollte kein Taxi rufen und in der Wohnung der Hexe darauf warten. Obwohl es noch nicht sehr spät war, war es bereits stockfinster. Es schneite. Es waren kaum Menschen unterwegs, niemand schien diese Straße zu benutzen, wenn er aus der Metro kam. Selbst die Autos waren wie vom Erdboden verschluckt, und diejenigen, die doch mal vorbeifuhren, machten keine Anstalten anzuhalten. In der Nähe der Schlucht lag ein kleiner, von einem niedrigen Zaun gesäumter Vergnügungspark: ein Büdchen für den Kartenverkauf, zwei, drei Karussells, eine Eisenbahn für Kinder, deren Gleisring im Durchmesser rund zehn Meter maß. In dieser vollständigen Stille fuhr im sanft vom Himmel fallenden Schnee, vor dem Hintergrund der schwarzen verlassenen Schlucht, bimmelnd und mit bunten Lichtern blinkend eine winzige Dampflokomotive mit zwei Miniwaggons im Kreis herum. Vorn saß absolut reglos ein zugeschneiter Junge von etwa fünf Jahren mit einer großen Mütze mit Ohrenklappen, der eine Hand fest um eine Plastikschaufel geschlossen hatte. Vermutlich handelte es sich um den Sohn der Kartenverkäuferin, auf den zu Hause niemand aufpassen konnte… Im Grunde nichts Besonderes - aber auf mich wirkte die Szene so bedrückend, dass ich mich gezwungen sah, den Fahrer eines vorbeifahrenden Lastwagens auf magische Weise anzuhalten, damit er mich unverzüglich ins Stadtzentrum zurückbrachte.
In einem vergleichbaren Bezirk, wenn man die allgemeinen Unterschiede der Städte berücksichtigt, hatte das Büro der Nachtwache seinen Sitz. Eine Karte brauchte ich nicht, da ich auch so spürte, wohin ich gehen musste. Am Basar vorbei, vom Zentrum weg, etwa zehn Minuten Fußweg. Dabei gelangte ich quasi in eine neue Welt. Nein, nicht in die grelle Welt der orientalischen Märchen, sondern in eine durchschnittliche, wie man sie auch in den asiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, in der Türkei und den Ländern Südeuropas antrifft. Halb europäisch, halb asiatisch, vereinigte sie nicht gerade die besten Momente beider Teile in sich. Viel Grün - aber damit hatte es sich dann auch. Die ein- bis zweistöckigen Häuser waren staubig, schmutzig und baufällig. Wären sie weniger einheitlich, könnten sie sogar den Blick des Touristen erfreuen. Aber selbst das tun sie nicht, alles ist erbärmlich und gleichförmig: Wände, von denen der Putz abbröckelt, trübe Fenster, sperrangelweit aufstehende Haustüren, an im Hof gespannten Schnüren aufgehängte Unterwäsche. Aus den Tiefen meines Gedächtnisses tauchte die Fügung»Schilfbeton-Bauweise«auf. Trotz der schnöden bürokratischen Einfärbung beschrieb diese Bezeichnung die Gebäude äußerst treffend, die, als Übergangslösung gedacht, nun schon mindestens ein halbes Jahrhundert bewohnt wurden.
Das Büro der Nachtwache befand sich in einem großen, eingeschossigen Haus, das ebenfalls heruntergekommen wirkte, aber immerhin über einen bescheidenen Vorgarten samt Zaun verfügte. In einem solchen Haus, so schoss es mir durch den Kopf, könnte man sich gut einen kleinen Kindergarten mit lauter dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Rangen vorstellen.
Doch die hier untergebrachten Kinder waren schon seit langer Zeit erwachsen. Ich ging um einen am Zaun geparkten Peugeot herum, öffnete die Pforte, ging an Beeten vorbei, in denen vertrocknete Blüten um ihr Leben kämpften, und las erschaudernd eine an der Tür angebrachte alte Tafel von sowjetischbürokratischem Aussehen:
NACHTWACHE
Abteilung Samarkand
Öffnungszeiten: 20.00 - 8.00 Uhr
Im ersten Moment befürchtete ich, den Verstand verloren zu haben. Dann sah ich mir das Ding noch einmal durchs Zwielicht an. Kein Zweifel, die Aufschrift prangte dort tatsächlich, ausgeführt in gelben Buchstaben auf schwarzem Grund und von einer zersprungenen Glasscheibe bedeckt. Eine Ecke der Scheibe fehlte, und der letzte Buchstabe im Wort»Wache«war verblichen und verblasst.
Daneben wurde der Text noch einmal in Usbekisch wiederholt, weshalb ich erfuhr, dass»Nachtwache«übersetzt wie»Tungi Nasorat«klingt.
Ich stieß die Tür auf, die natürlich nicht abgeschlossen war, und fand mich sogleich in einem großen Saal wieder. Wie im Orient üblich gab es keinen Vorraum. Wozu hätte man in Samarkand allerdings auch eine Diele gebraucht - schließlich wurde es hier nicht kalt.
Die schlichte Einrichtung erinnerte ein wenig an eine kleine Milizabteilung, aber auch ein wenig an ein Büro aus Sowjetzeiten. Am Eingang gab es einen Garderobenständer und mehrere Schränke mit Papieren. An einem Bürotisch tranken drei junge Usbeken und eine füllige Russin mittleren Alters Tee. Auf dem Tisch brodelte ein großer elektrischer Samowar vor sich hin, der im bunten Chochloma-Stil bemalt war. Hast du Töne? Ein Samowar! So ein Ding hatte ich in Russland das letzte Mal auf dem Flohmarkt in Ismailowo gesehen, neben Matrjoschkas, Mützen mit Ohrenklappen und ähnlichem Kram für ausländische Touristen. Ein paar weitere Tische waren leer. Ein alter Computer mit einem ausladenden Bildschirm dröhnte auf einem der hinteren Tische… Den Ventilator hätte man schon längst mal auswechseln müssen.
»Assalom alaikum«, sagte ich, wobei ich mir wie ein kompletter Idiot vorkam, der versuchte, den Weisen zu mimen. Warum hatte Geser mir bloß kein Usbekisch beigebracht?
»Alaikum assalom«, entgegnete die Frau. Sie war dunkelhäutig und schwarzhaarig. Durch ihre Adern floss ohne Frage slawisches Blut, doch ihr Äußeres wies jene erstaunlichen Veränderungen auf, die eine Europäerin ohne jede Magie durchmacht, wenn sie nur lange und von Geburt an im Orient lebt. Sogar gekleidet war sie wie eine Usbekin, mit einem bodenlangen Gewand in kräftigen Farben. Neugierig sah die Frau mich an. Ich spürte eine gekonnte, jedoch schwache Berührung des Sondierungszaubers. Da ich keinen Versuch unternahm, mich abzuschirmen, gelangte sie problemlos an die gewünschten Informationen. Sofort veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie stand vom Tisch auf.»Kinder, wir haben einen hohen Gast…«, verkündete sie leise.
»Ich bin absolut inoffiziell hier!«Ich winkte mit beiden Händen ab.
Zu spät! Man begrüßte mich, stellte sich vor: Murat, sechster Grad, Timur, fünfter Grad, Nodir, vierter Grad. Meiner Ansicht nach entsprach ihr Aussehen ihrem tatsächlichen Alter, sie waren also zwischen zwanzig und dreißig Jahren. In der Wache von Samarkand gab es laut Geser fünf Andere… In Taschkent sollten die Mitarbeiter Alischer zufolge noch jünger sein. Was hieß das? Stellten die in Taschkent Schüler ein, oder was?
»Valentina Iljinitschna Firsenko, Andere. Vierter Grad.«
»Anton Gorodezki, Anderer, Hoher«, wiederholte ich noch einmal.
»Ich leite dieses Büro«, fuhr die Frau fort. Sie hatte mir als Letzte die Hand gegeben und trat eher so auf, als bekleide sie die unterste Position in der Wache. Dabei schätzte ich ihr Alter auf mindestens einhundertfünfzig Jahre, und auch ihre Kraft überstieg die der Männer.
Eine weitere orientalische Besonderheit?
Doch schon im nächsten Moment zerstreute sich aller Zweifel, wer hier das Sagen hatte.
»Deckt rasch den Tisch, Kinder«, kommandierte Valentina.»Murat, du nimmst das Auto und machst dich geschwind auf den Weg, um ein paar Kleinigkeiten für uns zu besorgen. Und fahr auch beim Basar vorbei.«
Mit diesen Worten händigte sie Murat die Schlüssel für einen alten riesigen Tresor aus, aus dem der Mann - inständig darum bemüht, dies unbemerkt zu tun - ein zerknittertes Bündel Geldscheine nahm.
»Das ist doch nicht nötig«, bat ich.»Ich bin wirklich inoffiziell hier und bleibe nicht lange. Ich hätte lediglich ein paar Fragen… Außerdem muss ich noch bei der Tagwache vorbeigehen.«
»Wozu?«, wollte die Frau wissen.
»An der Grenzkontrolle waren keine Anderen. Im Zwielicht hing eine Tafel, wonach sich Lichte bei der Einreise an die Tagwache, Dunkle an die Nachtwache wenden sollen.«
Ich war extrem gespannt, wie die Wächterin diese legendäre Schludrigkeit kommentieren würde. Doch Valentina Iljinitschna nickte nur.»Wir haben zu wenig Mitarbeiter, um einen Posten am Flughafen einzurichten. In Taschkent ist aber alles, wie es sein soll… Nodir, spring zu den Vampiren rüber und sag, dass der Hohe Lichte Gorodezki aus Moskau zu einem privaten Besuch in der Stadt weilt.«
»Ich bin zwar inoffiziell hier, aber nicht ganz privat…«, setzte ich an. Doch niemand achtete mehr auf mich. Nodir öffnete eine verborgene Tür in der Wand und trat ins Nachbarzimmer ein, wo ich zu meinem Erstaunen einen ebenso großen und halb leeren Raum gewahrte.
»Was heißt das, zu den Vampiren?«, fragte ich, von der völlig zusammenhangslosen Aufforderung irritiert.
»Och, da drüben ist das Büro der Tagwache. Vampire arbeiten bei denen gar nicht, aber wir ziehen sie auf diese Weise auf… gutnachbarlich…«Valentina Iljinitschna fing an zu lachen.
Schweigend folgte ich Nodir ins Nebenzimmer. Zwei Dunkle, ein junger und einer mittleren Alters, vierter und fünfter Grad, lächelten mich freundlich an.
»Assalom alaikum…«, murmelte ich, während ich den Raum durchquerte (in dem alles genauso aussah, sogar einen identischen Samowar gab es hier) und die zur Straße führende Tür öffnete, die parallel zu jener verlief, durch die ich gekommen war.
Draußen entdeckte ich einen ebensolchen Vorgarten, an der Mauer prangte ein Schild:
TAGWACHE
Abteilung Samarkand
Öffnungszeiten: 8.00 - 20.00 Uhr
Leise schloss ich hinter mir die Tür und kehrte in den Raum zurück. Nodir, der meine Reaktion geahnt haben dürfte, war bereits weg.
»Sobald Sie Ihre Angelegenheiten erledigt haben, kommen Sie doch auch zu uns, Verehrter«, meinte einer der beiden Dunklen freundlich.»Wir haben nur selten Gäste aus Moskau.«
»Ja, kommen Sie, kommen Sie!«, unterstützte ihn der zweite.
»Später… Vielen Dank für die Einladung«, brummte ich. Wieder im Büro der Nachtwache zog ich die Tür hinter mir zu.
Sie hatte noch nicht mal ein Schloss!
Die Lichten guckten etwas betreten drein.
»Die Nachtwache«, presste ich hervor.»Bei den Kräften des Lichts…«
»Wir sind alle ein wenig zusammengerückt. Gewerberäume sind teuer, die Miete…«Valentina Iljinitschna breitete die Arme aus.»Schon vor zehn Jahren haben wir in dem Haus die beiden Büros eingerichtet.«
Ich führte einige Passes aus, worauf die Wand, die das Büro der Lichten von dem der Dunklen trennte, einen Moment lang in blaues Licht getaucht wurde. Die Dunklen in Samarkand dürften kaum über einen Magier verfügen, der imstande wäre, einen von einem Hohen gewirkten Zauber aufzuheben.
»Sie übertreiben, Anton«, tadelte mich Valentina Iljinitschna.»Sie werden uns nicht belauschen. So etwas tun wir hier nicht.«
»Sie sollen schließlich die Kräfte des Dunkels beobachten«, rief ich.»Sie kontrollieren!«
»Wir kontrollieren sie doch auch«, besänftige mich Timur.»Wenn sie gleich nebenan sind, können wir sie sogar noch leichter kontrollieren. Müssten wir die ganze Stadt durchkämmen, brauchten wir fünfmal mehr Personal.«
»Und die Schilder? Was ist mit den Schildern? Nachtwache? Tagwache? Die Menschen können die ja lesen!«
»Sollen sie sie ruhig lesen«, entgegnete Nodir.»Gibt es denn in der Stadt nicht genug solcher Büros? Wer sich verstecken will und kein Schild aufhängt, macht sich dagegen sofort verdächtig. Entweder hat er dann die Miliz im Haus oder Schutzgelderpresser. So wissen jedoch gleich alle: eine staatliche Organisation, von der kann man nichts holen, sollen sie also ruhig ihre Arbeit machen…«
Ich fasste mich wieder. Schließlich war das hier nicht Russland. Die Wache von Samarkand unterstand nicht unserer Jurisdiktion. In Belgorod oder Omsk dürfte ich Anordnungen erteilen und Forderungen stellen. Den Samarkander Wächtern hatte ich indes nichts zu sagen - selbst wenn ich ein Hoher war.
»Ich verstehe das ja. Aber in Moskau wäre dergleichen undenkbar… Tür an Tür mit den Dunklen zu sitzen!«
»Sollen sie da ruhig sitzen, was ist schon dabei?«, meinte Valentina Iljinitschna versöhnlich.»Sie sitzen da und Schluss. Ihre Arbeit ist ja auch kein Zuckerschlecken. Sicher, im Zweifelsfall halten wir uns an die Prinzipien. Wisst ihr noch, Kinder, wie vor drei Jahren die jodugar Aliya-apa, diese Hexe, den alten Nasgul mit einem Schadenszauber belegt hat?«
Die Kinder nickten. Die Kinderchen waren jetzt ganz bei der Sache, bereit, in Erinnerungen an diese ruhmreiche Geschichte zu schwelgen.
»Wen hat sie damit belegt?«, platzte ich heraus.
Alle schmunzelten.
»Das ist ein Name. Nasgul. Das sind nicht die Nazgûls aus dem amerikanischen Film«, erklärte Nodir mit einem Lächeln, das seine strahlend weißen Zähne aufblitzen ließ.»Es gibt da einen Menschen. Gab, denn er ist letztes Jahr gestorben. Er hat sich lange gequält. Seine Frau war noch ganz jung. Sie hat eine Hexe gebeten, den Mann umzubringen. Wir haben von dem Schadzauber Kenntnis erlangt, die Hexe verhaftet, die Frau gerügt - alles ganz vorschriftsgemäß. Den Schadzauber hat Valentina Iljinitschna aufgehoben, was ihr sehr gut gelungen ist. Obwohl der Alte ein gemeiner, ganz schlechter Mensch war. Böse und gierig, ein Schürzenjäger, wenn auch ein alter. Alle waren froh, als er gestorben ist. Aber den Schadzauber haben wir ordnungsgemäß aufgehoben!«
Nach kurzem Nachdenken setzte ich mich auf einen knarrenden Wiener Stuhl. Letzten Endes hätte mir wohl auch die Kenntnis des Usbekischen kaum geholfen. Es ging nämlich nicht um die Sprache, sondern um die Mentalität.
Dieser kluge Gedanke beruhigte mich ein wenig. In dem Moment fing ich den Blick Valentina Iljinitschnas auf, einen guten, aber nachsichtig-mitleidigen Blick.
»Trotzdem geht es so nicht«, sagte ich.»Natürlich will ich euch keine Vorschriften machen, das ist eure Stadt, hier seid ihr für die Ordnung verantwortlich… Aber so etwas habe ich noch nie erlebt.«
»Das liegt daran, dass Sie in der Nähe Europas leben«, erklärte Nodir. Im Falle Usbekistans kam er offensichtlich nicht einmal auf die Idee, es zu Europa zu zählen.»Bei uns ist so was ganz normal. Wenn Frieden herrscht, kann man auch Tür an Tür leben.«
»Hm.«Ich hüllte mich in Schweigen.»Vielen Dank für die Erklärung.«
»Setzen Sie sich doch an den Tisch«, forderte Valentina Iljinitschna mich freundlich auf.»Warum hocken Sie da wie ein Fremder in der Ecke?«
Eigentlich saß ich nicht unbedingt in der Ecke. In der Ecke deckte Timur nämlich gerade den Tisch. Auf einem strahlenden Tischtuch, mit dem zwei Bürotische kurzerhand in einen gemeinsamen, großen verwandelt wurden, standen bereits Teller mit Obst: leuchtend rote und saftig grüne Äpfel, schwarze, grüne, gelbe und rote Weintrauben, riesige Granatäpfel, dazu noch eine sehr appetitlich aussehende Hausmacherwurst, in Scheiben geschnittenes Fleisch und heiße, mit Magie aufgebackene Fladenbrote. Mir fiel ein, wie Geser einmal in einem jener seltenen Momente der Nostalgie die Fladenbrote aus Samarkand gepriesen hatte, wie lecker sie seien und dass sie eine ganze Woche lang nicht hart würden, man brauchte sie bloß warm machen und dann… dann könnte man mit dem Essen gar nicht mehr aufhören… Damals hielt ich seine Worte für die typischen Erinnerungen eines Alten aus der Kategorie: Früher waren die Bäume größer, und die Wurst schmeckte besser. Inzwischen lief mir allerdings schon das Wasser im Mund zusammen, und mir kam der Verdacht, dass Geser nicht allzu stark übertrieben hatte.
Außerdem standen auf dem Tisch noch zwei Flaschen Kognak. Einheimischer - was mich sofort das Schlimmste befürchten ließ.
»Urteilen Sie nicht nach diesem kargen Tisch«, meinte Nodir ungerührt.»Gleich kommt unser Jüngster vom Basar zurück, dann können wir uns an einen richtigen Tisch setzen. Solange müssen wir uns mit diesen Häppchen begnügen.«
Einem reichhaltigen Festmahl mit tüchtig Alkohol - das wurde mir nun klar - würde ich also nicht entkommen. Allmählich argwöhnte ich zudem, dass nicht nur das verständliche Interesse am Schicksal seiner Schulfreundin Alischer von einem unverzüglichen Antrittsbesuch bei den Wächtern abgehalten hatte. Seit vielen Jahren dürfte hier kein Moskauer Gast aus der Führungsebene zu Besuch gewesen sein. Und Moskau blieb nun einmal für Samarkand ein höchst wichtiges Zentrum.
»Die Sache ist die, dass ich auf Gesers Bitte hin…«, setzte ich an.
Und entnahm ihren Gesichtern, dass ich fortan nicht nur hohes Ansehen genoss, sondern mein Status in schier undenkbare Höhen geschnellt war. Hinauf in den Kosmos, zu dem Andere keinen Zugang haben.
»Geser hat mich gebeten, einen Freund zu suchen«, fuhr ich fort.»Er lebt irgendwo in Usbekistan…«
Daraufhin senkte sich bedrückende Stille herab.
»Geht es um den Devona, Anton?«, fragte Valentina Iljinitschna.»Der ist nämlich nach Moskau gefahren… 1998. Und dort gestorben. Wir haben angenommen, Geser wisse darüber Bescheid.«
»Nein, nein, ich meine nicht den Devona!«, widersprach ich.»Geser hat mich gebeten, Rustam zu suchen.«
Die jungen Usbeken guckten einander an.
»Rustam…«Valentina Iljinitschna runzelte die Stirn.»Irgendwas habe ich über ihn gehört…«, meinte sie zögerlich.»Doch das ist… eine sehr alte Geschichte. Eine uralte. Die ist Jahrtausende alt, Anton.«
»Er arbeitet nicht in der Wache«, bestätigte ich.»Und natürlich ist das nicht sein richtiger Name. Meiner Ansicht hat er seinen Namen schon mehr als einmal gewechselt. Ich weiß nur, dass er ein Hoher Lichter Magier ist.«
Nodir strich sich die störrischen schwarzen Haare glatt.»Das ist sehr schwierig, Anton-aka«, stellte er klar.»Bei uns in Usbekistan gibt es einen Hohen Magier. Er arbeitet in Taschkent. Aber er ist noch jung. Wenn ein alter und starker Magier untertauchen möchte, dann schafft er das auch. Deshalb braucht man nicht nur einen starken Anderen, um ihn zu finden. Man braucht einen weisen. Geser selbst musste ihn suchen. Ketschi-rassis, Anton-aka, tut mir leid. Wir können dir nicht helfen.«
»Wir könnten Afandi fragen«, meinte Valentina Iljinitschna nachdenklich.»Er ist ein schwacher Magier und etwas… etwas begriffsstutzig. Aber er hat ein gutes Gedächtnis und lebt schon mehr als dreihundert Jahre auf dieser Welt…«
»Afandi?«, hakte ich nach.
»Das ist unser fünfter Mitarbeiter.«Valentina Iljinitschna geriet kurz in Verlegenheit.»Na ja, siebter Grad, das sagt wohl alles. Er… ist eher ein Hausmeister. Aber vielleicht kann er trotzdem helfen?«
»Ich bin mir dessen fast sicher.«Mich an Nadjuschkas Worte erinnernd, nickte ich.»Wo ist er denn?«
»Er müsste gleich da sein.«
Nun gab es kein Entkommen mehr. Mit einem Nicken trat ich an den»kargen«Tisch heran.
Eine halbe Stunde später traf Murat ein, bepackt mit zwei prallen Taschen, aus denen ein Teil des Inhalts sofort auf den Tisch wanderte. Den Rest trug Murat in die kleine Küche, die an den Hauptraum der Wache anschloss. Meine kulinarischen Kenntnisse reichten immerhin aus, um zu erkennen, dass jetzt Pilaw vorbereitet wurde.
Unterdessen tranken wir Kognak - der sich als unerwartet gut herausstellte - und aßen Obst. Valentina Iljinitschna überließ das Gespräch Nodir. Höflich hörte ich mir die Geschichte der usbekischen Wachen von den alten mythischen Zeiten bis zu Tamerlan und von Tamerlan bis in unsere Tage an. Zu behaupten, die Lichten hätten stets friedlich mit den Dunklen zusammengelebt, seien mit ihnen ein Herz und eine Seele gewesen, wäre gelogen. Es gab genug finstere, blutige und schreckliche Ereignisse. Insgesamt gewann ich den Eindruck, die Wachen in Usbekistan führten ihren Kampf nach mir völlig unbekannten Regeln. Menschen mochten einander bekämpfen und ermorden, während die Wachen höfliche Neutralität bewahren. Dafür schlugen die Lichten und Dunklen in der Ära Chruschtschows und den ersten Jahren der Regierungszeit Breschnews mit unvorstellbarer Grausamkeit aufeinander ein. In ebendieser Zeit starben drei Hohe Magier, zwei aus der Tag- und einer aus der Nachtwache. Zudem dünnte der Krieg die Reihen der Anderen ersten und zweiten Grades aus.
Dann beruhigte sich die Situation wieder, als habe die Stagnation der achtziger Jahre auch die Anderen erfasst. Seit dieser Zeit erschöpften sich die Beziehungen zwischen Dunklen und Lichten in einem kraftlosen Geplänkel, das eher auf der Ebene von Sticheleien und Frechheiten ausgetragen wurde, als echte Antipathien nach sich zog.
»Alischer hat das nicht gepasst«, bemerkte Timur.»Ist er immer noch in Moskau?«
Ich nickte, erfreut über den willkommenen Themenwechsel.
»Ja. Er arbeitet jetzt in unserer Wache.«
»Wie geht es ihm?«, erkundigte sich Nodir freundlich.»Wir haben gehört, er habe den vierten Grad erlangt.«
»Praktisch den dritten«, berichtete ich.»Aber das kann er euch selbst erzählen. Er ist mit mir zusammen eingetroffen, wollte jedoch zuerst noch alte Bekannte aufsuchen.«
Diese Neuigkeit nahmen die Wächter keinesfalls voller Freude auf. Sowohl Timur wie auch Nodir blickten zwar nicht bekümmert, aber doch verlegen drein. Valentina Iljinitschna schüttelte den Kopf.
»Anscheinend habe ich euch eine unangenehme Überraschung bereitet?«, wollte ich wissen. Die gemeinsam geleerte Flasche ließ mich ganz offen sprechen.»Könnt ihr mir erklären, was es damit auf sich hat? Warum habt ihr etwas gegen Alischer? Weil sein Vater ein Devona war?«
Die Wächter wechselten beredte Blicke.
»Es hat nichts damit zu tun, was sein Vater war«, ergriff Valentina Iljinitschna das Wort.»Alischer ist ein guter Junge. Aber er ist… sehr rigide.«
»Wirklich?«
»Vielleicht hat er sich in Moskau ja verändert«, warf Timur ein.»Aber Alischer wollte immer kämpfen. Er ist in der falschen Zeit geboren.«
Das ließ ich mir durch den Kopf gehen. O ja, bei uns in der Wache zog Alischer immer die Arbeit in den Straßen vor. Patrouillen, Auseinandersetzungen, Verhaftungen - bei allem war er dabei…
»Also… bei uns ist das irgendwie natürlicher«, meinte ich.»Moskau ist eine große Stadt, das Leben dort aggressiver. Aber Alischer sehnt sich ungeheuer nach seiner Heimat.«
»Wir freuen uns ja auch auf ihn, keine Frage!«, versicherte Valentina Iljinitschna.»Es ist so viel Zeit vergangen, seit wir Alischer das letzte Mal gesehen haben. Stimmt es nicht, Jungs?«
Die Jungs pflichteten ihr mit aufgesetztem Enthusiasmus bei. Sogar Murat rief aus der Küche herüber, er habe Alischer sehr vermisst.
»Kommt Afandi bald?«, fragte ich, um das unangenehme Thema zu beenden.
»In der Tat«, meinte Valentina Iljinitschna nervös.»Es ist schon kurz nach zwei…«
»Der ist längst da«, ließ sich Murat erneut aus der Küche vernehmen.»Er kehrt den Hof mit einem Besen, vom Fenster aus kann ich ihn sehen. Vermutlich hat er geglaubt, wir würden ihn bitten, den Pilaw zu kochen…«
Nodir eilte zur Tür.»Afandi!«, rief er.»Was machst du da?«
»Ich fege den Hof«, gab der fünfte Mitarbeiter der Samarkander Wache würdevoll Auskunft. Seiner Stimme nach zu urteilen, war er nicht nur vor dreihundert Jahren geboren worden, sondern auch sein Körper nicht mehr jung.
Nodir drehte sich zu uns zurück und breitete entschuldigend die Arme aus.»Afandi, komm rein!«, rief er dann noch einmal.»Wir haben Besuch.«
»Ich weiß, dass wir Besuch haben. Deshalb fege ich ja!«
»Unser Gast ist aber schon im Haus, Afandi! Weshalb fegst du dann jetzt die Straße?«
»Ach, Nodir! Bring du mir nicht bei, wie man Gäste empfängt! Wenn der Gast noch unterwegs ist, dann räumt man das Haus auf. Aber wenn der Gast bereits im Haus ist, dann muss man die Straße säubern!«
»Wie du meinst, Afandi!«, bemerkte Nodir lachend.»Du weißt das natürlich besser. Wir essen dann inzwischen schon mal die Trauben und trinken Kognak.«
»Halt ein, Nodir!«, rief Afandi alarmiert.»Es wäre eine Respektlosigkeit gegenüber einem Gast, nicht mit ihm zu Tisch zu sitzen und zu essen!«
Schon im nächsten Moment stand Afandi in der Tür. Ein echtes Bild für Götter! Er trug Turnschuhe mit offenen Schnürsenkeln, die blauen Jeans zierte ein sowjetischer Soldatengürtel, das weiße Nylonhemd wartete mit durcheinandergewürfelten Knöpfen auf. Nylon ist ein strapazierfähiges Material. Das Hemd wirkte, als sei es mindestens zwanzig, wenn nicht dreißig Jahre alt. Bei Afandi selbst handelte es sich um einen glatt rasierten - wobei die Zeitungsschnipsel auf seinem Kinn darauf schließen ließen, dass ihn das einige Mühe gekostet hatte - Glatzkopf von etwa sechzig Jahren. Nachdem er den Tisch mit einem billigenden Blick bedacht hatte, lehnte Afandi den langen Besen gegen den Türrahmen und sprang munter auf mich zu.
»Guten Tag, Verehrter! Möge deine Kraft brodeln wie das Ungestüm eines Jünglings, der eine Frau entkleidet! Mögest du den zweiten, ja gar den ersten Grad erreichen!«
»Afandi, unser Gast ist ein Hoher Magier«, bemerkte Valentina Iljinitschna.»Weshalb wünschst du ihm den zweiten Grad?«
»Schweig stille, Frau!«, herrschte Afandi sie an, während er meine Hand freigab und sich an den Tisch setzte.»Entgeht dir etwa, wie geschwind mein Wunsch erfüllt, ja sogar übererfüllt worden ist?«
Die Wächter lachten. Übrigens ohne jeden Spott. Afandi, dessen Aura ich rasch scannte - der Alte stand auf der untersten Kraftstufe -, war der Spaßvogel in der Wache von Samarkand. Ein lieber Spaßvogel freilich, dem man jede Dummheit verzieh und auf den man nichts kommen ließ.
»Vielen Dank für die guten Worte, Vater«, sagte ich.»Und in der Tat, deine Wünsche werden rasch wahr.«
Der Alte nickte und warf sich genussvoll einen halben Pfirsich in den Mund. Seine Zähne waren hervorragend. Wenn er auch sonst nicht auf sein Äußeres achtete - diesem wichtigen Organ ließ er die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden.
»Hier arbeiten nur Grünschnäbel«, brummte er.»Ich bin mir sicher, sie verstehen es nicht einmal, dich gebührend zu empfangen. Wie heißt du, guter Mensch?«
»Anton.«
»Mich nenn Afandi. Das heißt Weiser.«Der Alte bedachte die Wächter mit einem gestrengen Blick.»Wenn meine Weisheit nicht wäre, dann hätten die Kräfte des Dunkels - mögen sie sich in Krämpfen winden und in der Hölle schmoren - ihnen schon längst die kleinen süßen Hirnlein herausgesaugt und die große sehnige Leber von jedem Einzelnen verspeist.«
Nodir und Timur lachten schallend.
»Warum meine Leber sehnig ist, weiß ich«, meinte Nodir, während er erneut Kognak eingoss.»Aber warum ist mein Hirn süß?«
»Weil Weisheit bitter, Dummheit und Unkenntnis jedoch süß sind!«, erklärte Afandi, der dem Pfirsich einen Kognak hinterherkippte.»Heh! Heh, du dummer Junge, was tust du denn da!«
»Was ist?«Timur wollte nach seinem Kognak gerade ein paar Weintrauben essen und sah Afandi jetzt fragend an.
»Man darf auf Kognak keine Weintrauben essen!«
»Warum nicht?«
»Das wäre ja, als würdest du das Zicklein in der Milch seiner Mutter kochen!«
»Afandi, nur die Juden kochen ein Zicklein nicht in Milch!«
»Und du machst das?«
»Nein«, antwortete Timur verwirrt.»Warum sollte ich es in Milch…«
»Siehst du! Und deshalb iss zu Kognak keine Weintrauben!«
»Ich kenne Sie jetzt erst seit drei Minuten, Afandi, doch habe ich in dieser Zeit bereits so viel von Ihrer Weisheit kosten können, dass ich einen Monat benötigen werde, sie zu verdauen.«Ich mischte mich in das Gespräch, um die Aufmerksamkeit des Alten auf mich zu lenken.»Der weise Geser hat mich nach Samarkand geschickt. Er hat mich gebeten, seinen alten Freund zu suchen, der sich einst Rustam nannte. Kennen Sie diesen Rustam vielleicht?«
»Natürlich kenne ich ihn.«Afandi nickte.»Aber wer ist dieser Geser?«
»Afandi!«Valentina Iljinitschna schlug die Hände über dem Kopf zusammen.»Du willst doch nicht behaupten, noch nie etwas vom Großen Geser gehört zu haben!«
»Geser…«, wiederholte der Alte gedankenversunken.
»Geser, Geser… Ist das nicht dieser Lichte Magier, der sich in Binkent als Latrinenentleerer verdingt hat?«
»Afandi! Wie kannst du den Großen Geser mit irgendeinem Grubenräumer verwechseln!«Valentina Iljinitschna war schockiert.
»Ach ja, Gäsär!«Afandi nickte.»Ja, ja, ja! Der Old-schibai, der Bezwinger seines Onkels Soton, des Menschenfressers Lubsan und des Königs Gurkar. Wer kennt den alten Gäsär nicht?«
»Und wer kennt den alten Rustam?«, mischte ich mich abermals ein, bevor Afandi sich ganz der Aufzählung der ruhmreichen Taten Gesers überließ.
»Ich«, behauptete Afandi bitter.
»Übertreib jetzt bitte nicht, Afandi«, verlangte Timur.»Unser Gast muss Rustam sehr dringend treffen.«
»Das wird schwierig.«Unvermittelt hatte Afandi seine ganze Albernheit eingebüßt.»Rustam hat die Menschen verlassen. Vor zehn Jahren hat man ihn in Samarkand gesehen. Doch seit dieser Zeit hat niemand mit Rustam gesprochen, niemand…«
»Woher wissen Sie etwas von Rustam, Afandi?«Die Frage konnte ich mir nicht verkneifen. Wenn meine Tochter ihn nicht erwähnt hätte, wäre ich nämlich überzeugt, der aufschneiderische Alte mache mir schlicht etwas vor.
»Das ist schon lange her.«Afandi seufzte.»In Samarkand lebte ein Alter, ein rechter Tor, ganz wie diese Grünschnäbel hier. Er streifte durch die Stadt und weinte, denn er hatte nichts zu essen. Mit einem Mal trat ihm ein Batyr, ein großer Held, entgegen, dessen Augen leuchteten und dessen Stirn hoch und weise war. Er sah den Alten an und sprach: ›Großväterchen, was bedrückt dein Herz? Weißt du womöglich nicht, welche verborgene Kraft in dir steckt? Du bist ein Boschkatscha! Ein Anderer!‹ Der Batyr berührte den Alten mit der Hand, worauf dieser Kraft und Weisheit erlangte. Dann sagte er: ›Vernimm, dass der Große Rustam dein Lehrer war.‹ Diese Geschichte hat sich vor zweihundertundfünfzig Jahren zugetragen!«
Diese Schilderung schien die Wächter nicht weniger zu verblüffen als mich. Murat erstarrte in der Küchentür, Timur verschüttete den Kognak, den er gerade einschenken wollte.
»Dich hat Rustam initiiert, Afandi?«, fragte Valentina Iljinitschna.
»Ich habe alles erzählt, einem Weisen ist das genug«, antwortete Afandi, während er von Timur ein Glas entgegennahm.»Einem Toren freilich kannst du es hundert Mal erzählen, er wird nichts begreifen.«
»Warum hast du diese Geschichte nicht schon früher erzählt?«, wollte Timur wissen.
»Weil es keinen Anlass gab.«
»Afandi, ein Schüler kann seinen Lehrer immer rufen«, sagte ich.
»Dem ist so«, bestätigte Afandi bedeutungsvoll.
»Ich muss Rustam treffen.«
Afandi seufzte und sah mich durchtrieben an.»Aber muss Rustam auch dich treffen?«
Wie mir dieses ganze gespreizte orientalische Gehabe zum Hals raushing! Sie würden doch nicht auch untereinander, im Alltag, so reden? Frau, hast du mir ein paar Fladenbrote aufgebacken? - Oh, mein Mann, ersetzen meine Liebkosungen dir denn nicht die Fladenbrote?
Gleich, das wusste ich, würde ich dieses Gerede nicht länger aushalten und lospoltern - was sich für einen Gast, der mit solcher Freundlichkeit empfangen worden war, wahrlich nicht ziemte. Zum Glück klopfte es in diesem Moment leise an der Tür, und Alischer trat ein.
Sein Gesichtsausdruck gefiel mir überhaupt nicht. Mich hätte es nicht gewundert, wenn Alischer bedrückt gewirkt hätte. Schließlich hätte er entdecken können, dass seine Jugendliebe geheiratet und fünf Kinder bekommen hatte, dick geworden war und sich nicht mehr an ihn erinnerte. All das hätte ihm Grund genug gegeben, traurig zu sein.
Aber Alischer beunruhigte ganz offenbar etwas.
»Hallo«, begrüßte er seine ehemaligen Kollegen, als habe er sich erst gestern Abend von ihnen verabschiedet.»Wir haben ein Problem.«
»Wo?«, fragte ich.
»Direkt vor der Haustür.«
Nach der Geschichte in Edinburgh hätte ich mit dergleichen rechnen sollen.
Stattdessen hatte ich mich entspannt. Die Straßen voller Grün und das Schimmern des Wassers in den Bewässerungskanälen, den Aryks, der laute orientalische Basar und die strengen Kuppeln der Moschee, die Dunklen nebenan und die überfürsorgliche Gastfreundschaft der Lichten - all das ließ sich mit der Situation in Schottland überhaupt nicht vergleichen. All das erweckte den Anschein, meine einzige Schwierigkeit bestünde darin, einen alten Magier zu finden, nicht darin, mich mit den finsteren Machenschaften der Menschen auseinanderzusetzen.
Das Haus wurde von rund hundert Menschen umzingelt. Unter ihnen machte ich Milizionäre, einige ordentlich ausgerüstete Kämpfer einer lokalen Sondereinheit sowie ein paar magere pickelige Jüngelchen aus, die linkisch ihre Maschinengewehre umklammert hielten. Die unterschiedlichsten Kräfte waren für unsere Festnahme zusammengetrommelt worden. Eben alles, was zur Verfügung stand.
Was natürlich absolut lächerlich war. Selbst Alischer könnte ohne meine Hilfe hundert, ja sogar zweihundert Angreifer einer Gehirnwäsche unterziehen.
Wären da nicht die Schutzzauber, die leider jeden Menschen aus der Kette gegen solchen Versuch feiten.
Jeder Andere vermag sich gegen magische Manipulationen abzuschirmen und Dritte entsprechend zu schützen. Man muss nicht einmal einen besonders hohen Grad haben, um über hundert Menschen mit einem Schutzzauber zu belegen. Jede Magie, die auf einer Manipulation des menschlichen Bewusstseins beruht, ist im Prinzip einfach und bedarf keiner großen Kräfte. Grob gesagt: Magie, die sich den Verstand unterwirft, lässt sich mit einem Messer vergleichen, nicht mit einer Panzerfaust. Gegen sie ist kein Brustharnisch nötig, sondern eine leichte kugelsichere Weste aus Kevlar. Wenn ich mit reiner Kraft in Form eines Fireballs, der Weißen Lanze oder der Flammenwand zuschlagen würde, könnte ich ohne weiteres den ganzen Stadtteil niederbrennen. Um sich dagegen zu schützen, brauchte man genauso starke Amulette und Zauber. Um sich jedoch die Angreifer gefügig zu machen und sie auseinanderzujagen, müsste von jedem Einzelnen erst der Schutz genommen werden. Und diese Aufgabe wäre keinesfalls banal. Es gibt ein Dutzend Arten mentaler Schilde, und welcher von ihnen hier benutzt wurde, wusste ich nicht. Vermutlich - zumindest hätte ich es so gehandhabt - setzte sich jeder individuelle Schild aus zwei, drei zufällig gewählten Zaubern zusammen. Ein Soldat könnte beispielsweise mit dem Schild des Magiers und der Kugel der Ruhe ausgestattet sein. Ein zweiter mit der Negationskugel, der Eisrinde und der Willensbarriere.
Versuche mal einer, jeden Einzelnen zu knacken! Und dann noch auf die Entfernung!
»Sie sind mir gefolgt«, erklärte Alischer, während ich am Fenster stand, geschützt durch meine eigene Negationskugel, und die das Haus umzingelnden Raufbolde eingehend betrachtete.»Keine Ahnung, wie, aber das fing schon am Flughafen an. Die ganze Zeit hatte ich den Eindruck, beschattet zu werden, habe aber niemanden bemerkt. Aber dann, als… als ich von meinen Bekannten weggegangen bin… haben sie versucht, mich festzusetzen. Zwei Dutzend Menschen. Kein einziger Anderer! Ich habe versucht, mich vor ihnen zu verbergen - aber sie haben mich gesehen!«
Mich sahen sie auch. Nicht alle, aber einige Soldaten bemerkten mich ganz offenkundig, trotz der Magie. Folglich musste man ihnen außer Schutzzaubern auch noch Suchzauber angehängt haben. Den Blick des Herzens, den Klaren Blick, die Wahre Sicht - das entsprechende magische Repertoire ist breit gefächert. In Tausenden von fahren hatten Lichte und Dunkle sich reichlich Möglichkeiten ausdenken können, um einander zu täuschen.
Und jetzt richtete sich das eben gegen uns.
»Wie bist du entkommen?«, wollte ich wissen, während ich vom Fenster zurücktrat.
»Durchs Zwielicht. Bloß…«Alischer zögerte.»Dort haben sie bereits auf mich gewartet. In der zweiten Schicht hat jemand Wache gestanden… ich bin sofort wieder rausgesprungen.«
»Wer hat da Wache gestanden? Ein Lichter oder ein Dunkler?«
Alischer schluckte.»Ich glaube, das war ein Deva«, meinte er mit schiefem Lächeln.
»Quatsch.«Ich unterdrückte den Wunsch zu fluchen.»Devas gibt es nicht.«
»In Moskau nicht, aber hier bei uns schon«, versicherte Timur voller Überzeugung. Er fing meinen Blick zu jener Tür auf, die zu den Dunklen führte.»Anton, glauben Sie mir, sie stecken nicht dahinter! Die haben gar keinen Grund, Sie zu überfallen. Und erst recht keinen, auch noch Menschen hinzuzuziehen! Die Inquisition würde ihnen den Kopf abreißen!«
Ich nickte. Die Samarkander Tagwache hatte ich nicht einmal ansatzweise in Verdacht.
»Setzen Sie sich mit Taschkent in Verbindung, mit der Leitung«, befahl ich.»Sollen die diese Leute aufhalten!«
»Wie das?«, fragte Timur verständnislos.
»Indem Sie es wie die Menschen machen! Indem Sie die Minister für Verteidigung und Inneres anrufen! Und sehen Sie zu, dass sie auch bei der Inquisition anrufen!«
»Was soll ich denen sagen?«, fragte Valentina Iljinitschna, die gerade ihr altes Handy herauskramte.
»Sagen Sie, dass hier eine kritische Situation eingetreten ist. Eine Verletzung des Großen Vertrags höchsten Grades. Weitergabe von Informationen über die Anderen an die Menschen, Einbeziehung von Menschen in eine Auseinandersetzung zwischen den Wachen, gesetzwidriger Einsatz von Magie, gesetzwidrige Verbreitung von Magie, Verletzung des Abkommens über die Abtretung von Kompetenzen… kurz und gut: eine Verletzung der Punkte eins, sechs, acht, elf und vierzehn der allgemeinen Anlage zum Großen Vertrag. Ich denke, das dürfte reichen.«
Valentina Iljinitschna telefonierte bereits. Abermals blickte ich zum Fenster hinaus. Hinter dem Zaun hockend, warteten die Soldaten. Schweigend blickten die Läufe der Maschinengewehre aufs Haus. Woraus bestanden diese Mauern? Falls sie wirklich aus gepresstem Schilf waren, schlüge jede Kugel glatt durch…
»Ach, wie schön du das gesagt hast!«, brachte Afandi unvermutet hervor. Nach wie vor saß er am Tisch und aß mit Appetit etwas Wurst. Sein Glas war voll, die Flasche Kognak auf dem Tisch leer.»Eine Verletzung der allgemeinen Anlage! Das versteht jeder, ja, wahrlich ein jeder! Gib deine Befehle, Chef!«
Ich drehte mich von Afandi weg. Echt toll! Derjenige, auf dem all meine Hoffnung ruhte, war dumm wie der Devona, bevor er Geser kennengelernt hatte.
»Leute, wir müssen verschwinden«, sagte ich.»Entschuldigt, dass es so gekommen ist.«
»Können Sie sie vertreiben, Anton?«, fragte Nodir mit zarter Hoffnung.
»Sie zu töten wäre einfach. Zu vertreiben nicht.«
Jemand hämmerte an die Tür zum Büro der Dunklen. Timur ging hin, fragte etwas und öffnete. Die beiden diensthabenden Dunklen kamen hereingestürmt. Ihren verzweifelten Gesichtern nach zu urteilen hatten sie die Umzingelung gerade erst bemerkt und verlangten jetzt nach einer Erklärung.
»Was brockst du uns da ein, Lichter?«, jammerte der Ranghöhere.»Weshalb hast du all diese Menschen hergeholt?«
»Pst.«Ich hob den Arm.»Ruhe jetzt!«
Er hatte genug Verstand, kein weiteres Wort zu sagen.
»Die gegebene Situation fällt unter Punkt 1 der Anlage zum Großen Vertrag«, verkündete ich. Afandi grunzte aus vollem Hals. Unwillkürlich schielte ich zu ihm hinüber, doch der Alte hatte nur sein volles Glas Kognak hinuntergestürzt und hechelte jetzt, wobei er sich die Hand vor den Mund presste. Ich fuhr fort:»Die Menschen wurden höchst wahrscheinlich über unsere Existenz informiert. In dieser Situation habe ich gemäß dem Prager Abkommen das Recht, als stärkster Magier den Oberbefehl über alle anwesenden Anderen zu übernehmen. Über alle Anwesenden!«
Der rangniedere Dunkle sah seinen höheren Kollegen an. Der runzelte die Stirn, nickte dann aber.»Befehlen Sie, Hoher«, sagte er.
»Vollständige Evakuation der Wachen«, ordnete ich an.»Alle Unterlagen und magischen Artefakte müssen vernichtet werden. An die Arbeit!«
»Wie sollen wir verschwinden?«, fragte der junge Dunkle.»Stellen wir einen Schild auf?«
»Ich fürchte, sie haben magisch manipulierte Kugeln«, antwortete ich mit einem Kopfschütteln.»Wir können nur durchs Zwielicht verschwinden.«
»Oh, Afandi war bereits im Zwielicht!«, rief der Alte laut aus.»Afandi kann ins Zwielicht eintreten!«
»Afandi, du kommst mit mir und Alischer mit«, befahl ich.»Die übrigen…«
Alischer warf mir einen besorgten Blick zu.»Der Deva…«, flüsterte er lautlos.
»Die übrigen geben uns Deckung«, fuhr ich fort.
»Wie kommen wir denn dazu!«, empörte sich der junge Dunkle trotz allem.»Wir…«
Ich fuchtelte mit der Hand - und der Dunkle krümmte sich, heulte vor Schmerz auf und hielt sich den Bauch.
»Weil ich es so befohlen hatte«, erklärte ich, während ich ihn von seinen Schmerzen erlöste.»Weil ich ein Hoher bin, und du nur ein Anderer fünften Grades. Verstanden?«
»Ja.«Bemerkenswerterweise schwang in seiner Stimme nicht einmal mehr Empörung mit. Er hatte versucht, sein Recht durchzuboxen, war bestraft worden und erkannte mich nun als Stärkeren an. Später würde er natürlich einen Packen Beschwerden an die Inquisition schreiben. Aber im Moment würde er gehorchen.
Inzwischen hatten die Wächter angefangen, das Büro zu zerstören. Der höhere Dunkle arbeitete allein, schien aber alles unter Kontrolle zu haben. Die Zerstörungszauber waren von vornherein in den Tresor integriert (aus dem Schloss stieg dicker Rauch auf) und in alle Unterlagen eingearbeitet (die Papiere auf dem Tisch wölbten sich, vergilbten und zerfielen zu Staub). Die Lichten brannten alles eigenhändig ab. Und zwar begeistert: Vor meinen Augen jagte Timur einen perfide angeschnittenen Fireball in den Safe, der glatt durch das Metall schoss und im Innern explodierte.
»Irgendwie verhalten die sich ziemlich ruhig«, stellte Alischer fest, als er aus dem Fenster spähte.»Gleich werden sie den Rauch sehen…«
Sie hatten ihn bereits gesehen. Eine durch ein Megafon verstärkte Stimme befahl mit starkem Akzent:»Terroristen! Legen Sie die Waffen nieder und kommen Sie einzeln aus dem Gebäude! Sie sind umzingelt! Wenn Sie Widerstand leisten, werden wir stürmen!«
»Der spinnt doch…«, stieß Valentina Iljinitschna empört aus.»Uns Terroristen zu nennen!«
Gleich darauf sprang Alischer vom Fenster weg. Geräuschvoll zersplitterte das Glas. Auf den Boden fiel ein kleiner Metallzylinder, der sich um die eigene Achse drehte.
»Weg hier!«, schrie ich, ins Zwielicht eintauchend. Nach der Samarkander Hitze empfand ich die Kälte der ersten Schicht als regelrecht angenehm.
Im selben Moment leuchtete der graue Dunst grell auf. Wie blendend es in der Menschenwelt lodern musste, stellte ich mir gar nicht erst vor. Jenes das Trommelfell zerfetzende Heulen hörte ich im Zwielicht zum Glück nicht.
Niemals hätte ich gedacht, dass die Blendgranaten der Spezialeinheiten so verheerende Folgen für Andere hatten. Allein Valentina Iljinitschna hatte es noch geschafft, mit mir zusammen ins Zwielicht einzutauchen - und sah jetzt wie eine junge schlanke Frau von höchstens dreißig Jahren aus.
Die übrigen Wächter irrten hilflos durchs Zimmer: Hier rieb sich einer die Augen, da hielt sich einer die Ohren zu. Eine Blendgranate macht einen für zehn, zwanzig Sekunden blind. Ins Zwielicht würden diese Anderen momentan nicht eintauchen können.
»Hilf den Jungs!«, schrie ich Valentina zu. Und stürzte zur Tür. Riss sie ein - nicht in der Menschenwelt, sondern im Zwielicht - und schaute in den Hof.
Klar! Man stürmte bereits. Planlos, aber massiert rannte ein Dutzend Angehöriger der Spezialeinheit zum Eingang, während die Soldaten hinterm Zaun auf die Fenster ballerten. Der
Angriff erfolgte ohne jede Abstimmung - wie immer, wenn es einem klugen Kopf in den Sinn kommt, eine gemeinsame Einheit aus Milizionären, Armeeangehörigen und Mitgliedern der Spezialeinheiten zu bilden. Ich sah, wie einer von den Leuten der Spezialeinheit die Arme ausbreitete und fiel: Eine Kugel hatte ihn im Rücken getroffen. Vermutlich würde er mit blauen Flecken davonkommen, denn die Stürmenden trugen kugelsichere Westen.
Dass einige Schützen hartnäckig auf mich schossen, gab mir zu denken. Entweder ging das auf den Klaren Blick oder die Wahre Sicht zurück. Das musste ich sehr, sehr ernst nehmen. Und die Kugeln waren in der Tat nach allen Regeln der Kunst mit Zaubern belegt: Nicht nur, dass sie in der realen Welt und der ersten Schicht des Zwielichts zugleich existierten, sie waren darüber hinaus mit tödlicher Magie vollgepumpt!
Ich duckte mich. Zum Glück liefen meine Feinde nicht in der Schnellspur, sodass mir der Vorteil der Geschwindigkeit blieb. Ich fuchtelte mit der Hand, gestattete der Kraft, aus meinen Fingerspitzen herauszufließen. Ein Flammenregen ergoss sich auf den Boden, und vor den Angreifern entstand eine Mauer aus rauchendem Feuer. Was ist, Jungs? Seid ihr bereit, durchs Feuer zu gehen?
Sie waren nicht dazu bereit. Sie stoppten - einer hatte allerdings zu viel Schwung und landete mit dem Gesicht im Feuer, aus dem er heulend heraussprang -, wichen zurück und hoben ihre Maschinenpistolen.
Natürlich wartete ich nicht, bis sie schossen. Ich stürzte wieder ins Haus, wobei ich unterwegs mit einem Fireball das zweifelhafte Schild der Nachtwache in Schlacke verwandelte. In meinem Blut brodelte das Adrenalin.
Krieg? Gut! Spielen wir Krieg!
Die Tür belegte ich mit dem Zauber des Absoluten Riegels. Eigentlich handelte es sich dabei um zwei Zauber, doch der zweite brachte bei unbelebten Objekten rein gar nichts. Die ganze Wand kriegte einen leichten magischen Schild, mit dem sie dem MPi-Beschuss fünf Minuten würde standhalten können. Natürlich würden die Angreifer bemerken, dass etwas nicht stimmte. Aber uns blieb keine Möglichkeit mehr, völlig unbemerkt zu verschwinden.
Ins Zwielicht traten nacheinander die beiden Dunklen. Sie hatten mit dem Rücken zur explodierenden Granate gestanden. Der Höhere wollte sofort etwas durchs Fenster werfen, doch ich packte ihn beim Arm.
»Was hast du da?«
Lächelnd bleckte er seine langen schiefen Zähne. Was sollte man dazu sagen?! Immerhin war er doch ein Dunkler, wenn auch ein gewöhnlicher, schwacher Dunkler - und dann so ein Gebiss!
»Sie werden sich in die Hosen machen. Ein bisschen.«
»Los«, gestattete ich.»Aber nicht hier, deck deine Seite!«
Dann trat Timur ins Zwielicht, ihm folgte Alischer, der Murat hinter sich herzog. Nur Nodir rieb sich die Augen und wusste nicht, wie ihm geschah, weil er stärker als die Übrigen erblindet war.
»Lass uns Afandi holen. Alischer!«, schrie ich.
Wir traten an den Alten heran, der nach wie vor am Tisch saß und nur daran interessiert war, sich direkt aus einer unangebrochenen Kognakflasche einen hinter die Binde zu kippen.
»Bei zwei«, sagte ich.»Eins, zwei…«
Wir sprangen aus dem Zwielicht heraus, packten Afandi unter den Armen und hoben ihn vom Stuhl. Mit der freien Hand gelang es mir noch, mir die Tasche mit meinen Sachen zu schnappen und mir den Riemen über die Schulter zu schieben. In unseren Ohren dröhnten die MPi-Salven, prasselten die vom Schild abprallenden Kugeln, vor den Fenstern züngelte eine glutrote Flamme. Mit einer geschickten Bewegung schaffte es der Alte, einen weiteren Schluck zu trinken - und zwar genau in dem Moment, als wir ihn ins Zwielicht zogen.
»Heh!«, rief er enttäuscht. Denn die Flasche war in der normalen Welt geblieben, Afandis Hand schloss sich jetzt ums Nichts.»Heh, das Stöffchen verdirbt doch!«
»Großväterchen, wir sollten uns jetzt nicht um Lebensmittel kümmern«, beschwichtige ihn Alischer mit unvorstellbarer Geduld.»Feinde haben uns angegriffen, wir müssen fliehen!«
»Den Feinden werden wir nicht weichen!«, rief Afandi munter.»In den Kampf!«
Schließlich kam auch Nodir ins Zwielicht. Ich betrachtete mein improvisiertes Heer: vier schwache Lichte, zwei schwache Dunkle, der auf den Moskauer Straßen erprobte Alischer und als Ballast Afandi. Hm… es hätte schlimmer kommen können. Selbst wenn sich irgendwo in der Nähe diese Hohen versteckten, die in Schottland gewesen waren, könnten wir ihnen einen ordentlichen Kampf liefern.
»Weg hier!«, befahl ich.»Alischer, du kümmerst dich um Afandi! Valentina, Timur - ihr geht zuerst! Alle sollen den Schild des Magiers aufstellen!«
Wir verschwanden direkt durch die Wand. In der zweiten Zwielicht-Schicht hätten wir sie nicht mehr zu entdecken vermocht. In der ersten existierte sie jedoch noch und widersetzte sich sogar der Bewegung. Doch mit Anlauf kann man in dieser Schicht fast jeden materiellen Gegenstand durchbrechen.
Es gelang uns auch. Nur Afandi blieb mit dem Bein hängen und zappelte lange damit in der Wand herum, bis er unter Zurücklassung eines Turnschuhs dann doch durchkam. Der Schuh würde jetzt in der ersten ZwielichtSchicht hängen und langsam, im Laufe mehrerer Monate, vermodern. Einige besonders sensible Menschen würden ihn aus den Augenwinkeln heraus sogar bemerken… Natürlich nur, falls das Gebäude nach dem Sturm überhaupt noch stehen würde.
Auf der Seite, auf der wir herauskamen, war die Umzingelung schwächer. Fünf MPi-Schützen starrten auf die Brandmauer, ganz offensichtlich ohne zu wissen, warum sie hier postiert waren. Zwei waren allerdings mit Zaubern behangen und entdeckten uns. Keine Ahnung, wie wir jetzt aussahen: wie normale Menschen, die durch eine Mauer springen, oder wie gespenstische Schatten. In jedem Fall spiegelte sich auf den Gesichtern der Schützen keine Freude wider, sondern nur Angst und die Bereitschaft zu schießen. Valentina verstand ihr Geschäft wirklich: Ihr Zauber beschwor keinen sichtbaren Effekt herauf, doch die tadellose Kalaschnikow in den Händen des Soldaten verweigerte mit einem Mal den Gehorsam. Timur schoss einen Fireball durchs Zwielicht, mit dem er den Lauf des Gewehrs abfackelte.
Vergebens!
Gewiss, diese beiden konnten nicht mehr auf uns schießen. Doch ihre Genossen, die uns selbst nicht ausmachen konnten, bemerkten die aus dem Nichts auftauchende Feuerkugel und ballerten daraufhin los. Vielleicht aus übergroßer Angst, vielleicht, weil man es ihnen so beigebracht hatte.
Zunächst glaubte ich, Timur hätte keinen Schild aufgestellt. Eine Salve ging glatt durch ihn hindurch. Ich sah, wie ihm eine Kugel nach der nächsten den Rücken zerfetzte. Er fiel auf den Rücken - und erst in diesem Moment sah ich, dass er doch einen Schild trug. Einen schwachen, nur vorn. Aber immerhin.
Die mit einem Zauber belegten Kugeln drangen durch den magischen Panzer. Dieselbe Arbeit wie in Edinburgh!
»Tim!«, schrie Nodir und beugte sich über seinen Freund.»Tim!«
Das rettete ihn - die ziellos herumballernden Schützen sandten einige Salven über seinen Kopf hinweg.
Daraufhin schlug sofort Murat los, ohne dass ich es hätte verhindern können.
Sie verfügten über keine große Auswahl an Zaubern. Provinzmagier, die an keine Kämpfe mehr gewöhnt und von Natur aus nicht sehr stark sind. Sie waren einfach nicht auf eine solche Konfrontation vorbereitet. Auf einen Kampf gegen Menschen, die Andere umbrachten.
Murat setzte eine mir unbekannte Variante des Weißen Schwerts ein. Theoretisch sollte dieser Zauber nur Dunkle und Menschen, die sich vorbehaltlos dem Bösen verschrieben hatten, töten. Praktisch musste man freilich ein Mönch sein, der seine Tage mit Gebeten und in Demut zubrachte, damit der erbarmungslose Hieb einem keinen Schaden zufügte. Sobald ein Mensch aggressiv wurde oder Furcht empfand, konnte die Schneide aus reinem Licht ihn verletzen.
Und diese usbekischen Kerlchen in Soldatenuniform verströmten Aggression und Furcht im Übermaß…
Vier Soldaten säbelte der weiße Keil um wie eine scharfe Sense Weizenähren. Mitten durch. Mit Blutfontänen und sonstigen Widerlichkeiten. Der fünfte Soldat warf sein Gewehr weg und ergriff mit einem wahnsinnigen Schrei die Flucht. Selbst aus dem Zwielicht heraus wirkten seine Bewegungen schnell. Er musste förmlich losgeschossen sein!
Ich umrundete den erstarrten Murat. Der weiße Keil in seiner Hand schmolz bereits. Er blickte sehr ruhig, gleichsam verschlafen drein. Ich sah dem Magier in die Augen und fand die Antwort auf meine Frage.
Schluss. Er war schon im Begriff, von uns zu gehen.
Ich hockte mich neben Nodir hin und schüttelte ihn an der Schulter.»Gehen wir.«
Er drehte sich zu mir um.»Sie haben Timur umgebracht«, meinte er in höchstem Maße erstaunt.»Erschossen!«
»Das sehe ich. Komm jetzt!«
»Nein!«, widersprach Nodir kopfschüttelnd.»Wir können ihn nicht hierlassen…«
»Das können wir sehr wohl! Die Feinde werden den Körper nicht in die Finger kriegen, denn er wird sich im Zwielicht auflösen. Dorthin müssen wir alle früher oder später gehen. Steh jetzt auf.«
Abermals schüttelte er den Kopf.
»Steh auf. Das Licht braucht dich.«
Nodir stöhnte, erhob sich aber. In dem Moment blieben seine Augen an Murat hängen. Nodir warf den Kopf hin und her, als wolle er die überreichlich auf ihn einschlagenden Eindrücke verscheuchen. Er stürzte auf Murat zu und versuchte, ihn am Arm zu packen.
Seine Finger erwischten nur Luft. Murat zerschmolz, dematerialisierte sich im Zwielicht. Weitaus schneller, als sich der tote Körper von Timur auflöste. Ein Lichter muss über reiche Lebenserfahrung verfügen, um von der Statthaftigkeit eines Mordes an vier Menschen überzeugt zu sein. Ich könnte mich vermutlich damit abfinden. Murat hatte es nicht vermocht.
»Gehen wir!«Ich verpasste Nodir eine Ohrfeige.»Gehen wir!«
Schließlich schaffte er es, sich zusammenzureißen. Mit schleppenden Schritten folgte er mir, riss sich los vom Büro, das immer noch gestürmt wurde, von seinen zwei Freunden, dem toten und dem sterbenden. Vor uns ging Valentina, neben ihr die beiden Dunklen. Alischer zog den wieder nüchternen und ruhigen Afandi hinter sich her. Nodir und ich bildeten den Schluss des Zugs.
Hinter uns knallten erneut Schüsse los. Die Schreie des entkommenen Soldaten hatten die Aufmerksamkeit auf uns gelenkt. Ich errichtete eine weitere Feuerwand. Außerdem konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, in den alten, vorm Zaun geparkten Peugeot einen kleinen Fireball zu schießen. Das Auto ging in muntere Flammen auf und brachte in die asiatische Landschaft einen Hauch französischen Charmes.
In dem entstehenden Chaos war es leicht zu entkommen. Außerdem klafften im Zwielicht im Zaun des Vorgartens Löcher, während das Nachbarhaus gänzlich fehlte. Wir rannten die menschenleere Straße bis zur nächsten Kreuzung hinauf, wo wir in eine ebenso schmale Gasse einbogen, die zum Basar führte. Letztendlich führte hier jede Straße zum Basar… Nodir schluchzte oder fluchte. Afandi spähte die ganze Zeit umher und verfolgte verwundert den vor dem leeren Haus tobenden Kampf. Anscheinend fielen die Angreifer in dem Tohuwabohu schon übereinander her.
Die Dunklen hielten sich besser. Valentina Iljinitschna ging in der Mitte, die beiden Dunklen schützten effektiv die Flanken. Ich kam zu dem Schluss, dass wir die Verfolger abgeschüttelt hatten - ein für einen Hohen Magier unverzeihlicher Fehler. Oder zumindest ein fast unverzeihlicher.
Letztendlich hatte ich nie wirklich an die Existenz von Devas geglaubt.
In der europäischen Tradition gibt es Golems. Wesen, geschaffen aus Lehm, Holz oder sogar aus Metall. Die hölzernen Golems werden in Russland heute liebevoll Burattino oder Pinocchio genannt, obwohl die letzte funktionierende Holzpuppe bereits im 18. Jahrhundert vermodert ist. Wie die Zeitgenossen sie nannten, weiß ich nicht. Im Unterricht haben wir gelernt, Burattino herzustellen, was ebenso amüsant wie lehrreich war. Die zum Leben erweckte Holzpuppe lief umher, erledigte simple Arbeiten, sprach sogar - und zerfiel nach ein paar Minuten zu Staub. Um einem hölzernen Golem wenigstens für ein paar Tage Leben einzuhauchen, muss sich ein sehr starker und sehr geschickter Magier ans Werk machen. Doch ein derart erfahrener Magier braucht keinen dummen Burattino. Noch schwieriger ist es, eine Metallfigur zu beleben. Ich erinnere mich noch, wie Sweta einmal für Nadjuschka eine laufende Puppe aus Büroklammern geschaffen hat, die kaum drei Schritte gegangen war, bevor sie für immer erstarrte. Lehm ist erstaunlich formbar, für die Animation geeignet und speichert die Magie lange. Doch selbst Lehmgolems werden heute nur selten hergestellt.
Im Orient gab es dagegen Devas. Genauer gesagt, man glaubte, dass es sie gab. Im Grunde sind sie Golems, die jeder materiellen Grundlage entbehren: belebte Klumpen des Zwielichts, Kraftstrudel. Den Legenden zufolge gilt die Erschaffung eines solchen Devas - die Araber nennen sie meist Dschinn - als eine Art Examen für Magier, mit dem sie den Grad des Hohen erlangen. Zunächst muss er einen Golem schaffen, dann ihn sich gefügig machen. Einige scheitern bereits an der ersten Hürde; weitaus trauriger ist jedoch das Los derjenigen, die die zweite nicht nehmen.
Ich hatte die Devas immer ins Reich der Legenden verwiesen. Im besten Fall sah ich sie als Ausnahmen an, bei denen einem der großen Magier aus der Vergangenheit ein- oder zweimal ein Experiment geglückt war. Weit von mir wies ich natürlich die Annahme, Devas könnten auch heute noch existieren. Die Wächter vor Ort glaubten jedoch anscheinend an sie.
Ihnen mangelte es allerdings an Kraft, um zu erkennen, dass sich ein Deva näherte.
Der junge Dunkle - seinen Namen hatte ich immer noch nicht in Erfahrung gebracht - schrie auf und hämmerte mit den Armen los, als wehre er sich gegen etwas Unsichtbares. Es riss ihn vom Boden hoch, trug ihn nach oben und hielt ihn, zeternd und zitternd, in Höhe eines einstöckigen Hauses in der Luft. Erschaudernd beobachtete ich, wie der Dunkle seitlich wegknickte, als drücke ihn eine gigantische Hand, und seine Kleidung verkohlte. Der Schrei ging in ein Röcheln über.
Dann bildete sich auf dem Körper des Dunklen ein blutiger Streifen. Im nächsten Augenblick fiel der zerhackte - oder besser zerbissene - Körper zu Boden.
»Die Schilde!«, schrie Alischer.
Ich verstärkte meinen Schutz nicht. Erstens wusste ich nicht, ob er mir überhaupt gegen einen Deva helfen würde. Zweitens gab es hier nur einen, der ihm entgegentreten konnte: mich. Gleich darauf tauchte ich in die zweite ZwielichtSchicht ein.
Wo ich den Deva sofort sah.
Ein elastischer, aus Feuerströmen und Rauch zusammengesetzter Körper, der in der Tat an den Dschinn aus den Märchen erinnerte. Es dominierte graues Licht, sogar die Flammenzungen waren schwarz-grau und wiesen nur eine kaum wahrnehmbare glutrote Nuance auf. Beine hatte der Deva nicht. Der Rumpf verjüngte sich und verwandelte sich dann in einen Schlangenkörper, der sich bei jeder Bewegung wand. Vom Boden unter ihm stieg Dampf auf - wie von feuchter Bettwäsche unterm Bügeleisen. Der Kopf, die Arme und sogar die linkisch aus dem Schlangenkörper hervorstehenden Genitalien sahen absolut menschlich aus. Nur viel größer - der Deva maß etwa fünf, fünfeinhalb Meter - und aus Rauch und Flammen. Das lodernde purpurrote Feuer der Augen war das einzige grelle Detail sowohl am Körper des Deva wie auch in der zweiten Schicht des Zwielichts.
Das Ungeheuer hatte mich ebenfalls erblickt, und zwar in dem Moment, als es seine Pranke nach Valentina ausstreckte. Der Deva brüllte fröhlich auf und glitt überraschend behände auf mich zu. Was war das für eine Mode mit diesen Reptilien? In Schottland eine zweiköpfige Schlange, in Usbekistan ein Zwitter aus Schlange und Mensch…
Versuchsweise schoss ich einen Fireball auf den Deva ab, der natürlich überhaupt nichts bewirkte. Der Flammenklumpen verschwand einfach im Körper des Monsters. Dann probierte ich es mit der Dreifachschneide, worauf der Deva erzitterte, seine Bewegungen aber keinesfalls verlangsamte.
Na gut…
Ich ließ die Kraft in meine Hand fließen und formte eine weiße Klinge. Vermutlich beeinflusste mich dabei Murats letzte Tat. Doch ich war nicht gut damit beraten, dem Beispiel des usbekischen Magiers zu folgen. Die weiße Schneide ging zwar butterweich durch den Körper des Devas durch, fügte ihm jedoch keinerlei Schaden zu. Mir blieb freilich keine Zeit, mir über die Gründe dieses Misserfolgs Gedanken zu machen. Der Deva holte aus und schlug mit der Hand zu. Ich konnte gerade noch wegspringen. Der heimtückische Angriff mit dem Schlangenschwanz kam dann zu überraschend. Kopfüber stürzte ich zu Boden. Mit einem triumphierenden Lachen steuerte der Deva auf mich zu. Ich konnte mich einfach nicht erheben. Aus irgendeinem Grund empfand ich nicht einmal Angst, sondern ekelte mich nur beim Anblick des erigierten Penis dieses Monsters. Mit einer Hand packte das Monster seinen Penis und fing an, ihn zu reiben. Als masturbiere er oder wolle mich mit einer Feuerkeule niederknüppeln. Und jetzt? Sollte ich etwa durch den Pimmel eines hirnlosen Monsters sterben??? Meine Versuche, eine weiße Klinge zu schaffen, gab ich auf. Ich sammelte alle Kraft in einer Hand -und schlug auf den Deva mit dem Zeichen des Thanatos ein.
Der Deva erschauderte. Mit der freien Hand kratzte er sich die Brust, wo ihn der Schlag getroffen hatte. Hauchzarte, haargleiche Rauchfäden stiegen unter seiner Hand auf. Dann fing der Deva an zu lachen, wobei er nach wie vor sein Glied hielt, das sich bereits zu einem Baseballschläger ausgewachsen hatte. Der Deva strahlte Hitze aus, keine Körperwärme, sondern heiße Luft, so wie man es von einem niedergebrannten Lagerfeuer kennt.
So hirnlos war er gar nicht. Viel dümmer war ich, der ich mit dem Zeichen des Todes auf ein Wesen einschlug, das ohnehin nicht lebte.
»He, Schaitan, du widerlicher Spross eines kranken Wurms«, erklang hinter dem Deva eine bekannte Stimme. Der alte Afandi hatte es irgendwie fertiggebracht, in die zweite Schicht des Zwielichts einzutauchen! Und nicht nur das - er packte den Deva auch noch kräftig am Schwanz und versuchte, ihn von mir wegzuziehen!
Das Ungeheuer drehte sich langsam um, voller Unglauben, dass es jemand wagen könne, sich ihm so unziemlich zu nähern. Es hörte auf, sich zu kratzen - und brachte die zur Faust geballte Pranke über dem Alten in Position. Bis zu den Ohren würde er ihn in den Boden stampfen!
Krampfhaft durchforstete ich den Schrott, der sich in meinem Kopf angesammelt hatte. Alles, was Golems betraf, von der ersten Unterrichtsstunde bis zu den Geschichtchen, die ich irgendwann von Semjon gehört hatte. Ein Deva ist das Gleiche wie ein Golem. Einen Golem kann man vernichten! Ein Golem… Golems… es gibt kabbalistische Golems, motivierte und freie Golems, Golems für die Kurzweil und das Vergnügen, hölzerne Golems… die Unmöglichkeit, einen Golem aus Plastik zu schaffen… Zauber gegen Golems… Olga hat einmal erzählt… niemand braucht dieses Wissen noch… aber der Zauber ist im Prinzip einfach, man muss nur viel Kraft schöpfen…
»Staub!«, schrie ich, indem ich die Hand in Richtung des Devas schleuderte. letzt hing alles davon ab, ob ich das Zeichen richtig geformt hatte. Die Faust geballt, Daumen zwischen Mittel- und Zeigefinger, als zeige man jemandem die Feige. Diese Geste kommt häufig bei magischen Passes zum Einsatz. Diesmal musste allerdings noch der kleine Finger parallel zum Daumen nach vorn gespreizt werden. Nicht umsonst, ganz gewiss nicht umsonst, hatte man einen vollen Monat lang Fingerübungen mit uns gemacht. Jeder Pianist würde uns beneiden…
Das Monster erstarrte. Dann drehte es sich mir langsam zu. Das rote Feuer in seinen Augen verlosch. Der Deva winselte leise - wie ein junger Hund, dem man die Pfote zerquetscht. Dann öffnete er seine Hand. Der Penis bröckelte ab und regnete in zahllosen grauen Funken nieder, gleichsam als stöben von einem Lagerfeuer verkohlte Holzstücke auf. Dann zerfielen die Finger. Der Deva heulte nicht einmal, er schluchzte nur, hielt mir die fingerlosen Hände entgegen und schüttelte den blinden Kopf.
So hatten auch die großen Magier des Orients die Devas gebändigt…
Nach wie vor hielt ich das Zeichen des Staubs aufrecht, ließ ich die Kraft durch mich hindurchströmen. Es dauerte lange - drei Minuten in der Zeit der zweiten Schicht -, bis der Deva vollständig in eine Handvoll Asche verwandelt war.
»Kalt, oder?«, fragte Afandi, der jetzt tänzelte. Dann trat er an die Überreste des Devas heran, streckte die Hände aus, rieb und wärmte sie. Anschließend spuckte er in die Asche und murmelte:»Oh, Sohn der Sünde und Vater der Niedertracht…«
»Vielen Dank, Afandi«, sagte ich, während ich mich von der mit Reif bedeckten Erde erhob. In der zweiten Schicht ist es in der Tat fürchterlich kalt. Nur gut, dass ich es wie durch ein Wunder geschafft hatte, die Tasche mit meinen Sachen nicht zu verlieren. Nach wie vor hing sie über meiner Schulter. Obwohl… vielleicht hatte ja Swetlana dieses Wunder mit einem Zauber der Verwandtschaft bewirkt?»Vielen Dank, Großväterchen. Lassen Sie uns von hier weggehen, es wird Ihnen Mühe bereiten, hier lange zu verweilen.«
»Ai, danke, mächtiger Krieger.«Afandi strahlte.»Du hast mir gedankt? Darauf werde ich mein ganzes nichtsnutziges Leben lang stolz sein! Der Bezwinger des Devas hat mich gelobt!«
Schweigend fasste ich ihn beim Ellbogen und zog ihn in die erste Schicht. Die Vernichtung des Devas hatte mich so viel Kraft gekostet, dass es auch mir Mühe bereitete, länger im Zwielicht zu bleiben.
In der Teestube war es düster und dreckig. An der Decke surrten fette Fliegen um schwache Lampen mit Schirmen voller Fliegendreck. Wir saßen auf speckigen bunten Kissen beziehungsweise kleinen Matratzen um einen niedrigen, 15 cm hohen Tisch herum. Ein ganz normaler Tisch, der lediglich kürzere Beine hatte. Und über dem eine grelle, ebenfalls schmutzige Tischdecke lag.
In Russland hätte man ein solches Cafe kurzerhand geschlossen. In Europa wäre der Besitzer im Knast gelandet. In den USA hätte man dem Eigentümer eine unvorstellbar hohe Strafe aufgebrummt. Und irgendwo in Japan hätte der Betreiber einer derartigen Einrichtung aus Scham Seppuku begangen.
Solch aromatische Düfte wie in dieser kleinen, völlig untouristischen Teestube hatte ich allerdings noch nirgendwo gerochen!
Kaum hatten wir unsere Verfolger abgehängt, hatten wir uns getrennt. Der Dunkle hatte sich auf die Suche nach seinen Kollegen gemacht, um Bericht über die Ereignisse zu erstatten. Valentina Iljinitschna und Nodir wollten die Lichten aus der Reserve der Wache zusammentrommeln, sich mit Taschkent in Verbindung setzen und um Verstärkung bitten. Alischer, Afandi und ich hatten uns in ein Taxi gesetzt und waren zu dieser Teestube gefahren, die an der Peripherie Samarkands unweit eines kleineren Basars lag. Allmählich gelangte ich zu der Überzeugung, es müsse in Samarkand mehr als ein Dutzend Basare und mit Sicherheit mehr Basare als Museen und Kinos zusammengenommen geben.
Unterwegs hatte ich den Maskenzauber für mich gewirkt und war zum Doppelgänger Timurs geworden. Junge Magier glauben aus irgendeinem Grund, man dürfe das Äußere eines Toten nicht annehmen. Das geht auf die unterschiedlichsten Formen von Aberglauben zurück, angefangen vom»baldigen Tod«bis hin zur»Aneignung fremder Gewohnheiten«. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, Angewohnheiten seien Flöhe, die nach dem Tod des Wirts in alle Richtungen davonlaufen, um einen möglichst ähnlichen neuen Körper zu finden. Da ich niemals abergläubisch gewesen war, schlüpfte ich ohne zu zögern in Timurs Gestalt. Schließlich musste ich mich als Einheimischer ausgeben. Ein Fremder von europäischem Aussehen nähme sich in dieser Teestube etwa so dämlich aus wie ein Papua bei der Heumahd in einem russischen Dorf.
»Hier kann man sehr gut essen«, erklärte Alischer halblaut, nachdem er die Bestellung aufgegeben hatte. Da ich kein Wort Usbekisch sprach, hatte ich in Anwesenheit des jungen Kellners geschwiegen. Afandi glücklicherweise auch: Überhaupt grunzte er nur ab und an, strich sich über die Glatze und sah mich stolz an. Mit einem Blick, der wohl besagte:»Dem Deva haben wir es aber gegeben, was?«Pflichtschuldig nickte ich zur Bestätigung.
»Das glaube ich gern«, versicherte ich. An der Wand stand eine klobige chinesische Musikbox mit riesigen surrenden Lautsprechern und blinkenden bunten Lämpchen. Es lief ein Band mit traditioneller, an sich ganz interessanter Musik, die jedoch durch die Abmischung im Poprhythmus und die Qualität der Musikbox hoffnungslos verhunzt war. Dafür war das Ganze so laut, dass wir getrost russisch sprechen konnten, ohne dabei Gefahr zu laufen, die verwunderten Blicke der Gäste an den Nachbartischen auf uns zu ziehen.»Es riecht schon gut. Aber nimm’s mir nicht übel: Es ist hier alles ziemlich schmutzig.«
»Das ist kein Schmutz«, entgegnete Alischer.»Genauer, nicht der normale Schmutz. Wenn jemand aus Westeuropa nach Russland kommt, verzieht er auch das Gesicht und denkt: Ist das hier überall dreckig. Aber der Schmutz kommt nicht daher, dass man nicht sauber macht! In Russland liegt das am Boden, an der stärkeren Erosion, die zu einem höheren Staubgehalt in der Luft führt, der sich wiederum überall ablagert. Wenn du die Gehsteige mit Seife waschen würdest, blieben sie in Europa drei Tage sauber. Allenfalls trägt der Wind mal einen Fetzen Papier heran. In Russland könntest du sie mit der Zunge ablecken, in einer Stunde wäre der Staub doch wieder da. In Asien gibt es noch mehr Staub, deshalb sagen die Europäer und die Russen gleichermaßen: ›Dreckig, unzivilisiert, wild!‹ Das stimmt nicht! Die natürlichen Bedingungen sind einfach so! Wenn es in Asien gut riecht, dann können wir nicht dreckig sein. In Asien darf man nicht den Augen trauen, sondern muss sich auf seine Nase verlassen!«
»Interessant!«, sagte ich.»Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ob die Menschen im Orient deshalb so schmale Augen und so große Nasen haben?«
Alischer blickte mich finster an. Dann lachte er gequält.»Na schön. Ein guter Witz. Aber ich glaube wirklich, dass es so ist, Anton. Im Orient ist alles anders.«
»Sogar die Anderen«, meinte ich nickend.»Ich habe bisher tatsächlich nicht an Devas geglaubt, Alischer. Verzeih mir.«
»Weißt du, deiner Beschreibung nach war das nicht der, der mich verfolgt hat«, meinte Alischer ernst.»Meiner war kleiner, dafür aber sehr flink. Und er hatte Beine. Er sah eher wie ein Affe mit Hörnern aus.«
»Hole sie alle die Pest, diese Rülpser des Universums, diese Machwerke verantwortungsloser Magier!«, ereiferte sich Afandi.»Anton und ich haben diesen unmoralischen, zügellosen Deva besiegt! Wenn du diesen Kampf gesehen hättest, Alischer! Freilich sollte sich die Jugend keine Pornografie ansehen…«
»Großväterchen Afandi…«, setzte ich an.»Ich flehe Sie an!«
»Nenn mich einfach Bobo«, befahl Afandi.
»Und was heißt das?«, fragte ich misstrauisch.
»Das heißt Großväterchen.«Der Alte schlug mir auf die Schulter.»Wir beide haben diese Devas besiegt, du bist mir wie mein eigener Enkel!«
»Afandi-bobo«, versuchte ich es erneut,»bitte erwähnen Sie diesen Kampf nicht mehr. Es ist mir sehr peinlich, dass ich den Deva nicht auf Anhieb zerschmettern konnte.«
»Die Devas!«, behauptete Afandi hartnäckig.
»Den Deva?«, schlug ich naiv vor.
»Die Devas! Es waren zwei! Der große hatte den kleinen mit der Hand gepackt und hat ihn nach links und nach rechts geschleudert, nach links und nach rechts!«
Afandi erhob sich und imitierte höchst anschaulich das Auftreten der beiden Devas.
»Gewiss, großer Krieger Afandi«, mischte sich Alischer rasch ein.»Es waren zwei. Vor lauter Angst hat Anton den zweiten nicht bemerkt. Aber jetzt setzen Sie sich, da kommt unser Tee.«
Die nächsten zehn Minuten tranken wir Tee und aßen Süßigkeiten dazu. Halwa, Lokum und etwas, das an Baklawa erinnerte, kannte ich. Die übrigen Wunder der orientalischen Zuckerbäckerei waren mir unbekannt. Was mich jedoch nicht daran hinderte, sie mir schmecken zu lassen. Es gab bunte Kristallzucker (ich stellte mir lieber nicht vor, womit sie gefärbt waren), Nester aus dünnen, sehr süßen Fäden, eine Art weiße Halwa und Trockenfrüchte. All das war köstlich. Und sehr süß, was für uns besonders wichtig war. Nach dem Kraftverlust verlangt der Organismus immer nach etwas Süßem. Obwohl wir mit fremder Kraft operieren und sie lediglich neu im Raum verteilen, zehrt dieser Prozess an uns. Der Blutzuckergehalt sinkt so stark, dass man leicht in ein Hypoglykämiekoma fallen kann. Passiert dir das im Zwielicht, kann dich nur ein Wunder retten.
»Danach gibt es noch Schurpa und Pilaw«, sagte Alischer, während er sich sein fünftes Gläschen grünen Tees eingoss.»Das Essen hier ist einfach. Aber unverfälscht.«
Er verstummte. Und ich ahnte, woran er dachte.
»Sie sind im Kampf gestorben. Wie es sich für Wächter geziemt«, versicherte ich.
»Das war unser Kampf«, brachte Alischer leise hervor.
»Das war ein gemeinsamer Kampf. Sogar die Dunklen haben sich daran beteiligt. Wir müssen Rustam finden, und niemand wird uns daran hindern. Um Murat tut es mir leid… Er hat Menschen umgebracht und konnte damit nicht leben.«
»Ich hätte es gekonnt«, behauptete Alischer finster.
»Und ich auch«, gab ich zu. Wir sahen uns verstehend an.
»Menschen gegen Andere.«Alischer seufzte.»Ich kann es einfach nicht glauben! Wie in einem Albtraum! Sie waren alle mit Zaubern belegt! Das war das Werk eines Hohen!«
»Von mindestens drei Hohen!«, präzisierte ich.»Ein Dunkler, ein Lichter und ein Inquisitor. Ein Vampir, ein Heiler und ein Kampfmagier.«
»Das Ende der Zeiten ist gekommen.«Afandi schüttelte den Kopf.»Niemals hätte ich geglaubt, dass sich das Licht, das Dunkel und die Furcht verbünden…«
Rasch schaute ich zu ihm hinüber - und erwischte jenen flüchtigen Moment, kurz bevor der einfältige Ausdruck in sein Gesicht zurückkehrte.
»Du bist gar nicht so dumm, wie du immer vorgibst, Afandi«, sagte ich leise.»Warum führst du dich auf, als leidest du an Altersschwachsinn?«
Einige Sekunden lang lächelte Afandi. Dann wurde er wieder ernst.»Der Schwache tut gut daran, sich als Dummkopf auszugeben, Anton. Nur der Starke kann sich Klugheit leisten.«
»Du bist nicht so schwach, Afandi. Du bist in die zweite Schicht des Zwielichts eingetreten und hast es dort fünf Minuten ausgehalten. Kennst du einen bestimmten Trick?«
»Rustam kannte viele Geheimnisse, Anton.«
Einen ausgedehnten Moment lang betrachtete ich Afandi, doch das Gesicht des Alten zuckte nicht. Dann richtete ich den Blick auf Alischer. Der wirkte nachdenklich.
Ob uns beiden der gleiche Gedanke gekommen war?
Vermutlich schon.
War Afandi Rustam? Konnte der einfältige Alte, der jahrzehntelang im Büro einer Provinzwache bescheidene Arbeiten verrichtet hatte, einer der ältesten Magier der Welt sein?
Unmöglich war es nicht. Beileibe nicht. Es hieß, mit den Jahren würde jeder Andere seinen Charakter ändern, würde das Repertoire seiner Eigenschaften schrumpfen. Ein einziger Aspekt der Persönlichkeit gewänne dann die Oberhand. Der gerissene Geser liebte Intrigen, also intrigierte er bis heute. Foma Lermont hatte von einem ruhigen, gemütlichen Leben geträumt, und jetzt arbeitete er in seinem kleinen Garten und unterhielt touristische Einrichtungen. Falls in Rustams Charakter Heimlichtuerei dominiert haben sollte, könnte er diese bis zur Paranoia gesteigert haben und sich nun als schwacher und beschränkter Alter ausgeben…
In dem Fall würde er sich freilich selbst dann nicht zu erkennen geben, wenn ich meine Vermutung äußerte. Ins Gesicht lachen würde er mir, die alte Legende über seinen Lehrer noch einmal herunterleiern… Allerdings hatte er nie behauptet, Rustam habe ihn initiiert! Er hatte diese Geschichte in der dritten Person erzählt: Rustam, der dumme Alte, die Initiation. Das waren wir, die die Stelle des dummen Alten mit Afandi besetzt hatten!
Abermals sah ich Afandi an. Meine erregte Phantasie war jetzt bereit, in seinem Blick sowohl Verschlagenheit wie auch krankhafte Heimlichtuerei zu entdecken. Ja, sogar Bösartigkeit.
»Ich muss mit Rustam sprechen, Afandi«, sagte ich, wobei ich jedes Wort mit Bedacht wählte.»Das ist sehr wichtig. Geser hat mich nach Samarkand geschickt und mich gebeten, Rustam zu suchen, damit ich ihn im Namen der alten Freundschaft um Rat bitte. Nur um Rat!«
»Eine alte Freundschaft ist eine schöne Sache«, meinte Afandi nickend.»Eine sehr schöne! Wenn sie noch besteht. Aber ich habe gehört, Rustam und Gäsär hätten sich zerstritten. So sehr, dass Rustam Gäsär hinterhergespuckt und gesagt hat, er wolle ihn nie wieder auf usbekischem Boden sehen. Aber Gäsär hat nur schallend gelacht und geantwortet, dann müsse sich Rustam wohl die Augen ausstechen. Am Boden einer Flasche guten alten Weins kann sich bitterer Satz ablagern, und je älter der Wein, desto bitterer der Satz. Auch am Boden einer alten Freundschaft kann sich sehr, sehr bitterer Schmerz ablagern!«
»Du hast recht, Afandi«, pflichtete ich ihm bei.»Du hast mit allem recht. Aber Geser hat mir noch etwas gesagt. Er hat Rustam das Leben gerettet. Sieben Mal. Und Rustam hat ihm das Leben gerettet. Sechs Mal.«
Da man uns gerade die Schurpa brachte, schwiegen wir. Doch auch nachdem der junge Kellner sich wieder entfernt hatte, saß Afandi mit fest aufeinandergepressten Lippen da. Mit einem Ausdruck im Gesicht, als rechne er etwas im Kopf aus.
Alischers und mein Blick trafen sich. Kaum merklich nickte Alischer.
»Sag, Anton«, brachte Afandi schließlich hervor,»wenn dein Freund verzweifelt ist, weil seine geliebte Frau von ihm gegangen ist… so verzweifelt, dass er diese Welt verlassen möchte… und du kommst zu ihm und lebst einen Monat mit ihm, trinkst von morgens bis abends Wein mit ihm, zwingst ihn, Freunde zu besuchen, erzählst ihm, wie viele schöne Frauen es auf der Welt gebe… Gilt das als Lebensrettung?«
»Ich glaube, das hängt davon ab, ob der Freund wirklich bereit war, um der Liebe wegen aus dem Leben zu scheiden«, erwiderte ich vorsichtig.»Jeder Mann, der so etwas durchmacht, glaubt, es bliebe ihm nichts mehr, wofür es sich zu leben lohne. Aber nur sehr, sehr selten tötet er sich. Von den jungen, bartlosen Jünglingen einmal abgesehen.«
Abermals hüllte sich Afandi in Schweigen.
Als hätte es auf diese Gesprächspause gewartet, plärrte in dem Moment mein Handy los.
Ich holte es heraus, felsenfest davon überzeugt, es rufe entweder Geser an, dem man von den jüngsten Ereignissen hier berichtet hatte, oder Swetlana, die spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Doch auf dem Display erschien weder eine Nummer noch ein Name. Stattdessen strahlte dort nur gleichmäßiges graues Licht.
»Ja?«, meldete ich mich.
»Anton?«, fragte eine Stimme. Eine bekannte Stimme mit leicht baltischem Akzent.
»Edgar?«, rief ich erfreut. Normalerweise freut sich ein Anderer nicht über den Anruf eines Inquisitors. Schon gar nicht, wenn dieser Inquisitor ein ehemaliger Dunkler Magier war. Doch die Situation war zu außergewöhnlich. Besser Edgar als ein unbekannter Gleichgewichtsapostel, der von Kopf bis Fuß mit Amuletten behangen ist und allem und jedem misstrauisch begegnet.
»Du bist in Samarkand, Anton.«Natürlich stellte Edgar keine Fragen, sondern hielt lediglich Tatsachen fest.»Was geht dort vor? Unsere Leute hängen ein Portal auf, das von Amsterdam nach Taschkent führt.«
»Warum Taschkent?«, wunderte ich mich.
»Das ist einfacher. Diese Verbindung wurde schon einmal benutzt«, erklärte Edgar.»Also, was ist da bei euch los?«
»Du weißt, was in Edinburgh passiert ist?«
Edgar schnaubte nur amüsiert. Ich konnte Fragen stellen! In der Inquisition dürfte es wohl nicht einmal Praktikanten geben, die nicht von dem Versuch gehört hatten, das Artefakt Merlins zu rauben. Was durfte man dann erst von den erfahrenen Mitarbeitern erwarten?
»Offenbar ist hier die gleiche Mannschaft am Werk. Nur haben sie in Edinburgh Menschen angeheuert, während sie hier die Soldaten und Polizisten vor Ort einer Gehirnwäsche unterzogen haben. Außerdem waren alle mit Amuletten und Zaubern ausgestattet, die Kugeln magisch manipuliert…«
»Damit ist mein Urlaub also zu Ende«, sagte Edgar hoffnungslos.»Was musstest ausgerechnet du dich da einmischen! Man hat mich direkt vom Strand weggeholt! Bloß weil ich schon mit dir zusammengearbeitet habe!«
»Ich weiß diese Aufmerksamkeit zu schätzen«, antwortete ich bissig.
»Müssen wir das ernst nehmen?«, brachte Edgar zögernd hervor.
»Hundert Menschen, die Jagd auf beide Wachen vor Ort machen. Dabei sind zwei Lichte gestorben. Außerdem hat uns ein Deva angegriffen. Einen Dunklen hat er in der Mitte durchgebissen. Ich brauchte drei Minuten, um ihn zu erledigen!«
Edgar fluchte.»Wie hast du ihn erledigt?«, erkundigte er sich.
»Mit dem Zeichen des Staubs. Glücklicherweise kannte ich es zufällig…«
»Hat man so etwas schon gehört!«, kommentierte Edgar sarkastisch.»Ein junger Moskauer Magier erinnert sich zufällig an den Zauber gegen Golems, der vor einhundert Jahren angewandt wurde!«
»Bastelst du schon an deinem Bericht?«, fragte ich daraufhin lachend.»Komm her, es wird dir gefallen. Die Zauber gegen Golems solltest du dir auch noch schnell eintrichtern, Gerüchten zufolge läuft hier noch einer rum.«
»Was für ein Albtraum…«, murmelte Edgar.»Ich bin auf Kreta. Stehe in Badehose am Strand. Meine Frau schmiert mir den Rücken mit Sonnencreme ein. Und jetzt soll ich in drei Stunden in Amsterdam sein, um von dort aus unverzüglich nach Usbekistan aufzubrechen! Als was würdest du das bezeichnen?«
»Als Globalisierung, Sir«, teilte ich ihm mit.
Edgar stöhnte auf.»Meine Frau bringt mich um«, meinte er dann.»Wir verbringen hier unsere Flitterwochen. Sie ist übrigens eine Hexe! Und ich soll in irgendein dämliches Usbekistan fahren!«
»Das ist nicht irgendein dämliches Land, Edgar«, konnte ich mir eine bissige Antwort abermals nicht verkneifen.»Früher haben wir mit ihm sogar einen gemeinsamen Staat gebildet. Betrachte deinen Besuch also als gestundete Patriotenpflicht.«
Edgar war momentan jedoch nicht für Sarkasmus oder spitze Bemerkungen zu haben.
»Wo finde ich dich?«, fragte er nach einem schweren Seufzer.
»Ruf mich an«, antwortete ich bloß. Dann beendete ich das Gespräch.
»Die Inquisition.«Alischer signalisierte mit einem Nicken, dass er das mitbekommen hatte.»Sind die auch schon aufgewacht! Bestimmt werden sie nun etwas finden, womit sie sich hier beschäftigen können.«
»Zunächst sollten sie in den eigenen Reihen aufräumen«, meinte ich.»Bei ihnen im Büro muss doch jemand ein falsches Spiel spielen.«
»Nicht unbedingt«, setzte Alischer zur Verteidigung der Inquisition an.»Es könnte auch ein Inquisitor im Ruhestand sein.«
»Ach ja? Und woher wussten die Menschen, dass Geser mich nach Samarkand geschickt hat? Das hat er nur der Inquisition mitgeteilt!«
»Unter den Verrätern gibt es auch einen Lichten Heiler«, rief mir Alischer in Erinnerung.
»Willst du damit sagen: einen Hohen Lichten aus unserer Nachtwache? Einen Heiler? Der für den Feind arbeitet?«
»Siehst du eine Alternative?!«, gab sich Alischer trotzig.
»Bei uns in der Wache gab es nur einen Lichten Heiler Hohen Grades«, erwiderte ich gelassen.»Genauer gesagt, eine. Meine Frau.«
Alischer erstarrte. Schüttelte den Kopf.»Entschuldige, Anton! Das habe ich nicht gemeint!«
»Ach, Schluss mit den Streitigkeiten!«, mischte sich Afandi mit der gewohnten Stimme eines leicht närrischen Menschen ein.»Die Schurpa wird kalt! Was ist schlimmer als kalte Suppe? Nur warmer Wodka!«
Spitzbübisch blickte er sich um und fuhr mit der Hand über die Schalen mit der Schurpa. Von der erkalteten Suppe stieg erneut Dampf auf.
»Wie können wir mit Rustam sprechen, Afandi?«, wiederholte ich.
»Iss deine Suppe«, brummelte der Alte. Und ging selbst mit gutem Beispiel voran.
Ich brach mir ein Stück von dem Fladenbrot ab und machte mich über die Schurpa her. Was sollte ich sonst tun? Orient bleibt Orient. Niemand antwortet hier gern direkt. Vermutlich stammen die besten Diplomaten der Welt aus dem Orient. Sie bringen nie ein»Ja«oder»Nein«über die Lippen - versagen sich aber wahrlich nichts.
Erst nachdem Alischer und ich die Suppe aufgegessen hatten, brachte Afandi mit einem Seufzer hervor:»Vermutlich hat Gäsär recht. Vermutlich darf er von Rustam eine Antwort verlangen. Eine Antwort auf eine Frage.«
Immerhin ein kleiner Sieg!
»Warte.«Ich nickte. Die Frage musste natürlich genau so gestellt werden, dass sie jede Möglichkeit einer doppeldeutigen Antwort ausschloss.»Nur eine Minute…«
»Weshalb die Hetze?«, verwunderte sich Afandi.»Eine Minute, eine Stunde, einen Tag… Denk nach.«
»Im Prinzip bin ich bereit«, meinte ich.
»Ja, und? Wen willst du fragen, Anton Gorodezki?«Afandi grinste spöttisch.»Hier ist kein Rustam. Wir werden zu ihm fahren, und du wirst ihm deine Frage stellen.«
»Hier ist kein Rustam?«Beinah hätte es mir die Sprache verschlagen.
»Nein«, antwortete Afandi mit fester Stimme.»Verzeih mir, wenn meine Worte dich in die Irre geleitet haben. Doch wir müssen zum Plateau der Dämonen fahren.«
Allmählich konnte ich mir vorstellen, warum Geser sich mit Rustam verkracht hatte. Begriff, dass Merlin - ungeachtet all seiner bösen Taten - eine ausgesprochen gute Seele und ein Anderer von großer Geduld war. Denn Afandi war Rustam. Da brauchte man keine Wahrsagerin zu konsultieren!
»Entschuldigt mich kurz…«Afandi erhob sich und steuerte auf eine Tür in der Ecke der Teestube zu. An der Tür prangte die mit einer Schablone ausgeführte Silhouette eines Mannes, die auch ohne Übersetzung verständlich war. Interessanterweise entdeckte ich keine Tür mit dem Bild einer Frau. Offenbar waren die Samarkander Frauen nicht daran gewöhnt, ihre Zeit in einer Teestube zu verbringen.
»Das ist mir ein Früchtchen, dieser Rustam«, murmelte ich, die Gelegenheit beim Schopf packend.»Ein Trockenfrüchtchen. Ein hartnäckiger Kerl.«
»Aber Afandi ist doch nicht Rustam, Anton«, meinte Alischer.
»Du glaubst ihm also?«
»Vor zehn Jahren hat mein Vater Rustam getroffen, Anton. Ich habe dem damals nicht viel Bedeutung beigemessen… Schön und gut, der alte Hohe lebte noch. Ja und? Viele von ihnen hatten sich zurückgezogen, lebten unbemerkt inmitten der Menschen…«
»Und weiter?«
»Mein Vater kannte auch Afandi. Etwa fünfzig Jahre lang.«
Ich dachte darüber nach.
»Und wie, mit welchen Worten, hat dein Vater dir von Rustam erzählt?«
Alischer runzelte die Stirn. Dann fing er so fließend an zu berichten, als lese er etwas vom Blatt ab:»Heute habe ich einen Großen gesehen, den seit siebzig Jahren niemand irgendwo getroffen hat. Den Großen Rustam. Erst der Freund, dann der Feind Gesers. Ich bin an ihm vorbeigegangen. Wir erkannten einander, haben aber so getan, als bemerkten wir uns nicht. Wie gut, dass ein so kleiner Anderer wie ich nie mit ihm in Streit geraten ist.«
»Siehst du?!«Ich gab mich kampflustig.»Dein Vater hätte Rustam in Afandi erkannt haben können. Genau das meine ich.«
Alischer ließ sich diese Möglichkeit durch den Kopf gehen und räumte ein, dass es so gewesen sein könnte. Trotzdem sei er sich nach wie vor sicher, dass sein Vater nicht von Afandi gesprochen habe.
»Aber das bringt uns sowieso nichts.«Ich winkte mit der Hand ab.»Du siehst ja, wie stur er ist. Wir müssen zu diesem Plateau der Dämonen… Übrigens, was ist das eigentlich? Und erzähl mir jetzt bloß nicht, dass es im Orient Dämonen gibt, die auf irgendeinem Plateau leben!«
»Bei einem Dämon handelt es sich um die ZwielichtGestalt eines Hohen Dunklen Magiers, dessen menschliche Natur von der Kraft, dem Zwielicht und dem Dunkel entstellt ist.«
Alischer lachte.»Das lernt man doch in der ersten Schulstunde. Also, das Plateau der Dämonen ist eine Bezeichnung der Menschen. Für eine Stelle in den Bergen, an der Findlinge von bizarrer Form stehen - die aussehen wie Stein gewordene Dämonen. Die Menschen gehen da nicht gern hin. Nur die Touristen…«
»Touristen sind keine Menschen«, pflichtete ich ihm bei.»Das Ganze ist also der übliche Aberglaube?«
»Nein, das ist kein Aberglaube.«Alischer wurde wieder ernst.»Dort hat es eine Schlacht gegeben. Eine große Schlacht zwischen Dunklen und Lichten, vor fast zweitausend Jahren. Die Dunklen waren in der Überzahl, der Sieg schien ihnen sicher zu sein… Und dann hat der Große Lichte Magier Rustam einen entsetzlichen Zauber eingesetzt… Nie wieder hat danach jemand im Kampf den Weißen Höhlenrauch eingesetzt. Die Dunklen versteinerten. Sie konnten nicht ins Zwielicht eindringen, sondern blieben in der gewöhnlichen Welt zurück - als steinerne Dämonen. Ohne es selbst zu wissen, sagen die Menschen die Wahrheit.«
Plötzlich krampfte sich mir das Herz zusammen. In einer kalten, flüchtigen, widerlichen Erinnerung. Ich stand vor Kostja Sauschkin. Und in meinem Kopf flüsterte die ferne Stimme Gesers…
»Der Weiße Höhenrauch«, korrigierte ich Alischer.»Der Zauber heißt der Weiße Höhenrauch. Ihn können nur Hohe Magier wirken, er verlangt nach höchster Konzentration und Absorption der Kraft im Umkreis von drei Kilometern…«
Alischers Worte schienen ein Schloss in meinem Gedächtnis geknackt zu haben. Woraufhin sich die knarrende Tür eines Schranks öffnete, in dem ein altes Skelett versteckt war, das die Zähne zu einem knöchernen Grinsen gebleckt hatte…
Geser hatte mir nicht nur den bloßen Zauber gegeben. Er hatte mir ein ganzes Stück seines Gedächtnisses übermittelt.
Ein großzügiges Geschenk. Etwas Ähnliches war den Zimmerleuten der Danaer auch geglückt.
Der Stein verbrennt mir die Füße durch die weichen ledernen Schuhe, der Stein glüht rot, und selbst die in die Kleidung eingewebten Zauber verlieren ihre Kraft. Vor mir raucht ein Körper, der zur Hälfte in einem aufgeweichten Stein verschwunden ist. Nicht bei allen Gefährten halten die Zauber dem Hammer des Schicksals stand.
»Geser!«, schreit mir ein hochgewachsener, breitschultriger Mann ins Ohr. Sein schwarzer Bart kräuselt sich in der Hitze, die weiß-rote Kleidung ist mit Asche bestäubt. Von oben segeln geklöppelt wirkende grauschwarze Flocken herab und zerfallen zu Staub.»Geser, wir müssen uns entscheiden!«
Ich schweige. Ich blicke auf den rauchenden Körper und versuche, den Toten zu erkennen. Doch in dem Moment versagt sein Schutz endgültig, worauf die Leiche sofort in Flammen aufgeht, sich in eine Säule fettiger Asche verwandelt, die in den Himmel aufsteigt. Ströme ausfließender Kraft wiegen die Asche, die einen Moment lang die gespenstische Figur eines Menschen annimmt.
Ich ahne, was da auf uns fallen wird. Ein Kloß schnürt mir die Kehle zu.
»Geser, sie wollen den Schatten der Herrscher aufheben!«In der Stimme des Magiers in weiß-roter Kleidung schwingt panisches Grauen mit.»Geser!«
»Ich bin bereit, Rustam!«, sage ich. Ich strecke ihm meine Hand entgegen. Magier wirken selten einen Zauber zu zweit, aber wir haben viel miteinander erlebt. Zudem ist es zu zweit leichter. Man entscheidet sich leichter. Denn vor uns stehen hundert Dunkle und zehntausend Menschen.
Hinter uns drängen sich lediglich hundert uns treu ergebene Menschen und ein Dutzend Magier-Lehrlinge.
Es ist sehr schwer, sich davon zu überzeugen, dass ein Dutzend Magier und hundert Menschen wertvoller sind als hundert Dunkle und zehntausend Menschen.
Dann blicke ich noch einmal auf die schwarzgraue Asche, und mir wird leichter zumute. Ich sage mir das, was die Starken und Guten sich stets in einer solchen Situation sagen werden. Noch in hundert, in tausend, in zweitausend Jahren.
Vor mir stehen keine Menschen!
Vor mir stehen tollwütige Tiere!
Kraft strömt durch mich hindurch, füllt als pulsierende Brühe meine Adern, Kraft tritt als Blutstrom auf meiner Haut aus. Um mich herum wogt Kraft, viel Kraft. Die aus den getöteten Anderen ausfließt, aus den gewirkten Zaubern wabert, aus den im Angriff auf uns zustürmenden Menschen bricht. Die Dunklen haben nicht von ungefähr eine ganze Armee mit sich geführt. Andere brauchen eine menschliche Waffe nicht zu fürchten, aber die säbelschwingenden Hände, die im Schrei aufgerissenen Münder und die mordgierigen Augen bilden einen lebendigen, mit Kraft gefüllten Schlauch. Je leidenschaftlicher dieser dreckige menschliche Abschaum, den strenge Gebieter oder die eigene Profitgier unter dem Banner des Dunkels zusammengetrieben haben, hasst und kämpft, desto stärker sind die Dunklen Magier unter ihnen.
Wir halten jedoch einen Zauber in der Hinterhand, der noch niemals unter unserer Sonne ausgesprochen worden ist. Von Rustam von einer fernen Insel im Norden mitgebracht, von einem durchtriebenen klugen Lichten namens Merlin ersonnen, hat er sogar seinen eigenen Schöpfer, der dem Dunkel gefährlich nahe steht, mit Entsetzen erfüllt…
Der Weiße Höhenrauch.
Rustam spricht die fremden, grob klingenden Worte aus. Ich wiederhole sie, ohne auch nur zu versuchen, ihren Sinn zu erahnen. Bedeutsame Worte - die jedoch nur die Hände eines Töpfers sind, der den Lehm formt. Eine Tonform, in die geschmolzenes Metall gegossen wird. Bronzefesseln, die den Händen keine Freiheit lassen. Worte beginnen alles und beenden alles, in Worten liegen Form und Richtung. Jede Entscheidung trifft indes die Kraft.
Die Kraft und der Wille.
Länger kann ich die Kraft, die in mir pulsiert, nicht zurückhalten. Mit jedem Herzschlag will sie aus meinem erbärmlichen menschlichen Körper ausbrechen. Rustam und ich öffnen den Mund gleichzeitig. Ich stoße einen Schrei aus - einen wortlosen Schrei.
Die Zeit der Worte ist vorbei.
Weißer Nebel stiebt aus unseren Mündern auf, strebt in einem trübem Schwall in die Höhe und rollt auf die heranmarschierende Armee zu, auf den Kreis der Dunklen Magier, der das Spinnennetz seiner Zauber webt… die nicht weniger grauenvoll sind, aber langsamer… ein wenig langsamer. Die grauen Schatten, die sich bereits aus den Steinen erheben, lösen sich in weißen Nebel auf.
Schließlich erreicht der Weiße Höhenrauch sowohl die Anderen als auch die menschlichen Krieger.
Die Welt vor uns verliert ihre Farben, jedoch nicht so wie im Zwielicht. Die Welt wird weiß, doch es ist das blendende Weiß des Todes, nicht des Lebens - ein Farbgemisch, das ebenso steril ist wie das Fehlen jeglicher Farbe. Das Zwielicht erzittert, faltet sich zusammen, die einzelnen Schichten kleben aneinander und zerquetschen zwischen eisigen Mühlsteinen die vor Schmerzen schreienden Menschen und die in ihrer Angst betäubten Anderen.
Die Welt erstarrt.
Dann verzieht sich der weiße Dunst. Es bleibt nur die Asche, die vom Himmel fällt. Es bleibt der glühende Boden. Und es bleiben die versteinerten Figuren der Anderen - bizarre, überhaupt nicht an Menschen gemahnende Körper, gefangen in Granit und Sandstein, erhärtet und entstellt. Ein Tiermensch, der sich gerade in einen Tiger verwandelt, ein Vampir, der hinfällt, Magier, die in dem vergeblichen Versuch, sich zu verteidigen, die Arme erheben…
Von den Menschen bleibt rein gar nichts zurück. Das Zwielicht hat sie geschluckt, verdaut und in nichts verwandelt.
Rustam und mich schüttelt es. Mit den Fingernägeln haben wir einander die Haut blutig gekratzt. Sei’s drum. Wir wollen ohnehin seit langem Brüderschaft schließen.
»Merlin hat gesagt, die Anderen würden in die siebte, die unterste Schicht des Zwielichts geworfen…«, bringt Rustam mit leiser Stimme hervor.»Er hat sich geirrt. Doch so ist es… auch nicht schlecht… An diese Schlacht… wird man noch in Jahrhunderten denken. Eine ruhmreiche Schlacht.«
»Schau«, fordere ich ihn auf.»Schau… Bruder.«
Rustam sieht genauer hin, nicht mit den Augen, sondern so, wie nur wir es können. Wir Anderen. Und erbleicht.
Dieser Schlacht würde man nicht noch in Jahrhunderten gedenken. Nie wieder würden wir ein Wort über sie verlieren.
Den Feind zu töten ist ruhmreich. Ihn zu Qualen zu verdammen eine Gemeinheit. Ihn zu ewigen Qualen zu verdammen eine ewige Gemeinheit.
Sie alle sind noch am Leben. In Stein verwandelt, jeder Bewegungsfähigkeit und Kraft, des Bewusstseins und Sehvermögens, des Gehörs und aller den Menschen und den Anderen zugänglichen Gefühle beraubt.
Doch sie leben und werden leben, bis sich der Stein in Staub verwandelt hat. Vielleicht sogar noch länger.
Wir sehen ihre zuckenden lebendigen Auren. Wir sehen ihr Erstaunen, ihre Angst, ihren Zorn.
Wir werden nicht stolz auf diese Schlacht sein.
Nie wieder werden wir sie erwähnen.
Und niemals wieder werden wir diese fremden, schneidenden Worte aussprechen, die den Weißen Höhenrauch heraufbeschwören…
Warum schaute ich von unten zu Alischer hinauf? Und wieso war über seinem Kopf die Decke?»Bist du wieder bei Bewusstsein, Anton?«Ich stemmte mich auf die Ellbogen hoch. Sah mich um. Im Orient geht es kompliziert zu. Der Orient kann sehr diskret sein. In der Teestube tat man so, als habe man meine Ohnmacht nicht bemerkt. Man überließ es Alischer, sich um mich zu kümmern.
»Der Weiße Höhenrauch«, wiederholte ich.
»Ja doch, ich hab’s verstanden«, meinte Alischer nickend. Er war ernstlich besorgt.»Ich habe mich getäuscht, nicht Höhlenrauch, sondern Höhenrauch. Entschuldige. Aber weshalb bist du gleich in Ohnmacht gefallen?«
»Rustam und Geser haben den Weißen Höhenrauch gemeinsam angewandt«, berichtete ich.»Vor drei Jahren… kurz gesagt, Geser hat mir den Zauber beigebracht. Gründlich. Er hat seine Erinnerung mit mir geteilt. Aber… erst jetzt erinnere ich mich, wie alles gewesen ist.«
»Ist er wirklich so schlimm?«, wollte Alischer wissen.
»Ja. Ich will nicht dort hinfahren.«
»Das Ganze hat sich vor langer Zeit ereignet«, beruhigte mich Alischer.»Alles ist vorüber, ist sehr, sehr lange her, in Vergessenheit geraten…«
»Schön wär’s…«, setzte ich an, brach dann aber ab. Falls Alischer Pech haben würde, würde er alles mit eigenen Augen sehen und verstehen. Denn zum Plateau der Dämonen mussten wir wohl oder übel fahren. Der Rustam aus meinen geliehenen Erinnerungen hatte nichts mit Afandi gemein.
Genau in diesem Moment kehrte Afandi von der Toilette zurück. Er setzte sich auf sein Kissen und sah mich an.»Ruhst du dich ein wenig aus?«, fragte er gutmütig.»Es ist aber noch zu früh zum Schlafen, das machen wir erst nach dem Pilaw.«
»Da bin ich mir nicht sicher«, meinte ich, während ich mich aufsetzte.
»Was ist die Zivilisation doch für eine segensreiche Einrichtung!«, fuhr Afandi fort, als habe er meine Worte nicht gehört.»Ihr seid noch jung, ihr wisst nicht, wie viel Gutes die Zivilisation dieser Welt gebracht hat.«
»Es wird doch wohl nicht etwa eine Glühbirne im Klo gebrannt haben?«, brummte ich.»Alischer, der Kellner soll sich mit dem Pilaw ein wenig beeilen, ja?«
Alischer runzelte die Stirn.»In der Tat…«
Er erhob sich, doch genau in diesem Moment erschien ein junger Mann mit einer großen Schüssel. Natürlich, eine für alle, wie es sich gehörte… Rötlicher, krümeliger Reis, orangefarbene Mohrrüben, eine üppige Portion Fleisch und obendrauf eine ganze Knoblauchknolle.
»Ich habe ja gesagt, dass man hier gut essen kann«, meinte Alischer voller Vergnügen.
Ich sah den Mann an, der den Pilaw gebracht hatte. Wo wohl der erste Kellner abgeblieben war? Und warum war dieser Mann so nervös?
Mit der Hand nahm ich mir etwas Pilaw und führte es zum Mund. Dabei sah ich den Kellner an. Der nickte und setzte ein gequältes Lächeln auf.
»Hammel mit Knoblauchsoße«, sagte ich.
»Mit was für Soße?«, wunderte sich Alischer.
»Schon gut… Mir sind gerade der weise Holmes und der naive Watson eingefallen«, antwortete ich, ohne mir Gedanken darüber zu machen, ob mein Russisch hier auffallen würde.»Knoblauch, um den Geruch von Arsen zu überdecken. Du hast doch selbst gesagt: Im Orient muss man seiner Nase trauen, nicht seinen Augen… Mein Guter, iss doch mit uns diesen Pilaw!«
Der Kellner schüttelte den Kopf und wich langsam zurück. Neugierig besah ich ihn mir im Zwielicht. In seiner Aura dominierten gelbe und grüne Töne. Furcht. Ein professioneller Mörder war er nicht. Den vergifteten Pilaw brachte er anstelle seines jüngeren Bruders, weil er sich Sorgen um diesen machte. Erstaunlich, zu welcher Niedertracht ein Mensch aus Liebe zu seinen Verwandten und aus Sorge um sie fähig ist.
Es war eine Improvisation, wie sie im Buche steht. In der Teestube hatte sich irgendein widerliches Zeug mit Arsen gefunden, vielleicht Rattengift. Jemand hatte den Befehl erteilt, uns vergifteten Pilaw zu servieren. Einen starken Anderen auf diese Weise zu ermorden ist unmöglich. Aber uns schwächen, unsere Aufmerksamkeit ablenken - das konnte man damit leicht.
»Jetzt mache ich Hackfleisch aus dir«, versprach ich dem Kellner.»Das verfüttere ich dann an dein Bruderherz. Wird die Teestube observiert?«
»Ich… ich weiß es nicht…«Dem Kellner war sofort klar, dass er mit mir trotz meines Äußeren russisch sprechen musste.»Ich weiß es nicht! Man hat mir einen Befehl erteilt!«
»Hau ab!«, verlangte ich, indem ich mich erhob.»Auf Trinkgeld brauchst du nicht zu hoffen.«
Der Kellner stürzte zur Küchentür. Die Gäste machten sich unterdessen daran, die Teestube zu verlassen, wobei sie beschlossen, angesichts dieses Vorfalls auf die Bezahlung zu verzichten. Was hatte sie so erschreckt? Meine Worte oder mein Tonfall?
»Verbrenn dir nicht die Hosen, Anton«, warnte Alischer mich.
Ich senkte den Blick. In meiner rechten Hand drehte sich zischend ein Fireball. In meiner Wut war der Zauber»von den Fingerspitzen«in das feuerbereite Stadium übergegangen.
»Ich sollte diese Dreckbude abfackeln… um ihnen eine Lektion zu erteilen«, zischte ich.
Alischer schwieg. Entweder lächelte er dabei gequält oder verzog das Gesicht. Ich verstand sehr gut, was er sagen wollte. Dass diese Menschen keine Schuld träfe. Ihnen wurde etwas befohlen, und sie konnten sich nicht widersetzen. Diese kleine Teestube war schließlich alles, was sie hatten. Mit ihr ernährten sie zwei, drei große Familien samt Kindern und Alten. Aber er schwieg, denn in der momentanen Situation hatte ich das Recht, ein kleines Feuerchen zu entzünden. Einem Menschen, der versuchte, drei Lichte Magier zu vergiften, konnten ein paar erzieherische Maßnahmen nichts schaden. Sie würden nicht nur ihm selbst eine Lehre sein. Schließlich sind wir Lichte, keine Heiligen…
»Die Schurpa war gut«, sagte Alischer leise.
»Gehen wir durchs Zwielicht«, befahl ich, während ich den Fireball in eine flüssige Flamme verwandelte, die sich über die Schüssel mit dem Pilaw ergoss. Reis und Fleisch verwandelten sich zusammen mit dem Arsen in glimmende, verkohlte Klumpen.»Ich möchte nicht in der Tür erscheinen. Die arbeiten mir hier zu schnell, diese Schweine.«
Alischer nickte dankbar, stand auf, trat sicherheitshalber noch die Glut mit den Füßen aus und kippte zwei Teekannen darüber.
»Der grüne Tee war auch gut«, räumte ich ein.»Er war irgendwie einfach. Sogar ziemlich merkwürdig, wenn ich ehrlich sein soll. Aber lecker.«
»Es kommt eben darauf an, den richtigen Sud zu machen«, griff Alischer das Thema erleichtert auf.»Wenn die Teekanne fünfzig Jahre alt und nie abgewaschen worden ist…«Er stockte kurz, doch als er auf meinem Gesicht keinen angewiderten
Ausdruck entdeckte, fuhr er fort:»Das ist das ganze Geheimnis! Im Innern bildet sich eine Kruste aus Taninen, ätherischen Ölen und Flavonoiden…«
»Enthält Tee wirklich Flavonoide?«, fragte ich verdutzt. Ich hängte mir die Tasche wieder über die Schulter. Beinah hätte ich sie vergessen. Bei der Unterwäsche wäre das kein Problem gewesen - aber in der Tasche befanden sich ein Satz von Geser ausgewählter Kampfamulette und fünf dicke Dollarbündel!
»Vielleicht verwechsel ich da was…«, gab Alischer zu.»Auf alle Fälle steckt das Geheimnis in dieser Kruste. Sie erlaubt es, den Tee in einem Körper aus Tee zu kochen…«
Es war uns schon zur Gewohnheit geworden, Afandi an den Ellbogen zu fassen und so ins Zwielicht einzutreten. Der listige Alte leistete keinen Widerstand, im Gegenteil: Er hob die Beine und hing zwischen uns, garstig kichernd und schreiend:»Aber! Aber!«Falls Afandi Gesers Erinnerungen zum Trotz doch Rustam sein sollte, ging mir durch den Kopf, konnte mir sein Alter gestohlen bleiben. Dann würde er von mir Russisch vom Feinsten zu hören bekommen, dass sich ihm die Ohren aufrollten.
Ehrlich gesagt, hätte ich einen UAS oder einen Niwa bevorzugt. Nicht aus patriotischen Gründen, sondern weil der Toyota-Jeep in Usbekistan nicht unbedingt verbreitet ist. Und wollten wir ihn mit Magie tarnen, könnten wir auch gleich über unseren Köpfen eine Fahne schwenken und rufen:»Hoppla! Hier kommen wir!«
Aber Afandi hatte voller Überzeugung behauptet, wir müssten uns auf eine schlechte Straße gefasst machen. Eine sehr schlechte. Der einzige Niwa, den wir in der Nähe der Teestube ausfindig gemacht hatten, war in einem derart miserablen Zustand, dass es eine Schande und Dummheit gewesen wäre, den alten Kasten dem Spott auszusetzen.
Der Toyota war neu und - wie in Asien üblich - mit allen Finessen ausgestattet. Wer sich einen so teuren Wagen leisten kann, möchte eben alles dabeihaben! Einen Sportauspuff, einen Fahrradträger (natürlich war der dickleibige Besitzer seit seiner Kindheit nicht mehr mit dem Rad gefahren), einen CD-Changer, eine Anhängerkupplung und Spoiler - kurzum all das herrliche Blendwerk, das sich die Hersteller ausdenken, um den Preis auf das Anderthalbfache des Normalen hochzuschrauben.
Dem Autohalter gehörte offenbar auch der hiesige Markt. Er sah wie ein gewöhnlicher usbekischer Landbesitzer aus, wie ein Bai, wie man sie noch aus alten Zeichentrickfilmen und Karikaturen kennt - womit er der Realität genauso entsprach wie der fette Kapitalist mit der obligatorischen Zigarre im Mund. Vermutlich bestand die Ironie des Schicksals gerade darin, dass dieser nicht mehr ganz junge Mann all seine Vorstellungen vom Aussehen eines reichen Menschen aus Zeichentrickfilmen für Kinder und populären europäischen Zeitschriften schöpfte. Er war dick. Seinen Kopf zierte eine mit Goldfäden bestickte Tjubetejka. Dazu trug er einen sehr teuren Anzug, der ihm ohne Frage zu eng war. Und eine nicht minder teure Krawatte, die zweifelsohne bereits mehrfach mit fettigem Essen Bekanntschaft geschlossen hatte, wonach sie - man weiß sich schließlich zu helfen - in der Maschine gewaschen worden war. Dann noch spiegelblank geputzte Schuhe, die für die staubige Straße völlig unangemessen waren. Goldringe mit gewaltigen synthetischen Steinen, die Juwelierhändler bissig als Dummaline bezeichnen. Die Kappe sollte die Nähe zum Volk symbolisieren, der Rest europäischen Glanz verleihen. Die Hand umklammerte ein teures Handy, das sich bei einem jungen reichen Taugenichts freilich besser ausgenommen hätte als bei einem soliden Geschäftsmann.
»Würde dieses Auto gehen?«, fragte ich Afandi.
»Ein guter Wagen«, bestätigte Afandi.
Noch einmal sah ich mich um. Andere waren keine in der Nähe. Weder feindlich gesonnene noch Partner oder solche, die inmitten der Menschen lebten. Sehr zufriedenstellend.
Als ich aus dem Zwielicht trat, schaute ich dem Besitzer des Geländewagens aufs Gesicht. Anschließend berührte ich ihn leicht mit meiner Kraft. Und wartete, bis er sich mir, die dichten Brauen verständnislos runzelnd, zudrehte. Lächelnd sandte ich zwei Zauber in seine Richtung, deren genaue Bezeichnung ausgesprochen kompliziert war, weshalb wir sie normalerweise»Ewig nicht gesehen«und»Alte Freundschaft rostet nicht«nannten.
Auf dem Gesicht des Bais von heute erstrahlte daraufhin ein Lächeln.
Die beiden jungen Männer in seiner Begleitung - entweder Bodyguards oder entfernte Verwandte, wahrscheinlich aber beides in Personalunion - starrten mich aufmerksam an. Im Zwielicht war die achtlos gewirkte Maske Timurs von mir abgefallen. Und der unbekannte Russe, der mit ausgebreiteten Armen auf ihren Chef zuging, musste ein natürliches Misstrauen auf den Plan rufen.
»Ach! Ewig nicht gesehen!«, rief ich.»Meines Vaters alter Freund!«
Leider war er rund zwanzig Jahre älter als ich. Sonst hätte ich auf die Version des Klassenkameraden zurückgegriffen oder auf eine Phrase wie»Erinnerst du dich noch an unsere Zeit bei der Armee, Bruder?«vertraut. Mit der gemeinsamen Armeezeit musste man in letzter Zeit allerdings vorsichtig sein. Ein Mensch konnte verrückt werden bei dem Versuch, sich an die gemeinsame Militärzeit zu erinnern beziehungsweise eine Erklärung dafür zu finden, wie dergleichen überhaupt möglich sein sollte - wo er sich doch für einen Packen grüner Scheine amerikanischer Provenienz ehrlich von der Armee freigekauft hatte. Einige hatten aus diesem Grund schon eine ernsthafte Neurose entwickelt.
»Meines alten Freundes Sohn!«, zeigte sich der Mann erfreut, während er mich in die Arme schloss.»Wo bist du nur so lange gewesen?«
Jetzt kam das Entscheidende: Man musste dem Menschen ein paar Informationsbrocken hinwerfen. Den Rest würde er sich dann selbst zusammenbasteln.
»Ich? Ich habe in Mariupol bei der Großmutter gelebt!«, erklärte ich.»Wie freue ich mich, dich zu sehen! Du bist ein bedeutender Mann geworden!«
Daraufhin umarmten wir uns. Der Mann verströmte einen angenehmen Duft nach Schaschlik und teurem Eau de Cologne. Nach etwas zu viel Eau de Cologne.
»Was du für ein schönes Auto hast!«, bemerkte ich dann mit einem wohlwollenden Blick auf den Jeep.»Ist es das, was du mir verkaufen wolltest?«
In den Augen des Mannes flackerte Schmerz auf, doch der»Alte Freundschaft rostet nicht«-Zauber ließ ihm keine Wahl. Er sollte lieber Geser dankbar sein, dass dieser uns vor der Reise so großzügig mit Geld versorgt hatte. Sonst hätte ich den Mann nämlich bitten müssen, mir den Toyota zu schenken.
»Ja… das ist es…«, bestätigte er voller Schmerz.
»Nimm das!«Ich öffnete die Tasche, holte vier Dollarbündel heraus und drückte sie ihm in die Hand.»Und jetzt gib mir bitte die Schlüssel! Ich habe es sehr, sehr eilig!«
»Es… es kostet aber mehr…«, brachte der Mann in unglücklichem Ton hervor.
»Komm schon, schließlich kaufe ich es gebraucht!«, widersprach ich.»Oder etwa nicht?«
»Stimmt…«, räumte er gequält ein.
»Onkel Farhad!«, rief einer der jungen Männer entsetzt aus.
Als Farhad ihn daraufhin streng anblickte, verstummte er.
»Misch dich nicht ein, wenn erwachsene Menschen sich unterhalten, bereite mir vor meines alten Freundes Sohn keine Schande!«, krächzte Farhad.»Was soll meines alten Freundes Sohn denn denken?«
Die jungen Männer gerieten in Panik. Sagten jedoch kein Wort.
Unterdessen nahm ich von dem Mann die Schlüssel entgegen und setzte mich hinters Steuer. Atmete den Geruch der neuen Lederbezüge ein. Und äugte misstrauisch auf das Armaturenbrett. Ach ja… gebraucht. Wenn man den Angaben glauben durfte, hatte das Auto erst dreihundert Kilometer hinter sich.
Anschließend winkte ich der nunmehr autolosen, doch mit vierzigtausend Dollar zurückbleibenden Troika zu, um mich sogleich in den Verkehr einzufädeln.
»Kommt aus dem Zwielicht raus!«, befahl ich.
Auf der leeren Rückbank tauchten Afandi und Alischer auf.
»Ich hätte ihm noch ein wenig Glück spendiert«, bemerkte Alischer.»Sonst macht er nachher zu viel durch. Selbst wenn er! kein sehr angenehmer, sondern ein böser Mensch ist. Trotzdem.«
»Jeder überflüssige Zauber steigert das Risiko, dass er den Verstand verliert.«Ich schüttelte den Kopf.»Mach dir keine Sorgen. Er und ich sind, wenn du so willst, quitt. Er wird es schon überstehen.«
»Warten wir auf Edgar?«, fragte Alischer.»Oder sollen wir die Lichten suchen?«
Doch darüber hatte ich schon nachgedacht. Keine der beiden Varianten überzeugte mich.
»Nein, das würde nichts bringen. Wir fahren gleich zu dieser Stelle in die Berge. Je weiter wir von den Menschen weg sind, desto beruhigter bin ich.«
Als es dämmerte, löste Alischer mich am Steuer ab. Von Samarkand aus fuhren wir bereits seit drei Stunden nach Süden, Richtung afghanische Grenze. Pünktlich zu Einbruch der Dämmerung verwandelte sich die fürchterliche Asphaltstraße in einen grauenvollen Feldweg. Ich machte es mir auf dem Rücksitz bequem, wo Afandi friedlich schnarchte, und beschloss, dem Beispiel des Alten zu folgen. Doch bevor ich einnickte, holte ich aus meiner Tasche einige Kampfamulette.
Novizen lieben alle Arten von magischen Stäben, Kristallen und Messern, seien es nun die von ihnen selbst geschaffenen Stücke oder solche, die von einem erfahreneren Magier aufgeladen worden sind. Übrigens kann selbst ein schwacher, unerfahrener Magier, der sich ein paar Tage hingebungsvoll der Anfertigung eines Artefakts und seiner Aufladung mit Kraft widmet, verblüffende Effekte erzielen. Bedauerlich dabei ist nur, dass es eben bloß ein Effekt ist, ein gewaltiger, nachhaltiger, präziser Effekt. Aber ein einzelner. Man kann einen Gegenstand nicht mit zwei unterschiedlichen Zaubern belegen. Ein magischer Stab, der eine Flamme werfen soll, bewältigt diese Aufgabe selbst in den Händen eines schwachen Anderen hervorragend. Wenn sein Gegner jedoch durchschaut, was Sache ist, und einen Schild zum Schutz gegen Feuer aufstellt, wird der Stab mit all seinen Feuerwundern nutzlos. Er kann nicht gefrieren, austrocknen oder den Gegner auf den Kopf stellen. Deshalb muss man entweder ein Ersatzfeuer bereithalten oder mit dem Stab wie mit einem Knüppel dreinschlagen. Nicht zufällig greifen junge Magier, die es mit Menschen zu tun haben - und gerade schwache Magier neigen dazu, sich in die Angelegenheiten der Menschen einzumischen oder diese in ihre eigenen Belange zu verstricken -, stets zu einem Zauberstab, einem Zwitterding zwischen einem gewöhnlich Stab und einem langen Knüppel. Und seien wir ehrlich: Einige wissen den Knüppel weitaus besser zu handhaben als die Magie. Ich erinnere mich noch, wie die ganze Wache zur Premiere vom Herrn der Ringe ins Puschkin-Kino gegangen ist. Wir genossen den Film so lange, bis der Lichte Gandalf und der Dunkle Saruman sich mithilfe ihrer Kampfstöcke prügelten. In dem Moment brachen die zwei Reihen, in denen wir Anderen saßen, in homerisches Gelächter aus. Vor allem die Praktikanten, denen jeden Tag eingetrichtert wurde: Ein Magier, der sich auf Artefakte verlässt, schielt auf den schönen Effekt, schert sich aber einen Dreck um die Effizienz. Die wahre Kraft eines Magiers liegt nämlich in seiner Fertigkeit, sich das Zwielicht zunutze zu machen und Zauber zu wirken.
Freilich gibt es für jede Regel eine Ausnahme. Wenn ein versierter Magier aufweiche Weise auch immer die Zukunft zu bestimmen vermag - durch eine kundige Analyse der Wahrscheinlichkeitslinien oder schlicht aufgrund seiner Erfahrung -, dann kann ein magisch aufgeladenes Artefakt von unersetzlichem Wert sein. Du bist überzeugt davon, dass dein Gegner ein Tiermensch ist, der die Kraft nicht direkt beeinflussen kann, sondern auf körperliche Stärke und Schnelligkeit vertraut? Dann nimm ein Beschleunigungsamulett, einen Anhänger mit einem auf Annäherung reagierenden Schild und einen einfachen Stab (viele Andere manipulieren gern einen schlichten Bleistift, denn Holz und Grafit speichern die Kraft ganz vorzüglich) mit einem Gefrierzauber. Mehr nicht! Dann kannst du ruhig einen Magier siebten Grades Jagd auf einen Hohen Tiermenschen machen lassen. Der Schild fängt den Angriff ab, das Amulett verleiht den Bewegungen des Magiers unglaubliche Schnelligkeit, und der Freeze, der temporäre Gefrierzauber, verwandelt den Feind in einen reglosen Klumpen aus Fell und Wut.
Danach braucht man den Feind nur noch abtransportieren zu lassen, damit er vor das Gericht der Inquisition gestellt werden kann.
Die Artefakte in meiner Tasche waren wesentlich wertvoller als das Geld, das sich dort noch fand. Geser persönlich hatte sie angefertigt… Und selbst wenn er sie nicht eigenhändig geschaffen hatte, so hatte er sie zumindest aus dem Spezialdepot der Waffenkammer ausgewählt. Somit durfte ich nicht nur auf ihre Stärke vertrauen, sondern auch darauf, dass sie mir helfen würden. Mir fiel ein uralter australischer Zeichentrickfilm ein, den ich noch aus meiner Kindheit kannte: In achtzig Tagen um die Welt. Der unerschütterliche englische Gentleman Phileas Fogg, der die Welt in dieser für damalige Verhältnisse Rekordzeit umrunden möchte, sah in dem Zeichentrickfilm wie ein gerissener Wahrsager aus, der genau wusste, was er in den nächsten Stunden benötigen würde. Wenn er sich morgens einen Schraubenschlüssel, ein ausgestopftes Opossum und eine Bananenstaude einpackte, dann würde er gegen Abend die Bananen einem Affen im Austausch gegen die Fahrkarten für das Schiff gegeben, mit dem Opossum ein Leck gestopft und mit dem Schraubenschlüssel jene Tür versperrt haben, durch die seine Feinde ins Zimmer einzudringen versuchten. All das erinnerte an die Quest-Spiele, wo es gilt, für jeden Gegenstand eine ungewöhnliche Anwendungsmöglichkeit zu entdecken.
Die Artefakte von Geser durfte ich ihrer eigentlichen Bestimmung gemäß oder auch in völlig überraschender Weise einsetzen. Verwendung finden würde ich für sie jedoch mit Sicherheit.
Nun breitete ich auf dem Rücksitz zwischen mir und dem schnarchenden Afandi zwölf Gegenstände aus, die ich aufmerksam betrachtete. Das hätte ich schon längst tun sollen, aber zu Hause hatte ich sie lieber nicht ausgepackt, um Nadjuschkas Neugier nicht zu wecken, im Flugzeug wollte ich nicht mit magischen Artefakten herumhantieren, und danach war einfach keine Zeit geblieben. Peinlich wäre jetzt nur, wenn sich unter den Amuletten eine Waffe gegen Golems fände.
Zwei tragbare Kampfstäbe, beide nicht länger als zehn Zentimeter. Der eine aus schwarzem Holz brachte Feuer, der zweite aus Walrosszahn Eis. Beide waren ebenso banal wie nützlich. Bislang war ich ohne sie zurechtgekommen - aber rechnen musste ich mit allem.
Vier Silberringe mit Schutzzaubern. Eine höchst merkwürdige Kollektion! Der normale Schild des Magiers schützt gegen alles, man muss ihn nur mit Energie versorgen. Schutzringe braucht ein Anderer selten. Und hier bekam ich gleich das ganze Repertoire gegen Feuer, Eis, Säure und… Vakuum. Im ersten Moment wollte ich gar nicht glauben, was ich da durchs Zwielicht sah. Dann untersuchte ich die Ringe aufmerksamer. Nein, ich hatte mich nicht getäuscht! Bei abruptem Druckabfall würde der Ring anspringen und um seinen Träger herum für Luft zum Atmen sorgen.
Ein seltsames Ding. Sicher, es gibt einige Kampfzauber, die den Gegner ersticken, darunter auch solche, die ihm die Luft in seiner Umgebung absaugen. Worauf man in Jahrtausenden des Krieges alles kommt! Im Kampf setzte jedoch niemand diese kapriziösen und langsamen Zauber ein.
Vier Armreife. Die mir sofort einleuchteten! Vier unterschiedliche Zauber, die einen Menschen oder einen Anderen zwingen, die Wahrheit zu sagen: Beschwipste Zunge, Gespräch im Zug, Letzte Beichte und Frei-von-der-Leber-weg. Alle Amulette waren bis zum Anschlag magisch aufgeladen. Kein Rustam würde sich da widersetzen können, er würde alles erzählen, was er wusste. Nützliche Dinger.
Nach kurzer Überlegung streifte ich mir alle Armreife über die linke Hand und verband sie mit einem gemeinsamen Auslösezauber. Sollte sich Rustam sträuben, brauchte ich nur die Worte:»Sag mir die Wahrheit«zu sprechen - und den alten Magier würde ein Schlag von fürchterlicher Kraft treffen. Danach bliebe ihm nur die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Zwei weitere Amulette, die der Form und dem Inhalt nach weniger banal waren, hatte Geser ohne Frage eigenhändig speziell für diese Mission angefertigt. Bei dem ersten handelte es sich um eine SIM-Karte für ein Handy, die in einer Plastikhülle steckte. Eine normale Karte, allerdings ordentlich mit Magie aufgeladen. Obwohl ich sie geraume Zeit untersuchte, kam ich einfach nicht dahinter, was es mit ihr auf sich hatte. Deshalb wagte ich ein Experiment: Ich entnahm meinem Handy die Chipkarte und steckte die magisch bearbeitete hinein.
Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr! Das war eine Kopie meiner SIM-Karte! Aber wozu? Damit ich kein Geld für Gespräche nach Moskau verschwendete? Quatsch…
Nachdem ich noch eine Weile gegrübelt hatte, bat ich Alischer, meine Nummer zu wählen. Komischerweise funktionierte das Handy hier noch.
Mein Mobiltelefon heulte los. Alles klar, das war in der Tat eine Kopie meiner SIM-Karte. Aber weshalb hatte Geser sie magisch manipuliert? Achselzuckend beschloss ich, die neue Karte im Handy zu lassen. Vielleicht steckte in ihr eine ausgebuffte Magie, mit der Gespräche chiffriert wurden? Selbst wenn ich von dergleichen noch nie gehört hatte.
Beim letzten Amulett handelte es sich um einen vom Meer glatt geschliffenen kleinen Stein mit einem Löchlein, einen sogenannten Hühnergott, der dem Aberglauben der Menschen zufolge Glück bringen soll. Durch das Loch war eine feine Silberkette gezogen, deren aufwendiges Geflecht an einen dicken gezwirbelten Faden erinnerte.
Natürlich bringen Hühnergötter eigentlich kein Glück, was Kinder jedoch nicht daran hindert, sie voller Eifer am Strand zu suchen, eine Schnur durch das Loch zu ziehen und sie sich umzuhängen. Dieser Stein trug einen komplizierten Zauber in sich, der teilweise an die Dominante erinnerte. Ob er mir auch im Gespräch mit Rustam helfen sollte? Nachdem ich hin und her überlegt hatte, hängte ich mir die Kette um den Hals. Schaden würde es sicherlich nicht…
Nun musste ich noch die Ringe und Stäbe verteilen. Dafür brauchte ich nicht groß rumzurätseln. Ich schubste Afandi an und bat ihn, die Ringe anzulegen. Begeistert rief Afandi:»Ach!«, streifte sich die Ringe auf die linke Hand, besah sie verzückt - und döste wieder ein.
Die Stäbe gab ich Alischer, der sie wortlos in die Brusttasche seines Hemds steckte. Wie exotische Füllfederhalter von Parker oder Montblanc lugten sie daraus hervor, äußerlich mindestens genauso elegant und fast genauso todbringend. Fast, denn durch das Gekritzel einer Cheffeder starben letzten
Endes weitaus mehr Menschen als durch alle Kampfstäbe zusammen.
»Ich schlaf ein wenig«, sagte ich zu Alischer.
Einen ausgedehnten Moment lang schwieg Alischer. Der Jeep kroch langsam über den steinigen Bergpfad dahin, was uns häufiger an eine Eselstour erinnerte als an eine ruhige Fahrt auf vier Rädern. Die Scheinwerfer irrten von links nach rechts und von rechts nach links, erfassten mal eine dunkle Schlucht, auf deren Grund ein Fluss rauschte, mal einen steilen Felsabhang.
»Mach das«, erwiderte Alischer.»Guck dir nur vorher noch die Wahrscheinlichkeitslinien an. Die Straße ist hundsmiserabel.«
»Ich würde es nicht mal wagen, sie Straße zu nennen«, pflichtete ich ihm bei. Dann schloss ich die Augen und sah ins Zwielicht. In die nahe Zukunft, in die die verschlungenen, verwobenen Wahrscheinlichkeitslinien führten.
Das Bild, das sich mir bot, gefiel mir nicht. Zu viele Linien, die abrupt abrissen und auf dem Grund der Schlucht endeten.
»Halt an, Alischer. Du bist zu ausgelaugt, um in der Dunkelheit durch die Berge zu fahren. Wir warten bis morgen früh.«
»Nein.«Alischer schüttelte trotzig den Kopf.»Ich spüre, dass wir uns beeilen müssen.«
Da ich das ebenfalls spürte, widersprach ich nicht.»Dann lass mich ans Steuer, ja?«, schlug ich vor.
»Ich glaube nicht, dass du wacher bist. Schüttel mich ein bisschen, Anton.«
Ich seufzte. Mit Hilfe von Magie Müdigkeit und Schlaf zu vertreiben, die Sinne zu schärfen - das ist nicht mein Ding. Und zwar nicht wegen der negativen Konsequenzen, denn die gibt es nicht. Man braucht sich danach nur einmal ordentlich auszuschlafen, und alles ist wieder in Ordnung. Was mich störte: Du gibst deine normale Wahrnehmung ziemlich bald auf und fängst an, nur noch mit magischer Energie zu funktionieren. Die ganze Zeit bist du munter und frisch, als leidest du an manischer Depression in der manischen Phase. Alles gelingt dir, bei jeder Feier und Party bist du ein gern gesehener Gast, bei jedem Spaß dabei. Früher oder später gewöhnst du dich jedoch daran, willst immer noch aktiver sein, noch scharfsinniger, noch energiegeladener. Daraufhin erhöhst du die Kraftdosis, stimulierst deine Nerven. Und so geht es weiter und weiter, bis du irgendwann merkst, dass die gesamte Kraft, die du verarbeiten kannst, für deine künstliche Munterkeit draufgeht. Dann damit aufzuhören ist einfach grauenvoll.
Die magische Abhängigkeit unterscheidet sich durch nichts von der normalen. Freilich leiden ausschließlich Andere unter ihr.
»Schüttel mich«, bat Alischer. Er hielt an, zog die Handbremse, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
Ich legte ihm eine Hand aufs Gesicht, eine in den kurz rasierten Nacken und konzentrierte mich. Stellte mir vor, wie ein Kraftstrom durch meinen Körper lief, nach und nach aus meinen Händen austrat und in Alischers Kopf sickerte. Wie ein kaltes Feuer über seine Nerven schoss, funkensprühend über die Synapsen sprang, jedes Neuron rüttelte… Spezielle Zauber sind hier nicht nötig, das Ganze basiert auf reiner Kraft. Alles hängt davon ab, wie plastisch man sich den physiologischen Prozess vorstellt.
»Das reicht«, sagte Alischer in frischerem Ton.»Wunderbar! Jetzt noch was zu essen…«
»Kommt sofort.«Ich beugte mich über den Sitz, um in den Laderaum zu gelangen. Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Dort standen zwei Kästen mit Cola in Plastikflaschen und ein paar Kartons mit Schokoriegeln.»Willst du eine Cola?«
»Was?«, rief Alischer.»Cola? Ja. Und einen Schokoriegel! Gott segne Amerika!«
»Ist das nicht ein bisschen übertrieben für die Erfindung sehr süßer Limonade und ausgesprochen kalorienreicher Schokoriegel?«
Statt mir zu antworten, drückte Alischer nur den Knopf des Players. Im nächsten Moment drangen rhythmische Akkorde aus den Lautsprechern.
»Dann eben auch noch für den Rock’n’ Roll«, erklärte er ungerührt.
Danach aßen wir die Schokoriegel und tranken die Cola. Alle Anderen sind, ob sie es wollen oder nicht, Süßschnäbel. Afandi, der noch immer schlief, schmatzte und streckte die Hand aus. Ich legte ihm einen Schokoriegel in die beringten Finger, den Afandi kaute - anscheinend ohne aufzuwachen -, um dann weiterzuschnarchen.
»Um drei Uhr nachts sind wir da«, erklärte Alischer.»Sollen wir dort warten, bis es tagt?«
»Die Nacht ist unsere Zeit«, antwortete ich.»Wir werden den alten Rustam wecken. Was soll’s, er wird sich schon nicht überarbeiten.«
»Das ist merkwürdig«, meinte Alischer.»Ungewöhnlich. Ob er da wie ein Eremit in einer Höhle lebt?«
»Nicht unbedingt…«Ich dachte kurz nach.»Vielleicht hält er Ziegen oder Hammel. Oder er hat eine Imkerei in den Bergen. Oder eine Wetterstation.«
»Oder ein Observatorium, um die Sterne zu beobachten… Was hast du Afandi für einen komischen Ring gegeben?«
»Welchen meinst du? Den mit dem Rubin? Ein Schutz gegen ein Vakuum.«
»Wie exotisch.«Alischer nuckelte an der Flasche.»Ich kann mich nicht an einen einzigen Fall erinnern, bei dem ein Anderer in einem Vakuum gestorben wäre.«
»Ich schon.«
Ein paar Sekunden lang schwieg Alischer, dann nickte er.»Entschuldige. Daran habe ich nicht gedacht. Machst du dir immer noch Vorwürfe?«
»Wir waren Freunde… fast. Soweit das zwischen einem Lichten und einem Dunklen möglich ist.«
»Kostja war nicht einfach ein Dunkler. Er war ein Vampir.«
»Aber er hat niemanden getötet«, entgegnete ich.»Und es ist nicht seine Schuld, dass er nicht als Mensch aufwachsen konnte. Gennadi hat ihn zum Vampir gemacht.«
»Wer ist das?«
»Sein Vater.«
»So ein Schwein«, meinte Alischer entrüstet.
»Du darfst ihn nicht verurteilen. Der Junge war noch nicht mal ein Jahr alt, als er mit Blaulicht ins Krankenhaus kam. Beidseitige Lungenentzündung, eine Allergie gegen Antibiotika… Kurzum, man hat den Eltern mitgeteilt, dass ihr Sohn nicht überleben würde. Mitunter gerätst du ja an solche Doktoren, die sollten nicht mal als Veterinär zugelassen werden, weil einem die Kühe sonst leidtäten… ›Ihr Junge wird sterben, machen Sie sich darauf gefasst. Aber Sie sind ja noch jung, sie können einen neuen bekommen…‹ Natürlich hätten sie keinen neuen bekommen. Kostja war das Kind, das Gennadis Schicksal besiegelte. Aus einer Laune der Natur behalten Vampire nach der Initiation noch recht lange ihre Zeugungsfähigkeit. Doch dann können sie nur ein Kind bekommen. Danach wird der Vampir steril.«
»Ja, davon habe ich gehört«, meinte Alischer nickend.
»Gennadi hatte schon mit seiner Frau gesprochen… Sie war ein Mensch. Sie wusste, dass ihr Mann ein Vampir ist… Solche Familien gibt es. Er hat nie jemanden getötet und war ein ausgesprochen gesetzestreuer Vampir, sie hat ihn geliebt… Kurzum, er hat sie gebissen. Sie initiiert. Danach sollte die Mutter den Sohn initiieren. Doch ihre Metamorphose war noch im Gange, als der Junge zu sterben drohte. Daraufhin hat Gennadi auch ihn gebissen. Kostja hat sich wieder erholt. Das heißt, er ist natürlich gestorben. Als Mensch war er nun tot. Aber von der Lungenentzündung hat er sich erholt. Die Ärztin sprang vor Freude im Dreieck und behauptete, das sei ausschließlich ihrem Können zu verdanken. Gennadi hat mal zugegeben, dass er ihr beinah an die Kehle gegangen wäre - als sie eine Bemerkung von der Art fallen ließ, es wäre keine Sünde, sich für diese wundersame Heilung erkenntlich zu zeigen.«
Einen ausgedehnten Moment lang schwieg Alischer.»Egal«, sagte er dann.»Sie sind Vampire. Besser, der Junge wäre gestorben.«
»Er ist doch auch gestorben«, meinte ich. Mit einem Mal hing mir das Gespräch zum Halse raus. Ich wollte Alischer erklären, dass Kostja ein ganz normales Kind gewesen war - selbst wenn er einmal in der Woche eine Blutkonserve trinken musste. Dass er gern Fußball spielte, Märchen und Science Fiction las, später Biologie studieren wollte, um die Natur des Vampirismus zu erforschen und den Vampiren beizubringen, wie sie ohne menschliches Blut auskämen.
Aber Alischer würde mich nicht verstehen. Er war durch und durch Wächter. Durch und durch Lichter. Ich dagegen versuchte, sogar die Dunklen zu verstehen. Sogar die Vampire. Sie zu verstehen und ihnen zu verzeihen. Oder sie wenigstens zu verstehen. Oder ihnen wenigstens zu verzeihen. Letzteres ist am schwersten. Mitunter ist Verzeihen überhaupt am schwersten.
In meiner Tasche plärrte das Handy los. Ich holte es heraus. Aha. Ein gleichmäßiges graues Leuchten.
»Hallo, Edgar«, begrüßte ich ihn.
»Kann dein Handy etwa meine Nummer erkennen?«, fragte er nach einer kurzen Pause.
»Nein, ich habe es erraten.«
»Du bist stark«, befand Edgar in seltsamem Tonfall.»Ich bin bereits seit einer Stunde in Samarkand, Anton. Wo seid ihr?«
»Wer, wir?«
»Du, Alischer und Afandi.«Der Inquisitor hatte die letzte Stunde nicht mit Müßiggang zugebracht.»Eine schöne Sache habt ihr da angerichtet…«
»Wir?«, empörte ich mich.
»Na ja, nicht ihr«, zeigte sich Edgar verständnisvoll.»Obwohl: ihr auch. Weshalb habt ihr das Auto des Marktdirektors beschlagnahmt?«
»Wir haben es nicht beschlagnahmt, sondern gekauft. Gemäß den Punkten über die mögliche Konfiszierung von Transportmitteln in Ausnahmesituationen. Soll ich dir die entsprechenden Paragrafen vortragen?«
»Ist ja gut, Anton«, versicherte Edgar schnell.»Niemand klagt euch an. Aber die Situation ist in der Tat nicht gerade rosig. Um sie zu verschleiern, mussten wir eine Geschichte von der Zerschlagung einer großen Terroristenbande in Umlauf bringen. Und wie du weißt, schätzen wir es nicht sehr, unsere… unsere eigenen Unzulänglichkeiten mit Verbrechen der Menschen zu bemänteln.«
»Ich verstehe dich ja, Edgar«, versicherte ich.»Aber worum geht es eigentlich? Ich muss persönlich mit einem Anderen sprechen, der nicht bei den Wachen im Dienste steht. Ich bin inoffiziell hierhergekommen und habe das Recht, mich ungehindert im Land zu bewegen.«
»Nur in einer Ausnahmesituation und mit Kenntnis sowie unter der Kontrolle der Wachen«, korrigierte Edgar mich.
»Afandi fährt ja mit uns.«
Edgar seufzte. Mir kam es so vor, als flüstere ihm jemand aus dem Hintergrund rasch etwas zu.
»Gut, Anton. Kläre deine persönlichen Angelegenheiten… mit denen sich die Inquisition dann später auseinandersetzen wird. Es ist nur nicht sehr ratsam, nachts durch die Berge zu fahren und womöglich in einer Schlucht zu landen.«
Ehrlich gesagt, rührte mich seine Sorge sogar.
»Schon gut«, beruhigte ich ihn.»Wir schlafen uns erst mal bis morgen früh aus.«
»Gut, Anton.«Edgar schwieg kurz, dann fuhr er irgendwie verlegen fort:»Es war schön mit dir zu reden… trotz der Umstände.«
Ich steckte das Handy weg.»Ein merkwürdiger Kerl, dieser Edgar«, sagte ich zu Alischer.»Schon als Dunkler war er merkwürdig. Als er dann Inquisitor geworden ist, war es ganz aus.«
»Meiner Ansicht landest du früher oder später auch bei der Inquisition«, meinte Alischer völlig nebenbei.
Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen.»Nein«, widersprach ich kopfschüttelnd.»Daraus wird nichts. Ich habe eine Frau und eine Tochter, die Hohe Andere sind. Jemanden wie mich nehmen die nicht.«
»Worüber ich nicht gerade traurig bin«, sagte Alischer ernst.»Was ist? Fahren wir?«
In diesem Moment erbebten die Berge. Erst schwächer, als teste man die Felsen auf ihre Standhaftigkeit. Dann stärker und stärker.
»Ein Erdbeben!«, kreischte Afandi, der prompt erwachte.»Aus dem Wagen!«
Na also! Wenn er wollte, konnte er sogar ausgesprochen vernünftig sein. Wir sprangen aus dem Jeep, rannten den Pfad ein Stück hinauf und blieben wie erstarrt stehen. Die Berge bebten. Von den Hängen rasselten kleine Steine herab. Alischer und ich wirkten, ohne uns auch nur abzusprechen, eine gemeine Schutzkuppel. Afandi leistete ebenfalls seinen Beitrag. Er schirmte die Augen mit der Hand ab und spähte auf der Suche nach unbekannten Gefahren durch die Nacht.
Und machte tatsächlich etwas aus.
»Seht! Dort!«, schrie er, während er auf der Stelle sprang und die Hand ausstreckte.»Dort! Dort!«
Wir drehten uns um, wobei wir nach wie vor den Schild über uns hielten, von dem die Steine krachend abprasselten. Wir folgten Afandis Blick. Verstärkten die Nachtsicht (was bei Alischer nach meiner Stimulation im Grunde nicht nötig gewesen wäre).
Und sahen, wie der nächst liegende, dicht mit Wald bewachsene Berg zu Staub zerfiel.
Das sah aus, als hämmere jemand von innen mit gewaltigen Schlägen gegen ihn. Der Berg erzitterte, Geröll schoss wasserfallartig herab, Steinlawinen und ganze Haine jahrhundertealter Bäume stürzten in die Schlucht, die sich rasch füllte. Binnen weniger Minuten war die kilometerhohe Spitze in ein Plateau aus zertrümmerten Steinen und zerhackten Holzstämmen verwandelt.
Dann kam ich auf die Idee, mir den Berg durchs Zwielicht anzusehen.
Worauf ich einen Kraftstrudel erblickte, der über der Katastrophenzone kreiste.
Vielleicht ein durch einen Fluch heraufbeschworener Strudel, der zu dieser Stelle gebracht worden war. Oder ein spezieller Zauber, der das Erdbeben heraufbeschworen hatte. Keine Ahnung. An dem magischen Ursprung dieser Katastrophe konnte indes kein Zweifel bestehen.
»Sie haben schlecht gezielt«, höhnte Alischer.»Anton… du hast doch mit Edgar gesprochen?«
»Ja.«
»Bist du sicher, dass die Inquisition dir nichts vorzuwerfen hat?«
Ich schluckte den Klumpen hinunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Wenn die Inquisition etwas hätte, was sie mir ankreiden könnte, wäre das sehr, sehr betrüblich. Keine sonderlich erquickliche Perspektive.
»Die Inquisition würde nicht daneben schießen…«, setzte ich an. Und verstummte. Ich holte mein Handy heraus und betrachtete es durchs Zwielicht.
In dem Kokon aus Plastik, Metall und Silizium pulsierte mit blauem Licht die SIM-Karte. Eine typische Erscheinung für ein Amulett im Einsatz.
»Ich glaube, ich weiß, was passiert ist«, sagte ich, während ich wählte.»Die Inquisition hat damit vermutlich nichts zu tun.«
»Hallo, Anton«, meldete sich Geser, als hätte ich ihn nicht geweckt. Obwohl… in Moskau war es ja erst Abend.
»Geser, ich muss mit jemandem vom Europäischen Tribunal reden. Sofort.«
»Mit einem der Magister?«, hakte Geser nach.
»Mit dem Helfer des Nachtwächters bestimmt nicht!«
»Warte kurz«, verlangte Geser gelassen.»Und danach will ich noch mal mit dir sprechen.«
Insgesamt musste ich drei Minuten warten. Die ganze Zeit standen wir da und beobachteten den sich allmählich auflösenden Kraftwirbel. In der Tat: ein zauberhafter Anblick. Für dieses Erdbeben musste ein altes und sehr starkes Amulett eingesetzt worden sein. Wie sie in den Spezialdepots der Inquisition aufbewahrt werden.
»Ich heiße Erik«, vernahm ich eine selbstsichere, kräftige Stimme.»Was gibt es, Lichter?«
»Herr Erik.«Ich erkundigte mich nicht, welchen Posten er bei der Inquisition bekleidete. Sie legen ihre Hierarchie nicht gern offen.»Ich befinde mich in der Nähe der Stadt Samarkand in Usbekistan. Wir haben hier eine Ausnahmesituation. Könnten Sie mir vielleicht sagen, ob die Inquisition ihren Mitarbeiter Edgar hergeschickt hat?«
»Edgar?«, fragte Erik gedankenversunken zurück.»Welchen Edgar?«
»Ehrlich gesagt, habe ich seinen Familiennamen nie in Erfahrung bringen können«, gestand ich.»Ein ehemaliger Mitarbeiter der Moskauer Tagwache, der nach dem Prager Prozess gegen Igor Teplow der Inquisition beigetreten ist…«
»Ach ja, ja«, erinnerte sich Erik.»Edgar. Natürlich. Nein, wir haben ihn nicht nach Samarkand geschickt.«
»Und wen haben Sie geschickt?«
»Ich weiß nicht, ob Sie sich darüber im Klaren sind, Anton«, meinte Erik mit unverhohlener Ironie,»aber das Europabüro der Inquisition beschäftigt sich mit Europa. Außerdem noch mit Russland, aufgrund seiner ambiguen geografischen Lage. Es überstiege unsere Kräfte und Wünsche, Ereignisse in Asien, in dem das Land Usbekistan liegt, zu kontrollieren. Da müssen Sie sich mit dem Asienbüro der Inquisition in Verbindung setzen. Das hat seinen Sitz gegenwärtig in Peking. Soll ich Ihnen die Nummer geben?«
»Nein, vielen Dank«, antwortete ich.»Wo ist Edgar jetzt?«
»Im Urlaub. Bereits…«Es folgte eine kurze Pause.»… seit einem Monat. Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?«
»Einen kleinen Rat würde ich Ihnen gern geben«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.»Sie sollten vielleicht einmal überprüfen, wo sich Edgar während der Ihnen bekannten Edinburgher Ereignisse aufgehalten hat.«
»Moment mal, Anton!«Jede Gelassenheit fiel von Erik ab.»Wollen Sie damit andeuten…«
»Ich habe dem nichts hinzuzufügen«, brummte ich.
Geser, der das Gespräch natürlich vom ersten bis zum letzten Wort verfolgt hatte, unterbrach die Verbindung mit Erik sofort.
»Meinen Glückwunsch, Anton«, lobte er mich.»Einen der drei haben wir ermittelt. Du hast ihn ermittelt.«
»Vielen Dank für die SIM-Karte«, erwiderte ich.»Wenn sie die Zielkoordinaten nicht verschoben hätte, wäre ich jetzt tot.«
»Eigentlich sollte sie deiner Stimme nur mehr Überzeugungskraft bei Telefonaten mit Menschen verleihen«, erklärte Geser.»Die Verschiebung von Koordinaten ist nur ein Nebeneffekt, den ich einfach nicht umgehen konnte. Das war’s, mach dich an die Arbeit! Wir werden Edgar unverzüglich festnehmen.«
Nachdenklich schaute ich auf das Handy. Dann schaltete ich es aus und steckte es in die Tasche. Hatte Geser das mit der Überzeugungskraft im Spaß gesagt oder ernst gemeint?
»Edgar«, brachte Alischer zufrieden hervor.»Also doch Edgar! Ich habe gewusst, dass man Dunklen nicht trauen kann. Selbst dann nicht, wenn sie Inquisitoren sind.«
Das Plateau der Dämonen erreichten wir um halb vier morgens. Unterwegs waren wir an einem winzigen Bergdorf vorbeigekommen, das aus weniger als einem Dutzend kleiner Lehmhütten bestand und etwas abseits vom Weg lag. Auf der einzigen kleinen Straße hatte ein Lagerfeuer gebrannt, um das sich vielleicht zehn oder zwanzig Menschen geschart hatten, mehr nicht. Offenbar hatte das Erdbeben die Bewohner des Berg-Auls so erschreckt, dass sie Angst hatten, in ihren Häusern zu schlafen.
Nach wie vor fuhr Alischer das Auto. Ich döste auf dem Rücksitz und dachte über Edgar nach.
Was hatte ihn dazu gebracht, sich gegen die Wachen und die Inquisition zu stellen? Warum verstieß er gegen alle vernünftigen Verbote und zog Menschen in seine Intrigen hinein?
Das passte einfach nicht zusammen! Freilich, Edgar war ein Karrierist wie alle Dunklen - daran gab’s nichts zu rütteln. Er könnte sich auf einen Mord einlassen. Er könnte sich mit Sicherheit auf allerlei einlassen, denn Dunkle, da brauchte ich mir nichts vorzumachen, kennen keine moralischen Bedenken. Aber um dergleichen anzuzetteln, um gegen sämtliche Anderen zu opponieren, musste er in seinem Machthunger völlig den Verstand verloren haben. Die baltische Selbstdisziplin wurzelte jedoch nach wie vor tief und fest in Edgar. Jahrzehntelang die Karriereleiter hoch-zuklettern hatte kein Problem für ihn dargestellt. Aber dass er jetzt alles auf eine Karte setzte? Undenkbar!
Was wusste er vom Kranz der Schöpfung? Welche Informationen hatte er in den Archiven der Inquisition ausgegraben? Wen hatte er noch auf seine Seite ziehen können? Einen Dunklen Vampir und einen Lichten Heiler. Wer waren sie? Woher kamen sie? Warum paktierten sie mit einem Inquisitor? Welches Ziel konnte einen Dunklen, einen Lichten und einen Inquisitor verbinden?
Über das Ziel zerbrach ich mir allerdings nicht den Kopf. Das Ziel ist immer dasselbe. Stärke. Kraft. Macht. Man könnte meinen, für uns Lichte träfe das nicht zu. Was brauchen wir Macht um der Macht willen, wo wir doch nur den Menschen helfen wollen? Da ist etwas Wahres dran - aber Macht brauchen wir eben trotzdem. Jeder Andere kennt die süße Versuchung, das mitreißende Gefühl der eigenen Stärke. Sowohl der Vampir, der zum ersten Mal in einen jungfräulichen Hals beißt, wie auch der Heiler, der mit einer einzigen Handbewegung ein sterbendes Kind rettet. Jeder findet etwas, für das es sich lohnt, die gewonnene Macht einzusetzen. Wofür genau, spielt keine Rolle.
Es gab aber etwas, das mich viel stärker beunruhigte. Edgar war in die Geschichte mit dem Fuaran involviert gewesen. Er kannte Kostja Sauschkin.
Das brachte mich zu dem Unglücksraben Viktor Prochorow zurück. Zu dem kleinen Vitja, der mit einem Jungen namens Kostja befreundet gewesen war…
Abermals wies alles auf Kostja Sauschkin hin. Was, wenn er sich auf irgendeine Weise hatte retten können? Wenn er mit letzter Kraft einen Schild aufgestellt hätte - was er ja vermochte - und lange genug durchgehalten hätte, um ein Portal zu errichten und aus dem brennenden Skaphander zu verschwinden? Und anschließend Kontakt mit Edgar aufzunehmen!
Nein, das konnte nicht sein. Die Inquisition hatte diese Frage sorgfältig geprüft. Aber wenn Edgar schon damals sein doppeltes Spiel gespielt hätte? Und die Untersuchungsergebnisse gefälscht hätte?
Auch so ging das Puzzle nicht auf. Warum hätte Edgar einen Vampir retten sollen, auf den er noch kurz zuvor Jagd gemacht hatte? Wozu hätte er ihn erst retten und sich dann auf ein Bündnis mit ihm einlassen sollen? Was konnte Kostja ihm bieten? Ohne das Fuaran nichts! Und das Buch war vernichtet worden, das stand außer Frage. Nach ihm hatte man genauso intensiv gesucht wie nach Kostja. Darüber hinaus hatten auch magische Mittel seine Vernichtung bewiesen. Der Kraftausstoß bei der Zerstörung eines derart starken und alten Artefakts ließ sich mit nichts vergleichen.
Alles lief also darauf hinaus, dass Edgar - erstens - Kostja nicht gerettet haben konnte und - zweitens - dazu auch gar keine Veranlassung gehabt hatte.
Und trotzdem. Trotzdem, trotzdem…
Alischer parkte den Jeep und stellte den Motor ab. Die eintretende Stille schien betäubend.
»Offenbar sind wir da«, sagte er. Er strich über das Steuer und fuhr lobend fort:»Ein gutes Auto. Ich hätte nicht gedacht, dass wir es schaffen.«
Ich drehte mich Afandi zu, der jedoch schon aufgewacht war. Mit zusammengepressten Lippen betrachtete er die bizarren Steinfiguren, die sich vor uns erhoben.
»Da stehen sie also immer noch«, meinte ich.
Afandi sah mich mit echter Furcht an.
»Ich weiß«, erklärte ich.
»Die Geschichte ist schlecht ausgegangen«, brachte Afandi mit einem Seufzer hervor.»Eine unschöne Geschichte. Die eines Lichten nicht würdig ist.«
»Afandi, bist du Rustam?«, fragte ich ganz direkt.
»Nein, Anton.«Er schüttelte den Kopf.»Ich bin nicht Rustam. Ich bin sein Schüler.«
Er öffnete die Tür und stieg aus dem Jeep. Einen Moment lang schwieg er. Dann murmelte er:»Ich bin nicht Rustam. Aber ich werde Rustam sein…«
Alischer und ich wechselten einen beredten Blick und stiegen aus.
Es war still und frisch. In den Bergen ist die Nacht immer kühl, selbst im Sommer. Langsam brach der neue Tag an. Das Plateau, das ich aus den Erinnerungen Gesers bereits kannte, hatte sich kaum verändert. Vielleicht waren die Umrisse der Steinfiguren vom Wind und den seltenen Regengüssen ein wenig abgeschliffen worden, hatten ihre scharfen Konturen eingebüßt. Zu erkennen waren sie jedoch immer noch. Eine Gruppe von Magiern mit in der Heraufbeschwörung eines Zaubers erhobenen Armen, ein Tiermensch, ein rennender Magier…
Ich erschauderte.
»Was ist…?«, flüsterte Alischer.»Was ist hier passiert…?«
Er kramte in seiner Tasche, suchte ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug.
»Gib mir auch eine«, bat ich.
Wir rauchten. Die Luft hier war so sauber, dass der scharfe Tabakgeruch wie etwas Vertrautes wirkte, das an den städtischen Smog erinnerte.
»Waren… waren das Menschen?«, fragte Alischer, während er auf die Felsbrocken zeigte.
»Andere«, antwortete ich.
»Und sie…«
»Sie sind nicht gestorben. Sie sind versteinert. Ihnen wurden alle Gefühle entzogen. Aber ihr Verstand ist ihnen geblieben, er ist in den Felsbrocken gefangen.«Ich sah zu Afandi hinüber, aber der stand einfach da, versunken in die Betrachtung des einstigen Schlachtfelds. Vielleicht spähte er auch nach Osten, wo das Himmelsgewölbe sich leicht rosa einfärbte.
Dann besah ich mir das Plateau durchs Zwielicht.
Ein wahrlich grauenvoller Anblick.
Das, was Geser vor zweitausend Jahren gesehen hatte, hatte Angst und Ekel hervorgerufen. Das, was ich jetzt sah, rief Bedauern und Schmerz hervor.
Fast alle Dunklen, die der Weiße Höhenrauch in Stein verwandelt hatte, waren wahnsinnig geworden. Ihr Verstand ertrug es nicht, vollständig von den übrigen Sinnesorganen abgeschnitten zu sein. Die zuckenden farbigen Aureolen um die Steine herum loderten in den braunen und olivgrünen Flammen des Wahnsinns. Wollte man eine Analogie finden: Es sah aus, als kreisten hundert Wahnsinnige wie toll um ein und dieselbe Stelle. Oder im Gegenteil: als stünden dort lauter Erstarrte. Alles schrie, kicherte, stöhnte, weinte, brummte, sonderte Speichel ab, zerkratzte sich das Gesicht oder versuchte, sich die Augen auszureißen.
Nur wenige Auren hatten sich Reste von Verstand bewahrt. Vielleicht zeichnete ihre Besitzer eine phänomenale Willenskraft aus, vielleicht brannte der Rachedurst in ihnen zu heftig -Wahnsinn ließ sich in diesen Auren jedenfalls nicht feststellen. Dafür Zorn, Hass und der Wunsch, alles und jeden zu vernichten. Und zwar im Übermaß.
Ich gab die Sicht durchs Zwielicht auf. Richtete den Blick wieder auf Alischer. Der Magier rauchte, ohne zu bemerken, dass bereits der Filter der Zigarette glomm. Erst als es ihm die Finger verbrannte, warf er die Kippe weg.
»Die Dunklen haben nur gekriegt, was sie verdienten«, sagte er.
»Tun sie dir denn kein bisschen leid?«, fragte ich.
»Sie nutzen unser Mitleid nur aus.«
»Aber wenn wir nicht zu Mitleid fähig sind, wodurch unterscheiden wir uns dann von ihnen?«
»Durch die Farbe.«Alischer sah Afandi an.»Wo müssen wir den Großen Rustam suchen, Afandi?«
»Du hast ihn gefunden, Lichter mit dem steinernen Herzen«, antwortete Afandi leise. Und wandte sich uns zu.
Er hatte sich mit der Schnelligkeit eines erfahrenen Transformationsmagiers verwandelt. War einen Kopf größer geworden. Und breiter in den Schultern, das Hemd spannte, der oberste Knopf war, vom Fleisch verdrängt, abgesprungen. Die Haut war zu meinem Erstaunen jetzt heller, die Augen leuchtend blau. Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass die Bewohner Asiens vor zweitausend Jahren völlig anders ausgesehen hatten als in unseren Tagen. Heute lächelt ein Russe, während ein Europäer politisch korrekt schweigt, sobald ein Asiate ihnen erzählt, er habe dunkelblonde Vorfahren mit blauen Augen. Doch in diesen Worten steckt weitaus mehr Wahrheit, als unsere Zeitgenossen annehmen.
Rustams Haare waren allerdings schwarz. Und in seinen Gesichtszügen ließ sich der orientalische Ursprung selbstverständlich erahnen.
»Bist du also doch Rustam«, sagte ich, während ich den Kopf neigte.»Ich grüße dich, Großer! Ich danke dir, dass du unsere Bitte erhört hast.«
Neben mir ließ sich Alischer ganz wie ein tapferer Ritter vor seinem Herrn aufs Knie nieder, gleichermaßen untertänig und stolz.
»Afandi ist nicht Rustam«, antwortete der uralte Magier. Sein Blick war verschleiert, als lausche er nunmehr einer Stimme.»Afandi ist mein Schüler, mein Freund, mein Hüter. Ich lebe nicht mehr inmitten der Menschen. Mein Zuhause ist das Zwielicht. Wenn ich unter den Sterblichen einhergehen muss, leihe ich mir seinen Körper.«
So war es also… Ich nickte, als ich seine Worte vernahm.»Du weißt, weshalb wir gekommen sind, Großer«, stellte ich fest.
»Ja. Doch will ich auf Gesers Fragen nicht antworten.«
»Geser hat gesagt, du seist…«
»Ich weiß, was ich Geser schuldig bin.«In Rustams Augen loderte ein zorniges Feuerchen auf.»Ich erinnere mich an unsere Freundschaft, und ich erinnere mich an unsere Feindschaft. Ich habe ihn gebeten, aus der Wache auszuscheiden. Ich habe ihn gebeten, den Krieg, den er um die Menschen führt, zu beenden… um unserer Freundschaft und um der Menschen selbst willen. Aber Geser gleicht diesem Jüngling…«
Schweigend sah er Alischer an.
»Wirst du uns helfen?«, fragte ich.
»Ich beantworte eine Frage«, teilte Rustam mir mit.»Eine einzige Frage. Damit ist meine Schuld gegenüber Geser getilgt. Frage mich - und begehe keinen Fehler.«
Beinahe hätte ich alles mit der Frage»Stimmt es, dass du Merlin gekannt hast?«verpatzt. Ach, diese Fallstricke… Stelle eine Frage, äußere drei Wünsche…
»Was ist der Kranz der Schöpfung und wie kann man ihn am einfachsten aus der siebten Zwielicht-Schicht herausholen?«, fragte ich.
Auf Rustams Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.
»Du erinnerst mich an einen Menschen aus Choresm. Ein gerissener Kaufmann, dem ich etwas schuldete… und dem ich versprochen hatte, ihm drei Wünsche zu erfüllen. Nach reiflicher Überlegung sagte er mir: ›Dann möchte ich mich verjüngen, von allen Gebrechen geheilt sein und reich werden - das erstens. ‹ Nein, junger Magier. Dieses Spiel werden wir nicht spielen. Ich erfülle keine Wünsche, ich antworte auf eine einzige Frage. Damit wird alles beglichen. Was genau willst du wissen? Was es mit dem Kranz der Schöpfung auf sich hat? Oder wie du an ihn herankommst?«
»Ich möchte mich nicht in der Rolle der Pandora wiederfinden, die die Frage stellt: ›Wie kriege ich diese Büchse auf?‹«, brummte ich.
Rustam lachte los - und in diesem Gelächter schwang ein Hauch von Wahnsinn mit.
Aber was sollte man von einem Lichten erwarten, der sich im Zwielicht dematerialisiert hatte, um in der Nähe seiner Feinde zu leben, die er einst zu ewigen Qualen verdammt hatte? Er selbst hatte sich diese Strafe oder diese Form der Reue auferlegt, die ihn langsam umbrachte…
»Was hat es mit dem Kranz der Schöpfung auf sich?«, entschied ich mich.
»Es ist ein Zauber, der sich einen Weg durchs Zwielicht bahnt und dieses mit der Menschenwelt verbindet«, erklärte Rustam wie aus der Pistole geschossen.»Du hast die richtige Wahl getroffen, junger Magier. Die Antwort auf den zweiten Teil der Frage hätte dich verwirrt.«
»So geht das nicht! Wenn du schon auf eine Frage antwortest, dann auch ehrlich!«, ereiferte ich mich.»Erklär mir, wie dieser Zauber funktioniert und wozu er dient!«
»Gut«, lenkte Rustam erstaunlich schnell ein.»Die Kraft eines Anderen besteht in seinem Vermögen, sich die durch alle Schichten des Zwielichts fließende Kraft der Menschen zunutze zu machen. Unsere Welt gleicht einer riesigen Ebene, in der es winzige kleine Quellen gibt, nämlich die Menschen, die Kraft abgeben, diese aber nicht zu lenken wissen. Wir, die Anderen, sind nur die Schlaglöcher, in die das Wasser aus diesen Hunderten und Tausenden von Quellen fließt. Wir geben dieser Welt nicht einen Tropfen Wasser. Aber wir können das fremde Wasser speichern und nutzen. Unsere Fähigkeit liegt im Sammeln fremder Kraft. Infolge dieser Fähigkeit können wir ins Zwielicht eindringen, die Barrieren zwischen den Schichten durchbrechen und mit immer stärkeren Energien hantieren. Der Zauber, den der Große Merlin ersonnen hat, reißt diese Barrieren ein, die unsere Welt von den Zwielicht-Schichten trennen. Was glaubst du, junger Magier, was das Ergebnis davon ist?«
»Eine Katastrophe?«, vermutete ich.»Die ZwielichtWelt… unterscheidet sich schließlich von unserer. In der dritten Schicht gibt es zwei Monde…«
»Merlin hat das nicht so gesehen«, widersprach Rustam. Anscheinend fand er inzwischen Gefallen an dem Gespräch und hatte selbst nach Beantwortung meiner Frage nichts dagegen, sich weiter über das Thema auszulassen.»Merlin vertrat die Ansicht, jede ZwielichtSchicht stehe für etwas, das in unserer Welt nicht geschehen ist. Eine Möglichkeit, die nicht eingetreten ist. Ein Schatten, der auf das Sein fällt. Unsere Welt wird nicht sterben, sondern das Zwielicht vernichten. Es auslöschen - so wie das Sonnenlicht den Schatten auslischt. Die Kraft würde, gleich dem Wasser eines Ozeans, die ganze Welt überschwemmen. Und in dieser Überflutung wird es keine Rolle mehr spielen, wer ins Zwielicht einzudringen vermag und wer nicht. Die Anderen werden ihre Kraft verlieren. Für immer.«
»Besteht daran kein Zweifel, Rustam?«
»Wer will das sagen?«Rustam breitete die Arme aus.»Ich antworte auf deine zweite Frage, weil ich die Antwort nicht weiß. Möglicherweise wird es so sein. Die Menschen dürften die Veränderungen gar nicht bemerken, während die Anderen zu gewöhnlichen Menschen werden. Aber das ist die einfachste Antwort. Doch ob das Einfache auch stets das Wahre ist? Vielleicht droht uns eine Katastrophe. Die zwei kleinen Monde stoßen mit dem großen zusammen, das blaue Moos breitet sich auf Weizenfeldern aus… Wer vermag all das zu wissen, Magier, wer… Vielleicht werden die Anderen schwächer, bewahren sich aber gleichwohl einen Teil ihrer Kraft. Vielleicht ereignet sich auch etwas, womit niemand gerechnet hat. Etwas, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen. Merlin hat es nicht gewagt, den Zauber anzuwenden. Er hat ihn um seines Amüsements willen ersonnen. Es bereitete ihm Freude zu wissen, dass er die gesamte Welt verändern könnte… Doch er beabsichtigte nicht, es auch wirklich zu tun. Meiner Ansicht nach tat Merlin gut daran. Man darf nicht an das rühren, was er im Zwielicht verborgen hat.«
»Aber die Jagd nach dem Kranz der Schöpfung hat bereits begonnen«, wandte ich ein.
»Das ist verwerflich«, konstatierte Rustam unerschüttert.»Ich würde euch raten, davon abzusehen.«
»Aber nicht wir suchen ihn«, entgegnete ich.»Wir haben damit nicht das Geringste zu tun. Ein Inquisitor, ein Dunkler und ein Lichter haben sich zu diesem Zweck verbündet.«
»Wie interessant«, kommentierte Rustam.»Nicht häufig vermag ein Ziel Feinde zu vereinen.«
»Kannst du uns helfen, sie aufzuhalten?«
»Nein.«
»Aber du hast doch selbst gesagt, es sei eine verwerfliche Sache.«
»Es gibt viele verwerfliche Sachen auf der Welt. Doch gewöhnlich bringt der Versuch, das Böse zu besiegen, nur noch mehr Böses hervor. Ich rate euch, Gutes zu vollbringen. Nur so kann man den Sieg erlangen!«
Alischer gab ein entrüstetes Schnauben von sich. Selbst ich verzog das Gesicht, als ich diese edle, aber völlig nutzlose Schlussfolgerung vernahm. Zu gern würde ich wissen, wie du, Rustam, das Böse besiegt hättest, wenn du nicht zusammen mit Geser den Weißen Höhenrauch gewirkt hättest! Selbst wenn mir die auf diese Weise eingesperrten Dunklen leidtun, hege ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass, falls die Dunklen ihrerseits die beiden Lichten ausgeschaltet hätten, die Lichten und die Menschen, die Geser und Rustam verteidigt haben, ein qualvoller Tod erwartet hätte… Ja, möglicherweise besiegt man das Böse nicht durch das Böse. Aber das Gute schafft man eben auch nicht nur durch Gutes.
»Hast du wenigstens eine Ahnung, was sie erreichen wollen?«, fragte ich.
»Nein.«Rustam schüttelte den Kopf.»Das habe ich nicht. Den Unterschied zwischen Menschen und Anderen ausradieren? Das wäre dumm! Dann müsste man alle Ungleichheiten in der Welt beseitigen. Zwischen Armen und Reichen, Starken und Schwachen, Männern und Frauen. Da wäre es einfacher, gleich alle umzubringen.«Er stimmte ein schallendes Gelächter an, worauf mir abermals schaudernd bewusst wurde, dass der Große nicht mehr ganz bei Verstand war.
»Du hast recht, Großer Rustam«, erwiderte ich gleichwohl mit aller Höflichkeit.»Das wäre ein dummes Ziel. Schon einmal hat ein Anderer versucht, es zu erreichen… mithilfe des Buchs Fuaran. Zugegeben, er hat nicht denselben Weg beschritten, sondern versucht, alle Menschen in Andere zu verwandeln.«
»Was für ein origineller Kopf«, erwiderte Rustam ohne jedes Interesse.»Aber ich räume ein, dies sind zwei Wege, die beide zum selben Ziel führen. Nein, junger Magier, alles ist wohl weitaus komplizierter!«Er kniff die Augen zusammen.»Meiner Ansicht nach dürfte der Inquisitor in den Archiven etwas entdeckt haben. Eine Antwort auf die Frage, was dieser Kranz der Schöpfung nun wirklich ist.«
»Und?«, hakte ich nach.
»Es muss eine Antwort sein, von der alle etwas haben. Sowohl die Dunklen wie auch die Lichten und die Inquisitoren, die das Gleichgewicht wahren. Erstaunlich, dass es eine solche Antwort überhaupt gibt. Sie könnte mich sogar ein wenig interessieren. Jetzt habe ich dir freilich alles erzählt, was ich weiß. Merlins Zauber löscht den Unterschied zwischen den Schichten des Zwielichts aus.«
»Du selbst bewohnst doch das Zwielicht«, bemerkte ich.»Du könntest uns ruhig mehr verraten! Denn wenn das Zwielicht verschwindet, stirbst du!«
»Oder werde ein normaler Mensch und lebe das mir verbleibende Menschenleben zu Ende«, erwiderte Rustam gleichmütig.
»Es werden alle sterben, die ins Zwielicht eingegangen sind!«, ereiferte ich mich. Alischer sah mich erstaunt an. Nun ja… er wusste noch nicht, dass der Weg der Anderen in der siebten Zwielicht-Schicht endet.
»Die Menschen sind sterblich. Warum sollten wir besser sein?«
»Äußere wenigstens eine Vermutung, Rustam!«, flehte ich.»Du bist weiser als ich. Was kann es sein? Was kann der Inquisitor gefunden haben?«
»Frag ihn selbst.«Rustam streckte die Hand aus. Er bewegte die Lippen, worauf ein Strom blendend weißen Lichts neben mir auf den Toyota traf.
Vermutlich hätte ich Edgar sogar selbst entdeckt - wenn ich erwartet hätte, ihn auf dem Plateau zu sehen. Vielleicht hätte jedoch auch die sorgsamste Überprüfung nichts gebracht. Edgar hatte sich nämlich nicht im Zwielicht und nicht mithilfe banaler, jedem Anderen zugänglicher Zauber verborgen. Er entzog sich unseren Blicken durch ein magisches Amulett, das auf seinem Kopf thronte und an eine Tjubetejka oder Kippa erinnerte. Nur die Maße erlaubten es nicht, sie als Tarnkappe zu bezeichnen. Sollte es also eine Tarntjubetejka sein, schließlich waren wir hier in Usbekistan.
Absolut automatisch stellte ich einen Schild auf. Alischer tat, wie ich bemerkte, genau das Gleiche.
Nur Rustam schien die Anwesenheit des Inquisitors nicht zu beunruhigen. Das von ihm ausgesandte Licht hatte Edgar getroffen, ohne dass er davon etwas mitbekommen hätte. Der Inquisitor saß auf der Motorhaube, ließ die Beine baumeln und beobachtete uns völlig ungerührt. Er schien gar nicht zu begreifen, was gerade passierte. Bis seine Tjubetejka anfing zu rauchen. Mit einem unterdrückten Fluch warf Edgar sie zu Boden. Erst da ging ihm auf, dass wir ihn sahen.
»Hallo, Edgar«, begrüßte ich ihn.
Seit dem Tag, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten - im Zug, bei dem Kampf mit Kostja Sauschkin -, hatte er sich nicht verändert. Allerdings trug er nicht den obligatorischen Anzug samt Krawatte, sondern war weitaus legerer und bequemer gekleidet: graue Leinenhosen, ein leichter weißer Baumwollpullover, solide Lederschuhe mit dicker Sohle… Kurzum, eine gepflegte, elegante europäische Erscheinung - weshalb er sich in diesen asiatischen Gefilden wie ein gutherziger Kolonialherr ausnahm, der sich für kurze Zeit der Bürde eines weißen Mannes entledigt hatte, oder wie ein englischer Spion zu Zeiten Kiplings und des damals von Großbritannien und Russland in dieser Region ausgetragenen Großen Spiels.
»Hallo, Anton.«Edgar rutschte von der Motorhaube und breitete die Arme aus.»Ähäm… ich habe euer Gespräch unterbrochen.«
Seltsamerweise wirkte er tatsächlich verlegen. Schon komisch: Da jagt er uns tektonische Zauber auf den Hals und schämt sich offenbar kein bisschen. Aber wenn er uns in die Augen sehen muss, ist ihm das peinlich…
»Was hast du da nur angerichtet, Edgar?«, fragte ich.
»Das hat sich so ergeben.«Er seufzte.»Ich mache nicht einmal den Versuch, mich zu rechtfertigen, Anton! Mir ist das sehr peinlich.«
»War dir das in Edinburgh auch peinlich?«, ließ ich nicht locker.»Als ihr den Wächtern die Kehle durchgeschnitten habt? Als ihr Banditen angeheuert habt?«
»Ja, sehr«, bekannte Edgar nickend.»Vor allem, weil das alles umsonst war, denn wir sind nicht in die siebte Schicht gekommen.«
Afandi alias Rustam lachte los und schlug sich mit den Händen auf die Schenkel. Wie viel davon Rustam zuzuschreiben war und wie viel Afandi, vermochte ich nicht zu sagen.
»Ihm war es peinlich«, brachte Rustam hervor.»Denen ist es immer peinlich. Und immer war alles umsonst.«
Edgar, den Rustams Reaktion ganz offensichtlich in Verlegenheit brachte, wartete, bis der Magier sich nach Herzenslust ausgelacht hatte. Inzwischen inspizierte ich den Inquisitor - oder sollte ich besser sagen:»den ehemaligen Inquisitor«? - durchs Zwielicht.
Natürlich war er mit Amuletten behangen wie ein Weihnachtsbaum mit kleinen Spielzeugen. Außer den Amuletten gab es jedoch noch etwas. Bestimmte Zauber. Eine Verbindung einfachster natürlicher Komponenten, die man nicht lange und umständlich aufladen musste, sondern die ihre magischen Eigenschaften durch leichte, kaum wahrnehmbare Berührungen mit der Kraft entfalteten. So wie Salpeter, Kohle und Schwefel - alles an sich fast harmlos - Schießpulver ergeben, das der kleinste Funke explodieren lässt.
Edgar trug nicht ohne Grund ausschließlich Baumwolle, Leinen und Leder. Natürliche Materialien besitzen eine Affinität zur Magie - eine Nylonjacke kann man nicht magisch manipulieren.
Und diese Zauber, die seine leichte Kleidung in einen magischen Panzer verwandelten, beunruhigten mich. Solche Zauber wählen Zauberinnen und Hexen als Waffen. Magier setzen sie nur selten ein. Niemals könnte ich mir Edgar vorstellen, wie er seine Hosen sorgsam in einem Kräutertrank badete.
Ob eines der beiden übrigen Mitglieder ihrer Verbrecherbande am Werk gewesen war? Die Lichte Heilerin? Heilerinnen beherrschen diese Art Zauber, das wusste ich von Swetlana nur zu genau.
»Du weißt, dass ich dich festnehmen muss, Edgar«, sagte ich.
»Und wenn dir das nicht gelingt?«Edgar wartete die Antwort nicht ab. Hartnäckig starrte er Rustam an, während die Finger seiner linken Hand sich bewegten und einen Zauber wirkten. Mir war absolut klar, welchen. Kurz schwankte ich, ob ich Rustam warnen sollte oder nicht. So seltsam das auch anmuten mochte, doch von Edgars Erfolg würde ich ebenfalls profitieren…
»Rustam, er wirkt die Letzte Beichte!«, schrie ich.
Immerhin war er ein Lichter, dieser alte Magier, der den Verstand verloren hatte.
Unverzüglich schoss Edgar den Zauber ab.»Wie kann ich den Kranz der Schöpfung an mich bringen?«, schrie er im selben Moment.
Na schön. Damit brauchte ich meine vier Armreife, die einen zu Offenheit zwingen, nicht einzusetzen.
Schweigend starrten wir alle auf Rustam. Der fuhr sich langsam über die Brust, wo der Schlag des Zaubers ihn getroffen hatte. Dann hob er den Kopf und sah Edgar mit kalten blauen Augen an.»Mit den Händen«, antwortete er.
Alischer brach in schallendes Gelächter aus. Edgar war an der Doppeldeutigkeit seiner Frage gescheitert. Selbst unter dem Einfluss des starken Zaubers konnte sich Rustam herauswinden und eine ebenso präzise wie nutzlose Antwort geben.
Nun holte Rustam, indem er kaum merklich die Lippen bewegte, zum Gegenschlag aus. Das, womit er zuschlug, war mir absolut unbekannt. Es zeigte keine spektakulären Effekte: Edgar schwankte lediglich hin und her, während auf seinen Wangen die roten Abdrücke einer unsichtbaren Hand aufflammten.
»Versuche nie wieder, mich unter Druck zu setzen«, belehrte Rustam ihn, sobald die Ohrfeigensession endete.»Hast du verstanden, Inquisitor?«
Bevor Edgar auch nur antworten konnte, riss ich, unsagbar froh darüber, dass ich mein Kampfsortiment nicht gegen Rustam eingesetzt hatte, den Arm hoch und schleuderte alle vier in den Armreifen gespeicherten Zauber zur Lockerung der Zunge gegen Edgar. Die Amulette am Körper des Inquisitors loderten auf, vermochten jedoch nicht die gesamte Wucht des Schlags abzufangen.
»Welcher Vampir war mit dir in Edinburgh?«, brüllte ich.
Edgars Gesicht wirkte völlig entstellt. Unter großer Pein versuchte er, die sich von seiner Zunge losreißenden Worte zurückzuhalten. Was ihm missglückte.
»Sauschkin!«, schrie Edgar.
Rustam brach schon wieder in Gelächter aus.»Leb wohl!«, brachte er mühevoll hervor.
Daraufhin wurde Afandi wieder er selbst. Als lasse man bei einer Gummipuppe ein wenig Luft raus. Sein Wuchs verringerte sich, die Schultern verloren an Breite, im Gesicht zeigten sich Falten, die Augen blickten trüber drein, ein Büschel Barthaar fiel ihm aus und flog davon.
Voller Hass blickten Edgar und ich einander an.
Im nächsten Moment führte Edgar - ohne vorher Kraft zu sammeln oder einen Zauber zu formulieren - einen Schlag aus. Vom Himmel ergoss sich ein Flammenregen, der über die Schilde von Alischer und mir brandete. Um den verwirrten, immer noch nicht ganz klaren Afandi tobte überhaupt kein Feuer - offenbar eine Folge des Schutzrings an seinem Finger.
Die nächste Minute bestand aus lauter Angriffen und Gegenangriffen. Alischer überließ es klugerweise mir, den Kampf zu führen, indem er einen Schritt zurücktrat, unsere Schilde mit Kraft versorgte und sich nur ab und zu einen kurzen Ausfall mit Angriffsmagie genehmigte.
Geser musste bei unserer Ausstattung die besten Zukunftsdeuter der Wache konsultiert haben. Oder sich sogar selbst ins
Zeug gelegt haben. Dem Feuer folgte Eis. Ein Schneesturm heulte durch die Luft, winzige Schneeflocken mit rasiermesserscharfen Kanten stellten die Tüchtigkeit unserer Schilde auf die Probe und schmolzen kraftlos, sobald sie in Afandis Nähe gelangten. Der Eissturm hatte sich noch nicht gelegt, als Edgar den Kuss des Ameisenigels einsetzte: Saure Tropfen überzogen die Steine unter unseren Füßen. Afandi konnten jedoch auch sie nichts anhaben. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich, dass der Alte ebenfalls nicht untätig blieb und irgendeinen schwachen, aber sehr raffinierten und ausgefallenen Zauber wirkte. Selbst wenn ihm damit kein Erfolg beschieden sein dürfte, so war er zumindest beschäftigt und kam uns nicht in die Quere.
Bei dem vierten Zauber, mit dem Edgar mich angriff, handelte es sich um einen Vakuumschlag. Damit hatte ich bereits gerechnet. Als der Druck schlagartig fiel, schlug ich ungerührt weiter abwechselnd mit dem Opium und dem Thanatos auf Edgar ein. Hinter mir schoss Alischer aus magischen Stäben Fireballs und Kugeln aus unterkühltem Wasser ab. Die Kombination aus Fireballs und explodierenden blauen Breiklumpen, diesen Eisschrapnellen, erzielte ganz erstaunliche Ergebnisse. Mit einem Blick erfasste ich, wie die in Opposition geratenen Schutzamulette des Inquisitors ihre Kraft einbüßten.
Trotzdem musste hinter all dem noch mehr als die Amulette stecken. Edgar, ein Magier ersten Grades, hielt gegen uns beide stand, ja, er schaffte es sogar, zum Gegenschlag anzusetzen! Entweder musste er über jedes Maß mit Kraft aufgeladen sein - oder er hatte den ersten Grad inzwischen hinter sich gelassen. Doch mir blieb keine Zeit, seine Aura gründlich zu überprüfen.
Die Schlappe mit dem Vakuumschlag hatte Edgars Eifer offenbar gedämpft. Dass wir auf so einen außergewöhnlichen Zauber vorbereitet waren, brachte den Inquisitor in Verlegenheit. Langsam wich er zurück, umrundete den angekohlten, verätzten und reifbedeckten Toyota. Dabei blieb er an einem aus der Tür herauslugenden Eiszapfen hängen und wäre beinah hingefallen. Um sein Gleichgewicht ringend, fuchtelte er mit den Armen, sodass mein Opium ihn beinah nicht getroffen hätte.
»Gib auf, Edgar«, schrie ich.»Zwing mich nicht, dich umzubringen.«
Auf diese Worte sprang der Inquisitor an. Er hielt kurz inne und zog einen seltsamen Anhänger unter seinem Gürtel hervor, ein Bündel grauer Federn, die ein Faden zusammenhielt, sodass sie an einen Staubwedel erinnerten. Er warf das Ding in die Luft.
Die Federn verwandelten sich in eine Schar übergroßer Spatzen mit kupfern glänzenden Schnäbeln. Es waren zwei oder drei Dutzend, die auf mich zuflogen und dabei manövrierten wie hypermoderne Sprengköpfe, dieser Stolz eines jeden Generals in einer Raketentruppe.
Der Hühnergott um meinen Hals zersprang und flog von der Kette. Sofort schossen die kupferschnäbligen Spatzen in der Luft hin und her. Edgar wollten sie sich nicht nähern - über mich konnten sie jedoch nicht mehr herfallen. So irrlichterten sie in der Luft, bis Edgar fluchend mit der Hand fuchtelte und sie zum Verschwinden brachte.
Afandi schoss seinen Zauber jetzt ebenfalls ab, der Edgars Schutz anscheinend durchbrach. Was dem Magier freilich gar nichts ausmachte. Nach wie vor zog er sich zurück, gelegentlich einen Gegenschlag wagend. Auf seiner Brust glomm etwas stärker und stärker auf: Ein unter seiner Kleidung verborgenes Amulett war angesprungen und nunmehr einsatzbereit. Kurz fragte ich mich, ob Edgar sich mit einem Selbstmordzauber ausgerüstet hatte, beispielsweise dem Schahid oder dem Gastello, der uns mit ihm ins Grab gerissen hätte.
»Verstärk die Schilde!«, befahl ich, worauf Alischer das Letzte gab, um die Schilde um uns und um Afandi aufzuladen.
Edgar hatte für Selbstmordeinlagen jedoch augenscheinlich nichts übrig. Nach einer weiteren kurzen Attacke presste er die Hände auf die Brust, auf das leuchtende Amulett. Um ihn herum loderten die blauen Umrisse eines Portals auf. Der Magier trat rasch nach vorn - und verschwand.
»Der hat den Schwanz eingezogen«, konstatierte Alischer. Er ließ sich auf die Steine plumpsen - und sprang sofort wieder auf. Seine Hosen rauchten. Der Kuss des Ameisenigels wirkte noch.
Ich stand völlig ausgelaugt da. Neben mir lachte Afandi spöttisch los.
»Womit hast… du ihn…?«, fragte ich.
»Die nächsten siebenundsiebzig Male wird er einen peinlichen Reinfall erleben, wenn er einer Frau beiliegt!«, erklärte Afandi triumphierend.»Und niemand kann diesen Zauber aufheben.«
»Sehr scharfsinnig«, bemerkte ich.»Und sehr orientalisch.«
Mit einigen raschen Zaubern säuberte ich die Erde von den Spuren der Magie. Die Säuretropfen ließen die Steine wie einen aufgehenden Hefeteig Blasen werfen.
Sauschkin!
Also doch Sauschkin!
Geser meldete sich nicht sofort. Ehrlich gesagt, ließ er sich damit drei Minuten Zeit.
»Anton, könntest du nicht…«
»Nein«, fiel ich ihm ins Wort.
Allmählich zog der neue Tag herauf. Die ungewohnten großen Sterne des Südens verloschen. Ich nahm einen weiteren Schluck Cola aus der Flasche.
»Vielen Dank für die Amulette«, fuhr ich dann fort.»Sie haben perfekt gepasst. Aber jetzt hol uns hier raus. Sollte noch ein Psychopath aufkreuzen…«
»Anton.«Gesers Stimme klang jetzt sanfter.»Was ist passiert?«
»Wir hatten ein heißes Gespräch mit Edgar.«
Geser hüllte sich in Schweigen.»Lebt er noch?«, fragte er nach einer Weile.
»Ja. Er ist durch ein Portal verschwunden. Zuvor hat er allerdings ziemlich lange versucht, uns das Licht auszublasen.«
»Ist unser Freund, der Herr Inquisitor, verrückt geworden?«
»Schon möglich.«
Geser summte etwas vor sich hin - und schlagartig ging mir auf, worüber der Chef nachdachte: Wie er diese Information in einem Gespräch mit Sebulon am besten verwerten konnte. Wie er den Dunklen mit dem Bericht über seinen einstigen Schützling am besten demütigen konnte.
»Wir sind sehr müde, Geser.«
»Ein Hubschrauber kommt euch abholen«, versicherte Geser.»Ein Portal aufzuhängen wäre ausgesprochen schwierig. Wartet noch ein bisschen, ich setze mich mit Taschkent in Verbindung. Seid ihr bei… Rustam?«
»Wir sind auf dem Plateau, wo ihr die Dunklen mit dem Weißen Höhenrauch geschlagen habt.«
So oft bekam ich nicht die Gelegenheit, Geser in Verlegenheit zu bringen, als dass ich mir diese Chance jetzt entgehen lassen konnte.
»Der Hubschrauber wird bald da sein«, meinte Geser nach kurzem Zögern.»Hast du mit Rustam gesprochen?«
»Ja.«
»Hat er dir geantwortet?«
»Ja. Aber nicht auf alle Fragen.«
»Gut.«Geser seufzte erleichtert.»Wenigstens etwas… Musstest du ihm… hm… zureden?«
»Nein. Alle vier Armreife habe ich auf Edgar gefeuert.«
»Ach ja?«Geser wurde mit jedem Wort von mir ausgelassener.»Und was hast du erfahren?«
»Den Namen des Vampirs, mit dem Edgar sich verbündet hat.«
»Und?«, fragte Geser nach kurzem Schweigen.»Wer ist es?«
»Sauschkin.«
»Das kann nicht sein!«, donnerte Geser.»Dieser Hundesohn!«
»Dann müssten die Zauber versagt haben.«
»Meine Zauber versagen nie. Vielleicht hast du daneben geschossen«, brachte Geser in sanfterem Ton hervor.»Anton, lassen wir doch… diese intellektuellen Spitzfindigkeiten. Komm her - dann zeige ich dir etwas, das ich dir eigentlich nicht zeigen wollte.«
»Ich kann’s kaum noch erwarten«, schnaubte ich.
»Ich meine die Überreste von Konstantin Sauschkin. Sie werden bei uns aufbewahrt, in der Wache.«
Jetzt war es an mir zu schweigen.
»Ich wollte dich nicht damit quälen«, fuhr Geser fort.»Verkohlte Knochen sind kein sehr erfreulicher Anblick… Konstantin Sauschkin ist tot. Daran besteht kein Zweifel. Selbst ein Hoher Vampir vermag nicht ohne Schädel zu leben. Genug jetzt. Entspann dich. Wartet auf den Hubschrauber.«
Ich unterbrach die Verbindung. Sah Alischer an, der in der Nähe auf dem Boden lag und Schokolade aß.
»Geser hat mir mitgeteilt, dass Sauschkins Überreste bei uns aufbewahrt werden«, sagte ich.
»Stimmt«, entgegnete Alischer gelassen.»Ich habe sie gesehen. Den Schädel, in den sich das Glas des Raumanzugs gebohrt hat. Dein Sauschkin ist tot.«
»Nimm es nicht so schwer«, ließ sich Afandi vernehmen.»So was kommt vor. Unter jedem Zauber ist es möglich, zu lügen oder ein falsches Spiel zu spielen.«
»Er hätte nicht lügen können…«, flüsterte ich, während ich mir Edgars Gesicht in Erinnerung rief.»Nein, das hätte er nicht…«
Ich inspizierte das Telefon und wählte im Menü den Player an. Stellte den Zufallsgenerator ein. Als ich eine Frauenstimme zu den leisen Klängen einer Gitarre hörte, legte ich das Handy neben mich. Die Minilautsprecher mühten sich nach Kräften.
Einst standen wir früh mit der Sonne auf
Und lebten fast ewig einmal,
Bis einer von uns das flackernde Licht,
Bis einer das Feuer stahl.
Da fingen die einen zu beten an,
Die andren schärften die Krallen.
Doch von dem Blauen Flusse dort
Tranken wir alle.
Dieweil uns die Zeit durch die Finger zerrann,
Ist der Fluss im Herbst fast versiegt.
Da sagten die Hiesigen, dass das nur an
Den Zugewanderten liegt.
Und während die einen von uns einen Sohn,
Die anderen Töchter bekamen,
Tranken wir vom selben Fluss
Alle zusammen.
»Afandi!«, rief ich den Alten.»Weißt du, dass mir meine Tochter von dir erzählt hat? Und zwar schon in Moskau.«
»Wirklich?«, verwunderte sich Afandi.»Ist deine Tochter eine Zauberin?«
»Ja«, gab ich zu.»Allerdings noch eine sehr kleine. Sie ist erst sechs Jahre alt. Sie hat mich gefragt, ob du ihr Perlen schenkst. Blaue.«
»Dein Töchterchen lob ich mir!«, rief Afandi begeistert.»Erst sechs Jahre - und schon denkt sie an Perlen! Und dann noch Türkise! Eine gute Wahl… Da, nimm!«
Ich bekam nicht einmal mit, aus welcher Tasche er die Perlen hervorzog, die er mir gab. Neugierig besah ich mir die auf eine Schnur gezogenen himmelblauen Türkisperlen.
»Die sind doch magisch, oder, Afandi?«, fragte ich.
»Das ist kaum der Rede wert. Die Schnur ist verzaubert, sodass sie niemals reißen kann. Ansonsten sind es bloß Perlen. Schöne Steine! Ich habe sie für meine Urenkelin ausgesucht. Sie ist zwar schon eine alte Dame, liebt aber nach wie vor Schmuck. Keine Sorge, ich werde ihr neue kaufen. Die nimm für deine Tochter mit, möge sie sie tragen, auf dass sie ihr Glück bringen.«
»Vielen Dank, Afandi«, meinte ich, während ich das Geschenk wegsteckte.
Der eine flog höher und höher hinauf,
Und dem brach der Flügel entzwei.
Bei diesem stand reichlich das Korn auf dem Feld,
Bei jenem - nur Wüstenei.
Der eine starb, von der Kugel gefällt,
Der andere löste den Schuss.
Doch getrunken haben wir alle
Vom selben Fluss.
Und wenn er beim Wein oder Kräutertrank
Des Vaters, der Mutter gedenkt,
Meint dieser, nun sei es Zeit, dass man baut,
Und jener, Zeit, dass man sprengt.
Doch jedes Mal mitternachts macht, der da sitzt
An der Mühle des Schicksals, Schluss
Mit dem Streit zwischen ihnen und sagt,
Wer auf Wache ziehn muss.
Alischer hüstelte.»Vielleicht geht es mich nichts an, Musiker sind ja generell komische Leute!«, bemerkte er leise.»Aber meiner Ansicht nach sollten wir wegen dieses Liedes doch eine Untersuchung einleiten…«