Wächter des Zwielichts

Der vorliegende Text ist für die Sache des Lichts belanglos.

Die Nachtwache

Der vorliegende Text ist für die Sache des Dunkels belanglos.

Die Tagwache

Erste Geschichte
Niemandszeit

Prolog

Irgendwann zwischen Wyssozki und Okudshawa sind in Moskau die echten Höfe verschwunden.

Seltsam. Selbst nach der Revolution, als man der Küchenfron den Kampf ansagte und zu diesem Zwecke in den Häusern die Küchen abschaffte, tastete man die Höfe nicht an. Zu jedem stolzen Stalinbau, der seine Potjomkin'sche Fassade dem nächstgelegenen Prospekt zuwandte, gehörte unbedingt ein Hof. Ein großer grüner Hof mit kleinen Tischen und Bänken und mit einem Hausmeister, der morgens den Asphalt fegte. Dann brach die Zeit der vierstöckigen Plattenbauten an - und die Höfe schrumpften in sich zusammen, wurden kahl, die einst so gemütlichen Hausmeister wechselten das Geschlecht und verwandelten sich in Hauswartinnen, die es für ihre Pflicht hielten, übermütigen Jungs die Ohren lang zu ziehen und die Mieter zu tadeln, die betrunken nach Hause kamen. Trotzdem gab es noch Höfe.

Doch dann - als habe jemand aufs Gaspedal gedrückt - schossen die Häuser in die Höhe. Erst neun, dann sechzehn und schließlich vierundzwanzig Etagen. Als werde jedem Haus mehr Raum, aber nicht mehr Fläche zugebilligt. Die Höfe verkümmerten bis auf den Platz direkt vorm Hauseingang, die Türen gingen jetzt direkt auf die Straße hinaus, Hausmeister und Hauswartinnen verschwanden, an ihre Stelle traten die Angestellten der Wohnungsverwaltung.

Freilich, später kehrten die Höfe zurück. Jedoch - als nähmen sie es krumm, derart vernachlässigt worden zu sein - nicht zu allen Häusern. Die neuen Höfe säumte eine hohe Mauer, in der Pförtnerloge saßen geschniegelte junge Männer, unter englischem Rasen versteckte sich eine Tiefgarage. In diesen Höfen spielten die Kinder unter Aufsicht ihrer Kindermädchen, durch nichts zu erschütternde Bodyguards zogen betrunkene Mieter aus BMW und Mercedes, und die neuen Hausmeister beseitigten mit kleinen deutschen Fahrzeugen den Müll vom englischen Rasen. Das hier war einer jener neuen Höfe.

Die Hochhaustürme am Ufer der Moskwa kannte ganz Russland. Sie galten als das neue Symbol der Hauptstadt - anstelle des alten Kremls, der seinen Glanz eingebüßt hatte, und des GUM, das nun vom»zentralem zu einem ganz normalen Kaufhaus geworden war. Die Uferstraße aus Granit, eine eigene Anlegestelle, Hauseingänge mit venezianischem Stuck, Cafes und Restaurants, Schönheitssalons und Supermärkte und natürlich Wohnungen mit zwei-, dreihundert Quadratmetern. Wahrscheinlich brauchte das neue Russland ein solches Symbol, ein pompöses und kitschiges Symbol wie eine dieser dicken Goldketten, die all diejenigen um den Hals trugen, die gerade zu Geld gekommen waren. Und es spielte keine Rolle, dass ein Großteil der bereits vor einiger Zeit verkauften Wohnungen leer stand, die Cafes und Restaurants geschlossen waren und auf bessere Zeiten warteten und schmutzige Wellen die Anlegestelle aus Beton umspülten.

Der Mann, der an diesem warmen Sommerabend die Uferstraße entlangflanierte, hatte noch nie eine Goldkette getragen. Denn er verfügte über gutes Gespür, das ihm guten Geschmack vollauf ersetzte. Rechtzeitig hatte er den Adidas-Trainingsanzug aus China gegen ein himbeerfarbenes Jackett getauscht, um dann als Erster das himbeerfarbene Jackett zugunsten eines Anzugs von Versace wieder abzulegen. Selbst beim Sport war er andern immer eine Naselänge voraus. Einen Monat vor sämtlichen Kremlbeamten warf er den Tennisschläger in die Ecke, um alpinen Skilauf zu betreiben - obgleich er in seinem Alter Bergskiern nur noch dann etwas abgewann, wenn er sich nicht auf ihnen fortbewegte.

Außerdem zog er es vor, in einer Villa im moskaunahen Datschenviertel Gorki-9 zu leben und die Wohnung mit den Fenstern zum Fluss nur mit einer Geliebten aufzusuchen.

Von seiner Dauergeliebten wollte er sich übrigens auch trennen. Schließlich würde kein Viagra der Welt sein Alter besiegen, und eheliche Treue kam langsam wieder in Mode.

Der Chauffeur und der Bodyguard hielten recht großen Abstand zu ihm, damit sie die Stimme ihres Chefs nicht hören konnten. Und selbst wenn der Wind Bruchstücke seiner Worte zu ihnen hinübertrüge - was wäre schon so schlimm daran? Warum sollte ein Mensch nach einem Arbeitstag nicht mit sich selbst reden, wenn er in absoluter Einsamkeit über den plätschernden Wellen stand? Schließlich gibt es keinen verständnisvolleren Gesprächspartner als das eigene Ich.

»Und trotzdem wiederhole ich meinen Antrag…«, sagte der Mann. »Noch einmal.«

Matt leuchteten die Sterne, die den städtischen Smog durchdrangen. Am andern Ufer des Flusses schimmerten die winzigen Fenster der hoflosen Hochhäuser. Von den hübschen Laternen, die sich die Anlegestelle entlangzogen, brannte jede fünfte - auch das nur, weil es dem großen Mann eingefallen war, am Fluss spazieren zu gehen. »Ich wiederhole es noch einmal«, sagte der Mann leise.

Die Wellen klatschten an den Kai - und mit ihnen die Antwort. »Das ist unmöglich. Absolut unmöglich.«

Den Mann am Ufer verwunderte die Stimme aus der Leere nicht im Geringsten. Er nickte. »Was ist mit den Vampiren?«, fragte er dann.

»Stimmt, das wäre eine Möglichkeit«, räumte der unsichtbare Gesprächspartner ein. »Die Vampire könnten Sie initiieren. Wenn Sie sich mit einer Existenz als Untoter abfinden… Nein, ich werde Sie nicht anlügen. Das Sonnenlicht ist ihnen unangenehm, tötet sie aber nicht, und auch auf Risotto mit Knoblauch müssen sie nicht verzichten…«

»Was ist es dann?«, erkundigte sich der Mann, der unwillkürlich die Hand auf die Brust legte. »Die Seele? Die Notwendigkeit, Blut zu trinken?«

Die Leere lachte leise. »Sie würden nur noch Hunger kennen. Ewigen Hunger. Und innere Leere. Das würde Ihnen nicht gefallen, das weiß ich. »

»Was käme sonst in Frage?«, bohrte der Mann weiter.

»Tiermenschen«, erwiderte der Unsichtbare fast amüsiert. »Sie sind ebenfalls in der Lage, einen Menschen zu initiieren. Aber auch bei Tiermenschen handelt es sich um eine niedere Form der Dunklen. Die meiste Zeit ist alles wunderbar… Doch wenn ein Anfall naht, verlören Sie die Kontrolle über sich. Drei, vier Nächte im Monat. Manchmal seltener, manchmal öfter.«

»Bei Neumond«, meinte der Mann mit einem verständnisvollen Nicken.

Die Leere lachte erneut. »Nein. Die Anfälle der Tiermenschen sind nicht mit dem Mondzyklus verbunden. Sie werden das Nahen des Wahnsinns zehn bis zwölf Stunden vor der Verwandlung spüren. Aber einen genauen Zeitplan wird Ihnen niemand vorlegen können.«

»Kommt nicht in Frage«, sagte der Mensch kalt. »Ich wiederhole… meine Bitte. Ich möchte ein Anderer werden. Und zwar kein niederer Anderer, den Anfälle tierischen Wahnsinns packen. Aber auch kein großer Magier, der große Taten vollbringt. Sondern ein ganz gewöhnlicher, einfacher Anderer… Was ist das in Ihrer Klassifikation? Siebter Grad?«

»Das ist unmöglich«, antwortete die Nacht. »Ihnen fehlt jede Anlage zum Anderen. Wirklich jede. Ein Mensch kann Geige spielen lernen, selbst wenn er kein musikalisches Gehör hat. Er kann ohne die geringste Veranlagung Sportler werden. Aber Sie können kein Anderer werden. Sie gehören einfach einer andern Gattung an. Es tut mir sehr leid.«

Der Mann am Ufer lachte. »Nichts ist unmöglich. Wenn die niederen Anderen in der Lage sind, einen Menschen zu initiieren, dann muss es auch eine Möglichkeit geben, mich in einen Magier zu verwandeln.«Die Dunkelheit schwieg.

»Außerdem habe ich nicht gesagt, dass ich ein Dunkler werden möchte. Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, unschuldiges Blut zu trinken, Jungfrauen über Felder nachzujagen oder mit ekelhaftem Gelächter Schadzauber zu wirken«, sagte der Mann verärgert. »Ich würde viel lieber Gutes tun… Kurzum, Ihre internen Streitigkeiten sind mir völlig einerlei. »

»Das…«, sagte die Nacht müde.

»Das ist Ihr Problem«, erwiderte der Mann. »Ich gebe Ihnen eine Woche. Danach möchte ich eine Antwort auf meine Bitte bekommen. »

»Bitte?«, hakte die Nacht nach.

Der Mann auf der Uferstraße lächelte. »Ja. Noch bitte ich bloß.«

Er drehte sich um und ging zu seinem Auto, einem Wolga, der etwa in einem halben Jahr wieder in Mode kommen würde.

Eins

Selbst wenn du deine Arbeit liebst: Am letzten Urlaubstag packt dich die Schwermut. Noch vor einer Woche hatte ich am

sauberen Strand in Spanien geschmort, Paella gegessen (der usbekische Pilow schmeckt mir, wenn ich ehrlich sein soll, besser), in einem kleinen chinesischen Restaurant eisgekühlte Sangria getrunken (woran es wohl liegen mag, dass die Chinesen das spanische Nationalgetränk viel besser hinbekommen als die Eingeborenen?) und in Souvenirläden allerlei Quatsch für Touristen gekauft.

Jetzt hatte mich das sommerliche Moskau wieder, das zwar gar nicht so heiß, dafür jedoch drückend und schwül war. Mein letzter Urlaubstag. Der Kopf kann schon nicht mehr abschalten, will aber auf gar keinen Fall an Arbeit denken. Vielleicht freute ich mich deshalb über Gesers Anruf.

»Guten Morgen, Anton«, meinte der Chef, ohne sich zu melden. »Willkommen daheim. Wusstest du, dass ich es bin?«

Seit einiger Zeit konnte ich spüren, wenn Geser anrief. Als ob sich das Klingeln des Telefons änderte, fordernder, machtvoller erscholl.

Dem Chef hatte ich davon aber nichts gesagt. »Ja, Boris Ignatjewitsch. »

»Bist du allein?«, erkundigte sich Geser.

Eine überflüssige Frage. Ich war mir sicher, dass Geser genau wusste, wo Swetlana sich gerade aufhielt.

»Ja. Meine Mädels sind auf der Datscha.«

»Eine schöne Sache.«Am andern Ende seufzte der Chef. In seine Stimme schlich sich ein durchaus menschlicher Unterton. »Olga ist heute Morgen auch in den Urlaub geflogen… Die Hälfte aller Leute brät im Süden… Könntest du nicht mal kurz ins Büro kommen?«

Bevor ich etwas antworten konnte, fuhr Geser munter fort: »Prima! Dann also in vierzig Minuten.«

Zu gern wollte ich Geser als billigen Aufschneider beschimpfen - aber natürlich legte ich erst einmal auf. Doch auch danach schwieg ich. Zum einen könnte der Chef meine Worte auch ohne jedes Telefon hören. Zum andern: Was auch immer der Chef sein mochte, ein billiger Aufschneider war er nicht. Er vergeudete bloß nicht gern Zeit. Wenn mir sowieso auf der Zunge lag zu sagen, dass ich in vierzig Minuten da wäre - wofür hätte er dann noch auf meine Antwort warten sollen?

Außerdem hatte ich mich wirklich sehr über den Anruf gefreut. Der Tag war sowieso im Eimer. Ich würde erst in einer Woche auf die Datscha fahren. Für einen Wohnungsputz war es noch zu früh. Wie jeder Mann, der auf sich hält, tat ich das in Abwesenheit meiner Familie nur einmal: am letzten Tag meines Strohwitwerdaseins. Danach, jemanden zu besuchen oder einzuladen, stand mir absolut nicht der Sinn. Deshalb war es viel vernünftiger, den Urlaub einen Tag früher zu beenden, um zu gegebener Zeit reinen Gewissens meine Überstunden abbummeln zu können. Selbst wenn das bei uns nicht üblich ist.

»Danke, Chef«, höhnte ich sarkastisch. Wohl oder übel stemmte ich mich aus dem Sessel hoch und legte das Buch, das ich gerade las, weg. Reckte mich. Dann klingelte das Telefon noch einmal.

Klar, jetzt würde Geser anrufen und»Keine Ursache«sagen. Selbst wenn das nun wirklich kindisch war! »Hallo!«, meldete ich mich mit sehr sachlicher Stimme.

»Anton, ich bin's.«

»Swetka«, begrüßte ich sie, während ich mich wieder hinsetzte. Und mich anspannte: Swetas Stimme klang alarmierend. Besorgt. »Swetka, ist was mit Nadja?«

»Es ist alles in Ordnung«, antwortete sie rasch. »Mach dir keine Sorgen. Sag mir lieber, wie es bei dir aussieht.«

Einen Moment lang dachte ich nach. Ich hatte mich nicht besoffen, keine Frauen ins Haus geschleppt, die Wohnung nicht im Chaos versinken lassen, sogar das Geschirr abgewaschen… Dann kam ich drauf. »Geser hat angerufen. Gerade eben. »

»Was wollte er?«, hakte Swetlana sofort nach.

»Nichts Besonderes. Ich soll gleich mal ins Büro kommen.«

»Anton, irgendwas spüre ich. Etwas stimmt nicht. Hast du eingewilligt? Fährst du in die Wache? »

»Warum nicht? Mir fällt hier die Decke auf den Kopf.«

Am andern Ende der Leitung (obwohl: was haben Handys für eine Leitung?) schwieg Swetlana sich aus. Nach einer Weile brachte sie dann unwillig hervor: »Es war wie ein Stich ins Herz. Glaubst du, dass ich Unheil wittern kann. »

»Ja, o Große«, meinte ich schmunzelnd.

»Das ist kein Witz, Anton!«Swetlana explodierte sofort. Wie immer, wenn ich sie Große nannte. »Tu mir den Gefallen… Wenn Geser dich um etwas bittet, dann lehne ab.«

»Sweta, wenn Geser mich ruft, dann hat er einen Auftrag für mich. Dann heißt das, er braucht Leute. Er hat gesagt, sonst seien alle im Urlaub…«

»Er braucht Kanonenfutter«, fiel Swetlana mir ins Wort. »Gut… Anton, du hörst sowieso nicht auf mich. Sei einfach vorsichtig.«

»Swetka, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Geser vorhat, mich ans Messer zu liefern«, gab ich zu bedenken. »Ich versteh ja, was du von ihm hältst…»

»Sei vorsichtig. Unsertwegen. In Ordnung?«

»Gut«, versprach ich. »Ich bin immer sehr vorsichtig.«

»Ich rufe wieder an, wenn ich was spüre«, sagte Swetlana. Anscheinend hatte sie sich etwas beruhigt. »Und du ruf auch an, ja? Sobald etwas Ungewöhnliches passiert, ruf an. Abgemacht? »

»Mach ich.«

Swetlana schwieg einen Moment. Dann, bevor sie die Verbindung unterbrach, sagte sie: »Du solltest die Wache verlassen, Lichter Magier dritten Grades…«

Irgendwie gab sie verdächtig leicht nach. Nur diese kleine Spitze… Freilich, wir hatten vereinbart, nicht über dieses Thema zu sprechen. Schon vor langer Zeit, schon seit Swetlana vor drei Jahren aus der Nachtwache ausgetreten war. Und nicht einmal hatten wir das Versprechen gebrochen. Natürlich erzählte ich meiner Frau von meiner Arbeit. Von außergewöhnlichen Fällen. Und sie hörte immer interessiert zu. Und jetzt das: Sie brachte das Thema von sich aus zur Sprache. Ob sie wirklich eine Gefahr spürte?

Auf alle Fälle fing ich erst mal an zu trödeln, wollte nicht los. Erst zog ich mir einen Anzug an, dann Jeans und ein kariertes Hemd, danach konnten mich alle mal, und ich schlüpfte in Shorts und ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck»Mein Freund war klinisch tot, aber alles, was er mir aus dem Jenseits mitgebracht hat, ist dieses T-Shirt!«Wie ein deut scher Tourist, der sich des Lebens freut. Immerhin wahrte ich so wenigstens den Anschein von Urlaubsstimmung, wenn ich Geser gegenübertrat…

Schließlich verließ ich das Haus erst zwanzig Minuten, bevor ich beim Chef zu sein hatte. Ich musste ein Auto anhalten, die Wahrscheinlichkeitslinien überprüfen, um dem Fahrer dann eine Strecke nennen zu können, bei der uns kein Stau erwartete.

Der Fahrer akzeptierte die Tipps nur ungern und voller Skepsis. Dafür schafften wir es noch rechtzeitig.

Auf den Fahrstuhl musste ich verzichten: Ein paar Jungs in Blaumännern beluden die Aufzüge eifrig mit Papiersäcken, die eine Zementmischung enthielten. Also nahm ich die Treppe. Im ersten Stock unseres Hauses entdeckte ich Handwerker. Sie verkleideten die Wände mit Gipskartonplatten. Außerdem wuselten Verputzer herum, die die Dinger gleich verfugten. Parallel dazu zogen wieder andere eine Zwischendecke ein, über der bereits Röhren von einer Klimaanlage verliefen.

Hatte sich der Leiter unserer Wirtschaftsabteilung am Ende doch noch durchgesetzt! Und den Chef dazu bekommen, eine umfassende Modernisierung zu bewilligen. Und sogar Geld dafür aufgetrieben.

Ich blieb kurz stehen, um mir die Arbeiter durchs Zwielicht anzusehen. Menschen. Keine Anderen. Was schließlich auch zu erwarten gewesen war. Bloß ein Verputzer, ein völlig unscheinbarer Mann, hatte eine etwas verdächtige Aura. Doch schon im nächsten Moment begriff ich, dass er lediglich verliebt war. In die eigene Frau! Ha! Gab es also doch noch anständige Menschen!

Der zweite und dritte Stock waren bereits fertig, was auch die letzten Reste meiner schlechten Laune vertrieb. Endlich würde es im Rechenzentrum kühler sein. Sicher, ich würde da jetzt nicht mehr jeden Tag auftauchen. Aber trotzdem… Im Vorbeigehen begrüßte ich die Wachleute, die hier offensichtlich für die Zeit der Bauarbeiten Dienst schoben. Dann stürmte ich auf Gesers Zimmer zu. Und stieß erst mal mit Semjon zusammen. Der erklärte Julja gerade etwas mit ernster Miene und eindringlicher Stimme.

Wie die Zeit vergeht… Vor drei Jahren war Julja noch ein kleines Mädchen gewesen. Inzwischen hatte sie sich zu einer jungen hübschen Frau gemausert. Da sie eine tüchtige Zauberin zu werden versprach, hatte man sie bereits ins Europabüro der Nachtwache holen wollen. Zu gern sicherte man sich dort die talentierte Jugend - unter dem Deckmäntelchen vielsprachiger Losungen über die große und gemeinsame Sache.

Diesmal war ihre Rechnung jedoch nicht aufgegangen. Geser hatte ihnen Julka verweigert und damit gedroht, er selbst könne auch anfangen, die europäische Jugend zu rekrutieren. Was wohl Julja selbst gewollt hatte?

Semjon unterbrach sein Gespräch, sobald er mich sah. »Hat er dich herbestellt?«, fragte er verständnisvoll. »Oder ist dein Urlaub schon vorbei?«

»Sowohl als auch«, antwortete ich. »Ist irgendwas passiert? Hallo, Julka.«

Semjon und ich begrüßten uns aus irgendeinem Grund nie. Als ob wir uns schon kurz zuvor begegnet wären. Er sah ja auch immer gleich aus: höchst schlicht und unachtsam angezogen, mit dem faltigen Gesicht eines Bauern, den es in die Stadt verschlagen hat. Heute sah Semjon sogar noch schlampiger aus als sonst.

»Hallo, Anton«, meinte Julja lächelnd. Ihr Miene war ernst. Anscheinend ging Semjon gerade seiner pädagogischen Tätigkeit nach, eine Sache, auf die er sich meisterlich verstand.

»Nichts ist passiert.«Semjon schüttelte den Kopf. »Alles ist ruhig und friedlich. Letzte Woche haben wir zwei Hexen festgenommen, aber auch nur wegen Kleinigkeiten.«

»Dann ist es ja gut«, meinte ich und gab mir alle Mühe, Julkas wehleidigem Blick auszuweichen. »Ich geh mal zum Chef.«

Semjon nickte und wandte sich wieder Julja zu. Auf dem Weg ins Vorzimmer schnappte ich noch auf: »Also, Julja, ich mache das jetzt schon seit sechzig Jahren, aber ein derartig verantwortungsloses…«

Streng ist er. Doch wenn er schimpft, dann immer zu Recht. Daher hatte ich nicht die Absicht, Julka vor diesem Gespräch zu bewahren. Im Vorzimmer, wo jetzt leise eine Klimaanlage surrte und an der Decke winzige Halogenstrahler prangten, saß Larissa. Anscheinend war auch Galotschka, Gesers Sekretärin, im Urlaub, und die Leute vom Fuhrpark haben wirklich wenig zu tun. »Hallo, Anton«, begrüßte mich Larissa. »Du siehst gut aus. »

»Zwei Wochen am Strand«, antwortete ich stolz.

Larissa linste auf ihre Uhr. »Ich soll dich gleich reinschicken. Aber der Chef hat noch Besuch. Willst du trotzdem rein?«

»Ja«, beschloss ich. »Wozu habe ich mich denn sonst so beeilt?«

»Gorodezki für Sie, Boris Ignatjewitsch«, meinte Larissa in die Sprechanlage. Sie nickte mir zu. »Geh rein… aber mach dich auf was gefasst, da ist es verdammt heiß…«

In Gesers Zimmer war es in der Tat heiß. Vor seinem Tisch duckmäuserten zwei mir unbekannte Männer in mittleren Jahren in den Sesseln, die ich insgeheim gleich Dick und Dünn taufte. Schwitzen taten sie allerdings beide.

»Und was haben wir hier?«, fragte Geser sie tadelnd. Er schielte zu mir herüber. »Komm rein, Anton. Setz dich, ich bin gleich fertig.«Dick und Dünn fassten ein wenig Mut.

»Eine durch und durch unfähige Hausfrau…, die alle Fakten verdreht… banalisiert und vereinfacht… und euch verarscht! Nach Strich und Faden!«

»Weshalb wohl? Weil sie eben alles banalisiert und vereinfacht!«, blaffte Dick finster.

»Sie haben befohlen, dass alles seine Ordnung haben soll«, sprang Dünn ihm bei. »Und das ist halt das Ergebnis, Helllichter Geser!«

Ich betrachtete Gesers Besucher durchs Zwielicht. Natürlich! Schon wieder Menschen! Die noch dazu Gesers richtigen Namen und Titel kannten! Den sie obendrein mit offenem Sarkasmus aussprachen! Gewiss, es gibt die merkwürdigsten Situationen, aber dass Geser selber Menschen seine Identität enthüllt…

»Gut.«Geser nickte. »Ich gebe euch noch eine Chance. Diesmal arbeitet ihr getrennt.«Dick und Dünn sahen sich an.

»Wir werden uns alle Mühe geben«, meinte Dick mit gutmütigem Lächeln. »Sie müssen das doch verstehen, wir haben bestimmte Erfolge erzielt…«

Geser schnaubte. Als hätten sie ein unsichtbares Signal bekommen, dass das Gespräch beendet sei, erhoben sich die beiden Besucher, verabschiedeten sich per Handschlag vom Chef und gingen hinaus. Im Vorzimmer machte Dünn eine lustige, scherzhafte Bemerkung zu Larissa, die daraufhin loslachte. »Menschen?«, fragte ich vorsichtig.

Geser nickte und blickte grimmig zur Tür. »Menschen«, seufzte er. »Menschen… Gut, Gorodezki. Setz dich.«

Obwohl ich Platz nahm, fing Geser das Gespräch nicht an. Sondern hantierte mit Papieren herum, sortierte ein paar farbige, glatte beschliffene Glasscherben, die in einer grob gearbeiteten Tonschale lagen. Zu gern hätte ich gewusst, ob es sich um Amulette oder einfach um Scherben handelte, aber wenn ich Geser gegenübersaß, traute ich mich nicht, mir allzu viel herauszunehmen.

»Wie war der Urlaub?«, fragte Geser, als wolle er jede Möglichkeit ausschöpfen, das Gespräch hinauszuzögern.

»Gut«, erwiderte ich. »Natürlich habe ich mich ohne Sweta gelangweilt. Aber wir wollten Nadjuschka nicht in die spanische Glut mitschleppen. Das ist noch nichts für sie…«

»Stimmt«, pflichtete Geser mir bei. Ich wusste nicht, ob der große Magier Kinder hatte, derlei Informationen vertraut man nicht mal den eigenen Leuten an. Vermutlich schon. Und wahrscheinlich ist er in der Lage, so etwas wie Vatergefühle zu empfinden. »Anton, hast du Swetlana angerufen?«

»Nein.«Ich schüttelte den Kopf. »Hat sie sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«

Geser nickte. Und plötzlich explodierte er. Schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was bildet sie sich eigentlich ein?«, brüllte er. »Erst desertiert sie…«

»Geser, wir alle haben das Recht, die Wache zu verlassen«, korrigierte ich ihn. Aber Geser dachte gar nicht daran, sich zu entschuldigen.

»Sie ist desertiert! Eine Zauberin von ihrem Niveau kann nicht einfach machen, was ihr gefällt! Dazu hat sie kein Recht! Sie… nennt sich eine Lichte… und dann zieht sie ihre Tochter wie einen Menschen auf!«

»Noch ist Nadja ein Mensch«, entgegnete ich und spürte, wie Wut in mir hochkochte. »Wenn sie eine Andere wird, muss sie sich selbst für eine Seite entscheiden… Helllichter Geser!«

Der Chef begriff, dass auch mit mir jetzt nicht mehr zu spaßen war. Und änderte seinen Ton. »Gut. Das ist euer Recht. Haltet euch aus dem Kampf raus, verbaut dem Mädchen das Leben… Alles schön und gut! Aber woher kommt dieser Hass? »

»Was hat Sweta denn gesagt?«, fragte ich.

»Deine Frau hat mich angerufen«, meinte Geser seufzend. »Auf einem Apparat, dessen Nummer sie gar nicht wissen dürfte…»

»Dann wusste sie sie auch nicht«, stellte ich klar.

»Und sie hat mir vorgeworfen, ich würde dich umbringen! Dass ich irgendeinen langfristigen Plan umsetzen will, der auf deine physische Vernichtung hinausläuft!«

Eine Sekunde lang sah ich Geser in die Augen. Dann lachte ich los.

»Was ist daran so komisch?«, wollte Geser mit gequälter Stimme wissen. »Na?«

»Geser…«Mit Mühe unterdrückte ich das Lachen. »Entschuldigung. Kann ich ganz offen sprechen? »

»Das will ich doch hoffen…«

»Sie sind der größte Intrigant, den ich kenne. Noch ausgekochter als Sebulon. Gegen Sie war Machiavelli ein Waisenknabe…«

»Machiavelli solltest du nicht unterschätzen«, knurrte Geser. »Gut, ich bin also ein Intrigant. Und weiter?«

»Weiter bin ich davon überzeugt, dass Sie nicht vorhaben, mich umzubringen. In einer kritischen Situation würden Sie mich unter Umständen opfern. Um eine wer weiß wie viele größere Zahl an Menschen oder Lichten zu retten. Aber dass Sie planen… aushecken… mich… Das glaube ich nicht.«

»Vielen Dank, das freut mich.«Geser nickte. Ob ich ihn gekränkt hatte oder nicht, war mir schleierhaft. »Was hat Swetlana sich da in den Kopf gesetzt? Entschuldige, Anton…«Geser verstummte und blickte sogar zur Seite. »Ihr erwartet doch kein Kind?«, fuhr er schließlich fort. »Ein Geschwisterchen?«

Ich verschluckte mich. »Nein…«Ich schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht… Das hätte sie mir gesagt!«

»Frauen drehen manchmal durch, wenn sie ein Kind bekommen«, schnaubte Geser und machte sich wieder daran, seine Glasscherben zu sortieren. »Sie fangen an, überall Gefahren zu sehen, die dem Kind drohen, dem Mann, ihnen selbst… Oder vielleicht hat sie…«Doch jetzt wurde der große Magier vollends verlegen und unterbrach sich selbst. »Quatsch… vergiss es. Du solltest zu deiner Frau aufs Dorf fahren, mit deiner Tochter spielen, frisch gemolkene Milch trinken…«

»Mein Urlaub ist ja morgen zu Ende«, erinnerte ich ihn. Irgendwas stimmte hier doch nicht! »Außerdem hatte ich gedacht, ich sollte schon heute wieder mit der Arbeit anfangen.«

Geser sah mich mit großen Augen an. »Anton! Wie kannst du jetzt an Arbeit denken? Swetlana hat mich geschlagene fünfzehn Minuten angeschrien! Wenn sie eine Dunkle wäre, würde über mir jetzt ein Höllenstrudel hängen! Vergiss die Arbeit! Ich verlängere deinen Urlaub um eine Woche. Und du fährst jetzt zu deiner Frau ins Dorf!«

Bei uns in der Moskauer Abteilung heißt es, drei Dinge seien für einen Lichten unmöglich: sich ein Privatleben aufzubauen, Glück und Frieden für die ganze Welt zu erreichen und von Geser die Erlaubnis zu bekommen, die Überstunden abzubummeln.

Mein Privatleben stellte mich, ehrlich gesagt, zufrieden. Und jetzt hatte ich noch eine Woche Urlaub bekommen.

Ob nun auch Glück und Frieden für die ganze Welt vor der Tür standen? »Freust du dich denn nicht?«, fragte Geser.

»Doch«, gab ich zu. Nun ja, die Aussicht, unter dem gestrengen Blick meiner Schwiegermutter in den Beeten Unkraut zu jäten, begeisterte mich nicht gerade. Aber Sweta und Nadja zu sehen, das ja. Nadja, Nadenka, Nadjuschka. Mein zweijähriges Wunder. Ein Mensch, ein kleines Menschlein… Mit der Aussicht, eine Andere von großer Kraft zu werden. Eine Große, die mit Riesenschritten davoneilen und selbst Geser abhängen würde… Prompt stellte ich mir Nadenkas kleine Sandalen vor, mit denen sie davontrippelte, während der große Lichte Magier Geser mit lechzender Zunge hinter ihr herhastete, und musste grinsen.

»Geh in die Buchhaltung, die sollen dir eine Prämie auszahlen…«, schlug Geser vor, ohne den geringsten Verdacht zu haben, wie ich ihn in Gedanken gerade verspottete. »Denk dir selbst aus, wofür. Irgendwas wie… für langjährige gewissenhafte Arbeit…»

»Geser, weshalb haben Sie mich angerufen?«, fragte ich.

Geser schwieg und durchbohrte mich mit seinem Blick. Was ihm nichts brachte. »Wenn ich dir alles erzählt habe, wirst du Swetlana anrufen«, sagte er dann. »Und zwar gleich von hier aus. Du wirst sie fragen, ob du einwilligen sollst. In Ordnung? Vom Urlaub erzählst du ihr auch. »

»Was ist denn passiert?«

Statt zu antworten zog Geser eine Schublade in seinem Schreibtisch auf, holte eine schwarze Ledermappe heraus und reichte sie mir. Die Mappe verströmte einen deutlichen Geruch nach Magie. Nach schwerer Kampfmagie. »Öffne sie ruhig, du darfst das…«, brummte Geser.

Ich öffnete die Mappe. Ein Anderer, der kein Recht dazu hatte, oder ein Mensch würde sich nach einem solchen Versuch in eine Hand voll Asche verwandeln. In der Mappe lag ein Brief. Ein einzelner Umschlag.

Die Adresse unseres Büros war mit aus der Zeitung ausgeschnittenen Buchstaben akkurat aufgeklebt. Ein Absender fehlte natürlich.

»Die Buchstaben stammen aus drei Zeitungen«, erklärte Geser. »Aus der Prawda, dem Kommersant und Argumenty i fakty. »

»Wie originell«, räumte ich ein. »Darf ich ihn aufmachen?«

»Nur zu. Die Kriminalisten haben schon alles Mögliche mit dem Briefumschlag angestellt. Es gibt keine Fingerabdrücke, der Kleber kommt aus China und wird an jedem Zeitungskiosk verkauft…«

»Und bei dem Papier handelt es sich um Klopapier!«, rief ich begeistert aus, als ich dem Umschlag ein paar Seiten entnahm. »Es ist doch wohl sauber?«

»Leider ja«, meinte Geser. »Nicht die geringste Spur von organischen Stoffen. Gewöhnlicher billiger Pipifax. Marke Vierundfünfzig Meter.«

Das Blatt Klopapier, achtlos an der Perforation abgerissen, war ebenfalls mit Buchstaben aus besagten drei Zeitungen beklebt. Genauer: mit ganzen Wörtern, nur die Endungen waren ab und an ohne Berücksichtigung der Schriftart verbessert worden.

ES sollte DIE NACHTWACHE INTERESSIERen, dass EIN AndereR einem MenschEN die ganze Wahrheit über die AndereN enthüllt hat und aus DIESEm MENSCHen jetzt einen ANDEREN machen will Ein FREUND.

Beinahe hätte ich losgelacht. Doch dann blieb mir das Lachen im Hals stecken. »Wo hat er denn die Nachtwache her?«, fragte ich stattdessen. »Sieht fast so aus, als sei das Wort im Ganzen ausgeschnitten worden.«

»Es gab einen Artikel in Argumenty i fakty«, erklärte Geser. »Über den Brand im Fernsehturm. Er war mit DIE NACHTWACHE AM FERNSEHTURM IN OSTANKINO getitelt.«

»Wirklich originell«, stimmte ich zu. Die Erwähnung des Fernsehturms ließ mich leicht erschaudern. Das war nicht gerade die spaßigste Zeit gewesen. Und nicht gerade das spaßigste Abenteuer. Mein ganzes Leben lang wird mich das Gesicht des Dunklen verfolgen, den ich im Zwielicht vom Fernsehturm gestürzt hatte…

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Anton. Du hast alles richtig gemacht«, sagte Geser. »Kommen wir zur Sache.«

»Gut, Boris Ignatjewitsch.«Ich sprach den Chef mit seinem alten»zivilen«Namen an. »Müssen wir das etwa ernst nehmen?«

»Der Brief riecht nicht im Geringsten nach Magie«, meinte Geser schulterzuckend. »Entweder hat ihn also ein Mensch geschrieben oder ein fähiger Anderer, der seine Spuren verwischen kann. Wenn es ein Mensch war…, heißt das, dass wir irgendwo eine undichte Stelle haben. Wenn es ein Anderer war…, handelt es sich um eine absolut verantwortungslose Provokation. »

»Keine Spuren?«, hakte ich noch mal nach.

»Keine. Der einzige Anhaltspunkt ist der Poststempel.«Geser runzelte die Stirn. »Und an dem ist garantiert was faul…«

»Was heißt das? Ist der Brief aus dem Kreml abgeschickt worden?«, feixte ich.

»Fast. Der Kasten, in den der Brief gesteckt wurde, befindet sich auf dem Gelände des Wohnkomplexes Assol.«

Die endlos hohen Häuser mit roten Dächern - Genosse Stalin hätte ohne Zweifel seine Freude an ihnen gehabt - kannte ich. Jedoch nur von außen. »Da kommt man nicht so einfach rein, oder?«

»Richtig.«Geser nickte. »Nachdem unser Unbekannter einen solchen Aufwand mit dem Papier, dem Kleber und den Buchstaben getrieben hat, schickt er den Brief also aus dem Assol ab. Damit begeht er entweder eine Riesendummheit…«Ich schüttelte den Kopf.

»… oder lockt uns auf eine falsche Fährte.«An dieser Stelle legte Geser eine Kunstpause ein und beobachtete aufmerksam, wie ich reagierte.

Ich dachte nach. Und schüttelte abermals den Kopf. »Das ist sehr naiv. Nein.«

»Oder unser»Freund«- das letzte Wort sprach Geser mit offenem Sarkasmus aus -»will uns in der Tat einen Hinweis geben. »

»Wozu?«, fragte ich.

»Den Brief hat er ja zu einem bestimmten Zweck abgeschickt«, erinnerte mich Geser. »Wir müssen auf solche Briefe reagieren, Anton, das wirst du einsehen. Nehmen wir einmal das Schlimmste an, nämlich dass ein Verräter unter den Anderen existiert, der Menschen das Geheimnis unserer Existenz enthüllt. »

»Aber wer würde ihm denn glauben?«

»Einem Menschen würde man natürlich nicht glauben. Aber ein Anderer könnte seine Fähigkeiten unter Beweis stellen.«

Da hatte Geser natürlich Recht. Was mir jedoch nicht in den Kopf wollte: Wer würde so etwas tun? Und weshalb? Selbst der dümmste und fieseste Dunkle müsste sich im Klaren darüber sein, was er in Gang setzt, wenn er die Wahrheit preisgibt. Eine neue Hexenjagd nämlich.

Dabei dürften die Menschen keine Schwierigkeiten haben, sowohl in den Dunklen wie auch in den Lichten die Hexen zu sehen. In allen, die Anlagen zum Anderen haben… Auch in Sweta. Auch in Nadjuschka.

»Wie kann man denn aus einem Menschen einen Anderen machen?«, fragte ich. »Über den Vampirismus?«

»Durch Vampire, Tiermenschen…«Geser breitete die Arme aus. »Das ist wohl ein Weg. Die Initiierung erfolgt dann auf dem allergröbsten, primitivsten Niveau dunkler Kraft. Bezahlen muss man dafür mit dem Verlust der menschlichen Existenz. Einen Menschen zum Magier zu initiieren ist dagegen unmöglich.«

»Nadjuschka…«, flüsterte ich. »Schließlich haben Sie doch auch Swetlanas Schicksalsbuch umgeschrieben!«

»Nein, Anton«, entgegnete Geser kopfschüttelnd. »Deiner Tochter war es bestimmt, als Große auf die Welt zu kommen. Wir haben nur für das richtige Vorzeichen gesorgt. Das Element des Zufalls ausgeschaltet…«

»Jegor«, erinnerte ich ihn. »Der Junge war schon ein Dunkler geworden…«

»Bei ihm haben wir bloß das Zeichen der Initiierung gelöscht. Wir haben ihm die Chance gegeben, noch einmal zu wählen«, bestätigte Geser. »Alle Interventionen, zu denen wir in der Lage sind, hängen mit der Wahl zwischen Licht und Dunkel zusammen, Anton. Aber zu wählen, ob wir ein Mensch oder ein Anderer sein wollen, ist uns nicht gegeben. Das ist niemandem auf dieser Welt gegeben.«

»Also geht es um Vampire«, sagte ich. »Nehmen wir an, bei den Dunklen ist mal wieder ein verliebter Vampir aufgetaucht…«

»Das ist möglich.«Geser breitete die Arme aus. »Dann wäre das Ganze relativ einfach. Die Dunklen überprüfen ihre Untoten, denn sie haben das gleiche Interesse wie wir… Ach ja. Sie haben übrigens auch so einen Brief bekommen. Haargenau den gleichen. Der ebenfalls aus dem Assol abgeschickt wurde. »

»Und die Inquisition hat keinen bekommen?«

»Du begreifst immer schneller«, lachte Geser. »Die auch. Per Post. Aus dem Assol.«

Ganz offensichtlich spielte Geser auf etwas an. Ich dachte kurz nach und kam dann auf eine weitere fulminante Schlussfolgerung. »Damit untersuchen beide Wachen und die Inquisition den Fall, nicht wahr?«

In Gesers Blick flackerte Enttäuschung auf. »Sieht ganz danach aus. Privat kann man sich schon einem Menschen zu erkennen geben, wenn es unbedingt sein muss. Du weißt, was ich meine…«Er nickte zur Tür, durch die die beiden Besucher hinausgegangen waren. »Aber eben nur privat. Wobei entsprechende magische Einschränkungen zum Tragen kommen. Diese Sache ist aber viel schlimmer. Offenbar plant ein Anderer, einen Handel mit Initiierungen aufzuziehen.«

Als ich mir einen Vampir vorstellte, der einem neureichen Russen seine Dienste anbot, musste ich lächeln. »Wollen Sie nicht mal ein bisschen richtiges Blut aus dem Volk saugen, mein lieber Herr?«Obwohl - es geht ja nicht ums Blut. Selbst der schwächste Vampir oder Tiermensch verfügt über Kraft. Sie brauchen keine Angst vor Krankheiten zu haben und leben sehr, sehr lange. Auch die Körperkräfte sollte man nicht vergessen. Ein Tiermensch steckt einen Karelin in die Tasche, poliert einem Tyson die Fresse. Und auch jener»Tiermagnetismus«selbst, jener»Ruf«, den sie vollendet beherrschen, ist nicht zu verachten. Ein Wink - und dir gehört jede Frau.

Natürlich haben sowohl Vampire wie auch Tiermenschen in der Realität mit etlichen Einschränkungen zu kämpfen. Die sogar noch gravierender sind als für Magier, ihre Unausgeglichenheit verlangt das. Aber ob das einem frisch gebackenen Vampir klar ist?

»Worüber lachst du?«, fragte Geser.

»Ich habe mir gerade ein Zeitungsinserat vorgestellt. Verwandle Sie in einen Vampir. Zuverlässig, einwandfrei, 100 Jahre Garantie. Preis nach Vereinbarung.«

»Ein kluger Gedanke.«Geser nickte. »Ich werde jemanden beauftragen, die Zeitungen und Websites auf entsprechende Anzeigen durchzukämmen.«

Ich starrte Geser an, verstand aber nicht, ob er sich einen Scherz erlaubte oder das völlig ernst meinte.

»Ich glaube nicht, dass wir es mit einer realen Gefahr zu tun haben«, sagte ich. »Vermutlich hat nur ein kreuzdämlicher Vampir beschlossen, sich etwas dazuzuverdienen. Er führt einem reichen Menschen ein paar Tricks vor und bietet ihm… äh… einen Biss an. »

»Beißen lassen, Glück abfassen«, stieß Geser ins gleiche Horn.

»Irgendjemand…«, fuhr ich munter fort, »… zum Beispiel die Frau des Mannes, hat dann von diesem wahnsinnigen Vorschlag erfahren! Während der holde Gatte noch zögert, beschließt sie, uns zu schreiben. In der Hoffnung, dass wir den Vampir ausschalten und ihr Mann ein Mensch bleibt. Daher auch diese Kombination: die aus der Zeitung ausgeschnittenen Buchstaben und der Briefkasten im Assol. Das ist ein Hilfeschrei! Sie kann sich nicht direkt mit uns in Verbindung setzen, fleht aber förmlich: Rettet meinen Mann!«

»Du Romantiker«, höhnte Geser missbilligend. »Wenn Ihnen Leben und Verstand teuer sind, so halten Sie sich vom Moor fern… Und dann, ritsch, ratsch, werden mit der Nagelschere aus der neuesten Prawda die Buchstaben ausgeschnitten… Hat sie die Adresse eigentlich auch aus der Zeitung?«

»Die Adresse der Inquisition!«, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

»Diesmal liegst du richtig. Könntest du der Inquisition einen Brief schicken?«

Ich schwieg. Vorgeführt. Dabei hatte Geser nicht mal ein Geheimnis aus dem Brief an die Inquisition gemacht!

»Bei uns in der Wache kenne nur ich die Postadresse. In der Tagwache dürfte es nur Sebulon sein. Was folgt daraus, Gorodezki?«

»Den Brief haben Sie abgeschickt. Oder Sebulon.«Geser schnaubte bloß. »Nimmt die Inquisition die Sache ernst?«, wollte ich wissen.

»Das ist noch gelinde ausgedrückt. Der Versuch, mit Initiierungen zu handeln, beunruhigt sie im Grunde nicht weiter. Ein normaler Fall für die Wachen, die denjenigen finden müssen, der den Großen Vertrag verletzt hat, ihn bestrafen und das Informationsleck stopfen sollen. Und da wir und die Dunklen gleichermaßen über diese Angelegenheit empört sind… Aber ein Brief an die Inquisition… das ist eine andre Frage. Bei ihnen arbeiten nicht viele, das weißt du selbst. Wenn eine Seite den Vertrag verletzt, ergreift die Inquisition Partei für die andre Seite, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Das… diszipliniert uns alle. Aber gehen wir einmal davon aus, in einer der Wachen hätte eine kleine Gruppe einen Plan entwickelt, mit dem sie den endgültigen Sieg erlangen wollten. Ein paar Kampfmagier, die sich zusammenschließen, wären in der Lage, in einer Nacht alle Inquisitoren zu erschlagen - natürlich nur, falls sie alles über die Inquisition wüssten. Wer für sie arbeitet, wo die Inquisitoren wohnen, wo die Unterlagen aufbewahrt werden…»

»Ist der Brief ans Hauptbüro gegangen?«, hakte ich nach.

»Ja. Und wenn man bedenkt, dass sechs Stunden später das Büro leer war und im Gebäude ein Feuer ausgebrochen ist… und zwar genau in dem Teil, wo die Archive der Inquisition liegen… Wo das ist, weiß selbst ich nicht genau. Indem der Mensch… oder der Andere… der Inquisition einen Brief geschickt hat, hat er ihr förmlich den Fehdehandschuh hingeworfen. Jetzt wird die Inquisition ihn jagen. Die offizielle Version wird lauten, weil er die Vertraulichkeit verletzt und versucht hat, einen Menschen zu initiieren. Aber im Grunde, weil sie ihre eigene Haut retten wollen.«

»Ich hätte nie gedacht, dass es ihrer Natur entspricht, um sich selbst Angst zu haben«, meinte ich.

»Und wie, Anton«, meinte Geser mit einem Nicken. »Denk doch mal über folgende Frage nach: Warum gibt es in der Inquisition eigentlich keine Verräter? Ihr gehören Dunkle und Lichte an. Sie durchlaufen ihre Ausbildung. Danach verfolgen die Dunklen unerbittlich die Dunklen und die Lichten die Lichten, sobald einer von ihnen den Vertrag verletzt.«

»Man braucht dafür eine besondere charakterliche Veranlagung«, vermutete ich. »Entsprechend werden die Anderen dann ausgewählt.«

»Und da macht man nie einen Fehler?«, fragte Geser skeptisch. »Das gibt es nicht. Trotzdem ist in unserer Geschichte kein Fall bekannt, wo ein Inquisitor den Großen Vertrag verletzt hätte…«

»Vermutlich kennen sie die Folgen einer Vertragsverletzung nur allzu genau. Ein Inquisitor in Prag hat mir mal gesagt: »Uns leitet das Entsetzen.«

»Viteszlav…«Geser runzelte die Stirn. »Er liebt eloquente Formulierungen… Gut, zerbrich dir darüber nicht weiter den Kopf. Die Situation ist einfach. Es gibt einen Anderen, der entweder den Großen Vertrag verletzt oder die Wachen und die Inquisition zum Besten hält. Die Inquisition wird eine Fahndung einleiten, dito die Dunklen. Von uns verlangt man ebenfalls einen Mitarbeiter. »

»Darf ich eine Frage stellen? Warum ausgerechnet ich?«

»Aus mehreren Gründen.«Geser breitete die Arme aus. »Erstens wird es im Zuge der Fahndung wohl zu einer Konfrontation mit Vampiren kommen. Und du bist unser Spezialist für die niederen Dunklen.«

Nein, ich hatte nicht den Eindruck, dass er lachte…

»Zweitens«, fuhr Geser fort, wobei er wie ein Deutscher die Finger der geschlossenen Faust nacheinander ausstreckte. »Seitens der Inquisition wurden mit der Untersuchung offiziell deine beiden Bekannten betraut. Viteszlav und Edgar.«

»Edgar ist in Moskau?«, fragte ich erstaunt. Ich konnte nicht gerade behaupten, dass ich den Dunklen Magier, der vor drei Jahren der Inquisition beigetreten war, sonderlich mochte. Aber… aber ich konnte immerhin sagen, dass er mir nicht unsympathisch war.

»Ja. Vor vier Monaten hat er seine Ausbildung abgeschlossen und ist zu uns gekommen. Da du dich während der Arbeit mit den Inquisitoren in Verbindung setzen musst, ist jede persönliche Beziehung von Vorteil.«

»Unsere persönlichen Begegnungen zählen aber nicht zu meinen angenehmsten Erinnerungen«, gab ich zu bedenken.

»Habe ich dir vielleicht eine Thai-Massage während der Arbeitszeit versprochen?«, fragte Geser hämisch. »Der dritte Grund, weshalb ich ausgerechnet dich auf diese Sache ansetzen möchte…«Er verstummte. Ich wartete.

»Auf Seiten der Dunklen leitet die Untersuchung ebenfalls ein alter Bekannter von dir.«

Den Namen brauchte Geser gar nicht erst zu nennen. Trotzdem fuhr er fort: »Konstantin. Der junge Vampir… dein ehemaliger Nachbar. Ich meine mich zu erinnern, dass ihr recht gut miteinander ausgekommen seid.«

»Ja, stimmt«, räumte ich bitter ein. »Solange er noch ein Kind war, nur Schweineblut getrunken und davon geträumt hat, seinem»Fluch«zu entgehen… Solange er noch nicht verstanden hatte, dass sein Bekannter, der Lichte Magier, solche wie ihn mit Haut und Haar verbrennt. »

»So ist das Leben«, konstatierte Geser.

»Er hat ja schon Menschenblut getrunken«, sagte ich. »Bestimmt! Wenn er sich in der Tagwache hochgedient hat.«

»Er ist ein Hoher Vampir geworden«, informierte mich Geser. »Der jüngste Hohe Vampir in ganz Europa. Wenn du das auf uns überträgst, ist er…«

»Zweite oder dritte Kraftstufe«, flüsterte ich. »Fünf oder sechs zerstörte Leben.«

Kostja, Kostja… Damals war ich ein junger und unerfahrener Magier. In der Nachtwache konnte ich keine Freunde finden, die Beziehungen zu meinen alten Bekannten gingen alle ziemlich schnell den Berg runter… Andere und Menschen können nicht miteinander befreundet sein… Und dann fand ich heraus, dass meine Nachbarn Dunkle waren. Eine Vampirfamilie. Mutter und Vater waren Vampire und hatten ihr Kind initiiert. Was wirklich nicht schlimm war. Sie gingen nachts nicht auf Jagd, beantragten keine Lizenzen. Gesetzestreu tranken sie nur Schweine- und Spenderblut. Mich Idioten hat das beruhigt. Ich habe mich mit ihnen angefreundet. Sie sogar besucht. Sie sogar eingeladen! Sie aßen das Essen, das ich für sie gekocht hatte, und lobten es… Und ich Hohlkopf begriff nicht, dass das Essen der Menschen für sie nach nichts schmeckt, dass sie ein alter, ewiger Hunger quält. Der kleine Vampir wollte sogar Biologe werden und herausfinden, wie man Vampirismus heilt… Dann tötete ich meinen ersten Vampir.

Danach trat Kostja in die Tagwache ein. Ich weiß nicht, ob er sein Biologiestudium abgeschlossen hat, aber von seinen Kinderträumen ist er mit Sicherheit kuriert…

Und er hat Lizenzen zum Töten bekommen. Wie sonst hätte er es geschafft, in nur drei Jahren zum Hohen Vampir aufzusteigen? Jemand muss ihm geholfen haben. Muss alle Möglichkeiten der Tagwache genutzt haben, damit Kostja, einst ein prima Kerl, wieder und wieder das Recht bekam, seine Eckzähne in den Hals eines Menschen zu schlagen… den?«

Ich zog das Handy aus meiner Tasche und wählte Swetlanas Nummer.

Zwei

Wir arbeiten nur selten verdeckt.

Erstens müssen wir unsere Natur als Andere dann vollständig verbergen. Damit deine Aura, die Kraftströme, die Erschütterung im Zwielicht dich nicht verraten. Diesbezüglich hast du es mit einer recht einfachen Konstellation zu tun. Wenn du ein Magier fünften Grades bist, bemerken dich schwächere Magier, also die mit dem sechsten oder siebten Grad, nicht. Als Magier ersten Grades bist du vor allen vom zweiten Grad abwärts geschützt. Wenn du ein Magier außerhalb der Kategorie bist… kannst du darauf hoffen, dass dir niemand auf die Schliche kommt.

Geser selbst sorgte für meine Tarnung. Sofort nach dem Gespräch mit Swetlana. Diesem kurzen, aber beklemmenden Gespräch. Wir stritten nicht, das nicht. Sie war nur sehr enttäuscht.

Zweitens brauchst du eine Legende. Am besten sicherst du die Legende auf magische Weise ab. Unbekannte Menschen sind dann schnell bereit, in dir einen Bruder zu sehen, einen Schwiegervater oder Freund aus der Armeezeit, mit dem sie sich von ihrer Truppe davongestohlen haben, um irgendwo was zu picheln. Aber jede magische Deckung hinterlässt Spuren, die ein mehr oder weniger starker Anderer erkennen kann.

Deshalb verzichteten wir bei meiner Legende auf jede Magie. Geser drückte mir die Schlüssel von einer Wohnung im Assol in die Hand. Hundertfünfzig Quadratmeter im siebten Stock. Die Wohnung lief auf meinen Namen, gekauft hatte ich sie vor einem halben Jahr. Als ich große Augen machte, erklärte Geser mir, dass die Papiere heute Morgen ausgestellt, dabei aber zurückdatiert worden waren. Für eine hübsche Stange Geld. Und dass wir die Wohnung später zurückgeben müssten.

Als Dreingabe bekam ich den Schlüssel für einen BMW. Das Auto war nicht neu, auch nicht besonders luxuriös - aber meine Wohnung war ja auch klein.

Dann betrat ein Schneider das Zimmer, ein trauriger alter Jude, ein Anderer siebten Grades. Er nahm meine Maße und versprach, bis zum Abend würde der Anzug fertig sein, in dem»dieser Junge endlich wie ein Mensch«aussehen werde. Geser behandelte den Schneider mit ausgesuchter Höflichkeit, öffnete ihm die Tür, begleitete ihn ins Vorzimmer und fragte beim Abschied schüchtern, was denn sein»Mäntelchen«mache. Worauf der Schneider erwiderte, der Chef brauche sich keine Sorgen zu machen, denn bis die Kälte einsetze, sei der Mantel, der dem Helllichten Geser zur Ehre gereiche, fertig.

Nach diesen Worten behagte mir die Entscheidung, mir einen ganzen Anzug anfertigen zu lassen, nicht mehr so wahnsinnig. Richtige grandiose Sachen nähte der Schneider offenbar nicht an einem halben Tag.

Um meine Krawatten kümmerte sich Geser persönlich. Er brachte mir sogar bei, wie ich einen besonders modischen Knoten hinbekam. Danach drückte er mir ein Bündel Geldscheine in die Hand, nannte mir die Adresse eines bestimmten Geschäfts und befahl mir, alles zu kaufen, was sonst noch nötig war, inklusive Unterwäsche, Taschentücher und Socken. Als Berater schlug er mir Ignat vor, unsern Magier, der in der Tagwache garantiert als Inkubus durchgegangen wäre. Oder Sukkubus. Ihm war das mehr oder weniger egal.

Der Streifzug durch die Boutiquen, in denen sich Ignat wie ein Fisch im Wasser fühlte, machte mir Spaß. Der Besuch beim Friseur, genauer gesagt, in einem Schönheitssalon, raubte mir dagegen den letzten Nerv. Nacheinander taxierten mich zwei Frauen und ein Mann, der einen auf Tunte machte, aber nicht schwul war. Die drei seufzten lange und wünschten meinem Friseur sonst was an den Hals. Sollten diese Flüche wahr werden, müsste mein armer Coiffeur während der ihm noch verbleibenden Jahre glatzköpfige Hammel scheren. Und zwar irgendwo in Tadschikistan. Anscheinend gehörte das zum Schlimmsten, was man einem Friseur wünschen konnte… Ich nahm mir vor, nachher bei meinem zweitrangigen Friseur vorbeizuschauen, der mir das letzte Jahr die Haare geschnitten hatte, und zu prüfen, ob sie dem Mann nicht doch einen Höllenstrudel angehängt hatten.

Der Kollektivverstand dieser Schönheitsspeziaiisten gelangte zu der Überzeugung, nur ein streichholzkurzer Schnitt könne mich noch retten. So einer, wie ihn kleine Mafiosi tragen, die die Händler auf dem Markt ausnehmen. Zum Trost versicherten sie mir, der Sommer solle heiß werden, weshalb ein Kurzhaarschnitt ausgesprochen bequem sei.

Nach dem Schneiden, das mehr als eine Stunde dauerte, folgten Mani- und Pediküre. Danach brachte mich ein zufriedener Ignat zum Zahnarzt, der mit einem speziellen Bohrer den Zahnstein entfernte und mir riet, die Prozedur jedes halbe Jahr zu wiederholen. Meine Zähne fühlten sich danach irgendwie nackt an, es war sogar unangenehm, sie mit der Zunge zu berühren. Auf Ignats doppeldeutige Aussage»Anton, du siehst direkt zum Verlieben aus!«fand ich keine passende Antwort, sondern murmelte nur etwas Unverständliches und ärgerte mich innerlich auf dem gesamten Weg zurück ins Büro über seinen plumpen Humor.

Der Anzug war bereits fertig. Der Schneider brummte unzufrieden, wenn man ein Stück nähe, ohne ein zweites Mal Maß zu nehmen, könne man auch blindlings heiraten.

Hm. Wenn alle Eheleute, die überstürzt geheiratet hatten, so gut zueinander passten wie dieser Anzug zu mir, sollte die Zahl der Scheidungen eigentlich gegen Null tendieren.

Geser sprach mit dem Schneider noch über seinen Mantel. Die beiden stritten lange und heftig über die Knöpfe, bis der Helllichte Magier schließlich nachgab. Ich stand am Fenster, schaute auf die abendliche Straße und das blinkende Lämpchen der Alarmanlage an»meinem«Auto hinaus.

Wenn sie nur die Karre nicht klauten… Einen magischen Schutz, der sämtliche Diebe abschreckte, durfte ich nicht wirken. Er hätte mich schneller verraten als in dem Witz vom Spion Stirlitz jener Fallschirm, den er hinter sich herschleppte.

Schlafen musste ich heute bereits in der neuen Wohnung. Dabei sollte ich so tun, als täte ich das nicht das erste Mal. Nur gut, dass zu Hause niemand auf mich wartete. Weder meine Frau noch meine Tochter, kein Hund und keine Katze… Noch nicht mal Fische im Aquarium hielten wir. Und das war auch gut so.

»Hast du deine Aufgabe verstanden, Gorodezki?«, fragte Geser. Während ich am Fenster meinen Gedanken nachhing, war der Schneider gegangen. In dem neuen Anzug fühlte ich mich überraschend wohl. Selbst mit dem Kurzhaarschnitt kam ich mir nicht wie ein Erpresser von Schwarzhändlern, sondern wie jemand Wichtigeres vor. Zum Beispiel wie jemand, der in kleinen Geschäften Schutzgelder eintrieb.

»Ich ziehe ins Assol. Lerne die Nachbarn kennen. Suche nach Spuren des abtrünnigen Anderen und seines eventuellen Auftraggebers. Wenn mir was auffällt, mache ich Meldung. Wenn ich mich mit den andern Parteien, die an dieser Untersuchung beteiligt sind, treffe, verhalte ich mich korrekt, tausche Informationen aus und lasse mich auf eine Zusammenarbeit ein.«

Geser trat neben mich ans Fenster. Er nickte. »Richtig, Anton. Richtig. Das Wichtigste hast du jedoch vergessen. »

»Ja?«, fragte ich.

»Du darfst keine der Versionen bevorzugen. Selbst die nicht, die dir am wahrscheinlichsten vorkommen. Gerade weil sie am wahrscheinlichsten sind! Der Andere kann ein Vampir oder ein Tiermensch sein, muss es aber nicht.«Ich nickte.

»Er kann ein Dunkler sein«, fuhr Geser fort, »aber auch ein Lichter.«

Ich sagte kein Wort. Dieser Gedanke war mir auch schon in den Sinn gekommen.

»Und das Allerwichtigste«, fügte Geser hinzu. »Dass er»aus einem Menschen einen Anderen machen«will - das könnte auch ein Bluff sein.«

»Aber das muss es nicht?«, hakte ich nach. »Gibt es denn nun die Möglichkeit, aus einem Menschen einen Anderen zu machen, Geser, oder nicht?«

»Du glaubst doch nicht etwa, ich würde so etwas geheim halten?«, antwortete Geser mit einer Frage. »Wie viele Schicksale von Anderen, die verloren sind… Wie viele wundervolle Menschen, die gezwungen sind, nur ihr kurzes Leben zu leben… Dergleichen ist bisher niemals vorgekommen. Aber für alles gibt es ein erstes Mal.«

»Dann werde ich davon ausgehen, dass es möglich ist«, meinte ich.

»Ich kann dir keine Amulette geben«, bedauerte Geser. »Du musst das verstehen. Auch Magie solltest du besser nicht einsetzen. Das Einzige, was du darfst, ist, durchs Zwielicht zu schauen. Aber im Notfall sind wir schnell da. Du brauchst uns bloß zu rufen.«Er verstummte kurz. »Ich gehe nicht von irgendwelchen Kämpfen aus«, fügte er dann noch hinzu. »Aber du solltest genau das tun.«

Noch nie hatte ich in einer Tiefgarage parken müssen. Nur gut, dass hier wenig Autos standen, die Betonauffahrt in grelles Licht getaucht war und der Security-Mann, der an einem Bildschirm die Vorgänge im Innern beobachtete, mir freundlich erklärte, wo sich meine Garagen befanden. Man ging also davon aus, dass ich mindestens zwei Autos hätte.

Ich stellte den Wagen ab, holte aus dem Kofferraum eine Tasche mit Sachen und schaltete die Alarmanlage ein. Dann wandte ich mich zum Ausgang. Und bekam die erstaunte Frage des Security-Menschen zu hören: Ob die Fahrstühle wirklich nicht funktionierten? Ich musste die Stirn runzeln, mit der Hand abwinken und erklären, dass ich ein Jahr lang nicht mehr hier gewesen sei.

Der Mann fragte nach meinem Block und dem Stockwerk, in dem ich wohnte, um mich dann zum Aufzug zu bringen.

Umgeben von Chrom, Glas und klimatisierter Luft fuhr ich in den siebten Stock hinauf. Es war nahezu beschämend, dass ich so weit unten wohnte. Nicht dass ich nach einer Penthousewohnung verlangt hätte, aber trotzdem…

Im Treppenhaus - falls dieser schnöde Ausdruck überhaupt zu jener Halle mit einer Fläche von dreißig Quadratmetern passte - irrte ich eine Zeit lang zwischen den Türen hin und her. Ein überraschendes Ende des Märchens. Bei einer Wohnung fehlte die Tür völlig. Hinter dem leeren Durchbruch schimmerte ein gigantischer dunkler Raum: Betonwände, Betonboden, keine weiteren Unterteilungen. Leises Tropfen von Wasser.

Es dauerte lange, bis ich mich zwischen den drei bereits eingesetzten Türen entschieden hatte. Nummern hatten sie keine. Nach einer Weile entdeckte ich an einer Tür dann doch eine eckige Nummer, die jemand eingeritzt hatte, an einer andern die Überreste einer Kreideaufschrift. Also konnte meine Tür nur die dritte sein. Die unscheinbarste von allen. Bei Geser hätte ich allerdings auch damit rechnen müssen, dass er mich in der Wohnung untergebracht hätte, deren Tür fehlte. Dann wäre jedoch meine Legende zum Teufel gewesen…

Ich kramte den Schlüsselbund hervor und schloss die Tür relativ leicht auf. Suchte den Lichtschalter - und stieß auf eine ganze Palette von Schaltern. Ich machte mich daran, sie nacheinander zu betätigen.

Sobald die Wohnung beleuchtet war, schloss ich die Tür und sah mich nachdenklich um. Hm. Das Ganze hatte was. Könnte man meinen.

Der bisherige Besitzer… Ja, schon gut, laut Legende bin ich das. Ich hatte also mit der Modernisierung angefangen. Offenbar trug ich mich mit napoleonischen Plänen. Wie sonst ließen sich das handgefertigte, kunstvolle Parkett, die Eichenfenster, die Klimaanlage Daikin und andere Attribute des schöneren Wohnens erklären?

Im weiteren Verlaufe war mir dann vermutlich das Geld ausgegangen. Denn das riesige Apartmentstudio - ohne jede Wände im Innern - bestach durch jungfräuliche Leere. In der Ecke, in der die Küche hätte liegen sollen, stand ein schiefer Gasherd der Marke Brest, auf dem man durchaus schon Grießbrei gekocht haben konnte, als ich noch in den Windeln lag. Direkt auf dem Herdring thronte - als wolle sie mich warnen: »Benutze bloß nicht den Herd!«- eine einfache Mikrowelle. Über dem schrottreifen Herd hing übrigens ein Luxusabzug. Neben ihm fristeten zwei Hocker und ein niedriger Teewagen ihr Dasein.

Aus alter Gewohnheit zog ich mir die Schuhe aus und ging in die Küchenecke. Einen Kühlschrank gab es nicht, genauso wenig wie Möbel, aber auf dem Fußboden stand ein großer Pappkarton voll Proviant: Flaschen mit Mineralwasser und Alkohol, Konserven, Tütensuppen, Päckchen mit Zwieback. Vielen Dank auch, Geser. Wenn Sie vielleicht auch noch an einen Topf hätten denken können…

Aus der»Küche«steuerte ich auf die Badezimmertür zu. Offensichtlich hatte ich genug Verstand besessen, das Klo und die Jacuzzi nicht auch noch dem Blick der Allgemeinheit preiszugeben…

Ich öffnete die Tür und sah mir das Bad an. Ganz passabel. Ein zehn, zwölf Quadratmeter großer Raum, hübsche türkisfarbene Kacheln, eine futuristisch anmutende Duschkabine. Allein bei dem Gedanken, was sie gekostet haben musste, wurde mir mulmig. Und womit sie wohl aufgemotzt sein mochte.

Eine Jacuzzi gab es nicht. Es gab überhaupt keine Badewanne. In einer Ecke hingen lediglich ein paar abgedichtete Wasserleitungen heraus. Und dann…

Während ich das Bad weiter inspizierte, bestätigte sich mein schrecklicher Verdacht. Das Klo fehlte ebenfalls!

Es gab nur ein Fallrohr, in das ein Holzverschluss gerammt worden war. Wirklich, vielen Dank auch, Geser!

Aber Stopp. Nur keine Panik. In Wohnungen wie diesen gibt es mehr als eine Toilette. Es musste noch ein Klo vorhanden sein. Für Gäste. Kinder. Angestellte…

Ich stürzte ins Studio zurück und entdeckte in einer Ecke tatsächlich eine weitere Tür. Direkt neben dem Eingang. Mein Instinkt hatte mich nicht getäuscht: das Gästeklo. Eine Wanne war hier sowieso nicht zu erwarten, die Duschkabine schlichter.

Anstelle des Klos entdeckte ich jedoch nur ein weiteres abgedichtetes Rohr. Mist. Scheiße!

Sicher, mir ist klar, dass echte Profis auf diese Kleinigkeiten nicht achten. Wenn James Bond mal aufs Klo geht, dann bloß, um ein Gespräch zu belauschen oder einen Gangster zu erledigen, der sich im Spülkasten versteckt hat. Aber ich sollte hier wohnen!

Ein paar Sekunden lang spielte ich mit dem Gedanken, Geser anzurufen und einen Klempner samt kompletter Ausstattung anzufordern. Dann stellte ich mir seine Reaktion vor.

Aus irgendeinem Grund lächelte Geser in meiner Phantasie. Dann seufzte er und gab einen Befehl: Danach kam der Oberinstallateur Moskaus ins Assol und baute höchstpersönlich ein Klosett ein. Während Geser immer noch lächelte und den Kopf schüttelte.

Magiern seines Niveaus unterlaufen in Details keine Fehler. Ihre Fehler, das sind brennende Städte, blutige Kriege und Impeachments von Präsidenten. Aber nicht ein fehlendes Klo.

Wenn es in meiner Wohnung keine Toilette gab, sollte das so sein.

Abermals durchstreifte ich meinen Wohnraum. Fand eine aufgerollte Matratze und eine Garnitur fröhlich bunt bedruckter Bettwäsche. Ich entrollte die Matratze, packte die Tasche mit meinen Sachen aus. Zog Jeans und das T-Shirt mit dem optimistischen Aufdruck zum klinischen Tod an. Schließlich bräuchte ich in meiner eigenen Wohnung nicht in Schlips und Kragen rumzulaufen! Dann holte ich den Laptop heraus. Übrigens, wie sollte ich hier ins Internet kommen - übers Handy?

Ich musste noch einen Streifzug durch die Wohnung machen. Eine Steckdose fand sich in der Wand des großen Badezimmers - glücklicherweise sogar auf der Seite zum Studio. Das konnte kein Zufall sein. Deshalb schaute ich ins Bad. In der Tat: Neben dem nicht funktionierenden Klo prangte eine weitere Steckdose.

Was hatte ich bloß für einen seltsamen Geschmack, als ich mit der Modernisierung begonnen habe…

Strom war da. Wenigstens etwas, aber schließlich war ich nicht deswegen hierher gekommen.

Um die lastende Stille wenigstens ein bisschen zu vertreiben, öffnete ich das Fenster. Warmer Wind strömte ins Zimmer. Über

dem Fluss leuchteten die Fenster der Häuser. Gewöhnlicher Häuser von Menschen. Und immer noch diese Stille. Kein Wunder, um ein Uhr nachts.

Ich kramte den MD-Player heraus. Wühlte in den Scheiben und entschied mich für Belaja gwardija, eine Gruppe, die niemals die Charts auf MTV anführen oder Stadien füllen würde. Mit eingestöpselten Kopfhörern streckte ich mich auf der Matratze aus.

Wenn dieser Kampf zu Ende geht

Und du noch lebst am nächsten Tage,

Dann wird dir klar, es riecht der Sieg

Genauso streng wie Niederlage.

Du bist allein, hast keine Feinde mehr

Und stehst verloren in den Trümmern nun.

Der Himmel drückt dir auf die Schultern schwer;

Was bleibt in dieser Wüste noch zu tun?

Doch du wartest ab, Was sie bringt,

Die Zeit, Du wartest ab…

Und Honig scheint dir bitterer als Salz,

Die Träne süßer nicht als Wermut - nein,

Ich kenne keine größ'ren Schmerzen, als

lebendig unter lauter Schläfern sein.

Doch du wartest ab, Was sie bringt,

Die Zeit, Du wartest ab…

Als ich mich dabei erwischte, wie ich die leise Frauenstimme mit unmelodischem Gesang begleitete, stöpselte ich die Kopfhörer aus und stellte den Player ab. Nein. Ich war nicht hier, um rumzuhängen.

Was hätte James Bond an meiner Stelle getan? Den geheimnisvollen Anderen, diesen Verräter, gefunden, seinen menschlichen Auftraggeber und den Verfasser des anonymen Briefes! Und was tue ich?

Ich suche etwas, das für mich schlicht und ergreifend lebensnotwendig ist. Da unten, bei dem Security-Menschen, wird es doch wohl ein Klo geben!

Irgendwo draußen - nein, ganz in der Nähe - dröhnte mit voller Wucht eine Bassgitarre. Ich sprang auf, aber in der Wohnung entdeckte ich niemanden.

»Und jetzt los, Kumpel!«, drang es von draußen herein. Ich beugte mich zum Fenster hinaus und ließ den Blick über die Fassade des Assol wandern. Zwei Stockwerke weiter oben bemerkte ich die offenen Fenster, aus denen diese grauenvollen, erstaunlicherweise für eine Bassgitarre arrangierten Akkorde hochschallten.

Früher, was habe ich da für Geschäfte gemacht!

Galt als scharfer Hecht, als großer Geschäftemacher.

Doch neulich, da ist mir aufgefallen -

und wer hätte das gedacht

Verdammt lang her, dass ich mein letztes Geschäft gemacht.

Doch anno dunnemals, was habe ich da für Geschäftchen gemacht!

Hab Druck ausgeübt, denn drücken konnt ich wie kein Zweiter.

Deshalb hab ja auch ich allein für alle die Geschäfte gemacht.

Die haben sich gedrückt - und das Drücken blieb mir, dem Goldenen Reiter!

Unmöglich, sich einen größeren Kontrast vorzustellen, als die leise Stimme von Soja Jaschtschenko, der Sängerin von Belaja gwardija, und diesem unvorstellbaren Chanson zur Bassgitarre. Trotzdem gefiel mir das Lied irgendwie. Der Sänger, der nur drei Akkorde hinbekam, streute sich weiter aufs Haupt:

Aber noch habe ich mein letztes Geschäftchen nicht gemacht,

Selbst wenn wohl kein Geschäft mehr die Größe von einst erreicht.

Weil heute ja jeder über große Geschäfte bloß lacht,

Weil es zum Druckmachen, zum Drücken nicht mehr reicht…

Ich lachte los. Ein echter Underdog-Song. Alle Attribute stimmten: Der lyrische Held erinnert sich an die Tage seines vergangenen Ruhmes, beschreibt seine jetzige Misere und klagt darüber, dass er nie wieder etwas Großes vollbringen werde.

Ich hatte den starken Verdacht, dass, wenn dieses Lied im Schlagerradio gespielt werden würde, neunzig Prozent der Hörer die Anspielungen nicht einmal mitbekämen.

Die Gitarre stieß ein paar Seufzer aus. Dann stimmte der Sänger ein neues Lied an.

Bin noch nie im Irrenhaus gewesen,

Also frag mich bitte nicht danach…

Die Musik brach ab. Jemand seufzte jämmerlich und strich noch etwas über die Saiten.

Ich zögerte nicht länger. Tauchte in den Pappkarton ab, holte eine Flasche Wodka und ein Stück Räucherwurst heraus. Stürmte ins Treppenhaus hinaus, knallte die Tür hinter mir zu und rannte hinauf.

Die Wohnung des Mitternachtsbarden zu finden war nicht schwerer, als einen im Gebüsch versteckten Presslufthammer auszumachen. Einen Presslufthammer in Betrieb.

Vögel singen hier nicht mehr,

Nirgends scheint die liebe Sonne,

Kinder toben nicht umher

böse bei der Abfalltonne.

Ich klingelte, fragte mich aber, ob er das überhaupt hören würde. Doch die Musik verstummte, und eine halbe Minute später öffnete sich die Tür.

In der Türfüllung stand, freundlich lächelnd, ein kleinerer, gedrungener Mann von etwa dreißig Jahren. In seinen Händen hielt er die Tatwaffe, eine Bassgitarre. Mit finsterer Genugtuung bemerkte ich, dass der Barde ebenfalls einen»Mafiososchnitt«trug. Außerdem verwaschene Jeans und ein recht kurioses T-Shirt, auf dem ein Soldat in russischer Uniform mit einem riesigen Messer einem Schwarzen in amerikanischer Uniform den Hals durchschnitt. Darunter prangte der stolze Aufdruck: »Wir können euch auch daran erinnern, wer den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat.«

»Auch nicht schlecht«, kommentierte der Gitarrist mein T-Shirt. »Komm rein.«

Er nahm den Wodka und die Wurst an sich und verschwand in den Untiefen seiner Wohnung. Ich sah ihn mir durchs Zwielicht an. Ein Mensch.

Mit einer derart wirren Aura, dass ich gar nicht erst versuchte, seinen Charakter zu verstehen. Mit grauen, rosafarbenen, roten und blauen Tönen. Ein erstaunlicher Cocktail. Ich folgte dem Gitarristen. Seine Wohnung war doppelt so groß wie meine. Mit seinem Gitarrenspiel hatte er sich die bestimmt nicht verdient… Aber das ging mich nichts an. Viel komischer war, dass die Wohnung von der Größe abgesehen, eine genaue Kopie meiner eigenen darstellte. Die Anfänge einer ambitionierten Modernisierung, die überstürzt abgebrochen und nur teilweise ausgeführt worden war.

Mitten in dem enormen Wohnzimmer - fünfzehn mal fünfzehn Meter, mindestens - standen ein Stuhl, davor ein Mikroständer, ein guter Verstärker, wie ihn Profis benutzen, und zwei gigantische Boxen.

An der Wand reihten sich drei riesige Kühlschränke von Bosch. Der Gitarrist öffnete den größten - in dem gähnende Leere herrschte - und legte den Wodka ins Eisfach. »Zu warm«, erklärte er.

»Ich hab keinen Kühlschrank«, erklärte ich.

»Kommt vor«, meinte er. »Lass. »

»Was soll ich lassen?«Ich verstand nicht, was er meinte.

»So heiße ich. Lass. Steht natürlich nicht im Pass. »

»Anton«, stellte ich mich vor. »Laut Pass. »

»Kommt vor«, räumte der Barde ein. »Wo wohnst du? »

»Im siebten Stock«, antwortete ich. Nachdenklich kratzte sich Lass den Nacken. Blickte zu den offenen Fenstern hinüber. »Ich hab sie aufgemacht, damit es nicht so laut ist«, erklärte er. »Das halten meine Ohren nicht aus. Ich wollte eine Schallisolierung einbauen lassen, aber mir ist das Geld ausgegangen.«

»Anscheinend ein verbreitetes Übel«, tastete ich mich vor. »Ich habe nicht einmal ein Klo.«

Lass grinste triumphierend. »Ich schon. Seit einer Woche! Da, hinter der Tür.«

Als ich wiederkam, schnitt Lass gerade mit wehmütigem Blick die Wurst.

»Warum ein englisches?«, konnte ich meine Neugier nicht unterdrücken. »Noch dazu ein so großes?«

»Hast du die Firmenlogos an dem Ding gesehen?«, fragte Lass. »Wir haben das erste Klosett erfunden.«Wie hätte ich das Ding nicht kaufen können - mit dem Slogan? Ich habe vor, den Aufkleber einzuscannen und ein wenig zu korrigieren. Es sollte heißen. »Wir haben als Erste verstanden, wozu Menschen…«

»Alles klar«, kam ich ihm zuvor. »Dafür hab ich eine Dusche.«

»Echt?«Der Barde stand auf. »Seit drei Tagen träume ich davon, mich mal zu waschen…«Ich hielt ihm den Schlüssel hin.

»Kümmer dich inzwischen darum, dass wir zum Wodka was zu essen haben«, meinte Lass froh. »Der Wodka ist garantiert in zehn Minuten eiskalt. Und bei mir dauert's nicht lange.«

Die Tür schlug zu, und ich blieb allein in der fremden Wohnung zurück - in trauter Einsamkeit mit angeschlossenen Verstärkern, bereits geschnittener Wurst und einem riesigen, leeren Kühlschrank. Ach ja!

Niemals hätte ich gedacht, dass in solchen Häusern die ungezwungene, freundschaftliche Atmosphäre einer Wohngemeinschaft herrschen könnte. Oder eines Wohnheims für Studenten.

Geh du ruhig auf mein Klo, dann nehm ich ein Bad in deiner Jacuzzi… Pjotr Petrowitsch hat einen Kühlschrank, Iwan Iwanowitsch hat versprochen, Wodka mitzubringen, er handelt schließlich damit, und Semjon Semjonitsch schneidet die Zuspeisen sorgsam, akkurat in kleine Stücke…

Vermutlich haben die meisten Mieter hier die Wohnung»für die Ewigkeit«gekauft. Mit all dem Geld, das sie sich erarbeitet, zusammengeklaut und geliehen haben.

Erst danach ging den glücklichen Wohnungseigentümern auf, was in einer Wohnung dieser Größe noch alles gemacht werden muss. Und jemanden, der sich hier eine Wohnung gekauft hatte, nahm jede Firma bis aufs letzte Hemd aus. Dann galt es, monatlich auch noch etwas für die sonstige Unmenge an Quadratmetern, die Tiefgarage, die Grünanlage und die Uferstraße zu berappen.

So stand das riesige Haus halb leer, wirkte fast aufgegeben.

Natürlich ist es keine Tragödie, wenn jemand nur eine kleine Perle besitzt. Aber zum ersten Mal konnte ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es mindestens eine Tragikomödie war.

Wie viel Menschen wohl tatsächlich im Assol lebten? Wenn auf das nächtliche Geheule der Bassgitarre hin nur ein Mieter erschienen ist? Und wenn dieser seltsame Barde bisher völlig ungestört rumlärmen konnte?

Ein Mieter pro Stockwerk? Wohl eher noch weniger… Wer hat dann den Brief abgeschickt?

Ich versuchte mir vorzustellen, wie Lass mit einer Nagelschere Buchstaben aus der Prawda ausschnitt. Es klappte nicht. Einer wie er hätte sich etwas Originelleres ausgedacht.

Ich schloss die Augen. Stellte mir vor, wie sich der graue Schatten von meinen Lidern auf meine Pupillen legte. Dann öffnete ich die Augen und sah mich durchs Zwielicht in der Wohnung um.

Nicht die geringste Spur von Magie. Selbst an der Gitarre nicht, die, auch wenn sie ein dankbares Instrument ist, nur einmal in den Händen eines Anderen oder eines potenziellen Anderen gelegen haben muss, um sich noch Jahre an diese Berührung zu erinnern.

Und das blaue Moos, dieser Parasit des Zwielichts, der von negativen Gefühlen lebt, ließ sich auch nicht entdecken. Wenn der Hausherr in eine Depression gefallen sein sollte, dann nicht innerhalb seiner eigenen vier Wände. Oder er hat sich offen und von ganzem Herzen amüsiert - und damit das blaue Moos verbrannt.

Schließlich setzte ich mich hin und schnitt die Wurst bis auf das letzte Zipfelchen in Scheiben. Auf alle Fälle würde ich durchs Zwielicht prüfen, ob ich sie essen konnte.

Die Wurst war in Ordnung. Geser beabsichtigte nicht, seinen Agenten mit einer Vergiftung auszuschalten.

»Jetzt stimmt die Temperatur«, meinte Lass, während er aus der offenen Flasche ein Weinthermometer zog. »Wir haben es nicht übertrieben. Sonst verwässerst du den Wodka, bis er die Konsis tenz von Glyzerin hat. Da kannst du auch gleich flüssigen Stickstoff trinken… Auf unsere Bekanntschaft!«

Wir tranken auf ex und aßen Wurst und Zwieback dazu. Den Zwieback hatte Lass aus meiner Wohnung mitgebracht. Mit der Erklärung, er habe sich heute überhaupt nicht um Essen gekümmert.

»Alle im Haus leben so«, setzte er mir auseinander. »Sicher, es gibt natürlich auch diejenigen, bei denen das Geld sowohl für die Handwerker wie auch für die Ausstattung reicht. Aber mach dir doch mal klar, was es für ein Vergnügen ist, in einem leeren Haus zu wohnen. Man wartet darauf, bis solche Deppen wie du und ich fertig mit den Umbauten sind und das Haus voll wird. Das Cafe ist geschlossen, das Casino leer, die Security-Leute werden vor Langeweile verrückt… Gestern sind zwei von denen geflogen. Die haben sich in den Büschen hier im Hof eine Schießerei geliefert. Angeblich haben sie was ganz Schreckliches beobachtet. Na ja… sie wurden gleich zum Arzt gebracht. Wie sich herausstellte, waren die beiden total zugekifft.«

Bei diesen Worten holte Lass ein Päckchen Belomor aus seiner Tasche. »Willst du?«, fragte er mit viel sagendem Blick.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ein Mensch, der so begeistert Wodka trank, sich mit Marihuana abgab. Ich schüttelte den Kopf. »Rauchst du viel?«, fragte ich.

»Das ist heute schon die zweite Schachtel«, seufzte Lass. In dem Moment begriff er mich. »Echt, Anton! Das sind Belomor! Kein Gras! Früher habe ich Gitane geraucht, doch dann ist mir klar geworden, dass die auch nicht anders schmecken als unsere Belomor!«

»Wie originell«, meinte ich.

»Was hat das damit zu tun?«, blaffte Lass. »Es geht mir nicht darum, originell zu sein. Sobald ein Mensch aus seiner Haut raus will, ein anderer sein will…«

Ich erschauerte, doch Lass fuhr gelassen fort. »… nicht so sein will wie alle, heißt es gleich: Der hält sich für was Besonderes. Mir schmecken die Belomor einfach. In einer Woche habe ich vielleicht die Schnauze voll, dann höre ich damit auf.«

»Ist doch nicht schlimm, wenn man mal ein Anderer sein will«, ließ ich einen Probeballon los.

»Wirklich ein anderer zu sein ist schwer«, erwiderte Lass. »Vor ein paar Tagen habe ich gedacht…«

Abermals merkte ich auf. Der Brief war vor zwei Tagen abgeschickt worden. So glatt konnte sich doch nicht alles auflösen?

»Ich war im Krankenhaus, während der Sprechstunde dort. Da habe ich alle Preislisten studiert«, fuhr Lass fort, nichts Böses ahnend. »Bei denen ist alles ganz seriös. Titanprothesen als Ersatz für verlorene Extremitäten. Schenkelknochen, Kniegelenke, Hüftgelenke, Kiefer… Der Preis für einen Schädel anstelle der eingebüßten Knochen, der Zähne und anderer Kleinigkeiten… Ich hab meinen Taschenrechner rausgeholt und berechnet, wie viel es kostet, sich sämtliche Knochen ersetzen zu lassen. Eine Million siebenhunderttausend Dollar. Allerdings vermute ich, dass man bei einem derartigen Großauftrag einen hübschen Rabatt bekommt. Zwanzig, dreißig Prozent. Und wenn du die Ärzte noch überzeugen kannst, dass das gute Reklame ist, brauchst du nicht mehr als eine halbe Million hinzublättern!«

»Wozu?«, fragte ich. Dank dem Friseur konnten sich mir die Haare nicht mehr sträuben - es war einfach nichts mehr da.

»Das ist doch interessant!«, erklärte Lass. »Stell dir vor, du musst einen Nagel einhauen! Du holst aus und schlägst mit der Faust auf den Nagel! Der dringt in den Beton ein! Titanknochen! Oder jemand versucht, dich zu verprügeln… Sicher, es gibt noch einige Mängel. Auch mit den künstlichen Organen steht es nicht gut. Aber die Richtung, in die der Fortschritt geht, freut mich.«Er goss uns noch einmal ein.

»Ich glaube, der Fortschritt geht in eine andre Richtung«, versuchte ich meine Taktik zu ändern. »Man müsste die Möglichkeiten des Organismus besser nutzen. Was in uns steckt, ist doch ganz erstaunlich! Telekinese, Telepathie…«

Lass setzte eine bedripste Miene auf. So gucke ich auch aus der Wäsche - wenn ich es mit einem Idioten zu tun habe. »Kannst du meine Gedanken lesen?«, fragte er. »Jetzt nicht«, gab ich zu.

»Ich glaube, wir brauchen hier keine neuen Fähigkeiten zu ersinnen«, erklärte Lass. »Alles, was der Mensch kann, ist seit langem bekannt. Wenn die Menschen Gedanken lesen, levitieren und ähnlichen Unsinn vollbringen könnten, wäre das längst bewiesen.«

»Wenn ein Mensch plötzlich solche Fähigkeiten besitzt, wird er sie vor seiner Umwelt verbergen«, entgegnete ich und beobachtete Lass durchs Zwielicht. »Wenn er wirklich so etwas wie ein Anderer wäre, würde er den Neid und die Furcht seiner Umwelt heraufbeschwören.«Lass ließ nicht die geringste Nervosität erkennen. Nur Skepsis.

»Aber würde dieser Wunderknabe nicht dafür sorgen wollen, dass seine geliebte Frau und die Kinder die gleichen Fähigkeiten hätten? Mit der Zeit würden sie uns als biologische Art verdrängen.«

»Und wenn diese besonderen Fähigkeiten nicht vererbt werden könnten?«, fragte ich. »Oder nicht unbedingt. Oder wenn es unmöglich wäre, sie einem andern zu vermitteln? Dann würden die Menschen und die Anderen unabhängig voneinander existieren. Wenn es nicht viele dieser Anderen gibt, würden sie sich vor ihrer Umwelt verstecken…«

»Ich glaube, du meinst eine zufällige Mutation, die zu übersinnlichen Fähigkeiten führt«, vermutete Lass. »Doch wenn diese Mutation zufällig und rezessiv ist, braucht sie uns nicht zu interessieren. Aber die Titanknochen kann man sich schon heute einsetzen lassen! »

»Na toll!«, schnaubte ich.

Wir tranken auf ex. »Trotz allem hat unsere Situation was!«, meinte Lass verträumt. »Ein riesiges leeres Haus! Hundert Wohnungen, und nur neun Leute, die hier wohnen… wenn du dich dazurechnest. Was könnte man hier nicht alles machen! Da bleibt dir die Spucke weg! Was für einen Film könnte man hier drehen! Oder stell dir mal einen Videoclip vor: ein luxuriöses Interieur, leere Restaurants, tote Waschsalons, rostende Fitnessgeräte und kalte Saunen, leere Schwimmbecken und unter einer Decke dahinvegetierende Tische im Casino. Durch all diese Pracht schlendert eine junge Frau. Schlendert und singt. Egal was. »

»Drehst du Clips?«, hakte ich nach.

»Nö…«Lass runzelte die Stirn. »Na ja… einmal habe ich einer bekannten Punkgruppe geholfen, ein Video zu machen. Erst wurde es auf MTV gezeigt, dann aber verboten. »

»Was war denn an dem so schrecklich?«

»Nichts weiter«, sagte Lass. »Ein stinknormales Lied, nichts, was zensiert werden müsste. Es ging sogar um Liebe. Das Video war komisch. Wir haben es in einem Krankenhaus für Personen mit Störungen im Bewegungsapparat gedreht. Haben Stroboskope in einem Saal aufgestellt, das Volkslied He, Kosak, he, Kosak, wo ist dein Pferd geblieben? angestellt und die Patienten gebeten zu tanzen. Das haben sie dann gemacht. Unter den Stroboskopen. So gut sie konnten. Dann haben wir auf diese Bilder eine neue Tonspur gelegt. War wirklich sehr stilvoll. Aber zeigen durften wir das nicht. War irgendwie nicht angesagt.«Ich stellte mir die Videospur vor und erschauerte.

»Clips sind nicht meine Stärke«, gab Lass zu. »Auch als Musiker tauge ich nicht viel… Einmal wurde ein Song von mir im Radio gespielt, spät nachts, in einer Sendung für alle möglichen Looser. Was glaubst du, was da passiert ist? Ein bekannter Komponist rief beim Radio an, um zu sagen, dass er sein ganzes Leben lang versucht habe, den Menschen mit seinen Liedern das Gute und Ewige nahe zu bringen, aber dieser eine Song mache sein ganzes Lebenswerk zunichte… Du hast doch schon ein Lied von mir gehört. Bist du danach ein schlechter Kerl geworden?«

»Meiner Meinung hat das Lied sich lustig gemacht«, sagte ich. »Über die schlechten Kerle.«

»Danke«, meinte Lass traurig. »Aber das ist die Krux: dass viele das gar nicht kapieren. Die glauben, das ist alles ernst.«

»Dann sind sie Idioten«, versuchte ich den verkannten Barden zu trösten.

»Aber sie sind in der Mehrheit«, rief Lass aus. »Und die Kopfprothesen sind noch nicht ausgereift…«

Er griff nach der Flasche, goss Wodka ein. »Komm vorbei, wenn du wieder pinkeln musst«, forderte er mich auf. »Nur keine falsche Scham. Außerdem werde ich dir noch den Schlüssel von einer Wohnung im vierzehnten Stock geben. Die ist leer, hat aber Klos. »

»Hat denn der Besitzer nichts dagegen?«, grinste ich.

»Dem ist jetzt alles egal. Und die Erben kriegen's nicht fertig, die Bude unter sich aufzuteilen.«

Drei

Um vier Uhr morgens kehrte ich in meine Wohnung zurück. Leicht betrunken, aber erstaunlich entspannt. Derart andere Menschen trifft man schließlich selten. Die Arbeit in der Wache erzieht dich in gewisser Weise dazu, pauschal zu denken. Der raucht nicht, der trinkt nicht, also ist er ein guter Junge. Aber der flucht, also ist er schlecht. Und wie man es auch dreht und wendet, uns interessieren nun mal in erster Linie die guten, unsere Stütze, während die schlechten eine potenzielle Basis für die Dunklen darstellen.

Darüber vergessen wir dann gern, wie unterschiedlich Menschen sein können.

Der Barde wusste nichts von den Anderen. Da war ich mir absolut sicher. Und wenn es mir gelingen würde, mit jedem Mieter im Assol so die halbe Nacht lang zusammenzuhocken, dann könnte ich mir von jedem einzelnen ein genaues Bild machen.

Allerdings gab ich mich dieser Illusion gar nicht erst hin. Nicht jeder würde mich reinbitten, nicht jeder würde über Gott und die Welt plaudern. Von den zehn Mietern abgesehen, gab es noch Hunderte von Menschen, die hier arbeiteten: Security-Leute, Installateure, Handwerker, Buchhalter. Niemals könnte ich die in absehbarer Zeit alle überprüfen!

Nachdem ich geduscht hatte - in der Duschkabine hing ein komischer Schlauch, aus dem Wasser plätscherte -, kam ich in mein einziges Zimmer. Ich musste schlafen… Morgen früh würde ich mir dann einen neuen Plan überlegen.

»Hallo, Anton«, klang es vom Fenster herein.

Ich erkannte die Stimme. Sofort fühlte ich mich beklommen.

»Guten Abend, Kostja«, erwiderte ich. Guten Abend, das klang irgendwie unangemessen. Aber einem Vampir einen»Schlechten Abend«zu wünschen wäre noch dümmer gewesen.

»Kann ich reinkommen?«, fragte Kostja.

Ich trat ans Fenster. Kostja saß, mit dem Rücken zu mir, auf dem Fensterbrett und baumelte mit den Beinen. Er war splitter-fasernackt. Als wolle er mir beweisen: Ich bin nicht die Fassade hochgeklettert, sondern als riesige Fledermaus an dein Fenster geflogen gekommen. Ein Hoher Vampir. Mit Anfang zwanzig. Ein fähiger Junge…

»Lieber nicht«, lehnte ich ab.

Kostja nickte, fing keinen Streit an. »Anscheinend sind wir auf denselben Fall angesetzt. »

»Ja.«

»Gut.«Kostja drehte sich zu mir um. Lächelte mit weißen Zähnen. »Ich freu mich, dass wir zusammenarbeiten. Aber du hast Angst vor mir, oder? »

»Nein.«

»Ich habe jede Menge gelernt«, prahlte Kostja. Genau wie damals, als er noch ein Kind gewesen war und verkündet hatte: »Ich bin ein schrecklicher Vampir! Ich werde lernen, mich in eine Fledermaus zu verwandeln! Ich werde fliegen lernen!«

»Du hast gar nichts gelernt«, korrigierte ich ihn. »Du hast bloß jede Menge gestohlen.«

»Das sind Wortklaubereien.«Kostja runzelte die Stirn. »Das ist nur eines der üblichen Wortspiele von euch Lichten. Ihr habt mir etwas angeboten, und ich habe es genommen. Irgendwas dagegen?«

»Wir wollen uns doch nicht streiten, oder?«, fragte ich. Und hob die Hand, wobei ich mit den Fingern das Zeichen des Aton andeutete, das gegen alle Untoten feien soll. Schon lange wollte ich mal ausprobieren, ob die alten nordafrikanischen Zauber bei den russischen Dämonen von heute wirken.

Ängstlich starrte Kostja auf das unvollendete Zeichen. Entweder wusste er davon, oder Kraft stürmte auf ihn ein. »Darfst du denn deine Tarnung aufgeben?«, fragte er.

Wütend senkte ich die Hand. »Nein. Aber ich kann doch wohl ein Risiko eingehen.«

»Das ist nicht nötig. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, dann geh ich. Aber wo wir schon denselben Fall bearbeiten…, sollten wir miteinander reden.«

»Dann rede«, forderte ich ihn auf und zog einen der Hocker ans Fenster. »Du lässt mich also nicht rein?«

»Ich möchte nachts nicht allein mit einem nackten Mann erwischt werden«, erklärte ich grinsend. »Wer weiß, was die Leute dann denken. Schieß los. »

»Wie gefällt dir der T-Shirt-Sammler?«Fragend sah ich Kostja an. »Der aus dem neunten Stock. Er sammelt T-Shirts mit albernen Slogans. »

»Der hat keine Ahnung«, versicherte ich.

»Glaub ich auch.«Kostja nickte. »Acht Wohnungen sind belegt. Bei weiteren sechs tauchen die Mieter ab und an auf. In den übrigen nur äußerst selten. Alle Dauermieter habe ich schon überprüft. »

»Und? »

»Null. Sie wissen nichts von uns.«

Ich erkundigte mich nicht, woher Kostja diese Gewissheit nahm. Immerhin war er ein Hoher Vampir. Die können einem mit der Leichtigkeit eines erfahrenen Magiers ins Bewusstsein eindringen.

»Die übrigen sechs knöpfe ich mir morgen vor«, kündigte Kostja an. »Besondere Hoffnungen mache ich mir aber nicht. »

»Hast du jemanden in Verdacht?«, fragte ich.

Kostja zuckte die Schultern. »Jeder, der hier wohnt, hat genug Geld und Einfluss, um für einen Vampir oder einen Tiermenschen von Interesse zu sein. Für einen schwachen, gierigen… frisch gebackenen Vertreter dieser Spezies. Auf diese Weise können wir den Kreis der Verdächtigen also nicht eingrenzen.«

»Wie viele frisch gebackene niedere Dunkle gibt es zurzeit in Moskau?«, wollte ich wissen. Und wunderte mich selbst darüber, wie leicht mir die»niederen Dunklen«über die Lippen gingen. Früher hatte ich nie so von ihnen gesprochen. Da hatten sie mir leid getan.

Kostja reagierte gelassen auf meine Äußerung. In der Tat: ein Hoher Vampir. Konzentriert. Selbstsicher.

»Nicht sehr viele«, wich er aus. »Aber die werden wir überprüfen, da kannst du ganz beruhigt sein. Alle werden überprüft. Die niederen Anderen, aber auch die Magier. »

»Bringt der Fall Sebulon auf die Palme?«, fragte ich.

»Geser ist auch nicht gerade die Ruhe in Person«, höhnte Kostja. »Das Ganze ist für alle unangenehm. Nur du nimmst die Sache auf die leichte Schulter.«

»Mir ist nicht klar, was daran so schlimm sein soll«, gestand ich. »Es gibt Menschen, die bereits von unserer Existenz wissen. Nur wenige, aber immerhin. Ein Mensch mehr oder weniger - das ändert doch nichts. Wenn er anfängt, Lärm zu schlagen, finden wir ihn im Handumdrehen und erklären ihn für psychisch krank. So was hat es…»

»Und wenn er ein Anderer wird?«, fragte Kostja scharf.

»Dann gibt es einen Anderen mehr.«Ich zuckte mit den Achseln.

»Wenn er aber weder ein Vampir noch ein Tiermensch, sondern ein richtiger Anderer wird?«Kostja bleckte die Zähne zu einem Lächeln. »Ein echter? Egal, ob nun ein Lichter oder ein Dunkler…»

»Dann gibt es einen Magier mehr«, wiederholte ich nur.

»Hör mir mal zu, Anton«, sagte Kostja kopfschüttelnd. »Ich mag dich. Immer noch. Aber manchmal kann ich mich nur wundern, wie naiv du bist…«

Er streckte sich. An seinen Armen wuchs ein kurzhaariges Fell, seine Haut dunkelte ein und verlor ihre Glätte.

»Nimm dir die Angestellten der Mieter vor«, riet er mit feiner, durchdringender Stimme. »Wenn du etwas witterst, ruf mich.«

Er wandte mir das in der Transformation verzerrte Gesicht zu. »Weißt du, Anton«, meinte er und lächelte abermals. »Nur wenn ein Lichter so naiv ist, kann ein Dunkler mit ihm befreundet sein…«

Daraufhin sprang er nach unten. Schwer schlugen seine ledernen Flügel. Eine etwas unbeholfene, aber dennoch schnelle, gigantische Fledermaus flog in die Nacht davon.

Auf dem Fensterbrett schimmerte das weiße Rechteck einer Visitenkarte. Ich nahm sie auf. »Konstantin. Wissenschaftliches Forschungsinstitut für Blutprobleme. Wissenschaftlicher Mitarbeiter«las ich.

Dann folgten die Telefonnummern: dienstlich, privat, Handy. Die Nummer zu Hause kannte ich, denn Kostja lebte immer noch bei seinen Eltern. Die Familienbande von Vampiren sind allgemein sehr eng. Woran hatte er gedacht? Warum diese Panik?

Ich schaltete das Licht aus, streckte mich auf der Matratze aus und starrte auf die grau schimmernden Quadrate der Fenster. »Wenn er ein richtiger Anderer wird…«Wie entstehen Andere? Niemand weiß das. Eine zufällige Mutation, wie Lass es ausgedrückt hat. Das traf es genau. Du wirst als Mensch geboren, lebst ein ganz normales Leben… bis dann ein Anderer in dir die Fähigkeit erspürt, ins Zwielicht einzutreten und dort Kraft zu schöpfen. Danach»lenken«sie dich dann. Behutsam, mit Bedacht bringen sie dich in die nötige Geistesverfassung, damit du in einem Moment starker emotionaler Erregung deinen Schatten ansiehst - diesmal mit andern Augen. So dass du siehst, wie er gleich einem schwarzen Fetzen vor dir liegt, wie ein Vorhang… den du zu dir heranziehen und beiseite schieben kannst, um in eine andere Welt einzutreten. In die Welt der Anderen. Ins Zwielicht.

Und davon, wie du das erste Mal ins Zwielicht eintrittst - fröhlich und gut oder unglücklich und böse - hängt ab, was du wirst. Welche Kraft du zukünftig aus dem Zwielicht schöpfst - das wiederum die Kraft aus den gewöhnlichen Menschen heraussaugt. »Wenn er ein richtiger Anderer wird…«

Es gibt immer die Möglichkeit, jemandem die Initiierung aufzuzwingen. Jedoch um den Preis des Lebens, indem man ihn in eine lebendige Leiche auf zwei Beinen verwandelt. Ein Mensch kann ein Vampir oder ein Tiermensch werden - und wäre gezwungen, seine Existenz durch Menschenleben aufrechtzuerhalten. Daher können nur Dunkle diesen Weg gehen… Und selbst sie lieben ihn nicht besonders. Aber wenn man tatsächlich zum Magier werden konnte?

Wenn es für jeden x-beliebigen Menschen die Möglichkeit gab, sich in einen Anderen zu verwandeln? Ein langes, ein sehr langes Leben zu erhalten, in dem ihnen die ungewöhnlichsten Wege offen standen? Das würden viele wollen, ohne Zweifel.

Wir selbst hätten ja auch gar nichts dagegen. Es gäbe so viele Menschen, die es wert wären, Lichte zu werden!

Nur würden dann auch die Dunklen anfangen, ihre Reihen aufzustocken…

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das Unglück bestand nicht darin, dass jemand den Menschen unser Geheimnis enthüllte. Das Unglück bestand nicht in der Lücke im System. Nicht darin, dass der Verräter die Adresse der Inquisition kannte.

Sondern darin, dass dies eine neue Phase in einem ewigen Krieg einleitete!

Seit Jahrhunderten sind die Lichten und die Dunklen nun durch den Großen Vertrag gebunden. Wir dürfen unter den Menschen die Anderen suchen, dürfen sie auf die jeweilige Seite ziehen, die Seite, die wir für die richtige halten. Aber wir sind gezwungen, Tonnen von Sand zu sieben, um ein Goldkorn zu finden. Auf diese Weise wird das Gleichgewicht gewahrt.

Und plötzlich tut sich die Möglichkeit auf, Tausende, Millionen von Menschen auf einen Schlag in Andere zu verwandeln.

Eine Fußballmannschaft holt sich den Pokal - und Zehntausende jubelnder Fans bekommen einen magischen Schlag, der sie in Lichte verwandelt.

Parallel dazu gibt die Tagwache den Anhängern der besiegten Mannschaft einen Befehl - und diese verwandeln sich in Dunkle.

Das schwirrte Kostja im Hinterkopf. Die gewaltige Versuchung, mit einem Mal das Gleichgewicht zugunsten der eigenen Seite zu verschieben. Natürlich können sowohl die Dunklen als auch wir die Folgen eines solchen Schritts abschätzen. Natürlich würden beide Seiten neue Bestimmungen in den Vertrag aufnehmen und für die Initiierung von Menschen akzeptable Grenzen abstecken. So wie die USA und die UdSSR das Wettrüsten bei Atomwaffen einschränken konnten…

Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Semjon hatte mir mal erzählt, das Wettrüsten sei gestoppt worden, als eine ultimative Waffe gefunden worden war. Zwei - mehr waren dazu nicht nötig - thermonukleare Sprengkörper, die eine selbstständig weiterlaufende Kettenreaktion der Kernfusion hervorrufen würden. Die amerikanische Bombe war in Texas stationiert, die russische in Sibirien. Es brauchte nur eine gezündet zu werden, und der ganze Planet würde sich in einen Feuerball verwandeln.

Dass uns ein solches Vorgehen nicht gefällt, steht hier nicht zur Debatte. Allerdings wird eine Waffe, die nie eingesetzt werden darf, auch nie funktionieren. Die Präsidenten müssen das nicht unbedingt wissen, schließlich sind sie nur Menschen…

Ob die Chefs der Wachen vergleichbare»magische Bomben«haben? Und die Inquisition, in das Geheimnis eingeweiht, deshalb so grimmig auf die Einhaltung des Vertrags achtet? Vielleicht.

Trotzdem wäre es besser, wenn man normale Menschen nicht initiieren könnte…

Selbst im Halbschlaf zuckte ich schmerzlich vor meinen eigenen Gedanken zurück. Sollte das heißen, dass ich anfing, wie ein echter Anderer zu denken? Es gibt die Anderen, und es gibt Menschen. Letztere sind zweitrangig. Nie werden sie ins Zwielicht eintreten können, nie werden sie länger als hundert Jahre leben. Da ist nichts zu machen…

Ja, genau so dachte ich allmählich. Einen guten Menschen mit Anlagen zum Anderen zu finden, ihn auf unsere Seite zu ziehen, das ist ein pures Vergnügen. Aber durchweg aus allen Andere zu machen wäre kindisch, gefährlich und verantwortungslos.

Ich hatte Grund, stolz zu sein. Keine zehn Jahre hatte ich gebraucht, um endgültig aufzuhören, ein Mensch zu sein.

Mein Morgen begann mit der Erkundung der Geheimnisse der Dusche. Mein Verstand trug den Sieg über das seelenlose Metall davon, ich duschte, sogar bei Musik, und stellte mir dann ein Frühstück aus Zwieback, Wurst und Joghurt zusammen. Durch den Sonnenschein stieg meine Laune gleich, ich setzte mich aufs Fensterbrett und frühstückte mit Blick auf die Moskwa. Aus irgendeinem Grund fiel mir ein, dass Kostja zugegeben hatte, Vampire könnten nicht in die Sonne gucken. Sonnenlicht verbrannte sie nicht, sie mochten es einfach nicht.

Allerdings hatte ich keine Zeit, lange über das traurige Schicksal meiner alten Bekannten nachzugrübeln. Ich musste jemanden suchen. Aber wen? Einen Anderen, der zum Verräter geworden war? Da befand ich mich nicht gerade in der besten Ausgangsposition. Seinen menschlichen Auftraggeber? Eine lange und mühevolle Angelegenheit.

Gut, beschloss ich, gehen wir nach den strengen Gesetzen des klassischen Kriminalromans vor. Was haben wir in der Hand? Einen Hinweis. Einen Brief, der aus dem Assol abgeschickt worden ist. Was bringt uns das? Nichts! Es sei denn, jemand hat gesehen, wer den Brief vor drei Tagen eingesteckt hat. Die Chancen, dass er sich daran erinnerte, standen natürlich nicht gerade gut…

Ich Idiot! Ich schlug mir sogar gegen die Stirn. Natürlich denkt ein Anderer nicht an die moderne Technik, denn die Anderen lieben komplizierte Technik nicht. Aber ich bin immerhin ein Computerfreak!

Das gesamte Territorium des Assol wird durch Videokameras überwacht!

Ich zog meinen Anzug an und band mir die Krawatte um. Bespritzte mich mit dem Eau de Cologne, das Ignat gestern für mich ausgesucht hatte. Steckte das Handy in die Innentasche…»Nur kleine Jungs und Verkäufer tragen das Handy am Gürtel!«So hatte Geser es mir beigebracht.

Das Handy war auch neu, ungewohnt. Mit irgendwelchen Spielen, eingebautem Player, einem Diktiergerät und weiterem in einem Telefon absolut überflüssigen Kram.

In der angenehm kühlen Stille des funkelnagelneuen Otis fuhr ich ins Vestibül hinunter. Und stieß als Erstes auf meinen nächtlichen Bekannten. Der jetzt noch seltsamer aussah…

Lass, in einem neuen Blaumann mit dem stolzen Aufdruck»Assol«auf dem Rücken, erklärte einem bedripsten älteren Mann, der genau so einen Overall trug, etwas. »Das ist kein Besen, verstehst du das denn nicht?«, klang es zu mir herüber. »Da ist ein Computer, der dir das Niveau der Verschmutzung des Asphalts anzeigt und dir sagt, welchen Druck das Spülwasser haben muss… Ich zeig's dir einfach…«Meine Beine trugen mich den beiden von selbst hinterher.

Vor dem Hauseingang standen zwei grell orangefarbene Kehrfahrzeuge. Mit Wasserbehälter, Tellerbürsten und kleiner Glaskabine für den Fahrer. Die Wagen beschworen die Erinnerung an ein Spielzeug herauf, als kämen sie direkt aus einem Märchenland, wo kleine Jungen und Mädchen fröhlich ihre Miniaturboulevards säuberten.

Geschickt kroch Lass in das Fahrerhäuschen eines der Wagen, der ältere Mann zwängte sich ebenfalls halb hinein. Er ließ sich von Lass etwas erklären, nickte und ging zu dem zweiten orangefarbenen Fahrzeug.

»Wenn du eine ruhige Kugel schieben willst, solltest du dein Leben lang irgendwo schwarz als Hausmeister arbeiten!«, vernahm ich Lass' Worte. Sein Fahrzeug setzte sich in Bewegung, die Bürsten kreisten munter, und er drehte seine Runden über den Asphalt. Der Hof, ohnehin sauber, nahm im Handumdrehen ein steriles Aussehen an. Hast du Töne! Was bedeutete das? Arbeitete Lass als Hausmeister im Assol?

Ich versuchte, mich leise davonzustehlen, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Doch Lass hatte mich bereits entdeckt, winkte mir fröhlich zu und fuhr mir entgegen. Die Bürsten brummten jetzt leiser.

»Einen wunderschönen Morgen!«, rief Lass und steckte den Kopf zum Fenster des Fahrerhäuschens raus. »Willst du's mal probieren?«

»Du arbeitest hier?«, fragte ich. Urplötzlich malte ich mir die phantastischsten Bilder aus: Lass wohnte überhaupt nicht im Assol, sondern hatte sich nur in einer der vorübergehend leeren Wohnungen eingenistet. Schließlich würde jemand, dem in einem solchen Luxusschuppen eine Wohnung gehörte, nicht den Hof kehren!

»Ich verdien mir was zu«, erklärte Lass ruhig. »Das ist ziemlich cool, musst du wissen! Morgens fährst du ein Stündchen über den Hof, als Frühsport sozusagen - und dafür bekommst du auch noch Geld. Und zwar nicht zu wenig!«Ich hüllte mich in Schweigen.

»Gefallen dir die Sachen beim Rummel?«, fragte Lass. »Diese Skooter, bei denen du für drei Minuten zehn Dollar zahlst? Und hier kriegst du sogar noch was dafür. Für dein eigenes Vergnügen. Oder nehmen wir mal die Computerspiele… Du sitzt da, fuhrwerkst mit dem Joystick herum…«

»Alles hängt davon ab, ob sie dich zwingen, den Zaun zu streichen…«, murmelte ich.

»Eben!«, triumphierte Lass. »Mich zwingt niemand. Mir macht es Spaß, den Hof zu fegen. Genau wie damals Lew Tolstoi das Heumähen. Nur muss mir niemand hinterherfegen, im Unterschied zum Grafen, bei dem die Bauern immer noch mal nachschneiden mussten… Ich bin hier eh gut angesehen und bekomme regelmäßig eine Prämie. Was ist nun, willst du 'ne Runde drehen? Ich kann dir übrigens auch was organisieren, wenn du willst. Professionelle Hausmeister kommen mit dieser Technik einfach nicht klar.«

»Ich denk drüber nach«, antwortete ich und beäugte die Bürsten, die sich munter drehten, das Wasser, das aus vernickelten Düsen spritzte, das funkelnde Fahrerhäuschen. Wer von uns wollte als kleiner Junge nicht den Wagen fahren, mit dem der Rasen gesprengt wurde? Damals, in der frühen Kindheit, als wir noch nicht davon träumten, Banker oder Killer zu werden…

»Überleg's dir, ich muss mich jetzt wieder an die Arbeit machen«, meinte Lass aufgeräumt. Der Wagen fuhr über den Hof, fegend, waschend, Dreck aufsaugend. Aus dem Fahrerhäuschen schallte es herüber:

Von Hausmeistern und Aufpassern eine ganze Generation

In den Weiten eines endlosen Winters ging einander verlor'n…

Ein jeder stürmte davon, zurück in sein Haus.

In unsrer Zeit, wo jeder Dritte wird zum Held erkor'n

Lassen sie die Finger vom Feuilleton

Schicken sie keine Telegramme in die Welt hinaus…

Leicht perplex kehrte ich zurück ins Vestibül. Von den Security-Leuten erfuhr ich, wo sich die Postabteilung des Assol befand. Dorthin ging ich. Die Post war offen. In einem gemütlichen Saal langweilten sich drei junge Frauen, hier stand auch ebenjener Kasten, in den besagter Brief gesteckt worden war. Unter der Decke flimmerten die Augen der Videokameras.

Alles in allem könnten auch wir ein paar professionelle Ermittler gut gebrauchen. Die wären sofort auf diesen Gedanken gekommen.

Ich kaufte eine Ansichtskarte mit einem hüpfenden Küken im Brutkasten und dem Aufdruck: »Ich vermisse meine Familie!«Nicht gerade lustig, aber ich wusste die Adresse von dem Dorf, in dem meine Familie Urlaub machte, sowieso nicht auswendig. Deshalb schickte ich die Karte mit einem hämischen Grinsen Geser nach Hause: seine Adresse kannte ich.

Ich unterhielt mich ein bisschen mit den Frauen. In einem derart elitären Haus zu arbeiten verlangte ohnehin, dass sie freundlich auftraten. Außerdem langweilten sie sich. Danach verließ ich die Post.

Und ging in die Sicherheitsabteilung im Parterre.

Hätte ich das Recht gehabt, auf meine Fähigkeiten als Anderer zurückzugreifen, hätte ich dem Security-Mann einfach Sympathie für mich eingeflößt und mir damit Zugang zu allen Videocassetten verschafft. Aber ich durfte meine Tarnung nicht aufgeben. Weshalb ich beschloss, den universellsten aller Sympathieheraufbeschwörer einzusetzen: Geld.

Von dem mir ausgehändigten Geld nahm ich hundert Dollar in Rubeln - mehr brauchte ich doch wohl nicht, oder? Damit ging ich ins Zimmer der Security-Leute, wo sich ein junger Mann in streng geschnittener Uniform langweilte.

»Guten Tag!«, begrüßte ich ihn mit freudestrahlendem Lächeln.

Mit seiner ganzen Miene drückte der Security-Mann seine uneingeschränkte Zustimmung zu meiner Einschätzung des heutigen Tages aus. Ich schielte zu den Monitoren vor ihm hinüber, mindestens ein Dutzend Videokameras übermittelten hier ihre Bilder. Vermutlich könnte er jeden x-beliebigen Moment wiederholen. Wenn das Ganze auf einer OAW gespeichert wurde (und wo sonst?), brauchten die Aufzeichnungen der letzten drei Tage noch nicht ins Archiv gewandert zu sein.

»Ich habe ein Problem«, erklärte ich. »Gestern habe ich einen komischen Brief bekommen…«Ich zwinkerte. »Von einer Frau. Soweit ich es verstanden habe, wohnt sie auch hier. »

»Einen Drohbrief?«, hakte der Mann nach.

»Nein, nein«, beschwichtigte ich ihn. »Ganz im Gegenteil… Aber die geheimnisvolle Unbekannte möchte ihr Inkognito wahren. Ob ich wohl mal sehen könnte, wer hier vor drei Tagen einen Brief abgeschickt hat?«Der Security-Mann dachte nach.

Und dann verdarb ich alles. Indem ich das Geld auf den Tisch legte. Und lächelnd»Ich wäre Ihnen sehr dankbar…«sagte.

Sofort erstarrte der Mann. Dann musste er mit dem Fuß auf einen Knopf gedrückt haben.

Zehn Sekunden später kamen zwei seiner Kollegen herein -ausgesprochen höfliche Männer, was sich bei ihrer massiven Statur recht komisch ausnahm -, die mich aufforderten, sie zu ihrem Chef zu begleiten.

Es gibt eben doch einen Unterschied - einen gewaltigen sogar - zwischen Staatsbeamten und einem privaten Security-Service…

Ob sie mich auch mit Gewalt zu ihrem Chef bringen würden? Wäre interessant, das einmal herauszukriegen. Schließlich handelt es sich bei ihnen nicht um die Miliz. Am Ende zog ich es aber doch vor, die Situation nicht noch weiter eskalieren zu lassen, und schloss mich dem Zivilkonvoi an.

Der Chef der Security-Leute, ein älterer Mann, der ganz klar aus dem KGB oder der Miliz hervorgegangen war, schaute mich vorwurfsvoll an.

»Was haben Sie sich denn dabei gedacht, Herr Gorodezki…«, meinte er, während er den Ausweis, der mich berechtigte, das Gelände des Assol zu betreten, in den Fingern hin und her drehte. »Wir sind doch keine staatliche Institution…«

Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er nur zu gern meinen Assol-Ausweis zerrissen, einen seiner Männer gerufen und befohlen hätte, mich vom Gelände des elitären Wohnkomplexes zu jagen.

Zu gern hätte ich mich entschuldigt und ihm versichert, dass ich dergleichen nie wieder tun würde. Vor allem, weil es mir in der Tat peinlich war.

Nur war dies der Wunsch des Lichten Magiers Anton Gorodezki, aber nicht der des A. Gorodezki, Besitzer einer kleinen Firma, die mit Milchprodukten handelte. »Was ist denn eigentlich passiert?«, fragte ich. »Wenn Sie meine Bitte nicht erfüllen können, dann sagen Sie es doch einfach.«

»Und wozu das Geld?«, antwortete der Chef der Security-Leute mit einer Gegenfrage.

»Was für Geld?«, wunderte ich mich. »Ach… hat Ihr Mitarbeiter etwa geglaubt, ich biete ihm Geld an?«Der Security-Chef grinste.

»Ausgeschlossen!«, beteuerte ich. »Ich habe in meiner Tasche nach einem neuen Taschentuch gesucht. Meine Allergie macht mir heute zu schaffen. In meiner Tasche sammelt sich immer allerlei Kleinkram an, den ich erst rausholen musste… Dann konnte ich mir nicht mal mehr die Nase putzen.«Anscheinend war das übertrieben.

Der Chef hielt mir mit steinerner Miene meinen Assol-Aus-weis hin. »Vergessen wir den Zwischenfall«, schlug er ausgesprochen höflich vor. »Wie Sie verstehen, Herr Gorodezki, ist es Privatpersonen untersagt, die Aufzeichnungen unserer Überwachungskameras einzusehen.«

Ich spürte, dass dem Mann hauptsächlich der Ausdruck»allerlei Kleinkram«pikierte. Natürlich nagte hier niemand am Hungertuch. Aber sie schwammen auch nicht dermaßen im Geld, um hundert Dollar»Kleinkram«zu nennen.

»Verzeihen Sie einem alten Dummkopf«, bat ich seufzend und senkte den Kopf. »Ich habe wirklich… eine Belohnung anbieten wollen. Die ganze Woche bin ich zu Behörden gerannt, um meine Firma neu registrieren zu lassen… da muss das eine Art Reflex gewesen sein.«

Mit forschendem Blick sah mich der Chef der Security-Leute an. Schien ein wenig einzulenken.

»Meine Schuld«, bekannte ich. »Aber die Neugier hat mich einfach gepackt. Glauben Sie mir, ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, weil ich darüber nachgegrübelt habe…»

»Dass Sie nicht geschlafen haben, sehe ich«, versicherte der Mann mit einem Blick auf mich. Und dann hielt er es nicht mehr aus. Die Neugier im Menschen ist einfach nicht totzukriegen. »Was wollen Sie denn nun eigentlich wissen?«

»Meine Frau ist mit meiner kleinen Tochter auf der Datscha«, berichtete ich. »Ich bin verdonnert worden, mich hier um tausenderlei Dinge zu kümmern und aufzupassen, dass die Handwerker endlich fertig werden… Und dann bekomme ich plötzlich diesen Brief. Einen anonymen Brief. Geschrieben von einer Frau. Und in dem Brief… nun, wie soll ich Ihnen das erklären… ein Kilo Koketterie und ein halbes Kilo Versprechungen. Stellen Sie sich das doch mal vor: Eine schöne Unbekannte träumt davon, Sie kennen zu lernen, wagt es aber nicht, den ersten Schritt zu machen. Wenn ich die Augen offen halte und rausbekommen würde, von wem der Brief ist, dann bräuchte ich nur noch auf sie zuzugehen…«

In den Augen meines Gegenübers funkelte ein belustigtes Feuerchen auf. »Und Ihre Frau ist auf der Datscha?«, wollte er wissen.

»Ja«, nickte ich. »Sie dürfen nicht glauben… ich habe keine ernsthaften Absichten. Ich will nur wissen, wer die Unbekannte ist. »

»Haben Sie den Brief dabei?«, wollte der Security-Chef wissen.

»Den habe ich gleich weggeworfen«, gestand ich. »Nachher sieht meine Frau ihn noch… Und dann soll mal einer beweisen, dass da absolut nichts gewesen ist. »

»Wann ist er abgeschickt worden? »

»Vor drei Tagen. Von hier, von unserer Postfiliale aus.«Der Mann dachte nach.

»Der Kasten dort wird einmal am Tag geleert. Abends«, erklärte ich. »Ich glaube nicht, dass viele Leute die Post benutzen. Vielleicht fünf, sechs pro Tag… Wenn ich mir nur mal anschauen könnte…«Der Mann schüttelte den Kopf. Grinste.

»Ich verstehe ja, dass es nicht geht«, räumte ich traurig ein. »Aber vielleicht könnten Sie sich dann einmal alles ansehen? Vielleicht war da ja gar keine Frau. Möglicherweise erlaubt sich mein Nachbar einen Scherz mit mir. Er ist… ein sehr alberner Mensch.«

»Etwa der aus dem neunten Stock?«Der Security-Chef verzog das Gesicht.

Ich nickte. »Schauen Sie sich doch mal alles an… Sagen Sie mir einfach, ob da eine Frau war oder nicht…«

»Dieser Brief kompromittiert Sie doch, oder?«, wollte der Mann wissen.

»In gewisser Weise schon«, bestätigte ich. »Gegenüber meiner Frau.«

»Damit haben Sie einen triftigen Grund, die Aufzeichnung anzusehen«, beschloss der Security-Chef. »Vielen Dank!«, rief ich. »Vielen herzlichen Dank!«

»Sehen Sie, so einfach kann das gehen«, entgegnete der Mann, nachdem er nach einer Kunstpause auf einen Knopf an der Tastatur für seinen Computer gedrückt hatte. »Und Sie wedeln mit Geld… Damit sind Sie zu Sowjetzeiten durchgekommen… aber jetzt…«

Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, erhob mich und stellte mich hinter ihn. Der Mann hatte nichts dagegen. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt - anscheinend brachte er sich auf dem Gelände des Assol nicht gerade um vor Arbeit.

Auf dem Bildschirm erschien das Bild der Postfiliale. Zunächst aus einer Ecke, sodass hervorragend zu erkennen war, was die Angestellten gerade taten. Dann aus einer andern, mit Blick auf den Eingang und den Briefkasten.

»Montag. Acht Uhr«, verkündete der Security-Chef feierlich. »Wie jetzt weiter? Wollen Sie zwölf Stunden auf den Bildschirm starren?«

»Ach ja…«Ich spielte den Enttäuschen. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Dann drücken wir doch mal auf diesen Knopf… nein, auf diesen hier… Und was sehen wir dann?«Das Bild wackelte leicht.

»Was denn?«, fragte ich, als hätte ich für unser Büro nicht ein analoges System durchgesetzt.

»Der Bewegungssucher!«, rief der Security-Chef triumphierend aus.

Zum ersten Mal tat sich etwas um halb zehn. Ein orientalisch aussehender Arbeiter betrat die Post. Und gab einen ganzen Stapel Briefe auf.

»Das ist wohl nicht Ihre Unbekannte?«, stichelte der Security-Mensch. »Er gehört zu den Bauarbeitern im zweiten Block«, erklärte er mir dann. »Die schicken dauernd Briefe nach Taschkent…«Ich nickte.

Der zweite Besucher kam um Viertel nach eins. Ein mir unbekannter Mann, der höchst solide wirkte. Ihm folgte ein Bodyguard.

Der Mann steckte keinen Brief ein. Überhaupt verstand ich nicht, was er auf der Post wollte: vielleicht die jungen Frauen beglotzen oder das Territorium des Assol erkunden. Beim Dritten handelte es sich um Lass!

»Ach nee!«, rief der Security-Mann. »Ist das nicht Ihr Spaßvogel von Nachbar? Der nachts seine Liedchen schmettert?«Was bin ich bloß für ein miserabler Ermittler…»Ja!«, flüsterte ich. »Sollte er wirklich…»

»Gut, sehen wir mal weiter«, erbarmte sich mein Gegenüber.

Danach, nach einer zweistündigen Mittagspause, strömten etliche Leute herein.

Drei weitere Mieter steckten Briefe ein. Alles Männer, die sehr seriös wirkten.

Dann eine Frau. Von etwa siebzig Jahren. Kurz vor Feierabend. Eine dicke Alte in prachtvollem Kleid und mit riesigen, geschmacklosen Perlen. Dünnes silbergraues dauergewelltes Haar.

»Die doch wohl nicht?«, feixte der Mann. Er stand auf und klopfte mir auf die Schulter. »Und? Ob es noch etwas bringt, weiter nach der geheimnisvollen Flirterin zu suchen?«

»Ist schon alles klar«, entgegnete ich. »Da hat sich jemand einen Spaß erlaubt!«

»Halb so wild, ein Späßchen hat noch niemandem geschadet«, philosophierte der Mann. »Aber eine Bitte habe ich noch an Sie… Sehen Sie doch zukünftig bitte von zweideutigen Gesten ab. Legen Sie kein Geld auf den Tisch, wenn Sie nicht vorhaben, jemanden zu bestechen.«Ich ließ den Kopf hängen.

»Wir selbst sind es, die die Menschen verderben«, meinte der Security-Mann bitter. »Verstehen Sie das? Wir selbst! Wir bieten einmal Geld an, zweimal… und beim dritten Mal verlangt man es von uns. Dann geht das Lamento los; Was bloß aus den Menschen geworden ist… Sie sind doch ein guter Mensch! Ein Licht in der Dunkelheit!«Erstaunt blickte ich den Mann an.

»Doch, doch, ein guter Mensch«, versicherte der Mann. »Dafür habe ich ein Gespür. In zwanzig Jahren bei der Kripo habe ich manches gesehen… Machen Sie das einfach nicht wieder, ja? Säen Sie um sich herum nicht das Böse aus.«

Es war lange her, dass ich mich das letzte Mal so geschämt hatte.

Einen Lichten Magier darauf hinzuweisen, nichts Böses anzurichten!

»Ich werde mir Mühe geben«, versprach ich. Schuldbewusst schaute ich dem Security-Mann in die Augen. »Vielen Dank für Ihre Hilfe…«

Der Mann antwortete mit keinem Wort. Seine Augen wurden glasig, rein und leer wie bei einem Baby. Der Mund stand ihm leicht offen. Die Finger hielten die Armlehnen des Sessels gepackt, die Knöchel traten weiß hervor. Der Gefrierzauber. Nicht schwer, absolut üblich.

Hinter mir stand jemand. Am Fenster. Ich sah ihn nicht, spürte ihn nur mit dem Rücken…

So schnell ich konnte, sprang ich zur Seite. Dennoch bekam ich den eisigen Atem der Kraft mit, die auf mich gerichtet war. Nein, das war kein Gefrierzauber. Aber etwas Vergleichbares aus dem Repertoire der Vampire. Einer ihrer kleinen Späße.

Die Kraft glitt über mich hinweg. Und entlud sich in dem unglückseligen Security-Mann. Der von Geser gefertigte Schild tarnte mich nicht nur, sondern schützte mich auch!

Ich prallte mit der Schulter gegen die Wand. Gleichzeitig riss ich die Arme nach vorn, hielt aber in letzter Sekunde inne und schlug nicht zu. Blinzelte. Und zog den Schatten meiner Lider vor meine Augen.

Am Fenster stand ein Vampir mit vor Anspannung gebleckten Zähnen. Ein hochgewachsener, mit den Gesichtszügen eines vornehmen Europäers. Ein Hoher Vampir, da gab's keinen Zweifel. Nicht so ein frühreifer wie Kostja. Mindestens dreihundert Jahre alt war er. Und seine Kraft hätte meine ganz bestimmt überstiegen.

Aber nicht Gesers! Dass ich ein Anderer war, konnte der Vampir nicht erkennen. Jetzt brachen all die unterdrückten Instinkte eines Untoten, die Hohe Vampire normalerweise im Zaum halten, aus ihm heraus. Keine Ahnung, was er in mir sah: einen besonderen Menschen, dessen Reaktionsvermögen sich mit dem eines Vampirs messen kann, ein mythisches»Halbblut«, das Kind einer Menschenfrau und eines Vampirmannes, einen nicht weniger phantastischen»Hexer«, der Jagd auf niedere Andere machte. Auf alle Fälle würde der Vampir keine Sekunde zögern, die Zügel schießen zu lassen und alles um sich herum kurz und klein zu schlagen. Sein Gesicht zerfloss - wie Knete, die über die Stirn eines Tierkopfs modelliert ist. Aus dem Oberkiefer ragten nun Eckzähne hervor, an den Fingern wuchsen ihm rasiermesserscharfe Krallen. Ein rasender Vampir ist etwas Schreckliches. Schlimmer ist nur noch ein abgeklärter Vampir.

Vor einem Duell mit unklarem Ausgang bewahrten mich meine Reflexe. Ich hielt mich zurück und schlug nicht zu, sondern schrie die traditionelle Formel bei einer Verhaftung heraus: »Nachtwache! Treten Sie aus dem Zwielicht!«

»Stopp!«, erklang in diesem Moment eine Stimme von der Tür her. »Das ist einer von uns!«

Erstaunlich, wie schnell sich der Vampir wieder im Griff hatte. Krallen und Eckzähne schrumpften ein, sein Gesicht schwabbelte, als sei es Sülze, während er nach und nach wieder den gefassten, vornehmen Ausdruck eines durch und durch erfolgreichen Europäers annahm. Und an diesen Europäer erinnerte ich mich noch gut: von der ruhmreichen Stadt Prag her, wo es das weltweit beste Bier und die weltweit schönste Gotik der Welt gibt. »Viteszlav?«, rief ich. »Was erlauben Sie sich denn?«

An der Tür stand natürlich Edgar. Der Dunkle Magier, der nach nur kurzer Arbeit in der Moskauer Tagwache zur Inquisition gewechselt war.

»Anton, das tut mir leid!«Der gelassene Balte wirkte in der Tat verunsichert. »Uns ist da ein kleiner Fehler unterlaufen. Das kann im Eifer des Gefechts schon mal vorkommen…«

Viteszlav war nun die Freundlichkeit in Person. »Nehmen Sie unsere Entschuldigungen an, Wächter. Wir haben Sie einfach nicht erkannt…«Sein Blick huschte rasch über mich hinweg, in seiner Stimme schwang Anerkennung mit. »Was für eine Tarnung… Meinen Glückwunsch, Wächter. Wenn das Ihre Arbeit ist, kann ich nur ehrfürchtig das Haupt neigen.«

Auf wen mein Schutzschild zurückging, erklärte ich nicht. Nur selten gelingt es einem Lichten Magier (und einem Dunklen übrigens auch, da braucht man kein Geheimnis draus zu machen), einen Inquisitor so befriedigend runterzuputzen.

»Was haben Sie dem Mann angetan?«, brüllte ich. »Er steht unter meinem Schutz!«

»Wie mein Kollege schon gesagt hat, dergleichen kann bei der Arbeit vorkommen«, erwiderte Viteszlav schulterzuckend. »Uns interessieren die Aufzeichnungen dieser Videokameras.«

Edgar schob den Sessel mit dem eingefrorenen Security-Mann kurzerhand zur Seite und kam auf mich zu. Lächelnd. »Es ist alles in Ordnung, Gorodezki. Wir bearbeiten doch denselben Fall, oder?«

»Habt ihr eine Genehmigung für… diese Art des Vorgehens?«, fragte ich.

»Wir haben jede Menge Genehmigungen«, presste Viteszlav kalt hervor. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele.«

Vorbei. Er hatte seine Fassung zurückgewonnen. Und wollte es jetzt auf einen Streit ankommen lassen. Kein Wunder -schließlich hätte er sich beinahe seinen Instinkten überlassen, hätte seine Selbstbeherrschung verloren - für einen Hohen Vampir ein unverzeihbarer Fehler. »Wollen Sie sich davon überzeugen, Wächter?«In Viteszlavs Stimme schwang echte, ruhige Wut mit.

Natürlich darf sich ein Inquisitor anschreien lassen. Doch auch ich konnte jetzt nicht mehr zurück!

Es war Edgar, der die Situation rettete. Er hob die Hände und deklamierte theatralisch: »Das ist alles meine Schuld! Ich hätte Herrn Gorodezki erkennen müssen! Viteszlav, das ist mein persönliches Versäumnis! Verzeihen Sie!«

Ich streckte dem Vampir als Erster die Hand hin. »Richtig, wir bearbeiten denselben Fall. Ich habe einfach nicht erwartet, Sie hier zu sehen.«

Das stimmte. Viteszlav blickte kurz zur Seite. Dann ergriff er mit einem ausgesprochen freundlichen Lächeln meine Hand. Die Hand des Vampirs war warm… Ich wusste, was das hieß.

»Der Kollege Viteszlav ist gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen«, erklärte Edgar.

»Und hat es noch nicht geschafft, eine temporäre Registrierung vornehmen zu lassen?«, hakte ich nach.

Wie mächtig Viteszlav auch sein, welchen Posten er auch innerhalb der Inquisition bekleiden mochte, er blieb doch ein Vampir. Und musste die erniedrigende Prozedur der Registrierung über sich ergehen lassen.

Doch ich ritt nicht weiter auf der Sache herum. Im Gegenteil. »Wir können die notwendigen Formalitäten gleich hier hinter uns bringen«, schlug ich vor. »Ich habe das Recht dazu.«

»Vielen Dank«, meinte der Vampir nickend. »Aber ich schaue nachher in Ihrem Büro vorbei. Ordnung muss sein.«Der brüchige Friede war wiederhergestellt.

»Ich habe mir die Aufzeichnungen schon angesehen«, informierte ich sie. »Vor drei Tagen haben vier Männer und eine Frau Briefe abgeschickt. Und ein Bauarbeiter hat einen ganzen Stapel Briefe aufgegeben. Hier sind Leute aus Usbekistan beschäftigt.«

»Ein gutes Zeichen für Ihr Land«, meinte Viteszlav ausgesprochen höflich. »Wenn als Arbeitskräfte Menschen aus den Nachbarstaaten angeworben werden, deutet das auf wirtschaftlichen Aufschwung hin.«

Ich hätte ihm erklären können, was ich diesbezüglich dachte, ließ es aber bleiben. »Wollen Sie sich die Aufzeichnungen ansehen?«, fragte ich.

»Wenn es möglich ist, ja«, bekundete der Vampir sein Interesse.

Edgar stand bescheiden abseits. Ich brachte das Bild der Postfiliale auf den Bildschirm. Schaltete den»Bewegungssucher«ein, und wir schauten uns noch einmal die Liebhaber des epistolarischen Genres an.

»Den kenn ich.«Ich wies mit dem Finger auf Lass. »Ich kriege heute noch raus, was genau er abgeschickt hat. »

»Haben Sie ihn in Verdacht?«, hakte Viteszlav nach.

»Nein.«Ich schüttelte den Kopf.

Der Vampir ließ die Aufzeichnung noch einmal durchlaufen. Diesmal wurde der arme eingefrorene Security-Mensch ebenfalls vor den Computer gesetzt. »Wer ist das?«, fragte Viteszlav.

»Ein Mieter«, antwortete der Mann, der teilnahmslos auf den Bildschirm sah. »Erster Block, fünfzehnter Stock…«

Er hatte ein gutes Gedächtnis. Kannte die Namen aller Verdächtigen, nur bei dem Arbeiter mit dem Stapel Briefen musste er passen. Außer Lass, dem Mieter aus dem fünfzehnten Stock und der Alten aus dem zehnten hatten noch zwei Manager Briefe aus dem Assol abgeschickt.

»Wir nehmen uns die Männer vor«, entschied Viteszlav. »Fürs Erste. Überprüfen Sie die Alte, Gorodezki. In Ordnung?«

Ich zuckte die Achseln. Zusammenarbeit war ja schön und gut, aber herumkommandieren würde ich mich nicht lassen. Schon gar nicht von einem Dunklen. Einem Vampir.

»Für Sie ist das einfacher«, erklärte Viteszlav. »Ich… ich habe Probleme, mich mit alten Menschen zu unterhalten.«

Das Geständnis war offen und überraschend. Ich murmelte etwas, bestand aber nicht auf weiteren Erklärungen.

»Ich spüre bei ihnen das, was mir fehlt«, fuhr der Vampir trotzdem fort. »Die Sterblichkeit. »

»Sind Sie neidisch?«, platzte es aus mir heraus.

»Mir graut vor ihnen.«Viteszlav beugte sich zu dem Security-Mann hinunter. »Wir gehen jetzt«, informierte er ihn. »Du wirst noch fünf Minuten schlafen und süße Träume haben. Wenn du aufwachst, hast du unseren Besuch vergessen. Du wirst dich nur an Anton erinnern… den du in dein Herz schließen wirst. Wann immer Anton etwas von dir will, wirst du ihm behilflich sein. »

»Das geht doch…«, protestierte ich schwach.

»Wir arbeiten am selben Fall«, erinnerte mich der Vampir. »Ich weiß, wie schwer es ist, verdeckt zu arbeiten. Leben Sie wohl.«

Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Edgar lächelte schuldbewusst. Und ging zur Tür hinaus.

Ohne darauf zu warten, dass der Security-Mann aufwachte, verließ auch ich sein Büro.

Vier

Das Schicksal, das nach Überzeugung unserer Magier nicht existierte, war mir wohlgesonnen.

Im Foyer des Assol (dieser Raum sollte nicht Treppenhaus genannt werden!) erblickte ich die Alte, mit der ein Gespräch anzufangen der Vampir sich fürchtete. Sie stand am Fahrstuhl und schaute nachdenklich auf die Knöpfe.

Ich betrachtete sie durchs Zwielicht - und konnte mich davon überzeugen, dass die Alte total verzweifelt war. Fast schon panisch. Die professionellen Security-Leute würden ihr nicht zu Hilfe eilen, denn äußerlich wirkte die Alte absolut gelassen.

Entschlossen trat ich an die ältere Dame heran. In der Tat: eine»ältere Dame«. Das bescheidene, gute russische Wort»Alte«traf es überhaupt nicht.

»Entschuldigen Sie, aber kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«, fragte ich.

Die ältere Dame schielte zu mir hinüber. Ohne den üblichen Argwohn alter Menschen, eher beschämt.

»Ich habe vergessen, wo ich wohne«, gestand sie. »Wissen Sie es zufällig?«

»Im zehnten Stock«, antwortete ich. »Darf ich Sie vielleicht hinbringen?«Die silbergrauen Locken, zwischen denen zarte rosafarbene

Haut hindurchschimmerte, gerieten kaum merklich in Bewegung.

»Achtzig Jahre«, erklärte die Alte. »Das weiß ich noch… Wenn es mir auch schwer fällt. Aber das habe ich nicht vergessen.«

Ich hakte mich bei der Dame ein und führte sie zum Aufzug. Einer der Security-Männer kam auf uns zu, doch meine Begleiterin älteren Semesters schüttelte den Kopf. »Der Herr bringt mich…«

Der Herr brachte sie. Ihre Tür erkannte die alte Dame wieder, sie beschleunigte sogar fröhlich den Schritt. Die Wohnung war nicht abgeschlossen und aufs Prachtvollste modernisiert und eingerichtet. Durch die Diele tigerte eine energische junge Frau um die zwanzig. »Und unten habe ich auch schon alles abgesucht!«, jammerte sie ins Handy. »Sie ist schon wieder entwischt…«

Unser Erscheinen begeisterte die Frau. Nur fürchtete ich, dass sowohl das freundliche Lächeln wie auch die rührende Sorge in erster Linie für mich bestimmt waren.

Sieh her, junge sympathische Frauen wie wir arbeiten in solchen Häusern nicht um des Geldes willen als Angestellte.

»Maschenka, bring uns einen Tee«, unterbrach die Alte ihr Gegacker. Vermutlich hegte auch sie keine Illusionen. »Ins große Zimmer.«

Die junge Frau stürmte beflissen in die Küche, nicht ohne mir vorher noch einmal zuzulächeln. »Es wird immer schlimmer mit ihr…«, flüsterte sie mir ins Ohr, wobei sie voller Bedacht ihren drallen Busen gegen mich presste. »Ich bin Tamara.«

Ich selbst wollte mich nicht vorstellen, warum auch immer. Stattdessen folgte ich der Alten einfach ins»große Zimmer«. In ein sehr großes Zimmer. Mit alten Möbeln aus der Stalinzeit und unübersehbar das Werk eines teuren Innenarchitekten. An den Wänden hingen Schwarzweißfotografien, die ich auf den ersten Blick ebenfalls für Details der Einrichtung hielt. Dann begriff ich jedoch, dass es sich bei der jungen, betörenden Schönheit mit den weißen Zähnen und der Pilotenmütze um keine Geringere als meine Dame handelte.

»Ich habe Bomben auf die Fritzen geworfen«, erklärte die Dame bescheiden, während sie an dem runden Tisch Platz nahm, auf dem eine bordeauxfarbene Samtdecke mit Fransen lag. »Kalinin selbst hat mir einen Orden überreicht…«

Völlig perplex setzte ich mich der einstigen Fliegerin gegenüber.

Frauen wie sie beschließen ihr Leben im besten Fall auf einer Staatsdatscha oder in einem dieser riesigen baufälligen Stalinbauten. Aber auf gar keinen Fall in einem elitären Wohnkomplex! Sie hat Bomben auf die Faschisten abgeworfen, nicht die Goldvorräte aus dem Reichstag geklaut!

»Mein Enkel hat mir die Wohnung gekauft«, erklärte die Alte, als habe sie meine Gedanken gelesen. »Eine große Wohnung. Aber ich kann mir einfach nichts merken… Ist mir zwar alles irgendwie nicht fremd, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern…«

Ich nickte. Ein guter Enkel, ohne Frage. Natürlich besorgt er der ordengeschmückten Oma eine teure Wohnung - die er später erben würde. Ein vernünftiger Zug. Und auf alle Fälle eine sehr gutmütige Geste. Nur das Hausmädchen hätte er sorgfältiger aussuchen sollen. Keine zwanzigjährige Frau, die sich um den Kapitalwert ihres jungen Gesichtchens und ihre gute Figur sorgte, sondern eine ältere, gestandene Krankenschwester…

Die Alte blickte nachdenklich zum Fenster hinaus. »Besser hätte ich es in diesen andern Häusern, diesen kleinen…«, meinte sie. »Das würde besser zu mir passen…«

Ich hörte jedoch nicht zu. Sondern blickte auf den Tisch, der mit zerknitterten Briefen mit dem Stempel»Unbekannt verzogen«übersät war. Kein Wunder: Bei den Adressaten handelte es sich sowohl um den Allunionsvorsteher Kalinin wie auch um den Generalissimus Jossif Stalin, den Genossen Chruschtschow und sogar den»lieben Leonid Iljitsch Breschnew«.

Die letzten Staatsoberhäupter hatte das Gedächtnis der Alten offenbar nicht mehr behalten können.

Man brauchte nicht die Fähigkeiten eines Anderen, um zu schlussfolgern, was für einen Brief die Alte vor drei Tagen abgeschickt hatte.

»Ich kann die Hände nicht in den Schoß legen«, jammerte die Alte, als sie meinen Blick auffing. »Ich bitte alle, mich in eine Schule zu schicken, eine Fliegerschule… Um der Jugend zu erzählen, wie wir damals gelebt haben…«

Trotzdem sah ich sie mir noch einmal durchs Zwielicht an. Und hätte beinah aufgeschrien.

Die alte Pilotin war eine potenzielle Andere. Freilich, ihre Kraft war nicht besonders groß, aber nicht zu übersehen!

Nur, sie in diesem Alter zu initiieren, das konnte ich mir nicht vorstellen. Mit sechzig Jahren, mit siebzig - aber mit achtzig?

Die Belastung würde sie umbringen. Sie würde als körperloser, wahnsinniger Schatten ins Zwielicht eingehen…

Alle kannst du nicht aufspüren. Selbst in Moskau nicht, wo es so viele Wächter gibt. Mitunter erkennen wir unsere Brüder und Schwestern zu spät!

Tamara trat ein, mit einem Tablett, auf dem Schälchen mit Gebäck und Pralinen, eine Teekanne und wunderschöne alte Tassen standen. Lautlos stellte sie die Schalen auf den Tisch.

Die Alte döste bereits, obwohl sie nach wie vor gerade und sicher auf dem Stuhl saß.

Leise stand ich auf. »Ich gehe dann«, meinte ich mit einem Nicken zu Tamara. »Passen Sie ein bisschen besser auf sie auf, sie vergisst schon mal, wo sie wohnt.«

»Ich lasse sie nicht aus den Augen!«, entgegnete Tamara, wobei sie mit den Wimpern klimperte. »Wie können Sie so was nur denken…«

Ich überprüfte auch sie. Keine Anlagen zur Anderen. Eine normale junge Frau. Auf ihre Art sogar gut.

»Schreibt sie viele Briefe?«, fragte ich sie und deutete ein Lächeln an.

Mein Lächeln fasste Tamara als Einladung auf, ebenfalls zu lächeln. »Die ganze Zeit! An Stalin, Breschnew… Komischer Humor, nicht wahr?«Kein Widerspruch meinerseits.

Von allen Cafes und Restaurants, mit denen das Assol gespickt war, hatte nur das Cafe im Supermarkt auf. Eine sehr sympathische Lokalität, die eine Ebene über den Kassen lag. Mit einem einzigartigen Blick auf den gesamten Supermarkt. Vermutlich machte es Spaß, dort einen Kaffee zu trinken, bevor man durch die Warenregale schlenderte, und sich die Route fürs Shopping zurechtlegte. Was für ein grauenvolles Wort, ein schrecklicher Anglizismus, der über das Russische hergefallen ist wie eine Zecke über wehrlose Beute!

Dort aß ich zu Mittag und gab mir alle Mühe, mich von den Preisen nicht einschüchtern zu lassen. Danach bestellte ich mir einen doppelten Espresso, kaufte mir ein Päckchen Zigaretten - ich rauche nicht oft - und versuchte, wie ein Detektiv zu denken. Wer hatte den Brief abgeschickt?

Ein abtrünniger Anderer oder ein Mensch, der Auftraggeber des Anderen?

Irgendwie schien das beiden nicht sonderlich viel zu bringen. Es war sogar völlig blödsinnig! Und die Version mit einem weiteren Menschen, der versuchte, eine Initiierung zu verhindern, schien mir reichlich melodramatisch.

Denke, Kopf, denke! Du hast es schon mit vertrackteren Problemen zu tun gehabt. Es gibt einen Anderen, der zum Verräter geworden ist. Er hat einen Auftraggeber. Jeweils ein Brief ist an die Wachen und die Inquisition geschickt worden. Also stammen diese Briefe vermutlich von einem Anderen. Einem starken, klugen Anderen, der viel weiß. Bleibt die Frage, wozu.

Vermutlich gab es darauf eine Antwort. Nämlich um diese Initiierung zu verhindern. Um uns den Auftraggeber auszuliefern und von der Pflicht entbunden zu sein, das gegebene Versprechen einzuhalten.

Folglich ging es nicht um Geld. Der Auftraggeber musste - wie auch immer! - Macht über den Anderen bekommen haben. Eine schreckliche, absolute Macht, die es ihm erlaubte, jede denkbare Forderung zu stellen. Zugeben, dass ein Mensch solche Gewalt über ihn erlangt hatte, konnte der Andere nicht. Weshalb er einen Rösselsprung wagte… Ha!

Ich zündete mir eine Zigarette an, nippte an meinem Kaffee. Wie ein Dandy lümmelte ich mich in dem weichen Sessel.

Allmählich kristallisierte sich ein Bild heraus. Wie kann ein Anderer zum Sklaven eines Menschen werden? Eines gewöhnlichen Menschen, mochte er noch so wohlhabend, einflussreich und klug sein…

Es gab nur eine Möglichkeit, und die gefiel mir überhaupt nicht. Unser geheimnisvoller Verräter musste sich in die gleiche Lage gebracht haben wie der goldene Fisch im Märchen. Er hatte dem Menschen sein Ehrenwort gegeben, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Auch der Fisch hatte nicht damit gerechnet, dass die meschuggene Alte - apropos Alte: Ich musste Geser mitteilen, das ich eine potenzielle Andere entdeckt hatte -, dass die meschuggene Alte Herrscherin über das Meer werden wollte. Und genau hier lag der Hund begraben.

Sowohl ein Vampir wie auch ein Tiermensch oder ein Dunkler Magier hätten auf das Versprechen gepfiffen.

Sie geben ihr Wort - und nehmen es wieder zurück. Fängt ein Mensch dann noch an, auf seinem Recht zu bestehen, gibt's einen Biss in den Hals.

Also musste ein Lichter Magier das unbedachte Versprechen gegeben haben! Konnte das sein? Ja.

Ohne weiteres. Wir alle sind leicht naiv, da hatte Kostja Recht. Man kriegt uns bei unseren menschlichen Schwächen, bei un-serm Schuldgefühl, bei allerlei romantischem Kram…

Also mussten wir den Verräter in unsern Reihen suchen. Er hat sein Wort gegeben, wir wissen bloß noch nicht, warum. Er sitzt in der Falle. Wenn ein Lichter Magier sein Versprechen nicht hält, muss er sich dematerialisieren…

Stopp! Auch das war nicht uninteressant. Ich kann einem Menschen versprechen, »alles Mögliche«für ihn zu tun. Doch wenn er mich um etwas Unmögliches bittet - keine Ahnung, worum genau, nichts, was schwierig, eklig oder verboten ist, sondern in der Tat um etwas, das sich nicht erfüllen lässt, zum Beispiel die Sonne auszulöschen oder einen Menschen in einen Anderen zu verwandeln -, was würde ich dann antworten? Dass das nicht geht. Unter gar keinen Umständen. Und es stimmt ja, weshalb ich mich auch nicht zu dematerialisieren bräuchte. Mein Herr, mein Mensch müsste sich damit abfinden. Müsste etwas Neues verlangen: Geld, Gesundheit, eine umwerfende sexuelle Anziehungskraft, Erfolg bei Börsenspekulationen und ein Gespür für Gefahr - kurzum, die üblichen menschlichen Freuden, die ein starker Anderer ihm problemlos garantieren kann.

Aber der Verräter gerät in Panik! Und zwar so heftig, dass er seinen»Herrn«gleich beiden Wachen und der Inquisition ausliefert. Er steht mit dem Rücken zur Wand, fürchtet, für immer ins Zwielicht einzugehen.

Das heißt, es musste tatsächlich eine Möglichkeit geben, einen Menschen in einen Anderen zu verwandeln!

Das heißt, das Unmögliche war möglich. Es gab einen Weg. Der nur wenigen offen stand, aber es gab ihn. Mir wurde unheimlich zumute.

Der Verräter musste einer von unsern ältesten und kundigsten Magiern sein. Nicht unbedingt ein Magier außerhalb jeder Kategorie, nicht unbedingt einer, der einen wichtigen Posten bekleidete. Aber einer, den das Leben Manches gelehrt hatte, einer, der die großen Geheimnisse kannte… Aus irgendeinem Grund fiel mir sofort Semjon ein.

Semjon, der mitunter Dinge weiß, deretwegen ihm, dem Lichten Magier, das Zeichen des Straffeuers an den Körper geheftet wird.

»Ich bin schon mehr als ein Jahrhundert alt…«Kann sein. Er weiß sehr viel. Wer noch?

Es gibt eine ganze Reihe alter, erfahrener Magier, die nicht in der Wache arbeiten. Sie leben in Moskau, sehen fern, trinken Bier, gehen zum Fußball…

Ich kannte sie nicht, das ist mein Problem. Diese weisen Magier, die sich aus unsern Angelegenheiten heraushalten, wollen nicht in den endlosen Krieg der Wachen verwickelt werden.

Wen sollte ich jetzt um Rat fragen? Wem konnte ich meine fürchterlichen Ahnungen darlegen? Geser? Olga? Letzten Endes zählten auch sie zum Kreis der potenziell Verdächtigen.

Selbst wenn ich nicht an ihre Leichtfertigkeit glauben konnte. Nach allem, was Olga durchgemacht hatte - über den durchtriebenen Geser brauchte man in diesem Zusammenhang kein Wort zu verlieren -, würde ihr ein solcher Lapsus nicht unterlaufen. Beide würden einem Menschen keine unerfüllbaren Versprechungen machen. Was auch für Semjon zutraf! Ich konnte nicht glauben, dass der weise, im ursprünglichen, allgemein gebräuchlichen Sinne weise Semjon in eine solche Falle laufen würde…

Also musste ein andrer unserer Meister den Fehler begangen haben.

Wie stünde ich da, wenn ich eine solche Beschuldigung vorbrächte? »Also, meines Erachtens ist einer von uns der Schuldige. Ein Lichter. Vermutlich Semjon. Oder Olga. Oder Sie selbst, Geser…«

Wie sollte ich danach noch zur Arbeit gehen? Wie meinen Kollegen ins Gesicht schauen?

Nein, einen solchen Verdacht konnte ich nicht aussprechen. Ich brauchte Gewissheit.

Irgendwie schien es nicht angemessen, die Kellnerin zu rufen. Daher ging ich zum Tresen und bat, mir noch einen Kaffee zu machen. Auf das Geländer gestützt, starrte ich nach unten.

Und entdeckte dort meinen nächtlichen Bekannten. Der Gitarrist und Sammler von albernen T-Shirts, der glückliche Besitzer eines großen englischen Klosetts, stand neben einem offenen Becken, in dem lebende Hummer krabbelten. Auf dem Gesicht von Lass spiegelte sich angestrengte Denkarbeit wider. Dann grinste er und schob seinen Wagen zur Kasse. Ich merkte auf.

Lass legte gemächlich seine bescheidenen Einkäufe aufs Fließband, unter denen eine Flasche tschechischer Absinth herausragte. »Wissen Sie«, meinte er beim Bezahlen, »da bei Ihrem Hummerbecken…«

Die Kassiererin lächelte und brachte mit ihrer ganzen Miene zum Ausdruck, dass es in der Tat ein solches Becken gebe, dass in ihm Hummer schwämmen und ein Paar dieser Gliederfüßer ganz ausgezeichnet zu Absinth, Kefir und Tiefkühlpelmenis passe.

»Also da«, fuhr Lass ungerührt fort, »habe ich gerade gesehen, wie ein Hummer auf den Rücken eines andern geklettert ist, dann den Beckenrand erklommen hat und unter den Tiefkühltruhen verschwunden ist…«

Die Frau blinzelte ein paar Mal. Kurz darauf erschienen zwei Security-Leute und eine kräftige Putzfrau an der Kasse. Sobald sie die schreckliche Nachricht von der Flucht hörten, stürzten sie auf die Tiefkühltruhen zu. Lass sah sich noch einmal im Supermarkt um und bezahlte.

Die Jagd nach dem nicht existierenden Hummer erreichte ihren Höhepunkt. Die Putzfrau fuchtelte mit ihrem Schrubber unter den Truhen herum, die Security-Männer wuselten um sie herum. »Zu mir«, schnappte ich auf, »treib ihn zu mir! Gleich hab ich ihn.«

Mit einem Ausdruck stiller Freude im Gesicht wandte sich Lass dem Ausgang zu.

»Schlag nicht so toll zu, sonst verbeulst du den Panzer, dann können wir das Ding nicht mehr verkaufen«, warnte einer der Security-Leute.

Während ich versuchte, das einem Lichten Magier unwürdige Lächeln von meinen Lippen zu scheuchen, nahm ich von der Barfrau meinen Kaffee entgegen. Nein, so einer würde bestimmt nicht mit einer Schere Buchstaben aus einer Zeitung ausschneiden. Das war viel zu langweilig. Mein Handy klingelte. »Hallo, Sweta«, sagte ich. »Wie geht's dir, Anton?«Diesmal lag weniger Sorge in ihrer Stimme.

»Ich trinke gerade einen Kaffee. Mit den Kollegen habe ich bereits gesprochen. Mit denen von den Konkurrenzfirmen.«

»Aha«, erwiderte Swetlana. »Gut gemacht. Brauchst du meine Hilfe, Anton? »

»Du gehörst doch nicht… zum Personal«, meinte ich verdutzt.

»Ja und?!«, blaffte Swetlana prompt. »Ich mach mir um dich Sorgen, nicht um die Wache!«

»Bislang ist das nicht nötig«, beruhigte ich sie. »Was macht Nadjuschka?«

»Sie hilft Mama Borschtsch kochen«, amüsierte sich Swetlana. »Wird wohl noch ein Weilchen dauern mit dem Mittagessen. Soll ich sie rufen? »

»Hm«, meinte ich entspannt und setzte mich ans Fenster.

Nadja kam jedoch nicht, denn sie wollte nicht mit ihrem Papa telefonieren. Mit zwei Jahren kommt solche Direktheit vor.

Ein Weilchen unterhielt ich mich noch mit Swetlana. Eigentlich wollte ich sie fragen, ob sie noch immer ihre dummen Vorahnungen hatte, ließ es dann aber doch bleiben. Ihre Stimme sagte mir bereits, dass dem nicht so war.

Schließlich beendete ich das Gespräch, legte das Handy jedoch nicht beiseite. Im Büro rief ich besser nicht an. Aber wenn ich nun mit jemanden privat sprechen wollte?

Außerdem musste ich doch wohl in die Stadt fahren, jemanden treffen, mich um meine Handelsgeschäfte kümmern und neue Verträge abschließen? Ich wählte Semjons Nummer. Genug des Detektivspiels. Lichte lügen einander nicht an.

Für Treffen, die nicht ganz beruflich, aber auch nicht völlig privat sind, gibt es nichts besseres als kleine Kneipen mit maximal fünf, sechs Tischen. Kneipen fand man früher in Moskau gar nicht. Wenn schon öffentliche Verköstigung, dann in einem Raum, in dem man wunderbar große Partys geben konnte.

Jetzt haben wir auch Kneipen.

Eine solche völlig unauffällige Lokalität lag im Zentrum, in der Soljanka. Die Haustür führte direkt auf die Straße hinaus, drinnen gab es fünf Tische, eine kleine Bar - im Assol sind selbst die Bartresen in den Wohnungen beeindruckender.

Auch das Publikum wirkte absolut durchschnittlich. Kein Club für Verfechter bestimmter Interessen, wie Geser sie so gern sammelt: Hier treffen sich die Taucher, hier die Profidiebe.

Die Küche konnte schon gar keine Extravaganz für sich beanspruchen. Zwei Sorten Bier vom Fass, diverse Alkoholika, Würstchen aus der Mikrowelle und Pommes. Fastfood.

Ob Semjon deshalb vorgeschlagen hatte, dass wir uns hier treffen? Er passte nämlich hundertprozentig in diese Kneipe. Auch ich fiel übrigens nicht sonderlich aus dem Rahmen…

Nachdem Semjon den Schaum geräuschvoll an den Glasrand gepustet hatte - nur in alten Filmen hatte ich dergleichen schon gesehen -, trank er den ersten Schluck von seinem Klinsker Goldbräu und sah mich friedfertig an. »Erzähl mal.«

»Hast du schon von der Krise gehört?«, packte ich den Stier gleich bei den Hörnern. »Von welche genau?«, wollte Semjon wissen. »Von der Krise mit den anonymen Briefen.«

Semjon nickte. »Ich habe gerade die zeitweilige Registrierung für unsern Gast aus Prag vorgenommen«, erzählte er mir sogar.

»Weißt du, was ich glaube«, sagte ich, wobei ich das Bierglas auf dem sauberen Tischtuch drehte. »Der Absender ist ein Anderer.«

»Ohne Zweifel!«, erwiderte Semjon. »Trink ruhig dein Bier. Wenn du willst, mach ich dich nachher wieder nüchtern. »

»Da wirst du keinen Erfolg haben, ich bin versiegelt.«

Mit zusammengekniffenen Augen sah Semjon mich an. Und musste erkennen, dass es stimmte und dass es über seine Kräfte ging, die für jede Magie undurchdringliche Schale aufzubrechen, die von keinem Geringeren als Geser um mich gelegt worden war.

»Also«, fuhr ich fort. »Wenn der Absender ein Anderer ist, was will er dann damit erreichen?«

»Die Isolierung oder Eliminierung des Menschen, der sein Auftraggeber ist«, antwortete Semjon gelassen. »Offenbar hat er ihm das leichtfertige Versprechen gegeben, aus ihm einen Anderen zu machen. Und jetzt kriegt er Muffensausen.«

Meine gesamten heroischen geistigen Mühen hätte ich mir sparen können. Semjon, der nicht direkt mit dem Fall befasst war, kam mit seinem eigenen Verstand problemlos genauso weit.

»Es ist ein Lichter Anderer«, sagte ich. »Warum?«, wunderte sich Semjon.

»Ein Dunkler hätte jede Menge Möglichkeiten, ein Versprechen nicht einzuhalten.«

Semjon dachte nach, kaute auf einem Stück Pommes herum und meinte dann, dass dem wohl so sei. Aber hundertprozentig wollte er die Verwicklung eines Dunklen in die Sache nicht ausschließen. Denn auch Dunkle könnten unüberlegt etwas schwören, woran sie dann gebunden seien. Sie könnten zum Beispiel etwas beim Dunkel schwören, die Urkraft als Zeuge anrufen. Danach kämen sie nicht so ohne weiteres davon los.

»Stimmt«, pflichtete ich ihm bei. »Trotzdem sind die Chancen größer, dass einer von unsern Leuten Mist gebaut hat.«Semjon nickte. »Ich war's nicht«, sagte er dann. Ich wich seinem Blick aus.

»Mach dir keinen Kopf«, beruhigte mich Semjon mit gelassener Stimme. »Du hast alles richtig analysiert und richtig gemacht. Auch wir können Mist bauen. Auch ich kann unbedacht handeln. Danke, dass du mit mir reden wolltest und nicht zum Chef gerannt bist… Ich gebe dir mein Wort, Lichter Magier Anton Gorodezki, dass ich die dir bekannten Briefe nicht abgeschickt habe und ihren Absender nicht kenne. »

»Weißt du, da bin ich sehr froh«, gab ich ehrlich zu.

»Und ich erst«, grinste Semjon. »Ich sage dir eins: Der Andere, der diesen Fehler gemacht hat, ist ein echter Dreckskerl. Nicht nur, dass er die Wachen mit in die Sache zieht, nein, auch noch die Inquisition. Entweder hat er nur Stroh im Kopf, oder er hat alles bestens kalkuliert. Im ersten Fall ist er erledigt, im zweiten wird er seine Haut retten können. Ich wette zwei zu eins, dass er ungeschoren davonkommt.«

»Kann man einen normalen Menschen also doch in einen Anderen verwandeln, Semjon?«, fragte ich. Ehrlichkeit ist die beste Politik.

»Ich weiß es nicht.«Semjon schüttelte den Kopf. »Früher habe ich gedacht, es sei unmöglich. Doch die letzten Ereignisse legen nahe, dass es irgendein Schlupfloch geben muss. Ein sehr enges, sehr unbequemes. Aber es muss da sein. »

»Warum unbequem?«, griff ich dieses Wort auf.

»Ansonsten würden wir diesen Weg gehen. Was für ein Plus, wenn wir beispielsweise aus dem Präsidenten einen von uns machen könnten! Ach, nicht nur aus dem Präsidenten, sondern aus allen mehr oder weniger einflussreichen Leuten. Es müsste einen Anhang zum Vertrag geben, der die Initiierung regelt, es gäbe die gleichen Konflikte, aber auf neuem Niveau.«

»Und ich dachte, das sei absolut verboten«, gab ich zu. »Die Mächtigen haben sich doch getroffen und vereinbart, dass Gleichgewicht nicht zu zerstören… und sich gegenseitig mit einer ultimativen Waffe gedroht…»

»Womit?«Semjon erstarrte.

»Mit einer ultimativen Waffe. Erinnerst du dich noch, wie du mir von Wasserstoffbomben mit gewaltiger Sprengkraft erzählt hast? Eine für uns, eine für die Amis… Vermutlicht gibt es in der Magie doch etwas Ähnliches…«

»Was redest du denn da, Anton!«Semjon lachte. »Solche Bomben gibt es nicht, das ist reine Phantasie, hat sich jemand ausgedacht! Beschäftige dich mal mit Physik! In den Ozeanen gibt es zu wenig schweres Wasser, als dass es zu einer permanenten thermonuklearen Reaktion kommen könnte!«

»Weshalb hast du mir das dann erzählt?«, fragte ich fassungslos.

»Wir haben damals allerlei dummes Zeug zusammengeredet. Ich habe nicht geglaubt, dass du das für bare Münze nehmen würdest…«

»Hohlkopf«, murmelte ich, während ich an meinem Bier nippte. »Danach habe ich übrigens nächtelang schlecht geschlafen…«

»Es gibt keine ultimative Waffe, du kannst beruhigt schlafen«, grinste Semjon. »Keine echte, keine magische. Und selbst wenn wir davon ausgehen, dass es möglich ist, gewöhnliche Menschen zu initiieren, muss die Prozedur wohl ausgesprochen schwierig sein, widerwärtig und mit Nebeneffekten. Mit einem Wort, alle lassen die Finger davon. Sowohl wir als auch die Dunklen.«

»Weißt du was von einer solchen Prozedur?«, hakte ich noch mal nach.

»Nein.«Semjon dachte nach. »Nein, ganz bestimmt nicht. Sich den Menschen gegenüber zu erkennen geben, ihnen entsprechende Befehle zu erteilen oder, sagen wir es mal so, sie als Freiwillige zu rekrutieren - all das ist schon vorgekommen. Aber dass man einen Menschen, den man braucht, in einen Anderen verwandelt hat, das ist mir noch nie zu Ohren gekommen.«Schon wieder eine Sackgasse. Ich nickte. Blickte düster in mein Bierglas.

»Verbeiß dich nicht in die Sache«, riet Semjon mir. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist der Andere ein Idiot oder ein absolut ausgebuffter Kerl. Im ersten Fall finden ihn die Dunklen oder die Inquisitoren. Im zweiten findet ihn niemand, aber man wird dem Menschen auf die Spur kommen und ihn von seinem seltsamen Wunsch abbringen. Solche Fälle hat es bereits gegeben…«

»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte ich. »Ich beklag mich ja nicht, es ist schon interessant, an so einem komischen Ort zu leben. Vor allem auf Firmenkosten…«

»Dann genieß es«, riet Semjon gelassen. »Oder lässt dein Stolz das nicht zu? Möchtest du es allen zeigen und den Verräter finden? »

»Ich bringe Sachen nun mal gerne zu Ende«, gab ich zu.

Semjon lachte los. »Ich mach nun schon ein Jahrhundert lang nichts andres, als Sachen auf halber Strecke hinzuwerfen… Es hat da zum Beispiel mal einen hübschen kleinen Fall gegeben, wo das Vieh des reichen Bauern Besputnow im Gouvernement Kostroma vergiftet worden ist. Ein Fall, der es in sich hatte, Anton! Ein Rätsel! Eine verworrene Intrige! Eine magische Vergiftung, aber so raffiniert ausgeführt… das Gift war im Hanf! »

»Fressen Tiere denn Hanf?«Meine Neugier war geweckt.

»Wer würde ihnen denn welchen geben? Aus diesem Hanf hat der Bauer Besputnow seine Leinen gedreht. An diesen Schnüren hat er das Vieh geführt. Durch sie ist dann der Schaden angerichtet worden. Ein heimtückisches Gift, das langsam wirkte und absolut verheerend war. Und im Umkreis von hundert Werst gab es keinen einzigen registrierten Anderen! Ich habe mich dann in diesem Dorf eingenistet, um den Halunken zu suchen…«

»Habt ihr früher wirklich so ordentliche Arbeit geleistet?«, wunderte ich mich. »Wurde tatsächlich wegen Vieh, wegen irgendeines Bauern ein Wächter hinzugezogen?«

»Auch früher hat man mal so, mal so gearbeitet«, lächelte Semjon. »Der Sohn des Bauern war ein Anderer, er hat darum gebeten, dass wir uns um seinen Vater kümmern, der sich schon beinah aus dieser Schnur seinen Strick gedreht hätte… Also bin ich da hingefahren, ganz der einsame Wolf, habe einen Haushalt gegründet, hab sogar bei einer Witwe landen können. Nebenbei habe ich den Täter gesucht. Und verstanden, dass ich auf die Spur einer alten Hexe gestoßen bin, die sich sehr gut getarnt hatte, bei keiner Wache arbeitete und in keiner Liste geführt wurde. Kannst du dir vorstellen, was für eine Intrige sie angezettelt hat? Die Hexe war zwei-, dreihundert Jahre! Sie hatte so viel Kraft gesammelt, dass sie es mit einem Magier ersten Grades aufnehmen konnte! Wie ein Detektiv von Pinkerton habe ich… nach ihr gefahndet… Die Hohen Magier wollte ich nicht um Hilfe bitten, das war mir peinlich. Nach und nach habe ich dann einige Anhaltspunkte herausbekommen, den Kreis der Verdächtigen eingegrenzt. Zu ihnen gehörte übrigens auch jene Witwe, die mir so gewogen war…«

»Und weiter?«, fragte ich begeistert. Auch wenn Semjon gern aufschnitt, diese Geschichte schien zu stimmen.

»Nichts weiter«, seufzte Semjon. »In Petrograd ist es zum Aufstand gekommen. Die Revolution. Da konnte mir eine abgebrühte Hexe echt egal sein, das wirst du verstehen. Dort floss Menschenblut in Strömen. Ich wurde abbeordert. Ich wollte noch einmal zurück, habe aber nie die Zeit dazu gefunden. Dann ist das Dorf überflutet worden, alle wurden evakuiert. Vielleicht lebt die Hexe gar nicht mehr. »

»Schade«, sagte ich.

Semjon nickte. »Das ist meine Geschichte. Und von der Sorte habe ich noch Unmengen auf Lager. Also nimm's nicht so schwer und mach dich nicht verrückt!«

»Wenn du ein Dunkler wärst«, meinte ich, »wäre ich mir sicher, dass du den Verdacht nur von dir ablenken willst.«

Semjon grinste. »Ich bin kein Dunkler, Anton. Das weißt du genau.«

»Und du weißt nichts über die Initiierung von Menschen…«, seufzte ich. »Ich hatte so gehofft…«

Semjon wurde wieder ernst. »Anton, ich sage dir noch etwas. Die Frau, die ich mehr als alles auf der Welt geliebt habe, ist 1921 gestorben. An Altersschwäche.«

Ich sah ihn an - und wagte es nicht zu lächeln. Semjon machte keinen Spaß.

»Wenn ich gewusst hätte, wie ich aus ihr eine Andere machen kann…«, flüsterte Semjon, wobei er ins Nichts starrte. »Wenn ich es doch bloß gewusst hätte… Ich habe ihr meine Identität enthüllt. Habe alles für sie getan. Sie ist nie krank gewesen. Mit dreiundsiebzig sah sie mal gerade wie dreißig aus. Selbst in Petersburg während der Blockade hat es ihr an nichts gefehlt. Als die Rotarmisten ihren Schutzbrief gesehen haben, hat es ihnen die Sprache verschlagen. Ich hatte mir eine Vollmacht von Lenin besorgt… Aber mein Leben konnte ich ihr nicht geben. So etwas geht über unsere Kraft.«Er sah mir finster in die Augen. »Wenn ich gewusst hätte, wie ich Ljubow Petrowna hätte initiieren können…, hätte ich niemanden um Erlaubnis gebeten. Alles hätte ich auf mich genommen. Ich hätte mich dematerialisiert, wenn ich nur aus ihr eine Andere hätte machen können…«

Semjon stand auf. Seufzte. »Jetzt ist mir ehrlich gesagt alles egal. Ob es verboten ist, aus Menschen Andere zu machen, interessiert mich nicht im Geringsten. Und dich sollte es auch nicht um deinen Schlaf bringen. Deine Frau ist eine Andere. Deine Tochter ist eine Andere. Reicht dir dieses Glück nicht? Selbst Geser kann davon nur träumen.«

Er ging, während ich noch ein Weilchen am Tisch sitzen blieb und mein Bier austrank. Der Wirt - der auch Kellner, Koch und Barkeeper war - sah nicht einmal zu mir herüber. Als Semjon hinausgegangen war, hatte er vor den Tisch einen magischen Vorhang gezogen. Was bildete ich mir eigentlich ein?

Drei Inquisitoren waren hinter der Sache her. Der talentierte Vampir Kostja flatterte als Fledermaus ums Assol herum. Sie würden herausbekommen, wer ein Anderer werden möchte. Ganz bestimmt. Und den Absender würden sie finden - oder auch nicht.

Warum gab ich keine Ruhe?

Die Frau, die ich liebte, war eine Andere. Die außerdem freiwillig auf die Arbeit in der Wache, auf eine glänzende Karriere als Große Zauberin verzichtet hatte. All das wegen mir, diesem Idioten. Damit ich, der ich auf der zweiten Kraftstufe versauern würde, keine Komplexe bekam…

Und Nadjuschka war eine Andere! Nie würde ich den Horror eines Anderen durchmachen, dessen Kind heranwächst, altert und stirbt. Früher oder später würden wir Nadenka erzählen, was sie war. Dann würde sie eine Große werden wollen, ohne Zweifel. Und sie würde eine Große werden. Vielleicht würde sie diese unvollendete Welt sogar etwas besser machen.

Und ich spielte irgendwelche kindlichen Agentenspiele! Machte mir Sorgen, dass ich meinen Auftrag nicht erfüllte, statt mich abends mit meinem lustigen Nachbarn zu amüsieren oder - natürlich nur um meine Tarnung aufrechtzuerhalten - ins Casino zu gehen.

Ich stand auf, legte das Geld auf den Tisch und ging. In ein, zwei Stunden würde sich der Vorhang auflösen, der Wirt das Geld sowie die leeren Gläser sehen und sich daran erinnern, dass irgendwelche unscheinbaren Männer hier ihr Bier getrunken hatten.

Fünf

Den halben Tag verbrachte ich mit absolut nebensächlichen Dingen, die niemandem etwas nutzten. Vermutlich hätte der Vampir Kostja seinen weißlippigen Mund verzogen und mir einen Vortrag darüber gehalten, was er von meiner Naivität hielt…

Als Erstes fuhr ich ins Assol, zog mir Jeans und ein einfaches Hemd an, danach ging ich in den nächsten normalen Hof, der zu einem tristen achtstöckigen Plattenbau gehörte. Zu meiner uneingeschränkten Genugtuung entdeckte ich dort einen Fußballplatz, auf dem die Schule schwänzende ältere Jungen einem abgewetzten Ball hinterherjagten. Auch ein paar jüngere Männer waren dabei. Trotz allem machte sich die gerade zu Ende gegangene Fußballweltmeisterschaft, bei der sich unsre Mannschaft nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, positiv bemerkbar. In einige der noch erhaltenen Höfen kehrte der Hofgeist zurück, der völlig verloren gegangen schien.

Man nahm mich in eine Mannschaft auf. In die, in der nur ein erwachsener Mann spielte - der eine beeindruckende Wampe vor sich hertrug, aber dennoch ausgesprochen agil und draufgängerisch war. Ich selbst spiele nicht gut, aber hier hatten sich auch nicht gerade Weltmeister versammelt.

Etwa eine Stunde rannte ich über die staubige, fest gestampfte Erde, schrie, schoss auf das Tor aus durchlöchertem Maschendraht und traf sogar ein paar Mal. Einmal schaffte es ein baumlanger kräftiger Zehntklässler, mich geschickt auszutrippeln. Er lächelte mich großmütig an. Ich nahm's nicht krumm, ärgerte mich nicht.

Als das Spiel dem Ende zuging - irgendwie ganz von selbst -, steuerte ich das nächste Geschäft an, kaufte Mineralwasser und Bier sowie für die jüngsten Fußballer Limo der Marke Baikal. Natürlich hätten sie Coca-Cola bevorzugt, doch allmählich sollte man anfangen, ihnen das transatlantische Gift wieder…

Was mich enttäuschte: Mein großzügiges Verhalten - das entging mir nicht - beschwor die unterschiedlichsten Mutmaßungen herauf. Gute Taten muss man also in Maßen vollbringen.

Nachdem ich mich von den»eigenen«und den»gegnerischen«Spielern verabschiedet hatte, ging ich zum Ufer hinunter, wo ich begeistert ins dreckige, aber erfrischende Wasser stieg. Ganz in der Nähe erhob sich das Assol mit seinem pompösen Hof. Soll es doch…

Irgendwann ging mir etwas auf, das urkomisch war: Ein Dunkler Magier an meiner Stelle könnte genauso handeln. Nicht einer der ganz jungen, der sich noch auf alle zuvor unerreichbaren Vergnügen wie frische Austern und teure Prostituierte stürzt, sondern ein älterer Dunkler, der bereits hinter das Prinzip dieser Welt gekommen war: Vanitas vanitatum (et omnia vanitas) - alles ist nichtig.

Auch er wäre über den kleinen Bolzplatz gejagt, hätte geschrien, den Ball getreten und die ungeschickt fluchenden Jugendlichen angeschnauzt: »Halt deine Zunge im Zaum, du Knallkopf!«Dann wäre er an den Strand gegangen, hätte im trüben Wasser geplanscht, im Gras gelegen, in den Himmel geschaut…

Wo verläuft sie, die Grenze? Gut, bei den niederen Dunklen ist alles klar. Sie sind die Untoten. Sie müssen töten, um existieren zu können. Hier hilft auch kein sprachlicher Eiertanz. Sie sind das Böse.

Aber wo verläuft die eigentliche Grenze?

Und warum verschwindet sie mitunter? In Momenten, wenn es darum geht, dass ein einzelner Mensch ein Anderer werden will? Ein einziger! Wen setzt man da gleich an, um ihn zu suchen! Dunkle, Lichte, die Inquisition… Denn nicht nur ich befasse mich mit diesem Fall, ich bin schließlich nur ein vorgeschobener Bauer, der für Ordnung vor Ort sorgt. Nein, Geser runzelt die Stirn, Sebulon blickt finster drein, Viteszlav bleckt die Zähne. Ein Mensch möchte ein Anderer werden! Packt ihn, fasst ihn! Doch wer würde das schließlich nicht wollen?

Nicht den ewigen Hunger der Vampire, nicht die Anfälle von Wahnsinn der Tiermenschen, sondern ein befriedigendes Leben als Magier. Wo alles wie bei einem Menschen ist. Nur besser.

Du brauchst keine Angst mehr zu haben, dass aus deinem Auto die teure Musikanlage gestohlen wird, wenn du es auf einem unbewachten Parkplatz abgestellt hast.

Du kriegst nie wieder Grippe, und wenn du an einer unheilbaren Schweinerei erkrankst, stehen Dunkle Hexenmeister oder Lichte Heiler zu deinen Diensten.

Du brauchst dir nicht länger den Kopf darüber zu zerbrechen, wie du bis Ultimo überleben sollst.

Du hast nachts unterwegs keine Angst mehr und fürchtest dich nicht vor besoffenen Halbstarken. Selbst die Miliz lässt dich kalt.

Du brauchst dir keine Gedanken darüber zu machen, ob dein Kind sicher von der Schule nach Hause kommt und nicht im Hauseingang einem wahnsinnigen Psycho in die Arme läuft…

Andererseits liegt gerade hier der Hund begraben. Deine Familie ist in Sicherheit, sie werden sogar aus der Vampirlotterie herausgenommen. Dennoch rettest du sie nicht vor Alter und Tod.

Sicher, noch ist das alles weit weg. Ganz weit weg.

Und insgesamt ist es schon weitaus angenehmer, ein Anderer zu sein.

Außerdem würdest du nichts gewinnen, wenn du dich nicht initiieren lässt. Im Gegenteil, selbst Verwandte dürften dich dann als Idioten beschimpfen. Denn als Anderer könntest du dich für sie einsetzen. So wie Semjon es erzählt hat… Jemand vergiftet einem Bauern das Vieh, und der Sohn, ein Anderer, sorgt dafür, dass ein Anderer die Sache untersucht. Die Blutsbande machen sich eben doch bemerkbar. Sie sind dicker als Wasser…

Ich erschauerte, als hätte ich einen Stromschlag bekommen. Sprang auf und starrte zum Assol hinüber.

Aus welchem Grund gab ein Lichter einem Menschen das leichtsinnige Verspechen, für ihn alles nur denkbar Mögliche zu tun?

Aus einem einzigen! Das war sie, die Spur!

»Ist dir eine Idee gekommen, Anton?«, erklang in meinem Rücken eine Stimme.

Ich drehte mich und erblickte Kostja. Er hatte, wie am Strand nicht anders zu erwarten, lediglich eine Badehose an, trug allerdings noch eine Sonnenbrille sowie einen weißen Kinderhut, der ihm wie ein orientalisches Käppchen auf dem Kopf thronte (bestimmt hatte er ihn ohne Gewissensbisse einem Kind weggenommen). »Brennt die Sonne?«, fragte ich höhnisch.

Kostja verzog das Gesicht. »Total. Hängt da im Himmel wie ein Bügeleisen… Ist dir etwa nicht heiß? »

»Doch«, gab ich zu. »Aber das ist eine andre Hitze.«

»Wollen wir die Sticheleien nicht lassen?«, fragte Kostja. Er setzte sich in den Sand und warf angeekelt eine Kippe beiseite.

»Ich bade jetzt nur nachts. Aber ich bin gekommen… um mit dir zu reden.«

Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Vor mir saß ein missmutiger junger Mann, der obendrein ein Untoter war. Aber ich erinnerte mich noch an den verschlossenen Jugendlichen, der verlegen vor meiner Tür stand. »Sie dürfen mich nicht einladen. Ich bin doch ein Vampir, ich könnte sonst eines Nachts wiederkommen und Sie beißen…«

Relativ lange hatte dieser Junge sich beherrschen können. Hatte nur Schweine- und Spenderblut getrunken. Davon geträumt, ein Lebender zu werden. »Wie Pinocchio«, brachte er irgendwann als Vergleich an, nachdem er Collodi gelesen oder den Film A. I. - Künstliche Intelligenz gesehen hatte.

Wenn Geser mich nicht losgeschickt hätte, um Vampire zu jagen…

Nein, Quatsch. Die Natur hätte so oder so das Ihre verlangt. Und Kostja seine Lizenz bekommen.

Trotzdem durfte ich mich nicht über ihn lustig machen. Ich hatte einen ungeheuren Vorteil - ich war ein Lebender.

Ich konnte mich mit alten Menschen unterhalten, ohne mich zu schämen. Denn darum ging es: um Scham. Viteszlav hatte sich um die Wahrheit herumgedrückt. Weder Angst noch Ekel hielten ihn von den Alten fern. Sondern Scham.

»Tut mir leid, Kostja«, sagte ich und legte mich neben ihn in den Sand. »Lass uns reden.«

»Ich glaube, die ständigen Bewohner des Assol haben mit dem Fall nichts zu tun«, begann Kostja finster. »Der Auftraggeber ist unter denjenigen zu suchen, die sich nur ab und an dort aufhalten. »

»Wir müssen alle überprüfen…«, seufzte ich theatralisch.

»Und dann haben wir noch eine kleine Aufgabe. Wir müssen den Verräter finden.«

»Dann müssen wir ihn suchen.«

»Ich seh schon, wie du ihn suchst… Dir ist doch klar, dass es einer von euch ist?«

»Wie kommst du denn darauf!«, empörte ich mich. »Es kann durchaus sein, dass ein Dunkler Mist gebaut hat…«

Eine Zeit lang diskutierten wir über die Situation. Offenbar waren wir zur selben Zeit zum selben Schluss gekommen.

Nur dass ich Kostja jetzt einen halben Schritt voraus war. Und nicht die Absicht hatte, ihm zu helfen.

»Der Brief befand sich in dem Stapel, den der Bauarbeiter zur Post gebracht hat«, meinte Kostja, der nicht ahnte, wie ich ihn auflaufen ließ. »Nichts leichter als das. Alle diese Gastarbeiter sind in einer alten Schule untergebracht, die jetzt eine Art Wohnheim ist. Im Parterre werden auf dem Tisch des Wachtposten die Briefe gesammelt. Morgens geht dann jemand zur Post und gibt sie auf. Einem Anderen dürfte es keine Mühe bereiten, ins Wohnheim zu gehen, den Blick des Wachtposten abzulenken… oder einfach abzuwarten, bis der seinen Platz einmal verlässt, um zur Toilette zu gehen. Dann steckt er den Brief in den großen Stapel. Das war's! Ohne jede Spur. »

»Einfach und sicher«, stimmte ich zu.

»Und typisch für die Lichten«, meinte Kostja stirnrunzelnd. »Lasst andre für euch die Kastanien aus dem Feuer holen.«

Aus irgendeinem Grund nahm ich ihm das nicht krumm. Sondern grinste nur amüsiert und drehte mich auf den Rücken, um in den Himmel zu gucken, in die zärtliche gelbe Sonne.

»Gut, wir machen das ganz genauso…«, brummte Kostja. Ich schwieg.

»Was ist? Willst du mir etwa weismachen, ihr würdet niemals Menschen bei euren Operationen einsetzen?«, blaffte Kostja.

»Das kommt schon vor. Das haben wir schon getan. Aber wir verraten sie nicht.«

»Aber hier hat ein Anderer einen Menschen ja auch nur gebraucht und nicht verraten«, erklärte Kostja, sich selbst widersprechend und die»Kastanien«vergessend. »Also, ich glaube… Sollten wir diese Spur nicht weiterverfolgen? Bisher hat der Verräter alle Spuren sehr gut verwischt. Wir jagen einem Gespenst hinterher…«

»Angeblich haben vor ein paar Tagen zwei Security-Männer im Assol in den Büschen etwas Schreckliches beobachtet«, sagte ich. »Sie haben sogar angefangen zu schießen.«In Kostjas Augen loderte es auf. »Hast du das schon überprüft?«

»Nein«, sagte ich. »Ich arbeite undercover und habe dazu keine Möglichkeit.«

»Soll ich das vielleicht machen?«, fragte Kostja eifrig. »Ich sag auch, dass du das…»

»Mach das«, beschloss ich.

»Danke, Anton!«Kostjas Gesicht erstrahlte in einem Lächeln, und er stieß mir recht schmerzhaft mit der Faust gegen die Schulter. »Trotz allem bist du ein prima Kerl! Danke!«

»Mach es ordentlich«, konnte ich mir nicht verkneifen, »vielleicht bekommst du dann ja eine Extralizenz.«

Sofort verstummte Kostja. Sein Blick verfinsterte sich. Er starrte zum Fluss hinunter.

»Wie viele Menschen hast du umgebracht, um ein Hoher Vampir zu werden?«, wollte ich wissen. »Spielt das für dich eine Rolle? »

»Es… interessiert mich.«

»Geh halt irgendwann in eure Archive und guck nach«, meinte Kostja mit schiefem Lächeln. »Das dürfte doch nicht so schwer sein, oder?«

Natürlich war das nicht schwer. Trotzdem hatte ich nie einen Blick in Kostjas Dossier geworfen. Ich wollte das nicht wissen…

»Onkel Kostja, gib mir meinen Hut wieder!«, fiepte jemand in unserer Nähe mit fordernder Stimme.

Ich schielte zu einem kleinen, etwa vierjährigen Mädchen hinüber, das auf Kostja zugerannt kam. Also doch, hatte er tatsächlich ein Kind ausgeschaltet und ihm den Hut geklaut…

Gehorsam zog Kostja jetzt den Hut vom Kopf und gab ihn dem Mädchen.

»Kommst du heute Abend wieder zu uns?«, fragte das Mädchen, während es mich anguckte und die Lippen spitzte. »Erzählst du mir ein Märchen? »

»Hm«, nickte Kostja.

Das Mädchen strahlte und lief zu einer jungen Frau, die in der Nähe ihre Sachen zusammenpackte. Ließ nur noch aufgewirbelten Sand erkennen…

»Hast du völlig den Verstand verloren?!«, brüllte ich und schnellte hoch. »Ich sollte dich gleich hier an Ort und Stelle zu Asche verbrennen!«

Vermutlich machte ich ein fürchterliches Gesicht. »Was glaubst du denn?«, rief Kostja sofort. »Was glaubst du bloß, Anton? Das ist meine Nichte! Ihre Mutter ist meine Schwester! Sie wohnen in Strogino, ich wohne vorübergehend bei ihnen, damit ich nicht durch die ganze Stadt fahren muss!«Ich erstarrte.

»Hast du geglaubt, ich würde Blut aus ihr heraussaugen?«, fragte Kostja, der mich noch immer erschrocken anstarrte. »Dann geh hin und überzeug dich! Sie hat keine Bisswunden! Das ist meine kleine Nichte, verstehst du? Für sie würde ich alles tun.«

»Puh«, schnaubte ich. »Was hätte ich denn sonst denken sollen? »Kommst du heute Abend wieder zu uns?«, »Erzählst du mir ein Märchen?«…«

»Typisch für einen Lichten…«, kommentierte Kostja schon etwas gelassener. »Wo ich schon ein Vampir bin, verhalte ich mich gleich wie ein Schwein. So ist es doch, oder?«

Noch war unser brüchiger Waffenstillstand zwar nicht aufgehoben, hatte sich aber in den üblichen kalten Krieg verwandelt.

Kostja saß da und kochte vor Wut, ich saß da und ärgerte mich über mich selbst und über meine voreiligen Schlussfolgerungen. Für Kinder unter zwölf Jahren werden keine Lizenzen ausgegeben, und Kostja ist kein Idiot und würde nicht ohne Lizenz auf Jagd gehen… Immer würde uns etwas trennen.

»Du hast doch eine Tochter«, meinte Kostja plötzlich. »Hast doch auch so ein kleines Mädchen, oder? »

»Jünger«, erwiderte ich. »Und besser.«

»Na klar, wo sie deine Tochter ist, muss sie auch besser sein«, grinste Kostja. »In Ordnung, Gorodezki. Ich hab's verstanden. Vergessen wir das. Und vielen Dank für den Tipp.«

»Keine Ursache«, wiegelte ich ab. »Vielleicht haben diese Security-Leute gar nichts gesehen. Sondern nur Wodka getrunken, gekifft…«

»Wir werden das überprüfen«, meinte Kostja munter. »Wir überprüfen alles.«

Er strich sich mit der Hand über den Kopf und stand auf. »Du gehst?«, fragte ich.

»Es ist heiß«, antwortete Kostja, während er in den Himmel hinaufschielte. »Ich verschwinde.«

Das tat er in der Tat. Nachdem er zuvor von allen Menschen um uns herum den Blick abgelenkt hatte. Nur ein diffuser Schatten hing noch eine Sekunde in der Luft. »Angeber«, murmelte ich und drehte mich auf den Bauch.

Ehrlich gesagt war mir auch heiß. Aber ich hatte mich nun mal in die Entscheidung verbissen, nicht zusammen mit dem Dunklen aufzubrechen.

Außerdem musste ich noch über etwas nachdenken, bevor ich mich an die Security-Leute im Assol wandte.

Viteszlav hatte ordentliche Arbeit geleistet. Als ich das Büro des Chefs der Security-Firma betrat, begrüßte dieser mich mit einem freudestrahlenden Lachen. »Was für ein angenehmer Besuch!«, rief er, während er diverse Papiere zur Seite schob. »Tee? Kaffee? »

»Kaffee«, antwortete ich.

»Andrej, bring uns Kaffee«, ordnete der Mann an. »Und eine Zitrone.«

Dann machte er sich am Tresor zu schaffen und. beförderte eine Flasche guten georgischen Kognak zu Tage.

Der Angestellte, der mich zum Büro des Security-Chefs gebracht hatte, wirkte leicht entgeistert. Sagte aber kein Wort.

»Was haben Sie denn für Fragen?«, erkundigte sich der Mann, während er mit raschen Schnitten die Zitrone zerteilte. »Wollen Sie einen Kognak, Anton? Der ist gut, Ehrenwort!«

Ich wusste noch nicht mal, wie er hieß… Der alte Chef der Security-Leute hatte mir besser gefallen. Der war mir gegenüber wenigstens ehrlich gewesen.

Aber der alte Chef hätte mir nie die Information gegeben, die ich jetzt zu bekommen hoffen durfte.

»Ich muss mir die persönlichen Akten von allen Mietern ansehen«, meinte ich. Und fügte dann lächelnd hinzu: »In einem Haus wie diesen überprüfen Sie doch sicher alle, oder?«

»Natürlich«, pflichtete der Chef mir sofort bei. »Geld ist ja gut und schön, aber hier sollen anständige Leute wohnen, wir brauchen keine nichtsnutzigen Mafiosi… Möchten Sie alle persönlichen Akten?«

»Ja«, sagte ich. »Von allen, die hier eine Wohnung gekauft haben, unabhängig davon, ob sie hier auch wohnen oder nicht.«

»Und möchten Sie die Dossiers zu den eigentlichen Wohnungsinhabern oder zu denen, auf deren Namen die Wohnungen laufen?«, hakte der Chef freundlich nach. »Zu den eigentlichen Besitzern.«Der Chef nickte und hantierte abermals am Safe herum. Zehn Minuten später saß ich hinter seinem Schreibtisch und blätterte die ordentlichen, nicht sehr dicken Mappen durch. Aus verständlicher Neugier fing ich bei mir selbst an.

»Brauchen Sie mich noch?«, wollte der Security-Chef wissen.

»Nein, vielen Dank.«Ich taxierte die Zahl der Mappen. »In einer Stunde bin ich fertig.«

Der Mann ging und zog leise die Tür hinter sich zu. Ich vertiefte mich in die Lektüre.

Anton Gorodezki war, wie sich herausstellte, mit Swetlana Gorodezkaja verheiratet, mit der er die zweijährige Tochter Nadeshda hatte. Ihm gehörte ein kleines Unternehmen, das Milchprodukte vertrieb. Milch, Kefir, Quark, Joghurt…

Die Firma kannte ich. Ein normales Tochterunternehmen der Nachtwache, das für uns Geld erwirtschaftete. Davon unterhielten wir rund zwanzig in Moskau, in ihnen arbeiteten normale Menschen, die nicht die geringste Ahnung hatten, an wen die Gewinne eigentlich flossen.

Kurzum, alles bescheiden, einfach und schlicht. Auf der Mauer, auf der Lauer, wer da wohl kauert? Eben, die Anderen. Da konnte ich ja wohl schlecht mit Wodka handeln…

Ich legte mein Dossier zur Seite und nahm mir die übrigen Mieter vor.

Natürlich brachte das nichts - und es konnte ja kaum viele Informationen über die Menschen geben. Schließlich ist ein Security-Unternehmen - und sei es das eines noch so luxuriösen Wohnkomplexes - nicht das KGB.

Allerdings brauchte ich auch fast nichts. Bloß Informationen über Verwandte. Vor allem über die Eltern.

Als Erstes legte ich diejenigen zur Seite, deren Eltern gesund und munter waren. Auf einen zweiten Stapel packte ich die Mappen von denjenigen, deren Eltern gestorben waren.

Vor allem interessierten mich die einstigen Heimkinder - von ihnen gab es zwei - und diejenigen, bei denen in der Spalte von Vater oder Mutter ein Strich gezogen war.

Von Letzteren gab es acht.

Diese Fälle legte ich vor mich, um sie genauer zu studieren.

Ein Heimkind sortierte ich sofort aus, das laut Dossier Kontakte zu Verbrecherkreisen unterhielt. Im letzten Jahr war der Mann nicht in Russland gewesen und hatte ungeachtet der Bitte der Justizbehörden nicht die Absicht zurückzukehren. Dann schied ich zwei Kinder mit nur einem Elternteil aus.

Der eine Mann stellte sich als schwacher Dunkler Magier heraus, den ich von einem belangslosen Fall her kannte. Den würden sich jetzt vermutlich die Dunklen vorknöpfen. Wenn sie nichts rauskriegen sollten, hatte der Mann mit der Sache nichts zu tun.

Der zweite Mann war ein recht bekannter Schlagersänger, von dem ich absolut zufällig wusste, dass er seit drei Monaten auf einer Auslandstournee weilte, in den USA, Deutschland und Israel. Vermutlich verdiente er sich das Geld für die Modernisierung zusammen.

Es blieben noch sieben. Eine gute Zahl. Auf sie konnte ich mich jetzt konzentrieren.

Ich öffnete die Mappe und las sie gründlich. Zwei Frauen, fünf Männer… Wer kam für mich in Frage?

Chlopow, Roman Lwowitsch, 42 Jahre, Geschäftsmann… Das Gesicht rief keine Assoziationen hervor. Ob er es war? Vielleicht…

Komarenko, Andrej Iwanowitsch, 31 Jahre, Geschäftsmann… Was für ein entschlossenes Gesicht! Und noch relativ jung… Er? Möglicherweise… Nein, unmöglich! Ich legte die Akte des Unternehmers Komarenko zur Seite. Ein Mann, der mit dreißig Jahren eine hübsche Stange Geld für den Bau von Kirchen opfert und sich durch seine»überdurchschnittliche Religiosität«auszeichnet, hegt nicht den Wunsch, sich in einen Anderen zu verwandeln.

Rawenbach, Timur Borissowitsch, 61 Jahre, Geschäftsmann… Er wirkte relativ jung für sein Alter. Der entschlossene junge Andrei Iwanowitsch hätte bei einer Begegnung mit Timur Borissowitsch respektvoll den Blick abgewandt. Mir selbst kam das Gesicht bekannt vor, sei es vom Fernsehen, sei es…

Ich legte die Mappe weg. Bekam feuchte Hände. Über meinen Rücken lief ein Kälteschauder.

Nein, nicht aus dem Fernseher, genauer: Nicht nur aus dem Fernseher kannte ich dieses Gesicht… Das konnte nicht sein!

»Das kann nicht sein!«, wiederholte ich meinen Gedanken laut. Ich goss mir einen Kognak ein und trank ihn auf ex. Dann sah ich mir das Gesicht von Timur Borissowitsch noch einmal an. Ein ruhiges, intelligentes Gesicht mit leicht asiatischem Einschlag. Das konnte nicht sein.

Ich öffnete die Mappe und begann zu lesen. Er wurde in Taschkent geboren. Der Vater… war nicht bekannt. Die Mutter… starb bei Kriegsende, als der kleine Timur noch keine fünf Jahre alt war. Danach wuchs er in einem Kinderheim auf. Er absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Bauzeichner, danach ein Studium als Ingenieur. Karriere im Komsomol. Irgendwie gelang es ihm, um einen Parteibeitritt herumzukommen. Er hatte eine der ersten Baukooperativen der UdSSR gegründet, die sich übrigens weit stärker mit dem Handel importierter Herde und sanitärer Einrichtungen beschäftigte, als tatsächlich etwas baute. Er zog nach Moskau… gründete eine Firma… ging in die Politik… Ehe? Nein. Straffälligkeit? Nein. Zweite Ehe? Nein.

Ich hatte den Auftraggeber aus den Reihen der Menschen gefunden.

Aber was das Schrecklichste war: Ich hatte damit auch den abtrünnigen Anderen gefunden.

Und dieser Fund kam so überraschend, als sei das Universum eingestürzt.

»Wie konnten Sie nur«, meinte ich tadelnd. »Wie konnten Sie nur… Chef…«

Wenn man Timur Borissowitsch um zehn, fünfzehn Jahre verjüngen würde, dann wäre er Geser - mit zivilem Namen Boris Ignatjewitsch - wie aus dem Gesicht geschnitten, der vor sechzig Jahren in ebendieser Gegend gelebt hatte… Taschkent, Samarkand und andere Orte in Zentralasien…

Am stärksten erschütterte mich noch nicht mal das Verhalten des Chefs. Geser ein Verbrecher? Das war so unwahrscheinlich, dass ich mich nicht mal darüber aufregte. Mich erschütterte, wie leicht der Chef in eine Falle geraten war.

Geser war also vor sechzig Jahren im fernen Usbekistan Vater geworden. Danach hatte man ihm Arbeit in Moskau angeboten. Die Mutter des Jungen, eine gewöhnliche Frau, starb in den Kriegsjahren. Der kleine Mensch Timur, dessen Vater ein großer Magier war, kam ins Kinderheim…

Möglich ist alles. Geser brauchte von der Existenz seines Kindes nichts gewusst zu haben. Oder er hatte etwas gewusst, konnte sich aber aus verschiedenen Gründen nicht um das Schicksal des Jungen kümmern. Jetzt musste in dem Alten ein Hebel umgelegt worden sein, er bekam Sehnsucht nach ihm, traf sich mit seinem in die Jahre gekommenen Sohn und gab ihm das leichtsinnige Versprechen… Und das war in der Tat erstaunlich!

Seit Hunderten, seit Tausenden von Jahren spann Geser seine Intrigen. Kein Wort sprach er unbedacht aus. Und dann lief er so in die Falle? Kaum vorstellbar. Aber Tatsache.

Man brauchte kein Experte für Physiognomie zu sein, um in Timur Borissowitsch und Boris Ignatjewitsch nahe Verwandte zu erkennen. Selbst wenn ich schwiege, würden die Dunklen dahinter kommen. Oder die Inquisitoren. Sie würden den älteren Geschäftsmann in die Zange nehmen… Oder nein, weshalb sollten sie ihn bedrängen? Wir sind keine üblen Erpresser. Wir sind die Anderen. Viteszlav bräuchte ihm nur in die Augen zu sehen, Sebulon nur mit den Fingern zu schnippen, und schon würde Timur Borissowitsch alles so frei heraus erzählen, als sitze er im Beichtstuhl. Was würde Geser dann tun?

Ich dachte nach. Nun… Wenn er zugab, dass er selbst die Briefe abgeschickt hatte… hieße das, er hatte keine schlimmen Hintergedanken gehegt… Schließlich durfte er sich grundsätzlich einem Menschen gegenüber zu erkennen geben…

Kurz ging ich in Gedanken die einzelnen Punkte des Vertrages, der Ergänzungen und Nachbesserungen, der Präzedenzfälle und Ausnahmen, Kommentare und Fußnoten durch. Eine komische Situation.

Geser würde bestraft werden, aber nicht sehr streng. Im Höchstfall eine Rüge vom Europabüro der Nachtwache. Und irgendwas Aufsehenerregendes, aber wenig Sinnvolles von der Inquisition. Selbst seinen Posten könnte Geser behalten. Nur…

Ich stellte mir vor, was daraufhin in der Tagwache losbrechen würde. Wie Sebulon feixen würde. Mit welch unverhohlener Neugier die Dunklen über Gesers Familienangelegenheiten herfallen und seinem menschlichen Sohn einen Gruß zukommen lassen würden.

Sicher, in den Jahren, die Geser schon hinter sich hatte, hätte sich jeder ein dickes Fell zugelegt. Gelernt, Spott zu ertragen. Trotzdem würde ich jetzt nicht mit ihm tauschen wollen!

Und auch unsere Leute neigten zur Ironie. Nein, niemand würde Geser einen Vorwurf machen. Oder hinter seinem Rücken über ihn tuscheln.

Ein Grinsen hier und da, das ja. Ein verständnisloses Kopfschütteln. Und Geflüster: »Er wird doch alt, der Große, ja, er wird alt…«

Heute kannte ich Geser gegenüber keine hündische Unterwürfigkeit und keine Begeisterung mehr. Zu oft beurteilten wir die Dinge völlig unterschiedlich. Manches konnte ich ihm bis heute nicht verzeihen… Aber so in der Tinte zu sitzen!

»Was hast du da bloß gemacht, Großer?«, sagte ich. Dann legte ich die Mappen in den offenen Tresor zurück und goss mir ein weiteres Glas Kognak ein. Konnte ich Geser helfen? Wie? Indem ich mich als Erster an Timur Borissowitsch wandte?

Wie dann weiter? Sollte ich ihn mit einem Schweigezauber belegen? Den nur wahre Meister aufheben könnten?

Und wenn der Geschäftsmann Russland verlassen musste? Fliehen musste, als seien sämtliche Gangsterbanden der Stadt und auch alle Justizorgane hinter ihm?

Vielleicht würde er das sogar tun. Sich irgendwo in der Tundra oder in Polynesien verstecken.

Geschah ihm ganz recht. Sollte er doch für den Rest seines Lebens Robben jagen oder Kokosnüsse von den Palmen schlagen! Schließlich hatte er zur»Herrscherin über das Meer«werden wollen…

Ich nahm den Telefonhörer, wählte die Nummer der Zentrale unseres Büros. Dann noch die Durchwahl für das Rechenzentrum. »Ja?«, erklang im Hörer Toliks Stimme.

»Tolik, du musst einen Menschen für mich durchleuchten. Sofort.«

»Gib mir den Namen, dann durchleuchte ich ihn«, erwiderte Tolik unerschütterlich.

Ich gab ihm alles durch, was ich von Timur Borissowitsch hatte in Erfahrung bringen können. »He, was brauchst du denn sonst noch?«, wunderte sich Tolik.

»Auf welcher Seite er schläft oder wann er das letzte Mal beim

Zahnarzt gewesen war?«

»Wo er jetzt ist«, meinte ich finster.

Tolik schnaubte, aber ich hörte, wie er am andern Ende der Leitung munter auf die Tastatur einschlug. »Er hat ein Handy«, sagte ich für alle Fälle.

»Versuch nicht, einen Weisen zu belehren. Er hat sogar zwei Handys… beide befinden sich… sind… Gut, ich lade jetzt die Karte…«Ich wartete.

»Wohnanlage Assol. Genauer kann es dir der CIA auch nicht sagen. Präzisere Angaben sind nicht möglich.«

»Ich schulde dir ein Fläschchen«, meinte ich und legte auf. Sprang hoch. Doch wozu die Eile? Schließlich saß ich vorm Bildschirm der Überwachungskameras. Ich musste nicht lange suchen.

Timur Borissowitsch betrat gerade den Fahrstuhl. Ihm folgte ein Pärchen mit steinernen Mienen. Zwei Bodyguards. Oder ein Bodyguard und der Chauffeur, der obendrein den zweiten Leibwächter abgab.

Ich stellte den Bildschirm ab und stürmte los. Rannte in den Flur - gerade rechtzeitig, um den Chef der Security-Firma zu treffen.

»Hatten Sie Erfolg?«, fragte er freudestrahlend. »Hm«, nickte ich ihm im Lauf zu.

»Brauchen Sie noch weitere Hilfe?«, rief mir der Mann fürsorglich hinterher. Ich schüttelte nur den Kopf.

Sechs

Der Fahrstuhl kroch - so kam es mir vor - unerträglich langsam in den neunzehnten Stock hinauf. Inzwischen konnte ich verschiedene Pläne entwickeln und wieder verwerfen. Bodyguards - das machte die Sache erheblich schwieriger.

Ich würde improvisieren müssen. Und im Notfall ein wenig von meiner Tarnung aufgeben.

Ich klingelte lange an der Tür und blickte in die elektronische Pupille der Kamera. Schließlich rührte sich etwas, und aus der in die Wand eingebauten Sprechanlage fragte jemand: »Ja?«

»Sie setzen mich unter Wasser!«, echauffierte ich mich und versuchte, so aufgelöst wie möglich zu klingen. »Die Fresken an der Decke sind schon nass! Im Flügel stehen bereits zwei Eimer Wasser!«

Woher nahm ich bloß diese Fresken und den Konzertflügel? »In was für einem Flügel?«, fragte eine misstrauische Stimme.

Woher sollte ich denn wissen, was die hier für Flügel haben? Schwarze und teure. Oder weiße und noch teurere…

»In meinem Wiener Flügel! Mit geschwungenen Beinen!«, phantasierte ich weiter.

»Und wir dachten schon in dem Klavier, das da steht vor der Tür«, erwiderte jemand mit unverhohlener Ironie.

Ich sah zu Boden. Diese verfluchte allseitige Beleuchtung… Nicht einmal einen ordentlichen Schatten gab es hier!

Als ich die Hand in Richtung Tür ausstreckte, schaffte ich es immerhin, einen schwachen Schatten auf dem rosafarbenen Holz, mit dem der Panzerstahl verkleidet war, zu erkennen. Sofort zog ich ihn zu mir.

Meine Hand tauchte ins Zwielicht ein, der Hand hinterher ich selbst.

Die Welt gestaltete sich neu. Verlor ihre Farben, ergraute. Tiefe Stille senkte sich herab, nur das elektrische Innenleben der Kamera und der Sprechanlage surrten noch.

Ich stand im Zwielicht, in jener seltsamen Welt, wohin nur die Anderen einen Weg kennen. In jener Welt, aus der unsere Kraft stammt.

Die fahlen Schatten der aufgeschreckten Bodyguards. Über ihren Köpfen glomm eine alarmierte purpurrote Aura, die ich sogar durch die Tür hindurch sehen konnte. Ich könnte sie mit einem Gedanken berühren, ihnen einen Befehl geben - und sofort würden sie mir öffnen. Doch ich zog es vor, durch die Tür hindurchzugehen.

Die Bodyguards waren wirklich auf der Hut. Einer hielt eine Pistole in der Hand, einer tastete sehr langsam nach seinem Halfter.

Ich berührte die Bodyguards, fuhr ihnen mit dem Daumen über die kräftige Stirn. Schlaft, schlaft, schlaft… Ihr seid sehr müde. Ihr müsst euch hinlegen und sofort einschlafen. Mindestens eine Stunde lang. Tief und fest. Mit süßen Träumen.

Der eine Bodyguard fiel sofort in Ohnmacht, der zweite leistete den Bruchteil einer Sekunde Widerstand. Später würde ich prüfen müssen, ob er zu uns Anderen gehörte. Wer weiß…

Dann trat ich aus dem Zwielicht heraus. Die Welt gewann ihre Farben und ihr Tempo zurück. Von irgendwoher erklang Musik.

Wie Säcke sanken die Bodyguards auf den teuren Perser, der unmittelbar hinter der Tür lag.

Es gelang mir, mit einem Griff gleich beide abzufangen und sie relativ sanft zu betten. Dann folgte ich der Musik, dem friedlichen Geigenspiel.

Diese Wohnung war in der Tat gründlich renoviert worden! Alles glänzte, war durchdacht und harmonisch, offenkundig die Arbeit eines der besten Innenarchitekten. Hier schlug der Hausherr nicht einen Nagel selbst in die Wand. Vermutlich hegte er aber auch gar nicht den Wunsch. »Das«, brummte er billigend oder unzufrieden, während er die kolorierten Zeichnungen betrachtete, dann mit dem Finger auf einige Gemälde zeigte - und die Wohnung fürs nächste halbe Jahr vergaß.

Timur Borissowitsch war anscheinend ins Assol gekommen, um die Jacuzzi zu genießen. Und zwar eine echte Jacuzzi, keinen Whirlpool einer weniger renommierten Firma. Aus dem schaumbekrönten Wasser ragte nur das Gesicht heraus, das mich so schmerzhaft an Geser erinnerte. Der teure Anzug war achtlos über eine Sessellehne geworfen - in diesem Bad reichte der Platz für Sessel, einen Zeitungstisch, eine geräumige Sauna und eben die Jacuzzi, die an ein kleines Schwimmbecken erinnerte.

Gene sind doch trotz allem eine großartige Sache! Gesers Sohn konnte kein Anderer werden, aber in seinem menschlichen Dasein genoss er alle denkbaren Freuden.

Als ich eintrat, mich orientierte und auf die Wanne zuging, starrte Timur Borissowitsch mich an und runzelte die Stirn. Machte aber keine abrupten Bewegungen.

»Ihre Bodyguards schlafen«, setzte ich ihn in Kenntnis. »Ich vermute, Sie könnten jetzt den Knopf einer Alarmanlage drücken oder eine Pistole ziehen. Das brauchen Sie nicht, es würde Ihnen ohnehin nichts nützen.«

»Es gibt hier keinen solchen Alarmknopf«, brummte Timur Borissowitsch, und seine Stimme erinnerte schmerzhaft an die Stimme Gesers. »Ich bin nicht paranoid… Sie sind vermutlich ein Anderer?«

Aha. Legen wir die Karten also auf den Tisch…»Ja«, meinte ich lächelnd. »Schön, dass ich auf lange Erklärungen verzichten kann.«

Timur Borissowitsch schnaubte empört. »Was kommt jetzt?«, fragte er. »Muss ich aus der Wanne steigen? Oder können wir das so aushandeln? »

»Es geht auch so«, versicherte ich. »Darf ich mich setzen?«

Der Sprössling des großen Magiers nickte, ich zog einen Sessel heran und nahm Platz, wobei ich erbarmungslos seinen teuren Anzug zerknautschte. »Wissen Sie, warum ich gekommen bin?«, fing ich an.

»Sie sehen nicht wie ein Vampir aus«, meinte Timur Borissowitsch. »Sie sind ein Magier, oder? Ein Lichter?«Ich nickte.

»Sie sind gekommen, um mich zu initiieren«, vermutete Ti-mur Borissowitsch. »Wäre es so kompliziert gewesen, vorher anzurufen?«

Ach du meine Güte… Nichts verstand er.

»Wer hat Ihnen versprochen, Sie zu initiieren?«, fragte ich scharf.

Timur Borissowitsch runzelte die Stirn. »Also… bringen wir es hinter uns«, murmelte er. »Weshalb sind Sie gekommen?«

»Ich untersuche einen Fall, bei dem es um eine nicht sanktionierte Weitergabe von geheimen Informationen geht«, antwortete ich.

»Aber Sie sind ein Anderer? Sie sind nicht von der Staatssicherheit?«, wollte Timur Borissowitsch nervös wissen.

»Zu Ihrem großen Unglück bin ich nicht von der Staatssicherheit. Erzählen Sie mir in aller Offenheit, wer Ihnen wann das Versprechen gegeben hat, Sie zu initiieren.«

»Eine Lüge würden Sie eh spüren«, erwiderte Timur Borissowitsch nur.

»Natürlich.«

»Mein Gott, ich wollte einfach nur ein paar Stunden meine Ruhe haben!«, rief Timur Borissowitsch mit schmerzerfüllter Stimme. »Hier gibt es Probleme, da Schwierigkeiten… Und wenn ich mich in der Wanne entspannen will, platzt ein seriöser junger Mensch herein und verlangt Erklärungen!«

Ich wartete ab. Wies ihn nicht darauf hin, dass ich kein»junger Mensch«war.

»Vor einer Woche hat sich jemand mit mir getroffen…«, begann Timur Borissowitsch stockend. »Unter recht seltsamen Umständen… ein Herr…«

»Wie sah er aus?«, wollte ich wissen. »Sie brauchen ihn mir nicht zu beschreiben. Stellen Sie ihn sich einfach kurz vor.«

In Timur Borissowitschs Augen flackerte Neugier auf. Er starrte mich an.

»So?«, fragte ich irritiert. Was seinen Grund hatte.

Wenn ich dem Bild glauben durfte, das der Geschäftsmann sich eben ins Bewusstsein gerufen hatte (und ich hatte keinen Grund, ihm nicht zu glauben), dann hatte der heute kaum noch bekannte, früher jedoch ausgesprochen populäre Filmschauspieler Oleg Strishenow mit ihm gesprochen.

»Oleg Strishenow«, schnaubte Timur Borissowitsch. »Jung und schön. Ich habe schon geglaubt, mit meinem Kopf stimme irgendetwas nicht. Doch er hat mir mitgeteilt, das sei bloß eine Maskierung… eine Maske…«

Natürlich. Geser hatte noch so viel Verstand besessen, sich zu maskieren. Hm… das erhöhte vielleicht unsere Chancen!

Ich wurde wieder etwas zuversichtlicher. »Fahren Sie fort«, verlangte ich. »Was passierte dann? »

»Dieser Tiermensch«, berichtete Timur Borissowitsch, unfreiwillig all unsere Begriffe verwechselnd, »hat mir bei einer Sache sehr geholfen. Ich war da in eine unangenehme Geschichte hineingeraten… durch puren Zufall. Wenn er mir nicht bestimmte Dinge gesagt hätte, läge ich jetzt nicht hier. »

»Er hat Ihnen also geholfen?«, hakte ich nach.

»Und wie«, nickte Timur Borissowitsch. »Natürlich wurde dadurch meine Neugier geweckt. Irgendwann haben wir uns unterhalten… ganz offen. Wir haben uns an das alte Taschkent erinnert, über alte Filme geplaudert… Dann hat mir dieser falsche Strishenow von den Anderen erzählt. Er hat behauptet, mit mir verwandt zu sein. Deshalb würde er mir gern jeden nur denkbaren Gefallen erweisen. Einfach so, ohne jede Gegenleistung. »

»Und?«, wollte ich weiter wissen.

»Ich bin schließlich kein Dummkopf.«Timur Borissowitsch zuckte mit den Schultern. »Einen goldenen Fisch sollte man nicht um drei Wünsche bitten, sondern um Allmacht. Oder schlimmstenfalls um ein Bassin mit goldenen Fischen. Ich habe ihn gebeten, aus mir ebenfalls einen Anderen zu machen. Daraufhin fing der so genannte Strishenow an herumzudrucksen und wand sich wie ein Fisch in der Pfanne. Er behauptete, das ginge nicht. Doch ich spürte, dass er log. Es ging! Deshalb habe ich ihn gebeten, sich etwas einfallen zu lassen und mich doch zu einem Anderen zu machen…«

Er log nicht. Nicht bei einem Wort. Sondern sagte einfach nicht alles.

»Sie können kein Anderer werden«, erklärte ich. »Sie sind ein gewöhnlicher Mensch. Es tut mir leid, aber Sie werden nie ein Anderer.«Timur Borissowitsch schnaubte erneut.

»Das ist… Das ist eine Frage der Gene, wenn Sie so wollen«, erklärte ich. »Timur Borissowitsch, ist Ihnen klar, dass Ihr Verhandlungspartner aus bestimmten Gründen in eine Fallegeraten war? Dass er seinen Vorschlag unglücklich formuliert hat und jetzt gezwungen ist, etwas Unmögliches zu vollbringen?«

Daraufhin konnte mein selbstsicheres Gegenüber nur schweigen.

»Sie haben es gewusst«, schlussfolgerte ich. »Ich sehe doch, dass Sie es gewusst haben. Und trotzdem haben Sie diese Forderung gestellt?«

»Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass es möglich ist, das zu machen!«, widersprach Timur Borissowitsch mit erhobener Stimme. »Das spüre ich! Ich spüre nicht schlechter als Sie, wenn jemand lügt! Und ich habe niemanden bedroht, sondern nur um etwas gebeten!«

»Vermutlich ist Ihr Vater an Sie herangetreten!«, sagte ich. »Ist Ihnen das klar?«

Timur Borissowitsch erstarrte in seiner sprudelnden Jacuzzi zur Salzsäule.

»Er wollte Ihnen in der Tat helfen«, sagte ich. »Aber das kann er nicht. Ihre Forderung bringt ihn im wörtlichen Sinne um. Begreifen Sie das?«Timur Borissowitsch schüttelte den Kopf.

»Er hat Ihnen ein viel zu vage formuliertes Versprechen gegeben«, sagte ich. »Sie haben ihn jedoch beim Wort genommen. Wenn er das gegebene Wort nicht einhält, stirbt er. Ist Ihnen das klar? »

»Ist das bei Ihnen so üblich?«

»Das hängt mit der Kraft zusammen«, erwiderte ich. »Jedenfalls bei den Lichten.«

»Wo war er denn früher, mein Papa…«, fragte Timur Borissowitsch mit deutlicher Wehmut in der Stimme. »Er ist doch noch immer jung, oder? Warum kommt er erst jetzt, wo meine Enkel schon verheiratet sind? »

»Glauben Sie mir, er konnte nicht«, versicherte ich. »Und vermutlich wusste er gar nichts von Ihnen. Das kann vorkommen. Aber jetzt bringen Sie ihn um. Ihren eigenen Vater.«Timur Borissowitsch schwieg.

Während ich triumphierte. Denn dieser in der Jacuzzi liegende Geschäftsmann war kein ausgemachtes Schwein. Und das Wort»Vater«bedeutete für ihn, der er im Orient aufgewachsen war, viel. Trotz allem.

»Sagen Sie ihm, dass ich… meine Bitte zurückziehe…«, murmelte Timur Borissowitsch. »Wenn er nicht will… ach, zum Teufel mit ihm… Er hätte doch einfach vorbeikommen und offen mit mir über alles sprechen können. Es gibt doch keinen Grund, dafür einen seiner Angestellten zu schicken.«

»Sind Sie sicher, dass ich einer seiner Angestellten bin?«, hakte ich neugierig nach.

»Ja. Ich weiß nicht, wer mein Vater ist. Aber in Ihrer Wache wird er schon nicht das kleinste Rädchen sein.«

Ich hatte es geschafft! Ich hatte das Damoklesschwert, das über Geser hing, abgenommen.

Ob er mich deswegen ins Assol geschickt hatte? Ob er wusste, dass mir das gelingen würde?

»Ich habe noch eine Bitte, Timur Borissowitsch«, schmiedete ich das Eisen, solange es noch heiß war. »Sie müssen für einige Zeit die Stadt verlassen. Es sind gewisse Umstände bekannt geworden… Ihre Spur haben noch weitere Andere aufgenommen. Darunter auch die Dunklen. Sie werden Schwierigkeiten bekommen, aber… aber auch Ihr Vater.«

Abrupt setzte sich Timur Borissowitsch in der Wanne hoch. »Wollen Sie mir nun auch vorschreiben, was ich zu tun habe?«, fragte er.

»Ich könnte es Ihnen befehlen«, erklärte ich. »Genauso leicht, wie ich Ihre Bodyguards ausgeschaltet habe. Sie würden ohne Hosen zum Flughafen stürzen. Aber ich bitte Sie, Timur Borissowitsch. Sie haben bereits einen guten Schritt getan, indem Sie der Rücknahme Ihrer Forderung zugestimmt haben. Machen Sie jetzt auch den nächsten Schritt. Ich bitte Sie.«

»Sie wissen, welche Meinung man sich von einem Geschäftsmann macht, der urplötzlich Gott weiß wohin verschwunden ist? »

»Ich kann es mir denken.«

Timur Borissowitsch grunzte und wirkte von einer Sekunde zur nächsten viel älter. Ich schämte mich. Doch ich wartete. »Ich möchte gern… mit ihm reden.«

»Ich glaube, das lässt sich machen«, stimmte ich kurzerhand zu. »Aber zunächst müssen Sie verschwinden. »

»Drehen Sie sich um«, brummte Timur Borissowitsch.

Gehorsam drehte ich mich um. Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, nicht gleich eins mit der verchromten Seifenschale über den Schädel gezogen zu bekommen.

Und dieses durch nichts zu rechtfertigende Vertrauen rettete mich.

Denn ich sah durchs Zwielicht auf die Wand, um mich zu überzeugen, dass die beiden Bodyguards noch friedlich vor der Tür schlummerten. Dabei bemerkte ich einen flinken Schatten. Einen Schatten, der zu flink für einen Menschen war.

Außerdem ging dieser Schatten durch Wände. Nicht mit den gewöhnlichen Schritten eines Anderen, sondern mit dem huschenden Gang eines Vampirs.

Als Kostja das Badezimmer betrat, hatte ich meinem Gesicht bereits wieder einen ruhigen und amüsierten Ausdruck gegeben. Wie es sich für einen Lichten Wächter gehört, der vor einem Dunklen am Ort des Geschehens eingetroffen ist.

»Du«, sagte Kostja. Im Zwielicht stieg von seinem Körper feiner Dampf auf. Vampire sehen überhaupt in der Zwielicht-Welt anders aus, doch Kostja hatte noch viel von einem Menschen. Erstaunlich viel für einen Hohen Vampir.

»Natürlich«, sagte ich. Die Töne schienen in feuchte Watte gepackt. »Warum bist du hierher gekommen?«

Kostja zögerte. »Ich habe gespürt, dass du Kraft einsetzt«, antwortete er dann ehrlich. »Du musstest also etwas gefunden haben… Jemanden.«

Er blickte zu Timur Borissowitsch hinüber. »Ist das unser Erpresser?«, fragte er.

Es hätte keinen Sinn gehabt, jetzt zu lügen. Oder den Geschäftsmann zu verstecken.

»Ja«, sagte ich. »Ich habe ihn dazu gebracht, von seinen Forderungen abzusehen. »

»Wie?«

»Mit der Lüge, dass die Verwandlung in einen Anderen ihm unvorsichtigerweise sein eigener Vater versprochen hat. Dem deswegen jetzt ernsthafte Schwierigkeiten drohen… Daraufhin hat er sich geschämt und nicht auf Einhaltung des Versprechens bestanden.«Kostja runzelte die Stirn.

»Vorsichtshalber wollte ich ihn möglichst weit wegschicken«, log ich seufzend weiter. »Soll er sich doch irgendwo in der Dominikanischen Republik ansiedeln.«

»Das ist nur die eine Hälfte der Untersuchung«, wandte Kostja finster ein. »Ich glaube, ihr Lichten wollt jemanden aus euren eigenen Reihen decken. »

»Wir oder ich?«

»Du. Den Menschen zu finden ist nicht das Wichtigste. Wir brauchen denjenigen, der unser Geheimnis preisgegeben hat. Der ihm die Initiierung versprochen hat.«

»Aber das weiß er doch nicht!«, empörte ich mich. »Ich habe sein Gedächtnis überprüft, das ist absolut sauber. Der Verräter ist zu ihm in Gestalt eines Filmschauspielers aus dem vorigen Jahrhundert gekommen. Und hat keine Spuren hinterlassen.«

»Das werden wir noch sehen«, verkündete Kostja. »Er soll sich die Hosen anziehen, ich nehm ihn mit.«Was bildete sich der Kerl bloß ein?!

»Ich habe ihn gefunden, und er kommt mit mir mit!«, brüllte ich.

»Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass du Spuren vertuschen willst«, meinte Kostja mit leiser, aber drohender Stimme.

Hinter uns trocknete sich Timur Borissowitsch ab, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, welches Gespräch gerade im Zwielicht geführt wurde. Wir durchbohrten einander mit Blicken, keiner von uns beiden wollte nachgeben. »Er kommt mit mir mit«, wiederholte ich.

»Wollen wir uns um ihn schlagen?«, fragte Kostja fast belustigt.

Und mit einer gleitenden Bewegung stand er neben mir, um mir forschend in die Augen zu gucken. Seine Pupillen flackerten im Zwielicht wie ein rotes Feuer. Ja! Er wollte diesen Kampf!

Seit vielen Jahren schon! Um sich endgültig zu überzeugen, dass das Recht auf Seiten des Hohen Vampirs Konstantin war und nicht auf Seiten des naiven Kostja, der davon geträumt hatte, seinem Fluch zu entkommen und wieder ein Mensch zu werden…

»Ich bringe dich um«, zischte ich. Kostja grinste nur. »Wollen wir es drauf ankommen lassen?«

Ich sah zu Boden. Mein Schatten ließ sich kaum erkennen, doch ich hob ihn auf und drang in die nächste Schicht des Zwielichts ein. Dorthin, wo die Wände des Hauses sich kaum noch im Nebel erahnen ließen, wo den Raum ein alarmierendes tiefes Grollen ausfüllte.

Nur einen kurzen Augenblick lang genoss ich den Vorteil dieser Position.

Dann tauchte auch Kostja in der zweiten Zwielicht-Schicht auf. Jetzt sah er stark verändert aus. Sein Gesicht erinnerte an einen Schädel, dem die Haut abgezogen worden war, die Augen lagen tief in den Höhlen, die Ohren ragten lang und spitz auf.

»Ich habe Vieles gelernt«, flüsterte Kostja. »Was ist nun, mit wem geht der Verdächtige mit?«

In dem Moment erklang eine dritte Stimme. »Ich habe einen Vorschlag, der alle zufrieden stellt.«

Im grauen Nebel materialisierte sich Viteszlav. Sein Körper war ebenfalls deformiert und gab Dampf ab wie ein Stück Trockeneis in der Sonne. Ein Schauder durchlief mich. Der Prager Vampir kam aus der dritten Zwielicht-Schicht, aus jenen Schichten, die mir nicht zugänglich waren. Über welche Kraft musste er verfügen?

Nach Viteszlav tauchte Edgar auf. Dem Magier hatte die Reise in die dritte Schicht Mühe bereitet, er schwankte und rang nach Atem.

»Er kommt mit uns«, erklärte Viteszlav. »Wir glauben nicht, dass Anton Gorodezki böse Absichten hegt. Doch wir erkennen auch den Verdacht der Tagwache an. Die Untersuchung wird fortan in Händen der Inquisition liegen.«Kostja sagte kein Wort.

Auch ich schwieg. Was sollte ich tun: Das war Viteszlavs gutes Recht. Und ich hatte nichts, was ich ihm entgegensetzen konnte.

»Gehen wir, meine Herren?«, fuhr Viteszlav fort. »Hier ist es nicht sehr angenehm.«

In der nächsten Sekunde standen wir wieder in dem geräumigen Badezimmer, in dem Timur Borissowitsch, auf einem Bein hüpfend, versuchte, seine Unterhose anzuziehen.

Viteszlav ließ ihm die Zeit, sie anzuziehen. Und erst als sich der Geschäftsmann auf ein Geräusch hin umdrehte, unsere ganze Gesellschaft entdeckte und verwundert aufschrie, sah Viteszlav ihn kalt an.

Timur Borissowitsch fiel in Ohnmacht. Edgar sprang ihm bei und bettete den bewusstlosen Körper in den Sessel.

»Du sagst, er kenne den Verräter nicht…«, meinte Viteszlav, während er den Geschäftsmann neugierig betrachtete. »Was für ein erstaunlich bekanntes Gesicht… Mir kommt da ein ausgesprochen interessanter Verdacht.«Ich schwieg.

»Du kannst stolz auf dich sein, Anton«, fuhr Viteszlav fort. »Deine Behauptung ist nicht von der Hand zu weisen. Ich glaube, der Vater dieses Menschen arbeitet tatsächlich in der Wache. In der Nachtwache.«

Kostja kicherte. Natürlich gefiel ihm Viteszlavs Entscheidung nicht. Kostja hätte den Sprössling Gesers viel lieber persönlich in der Tagwache abgeliefert. Dennoch konnte er auch dieser Situation etwas abgewinnen.

»Der ach so weise Geser wird doch nicht einen derartigen Fehler gemacht haben?«, fragte er begeistert. »Ich würde gern wissen…«Viteszlav blickte Kostja an, der daraufhin verstummte.

»Einen Fehler machen kann jeder«, sagte Viteszlav leise. »Selbst ein Magier außerhalb jeder Kategorie. Aber…«Er starrte mich an. »Kannst du Geser herrufen?«

Ich zuckte mit den Schultern. Eine dumme Frage. Natürlich konnte ich das. Und auch Viteszlav konnte es.

»Mir gefällt nicht, was hier vor sich geht…«, meinte Viteszlav leise. »Ganz und gar nicht. Irgendjemand hält uns hier sehr geschickt zum Narren.«

Er bedachte uns alle mit einem durchdringenden, unmenschlichen Blick. Etwas hatte seinen Argwohn geweckt. Aber was?

»Ich setze mich mit meinem Chef in Verbindung«, verkündete Kostja in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Viteszlav erhob keine Einwände. Abermals sah er Timur Borissowitsch an und runzelte die Stirn.

Ich holte das Handy heraus und wählte Gesers Nummer.

»Irgendjemand hält uns hier zum Narren…«, meinte Viteszlav, dessen Wut sich jetzt Bahn brach. »Und dieser Jemand…«

»Befehlen Sie ihm, sich anzuziehen«, bat ich, während ich auf die langen Klingeltöne lauschte. »Oder muss ein älterer Mensch wirklich so gedemütigt werden? Wollen wir ihn in Unterhosen mitnehmen?«

Viteszlav rührte sich nicht, doch Timur Borissowitsch stand auf und fing gleichsam im Halbschlaf an, sich anzuziehen.

Verunsichert trat Edgar an mich heran. »Antwortet er nicht?«, fragte er teilnahmsvoll. »Ich an seiner Stelle…«

»Es wird noch lange dauern, bis man dir so eine Stelle anbietet«, bemerkte Viteszlav. »Wenn du nicht begreifst, wie man uns hereingelegt hat…«

Edgars Gesicht ließ darauf schließen, dass er nichts begriff. Genau wie ich, genau wie Kostja, der mit verdrehten Augen lautlos etwas flüsterte. »Ja, Anton…«, meldete sich Geser. »Gibt's was Neues?«

»Ich habe den Mann gefunden, dem man versprochen hat, aus ihm einen Anderen zu machen«, presste ich hervor.

Im Badezimmer senkte sich absolute Stille herab. Vermutlich lauschten alle auf die schwachen Töne aus dem Handy.

»Wunderbar!«, rief Geser aus. »Du bist einfach großartig. Setz dich jetzt unverzüglich mit denjenigen in Verbindung, die von der Tagwache und der Inquisition mit der Untersuchung betraut worden sind. Sie sollen sich den Ermittlungen anschließen. Irgendwo muss dieser tschechische Vampir rumspringen, dieser Viteszlav. Ein kluger Kerl, wenn auch ohne jeden Sinn für Humor… aber darunter leiden ja alle Vampire.«

Viteszlav wandte sich mir zu. Mit versteinerter Miene und glühenden Augen. Er hatte alles gehört. Und ich war bereit, einen Kasten tschechischen Biers gegen ein Fläschchen Kölnischwasser zu wetten, dass Geser nur zu genau wusste, dass Viteszlav neben mir stand.

»Viteszlav ist bereits hier«, sagte ich. »Ebenso Edgar und… ein Vertreter der Dunklen.«

»Hervorragend!«, frohlockte Geser. »Bitte unsern Gast aus Prag doch, mir ein Portal aufzuhängen… wenn er das bewältigt, natürlich nur. Dann stoße ich zu euch.«

Ich steckte das Handy weg und sah Viteszlav an. Meiner Ansicht nach hatte Geser es mit seinem Spott ein wenig übertrieben.

Doch woher sollte ich wissen, wie der alte Lichte Magier und der alte Vampir der Inquisition zueinander standen? Und welche Rechnungen sie miteinander zu begleichen hatten?

»Sie haben alles gehört«, lavierte ich.

»Ich möchte es von dir hören«, erwiderte Viteszlav.

»Das Haupt der Moskauer Nachtwache, der Helllichte Magier Geser, bittet Sie, ihm ein Portal aufzuhängen. Natürlich nur, wenn das in Ihren Kräfte liegt.«

Viteszlav blickte lediglich kurz zur Seite - und über der sprudelnden Jacuzzi zeichnete sich in der Luft ein feiner heller Rahmen ab. Wer durch diese merkwürdige Tür trat, würde unweigerlich im Wasser landen. »Kein Problem«, erwiderte Viteszlav kalt. »Edgar…«

Der ehemalige Dunkle Magier blickte ihm ergeben in die Augen.

»Das Dossier von diesem…«Viteszlav nickte in Timur Borissowitschs Richtung, der mit trägen Bewegungen seine Krawatte band. »Vermutlich liegt es unten, bei der Firma, die für die Sicherheit zuständig ist.«

Edgar verschwand. Um Zeit zu sparen, bewegte er sich durchs Zwielicht, um die Mappe zu holen. Kurz darauf erschien Geser im Badezimmer.

Nur dass er nicht durch das Portal kam, sondern direkt neben diesem das Badezimmer betrat, akkurat über die Bodenfliesen schreitend.

»Ich werde wirklich alt«, seufzte er. »Da komme ich neben der Tür raus…«Er sah Viteszlav an und bedachte ihn mit einem freudestrahlenden Lächeln. »Was für eine Begegnung. Warum bist du nicht mal bei mir vorbeigekommen?«

»Arbeit«, erwiderte Viteszlav einsilbig. »Ich denke, wir sollten die uns interessierenden Fragen so schnell als möglich klären…«

»Du verbringst zu viel Zeit hinterm Schreibtisch«, seufzte Geser. »Ein richtiger Bürokrat bist du geworden… Was haben wir denn? »

»Den hier…«, warf ich ein.

Geser lächelte mich ermutigend an und betrachtete dann Timur Borissowitsch.

Stille senkte sich herab. Selbst Kostja gab Ruhe und beendete sein lautloses Gespräch mit Sebulon, der es nicht sehr eilig hatte, hier aufzutauchen. Viteszlav schien förmlich zu erstarren. Ich versuchte, die Luft anzuhalten.

»Wie interessant«, meinte Geser. Er trat an Timur Borissowitsch heran, der teilnahmslos vor sich hinstierte, und berührte seine Hand. »Ei, ei, ei…«, seufzte er.

»Kennen Sie diesen Mann, Helllichter Geser?«, fragte Viteszlav.

Geser wandte sich uns mit einer Miene zu, die tiefsten Schmerz ausdrückte. »Glaubst du etwa, ich hätte meinen Instinkt völlig eingebüßt?«, fragte er bitter. »Das ist mein Blut, Viteszlav! Das ist mein Sohn! »

»Tatsächlich?«, fragte Viteszlav ironisch.

Geser beachtete ihn einfach nicht weiter. Er umarmte den älteren Mann, der nach menschlichen Dafürhalten sein Vater hätte sein können. Zärtlich strich er ihm über die Schulter. »Wo warst du nur all die Jahre, mein Junge…«, flüsterte er. »Und unter welchen Umständen begegnen wir uns jetzt… Aber man hat mir gesagt, du seist gestorben… An Diphtherie, hieß es…«

»Meine aufrichtigen Glückwünsche, Geser«, sagte Viteszlav. »Aber ich würde gern ein paar Erklärungen bekommen!«

Edgar kehrte ins Badezimmer zurück. Verschwitzt, mit der Mappe unterm Arm.

»Das ist eine einfache Geschichte, Viteszlav«, erwiderte Geser, der seinen Sohn, diesen alten Mann, noch immer im Arm hielt. »Vor dem Krieg habe ich in Usbekistan gearbeitet. Samarkand, Buchara, Taschkent… Ich war verheiratet. Dann beorderte man mich nach Moskau. Ich wusste, dass ich Vater eines Jungen geworden war, habe meinen Sohn jedoch nicht ein einziges Mal gesehen. Es war halt… Krieg. Dann starb die Mutter des Kleinen. Und seine Spuren verloren sich.«

»Und selbst du konntest ihn nicht finden?«, fragte Viteszlav ungläubig.

»Selbst ich nicht. Aus den Unterlagen ging hervor, dass er gestorben war. An Diphtherie…«

»Das ist eine mexikanische Telenovela«, platzte Edgar heraus. »Helllichter Geser, wollen Sie uns weismachen, dass Sie diesen Menschen noch nie getroffen haben? »

»Nicht einmal«, meinte Geser traurig.

»Sie haben nie mit ihm gesprochen, ihm nicht - entgegen allen Gesetzen - vorgeschlagen, ein Anderer zu werden?«, ließ Edgar nicht locker.

Geser bedachte den Magier mit einem ironischen Blick. »Ihnen sollte doch bekannt sein, verehrter Inquisitor, dass ein Mensch kein Anderer werden kann. »

»Antworten Sie auf die Frage!«, bat - oder befahl - Edgar.

»Ich habe ihn noch nie gesehen, noch nie mit ihm gesprochen und ihm nichts versprochen. Ich habe den Wachen und der Inquisition keinen Brief geschickt! Ich habe niemanden gebeten, sich mit ihm zu treffen oder diese Briefe abzuschicken! Möge das Licht meine Worte bezeugen!«, skandierte Geser. Er streckte einen Arm aus und auf seinem Handteller flackerte kurz ein weißes Feuer auf. »Wollt ihr meine Worte etwa anzweifeln? Wollt ihr behaupten, ich sei dieser Verräter?«

Er wuchs über sich hinaus, als sei in ihm eine Feder hochgeschnellt. Mit Gesers Blick hätte man jetzt Nägel einschlagen können.

»Wollt ihr mich anklagen?«, fuhr Geser mit erhobener Stimme fort. »Du, Edgar? Oder du, Viteszlav?«

Kostja wich nicht rechtzeitig aus und bekam ebenfalls eine Portion von dem versengenden Blick ab. »Oder du, kleiner Vampir?«

Selbst ich wollte mich verstecken. Doch in den Tiefen meiner Seele musste ich lachen. Geser hatte alle reingelegt! Wie genau, wusste ich nicht - aber reingelegt hatte er sie!

»Wir würden an dergleichen nicht einmal denken, Helllichter Geser.«Viteszlav neigte als Erster den Kopf. »Edgar, Ihre Fragen waren unhöflich formuliert.«

»Ich bitte um Entschuldigung.«Edgar ließ den Kopf hängen. »Verzeihen Sie mir, Helllichter Geser. Es tut mir aufrichtig leid.«

Kostja sah sich voller Panik um. Erwartete er Sebulon? Nein, vermutlich nicht. Im Gegenteil, er wünschte, das Haupt der Dunklen möge nicht auftauchen und diesem hagelnden Spott ausgesetzt werden.

Und Sebulon würde nicht auftauchen, das hatte ich bereits begriffen. Der europäische Vampir hatte ungeachtet seiner Kraft und seiner jahrhundertealten Weisheit jede Erfahrung bezüglich fein gesponnener Intrigen eingebüßt und war in eine Falle getappt. Sebulon jedoch hatte sofort begriffen: Geser würde nie so dumm sein und sich derart ausliefern.

»Ihr seid über meinen Sohn hergefallen«, sagte Geser traurig. »Wer hat ihm diese Willenlosigkeit auferlegt? Du, Konstantin? »

»Nein!«, schrie Kostja panisch.

»Das war ich«, bekannte Viteszlav finster. »Soll ich den Zauber aufheben?«

»Aufheben?«, brüllte Geser. »Ihr habt an meinem Kleinen eine magische Intervention vorgenommen! Könnt ihr euch vorstellen, was für einen Schock das für ihn bedeutet? In seinem Alter? Und wie weiter? Was soll er jetzt werden, nach seiner Initiierung? Ein Dunkler?«

Mir traten die Augen aus den Höhlen. Kostja piepte leise etwas. Edgar klapperte mit den Zähnen.

Und vermutlich sahen wir alle gleichzeitig Timur Borissowitsch durchs Zwielicht an.

Die Aura des potenziellen Anderen ließ sich absolut deutlich erkennen.

Timur Borissowitsch brauchte seinen Hals nicht den Eckzähnen eines Vampirs oder eines Tiermenschen darzubieten. Er konnte durchaus ein ordentlicher Magier werden. Vierten oder fünften Grades. Bedauerlicherweise wohl eher ein Dunkler Magier… Aber…

»Was soll ich jetzt tun?«, fragte Geser. »Ihr habt euch auf meinen Jungen gestürzt, ihn erschreckt, ihm euren Willen aufgezwungen…«

Der angegraute»Junge«fuhr mit tauben Fingern über die Krawatte und versuchte immer noch, den Windsorknoten sorgfältiger zu binden.

»Soll er jetzt ein Dunkler werden?«, empörte sich Geser. »Ja? Das habt ihr doch wohl mit Absicht gemacht! Gesers Sohn ein Dunkler Magier!«

»Ich bin überzeugt davon, dass er in jedem Fall ein Dunkler Magier geworden wäre…«, gab Viteszlav zu bedenken. »Bei dem Leben, das er führt…«

»Du hast ihm seinen Willen genommen, ihn zum Dunkel gedrängt - und jetzt gibst du solche Erklärungen ab?«, zischte Geser in bedrohlichem Ton. »Glaubt die Inquisition, sie habe das Recht, den Großen Vertrag zu verletzen? Oder geht dieser Angriff auf deine Rechnung? Kannst du Karlsbad immer noch nicht vergessen? Wir können unser Gespräch von damals gern fortsetzen, Viteszlav. Hier ist nicht das Rote Bad, aber genug Platz für ein Duell haben wir.«

Eine Sekunde lang zögerte Viteszlav, versuchte, dem Blick Gesers standzuhalten.

Dann kapitulierte er. »Ich bitte um Entschuldigung, Geser. Ich habe nicht geahnt, dass dieser Mensch ein potenzieller Anderer ist. Alles hat auf das Gegenteil hingewiesen… diese Briefe…»

»Und jetzt?«, brüllte Geser.

»Die Inquisition erkennt ihr… ihr voreiliges Verhalten an…«, sagte Viteszlav. »Die Moskauer Nachtwache hat das Recht, diesen… diesen Mann unter ihre Fittiche zu nehmen.«

»Und bei ihm eine Remoralisierung durchzuführen?«, hakte Geser nach. »Um ihn danach so zu initiieren, dass er sich dem Licht zuwendet? »

»Ja…«, flüsterte Viteszlav.

»In diesem Fall können wir den Konflikt als beigelegt betrachten.«Geser lächelte und klopfte Viteszlav auf die Schultern. »Nimm es nicht tragisch. Wir alle machen mitunter Fehler. Die Hauptsache ist doch, dass wir sie wieder korrigieren, oder?«

Eine eiserne Selbstbeherrschung hatte er, dieser alte europäische Blutsauger. »Gewiss, Geser…«, räumte er traurig ein.

»Habt ihr den abtrünnigen Anderen eigentlich geschnappt?«, wollte Geser wissen. Viteszlav schüttelte den Kopf.

»Was gibt denn das Gedächtnis von meinem Söhnchen her…«, fragte Geser laut. Er sah Timur Borissowitsch an, der bereits tipptopp angezogen dastand. »Ei, ei, ei… Oleg Strishenow. Der Filmstar aus den Sechzigern… Was für eine perfide Tarnung!«

»Der Verräter liebt wohl die alten russischen Filme?«, fragte Viteszlav.

»Anscheinend. Ich selbst hätte Innokenti Smoktunowski bevorzugt«, erwiderte Geser. »Oder Oleg Dal. Das ist eine aussichtslose Sache, Viteszlav. Der Verräter hat keine Spuren hinterlassen. »

»Und du hast keine Ahnung, wer er ist?«, fragte Viteszlav.

»Spekulieren könnte ich«, meinte Geser nickend. »In Moskau gibt es Tausende von Anderen. Jeder von ihnen kann eine fremde Gestalt annehmen. Will die Inquisition etwa von jedem einzelnen Anderen Moskaus das Gedächtnis überprüfen?«Viteszlav runzelte die Stirn.

»Eben, das würde nichts bringen«, versicherte Geser. »Ich könnte mich nicht einmal für meine eigenen Mitarbeiter verbürgen, geschweige denn für die Anderen, die nicht in den Wachen arbeiten.«

»Wir werden ihn in einen Hinterhalt locken«, erklärte Edgar. »Und wenn der Verräter erneut auftaucht…«

»Er wird nicht wieder auftauchen«, erklärte Viteszlav müde. »Das ist nicht mehr nötig.«

Lächelnd betrachtete Geser den düster dreinblickenden Vampir. Dann verlosch sein Lächeln mit einem Mal. »Ich bitte euch, die Wohnung meines Sohnes zu verlassen. Zur Unterzeichnung des Protokolls erwarte ich euch im Büro. Heute Abend um sieben Uhr.«

Viteszlav nickte und verschwand. Kurz darauf tauchte er jedoch wieder auf. Leicht konfus.

»Zu Fuß, zu Fuß«, erklärte Geser. »Ich habe das Zwielicht hier geschlossen. Vorsichtshalber.«

Ich tappte den Inquisitoren und Kostja hinterher, der über alle Maßen glücklich war, nach Hause zu können.

»Anton«, rief Geser mir nach. »Vielen Dank. Du hast gute Arbeit geleistet. Komm heute Abend zu mir.«

Ich antwortete nicht. Wir gingen an den noch immer völlig teilnahmslosen Bodyguards vorbei, und ich scannte sorgfältig die Aura desjenigen, der mir verdächtig vorgekommen war. Nein, kein Anderer. Ein Mensch. Lange würde ich jetzt kein Land sehen…

Der in seine Gedanken vertiefte Viteszlav schwieg und überließ Kostja und Edgar den langen Kampf mit den Schlössern. Nur einmal linste er zu mir herüber. »Lädst du mich auf einen Kaffee ein, Wächter?«, fragte er. Ich nickte. Warum eigentlich nicht?

Schließlich hatten wir denselben Fall bearbeitet. Und hatten uns gemeinsam blamiert - ungeachtet aller Lobesworte, die Geser für mich fand.

Sieben

Eine komische Gesellschaft: ein junger Vampir aus der Tagwache, zwei Inquisitoren und ein Lichter Magier.

Und alle saßen wir friedlich in der großen leeren Wohnung, warteten, bis das Wasser in der Mikrowelle heiß war, um löslichen Kaffee aufzubrühen. Ich hatte sogar Kostja erlaubt einzutreten, und jetzt saß er wieder auf dem Fensterbrett, allerdings auf der Innenseite. Nur Viteszlav stand.

»Ich bin nicht mehr an Russland gewöhnt«, sagte er, während er nachdenklich vor dem Fenster auf und ab ging. »Ich bin entwöhnt. Ich erkenne dieses Land nicht wieder.«

»Stimmt, das Land hat sich verändert! Es werden neue Häuser gebaut, neue Straßen…«, setzte ich begeistert an.

»Verschon mich mit deiner Ironie, Wächter«, fiel Viteszlav mir ins Wort. »Das meine ich nicht. Vor siebzig Jahren lebten in eurem Land die diszipliniertesten Anderen. Sogar die Wachen agierten im Rahmen des Zulässigen…»

»Und jetzt lassen alle die Zügel schießen?«, mutmaßte ich. Viteszlav schwieg.

Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Was auch immer er sein mochte, dieser Prager Vampir aus der Inquisition, aber heute hatte man ihn mit Schimpf und Schande durch den Dreck gezogen. Zum ersten Mal hatte ich miterlebt, wie die Inquisition sich blamiert hatte. Sogar Geser hatte sie wohl nicht gefürchtet, aber immer als unüberwindbare Kraft anerkannt.

Und plötzlich trickste er sie aus. Leicht und raffiniert.

Was hatte sich auf der Welt verändert? War die Inquisition zur dritten Partei geworden? War sie nur noch eine der an diesem Spiel beteiligten Seiten? Die Dunklen, die Lichten und die Inquisition? Oder die Dunklen, die Lichten und das Zwielicht?

In der Glaskanne brodelte das Wasser. Ich goss die auf dem Fensterbrett aufgestellten Tassen auf. Stellte Kaffeepulver, Zucker und ein Päckchen Milch bereit.

»Gorodezki, du weißt, dass heute der Große Vertrag verletzt worden ist?«, fragte Viteszlav plötzlich. Ich zuckte mit den Schultern.

»Du brauchst nicht zu antworten«, sagte Viteszlav. »Mir ist auch so klar, dass du es verstanden hast. Jemand aus der Nachtwache hat die Inquisition zu dieser unüberlegten Handlung gedrängt… Und danach hat die Wache das Recht bekommen, diesen einen Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Ich glaube nicht, dass er der Nachtwache einen großen Vorteil bringen wird.«

Das glaubte ich auch nicht. Timur Borissowitsch würde nicht lernen, die Kraft des Zwielichts zu nutzen. Er würde sein langes Leben bekommen, er würde die Möglichkeit haben, kleine magische Tricks zu vollführen, die geheimen Gedanken seiner Geschäftspartner zu lesen, einer Kugel aus dem Weg zu gehen… Das würde ihm genügen. Nun, seine Firma dürfte wohl regelmäßig große Summen auf das Konto der Nachtwache überweisen. Und der Geschäftsmann selbst würde gütiger auftreten, würde wohltätige Einrichtungen unterstützen, für den Unterhalt des Eisbären im Zoo und eines Dutzends Waisenkinder im Heim die Verantwortung übernehmen. Egal. All das war keinen Streit mit der Inquisition wert.

»Gewissenlos«, sagte Viteszlav bitter. »Die Ausnutzung der beruflichen Stellung zu persönlichen Zwecken!«Unwillkürlich schnaubte ich. »Was ist daran so komisch?«, fuhr mich Viteszlav an.

»Ich glaube, Geser hat Recht. Sie sitzen wirklich schon zu lange hinter Ihrem Schreibtisch.«

»Willst du damit behaupten, für dich sei das alles ganz normal?«, fragte Viteszlav. »Es gebe keinen Grund, sich zu empören?«

»Ein Mensch, wenn auch nicht der beste auf der Welt, wird zum Lichten«, erwiderte ich. »Nun fügt er niemandem mehr etwas Böses zu. Im Gegenteil. Weshalb sollte ich mich darüber empören?«

»Lass es, Viteszlav«, riet Edgar mit leiser Stimme. »Gorodezki versteht das nicht. Er ist zu jung.«

Viteszlav nickte und nippte an seinem Kaffee. »Ich habe geglaubt, du würdest dich von dieser ganzen lichten Zunft unterscheiden«, sagte er dann finster. »Dass dir der Kern wichtig ist, nicht die Schale…«

»Ja, mir ist der Kern wichtig, Viteszlav!«, explodierte ich. »Und im Kern bist du ein Vampir! Und du, Edgar, bist ein Dunkler Magier! Ich weiß nicht, worin eurer Meinung nach die Verletzung des Großen Vertrages besteht, aber ich bin sicher, Sebulon wäre nichts zur Last gelegt worden!«

»Lichter Magier…«, brachte Viteszlav widerwillig hervor. »Adept des Lichts… Wir bewahren nur das Gleichgewicht, ist das klar? Und Sebulon müsste sich vor dem Tribunal verantworten, wenn er dergleichen getan hätte!«Doch ich ließ mich jetzt nicht mehr aufhalten.

»Sebulon hat schon viel angerichtet. Er hat versucht, meine Frau zu ermorden. Er hat versucht, mich zu ermorden. Er drängt die Menschen ständig zum Dunkel! Und du behauptest, irgendjemand von uns habe nicht ehrlich gehandelt, habe einen Falschspieler ausgetrickst? Kann schon sein, dass er nicht ehrlich gespielt hat. Aber den Regeln gemäß! Ihr regt euch die ganze Zeit darüber auf, wenn man euch auf euer Falschgeld entsprechend herausgibt… Warum? Das lässt sich doch leicht einwechseln. Lernt endlich, ehrlich zu spielen.«

»Deine und unsere Ehrlichkeit lassen sich nicht vergleichen«, bemerkte Edgar. »Gehen wir, Viteszlav…«

Der Vampir nickte. Stellte seine noch nicht ausgetrunkene Tasse ab.

»Vielen Dank für den Kaffee, Lichter. Ich gebe dir deine Einladung, deine Wohnung zu betreten, zurück.«

Daraufhin verschwanden die beiden Inquisitoren. Nur der schweigsame Kostja blieb noch, der jetzt auf einem Hocker saß und Kaffee trank.

»Moralisten«, sagte ich wütend. »Oder glaubst du auch, dass sie Recht haben?«

»Nein, warum sollte ich?«, meinte Kostja lächelnd. »Sie haben es nicht besser verdient. Es war höchste Zeit, der Inquisition mal ihre Arroganz auszutreiben… Nur schade, dass es Geser war, der das gemacht hat, und nicht Sebulon.«

»Geser hat nichts gemacht«, widersprach ich. »Das hat er geschworen, das hast du doch gehört.«

Kostja zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung, wie er es geschafft hat. Aber das ist seine Intrige. Sebulon hatte gute Gründe, sich nicht einzumischen. Schlau ist er, der alte Fuchs, schlau… Weißt du, was ich mich frage?«

»Na?«, wollte ich angespannt wissen. Kostjas Unterstützung schmeckte mir irgendwie nicht.

»Was ist eigentlich der Unterschied zwischen uns? Wir intrigieren, ziehen die Leute, die wir brauchen, auf unsere Seite. Und ihr macht ganz genau dasselbe. Wenn Geser aus seinem Sohn einen Lichten machen will, dann tut er das. Alle Achtung! Von mir aus, bitte schön.«

Kostja lächelte.

»Was meinst du, wer hatte im Zweiten Weltkrieg Recht?«, wollte ich wissen.

»Was soll die Frage?«Jetzt spannte sich Kostja an, denn er vermutete nicht ohne Grund eine Falle. »Antworte.«

»Wir hatten Recht«, antwortete Kostja patriotisch. »Übrigens haben auch einige Vampire und Tiermenschen mitgekämpft! Zwei haben sogar den Stern des Helden bekommen!«

»Und warum haben ausgerechnet wir Recht? Stalin hätte doch auch am liebsten ganz Europa geschluckt. Wir haben friedliche Städte bombardiert, Museen geplündert, Deserteure erschossen…«

»Aber das waren doch unsere Leute! Deshalb waren sie im Recht!«

»Und jetzt sind unsere Leute im Recht. Und unsere Leute -das sind die Lichten.«

»Das heißt, du empfindest es so«, stellte Kostja klar. »Und deswegen erhebst du keine Einwände?«Ich nickte.

»Ha…«, meinte Kostja verächtlich. »Dann nenn mir wenigstens ein zündendes Argument dafür. »

»Wir trinken kein Blut«, entgegnete ich.

Kostja stellte die Tasse auf den Boden. Erhob sich. »Ich danke dir für die Gastfreundschaft. Ich gebe dir deine Einladung, deine Wohnung zu betreten, zurück.«

Dann blieb ich allein - in der großen leeren Wohnung, in trauter Zweisamkeit mit den nicht vollständig geleerten Tassen, der offenen Mikrowelle und dem verbliebenen Wasser im Kessel…

Warum hatte ich es in der Mikrowelle warm gemacht? Eine einzige Handbewegung - und das Wasser hätte direkt in den Tassen gebrodelt.

Ich holte das Handy heraus und wählte Swetlanas Nummer. Sie meldete sich nicht. Vermutlich ging sie gerade mit Nadjuschka spazieren, hatte das Handy aber wie üblich zu Hause liegen lassen…

In meinem Innern herrschte durchaus nicht diese Unbeschwertheit, die ich vorzutäuschen versucht hatte.

Was machte uns denn nun wirklich zu den besseren Anderen? Intrigierten, kämpften und täuschten wir etwa nicht? Ich brauchte eine Antwort. Wieder mal. Und nicht von dem Schlaukopf Ge-ser, der mich in ein Geflecht aus Worten einzuspinnen verstand. Und nicht von mir selbst, denn ich traute mir nicht mehr. Ich brauchte eine Antwort von einem Menschen, dem ich vertraute.

Und ich musste verstehen, wie Geser die Inquisition ausgetrickst hatte.

Denn wenn er etwas beim Licht geschworen hatte und das eine Lüge war… Wofür kämpfte ich dann?

»Soll doch alles…«, setzte ich an, verstummte dann aber. Du darfst nicht fluchen - das bringt man dir bereits in den ersten Tagen nach der Initiierung bei. Und jetzt hätte ich beinahe die Kontrolle verloren… Soll doch alles… Soll es doch einfach sein.

In dem Moment läutete es an der Tür. Als hätte jemand erraten, dass ich jetzt auf gar keinen Fall allein sein wollte.

»Herein!«, rief ich durchs Zimmer, denn ich erinnerte mich, dass die Tür nicht verschlossen war.

Die Tür ging auf, und Lass steckte den Kopf herein. Mein Nachbar sah sich um.

»Störe ich?«, fragte er. »Nein, komm rein.«

Lass kam ins Zimmer, sah sich um. »So schlimm sieht es hier doch gar nicht aus…«, kommentierte er. »Noch ein Klo… Vielleicht könnte ich mich noch mal hier duschen? Jetzt oder heute Abend… Das war nämlich nicht schlecht.«

Ich steckte die Hand in die Tasche und tastete nach dem Schlüsselbund. Stellte mir vor, wie die Schlüssel anschwollen und sich spalteten… Dann warf ich Lass das neu entstandene Bund zu. »Fang!«

»Warum das?«, fragte Lass, während er die Schlüssel betrachtete.

»Ich muss wegfahren. Du kannst die Wohnung solange nutzen.«

»Wo nun endlich mal ein normaler Mensch hier eingezogen ist«, schmollte Lass. »Das ist echt nicht nett. Fährst du bald weg?«

»Gleich«, antwortete ich. Mit einem Mal war mir klar geworden, wie dringend ich Swetka und Nadja sehen wollte. »Vielleicht komme ich noch mal wieder. »

»Vielleicht aber auch nicht?«Ich nickte.

»Das ist echt nicht nett«, wiederholte Lass und kam auf mich zu. »Ich habe hier bei dir einen MD-Player gesehen… Nimm das.«Ich nahm die kleine Scheibe an mich.

»Kampfprothesen«, erklärte Lass. »Mein Album. Hör sie aber nicht, wenn Frauen und Kinder in der Nähe sind! »

»Gut.«Ich drehte die Scheibe in den Händen. »Vielen Dank.«

»Hast du irgendwelche Probleme?«, fragte Lass. »Entschuldige, ich will mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber du siehst wirklich hundserbärmlich aus…«

»Nein, es ist nichts«, riss ich mich zusammen. »Ich vermisse meine kleine Tochter. Ich fahr jetzt zu ihr… Meine Frau ist mit ihr auf der Datscha, ich hatte hier noch was zu erledigen…«

»Das geht vor«, pflichtete Lass mir bei. »Man darf es einem Kind gegenüber nicht an Aufmerksamkeit mangeln lassen. Obwohl: Dass ihre Mutter bei ihr ist, ist natürlich das Wichtigste.«Ich starrte Lass an.

»Die Mutter ist trotz allem das Wichtigste für ein Kind«, behauptete Lass mit der Miene eines Wigotski, Piaget oder sonstigen Experten für Kinderpsychologie. »Das ist biologisch bedingt. Wir, die Männchen, denken doch in erster Linie an die Weibchen. Und die Weibchen eben an die Kinder.«

In die Wohnung von Timur Borissowitsch ließ man mich ohne Fragen. Die Bodyguards wirkten völlig normal und hatten anscheinend nicht die geringste Vorstellung davon, was hier kürzlich geschehen war.

Geser trank mit seinem frisch gebackenen Sohn Tee im Arbeitszimmer. Das große - fast möchte ich sagen: weitläufige - Arbeitszimmer mit dem massiven Schreibtisch, einem Haufen unnützer Kinkerlitzchen in den Regalen antiker Schränke. Erstaunlich, wie gut sich ihre Geschmäcker vergleichen ließen. Das Arbeitszimmer Timur Borissowitschs glich dem Büro seines Vaters auf ganz bemerkenswerte Weise.

»Komm rein, mein Freund«, lächelte mir Timur Borissowitsch zu. »Siehst du, wie prächtig sich alles gefügt hat.«Er schielte zu Geser hinüber. »Er ist noch jung, hitzköpfig…«, fügte er dann hinzu.

»Das mit Sicherheit«, pflichtete ihm Geser mit einem Nicken bei. »Was ist passiert, Anton?«

»Wir müssen miteinander reden«, sagte ich. »Unter vier Augen.«

Geser seufzte und sah seinen Sohn an. Der erhob sich. »Ich gehe mal zu meinen Kraftbolzen. Was sollen die sich da die Hosen durchsitzen, die brauchen eine Aufgabe.«

Timur Borissowitsch ging hinaus, Geser und ich blieben allein zurück.

»Raus mit der Sprache, was ist passiert, Gorodezki?«, fragte Geser müde. »Können wir offen reden?«

»Ja.«

»Sie wollten nicht, dass Ihr Sohn ein Dunkler wird«, fing ich an. »Das stimmt doch, oder?«

»Würdest du denn zusehen wollen, wie deine Nadjuschka eine Dunkle Zauberin wird?«, antwortete Geser mit einer Gegenfrage.

»Aber Timur wäre unweigerlich zu einem Dunklen geworden«, fuhr ich fort. »Sie brauchten das Recht auf eine Remoralisierung. Deshalb mussten die Dunklen, besser noch die Inquisition in Panik geraten und eine nicht zu rechtfertigende Manipulation an Ihrem Sohn vornehmen…«

»So ist es ja auch gekommen«, sagte Geser. »Also Gorodezki, willst du mir etwas zur Last legen? »

»Nein, ich will das Ganze bloß verstehen.«

»Du warst doch dabei, als ich beim Licht einen Schwur abgelegt habe. Ich habe Timur noch nie zuvor getroffen. Ich habe ihm nichts versprochen, ich habe keine Briefe abgeschickt. Und ich habe niemanden für diese Aufgabe angeworben.«

Nein, Geser rechtfertigte sich nicht. Und versuchte nicht, mich einzulullen. Er legte bloß die Bedingungen der Aufgabe dar und wartete vergnügt, welche Antwort sein Schüler geben würde.

»Viteszlav hätte nur noch eine weitere Frage stellen müssen«, meinte ich. »Doch diese Frage war wohl allzu menschlich für ihn…«

Geser zwinkerte, als probe er ein Nicken. »Seine Mutter«, sagte ich.

»Viteszlav hat seine eigene Mutter umgebracht«, erklärte Geser. »Nicht aus böser Absicht. Er war ein junger Vampir und hatte sich nicht unter Kontrolle. Aber… seit dieser Zeit vermeidet er es, dieses Wort auszusprechen. »

»Wer ist Timurs Mutter? »

»Im Dossier müsste ihr Name stehen.«

»Da kann jeder x-beliebige Name stehen. Es heißt, Timurs Mutter sei bei Kriegsende verschwunden… Aber ich kenne eine Frau, eine Andere, die zu dieser Zeit in einen Vogelkörper gebannt worden ist. Nach dem Dafürhalten der Menschen ist sie gestorben.«Geser schwieg. »Konnten Sie ihn wirklich nicht früher finden?«, fragte ich.

»Wir waren davon überzeugt, dass Timur tot ist«, antwortete Geser leise. »Es war Olga, die sich nicht damit abfinden wollte. Und nachdem sie rehabilitiert worden war, machte sie sich wieder auf die Suche…«

»Sie hat ihren Sohn gefunden. Und ihm das voreilige Versprechen gegeben«, schloss ich.

»Frauen dürfen sich solche Gefühle leisten«, sagte Geser trocken. »Selbst die weisesten Frauen. Aber Männer sind dazu da, ihre Frau, ihr Kind zu verteidigen. Das ist alles sehr rational und überlegt organisiert.«Ich nickte. »Verurteilst du mich?«, wollte Geser neugierig wissen. »Anton?«

»Wer bin ich, Sie zu verurteilen?«, entgegnete ich. »Ich habe selbst eine Tochter, eine Lichte. Und die würde ich auch nicht dem Dunkel überlassen.«

»Danke, Anton.«Geser nickte und entspannte sich merklich. »Ich bin froh, dass du mich verstehst.«

»Ich frage mich nur, wie weit Sie für Ihren Sohn und Olga gegangen wären«, bemerkte ich. »Swetlana hat doch etwas gespürt, nicht wahr? Welche Gefahr hat mir gedroht?«

Geser zuckte mit den Schultern. »Vorgefühle, darauf darf man sich nicht verlassen.«

»Wenn ich beschlossen hätte, der Inquisition die Wahrheit zu sagen…«, fuhr ich fort. »Wenn ich beschlossen hätte, aus der Wache in die Inquisition überzuwechseln… Was wäre dann gewesen?«

»Du bist nicht übergewechselt«, erwiderte Geser. »Obwohl Viteszlav sehr um dich geworben hat. Was noch, Anton? Ich spüre, dass dir noch eine Frage auf der Zunge liegt.«

»Wie kommt es, dass Ihr Sohn ein Anderer ist?«, fragte ich. »Das ist doch ein Glücksspiel. Nur selten bekommen Andere auch ein Kind mit den Anlagen zum Anderen.«

»Anton, entweder gehst du jetzt zu Viteszlav und legst ihm deine Überlegungen dar«, meinte Geser leise, »oder du machst dich auf zu Swetlana, wie du es ohnehin vorhattest. Aber verschon mich mit diesem Verhör.«

»Haben Sie keine Angst, dass die Inquisition noch einmal über alles nachdenkt und Ihnen auf die Schliche kommt?«, fragte ich.

»Nein. In drei Stunden wird Viteszlav ein Dokument unterschreiben, mit dem diese Untersuchung zu den Akten gelegt wird. Sie werden sich den Fall nicht wieder vornehmen. Sie haben sich sowieso schon bis auf die Knochen blamiert.«

»Viel Glück bei der Remoralisierung von Timur«, wünschte ich ihm. Dann ging ich zur Tür.

»Du hast noch eine Woche Urlaub, verbring ihn mit deiner Familie!«, rief Geser mir hinterher.

Erst wollte ich ihm stolz antworten, dass ich auf seine Almosen verzichten könnte.

Gerade noch rechtzeitig besann ich mich jedoch. Welcher Teufel ritt mich jetzt bloß?

»Zwei Wochen«, entgegnete ich. »Allein schon Überstunden habe ich genug, um mir einen ganzen Monat freizunehmen.«Geser hüllte sich in Schweigen.

Epilog

Ich beschloss, den BMW erst nach dem Urlaub zurückzugeben. Schließlich…

Auf der neu angelegten Schnellstraße - früher gab es hier nur Schlaglöcher, verbunden durch einzelne Abschnitte einer Chaussee, jetzt handelte es sich um eine Chaussee, deren einzelne Abschnitte mitunter durch ein Schlagloch unterbrochen wurden - fuhr der Wagen ruhig mit 120 Stundenkilometern dahin. Nicht schlecht, ein Anderer zu sein.

Ich wusste, dass ich in keinen Stau geraten würde. Ich wusste, dass mir kein Kipplaster mit besoffenem Fahrer entgegenkommen würde. Wenn das Benzin ausging, konnte ich Wasser in den Tank füllen und es in Brennstoff verwandeln.

Wer würde seinem Kind nicht ein solches Schicksal wünschen? Hatte ich wirklich das Recht, Geser und Olga zu verurteilen?

Die Stereoanlage des Autos war neu und verfügte über ein MD-Laufwerk. Erst wollte ich die Kampfprothesen einlegen, dann merkte ich aber, dass mir der Sinn nach etwas Lyrischerem stand. Deshalb legte ich Belaja gwardija ein.

Ich weiß nicht, hast du eine Frau,

Und weiß nicht, wie's dir geht;

Ein Engel hat mit Fäden blau

Den Himmel zugenäht.

Vergessen der Verlust, ich geb

Dem Bösen seine Ruh,

Doch immer, wenn ich ausgeh, streb

Ich deiner Wärme zu.

Mein Handy klingelte. Sofort drosselte die kluge Anlage den Ton.

»Sweta?«, fragte ich.

»Ich konnte dich nicht erreichen, Anton.«

Swetlanas Stimme klang ruhig, also war alles in Ordnung.

Nur das zählte.

»Ich konnte dich auch nicht erreichen«, meinte ich.

»Das muss an atmosphärischen Fluktuationen liegen«, amüsierte sich Swetlana. »Was ist vor einer halben Stunde passiert? »

»Nichts Besonderes. Ich habe mit Geser gesprochen. »

»Ist alles in Ordnung? »

»Ja.«

»Ich hatte eine Vorahnung. Dass du dich an einer Grenze bewegst.«

Ich nickte und sah auf die Straße. Klug ist sie, meine Frau, Geser. Auf ihre Vorahnungen kann ich mich verlassen. »Ist jetzt alles in Ordnung?«, hakte ich nach. »Jetzt ja.«

»Sweta…«, fragte ich, während ich das Steuer nur mit einer Hand hielt. »Was würdest du tun, wenn du nicht sicher wärst, ob du dich richtig verhalten hast? Wenn dich die Frage quält, ob du Recht hast oder nicht?«

»Zu den Dunklen gehen«, antwortete Swetlana wie aus der Pistole geschossen. »Die quälen sich nie. »

»Ist das alles, was du mir dazu sagen kannst?«

»Ja, das ist die einzige Antwort, die ich dir geben kann. Das ist der einzige Unterschied zwischen den Lichten und den Dunklen. Man kann ihn Gewissen nennen, man kann ihn moralischen Instinkt nennen. Der Kern ist der gleiche.«

»Ich habe den Eindruck«, gestand ich bedrückt, »als gehe die Zeit der Ordnung zu Ende. Verstehst du, was ich meine? Als begänne… ich weiß nicht, was. Keine dunkle Zeit, keine lichte… und auch nicht die Stunde der Inquisitoren…«

»Das ist die Niemandszeit, Anton«, sagte Swetlana. »Das ist lediglich die Niemandszeit. Du hast Recht, das etwas auf uns zukommt. Dass auf der Welt etwas passiert. Aber noch nicht jetzt.«

»Sprich mit mir, Sweta«, bat ich. »Ich muss noch eine halbe Stunde fahren. Sprich diese halbe Stunde mit mir, ja?«

»Meine Handykarte ist fast alle«, erwiderte Swetlana mit zweifelnder Stimme.

»Ich ruf dich jetzt zurück«, schlug ich vor. »Noch bin ich im Dienst, mein Handy ist von der Firma. Soll doch Geser ruhig dafür zahlen.«

»Und dein Gewissen meldet sich da nicht?«, lachte Swetlana. »Heute ist es gut trainiert.«

»Gut, du brauchst aber trotzdem nicht zurückzurufen, ich verzaubere mein Handy«, meinte Swetlana. Im Spaß oder im Ernst. Nicht immer verstand ich, wann sie einen Scherz machte.

»Dann erzähl mal«, forderte ich sie auf. »Wie es sein wird, wenn ich komme. Was Nadjuschka sagt. Was du sagst. Was deine Mutter sagt. Was wir machen.«

»Alles wird sehr schön werden«, fing Swetlana an. »Ich werde mich freuen, und Nadja auch. Und meine Mutter wird sich freuen…«

Ich fuhr Auto, während ich unter Verletzung all der strengen Vorschriften der Verkehrspolizei das Handy mit einer Hand ans Ohr presste. Auf der Gegenfahrbahn sausten in einem fort Laster an mir vorbei.

Ich lauschte dem, was Swetlana mir erzählte. Aus den Lautsprechern erklang immer noch die leise Frauenstimme:

Kommst du zurück, wird alles anders sein,

Wir müssten uns erkennen.

Kommst du zurück, kannst du mich nicht mehr Frau,

Nicht einmal Freundin nennen.

Kommst du zurück zu mir,

Die dich so sehr geliebt vor allen,

Kommst du zurück, du siehst:

Die Würfel sind schon längst gefallen.

Загрузка...