Dritte Geschichte Niemandskraft

Prolog

Er träumte selten. Momentan schlief er nicht einmal. Und trotzdem kam ihm das alles fast wie ein Traum vor, eine Phantasie, kurz vor dem Aufwachen…

Eine leichte, reine, nahezu kindliche Phantasie… »Treibstoff… Oxydationsmittel… Start…« Der silbrige Körper einer Rakete in leichtem Nebel. Aus den Düsen herausschlagende Flammen.

Jedes Kind träumt davon, Kosmonaut zu werden, bis es dann zum zehnten Mal gefragt wird: »Was möchtest du werden? Kosmonaut?«

Andere hören auf, vom Kosmos zu träumen, sobald sie Andere werden.

Das Zwielicht ist interessanter als fremde Planeten. Die neue Kraft verlockender als der Ruhm des Kosmonauten.

Doch jetzt phantasierte er wieder von einer Rakete - einer alten, plumpen Rakete, die in den Himmel aufstieg. Die Erde zog unter den Füßen oder überm Kopf vorbei. Dicke Fensterscheiben aus Quarzglas. Seltsame Träume für einen Anderen, oder?

Die Erde… der Wolkenschleier… die Lichter in den Städten… die Menschen. Millionen. Milliarden.

Und er, der aus dem Orbit auf sie herunterblickte.

Ein Anderer im Weltall - was könnte es Absurderes geben? Vielleicht ein Anderer im Kampf gegen einen Außerirdischen. Als er einmal einen SF-Film gesehen hatte, war ihm plötzlich der Gedanke gekommen, dass es für die tapfere Ripley allerhöchste Zeit war, ins Zwielicht einzutreten. Und zuzuschlagen, wieder und wieder auf diese behäbigen, hilflosen Mistwesen einzuschlagen.

Bei dem Gedanken hatte er lachen müssen. Es gab keine Außerirdischen.

Aber es gab den Kosmos. Nur dass früher nicht klar war, wozu. Jetzt hatte er es verstanden.

Mit geschlossenen Augen stand er da und hing seiner Phantasie von der kleinen, sich langsam unter ihm drehenden Erde nach.

Jedes Kind träumt davon, ein Riese zu werden - solange es nicht darüber nachdenkt, wozu das nötig ist. Jetzt wusste er alles.

Die Teile des Puzzles passten zusammen. Sowohl seine Vorherbestimmung als Anderer. Als auch sein alberner Traum vom Kosmos.

Wie auch das schmale Buch, gebunden in Menschenhaut, geschrieben in akkurater Schnörkelschrift.

Er hatte das Buch genommen, das direkt auf dem Holzfußboden lag. Die erste Seite aufgeschlagen.

Dort prangten unversehrt die Buchstaben, die eine leichte, aber zuverlässige Magie schützte.

Schon seit langer Zeit erklang diese Sprache nicht mehr auf der Erde. Einen Indologen hätte sie an Sanskrit erinnert, doch nur wenige wussten, was es mit Paisaci auf sich hatte. Ein Anderer indes versteht selbst eine tote Sprache.

»Möge euch der Elefantengesichtige schützen, der mit dem Kopf nickt, ihn nach oben reißt, ihn nach unten drückt, gleich Shiva, wie er auf Uma auf und ab wippt! Und möge Ganapati in mich den süßen Saft der Weisheit gießen!

Mein Name ist Fuaran, ich bin eine Frau aus der ruhmreichen Stadt Kanakapura.

Der Erfüller aller Wünsche und Gatte der Parvati hat mich in den Tagen meiner Jugend reich bedacht, als er mir das Vermögen schenkte, in der Welt der Gespenster zu wandeln. Während in unserer Welt ein Blütenblatt, sich im Winde drehend, von einem blühenden Baum herabsegelt, vergeht in jener Welt ein Tag. Denn das ist ihre Natur. Und es ist in jener Welt dort eine große Kraft verborgen…«Er schloss das Fuaran. Das Herz hämmerte ihm in der Brust. Eine große Kraft!

Ihm aus den Händen einer Hexe zugefallen, die vor fast zweitausend Jahren umgekommen war.

Eine herrenlose, verwahrloste, selbst den Anderen verborgene Kraft. Eine Niemandskraft.

Eins

Kurz nach sieben Uhr morgens fuhr ich am Gebäude der Nachtwache vor. Da ist am wenigsten los - es ist die Zeit zwischen den Schichten. Die Fahnder, die nachts durch die Straßen patrouilliert sind, haben bereits ihren Bericht abgeliefert und sind nach Hause gegangen. Die Mitarbeiter aus dem Innendienst tauchen den Moskauer Gewohnheiten gemäß nicht vor neun auf der Bildfläche auf.

Schichtwechsel gab es auch im Raum der Wachleute. Die Kollegen, die Feierabend machten, unterschrieben irgendwelche Papiere, diejenigen, die den Dienst antraten, warfen einen Blick ins Dienstbuch. Ich begrüßte alle mit Handschlag und betrat ohne die vorgeschriebene Kontrolle das Haus. Eigentlich eine Nachlässigkeit der Wachhabenden - auch wenn sie in erster Linie für Menschen zuständig sind.

Im zweiten Stock hatte der Wachtposten bereits gewechselt. Jetzt schob Garik Dienst, der mir nichts durchgehen ließ: Er betrachtete mich durchs Zwielicht und forderte mich mit einem Nicken auf, das Amulett zu berühren, eine verspielte Hahnendarstellung aus Golddraht. Bei uns hieß das Ding nach dem Zaren in Puschkins Märchen»Gruß dem Dadon«: Theoretisch sollte der Hahn anfangen zu krähen, sobald ein Dunkler ihn berührte. Einige Witzbolde behaupteten sogar, der Hahn würde mit menschlicher Stimme»Widerling!«quäken, wenn er einen Dunklen spürte.

Erst danach lächelte Garik mich zur Begrüßung an und gab mir dir Hand. »Ist Geser in seinem Büro?«, fragte ich.

»Wer weiß das schon?«, antwortete Garik mit einer Gegenfrage.

In der Tat, die Frage hätte ich mir schenken können! Den Hohen Magiern stehen viele Wege offen.

»Hast du nicht noch Urlaub…?«Meine seltsame Frage schien Garik aufmerken zu lassen.

»Ich hab genug vom Urlaub. Wie heißt es doch so schön: Der Montag beginnt…«

»Aber du bist völlig fertig…«, fuhr der Magier immer misstrauischer fort. »Fass den Hahn noch mal an!«

Abermals begrüßte ich Dadon, stand dann unbeweglich da, bis Garik meine Aura mit Hilfe eines ausgebufften Amuletts aus Buntglas kontrolliert hatte.

»Entschuldige«, sagte Garik, als er das Amulett wegsteckte. Verunsichert fügte er hinzu: »Du bist nicht wie sonst.«

»Ich habe mit Swetka in einem Dorf Urlaub gemacht, wo eine alte Hexe aufgetaucht ist«, erklärte ich. »Außerdem eine Horde Werwölfe, die die Gegend unsicher gemacht haben. Ich musste die Wölfe jagen, die Hexe…«Ich winkte ab. »Nach einem solchen Urlaub musst du dich eigentlich krankschreiben lassen.«

»Wenn das so ist«, meinte Garik gleich ruhiger, »reich einen Antrag ein, wir haben anscheinend noch Reserven zur Wiederherstellung der Kraft.«

Erschauernd schüttelte ich den Kopf. »Ich schaff das schon selbst, vielen Dank.«

Ich verabschiedete mich von Garik und ging in den dritten Stock hoch. Blieb vor Gesers Vorzimmer stehen. Klopfte. Als mir niemand antwortete, trat ich ein.

Die Sekretärin war natürlich nicht da, die Tür zu Gesers Arbeitszimmer fest verschlossen. Allerdings blinkte am Kaffeeautomaten fröhlich das Stand-by-Lämpchen, lief der Computer, und sogar der Fernseher brachte ganz leise die Nachrichten. Der Sprecher berichtete, dass ein Sandsturm die amerikanischen Truppen erneut an einer ihrer Friedensmissionen gehindert, einige Panzerwagen umgeworfen und sogar zwei Hubschrauber zum Absturz gebracht habe.

»Außerdem hat er den Soldaten die Fresse poliert und einige gefangen genommen«, fügte ich unwillkürlich hinzu.

Was hatten einige Andere doch für eine komische Angewohnheit beim Fernsehen? Entweder glotzten sie irgendwelche hirnlosen Seifenopern oder die Lügenmärchen in den Nachrichten. Mit einem Wort: Menschen… Mit einem andern Wort: Vieh?

Die sind daran aber nicht schuld. Sie sind schwach und zersplittert. Sie sind Menschen, kein Vieh! Das Vieh sind wir. Die Menschen sind das Gras.

Ich stand da, gestützt auf den Schreibtisch der Sekretärin, und schaute zum Fenster hinaus, in die über der Stadt dahinziehenden Wolken. Warum hängt der Himmel über Moskau so tief? Nirgendwo sonst habe ich einen so tiefen Himmel gesehen… höchstens noch im Moskauer Winter…

»Gras kann man mähen«, ließ sich hinter mir eine Stimme vernehmen. »Oder mit der Wurzel ausreißen. Was gefällt dir besser?«

»Guten Morgen, Chef«, sagte ich und drehte mich um. »Ich habe geglaubt, Sie seien nicht da.«

Geser gähnte. Er trug einen Morgenmantel und Pantoffeln. Unter dem Morgenmantel lugte ein Pyjama hervor.

Niemals hätte ich gedacht, dass der Große Geser einen Pyjama trägt, den Walt Disneys Figuren zieren! Angefangen bei Mickey Maus und Donald Duck bis hin zu Lilo und Stitch. Wie kann ein Großer, der schon Tausende von Jahren alt ist und ohne Probleme fremde Gedanken liest, einen solchen Pyjama tragen!

»Ich habe geschlafen«, erklärte Geser finster. »Ich habe süß und selig geschlafen. Allerdings bin ich erst um fünf Uhr morgens ins Bett gekommen.«

»Entschuldigen Sie, Chef«, sagte ich. Aus irgendeinem Grund kam mir als Anrede bloß»Chef«in den Sinn. »Ist heute Nacht viel los gewesen?«

»Ich habe ein interessantes Buch gelesen«, sagte Geser und setzte den Kaffeeautomaten in Betrieb. »Für mich schwarz mit Zucker, für dich mit Milch und ohne Zucker…»

»Irgendwas Magisches?«, wollte ich wissen.

»Nein, zum Kuckuck, SF von Golowatschew!«, schnaubte Geser. »Ich werde in Rente gehen und ihn fragen, ob er mich als Koautor nimmt, damit wir zusammen Bücher schreiben! Hier, dein Kaffee.«Ich nahm die Tasse und folgte Geser in sein Arbeitszimmer.

Hier empfingen mich noch mehr Kuriositäten als beim letzten Mal. In einem der Schränke tummelten sich jetzt unzählige kleine Mäusefiguren aus Glas, Zinn und Holz, standen Porzellantassen und lagen Stahlmesser. An die Innenwand des Schranks war eine alte Broschüre der Freiwilligen Gesellschaft zur Zusammenarbeit mit Armee, Luftwaffe und Flotte der UdSSR geheftet, auf deren Umschlag eine Jury abgebildet war, die einen Fallschirm begutachtete, daneben lehnte eine einfache Lithographie mit einer grünen Waldlandschaft gegen die Wand.

Aus irgendeinem Grund - mir war absolut nicht klar, aus welchem - ließ mich das an eine Grundschulklasse denken.

An der Decke hing außerdem ein goldfarbener Hockeyhelm, der verblüffend an einen Glatzkopf erinnerte. Im Helm steckten einige Dartpfeile.

Mit einem Blick auf all diese Dinge - die irgendeine wichtige Bedeutung haben mochten, genauso gut aber auch nichts zu bedeuten brauchten - nahm ich in einem der Besuchersessel Platz. Und bemerkte, dass in dem Papierkorb aus Metall ein Buch mit einem bunten Einband lag. Ob Geser wirklich Golowatschew gelesen hatte? Dann beschloss ich, einen Blick drauf zu werfen, und kam zu dem Schluss, dass ich mich geirrt hatte: Da hieß es nämlich Meisterwerke der internationalen Science Fiction.

»Trink deinen Kaffee, morgens muss man das Hirn durchspülen«, brummte Geser immer noch in diesem unzufriedenen Ton. Er selbst trank seinen Kaffee geräuschvoll, schlürfte, und ich dachte schon, wenn ich ihm eine Untertasse und Würfelzucker brächte, würde er auch daraus trinken.

»Ich brauche Antworten auf ein paar Fragen, Chef«, sagte ich. »Auf viele Fragen. »

»Die bekommst du«, meinte Geser nickend.

»Die Anderen sind in magischer Hinsicht viel schwächer als Menschen.«

Geser runzelte die Stirn. »Quatsch. Das ist ein Widerspruch in sich. »

»Aber die magische Kraft der Menschen…«

Geser hob den Finger und drohte mir. »Stopp! Verwechsel jetzt nicht die potenzielle Energie mit der kinetischen!«

Jetzt war die Reihe an mir, mich in Schweigen zu hüllen. Während Geser mit der Tasse in der Hand durchs Arbeitszimmer schritt und geduldig dozierte: »Erstens: Ja, alle Lebewesen sind in der Lage, magische Kraft zu produzieren. Alle Lebewesen, nicht nur Menschen! Sondern auch Tiere, sogar Pflanzen. Ob diese magische Kraft eine physische Grundlage hat? Ob man sie mit wissenschaftlichen Methoden messen kann? Das weiß ich nicht. Möglicherweise wird das niemals irgendjemand herausfinden. Zweitens: Niemand kann die eigene magische Kraft lenken. Sie verteilt sich im Raum, wird vom Zwielicht aufgesaugt, teilweise vom blauen Moos gefressen, teilweise von den Anderen aufgenommen. Verstehst du? Es sind zwei Prozesse: die Ausstrahlung der eigenen magischen Kraft und die Aufnahme fremder. Der erste ist unfreiwillig und nimmt zu, je weiter wir ins Zwielicht eintauchen. Der zweite ist in gewisser Weise ebenfalls für alle typisch, für Menschen und Andere. Ein krankes Kind bittet seine Mutter: »Setz dich zu mir, streich mir über den Bauch!«Die Mutter streichelt es - und der Schmerz verschwindet! Eine Mutter möchte ihrem Kind helfen, und ihre Kraft wirkt zumindest teilweise zielgerichtet. Die so genannten übersinnlichen Menschen - kastrierte Andere, wenn du so willst - können ihre Kraft nicht nur bei ihnen nahe stehenden Menschen einsetzen und nicht nur in einem Zustand psychischer Erregung, sondern auch fremde Menschen heilen oder verfluchen. Die aus ihnen herausströmende Kraft ist bereits stärker geformt. Kein Dampf mehr, aber auch noch kein Eis, sondern Wasser. Drittens: Wir sind die Anderen. Bei uns ist das Gleichgewicht zwischen Abgabe und Aufnahme zugunsten der Absorption verschoben. »

»Was?«, rief ich aus.

»Du hast wohl gedacht, alles sei so einfach wie bei den Vampiren?«Geser lächelte belustigt. »Du glaubst wohl, die Anderen nehmen nur, ohne im Gegenzug etwas zu geben? Nein, wir alle geben die Kraft ab, die wir produzieren. Aber während sich der Prozess von Aufnahme und Abgabe bei einem normalen Menschen in einem dynamischen Gleichgewicht befindet, das nur selten - in Fällen innerer Anspannung - gestört wird, liegen die Dinge bei uns anders. Bei uns ist das Gleichgewicht prinzipiell gestört. Wir schöpfen aus unserer Umwelt mehr, als wir abgeben.«

»Und über die Differenz können wir frei verfügen?«, fragte ich. »Ja?«

»Wir arbeiten mit den Unterschieden zwischen den einzelnen Potenzialen.«Geser drohte mir abermals mit dem Finger. »Es ist nicht wichtig, welche magische Temperatur du hast… Diesen Ausdruck haben früher die Hexen benutzt. Du könntest sehr viel Kraft generieren, aber dann würde das Tempo ihrer Abgabe in einer geometrischen Progression wachsen. Es gibt solche Andere… Sie stecken sogar mehr Kraft als die Menschen in die allgemeine Sparbüchse, nehmen aber auch verstärkt Kraft auf. Diesen Unterschied zwischen den Potenzialen machen sie sich bei ihrer Arbeit zunutze.«

Geser verstummte kurz, um dann selbstkritisch hinzuzufügen: »Das sind allerdings Einzelfälle, das gebe ich zu. Viel öfter bleiben die Anderen hinter den Menschen zurück, wenn es um die Produktion magischer Kraft geht, sind ihnen dafür bei der Aufnahme von Kraft aber ebenbürtig oder überlegen. Dinge wie eine Durchschnittstemperatur bei Kranken gibt es nicht, Anton. Wir sind keine banalen Vampire. Wir sind eben auch noch Spender.«

»Warum klärt uns darüber niemand auf?«, wollte ich wissen. »Warum nicht?«

»Weil wir, simpel betrachtet, eben doch nur fremde Kraft verbrauchen!«, polterte Geser. »Was kreuzt du hier überhaupt in aller Herrgottsfrühe auf? Warum kommst du mir mit diesen wüsten Beschimpfungen? Hach Gottchen, wir verbrauchen die Kraft, die die Menschen erarbeitet haben! Dabei musstest du sie dir sogar schon mal direkt holen! Sie wie ein richtiger Vampir absaugen! Das war nötig, und damals hat dir das auch keine schlaflosen Nächte bereitet! Du bist losgezogen, die Unschuld selbst, und Traurigkeit stand dir auf die edle Stirn geschrieben! Während hinter dir kleine Kinder geweint haben!«Natürlich hatte er Recht. Teilweise.

Doch ich hatte schon lange genug in der Wache gearbeitet, um zu verstehen: Eine Halbwahrheit ist auch eine Lüge. »Lehrer…«, sagte ich leise, worauf Geser zusammenzuckte.

Ich hatte mich genau an dem Tag geweigert, sein Schüler zu sein, als ich mir von den Menschen Kraft holte.

»Was ist, Schüler?«, erwiderte er, indem er mir in die Augen sah.

»Es kommt doch nicht darauf an, wie viel Kraft wir verbrauchen und wie viel wir abgeben«, meinte ich. »Ist das Ziel der Nachtwache, abzugrenzen und zu schützen, Lehrer?«Geser nickte.

»Abzugrenzen und zu schützen bis zu dem Tag, an dem die Moral der Menschen eine bessere ist und neue Andere sich nur noch dem Licht zuwenden?«Abermals nickte Geser. »Und alle Menschen in Andere zu verwandeln?«

»Quatsch.«Geser schüttelte den Kopf. »Wer hat dir diesen Bären aufgebunden? Gibt es auch nur in einem Dokument der Wachen einen solchen Satz? Oder im Großen Vertrag?«

Ich schloss die Augen, um die gehorsam auflodernden Zeilen zu betrachten. » Wir sind die Anderen…«

»Nein, darüber steht nirgends ein Wort«, gab ich zu. »Aber unsere gesamte Ausbildung, all unsere Handlungen… sind so aufgebaut, dass genau dieser Eindruck entsteht. »

»Ein falscher Eindruck. »

»Aber dieser Selbstbetrug ist doch gewollt!«

Geser seufzte schwer. Sah mir in die Augen. »Jeder braucht einen Sinn im Leben, Anton«, sagte er. »Einen höheren Sinn. Sowohl die Menschen als auch die Anderen. Selbst wenn dieser Sinn eine Lüge ist.«

»Aber das ist eine Sackgasse…«, flüsterte ich. »Das ist eine Sackgasse, Lehrer. Wenn wir die Dunklen besiegen…«

»Dann besiegen wir das Böse. Egoismus, Selbstherrlichkeit, Gleichgültigkeit.«

»Aber unsere Existenz an sich, die ist ebenfalls Egoismus und Selbstherrlichkeit. »

»Was hast du für Vorschläge?«, wollte Geser wissen.

Ich schwieg.

»Hast du gegen die operative Arbeit der Wachen etwas einzuwenden? Dagegen, dass wir die Dunklen kontrollieren? Oder den Menschen helfen? Versuchen, das Gesellschaftssystem zu verbessern?«Hier sah ich eine Gelegenheit zur Revanche.

»Was genau haben Sie Arina 1931 übergeben, Lehrer? Als Sie sich mit ihr im Hippodrom getroffen haben?«

»Ein Stück chinesischer Seide«, antwortete Geser gelassen. »Schließlich ist und bleibt sie eine Frau, die gern schöne Kleider trägt… Und die Jahre damals waren schwer. Ein Bekannter aus der Mandschurei hatte mir den Stoff geschickt, und was sollte ich schon damit anfangen… Verurteilst du mich dafür?«Ich nickte.

»Ich bin von Anfang an gegen dieses globale Experiment an Menschen gewesen, Anton«, sagte Geser mit offenem Ekel. »Eine idiotische Idee, die bereits im 19. Jahrhundert ausgeheckt worden ist. Die Dunklen hatten schon ihre Gründe, als sie dem Experiment zugestimmt haben. Es hätte keine positiven Ergebnisse gebracht. Nur Blut, Kriege, Hunger, Repressionen…«

Er verstummte und öffnete polternd eine Schublade seines Schreibtischs. Holte eine Zigarre heraus.

»Aber Russland wäre jetzt ein glückliches Land…«, setzte ich an.

»Bla, bla, bla…«, murmelte Geser. »Nicht Russland, sondern die Eurasische Union. Ein satter sozialdemokratischer Staat. Der gegen die Asiatische Union mit China an der Spitze und die Konföderation englischsprachiger Länder mit den USA vorneweg kämpft. Fünf, sechs lokal begrenzte atomare Konflikte pro Jahr… in Ländern der Dritten Welt. Ein Kampf um Ressourcen, ein Wettrüsten, die schlimmer wären als heute…«

Ich war geschlagen und vernichtet. Am Boden zerstört. Zappelte aber noch. »Arina hat gesagt… eine Stadt auf dem Mond…«

»Ja, sicher«, meinte Geser nickend. »Städte auf dem Mond hätten wir jetzt. Um Basen mit Atomraketen herum. Liest du hin und wieder Science Fiction?«

Ich zuckte mit den Schultern und schielte zu dem Buch im Mülleimer hinüber.

»Das, was die amerikanischen Schriftsteller in den fünfziger Jahren geschrieben haben, das wäre passiert«, erklärte Geser. »Ja, Raumschiffe mit Atomantrieb… militärische. Du musst wissen, Anton, für den Kommunismus in Russland gab es drei Wege. Erstens: Es konnte eine wunderbare, herrliche Gesellschaft entstehen. Doch das widerspricht der Natur der Menschen. Zweitens: Er konnte verkommen und untergehen. Das ist dann ja auch passiert. Drittens: Er konnte die Form einer sozialdemokratischen Gesellschaft skandinavischen Typs annehmen und sich einen großen Teil Europas und Nordafrikas unterwerfen. Leider hätte dieser letzte Weg auch eine Aufteilung der Welt in drei Blöcke bedeutet, die einander gegenüberstehen würden und früher oder später einen Weltkrieg angezettelt hätten. Doch zuvor hätten die Menschen noch von unserer Existenz erfahren und die Anderen entweder vernichtet oder unterjocht. Verzeih, Anton, aber ich bin der Ansicht gewesen, dass Städte auf dem Mond und hundert Wurstsorten im Jahre 1980 diesen Preis nicht wert sind. »

»Dafür ist jetzt Amerika…«

»Du mit deinem Amerika«, blaffte Geser. »Warte bis 2006, dann reden wir noch mal darüber.«

Ich schwieg. Fragte noch nicht einmal, was Geser für das gar nicht mehr so ferne Jahr 2006 vorausgesehen hatte…

»Ich verstehe deine Gewissensqualen«, meinte Geser, während er nach dem Feuerzeug langte. »Es ist doch nicht zu zynisch, wenn ich jetzt rauche?«

»Von mir aus können Sie auch Wodka trinken, Lehrer«, konterte ich.

»Morgens trinke ich keinen Wodka.«Geser steckte sich die Zigarre an und paffte. »Deine Qualen… deine Zweifel… kann ich wirklich gut verstehen. Mir selbst passt die heutige Situation auch nicht. Aber was würde passieren, wenn wir in eine Depression fallen und unsere Arbeit aufgeben würden? Ich werd's dir sagen! Die Dunklen würden nur zu gern die Rolle der Hirten für die menschliche Herde übernehmen! Keine Sekunde würden sie zögern! Freuen würden sie sich, dass sie es am Ende doch noch geschafft haben… Also triff deine Entscheidung. »

»Welche?«

»Du bist doch hergekommen, um den Dienst zu quittieren!«Geser hatte die Stimme erhoben. »Also entscheide dich, ob du in der Wache bleiben willst oder ob dir unsere Ziele nicht licht genug sind.«

»In der Nachbarschaft von Schwarz erscheint Grau weiß«, antwortete ich.

Geser schnaubte. »Was ist mit Arina?«, fragte er etwas ruhiger. »Ist sie entkommen?«

»Ja. Sie hat Nadjuschka als Geisel genommen und von Swetlana und mir verlangt, dass wir ihr helfen.«In Gesers Gesicht zuckte nicht ein Muskel.

»Die alte Vettel hat ihre eigenen Prinzipien, Anton. Sie kann so viel bluffen, wie sie will, aber sie würde sich nie an einem Kind vergreifen. Glaub mir das, ich kenne sie.«

»Und wenn sie die Nerven verloren hätte?«, fragte ich in Erinnerung an die durchlebte Angst. »Die Wachen und die Inquisition sind ihr völlig schnuppe! Sie hat noch nicht mal vor Sebulon Angst.«

»Vor Sebulon vielleicht schon…«, meinte Geser lächelnd. »Ich habe die Inquisition über die Hexe informiert, mich aber auch mit Arina in Verbindung gesetzt. Übrigens absolut offiziell. Das ist alles protokolliert. Was deine Familie angeht, da habe ich die Hexe gewarnt. Und zwar aufs Schärfste.«

Das war neu für mich.

Ich sah Geser in das ruhige Gesicht und wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Arina und mich verbindet eine langjährige, von gegenseitigem Respekt geprägte Beziehung«, erklärte Geser.

»Wie schaffen Sie das?«, wollte ich wissen.

»Was meinst du damit?«, fragte Geser. »Den gegenseitigen Respekt? Weißt du…«

»Jedes Mal, wenn ich zu der felsenfesten Überzeugung gekommen bin, dass Sie ein mieser Intrigant sind, beweisen Sie mir innerhalb von zehn Minuten, dass ich Unrecht habe. Wir sind Parasiten, die die Menschen ausnutzen? - Na, das ist doch nur zu ihrem Besten. Das Land liegt am Boden? - Es könnte noch viel schlimmer sein. Meine Tochter ist in Gefahr gewesen? - Aber nein, sie war so sicher behütet wie der kleine Sascha Puschkin in der Obhut seiner alten Kinderfrau…«

Gesers Blick wurde weicher. »Vor langer, langer Zeit, Anton, da war ich ein schmächtiges Kerlchen mit ewig laufender Nase…«Gedankenversunken sah er durch mich hindurch. »Ja. Schmächtig und verrotzt. Und ich habe mich mit meinen Mentoren gestritten, deren Namen dir nichts sagen werden, denn ich war überzeugt davon, dass sie miese Intriganten sind. Dann haben sie mich vom Gegenteil überzeugt. Jahrhunderte sind vergangen, ich habe selbst Schüler bekommen…«

Er stieß eine Rauchwolke aus und verfiel in Schweigen. Was hätte er auch noch sagen sollen?

Jahrhunderte? Ha! Tausende von Jahren! Und das ist ein ausreichender Zeitraum, um zu lernen, jeden Angriff der eigenen Schützlinge zu parieren. Damit sie, wenn sie vor Empörung kochend zu ihm kommen, voller Liebe und Hochachtung für ihren Chef wieder von dannen ziehen. Erfahrung ist eine gewaltige Kraft. Beängstigender als jede magische.

»Ich würde Sie gern mal ohne Maske sehen, Chef«, sagte ich. Geser lächelte großmütig.

»Sagen Sie mir wenigstens, ob Ihr Sohn wirklich ein Anderer gewesen ist?«, fragte ich. »Oder haben Sie ihn zu einem Anderen gemacht? Ich verstehe ja, dass Sie das Geheimnis nicht preisgeben dürfen, sollen doch ruhig alle glauben…«

Krachend schlug Gesers Faust auf den Tisch. Geser selbst erhob sich. Beugte sich über den Tisch. »Wie oft willst du das Thema noch durchkauen?«, brüllte er. »Ja, Olga und ich haben die Inquisition ausgetrickst, um das Recht auf eine Remoralisation für Timur zu bekommen! Er sollte ein Dunkler werden, was mir nicht gepasst hat! Verstehst du? Wenn du willst, schmier mich bei der Inquisition an! Aber lass mich mit diesem Mist zufrieden!«

Einen Moment lang bekam ich es mit der Angst zu tun. Dann tigerte Geser wieder durchs Zimmer, permanent aus seinen Pantoffeln rutschend und wild gestikulierend. »Man kann aus einem Menschen keinen Anderen machen! Niemals! Unter keinen Umständen! Soll ich dir die Wahrheit über deine Frau und deine Tochter sagen? Olga hat sich in Swetlanas Schicksal eingemischt! Für sie hat sie die zweite Hälfte der Schicksalskreide gebraucht! Doch selbst mit der Schicksalskreide wäre es nicht möglich gewesen, aus deiner ungeborenen Tochter eine Andere zu machen, wenn sie nicht als Andere auf die Welt gekommen wäre! Wir haben sie nur noch stärker gemacht, ihr absolute Kraft gegeben! »

»Ich weiß«, meinte ich nickend. »Woher?«, wunderte sich Geser. »Arina hat das angedeutet.«

»Sie ist eine kluge Frau«, sagte Geser. Dann erhob er abermals die Stimme. »Das reicht! Jetzt weißt du alles, was dieses Thema angeht! Ein Mensch kann kein Anderer werden. Mit Hilfe sehr starker Artefakte kann man ihn im Anfangsstadium oder noch früher stärker oder schwächer machen, ihn zum Licht oder zum Dunkel bringen… In einem eng gesteckten Rahmen, Anton! Wenn der kleine Jegor nicht von Anfang an neutral gewesen wäre, hätten wir die Initiierung durch die Dunklen nicht rückgängig machen können. Wenn deine Tochter nicht als Große Zauberin hätte auf die Welt kommen sollen, hätten wir sie nicht zur Allergrößten machen können! Um ein Gefäß mit Licht oder Dunkel zu füllen, muss es erst mal da sein, dieses Gefäß! Von uns hängt ab, was hineingegossen wird, aber das Gefäß selbst können wir nicht herstellen! Wir müssen uns mit Kleinigkeiten, mit den geringsten Kleinigkeiten begnügen! Und du glaubst, man könne einen Menschen in einen Anderen verwandeln!«

»Boris Ignatjewitsch…«Ich wusste selbst nicht, warum ich Geser mit seinem russischen Namen ansprach. »… entschuldigen Sie, wenn ich Unsinn rede. Aber ich kann einfach nicht verstehen, warum Sie Timur nicht schon früher gefunden haben. Schließlich ist er der Sohn von Ihnen und Olga! Und Sie sollen ihn nicht gespürt haben? Selbst wenn Sie räumlich getrennt gewesen sind?«

In dem Moment knickte Geser überraschend ein. Auf seinem Gesicht spiegelten sich zugleich ein Schuldgefühl und Verzweiflung wider.

»Anton, ich mag ja ein alter Intrigant sein…«Er verstummte. »Aber du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich meinen Sohn in einem Waisenhaus hätte aufwachsen lassen? In Armut und Leid? Glaubst du etwa, ich würde nicht auch gern ein bisschen Wärme und Zärtlichkeit genießen? Mich als Mensch fühlen? Mein Baby wiegen, mit meinem kleinen Sohn zum Fußball gehen, meinem heranwachsenden Jungen das Rasieren beibringen und den jungen Mann in die Wache aufnehmen? Nenn mir nur einen Grund, warum ich hätte zulassen sollen, dass mein Sohn allein in der Fremde lebt und alt wird? Bin ich ein schlechter Vater? Ein herzloser Kerl? Vielleicht. Aber warum hätte ich dann einen Anderen aus ihm machen sollen? Warum hätte ich mir diese Probleme aufhalsen sollen?«

»Aber warum haben Sie ihn nicht früher gefunden?«, konterte ich.

»Weil er bei seiner Geburt ein stinknormaler Junge war! Ohne die geringsten Anlagen zum Anderen! »

»Das könnte sein«, sagte ich unsicher.

»Du kannst dir das nicht vorstellen?«, fragte Geser. »Siehst du, ich auch nicht… Andererseits hätte ich in Timur die Kraft spüren müssen! Da war aber keine…«

Er breitete die Arme aus. Setzte sich. »Aber schreib nicht mir diese Heldentat zu«, murmelte er. »Ich kann aus einem Menschen keinen Anderen machen.«Geser verstummte. Um mit einem Mal aufgewühlt hinzuzufügen: »Aber du hast Recht. Ich hätte ihn früher spüren müssen! Man kann in einem fremden Menschen erst im Alter den Anderen erkennen. Aber in dem eigenen Sohn? Den du auf deinen Armen gehalten hast? In dem du unbedingt den Anderen erkennen willst? Ich weiß nicht. Seine Anlagen müssen zu schwach gewesen sein… oder ich einfach zu blöd. »

»Es gibt noch eine Variante«, brachte ich unsicher hervor.

Geser sah mich von unten herauf an und zuckte mit den Schultern. »Varianten gibt es immer mehr als eine. Was meinst du genau?«

»Irgendjemand kann Menschen in Andere verwandeln. Und dieser Jemand hat Timur gefunden und zu einem potenziellen Anderen gemacht. Danach haben Sie ihn dann gespürt…»

»Olga hat ihn gespürt«, brummte Geser.

»Gut, Olga. Dann haben Sie angefangen zu handeln. Sich überlegt, wie Sie die Inquisition und die Dunklen täuschen. Dabei sind Sie es, der getäuscht worden ist.«Geser schnaubte.

»Nehmen Sie doch wenigstens für einen Augenblick an, dass man einen Menschen in einen Anderen verwandeln kann!«, bat ich.

»Und weshalb sollte jemand das getan haben?«, fragte Geser. »Ich bin bereit, alles zu glauben, wenn du mir die Gründe dafür nennst. Wollte man Olga und mich in irgendwas hineinreiten? Das kann nicht sein. Schließlich ist alles reibungslos über die Bühne gegangen.«

»Ich weiß es nicht«, gab ich zu. Und während ich aufstand, fügte ich rachsüchtig hinzu: »Aber ich an Ihrer Stelle würde mich noch nicht zurücklehnen. Sie sind daran gewöhnt, dass Ihre Intrige immer die raffinierteste ist. Aber es gibt immer mehr als eine Variante.«

»Kluger Junge…«Geser verzog das Gesicht. »Geh jetzt zu Sweta… Nein, warte.«

Er steckte die Hand in die Tasche seines Morgenmantels und holte sein Handy heraus. Das klingelte nicht, vibrierte aber nervös.

»Ich mach's kurz…«, meinte Geser, während er mir zunickte. »Hallo«, sagte er dann ins Mobiltelefon, bereits mit seiner Telefonstimme.

Taktvoll ging ich zu den Schränken und guckte mir den magischen Nippes an. Gut, die Figuren von Ungeheuern dürften der Anrufung von Monstern dienen. Zum Beispiel. Aber wofür war die Peitsche nötig? War das eine Art Geißel des Schaab?

»Wir sind gleich da«, meinte Geser knapp. Dann klappte er sein Handy zu. »Anton!«

Als ich mich zu Geser umdrehte, war er gerade mit dem Umziehen fertig. Er hatte sich einfach mit den Händen über den Körper gestrichen, worauf Morgenmantel samt Pyjama Farbe und Stoff änderten, sich in einen streng geschnittenen grauen Anzug verwandelten. Mit einer letzten Handbewegung legte Geser eine Krawatte um seinen Hals. Bereits komplett mit strengem Windsorknoten. All das war keine Illusion, sondern Geser hatte tatsächlich einen Anzug aus seinem Pyjama gemacht.

»Wir müssen eine kleine Reise machen, Anton… In das Häuschen dieser bösen Zauberin.«

»Ist sie gefasst worden?«, fragte ich, wobei ich versuchte, mir über meine Gefühle klar zu werden. Ich trat an Geser heran.

»Nein, schlimmer. Gestern Abend ist im Zuge einer Hausdurchsuchung bei Arina ein Geheimversteck entdeckt worden.«Geser fuchtelte mit der Hand, worauf in der Luft ein Portal entstand. »Es sind schon… ein paar Leute da«, fügte er nebulös hinzu. »Gehen wir. »

»Was war in dem Versteck?«, rief ich.

Aber Gesers Hand schubste mich bereits in das weiße leuchtende Oval hinein. »Geh in Position«, vernahm ich seinen Rat.

Der Weg durch ein Portal braucht seine Zeit. Mal Sekunden oder Minuten, manchmal auch Stunden. Das hängt nicht von der Entfernung ab, sondern von der Präzision der Einstellung. Ich wusste nicht, wer das Portal in Arinas Haus geöffnet hatte, ich wusste auch nicht, wie lange ich in der milchweißen Leere bleiben musste.

Ein Geheimversteck in Arinas Haus. Ja und? Jeder Andere konnte in seinem Haus ein Versteck für magische Gegenstände anlegen.

Was hatte Geser so beunruhigt? Denn ich war überzeugt davon, dass der Chef beunruhigt und irritiert war - zu steinern und gelassen wirkte seine Miene!

Aus irgendeinem Grund stellte ich mir fürchterliche Dinge vor, zum Beispiel Kinderleichen im Keller. Das würde Gesers Panik erklären, der so überzeugt gewesen war, dass Arina Nad-juschka nicht angerührt hatte! Aber nein, das konnte nicht sein…

Mit diesem Gedanken stürzte ich aus dem Portal, mitten hinein in das kleine Zimmer. Da waren in der Tat reichlich viele Leute.

»Aus dem Weg!«, schrie Kostja und packte mich bei der Hand. Ich hatte kaum einen Schritt zur Seite getan, als Geser aus dem Portal trat.

»Ich grüße dich, Großer«, sagte Sebulon erstaunlich freundlich, ganz ohne seine sonstige Gehässigkeit.

Ich blickte mich um. Sechs unbekannte Inquisitoren, in Kitteln, die Kapuzen auf dem Kopf, alles so, wie es sich gehört. Edgar, Sebulon und Kostja - das war nicht weiter verwunderlich. Aber Swetlana! Voller Angst sah ich sie an, doch zu meiner Beruhigung schüttelte sie sofort den Kopf. Mit Nadja war also alles in Ordnung. »Wer leitet die Untersuchung?«, fragte Geser.

»Ein Triumvirat«, antwortete Edgar knapp. »Ich von der Inquisition, Sebulon von den Dunklen und…«Er sah Swetlana an. »… wen ihr bestimmt.«

»Ich«, nickte Geser. »Vielen Dank, Swetlana. Ich weiß das sehr zu schätzen.«

Erklärungen brauchte ich nicht. Was auch immer hier geschehen war, Swetlana war als erste Lichte eingetroffen - und hatte im Namen der Nachtwache gehandelt. Der Dienst hatte sie zurück, wenn man so wollte. »Sollen wir Sie informieren?«, fragte Edgar. Geser nickte.

»Und Gorodezki?«, fragte Edgar.

»Bleibt bei mir.«

»Das ist Ihr gutes Recht.«Edgar nickte mir zu. »Also, wir haben es hier mit einem außergewöhnlichen Zwischenfall zu tun…«Warum verständigte er sich mit Worten?

Ich versuchte Swetlana danach zu fragen, streckte mich gedanklich nach ihr aus…

Und schlug gegen eine blinde Mauer.

Die Inquisition hatte die Gegend blockiert. Deshalb hatte man Geser angerufen, statt sich telepathisch mit ihm in Verbindung zu setzen. Worum es hier auch gehen mochte, sollte geheim bleiben. Die nächsten Worte Edgars bestätigten meinen Gedanken.

»Da das, was hier geschehen ist, strengster Geheimhaltung unterliegt«, sagte Edgar, »bitte ich alle Anwesenden, ihren Schutz aufzugeben und sich für die Markierung mit dem Straffeuer bereitzuhalten.«

Ich schielte zu Geser hinüber, der bereits sein Hemd aufknöpfte. Sebulon, Swetlana, Kostja und sogar Edgar - alle entkleideten sich!

Ich fand mich damit ab und zog meinen Pullover aus. Kriegte also auch ich jetzt das Straffeuer…

»Wir, die hier Anwesenden, schwören, niemals irgendwo jemanden darüber zu informieren, was wir im Zuge der Untersuchung dieses Vorfalls in Erfahrung bringen, abgesehen vom obersten Tribunals der Inquisition als einziger Ausnahme«, sagte Edgar. »Ich schwöre!«

»Ich schwöre«, sagte Swetlana und fasste mich bei der Hand.

»Ich schwöre«, flüsterte ich.

»Ich schwöre, ich schwöre, ich schwöre…«, erklang es von allen Seiten.

»Wenn ich dieses Geheimnis preisgebe, möge mich die Hand des Straffeuers vernichten!«, schloss Edgar.

Seine Finger loderten in blendend roten Strahlen auf. In der Luft schien der brennende Abdruck einer Hand zu hängen, die in einzelne Schichten zerfiel, um flackernd zwölffach auf uns zuzukommen. Sehr langsam - und nichts jagte mir eine derartige Angst ein wie diese Bedächtigkeit.

Als Ersten berührte das Zeichen des Straffeuers Edgar selbst. Das Gesicht des Inquisitors verzog sich, auf seiner Haut leuchteten für einen kurzen Moment noch weitere solcher glutroten Abdrücke auf. Offenbar tat das weh…

Geser und Sebulon nahmen die Einbrennung des Zeichens stoisch hin. Wenn meine Augen mich nicht täuschten, überzog bereits ein dichtes Netz dieser Zeichen ihren Körper. Einer der Inquisitoren winselte auf. Offenbar tat das sehr weh…

Dann kam ich an die Reihe und begriff, dass ich mich geirrt hatte. Das tat nicht sehr weh - das war unerträglich! Als ob man mich mit einem glühenden Brandeisen kennzeichnete. Und mich dabei nicht nur an einer Stelle brandmarkte, sondern das Feuer durch meinen ganzen Körper jagte.

Sobald sich der blutige Schleier vor meinen Augen gehoben hatte, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, dass ich mich - im Gegensatz zu zwei Inquisitoren - immer noch auf den Beinen hielt.

»Und da heißt es, eine Geburt sei schmerzhaft…«, sagte Swetlana leise, während sie ihre Bluse zuknöpfte. »Ha…«

»Ich möchte daran erinnern… Wenn das Zeichen zum Einsatz kommt, wird es weitaus schmerzhafter sein…«, murmelte Edgar. In den Augen des Dunklen standen Tränen. »Das ist zum Wohle der Allgemeinheit.«

»Genug der schönen Worte!«, unterbrach ihn Sebulon. »Wenn du hier nun schon mal das Sagen hast, dann benimm dich auch entsprechend.«In der Tat, wo war Viteszlav? War er trotz allem nach Prag abgeflogen?

»Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollten«, meinte Edgar, der immer noch ein gequältes Gesicht machte. Dann ging er zur Wand.

Ein Geheimversteck kann man auf verschiedene Weise anlegen. Ganz banal als magisch maskierten Safe in der Wand, aber auch im Zwielicht, gesichert durch etliche mächtige Zauber.

Dieses Versteck war recht originell. Als Edgar in die Wand schlüpfte, tat sich vor ihm für einen kurzen Moment ein schmaler, irgendwie nicht für einen Menschen gedachter Spalt auf. Sofort erinnerte ich mich an Jene heimtückische und komplizierte Methode, diese Mischung aus Magie der Illusion und Magie der Verschiebung. Aus einem begrenzten Raum, zum Beispiel aus einem Zimmer, wird ein Stück entfernt - hier schmale Streifen aus der Wand - und magisch zu einer einzigen»Kammer«verbunden. Eine recht komplizierte und gefährliche Sache, aber Edgar trat ruhig in das Geheimversteck ein.

»Alle passen da nicht rein«, murmelte Geser und schielte zu den Inquisitoren hinüber. »Wenn ich es richtig verstanden habe, sind Sie bereits drinnen gewesen? Dann können Sie jetzt warten.«

In der Sorge, man könne auch mich zurückhalten, machte ich einen Schritt nach vorn - und die Wand öffnete sich gehorsam vor mir. Die Verteidigungszauber waren bereits durchbrochen.

Die Kammer erwies sich als gar nicht so klein: drei mal drei Meter, mindestens. Darin gab es sogar ein Fenster, das ebenfalls aus Stücken der übrigen Fenster»zusammengeschnitten«worden war. Durch das Fenster ließ sich eine phantasmagorische Landschaft erkennen: ein Waldstreifen, ein halber Baum, ein Fetzen Himmel - alles völlig chaotisch miteinander kombiniert.

Es gab in der Kammer aber noch etwas, das weit größere Aufmerksamkeit verdiente.

Ein guter Anzug aus festem grauen Stoff, ein schickes Hemd (weiß, aus Seide, mit Spitze am Kragen und an den Manschetten), eine elegante Krawatte (silbergrau mit einem rot glänzenden Streifen), ein Paar herrlicher schwarzer Lederschuhe, aus denen weiße Socken hervorlugten. All das lag mitten in der Kammer auf dem Boden. Im Anzug würde sich mit Sicherheit seidene Unterwäsche mit handgesticktem Monogramm finden.

Allerdings verspürte ich nicht den Wunsch, in der Kleidung des Hohen Vampirs Viteszlav herumzuwühlen. Denn die homogene graue Asche in der Kleidung und um sie herum - das war alles, was von dem Inspektor des Europabüros der Inquisition noch übrig war.

Swetlana, die die Kammer nach mir betreten hatte, seufzte nur und nahm mich bei der Hand. Geser grunzte finster. Sebulon seufzte, anscheinend sogar aufrichtig.

Kostja, der als Letzter hereinkam, brachte keinen Laut heraus. Sondern stand wie angewurzelt da und betrachtete die traurigen Überreste seines Artgenossen.

»Wie Sie verstehen, meine Herren«, sagte Edgar leise, »ist das, was hier geschehen ist, schon an sich grauenvoll. Ein Hoher Vampir ist ermordet worden. Schnell und ohne jede Kampfspuren. Ich vermute, dass selbst den verehrten Hohen, die hier anwesend sind, das nicht möglich wäre.«

»Die hier anwesenden Hohen sind nicht so dumm, einen Mitarbeiter der Inquisition anzugreifen«, presste Geser angewidert heraus. »Sollte die Inquisition jedoch auf einer Überprüfung bestehen…«

Edgar schüttelte den Kopf. »Nein. Gerade weil ich nicht den geringsten Verdacht gegen Sie hege, habe ich Sie hierher gerufen. Bevor ich das Europabüro in Kenntnis setze, hielt ich es für angebracht, Ihren Rat einzuholen. Schließlich ist das hier das Territorium der Moskauer Wachen.«

Sebulon hockte sich neben die Überreste, nahm ein wenig Asche auf, rieb sie zwischen den Fingern, roch daran und berührte sie anscheinend sogar mit der Zunge. Mit einem Seufzer erhob er sich. »Viteszlav…«, murmelte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, wer ihn umgebracht haben könnte. Ich würde…«Er zögerte. »… ich würde es mir dreimal überlegen, bevor ich mich auf einen Kampf mit ihm einließe. Und Sie, Kollege?«

Er sah Geser an. Der ließ sich mit der Antwort Zeit, sah sich die Asche mit der Begeisterung eines jungen Naturwissenschaftlers an. »Geser?«, fragte Sebulon.

»Ja, ja…«, meinte Geser nickend. »Ich hätte es gekonnt. Ehrlich gesagt, hatten wir schon die Gelegenheit… es gab da verschiedentlich Missverständnisse. Aber so schnell… und so sauber…«Geser breitete die Arme aus. »Nein, das hätte ich nicht geschafft. Leider nicht. Man könnte fast neidisch werden.«

»Das Siegel«, erinnerte ich vorsichtig. »Vampire bekommen bei einer temporären Registrierung ein Siegel…«

Edgar sah mich an, als rede ich Unsinn. »Aber nicht die Mitarbeiter der Inquisition.«

»Und nicht die Hohen Vampire!«, fügte Kostja streitlustig hinzu. »Das Kleinvieh kriegt ein Siegel, das sich nicht unter Kontrolle hat, Vampire und Tiermenschen in ihrer Lehrzeit.«

»Eigentlich wollte ich schon lange die Frage zur Diskussion stellen, ob wir diese diskriminierende Behandlung nicht abschaffen«, warf Sebulon ein. »Vampire und Tiermenschen sollten kein Siegel bekommen, sobald sie den zweiten, besser noch den dritten Grad erlangt haben.«

»Lass uns noch die Registrierung bei der jeweils andern Wache am Wohnort abschaffen«, schlug Geser amüsiert vor.

»Schluss mit dem Streit!«, ließ sich Edgar in überraschend herrischem Ton vernehmen. »Gorodezkis Unwissenheit ist kein Grund, hier einen Disput vom Zaun zu brechen! Außerdem… ist das Ende der Existenz des Vampirs Viteszlav noch nicht das schlimmste.«

»Was könnte denn noch schlimmer sein als ein Anderer, der spielend einen Hohen umbringt?«, fragte Sebulon.

»Das Fuaran«, antwortete Edgar nur. »Das Fuaran, dessentwegen er ermordet worden ist.«

Zwei

Sebulon grinste. Die Worte Edgars, das war nicht zu übersehen, nahm er auch nicht ansatzweise für bare Münze.

Geser wiederum schien wütend zu werden. Kein Wunder. Erst war ich ihm mit dem Fuaran gekommen, jetzt der Inquisitor.

»Verehrter… europäischer Inquisitor.«Nach kurzem Zögern hatte der Chef doch noch eine in Maßen bösartige Anrede gefunden. »Ich interessiere mich nicht weniger als Sie für Mythologie. Unter Hexen sind die Erzählungen über das Fuaran sehr verbreitet, aber wir sind uns doch wohl einig, dass dies nur ein Versuch ist, der eigenen… Kaste mehr Glanz zu verleihen. Vergleichbare folkloristische Erzählungen sind auch bei Werwölfen, Vampiren und sonstigen Anderen in Umlauf, deren Schicksal es ist, eine untergeordnete Rolle in unserer Gemeinschaft zu spielen. Doch wir stehen hier vor einem realen Problem und sollten uns nicht im Dickicht alten Aberglaubens verlieren…«

»Ich verstehe Ihren Standpunkt, Geser«, unterbrach Edgar ihn. »Aber die Sache ist die, dass Viteszlav sich vor zwei Stunden mit mir in Verbindung gesetzt hat, indem er mich auf meinem Handy angerufen hat. Er hatte Arinas Sachen überprüft und war dabei unversehens über das Geheimversteck gestolpert. Kurz gesagt… Viteszlav war völlig aufgelöst. Er hat behauptet, im Versteck liege das Fuaran. Und dass es echt sei. Ich… muss zugeben, dass ich das Ganze mit Skepsis aufgenommen habe. Viteszlav ließ sich leicht beeindrucken.«

Geser schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ich bin nicht sofort hergekommen«, fuhr Edgar fort. »Vor allem weil Viteszlav gesagt hatte, dass er Mitarbeiter der Inquisition aus der Absperrung abziehen werde. »

»Hat er denn vor etwas Angst gehabt?«, fragte Sebulon scharf.

»Viteszlav? Ich glaube, vor nichts Konkretem. Das ist einfach die übliche Prozedur, wenn derart starke Artefakte entdeckt werden. Ich hatte gerade die Überprüfung der Posten beendet und mit Konstantin gesprochen, als unsere Mitarbeiter uns darüber informierten, dass sie sich um das Haus herum aufgestellt hätten, Viteszlavs Anwesenheit aber nicht spürten. Daraufhin habe ich sie angewiesen, ins Haus zu gehen. Sie haben mir mitgeteilt, dass im Haus niemand sei. Das hat mich…«Edgar stockte. «… leicht irritiert. Warum sollte sich Viteszlav vor seinen Kollegen verstecken? Ich habe mir Kostja geschnappt, und wir beide sind so schnell wie möglich hergekommen. Es hat etwa vierzig Minuten gedauert, denn wir wollten nicht durchs Zwielicht gehen, da wir möglicherweise all unsere Kraft brauchen würden. Und unsere Kollegen konnten für uns kein ordentliches Portal aufhängen, da es hier nur so von magischen Artefakten strotzt…»

»Verstehe«, sagte Geser. »Weiter.«

»Das Haus war abgeriegelt worden, zwei Mitarbeiter hatten drinnen Posten bezogen. Zusammen mit diesen beiden haben wir das Geheimversteck betreten und dort die Überreste von Viteszlav entdeckt.«

»Wie lange ist Viteszlav ohne Schutz gewesen?«, erkundigte sich Geser. Immer noch ungläubig, doch jetzt zumindest mit einem Anflug von Interesse.

»Etwa eine Stunde.«

»Und dann haben die Inquisitoren noch vierzig Minuten lang seine Leiche bewacht. Sie sind zu sechst gewesen, alle vierte und dritte Kraftstufe.«Geser runzelte die Stirn. »Ein starker Magier hätte an ihnen vorbeigehen können.«

»Wohl kaum.«Edgar schüttelte den Kopf. »Ja, sie stehen auf der vierten und dritten Stufe, nur Roman schafft es mitunter, wenn er sich anstrengt, auf die zweite. Aber sie sind mit unseren Wachamuletten ausgerüstet. Selbst ein Großer wäre nicht an ihnen vorbeigekommen.«

»Also muss der Mörder vor ihnen hier gewesen sein, oder? »

»Vermutlich«, gab Edgar ihm Recht.

»Und zwar ein Magier, der relativ stark sein muss, damit er einen Hohen Vampir so schnell ermorden kann…«, Geser schüttelte den Kopf. »Ich habe nur einen Kandidaten.«

»Die Hexe«, murmelte Sebulon. »Wenn sich das Fuaran tatsächlich in ihrem Besitz befand, dann könnte sie deswegen zurückgekehrt sein.«

»Erst lässt sie es hier, und dann kommt sie deswegen zurück?«, rief Swetlana aus. Mir war klar, dass sie versuchte, Arina zu verteidigen. »Das ist unlogisch!«

»Anton und ich haben sie verfolgt«, antwortete Edgar treuherzig. »Sie ist in Panik davongerannt. Offenbar ist sie jedoch nicht gleich geflohen, wie wir angenommen haben, sondern hat sich in der Nähe versteckt. Als Viteszlav das Buch gefunden hat, hat sie das gespürt und es mit der Angst zu tun bekommen.«

Geser blickte Swetlana und mich finster an. Sagte aber kein Wort.

»Vielleicht ist Viteszlav ja auch ohne Fremdverschulden gestorben«, ließ Swetlana nicht locker. »Er hat das Buch gefunden, hat versucht, einen der darin beschriebenen Zauber zu wirken… und ist gestorben. Solche Fälle hat es schließlich bereits gegeben!«

»Ach ja«, höhnte Sebulon. »Und in der Zwischenzeit sind dem Buch Beinchen gewachsen, und es ist weggelaufen.«

»Selbst diese Version würde ich nicht ausschließen.«Jetzt ergriff Geser Swetlanas Partei. »Vielleicht sind ihm ja welche gewachsen. Vielleicht ist es ja weggelaufen.«

Stille senkte sich herab, und in dieser Stille erschall Sebulons Lachen besonders laut. »Köstlich! Glauben wir jetzt also an das Fuaran?«

»Ich glaube daran, dass jemand mühelos einen Hohen Vampir ermordet hat«, sagte Geser. »Und dieser Jemand fürchtet weder die Wachen noch die Inquisition. Allein deswegen sollte der Fall schnell und gründlich untersucht werden. Meinen Sie nicht auch, Kollege?«Gegen seinen Willen musste Sebulon nicken.

»Gehen wir doch mal einen Moment lang davon aus, dass das Fuaran tatsächlich hier aufbewahrt worden ist…«Geser schüttelte den Kopf. »Dass alle Gerüchte über dieses Buch stimmen…«Sebulon nickte erneut.

Die beiden Großen erstarrten. Sahen einander an. Vielleicht, um sich mit Blicken zu messen, vielleicht, um ungeachtet sämtlicher Schutzmaßnahmen irgendein magisches Gespräch zu führen.

Ich ging zu den Überresten des Vampirs und hockte mich hin. Ein unangenehmer Typ. Selbst für einen Vampir. Und trotzdem einer von uns. Ein Anderer.

Hinter mir brummte Edgar etwas von der Notwendigkeit, neue Leute anzufordern und davon, dass es jetzt lebenswichtig geworden sei, Arina zu fangen. Diesmal würde die Hexe nicht entkommen. Die Verletzung des Großen Vertrages - mochte sie auch noch so schwerwiegend sein, so war sie doch immerhin recht lange her - war eine Sache. Der Mord an einem Inquisitor eine andre.

Und alle Fakten sprachen gegen sie. Wer sonst wäre so stark, einen Hohen Vampir abzumurksen?

Trotzdem glaubte ich aus irgendeinem Grund nicht an Arinas Schuld…

Viteszlavs Überreste riefen nicht den geringsten Ekel in mir hervor. Vielleicht, weil ihnen so gar nichts Menschliches anhaftete und selbst Knochen völlig fehlten. Graue Asche, ähnlich der von einer feucht gewordenen Zigarette, die die Form bewahrt hatte, aber eine absolut homogene Struktur aufwies. Ich berührte etwas, das vage an eine geballte Faust erinnerte - und wunderte mich nicht im Geringsten, als die Asche zerfiel und ein zerknülltes weißes Blatt freigab.

Grabesstille senkte sich herab. Da niemand Einwände erhob, nahm ich das Blatt, drehte es um und las es. Erst danach schaute ich die Magier an.

Alle hatten so angespannte Gesichter, als erwarteten sie zu hören: »Viteszlav hat vor seinem Tod den Namen seines Mörders aufgeschrieben… Sie waren es!«

»Das hat nicht Viteszlav geschrieben«, sagte ich. »Das ist Arinas Handschrift. Sie hat mir eine Erklärung geschrieben…»

»Lies vor«, verlangte Edgar.

»An die Herren Inquisitoren!«, las ich laut. »Wenn Sie das lesen, heißt das, Sie haben sich an Vergangenes erinnert und geben keine Ruhe. Ich schlage Ihnen vor, die Angelegenheit friedlich beizulegen. Sie bekommen das Buch, das Sie suchen. Ich bekomme eine Begnadigung.«

»Sie haben also danach gesucht?«, fragte Geser in sehr ruhigem Ton.

»Die Inquisition sucht alle Artefakte«, erwiderte Edgar gelassen. »Auch die, die als mythisch eingestuft werden. »

»Wäre sie begnadigt worden?«, fragte Swetlana plötzlich.

Missmutig sah Edgar sie an. »Wenn das Fuaran hier gewesen wäre?«, meinte er. »Ich treffe diese Entscheidung zwar nicht, aber vermutlich schon. Wenn es das echte Fuaran gewesen wäre.«

»Allmählich neige ich der Auffassung zu, dass es das echte war…«, sagte Geser leise. »Edgar, ich möchte mich gern mit meinen Mitarbeitern beratschlagen.«

Edgar breitete nur die Arme aus. Möglicherweise war er nicht sonderlich erpicht darauf, mit Sebulon und Kostja allein zu bleiben, doch die Miene des Inquisitors verriet nichts.

Swetlana und ich folgten Geser aus dem Geheimversteck hinaus.

Die Inquisitoren empfingen uns mit dermaßen misstrauischen Blicken, als verdächtigten sie uns, alle Dunklen umgebracht zu haben. Geser nahm es gelassen hin.

»Wir ziehen uns zu einem Gespräch zurück«, warf er ihnen achtlos hin, während er sich zur Tür wandte. Die Inquisitoren wechselten beredte Blicke, erhoben jedoch keine Einwände. Nur einer steuerte auf das Geheimversteck zu. Doch da hatten wir das Haus der Hexe bereits verlassen.

Hier, in der Tiefe des Waldes, kam es mir vor, als sei es noch nicht einmal Morgen. Ein geheimnisvolles Halbdunkel, ganz wie in den frühen Dämmerstunden. Verwundert blickte ich nach oben. Und bemerkte, dass der Himmel in der Tat unnatürlich grau aussah, als blicke ich ihn durch eine Sonnenbrille an. So wirkte sich in unserer Welt also der magische Schutzschild aus, den die Inquisitoren aufgestellt hatten.

»Alles geht den Bach runter…«, murmelte Geser. »Alles ganz falsch…«

Sein Blick huschte von mir zu Swetlana und zurück. Als könne er sich nicht entscheiden, wen von uns beiden er jetzt brauchte. »Hat sie das Fuaran wirklich gehabt?«, fragte Swetlana.

»Anscheinend ja. Anscheinend existiert dieses Buch.«Geser verzog das Gesicht. »Wie dumm… wie unschön…«

»Wir müssen die Hexe finden«, sagte Swetlana. »Wenn Sie wollen…«

Geser schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht. Arina muss entkommen.«

»Das weiß ich.«Ich fasste nach Swetlanas Hand. »Wenn man Arina fasst, könnte sie sagen, wer dieser Lichte war…«

»Arina weiß nicht, wer dieser Lichte gewesen ist«, fiel Geser mir ins Wort. »Dieser Lichte kam in einer Maskierung zu ihr. Sie könnte einen Verdacht haben, etwas ahnen, vielleicht sogar überzeugt sein, aber sie hat keine Beweise. Nein, was weitaus schlimmer ist…«Plötzlich durchschaute ich alles.

»Das Fuaran?«

»Ja«, meinte Geser nickend. »Deshalb würde ich euch bitten…«

Bevor er den Satz beendete, sagte ich schnell: »Wir wissen nicht, wo Arina ist. Das stimmt doch, oder, Swetlana?«Swetlana blickte finster drein, nickte aber.

»Danke«, sagte Geser. »Das war das Erste. Jetzt zum Zweiten. Wir müssen das Fuaran finden. Um jeden Preis. Vermutlich wird ein Suchtrupp gebildet. Ich möchte, dass von unserer Seite Anton daran teilnimmt. »

»Ich bin stärker«, sagte Swetlana leise.

»Das spielt in dem Fall keine Rolle.«Geser schüttelte den Kopf. »Nicht die geringste. Außerdem brauche ich dich hier, Swetlana. »

»Wozu?«, wollte Swetlana misstrauisch wissen.

Einen Moment lang zögerte Geser. Dann sagte er: »Um im Notfall Nadja zu initiieren.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, sagte Swetlana mit eisiger Stimme. »In ihrem Alter und mit ihrer Kraft kann sie noch keine Andere werden!«

»Möglicherweise bleibt uns nichts andres übrig«, murmelte Geser. »Swetlana, die Entscheidung triffst du. Ich bitte dich nur, dass du in der Nähe des Kindes bleibst.«

»Da mach dir mal keine Gedanken«, zischte Swetlana. »Ich werde sie nicht aus den Augen lassen.«

»Richtig so.«Geser lächelte und ging wieder zum Haus zurück. »Kommt, jetzt beginnt unser Rat in Fili.«

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als Swetlana sich mir zudrehte. »Kannst du dir einen Reim darauf machen?«, fragte sie mit allem Nachdruck.

»Geser hat seinen Sohn nicht finden können«, meinte ich. »Der ist nämlich wirklich nur ein Mensch gewesen! Und erst vor kurzem zum Anderen geworden. »

»Arina?«

»Sieht so aus. Sie ist aus ihrem Winterschlaf erwacht und hat sich orientiert. Hat in Erfahrung gebracht, wer jetzt der Chef bei welcher Wache ist…«

»Und hat das Fuaran benutzt, um Geser insgeheim ein kleines Geschenk zu machen? Um seinen Sohn in einen Anderen zu verwandeln?«Swetlana zuckte die Achseln. »Das glaub ich nicht. Weshalb hätte sie das tun sollen? So dick ist ihre Freundschaft doch wohl nicht, oder?«

»Was heißt, weshalb? Jetzt wird Geser alles daransetzen, damit Arina nicht gefunden wird. Das ist ihre Rückversicherung, oder etwa nicht?«

Swetlana kniff die Augen zusammen. Dann nickte sie. »Aber was ist, wenn die Tagwache…«

»Woher wollen wir wissen, was sie im Hinblick auf Sebulon unternommen hat?«Ich zuckte mit den Schultern. »Irgendwie glaube ich, dass auch die Tagwache es mit der Suche nach der Hexe nicht übertreiben wird.«

»Das ist doch ein durchtriebenes Weibsbild«, sagte Swetlana ohne jede Häme. »Ich hätte Hexen nicht so unterschätzen dürfen! Durchschaust du auch die Geschichte mit Nadja?«Ich schüttelte den Kopf.

Das, was Geser gesagt hatte, war in der Tat völliger Quatsch. Manchmal wurden Andere im Alter von fünf oder sechs Jahre initiiert. Aber niemals früher. Ein Kind, das die Fähigkeiten eines Anderen erhält, das diese aber noch nicht kontrolliert einsetzen kann, wäre eine wandelnde Bombe. Vor allem eine so starke Andere wie Nadjuschka. Selbst Geser würde das Mädchen nicht aufhalten können, wenn es übermütig wird und seine Kraft einsetzt. Nein, die Worte Gesers ergaben einfach keinen Sinn!

»Ich reiße ihm die Beine aus und pflanze sie ihm an Stelle der Arme wieder an!«, versprach Swetlana völlig gelassen. »Sobald er noch einmal darauf zu sprechen kommt, dass Nadja initiiert werden soll. Was ist, wollen wir gehen?«

Hand in Hand - wir beide hatten im Moment das starke Bedürfnis, einander nahe zu sein - gingen wir zum Haus zurück.

Die Inquisitoren, die durch eine Laune des Zufalls in das Geheimnis eingeweiht worden waren, sollten erneut eine Kette rund um das Haus bilden. Wir sechs setzten uns an den Tisch.

Geser trank Tee. Er hatte ihn selbst aufgebrüht, wobei er nicht nur normalen Sud benutzt, sondern auch Kräuter aus den reichen Vorräten der Hexe hinzugegeben hatte. Auch ich nahm eine Tasse. Der Tee roch nach Minze und Wachholder, war bitter und streng, machte mich aber munter. Sonst konnte er niemand verführen: Swetlana murmelte freundlich etwas und stellte ihre Tasse weg. Auf dem Tisch lag der Brief.

»Vor zweiundzwanzig, dreiundzwanzig Stunden«, meinte Sebulon mit einem Blick auf das Blatt Papier. »Sie hat den Brief vor Ihrem Besuch geschrieben, Inquisitor!«

Edgar nickte. »Schon möglich…«, fügte er widerwillig hinzu. »Möglicherweise sogar während unseres Besuchs. Wir hatten Probleme, sie in den tiefen Schichten des Zwielichts zu verfolgen. Ihr wäre also genug Zeit geblieben, sich in aller Ruhe hinzusetzen und den Brief zu schreiben.«

»Damit haben wir keinen Grund, die Hexe zu verdächtigen«, murmelte Sebulon. »Sie hat das Buch dagelassen, um sich freizukaufen. Arina hätte also keine Veranlassung gehabt, deswegen zurückzukommen und einen Inquisitor umzubringen. »

»Einverstanden«, meinte Geser zögerlich.

»Welch erstaunliche Übereinstimmung zwischen Dunklen und Lichten…«, bemerkte Edgar. »Sie machen mir Angst, meine Herren.«

»Das ist nicht die Zeit für Unstimmigkeiten«, erwiderte Sebulon. »Wir müssen den Mörder und das Buch finden.«O ja, er hatte seine Gründe, Arina zu verteidigen!

»Gut.«Edgar nickte. »Kommen wir zum Anfang zurück. Viteszlav hat mich angerufen und mir vom Fuaran erzählt. Das Gespräch hat niemand mitgehört.«

»Alle Gespräche über Handy werden abgehört und aufgezeichnet…«, warf ich ein.

»Was du nicht sagst, Anton!«Edgar bedachte mich mit einem ironischen Blick. »Ermitteln etwa Geheimdienste der Menschen gegen die Anderen? Um dann, sobald sie etwas von dem Buch gehört haben, einen Agenten hierher zu schicken? Der dann einen Hohen Vampir ermordet?«

»Anton hat so Unrecht nicht«, sprang Geser mir zur Seite. »Ihnen ist doch bekannt, Edgar, dass wir jedes Jahr Schritte der Menschen zu unterbinden haben, die auf unsere Entdeckung zielen. Und was die Spezialabteilungen der Geheimdienste angeht…«

»Dort sitzen welche von uns«, warf Edgar ein. »Doch selbst wenn wir davon ausgehen, dass wieder einmal nach Anderen gefahndet wird, dass irgendwo Informationen nach draußen dringen, bleibt Viteszlavs Tod ein Rätsel. Nicht einmal James Bond könnte unbemerkt zu ihm vordringen. »

»James Bond? Wer ist denn das?«, wollte Sebulon wissen.

»Das gehört in den Bereich der Mythologie«, meinte Geser schmunzelnd. »Der modernen Mythologie. Lassen Sie uns hier nicht sinnlos unsere Zeit vergeuden, meine Herren. Die Situation ist doch völlig klar: Viteszlav ist von einem Anderen ermordet worden. Einem starken Anderen. Und aller Wahrscheinlichkeit nach von jemandem, dem der Inquisitor vertraut hat.«

»Er hat niemandem vertraut, noch nicht einmal mir«, murmelte Edgar. »Vampire nehmen das Misstrauen einfach mit dem Mutterblut auf… wenn Sie den Scherz entschuldigen wollen.«

Niemand lächelte. Kostja schielte finster zu Edgar hinüber, sagte jedoch kein Wort.

»Willst du von allen Anwesenden das Gedächtnis überprüfen lassen?«, erkundigte sich Geser höflich. »Würden Sie dem denn zustimmen?«, wollte Edgar wissen.

»Nein«, entgegnete Geser. »Ich weiß die Arbeit der Inquisition zu schätzen, aber alles hat seine Grenze.«

»Damit wären wir in einer Sackgasse gelandet.«Edgar breitete die Arme aus. »Meine Herren, wenn Sie nicht kooperationsbereit sind…«

Swetlana hüstelte taktvoll. »Darf ich vielleicht etwas dazu sagen?«, fragte sie. »Aber ja, sicher.«Edgar nickte freundlich.

»Ich glaube, wir schlagen einen falschen Weg ein«, sagte Swetlana. »Sie sind der Ansicht, wir sollten den Mörder suchen, dann würden wir auch das Buch finden. Das stimmt, aber den Mörder kennen wir nicht. Warum versuchen wir nicht einfach, das Buch aufzuspüren? Über das Fuaran kommen wir dann auch an den Mörder.«

»Und wie würdest du das Buch suchen, Lichte?«, fragte Sebulon in ironischem Ton. »Willst du James Bond anrufen?«

Swetlana streckte die Hand aus und berührte vorsichtig Arinas Brief. »Also… Soweit ich es verstanden habe, hat die Hexe den auf das Buch gelegt, möglicherweise sogar zwischen die Seiten gesteckt. Eine gewisse Zeit lang lagen diese beiden Gegenstände also zusammen. Das Buch selbst ist eine magische, eine mächtige Sache. Wenn wir ein Ebenbild herstellen… Sie wissen schon, in der Weise, wie man es den jungen Magiern beibringt…«

Unter den Blicken der Hohen wurde sie unsicher und geriet aus dem Konzept. Doch sowohl Sebulon wie auch Geser blickten Swetlana wohlwollend an.

»Ja, stimmt, es gibt eine solche Magie«, murmelte Geser. »Wie ist das gleich, jetzt fällt's mir wieder ein… Einmal ist mir ein Pferd gestohlen worden, ich hatte dann nur noch das Zaumzeug…«

Er verstummte. Schielte zu Sebulon hinüber. »Ich bitte Sie, Dunkler«, sagte er in ausgesucht freundlichem Ton. »Erschaffen Sie das Ebenbild!«

»Ich würde es lieber sehen, wenn Sie das täten«, erwiderte Sebulon nicht weniger höflich. »Damit mir nicht unterstellt wird, ich sei unehrlich gewesen.«Irgendwas stimmte hier nicht! Aber was?

»Nun, wie heißt es doch im Volksmund so schön: Den ersten Peitschenhieb für den Denunzianten!«, meinte Geser fröhlich. »Swetlana, dein Vorschlag ist angenommen. Stell das Ebenbild her.«

Gequält sah Swetlana Geser an. »Boris Ignatjewitsch… Es tut mir leid, das ist eine so einfache Sache… die habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Vielleicht könnten wir einen Magier mit niedrigerem Grad bitten?«

Daran hakte es also. Die Großen Magier beherrschten das ABC der Magie, das allen neuen Anderen beigebracht wird, nicht mehr. Hatten es vergessen - wie ein Akademiker das kleine Einmaleins oder Schönschrift!

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte ich. Ohne die Antwort abzuwarten, streckte ich eine Hand nach dem Brief aus. Ich kniff die Augen zusammen, damit der Schatten meiner Wimpern auf meine Augen fiel, und sah durchs Zwielicht auf das graue Blatt Papier. Ich stellte mir ein Buch vor, einen dicken Schmöker, gebunden in Menschenhaut, das Tagebuch einer von Menschen und Anderen verfluchten Hexe…

Langsam formte sich das Bild. Das Buch sah fast so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte, nur die Ecken des Einbands waren mit goldfarbenen Metalldreiecken beschlagen. Anscheinend waren sie erst später angebracht worden, von einem der Besitzer des Fuaran, der nicht wollte, dass das Buch beschädigt wurde.

»Da ist es!«, sagte Geser mit lebhaftem Interesse. »In der Tat, in der Tat…«

Die Magier erhoben sich, beugten sich über den Tisch, betrachteten das nur für Andere sichtbare Bild des Buchs. Das Papier auf dem Tisch erzitterte leicht, als gehe hier ein Luftzug. »Kann man es nicht öffnen?«, fragte Kostja.

»Nein, das ist nur ein Bild, das die Sache selbst nicht in sich birgt…«, sagte Geser freundlich. »Weiter, Anton. Fixiere es… und überleg dir einen Suchmodus.«

Das Bild des Buchs zu fixieren gelang mir ohne weiteres. Aber die Bitte, mir einen Suchmodus zu überlegen, hatte mich kalt erwischt. Am Ende entschied ich mich für eine groteske Kompass-Analogie: ein riesiger, tellergroßer Kompass mit einer Nadel, die sich um die eigene Achse drehte. Ein Ende der Nadel leuchtete heller - es musste das Fuaran anzeigen.

»Lad ihn mit Energie auf«, bat Geser. »Er muss mindestens eine Woche funktionieren… für alle Fälle.«Ich lud ihn auf. Völlig erschöpft, aber zufrieden entspannte ich mich.

Wir starrten auf den im Zwielicht hängenden»Kompass«. Die Nadel wies direkt auf Sebulon.

»Was soll das, Gorodezki?«, wollte Sebulon wissen. Er stand auf und trat zur Seite. Die Nadel rührte sich nicht.

»Gut«, meinte Geser zufrieden. »Edgar, deine Mitarbeiter sollen reinkommen.«

Rasch ging Edgar zur Tür, rief sie und kam an den Tisch zurück.

Einer nach dem andern betraten die Inquisitoren das Zimmer. Die Nadel rührte sich nicht. Sondern wies ins Leere.

»Was zu beweisen war«, brachte Edgar beruhigt hervor. »Keiner der hier Anwesenden hat etwas mit dem Diebstahl des Buches zu tun.«

»Sie zittert«, sagte Sebulon, indem er auf den»Kompass«guckte. »Die Nadel zittert. Aber da wir bei dem Buch keine Beinchen entdecken konnten…«

Er brach in ein unschönes, böses Gelächter aus. Er schlug Edgar auf die Schulter. »Was nun, alter Genosse?«, fragte er. »Brauchst du Hilfe bei der Festnahme?«

Edgar fixierte den»Kompass«ebenfalls aufmerksam. »Wie genau arbeitet das Gerät, Anton?«, fragte er dann.

»Ich glaube, nicht sehr genau«, gestand ich. »Schließlich war die Spur des Buchs nur sehr schwach. »

»Die Genauigkeit!«, wiederholte Edgar.

»Auf hundert Meter genau«, vermutete ich. »Vielleicht auf fünfzig. Soweit wie ich es verstehe, wird das Signal in größerer Nähe zu stark, und die Nadel fängt dann an, sich nur noch chaotisch um sich selbst zu drehen. Tut mir leid.«

»Keine Sorge, Anton, du hast alles richtig gemacht«, lobte mich Geser. »Bei einer so schwachen Verbindung hätte das niemand besser machen können. Hundert Meter sind hundert Meter… Kannst du die Entfernung zum Ziel bestimmen?«

»Annähernd, anhand der Helligkeit des Leuchtens… Hundertzehn, hundertzwanzig Kilometer.«

Geser blickte finster drein. »Das Buch ist bereits in Moskau. Wir verschwenden hier unsere Zeit, meine Herren. Edgar!«

Der Inquisitor steckte die Hand in die Tasche und holte eine gelblich-weiße Kugel aus Knochen heraus. Äußerlich sah sie wie eine gewöhnliche Billardkugel aus, nur etwas kleiner. Außerdem überzogen willkürlich eingravierte, unverständliche Piktogramme ihre Oberfläche. Edgar nahm die Kugel in beide Hände und konzentrierte sich.

Im nächsten Moment spürte ich, wie sich etwas veränderte. Als habe bis eben in der Luft ein mit bloßem Augen nicht zu erkennender, aber dennoch wahrnehmbarer Schleier gehangen - der jetzt verschwand, zusammenschrumpfte, in die beinerne Kugel kroch.

»Ich habe gar nicht gewusst, das die Inquisition noch minoische Kugeln in ihrem Besitz hat«, bemerkte Geser.

»Kein Kommentar«, sagte Edgar, zufrieden mit seinem Auftritt, lächelnd. »Gut, die Barrieren werden aufgelöst. Hängen Sie ein Portal auf, Große!«

Natürlich. Ein direktes Portal, das vorher»drüben«nicht markiert wird, das ist eine Aufgabe für Große. Edgar selbst konnte das entweder nicht oder wollte Kraft sparen…

Geser schielte zu Sebulon hinüber. »Vertrauen Sie mir noch einmal?«, fragte er.

Sebulon fuchtelte schweigend mit der Hand - und in der Luft öffnete sich ein im Dunkel klaffender Spalt. Sebulon trat als Erster hinein, danach, uns mit einem Zeichen auffordernd, ihm zu folgen, Geser. Ich nahm den wertvollen Brief Arinas zusammen mit dem unsichtbaren»Kompass«an mich und folgte Swetlana.

Obwohl das direkte Portal äußerlich anders aussah, war im Innern alles wie sonst. Ein milchiger Nebel, der Eindruck, sich schnell fortzubewegen, der vollständige Verlust des Zeitgefühls. Ich versuchte mich zu konzentrieren - gleich würden wir in die Nähe des Verbrechers kommen, des Mörders eines Hohen Vampirs. Geser und Sebulon würden natürlich das Kommando übernehmen. Swetlana war ihnen, wenn auch nicht an Erfahrung, so doch an Kraft sogar noch überlegen. Kostja mochte jung sein, war aber bereits ein Hoher. Und dann hatten wir noch Edgar mit seinem Team und den Taschen voller Artefakte aus den Beständen der Inquisition. Trotzdem konnte ein Kampf lebensgefährlich sein.

Im nächsten Moment begriff ich allerdings, dass es keinen Kampf geben würde. Zumindest nicht gleich.

Wir standen auf dem Bahnsteig des Kasaner Bahnhofs. Unmittelbar um uns herum gähnende Leere - die Menschen spüren, wenn in ihrer Nähe ein Portal geöffnet wird, und ziehen sich unwillkürlich etwas zurück. Ansonsten herrschte ein Gedränge, wie es selbst in Moskau nur im Sommer und nur auf einem Bahnhof denkbar ist. Die Menschen eilten zur Eisenbahn, stiegen aus Fernzügen, zogen Gepäck hinter sich, rauchten im Wartesaal an der Anzeigetafel, bis ihr Zug darauf erschien, tranken Bier oder Limonade, aßen die schrecklichen Bahnhofspiroggen und die nicht weniger suspekten Schawarma. Vermutlich befanden sich im Radius von hundert Metern nicht weniger als zwei-, dreitausend Menschen.

Ich blickte auf den imaginären»Kompass«. Langsam drehte sich die Nadel.

»Wir sollten umgehend Aschenbrödel anheuern«, sagte Geser, während er sich umsah. »Wir müssen einen Mohnsamen in einem Sack Hirse finden.«

Einer nach dem andern tauchten die Inquisitoren neben uns auf. Edgars Gesicht, der sich bereits auf einen harten Kampf eingestellt und vorbereitet hatte, spiegelte seine Verwirrung wider.

»Er versucht, sich zu verstecken«, sagte Sebulon. »Schön, soll er…«

Doch auch in seinem Gesicht stand keine besondere Freude geschrieben.

Unserer Gruppe näherte sich eine schwer befrachtete Frau mit gestreiften Plastiktaschen auf einem Handwagen. In dem verschwitzten roten Gesicht zeigte sich jene Entschlossenheit, wie sie nur eine russische Frau haben kann, die als so genanntes Shuttle arbeitet, indem sie Sachen aus dem Ausland heranschafft und sie hier verkauft, um ihren nichtsnutzigen Mann sowie drei oder vier Kinder durchzufüttern.

»Der Zug nach Uljanowsk ist noch nicht ausgerufen, oder?«, wollte sie wissen.

Swetlana schloss kurz die Augen. »In sechs Minuten auf Gleis 1, fährt mit drei Minuten Verspätung ab«, antwortete sie dann.

»Vielen Dank«, meinte die Frau, die sich über die Präzision der Auskunft nicht im Mindesten verwunderte. Dann ging sie zu Gleis 1.

»Das ist sehr freundlich, Swetlana«, murmelte Geser. »Aber welchen Vorschlag hast du, damit wir das Buch finden?«Swetlana breitete nur die Arme aus.

Das Cafe war so gemütlich und so sauber, wie ein Bahnhofscafe gemütlich und sauber sein kann. Vielleicht, weil es etwas komisch lag, im Souterrain, neben den Schließfächern. Hierher kamen kaum Bahnhofspenner, anscheinend hatten die Betreiber des Cafes ihnen das abgewöhnt. Eine ältere russische Hausfrau stand hinter dem Tresen, aus der Küche brachten einsilbige, freundliche Kaukasier das Essen herbei. Ein komischer Ort.

Ich holte für Sweta und mich trockenen Wein aus einem Dreiliter-Tetrapack. Der zu meinem Erstaunen billig und zu meinem noch größeren Erstaunen gut war. Damit kehrte ich zu dem Ecktisch zurück, an den wir beide uns gesetzt hatten.

»Es ist noch immer hier«, sagte Swetlana, indem sie in Richtung Arinas Brief nickte. Die Nadel des»Kompasses«drehte sich langsam.

»Vielleicht ist das Buch in einem Schließfach versteckt«, schlug ich vor.

Swetlana nippte an ihrem Wein und nickte - entweder meinem Vorschlag zustimmend oder sich mit dem Merlot aus Kras nodar abfindend. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig.

»Warum der Bahnhof?«, antwortete Swetlana mit einer Gegenfrage.

»Um zu fliehen. Sich zu verstecken. Der Täter muss damit gerechnet haben, dass wir ihn verfolgen.«

»Der Flughafen. Ein Flugzeug. Egal wohin«, entgegnete Swetlana lakonisch, wobei sie ihren Wein in kleinen Schlucken trank. Ich breitete die Arme aus.

In der Tat, das war seltsam. Ein Anderer - wer auch immer er sein mochte - konnte, nachdem er das Fuaran gestohlen hatte, versuchen unterzutauchen oder zu fliehen. Unser Kandidat wählte die zweite Variante. Aber warum mit dem Zug? Im 21. Jahrhundert eine Flucht per Zug? »Vielleicht hat er Angst vorm Fliegen«, mutmaßte Swetlana.

Ich schnaubte nur. Natürlich hätte auch ein Anderer kaum Chancen, einen Flugzeugabsturz zu überleben. Aber er könnte sich drei, vier Stunden vorher die Wahrscheinlichkeitslinien ansehen, klären, ob bei einem Flug eine Katastrophe droht. Dazu ist sogar ein schwacher Anderer in der Lage. Und der Mörder von Viteszlav war nicht schwach.

»Er muss irgendwohin, wo keine Flugzeuge hinfliegen«, schlug ich vor.

»Immerhin könnte er Moskau erst mit dem Flugzeug verlassen, um seine Verfolger abzuschütteln.«

»Nein«, korrigierte ich Swetlana voller Vergnügen. »Das würde ihm nichts bringen. Wir könnten seinen Aufenthaltsort annähernd bestimmen, würden ahnen, in welchem Flugzeug der Täter sitzt, die Passagiere befragen, die Aufzeichnungen der Überwachungskameras im Flughafen auswerten und seine Identität feststellen. Dann würde Geser oder Sebulon ein Portal öffnen… und zwar genau da, wo er hin wollte. Damit hätte er im Vergleich zur jetzigen Situation nichts gewonnen, wir aber würden unseren Feind persönlich kennen.«

Swetlana nickte. Sah auf die Uhr. Schüttelte den Kopf. Einen Moment lang schloss sie die Augen und lächelte gelassen. Mit Nadjuschka war also alles in Ordnung.

»Warum sollte er überhaupt fliehen…«, meinte Swetlana nachdenklich. »Die Durchführung des Rituals, das im Fuaran beschrieben wird, dürfte kaum viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Zauberin hat schließlich noch eine große Zahl ihrer Dienstboten in Andere verwandelt, als sie angegriffen wurde. Für den Mörder wäre es viel leichter gewesen, das Buch zu benutzen und ein Großer zu werden… der Allergrößte. Dann könnte er sich entweder auf einen Kampf mit uns einlassen oder das Fuaran vernichten und untertauchen. Wenn er nämlich stärker als wir geworden wäre, könnten wir ihn einfach niemals enttarnen.«

»Vielleicht ist er jetzt bereits stärker als wir«, bemerkte ich. »Wo Geser schon die Sprache auf die Initiierung von Nadja gebracht hat…«

Swetlana nickte. »Keine sehr verlockende Perspektive. Ob Edgar selbst vielleicht das Fuaran benutzt hat? Und jetzt diese Komödie aufzieht und so tut, als suche er den Täter. Sein Verhältnis zu Viteszlav war ausgesprochen kompliziert, Edgar ist sehr verschlossen… und jetzt wollte er eben der stärkste Andere weltweit werden…«

»Wozu brauchte er dann das Buch?«, konterte ich. »Er hätte es vor Ort lassen können, und Schluss! Wir hätten nicht mal mitgekriegt, dass Viteszlav ermordet worden ist. Sondern alles den Verteidigungszaubern zugeschrieben, die der Vampir nicht beachtet hat.«

»Du bringst mich auf einen Gedanken«, meinte Swetlana. »Der Mörder hat offensichtlich nicht die Kraft gebraucht. Oder nicht nur die Kraft. Er braucht auch das Buch.«

Plötzlich fiel mir Semjon ein. »Es muss jemanden geben, den der Mörder zum Anderen machen will!«, sagte ich. »Er hat gewusst, dass man ihm nicht erlauben würde, das Buch zu benutzen. Deshalb hat er Viteszlav umgebracht… Im Moment spielt keine Rolle, wie. Er hat das Ritual vollzogen und ist zu einem sehr starken Anderen geworden. Dann hat er das Buch versteckt… irgendwo hier, auf dem Bahnhof. Und jetzt hofft er, es rauszubringen.«

Swetlana streckte die Hand nach mir aus, und wir drückten uns über den Tisch hinweg triumphierend die Hände.

»Nur, wie bringt er es raus?«, hakte Swetlana nach. »Hier und jetzt sind die beiden stärksten Magier Moskaus vor Ort…»

»Drei«, korrigierte ich sie.

Swetlana runzelte die Stirn. »Dann sogar vier«, entgegnete sie. »Kostja ist immerhin ein Hoher…«

»Ein Rotzbengel ist er, wenn auch ein Hoher…«, murmelte ich. Irgendwie wollte mir nicht in den Kopf, dass der Junge innerhalb weniger Jahre ein Dutzend Menschen umgebracht hatte.

Noch widerwärtiger war, dass wir ihm dafür die Lizenz erteilt hatten.

Swetlana wusste, woran ich dachte. Sie streichelte meine Hand. »Nimm's nicht so schwer«, sagte sie leise. »Er kann nicht gegen seine Natur handeln. Was hättest du tun sollen? Ihn ermorden?«Ich nickte.

Natürlich hätte ich das niemals fertig gebracht. Aber das wollte ich nicht einmal mir selbst eingestehen.

Leise ging die Tür auf, und Geser, Sebulon, Edgar und Kostja kamen herein. Und Olga. Angesichts der Tatsache, dass sie alle

lebhaft miteinander diskutierten, musste Olga schon im Bilde sein.

»Edgar hat erlaubt, Reserveleute hinzuzuziehen…«, sagte Swetlana leise. »Die Sache sieht nicht gut aus.«

Die Magier kamen an unseren Tisch. Mir fiel auf, wie alle rasch den Blick über den»Kompass«gleiten ließen. Kostja ging zum Tresen und bestellte ein Glas Rotwein. Die Frau dahinter lächelte ihn an. Ob er seinen vampirischen Charme spielen ließ oder ob er ihr einfach gefiel? Ach, Frau… du solltest diesen Jungen nicht anlächeln, der sonst was bei dir hervorruft: Mutterinstinkte oder durch und durch weibliche Gefühle. Denn dieser Junge kann dich so küssen, dass dir das Lächeln für ewig auf dem Gesicht gefriert…

»Kostja und die Inquisitoren haben alle Schließfächer durchsucht«, sagte Geser. »Nichts.«

»Wir haben den ganzen Bahnhof durchgekämmt«, berichtete Sebulon mit freundlichem Lachen. »Sechs Andere, die ganz klar nichts mit der Sache zu tun haben.«

»Und ein nicht initiiertes Mädchen…«, fügte Olga hinzu, das Lächeln erwidernd. »Ja, ja, das habe ich bemerkt. Um sie werden wir uns später noch kümmern.«

Sebulon lächelte noch breiter - ich musste im Cafe des Lächelns gelandet sein. »Tut mir leid, Große, aber um sie kümmert man sich gerade.«

In einer normalen Situation wäre das Gespräch an diesem Punkt erst richtig losgegangen!

»Es reicht, Ihr Großen!«, brüllte Edgar. »Es geht hier nicht um eine potenzielle Andere. Es geht hier um unsere Existenz!«

»Völlig richtig«, pflichtete ihm Sebulon bei. »Wollen Sie mir nicht helfen, Boris Ignatjewitsch?«

Geser und er rückten einen weiteren Tisch an unseren heran. Kostja schleppte schweigend Stühle herbei, und dann saßen wir alle beieinander. Eine ganz normale Sache: Menschen fahren in den Urlaub oder gehen auf Geschäftsreise, schlagen vorher im Bahnhofscafe die Zeit tot…

»Entweder ist er nicht hier, oder er kann sich sogar vor uns tarnen«, sagte Swetlana. »So oder so würde ich darum bitten, mich zurückziehen zu dürfen. Wenn etwas sein sollte, ruft mich einfach.«

»Mit deiner Tochter ist alles in Ordnung«, krächzte Sebulon. »Da gebe ich dir mein Wort drauf. »

»Wir könnten dich brauchen«, unterstützte Geser ihn. Swetlana seufzte.

»Geser, wirklich, lassen Sie Swetlana gehen«, bat ich. »Ihnen ist doch klar, dass es nicht Kraft ist, die wir jetzt brauchen. »

»Sondern?«, wollte Geser wissen.

»Gerissenheit und Geduld. Was das Erste angeht, da sind Sie und Sebulon unschlagbar. Und das Zweite dürfen Sie von einer besorgten Mutter niemals erwarten.«

Geser schüttelte den Kopf und schielte zu Olga hinüber. Die kaum merklich nickte.

»Fahr zu deiner Tochter, Sweta«, sagte Geser. »Du hast Recht. Wenn was ist, ruf ich dich und hänge dir ein Portal auf.«

»Dann gehe ich mal«, sagte Swetlana. Kurz beugte sie sich zu mir rüber, berührte mit den Lippen meine Wange - und löste sich in Luft auf. Das Portal war so winzig, dass ich es nicht mal bemerkt hatte.

Die Menschen im Cafe hatten das Verschwinden Swetlanas überhaupt nicht mitbekommen. Für sie waren wir unsichtbar, denn sie wollten uns nicht sehen.

»Sie ist stark«, sagte Sebulon. Er streckte die Hand aus, nahm sich Kostjas Glas, das der Vampir nicht angerührt hatte, und nippte daran. »Du wirst wissen, was du tust, Geser… Was weiter, Herr Inquisitor?«

»Wir warten«, antwortete Edgar bloß. »Er wird kommen, um das Buch zu holen.«

»Oder sie«, korrigierte Sebulon ihn. »Oder sie…«

Wir bildeten keinen operativen Stab. Sondern saßen einfach im Cafe, aßen etwas, tranken etwas. Kostja bestellte Fleisch á la Tatar. Die Tresenfrau wollte sich schon wundern, flitzte aber nur sofort in die Küche. Kurz darauf sprang ein junger Mann heraus und lief los, um Fleisch zu besorgen.

Geser bestellte Hühnchen nach Kiewer Art. Die übrigen begnügten sich mit Wein, Bier und Kleinigkeiten wie getrockneten Tintenfischringen und Pistazien.

Ich saß da, beobachtete, wie Kostja das fast rohe Fleisch verputzte, und dachte über das Verhalten des unbekannten Täters nach. »Suchen Sie das Motiv!«, hatte Sherlock Holmes uns beigebracht. Wenn wir das Motiv finden, haben wir auch den Täter. Sein Ziel besteht nicht darin, der allerstärkste Andere zu werden. Das war er schon oder konnte er jeden Moment werden. Was sonst? Erpressung? Das wäre dumm. Er würde nicht beiden Wachen und der Inquisition seinen Willen aufzwingen können, sondern das gleiche Schicksal nehmen wie Fuaran… Vielleicht wollte der Täter eine eigene, alternative Organisation von Anderen gründen? In Petersburg war in diesem Frühling die Organisation der»Wilden Dunklen«zerschlagen worden… Mit großer Mühe. Das schlechte Beispiel könnte Schule gemacht, ansteckend auf jemanden gewirkt haben. Und das Schlimmste: Das konnte sogar ein Lichter sein. Der eine neue Nachtwache gründen wollte. Eine Superwache. Um die Dunklen samt und sonders zu vernichten, die Inquisition zu zerschlagen und einen Teil der Lichten auf die eigene Seite zu ziehen…

Schlecht. Sehr schlecht - falls es stimmen sollte. Die Dunklen würden sich nicht ohne Kampf ergeben. In der Welt von heute, die mit Massenvernichtungswaffen, Chemiefabriken und Kernkraftwerken gespickt ist, könnte ein Schlag von ihnen die ganze Welt vernichten. Die Zeiten, in denen der Stärkere gesiegt hat, sind vorbei. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben, diese Zeiten…»Die Nadel«, sagte Edgar. »Seht doch mal!«

Mein»Kompass«hörte auf, sich wie ein Ventilator aufzuführen. Die Nadel verlangsamte ihre Drehungen. Erstarrte, zitterte - und drehte sich langsam, um dann eine Richtung anzuzeigen.

»Yes!«, rief Kostja und stand auf. »Jetzt schnappen wir ihn uns!«

Den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich in ihm wieder den kleinen Vampir, der noch kein Menschenblut gekostet hatte und überzeugt war: Für die Kraft muss man niemals irgendwas bezahlen…

»Dann los, meine Herren.«Edgar sprang auf. Sah auf die Nadel, folgte der Richtung mit dem Blick - und stieß auf die Wand. »Zu den Zügen«, verkündete er voller Überzeugung.

Drei

Eine typische Bahnhofsszene: Über die Bahnsteige hastete eine Hand voll Menschen, die versuchten herauszukriegen, von wo ihr Zug abfährt - wenn er nicht schon längst abgefahren war. Aus irgendeinem Grund übernahmen die Rolle der Zuspätkommenden am häufigsten entweder als Shuttles arbeitende Frauen, die mit gestreiften Plastiktaschen beladen waren, oder - das absolute Gegenteil von ihnen - intelligente Menschen, die lediglich einen Aktenkoffer von Samsonite und ein ledernes Handtäschchen bei sich trugen.

Wir gehörten zu einer exotischen Unterart der zweiten Kategorie: Gepäck hatten wir überhaupt nicht, äußerlich wirkten wir in erster Linie seltsam, dabei aber respekteinflößend.

Auf dem Bahnsteig fing die Nadel wieder an, sich zu drehen: Wir näherten uns dem Buch.

»Er versucht abzuhauen«, verkündete Sebulon triumphierend. »Also… klären wir als Erstes, welche Züge abfahren…«

Der Blick des Dunklen verschleierte sich, als er in die Zukunft sah, um festzustellen, welcher Zug als nächster abfahren würde.

Ich studierte die Informationstafel, die hinter mir hing. »Jetzt fährt der Zug Moskau - Almaty ab. In fünf Minuten. Von Gleis 2.«

Sebulon kehrte aus seinen seherischen Gefilden zurück. »Ein Zug nach Kasachstan von Gleis 2«, teilte er uns mit. »In fünf Minuten.«

Er machte eine sehr zufriedene Miene. Kostja schnaubte kaum hörbar.

Geser starrte demonstrativ auf die Tafel. »Ja, du hast Recht, Sebulon…«, sagte er. »Der nächste geht dann erst in einer halben Stunde.«

»Halten wir den Zug auf und durchkämmen alle Abteile«, schlug Edgar schnell vor. »Ja?«

»Sind deine Jungs imstande, den Anderen zu finden?«, fragte Geser. »Wenn er sich maskiert? Wenn er ein Magier außerhalb jeder Kategorie ist?«

Von einer Sekunde zur nächsten fiel Edgar in sich zusammen. Er schüttelte den Kopf.

»Siehst du«, meinte Geser nickend. »Das Buch ist im Bahnhof gewesen. Er ist im Bahnhof gewesen. Doch wir haben weder das Fuaran noch den Täter aufspüren können. Woher nimmst du die Gewissheit, dass es im Zug leichter wäre?«

»Wenn er im Zug ist, wäre es am einfachsten, den Zug in die Luft zu sprengen«, bemerkte Sebulon. »Dann hätten unsere Probleme ein Ende.«Stille senke sich herab. Geser schüttelte den Kopf.

»Mir ist klar, dass das eine unangenehme Entscheidung ist«, meinte Sebulon. »Mir gefällt sie ja auch nicht. Weshalb sollten wir einfach so Tausende von Menschenleben auslöschen… Aber haben wir denn eine Wahl? »

»Was schlägst du vor, Großer?«, fragte Edgar.

»Wenn…«Sebulon betonte dieses Wort ausdrücklich. »… das Fuaran tatsächlich im Zug ist, müssen wir einen Moment abpassen, in dem der Zug durch eine unbewohnte Gegend fährt. Die kasachische Steppe böte sich an. Alles Weitere würde dann… entsprechend den Plänen ablaufen, die die Inquisition für solche Fällen bereithält.«Edgar schüttelte nervös den Kopf. Wie immer, wenn er sich aufregte, schlug ein leichter baltischer Akzent bei ihm durch.

»Das ist kein guter Plan, Großer. Außerdem kann ich ihn nicht allein bewilligen, den müsste das Tribunal sanktionieren.«

Sebulon zuckte mit den Achseln und brachte durch sein ganzes Gebaren zum Ausdruck: Er wollte ja bloß einen Vorschlag machen.

»Auf alle Fälle müssen wir uns überzeugen, dass das Buch im Zug ist«, meinte Geser. »Ich schlage vor…«Er schaute zu mir hinüber und deutete ein Nicken an. »Ich schlage vor, Anton von der Nachtwache, Konstantin von der Tagwache und jemanden von der Inquisition in den Zug zu setzen. Damit sie ihn überprüfen. Eine große Gruppe ist dafür nicht nötig. Wir… wir würden morgen früh dazustoßen. Und dann entscheiden, was wir weiter unternehmen.«

»Fahr, Kostja«, sagte Sebulon zärtlich und klopfte dem jungen Vampir auf die Schulter. »Geser hat Recht. Das ist eine gute Gruppe, ihr habt einen langen Weg vor euch, eine interessante Sache - das wird dir gefallen.«Der amüsierte Blick in meine Richtung fiel kaum auf.

»Das… gibt uns Zeit«, stimmte Edgar dem Vorschlag zu. »Ich werde selbst mitfahren. Und meine Leute nehme ich ebenfalls mit. Alle.«

»Es bleibt noch eine Minute«, sagte Olga leise. »Wenn ihr das tun wollt, müsst ihr jetzt los.«

Edgar winkte seinen Trupp heran, und wir rannten zum Zug. Am ersten Waggon sagte Edgar etwas zum Waggonbetreuer, einem jungen Kasachen mit Schnurrbart. Seine Gesichtszüge wurden weich, spiegelten Müdigkeit wider - aber auch Fröhlichkeit. Dann trat der Mann einen Schritt zur Seite, um uns einsteigen zu lassen. Wir zwängten uns rein. Ich drehte mich noch einmal um. Sebulon, Geser und Olga standen auf dem Bahnsteig und blickten uns nach. Olga sagte leise etwas.

»In der jetzigen Situation werde ich die Gesamtleitung übernehmen«, erklärte Edgar. »Gibt es Einwände dagegen?«

Ich schielte zu den sechs Inquisitoren hinüber, die hinter ihm standen, und schwieg. Kostja konnte sich jedoch nicht beherrschen. »Kommt auf die Befehle an. Ich bin nur der Tagwache zu Gehorsam verpflichtet.«

»Ich wiederhole noch einmal: Die Operation leite ich«, sagte Edgar kalt. »Wenn Sie nicht einverstanden sind, schlage ich vor, dass Sie abziehen.«

Kostja schwankte nur eine Sekunde, dann senkte er den Kopf. »Verzeihen Sie, Inquisitor. Das war ein dummer Scherz. Natürlich übernehmen Sie das Kommando. Aber wenn es nötig sein sollte, würde ich mich mit meinem Chef in Verbindung setzen.«

»Erst wirst du springen, dann die Erlaubnis erbitten.«Edgar machte Nägel mit Köpfen.

»Gut«, sagte Kostja. »Verzeihen Sie, Inquisitor.«

Damit war jeder Aufstand im Keim erstickt. Edgar nickte und lehnte sich zur Tür hinaus, um den Waggonbetreuer zu rufen. »Wann fahren wir ab?«

»Jetzt!«, antwortete der Mann, der Edgar mit der Begeisterung eines treu ergebenen Hundes anschaute. »Jetzt! Wir müssen einsteigen! »

»Dann steig ein.«Edgar gab die Tür frei.

Der Mann stieg ein, immer noch den Ausdruck freudiger Unterwürfigkeit im Gesicht. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Um Gleichgewicht ringend, stand der Waggonbetreuer in der offenen Tür. »Wie heißt du?«, fragte Edgar. »Ashat. Ashat Kurmangalijew.«

»Schließ die Tür. Gehe deiner Arbeit entsprechend deinen Anweisungen nach.«Edgar runzelte die Stirn. »Wir sind deine besten Freunde. Wir sind deine Gäste. Du musst uns in diesem Zug unterbringen. Verstanden?«

Die Tür schlug zu, Ashat schloss sie ab und wandte sich wieder Edgar zu. »Ja. Wir müssen zum Zugführer. Ich habe kaum Platz. Nur noch vier freie Plätze.«

»Gehen wir zu deinem Chef«, stimmte Edgar zu. »Anton, was ist mit dem»Kompass«?«

Ich hob den Brief an und schaute auf den im Zwielicht hängenden»Kompass«. Die Nadel drehte sich langsam. »Offensichtlich ist das Buch im Zug.«

»Um sicher zu sein, werden wir noch ein bisschen warten«, verkündete Edgar.

Doch auch nachdem wir den Bahnhof gut einen Kilometer hinter uns gelassen hatten, drehte die Nadel sich immer noch. Der Täter, wer immer es auch sein mochte, saß mit uns im Zug.

»Er ist im Zug, das Schwein«, sagte Edgar. »Wartet hier auf mich. Ich geh zum Zugführer, wir müssen irgendwo unterkommen.«

Zusammen mit dem zufrieden lächelnden Ashat ging er den Gang hinunter. Ein zweiter Waggonbetreuer sagte, sobald er seinen Kollegen sah, etwas auf Kasachisch und fuchtelte wütend mit den Armen. Doch dann fing er Edgars Blick auf und verstummte.

»Wir können uns auch gleich ein Schild umhängen: Wir sind die Anderen«, bemerkte Kostja. »Was denkt er sich denn? Wenn in dem Zug wirklich ein Hoher Anderer sein sollte, spürt er die Magie…«

Kostja hatte Recht. Weitaus klüger wäre es, alles mit Geld zu regeln - dessen Magie ist bei Menschen nicht weniger effektiv. Aber Edgar war vermutlich zu konfus…

»Und du? Spürst du die Magie?«, fragte plötzlich einer der niedrigeren Inquisitoren.

Irritiert drehte sich Kostja zu ihm um. Dann schüttelte er den Kopf.

»Auch sonst spürt sie niemand. Edgar hat ein Gehorsamsamulett. Es wirkt nur aus der Nähe.«

»Die Tricks der Inquisition…«, murmelte Kostja eingeschnappt. »Trotzdem sollten wir besser nicht auffallen, oder, Anton?«Widerwillig nickte ich.

Zwanzig Minuten später kam Edgar zurück. Auf welche Weise er sich mit dem Zugführer geeinigt hatte - mit Geld oder, was wahrscheinlicher war, unter Zuhilfenahme seines mysteriösen Gehorsamsamuletts -, fragte ich nicht. In Edgars Gesicht standen Zufriedenheit und Beruhigung geschrieben.

»Wir teilen uns in zwei Gruppen.«Sofort übernahm er das Kommando. »Ihr«- er nickte in Richtung der Inquisitoren -»bleibt in diesem Waggon. Ihr bekommt den Raum der Waggonbetreuer und dazu noch das Abteil 1, das sind genau sechs Plätze. Ashat wird es euch zeigen… Überhaupt, zögert nicht, euch an ihn zu wenden, falls etwas sein sollte. Handelt nicht auf eigene Faust, spielt nicht Detektiv. Benehmt euch wie… wie Menschen. Liefert mir alle drei Stunden persönlich einen Bericht über die Lage… oder wann immer es sonst nötig ist. Wir sind im Waggon 7.«

Schweigend folgten die Inquisitoren dem lächelnden Waggonbetreuer zu ihrem Abteil. Edgar drehte sich zu Kostja und mir um. »Wir sind in Waggon 7, Abteil 4. Das können wir als unsere zeitweilige Basis betrachten. Gehen wir.«

»Haben Sie irgendeinen Plan, Chef?«, fragte Kostja in einer Mischung aus Ironie und Aufrichtigkeit.

Edgar sah ihn kurz an. Offenbar versuchte er, sich darüber klar zu werden, was in dieser Frage überwog, das Interesse oder die Frechheit, auf die er dann nicht antworten müsste. »Wenn ich einen Plan habe, werdet ihr es erfahren«, sagte er schließlich doch. »Alles zu seiner Zeit. Im Moment möchte ich nur einen Kaffee trinken und zwei, drei Stunden schlafen. In dieser Reihenfolge.«

Kostja und ich folgten Edgar. Der Vampir grinste. Wohl oder übel zwinkerte ich ihm daraufhin zu. Letzten Endes verband uns die untergeordnete Stellung ja doch - ungeachtet dessen, was ich über Kostja dachte.

Der Waggon, in dem der Zugführer mitfährt, ist der beste im ganzen Zug. Die Klimaanlage fällt hier nie aus. Es gibt immer heißes Wasser für Tee und beim Waggonbetreuer auch Sud. Außerdem ist es hier sauber, selbst in den asiatischen Zügen, die Bettwäsche wird in verschweißten Päckchen ausgegeben und tatsächlich nach jeder Fahrt gewaschen. Beide Toiletten funktionieren, und man kann sie beherzt ohne Gummistiefel betreten.

Zur Krönung des anspruchslosen Glücks eines Reisenden liegt der Waggon direkt zwischen Speisewagen und Schlafwagen - falls es den überhaupt gibt.

Im Zug Moskau-Almaty gab es einen Schlafwagen. Während wir durch ihn hindurchgingen, betrachteten wir neugierig die Passagiere. Bei den meisten handelte es sich um wichtige, wohlgenährte Kasachen. Fast alle trugen ein Aktenköfferchen in der Hand, von dem sie sich auch nicht trennten, wenn sie mal in den Gang hinaustraten. Einige tranken bereits Tee aus bunten Porzellanschalen, einige breiteten ihren Wurstaufschnitt aus, stellten Flaschen auf und tranchierten gekochtes Huhn. Die meisten standen jedoch noch im Gang, um auf die vorbeiziehenden Moskauer Vororte zu schauen.

Was sie wohl empfinden mögen, die Bürger des heute unabhängigen Landes, wenn sie auf ihre ehemalige Hauptstadt blicken? Ob ihnen die Unabhängigkeit wirklich Genugtuung verschafft? Oder ob sie nicht doch Nostalgie befällt?

Keine Ahnung. Fragen kannst du sie nicht, und selbst wenn du fragst, wäre nicht gesagt, dass du eine ehrliche Antwort bekommst. Und in ihr Bewusstsein eindringen, sie zwingen, die Wahrheit zu sagen, das ist nicht mein Ding.

Sollen sie sich ruhig freuen und stolz sein - auf ihre Unabhängigkeit, ihren eigenen Staat, ihre Korruption. Als man vor kurzem in St. Petersburg das dreihundertjährige Bestehen der Stadt gefeiert hat, machte ein Wort die Runde-. »Sollen sie uns doch nach Strich und Faden bestehlen - immerhin sind es unsere Diebe, keine Moskauer.«Warum sollten Kasachen und Usbeken, Ukrainer und Tadschiken nicht dieselben Gefühle hegen? Wenn schon innerhalb eines Landes ein Graben zwischen den Republiken und Städten verläuft, was sollte man dann den Nachbarn aus der einstigen Wohngemeinschaft vorwerfen? Man sondert sich ab, wenn man ein Zimmer mit Fenster zur Ostsee hat, die stolzen Georgier und die Kirgisen mit der einzigen Hochgebirgs-Kriegsflotte der Welt - alle haben mit Freuden abgespalten. Am Ende bleibt dann nur eine große Küche übrig, Russland nämlich, wo früher einmal in einem einzigen imperialen Kessel die verschiedenen Völker gekocht wurden. Ach ja. Was will man da schon machen. Wir haben zu Hause Gas. - Und ihr, werdet ihr da nicht ganz blass?

Sollen sie sich doch freuen. Sollen es sich doch alle gut gehen lassen. Sowohl die mit ihrem Jubiläum beglückten Petersburger - denn ein solches Fest reicht bekanntlich für ein ganzes Jahrhundert - wie auch die Kasachen und Kirgisen, die jetzt erstmals ihren eigenen Staat haben, wobei sie natürlich eine Unmenge an Beweisen für ihre Staatlichkeit in der Vergangenheit vorgebracht haben. Und auch unsere slawischen Brüder sollen es sich gut gehen lassen, die so unter der Existenz des großen Bruders gelitten haben, und nicht zuletzt wir, die Russen, die wir uns mit Feuereifer verachten: die Moskauer die Provinzler und umgekehrt.

Einen Moment lang empfand ich zu meiner eigenen Überraschung Ekel. Nein, nicht vor den hier mitfahrenden Kasachen oder meinen russischen Mitbürgern. Vor den Menschen. Vor allen Menschen auf der Welt. Womit beschäftigen wir von der Nachtwache uns denn? Abgrenzen und schützen? Quatsch! Nicht ein Dunkler, nicht eine Tagwache fügt den Menschen so viel Böses zu wie sie sich selbst. Was ist schon ein hungriger Vampir im Vergleich zu einem stinknormalen Verrückten, der in Fahrstühlen kleine Mädchen vergewaltigt und ermordet? Was ist eine mitleidlose Hexe, die gegen Geld Unheil wirkt, im Vergleich mit einem humanen Präsidenten, der Langstreckenraketen losschickt - wegen Öl? Verflucht seien sie alle…

Ich blieb vor der Waggontür stehen, ließ Kostja vorbei. Erstarrte, glotzte auf den vollgerotzten Boden, wo sich bereits das erste Dutzend stinkender Kippen angesammelt hatte. Was war nur mit mir los? Hatte ich diese Gedanken?

O nein, ich brauchte mir da nichts vorzumachen. Das waren meine, keine fremden. Niemand kroch in meinen Kopf hinein, selbst ein Hoher Anderer hätte das nicht unbemerkt geschafft. Das war ich. Pur. Ein ehemaliger Mensch. Ein sehr müder, von allem auf der Welt enttäuschter Lichter.

In diesen Fällen gehen Andere zur Inquisition. Wenn du den Unterschied zwischen Lichten und Dunklen nicht mehr bestimmen kannst. Wenn die Menschen für dich nicht mal mehr eine Hammelherde sind, sondern eine Hand voll Spinnen im Glas. Wenn du nicht mehr daran glaubst, dass alles besser wird, sondern nur noch eins willst: den Status quo erhalten. Für dich. Für die wenigen, an denen dir noch liegt.

»Ich will nicht«, sagte ich, gleichsam als rezitiere ich einen Zauberspruch, als höbe ich einen unsichtbaren Schild gegen meinen Feind - der ich selbst war. »Ich will nicht! Du hast… keine Macht… über mich… Anton Gorodezki!«

Zwei Türen und vier dicke Scheiben weiter drehte Kostja sich um und sah mich verständnislos an. Hatte er etwas gehört? Oder konnte er sich einfach keinen Reim darauf machen, warum ich nicht nachkam?

Mit einem verkrampften Lächeln öffnete ich die Tür und ging in den rumpelnden Ziehharmonikadurchgang zwischen den beiden Waggons.

Der Waggon des Zugführers genoss in der Tat eine Vorzugsstellung. Saubere kleine Teppiche auf dem Fußboden, ein Läufer im Gang. Weiße Vorhänge vor den Fenstern, weiche Matratzen, die nicht an jenen mit Maiskolben gestopften Sack des Negers Jim denken ließen.

»Wer schläft unten? Wer oben?«, erkundigte sich Edgar geschäftig.

»Mir ist es egal«, antwortete Kostja.

»Ich würde lieber oben schlafen«, sagte ich.

»Ich auch«, meinte Edgar. »Dann wäre das klar.«Höflich klopfte jemand an der Tür.

»Herein!«Der Inquisitor wandte nicht einmal den Kopf um.

Es war der Zugführer - mit einem Tablett in der Hand, auf dem ein vernickelter Kessel mit heißem Wasser, eine kleine Kanne mit Teesud, Tassen, Waffelgebäck und sogar ein Päckchen Kondensmilch standen. Ein ernster Mann, kräftig, mit einem prächtigen Schnurrbart und einer Uniform, die wie angegossen saß.

Das Gesicht war jedoch so einfältig wie bei einem neugeborenen Hündchen. »Lassen Sie sich den Tee schmecken, meine lieben Gäste!«

Alles klar. Die Wirkung des Amuletts. Letzten Endes drückte die Tatsache, dass Edgar ein Dunkler war, seiner Arbeitsweise eben doch einen Stempel auf.

»Vielen Dank. Informieren Sie uns bitte über alle, die in Moskau eingestiegen sind und vor Almaty aussteigen, mein Bester«, bat Edgar, während er dem Mann das Tablett abnahm. »Vor allem über diejenigen, die nicht an ihrem Ziel aussteigen, sondern früher.«

»Wird gemacht, Euer Wohlgeboren«, meinte der Zugführer mit einem Nicken. Kostja kicherte.

Ich wartete, bis der arme Kerl wieder draußen war. »Euer Wohlgeboren - was soll das?«, fragte ich dann.

»Woher soll ich das wissen?«Edgar zuckte mit den Schultern. »Das Amulett zwingt die Menschen zu Gehorsam. Aber es ist einzig und allein ihre Sache, wen sie dann in mir sehen: einen gestrengen Revisor, den heißgeliebten Opa, einen Schauspieler, den sie verehren, oder den Generalissimus Stalin. Der da muss Akunin gelesen haben. Oder sich alte Filme anschauen.«Kostja schnaubte.

»Das ist nicht lustig«, blaffte Edgar. »Aber auch nicht schrecklich. Es ist die Methode, die die Psyche der Menschen am meisten schont. Die Hälfte der Geschichten, wie jemand den Fernsehmoderator Jakubowitsch im Auto mitnimmt oder Gorbatschow seinen Platz in einer Schlange anbietet, ist solchen Manipulationen zuzuschreiben.«

»Deswegen lache ich ja gar nicht«, erklärte Kostja. »Ich habe Sie mir in der Uniform eines weißgardistischen Offiziers vorgestellt… Chef. Sie flößen wirklich Respekt ein.«

»Lach nur, lach…«, sagte Edgar, während er sich Kaffee einschenkte. »Was macht der»Kompass«?«

Schweigend legte ich den Brief auf den Tisch. Das ZwielichtBild hing sich in die Luft - ein runder»Kompass«, eine sich langsam drehende Nadel.

Ich goss mir Tee ein und trank einen Schluck. Der Tee war gut. Mit Liebe gemacht, wie es sich gehört, wenn man ihn»Wohlgeboren«serviert.

»Er ist also im Zug, der Mistkerl…«, seufzte Edgar. »Meine Herren, ich werde euch unsere Alternativen nicht vorenthalten. Entweder wir fassen den Täter oder wir müssen den Zug eliminieren. Zusammen mit allen Passagieren.«

»Wie?«, wollte Kostja sachlich wissen.

»Es gibt verschiedene Varianten. In der Nähe des Zuges könnte eine Gasleitung explodieren, ein Jagdflugzeug könnte versehentlich eine Rakete abwerfen… im Extremfall wird diese Rakete einen Atomsprengkopf haben.«

»Edgar!«Alles in mir wollte glauben, dass er bloß in allzu dicken Farben auftrug. »Im Zug sitzen mindestens fünfhundert Menschen.«

»Leicht darüber«, korrigierte mich der Inquisitor. »Das dürfen wir nicht tun!«

»Wir dürfen das Buch nicht verlieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass ein prinzipienloser Anderer sich eine Garde aufbaut und sich daran macht, die Welt nach seinem Gusto umzubauen. »

»Aber wir wissen doch gar nicht, was er will!«

»Wir wissen, dass er ohne zu zögern einen Inquisitor umgebracht hat. Wir wissen, dass er sehr stark ist und ein uns nicht bekanntes Ziel verfolgt. Was hat er in Zentralasien verloren, Gorodezki?«Ich zuckte mit den Achseln.

»Dort gibt es eine Reihe von alten Kraftzentren…«, murmelte Edgar. »Ein paar spurlos verschwundener Artefakte, einige schlecht zu kontrollierende Gebiete… Was noch? »

»Eine Milliarde Chinesen«, mischte sich Kostja plötzlich ein. Die Dunklen starrten einander an.

»Du bist ja völlig verrückt geworden…«, brachte Edgar unsicher hervor.

»Eine Milliarde und ein paar Zerquetschte«, präzisierte Kostja amüsiert. »Was, wenn er vorhat, sich von Kasachstan aus nach China durchzuschlagen? Eine Armee könnte er da aufbauen! Eine Milliarde Andere! Dann gibt es noch Indien…«

»Nun krieg dich mal wieder ein«, winkte Edgar ab. »Kein Idiot würde so etwas versuchen. Woher will er Kraft schöpfen, wenn er ein Drittel der Bevölkerung zu Anderen macht?«

»Vielleicht ist er ein Idiot?«, gab Kostja nicht nach.

»Deshalb greifen wir ja auch zu extremen Maßnahmen«, fuhr Edgar ihn an.

Was sie sagten, meinten sie ernst. Ohne jeden Zweifel: Sie durften diese manipulierten Waggonbetreuer, dickwangigen Geschäftsreisenden und die armen Menschen in den Waggons dritter Klasse ermorden. Was sein muss, muss sein. Ein Landwirt, der das an Maul- und Klauenseuche erkrankte Vieh schlachten muss, leidet schließlich auch darunter.

Irgendwie stand mir der Sinn nicht mehr danach, Tee zu trinken. Ich erhob mich und verließ das Abteil. Edgar schickte mir einen wissenden, aber keinesfalls mitfühlenden Blick hinterher.

Im Waggon war es bereits ruhiger geworden, die Leute bereiteten sich auf die Nacht vor. Einige Abteiltüren standen zwar noch offen, irgendjemand drückte sich im Gang zwischen zwei Waggons herum und wartete, bis die Toilette frei wurde, irgendwo war zu hören, wie Leute anstießen; die meisten Mitreisenden aber hatte Moskau sehr müde gemacht.

Ungerührt ließ ich mir den Gedanken durch den Kopf gehen, dass nach allen Gesetzen des Melodramas jetzt engelsgleiche Kinderchen mit unschuldigen Gesichtern durch den Gang rennen müssten. Damit mir die Perversität von Edgars Plan so richtig aufginge…

Kinder kamen keine vorbei. Stattdessen spähte aus einem Abteil ein fetter Kerl in verwaschener Trainingshose und ausgeleiertem Hemd heraus. Das rote, verschwitzte Gesicht war durch den bereits genossenen Alkohol schon aufgedunsen. Der Mann schaute mit trübem Blick durch mich hindurch, hickste und zog sich ins Abteil zurück.

Meine Hände griffen ganz von selbst nach dem MD-Player. Ich stöpselte mir die Kopfhörer in die Ohren, legte aufs Geratewohl eine Scheibe ein und presste mich ans Fenster. Ich sah nichts, ich hörte nichts. Und - aber das verstand sich von selbst - ich sagte nichts.

Eine leise, sanfte Melodie erklang, eine zarte Stimme sang.

Du kannst dich nicht mehr in die Büsche schlagen,

Wenn dich der Schuss aus der Lupara fällt.

Es ist fürwahr das Schönste auf der Welt,

Morphinbeflügelt allem zu entsagen.

Ach ja, von Lass, meinem Bekannten aus dem Assol. Die Scheibe hatte er mir geschenkt. Grinsend stellte ich den Ton lauter. Das war's, was ich jetzt brauchte…

Die Seele kehrt zurück zu Kindertagen,

Man schmilzt das Eisen, das das Blut enthält,

Es ist fürwahr das Schönste auf der Welt,

Morphinbeflügelt allem zu entsagen.

Wow, das ging ab… Oberpunk. Da konnte selbst Schnur mit den überdrehten Schreihälsen abstinken…

Eine Hand schlug mir auf die Schulter.

»Jeder entspannt auf seine Weise, Edgar«, murmelte ich.

Jemand pikte mich leicht in die Rippen.

Ich drehte mich um.

Und erstarrte.

Vor mir stand Lass. Zufrieden grienend und im Takt tanzend: Hatte ich die Musik also doch zu laut eingestellt.

»Ach nee!«, rief er begeistert, sobald ich die Kopfhörer ausgestöpselt hatte. »Da gehst du so durch den Waggon, nichts Böses ahnend - und plötzlich hört da jemand deine Songs! Was machst du denn hier, Anton?«

»Ich fahr weg…«, konnte ich nur herausbringen, während ich den MD-Player ausschaltete.

»Wirklich?«, rief Lass begeistert. »Ich wär im Leben nicht darauf gekommen, dich hier zu treffen! Wohin fährst du? »

»Nach Alma-Ata.«

»Das heißt jetzt Almaty!«, dozierte Lass. »Aber gut, setzen wir unser Gespräch fort. Warum fliegst du nicht?«

»Warum fliegst du nicht?«Allmählich ging mir auf, dass das Ganze mich an ein Verhör erinnerte.

»Ich bin aerophob«, verkündete Lass stolz. »Gut, wenn es unbedingt sein muss, hilft mir ein Liter Whisky, an die Aerodynamik zu glauben. Aber das kommt nur äußerst selten vor, wenn ich nach Japan muss oder in die Staaten…, wo keine Züge hinfahren. »

»Bist du geschäftlich unterwegs?«

»Zum Vergnügen«, grinste Lass. »In der Türkei oder auf den Kanaren kann man doch wohl keinen Urlaub machen, oder? Und du? Bist du auf Geschäftsreise?«

»Hm.«Ich nickte. »Ich will in Moskau einen Handel für Kumys und Schubat aufziehen. »

»Was ist denn Schubat?«, wollte Lass wissen.

»Das ist… Kefir aus Kamelmilch. »

»Cool«, begeisterte sich Lass. »Bist du allein unterwegs? »

»Mit Freunden.«

»Wollen wir zu mir gehen? Mein Abteil ist leer. Schubat habe ich zwar nicht, aber deine Stutenmilch werden wir schon auftreiben.«Eine Falle?

Ich betrachtete Lass durchs Zwielicht. So aufmerksam wie möglich. Nicht das kleinste Zeichen eines Anderen.

Entweder war er ein Mensch - oder ein Anderer von unvorstellbarer Kraft. Imstande, sich in allen Schichten des Zwielichts zu tarnen.

Sollten wir doch Glück haben? Stand hier, vor mir, der mysteriöse Dieb des Fuaran!

»Gleich. Ich hol nur noch schnell was«, antwortete ich lächelnd.

»Aber ich hab doch alles!«, protestierte Lass. »Bring deine Freunde ruhig mit. Ich bin im nächsten Waggon, Abteil 2.«

»Sie haben sich schon schlafen gelegt«, tischte ich ihm eine grobe Lüge auf. »Also, es dauert nicht lange…«

Nur gut, dass Lass seitlich von mir stand und nicht sehen konnte, wer im Abteil saß. Ich öffnete die Tür nur einen Spalt und schlüpfte hinein. Lass musste denken, hinter der Tür verberge sich eine halb nackte Frau. »Was ist passiert?«Edgar sah mich forschend an.

»Da ist jemand aus dem Assol«, berichtete ich schnell. »Der Musiker, vielleicht erinnert ihr euch noch an ihn, den wir auch in Verdacht hatten, aber anscheinend ist er kein Anderer… Er hat mich auf ein Gläschen in sein Abteil eingeladen.«

Auf Edgars Gesicht zeichnete sich Jagdfieber ab. Kostja sprang sogar auf. »Schnappen wir ihn uns?«, rief er. »Der wird singen…«

»Stopp.«Edgar schüttelte den Kopf. »Überstürzen wir nichts. Das kann alles Mögliche bedeuten. Anton, nimm das.«

Ich erhielt ein kleines gläsernes Fläschchen, das mit einem kupfernen oder einem bronzenen Draht umwickelt war. Es sah furchtbar alt aus. In der Flasche schwappte eine dunkelbraune Flüssigkeit. »Was ist das?«

»Allergewöhnlichster Armagnac, zwanzig Jahre alt. Aber die Flasche hat es in sich. Die kann nur ein Anderer öffnen.«Edgar grinste. »Im Grunde ist das Firlefanz. Irgendwann vor langer Zeit hat ein Magier all seine Flaschen auf diese Weise verzaubert, damit seine Diener sie ihm nicht stahlen. Wenn dein Bekannter sie öffnen kann, dann ist er ein Anderer.«

»Aber ich spüre keine Magie…«, sagte ich, während ich die Flasche in den Händen drehte.

»Darum geht es ja gerade«, meinte Edgar zufrieden. »Es ist ein einfacher und zuverlässiger Test.«Ich nickte.

»Und hier habt ihr noch eine Kleinigkeit, die ihr dazu essen könnt.«Edgar holte aus der Innentasche seines Mantels eine dreieckige Stange Toblerone. »Das ist alles, mach dich an die Arbeit. Halt! Welches Abteil? »

»Der Schlafwagen, Abteil 2.«

»Wir werden euch im Auge behalten«, versprach Edgar. Er stand auf und schaltete das Licht im Abteil aus. »Kostja, unter die Decke!«, kommandierte er. »Wir schlafen schon!«

So lagen meine Reisegefährten kurz darauf, als ich mit der Flasche und der Schokolade in den Gang hinaustrat, wirklich friedlich unter der Decke.

Lass schaute übrigens taktvoll an der geöffneten Tür vorbei - offenbar hatte er in der Tat seine eigenen Vorstellungen, was das Geschlecht meiner Freunde anging.

»Kognak?«, fragte Lass, als er die Flasche in meiner Hand sah.

»Besser. Zwanzig Jahre alter Armagnac.«

»Der ist nicht von schlechten Eltern«, stimmte Lass mir zu. »Manch andere kennen noch nicht einmal das Wort.«

»Andere?«, hakte ich nach, während ich Lass in den Nachbarwaggon folgte.

»Hm. Irgendwie ernste Menschen, durch deren Hände Millionen gehen und deren Wissen im Bereich der Trinkkultur sich auf das Weiße Pferd und Napoleon beschränkt. Mich hat der enge Horizont unserer politischen und wirtschaftlichen Elite immer erstaunt. Warum ist bei uns das Symbol für Erfolg ein 600er-Mercedes? Du unterhältst dich mit einem ernsten, seriösen Menschen, und plötzlich platzt der voller Stolz heraus: »Mein Benz ist Schrott, ich muss jetzt eine Woche lang mit dem 500er fahren!«Und in seinen Augen liegt sowohl die Selbstbeherrschung des Asketen, der sich mit einem 500er begnügt, wie auch der Stolz des Besitzers eines 6ooer! Früher habe ich gedacht, solange die neureichen Russen nicht auf den ihnen angemessenen Bentley oder Jaguar umsteigen, wird es mit diesem Land nicht bergauf gehen. Jetzt sitzen sie in den Schlitten, aber geändert hat sich trotzdem nichts! Die roten Jacketts schimmern immer noch unter den Hemden von Versace durch… Übrigens… einen tollen Modemacher haben sie da für kultig erklärt…«

Ich folgte Lass in ein gemütliches Abteil des Schlafwagens. Hier gab es nur zwei Betten, einen kleinen Ecktisch, ein darunter verstecktes dreieckiges Waschbecken und einen hochklappbaren Stuhl.

»Ehrlich gesagt ist es hier kleiner als in einem normalen Abteil«, bemerkte ich.

»Hm. Dafür funktioniert die Klimaanlage. Und dann das Waschbecken… eine Vorrichtung, die in vielen Situationen des Lebens gute Dienste leistet…«

Lass zog unter einer Bank seinen Aluminiumkoffer hervor und fing an, darin herumzukramen. Im Handumdrehen stand eine Einliterflasche aus Plastik auf dem Tisch. Ich langte danach, um mir das Etikett anzugucken. Tatsächlich: Kumys.

»Hast du gedacht, ich mach Spaß?«, grinste mein»Nachbar«. »Das ist ein sehr gesundes Getränk. Damit willst du handeln? »

»Ja, genau damit«, brummte ich.

»Daraus wird nichts, das Zeug ist kirgisisch. Du solltest sowieso besser nach Ufa fahren. Das ist näher, und du hast keine Probleme mit dem Zoll. Die machen Kumys und Busa. Hast du schon mal Busa probiert? Das ist eine Mischung aus Kumys und Haferschleim. Absolut widerlich! Macht dich aber schlagartig nüchtern!«

Auf dem Tisch waren in der Zwischenzeit eine Wurst, Karbonade, ein angeschnittenes Brot, eine Literflasche französischer Kognak der Marke Polignac, die ich nicht kannte, und eine Flasche französisches Evian-Wasser erschienen.

Ich schluckte und ergänzte das kulinarische Angebot um meine bescheidene Gabe. »Lass uns als Erstes den Armagnac probieren«, schlug ich vor.

»Gut«, meinte Lass, während er Plastikbecher für Wasser und zwei kleine Becher aus Neusilber für den Kognak hinstellte. »Öffne du.«

»Deinen Armagnac musst du schon selbst aufmachen«, parierte Lass mühelos. Stimmt schon, irgendwie klang da was faul!

»Mach du das lieber!«, verlangte ich ganz direkt. »Bei mir kriegen nie alle gleich viel.«

Lass guckte mich an, als sei ich ein Idiot. »Du nimmst das Ganze aber ernst«, konstatierte er. »Genehmigst dir wohl oft ein Gläschen mit Freunden?«

Trotzdem nahm er die Flasche an sich und machte sich daran, den Verschluss aufzudrehen. Ich wartete.

Lass keuchte und verzog das Gesicht. Hörte auf, an dem Verschluss zu drehen, um ihn stattdessen sorgfältig zu inspizieren. »Er muss eingetrocknet sein…«, murmelte er. Von wegen ein maskierter Anderer!

»Gib mal her«, sagte ich.

»Nein, jetzt warte«, empörte sich Lass. »Was ist das? Erhöhter Zuckergehalt? Gleich…«

Er packte den Saum seines T-Shirts, wickelte ihn um den Verschluss und drehte so heftig daran, dass seine Adern hervortraten. »Er kommt!«, rief er hitzig. »Er kommt!«Etwas splitterte. »Er kommt…«, wiederholte Lass unsicher. »Oh…«

Bedripst streckte er mir die Hände hin. In der einen hielt er die gläserne Flasche, in der andern den Verschluss - der fest in dem abgebrochenen Hals steckte. »Tut mir leid… so ein Mist…«

Doch schon im nächsten Moment flackerte in Lass' Blick so etwas wie Stolz auf. »Mann, hab ich Kräfte! Niemals hätte ich gedacht…«

Ich schwieg, während ich mir Edgars Gesicht vorstellte, der seinen kostbaren Artefakt eingebüßt hatte.

»War das eine wertvolle Flasche?«, fragte Lass schuldbewusst. »Antiquarisch oder so?«

»Ouatsch«, murmelte ich. »Um den Armagnac tut es mir leid. Da ist jetzt Glas drin.«

»Das macht nichts«, versicherte Lass munter. Er stellte die lädierte Flasche auf dem Tisch ab und kramte abermals in seinem Koffer herum. Schließlich beförderte er ein Taschentuch zu Tage und riss theatralisch das Etikett ab. »Das ist sauber. Nicht einmal gewaschen. Und kein chinesisches, sondern ein tschechisches, sodass wir keine Lungenentzündung befürchten müssen!«

Er faltete das Taschentuch zweimal, legte es über die Flaschenöffnung und goss den Armagnac ungerührt in die Becher. Dann hob er seinen. »Auf die Reise! »

»Auf die Reise!«, wiederholte ich.

Der Armagnac war mild, aromatisch und leicht süß, fast wie warmer Traubensaft. Er trank sich gut, ließ nicht mal den Gedanken aufkommen, man müsse etwas dazu essen - und explodierte bereits irgendwo tief in meinem Innern, so human und präzise, dass jede amerikanische Rakete vor Neid erblassen könnte.

»Ein ausgezeichnetes Tröpfchen«, lobte Lass und atmete tief aus. »Aber wie ich schon gesagt habe, ein zu hoher Zuckergehalt! Mir schmeckt armenischer Kognak gerade deshalb besser, weil er ein Minimum an Zucker enthält, dafür aber das ganze Aromaspektrum bewahrt… Lass uns noch einen trinken.«

Die zweite Runde kam in die Becher. Lass guckte mich herausfordernd an. »Auf die Gesundheit?«, schlug ich unsicher vor.

»Auf die Gesundheit«, stimmte Lass zu. Er trank aus und schnüffelte an dem Taschentuch. Dann schaute er zum Fenster hinaus und zuckte zusammen. »Mannomann… das Zeug haut dich um. »

»Was ist?«

»Du wirst denken, ich spinne, aber ich glaube, neben dem Waggon fliegt eine Fledermaus!«, rief Lass aus. »Eine riesige, so groß wie ein Schäferhund. Br, rr, rr…«

Ich nahm mir vor, mit Kostja mal ein paar freundliche Takte zu reden. »Das ist keine Fledermaus«, versuchte ich das Ganze als Scherz abzutun. »Sondern vermutlich ein Eichhörnchen.«

»Ein fliegendes Eichhörnchen«, grummelte Lass. »Ja, ja, keiner entkommt seinem Schicksal… Nein, das ist eine riesige Fledermaus, Ehrenwort!«

»Die ist bloß ziemlich dicht an die Scheibe herangeflogen«, vermutete ich. »Da du nur kurz hingeschaut hast, konntest du die Entfernung nicht richtig einschätzen, und da ist dir das Tier viel größer vorgekommen, als es eigentlich ist.«

»Hm, kann schon sein…«, meinte Lass nachdenklich. »Und was macht sie hier? Warum fliegt sie neben dem Zug her?«

»Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung«, sagte ich, griff mir die Flasche und schenkte die dritte Runde aus. »Eine Lok, die sich mit hoher Geschwindigkeit vorwärts bewegt, schafft vor sich eine Art Luftschild. Dieser Schild schlägt Mücken, Schmetterlinge und alles mögliche fliegende Getier k. o. und stößt es in die Luftstrudel hinein, die auf allen Seiten um den Zug herumwirbeln. Daher lieben Fledermäuse es, nachts neben einem fahrenden Zug herzufliegen und die ausgeschalteten Mücken zu fressen.«

Lass dachte darüber nach. »Und warum fliegen dann tagsüber nicht Vögel neben den Zügen her?«

»Das ist genauso einfach!«Ich hielt ihm den Becher hin. »Vögel sind viel dümmere Geschöpfe als Säugetiere. Daher haben Fledermäuse bereits mitgekriegt, wie sie einen Zug zur Nahrungsbeschaffung ausnutzen können, und Vögel eben noch nicht! In hundert, zweihundert Jahren wird auch zu den Vögeln vorgedrungen sein, wie sie von Zügen profitieren können.«

»Und warum bin ich nicht selbst dahintergekommen?«, wunderte sich Lass. »Das ist in der Tat höchst simpel! Also dann… auf einen guten Gedanken!«Wir tranken auf ex.

»Tiere sind eine erstaunliche Sache«, sagte Lass tiefsinnig. »Viel klüger, als Darwin es darstellt. Bei mir lebte mal…«

Was mal bei ihm gelebt hatte, ein Hund, eine Katze, ein Hamster oder ein Aquariumsfisch, bekam ich nicht mehr zu hören. Lass schaute erneut aus dem Fenster und wurde ganz grün im Gesicht.

»Da ist wieder… diese Fledermaus! »

»Sie fängt Fliegen«, erinnerte ich ihn.

»Aber was für Fliegen! Sie fliegt hinter dem Zug her wie auf Befehl! Ich sage dir, groß wie ein ausgewachsener Schäferhund!«

Lass stand auf und zog mit einer energischen Bewegung das Rouleau herunter. »Zum Teufel mit… Ich weiß ja, man soll abends nicht King lesen… Das nenn ich Fledermaus! Der reinste Pterodaktylus! Die fängt Eulen und Uhus, aber keine Mücken!«

Kostja ist doch ein Monster! Freilich, ein Vampir in Tiergestalt ist ebenso wie ein Werwolf ein Schwachkopf, der sich nicht mehr unter Kontrolle hat. Vermutlich gefiel es ihm, so um den nächtlichen Zug herumzufliegen, durch die Fenster zu spähen und auf Lichtmasten Pause zu machen. Aber die grundlegenden Vorsichtsmaßregeln durfte er dabei doch nicht einfach außer Acht lassen!

»Das sind Mutationen«, hatte Lass inzwischen befunden. »Strahlenbelastung, Risse im Reaktor, elektromagnetische Wellen, Funktelefone… Und wir lachen die ganze Zeit darüber, sagen, das ist Science Fiction… Dann noch die ständigen Lügen in den Boulevardblättern. Wenn ich das jemandem erzählen würde, würde der doch denken, ich sei entweder besoffen oder lüge wie gedruckt!«

Entschlossen öffnete er seinen Kognak. »Glaubst du eigentlich an Mystik?«, fragte er.

»Das tu ich«, antwortete ich würdevoll.

»Ich auch«, gab Lass zu. »Jetzt. Früher nicht…«Ängstlich schaute er zu dem verhangenen Fenster hinüber. »Du lebst so vor dich hin, dann triffst du irgendwo im Moor von Pskow einen lebenden Yeti und drehst völlig durch! Oder du siehst eine meterlange Ratte. Oder…«Er wedelte mit der Hand und goss Kognak in unsere Becher. »Vielleicht leben ja wirklich in deiner Nachbarschaft Hexen, Vampire oder Tiermenschen? Schließlich gibt es keine zuverlässigere Tarnung, als das eigene Erscheinungsbild in die Populärkultur einzuschleusen. Eine Beschreibung in einem belletristischen Werk, eine Darstellung im Film - und schon hörst du auf, schrecklich und geheimnisvoll zu sein. Echter Horror braucht die mündliche Rede, braucht einen alten Opa, der vor seinem Häuschen hockt und mit Angst einflößender Stimme anfängt: »Und dann hat der Herr sich ihm gezeigt und gesagt: Ich lass dich nicht laufen, ich fessel dich, ich schnür dich zusammen, du wirst im Windbruch verfaulen!«So ist dann auch die echte Angst vor anormalen Erscheinungen entstanden! Kinder spüren das übrigens, deshalb erzählen sie auch so gern Geschichten wie die von der Schwarzen Hand und dem Sarg auf Rädern. Die moderne Literatur und vor allem das Kino höhlen diesen instinktiven Horror aus. Wie soll man vor Dracula Angst haben, wenn er schon hundert Mal getötet worden ist? Wie soll man sich vor Außerirdischen fürchten, wenn unsere Leute sie immer in Staub verwandeln? Nein, Hollywood - das ist der große Betäuber der menschlichen Wachsamkeit! Trinken wir auf den Tod von Hollywood, das uns die gesunde Angst vor dem Unbekannten nimmt!«

»Darauf immer!«, sagte ich begeistert. »Was treibt dich eigentlich wirklich nach Kasachstan, Lass? Da kann man doch nicht etwa tatsächlich gut Urlaub machen?«

Lass zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es selbst nicht«, antwortete er. »Plötzlich wollte ich was Exotisches, Kumys im Melkeimer, Kamelreiten, Hammelkämpfe, Hammeleintopf aus einem Kupfernapf, Schönheiten mit ungewöhnlichen Gesichtszügen, baumartige Haschpflanzen in den städtischen Grünanlagen…»

»Was?«, fragte ich begriffsstutzig. »Was für Hasch?«

»Baumartiger. Hasch ist eigentlich ein Baum, nur dass niemand ihn so hoch wachsen lässt«, erklärte Lass mit einem ebenso ernsten Gesicht, wie ich es bei meiner Geschichte über Fledermäuse und sonstiges fliegendes Getier aufgesetzt hatte. »Mir ist das völlig egal, ich versau mir mit Tabak die Gesundheit, aber ich will ein bisschen Exotik…«

Er holte eine Packung Belomor heraus und zündete sich eine Zigarette an. »Gleich kommt der Waggonbetreuer«, warnte ich.

»Der kommt nicht, ich habe ein Kondom über den Rauchmelder gezogen.«Mit einer Kopfbewegung deutete Lass nach oben. Über den aus der Wand herauslugenden Melder war tatsächlich ein leicht aufgeblasenes Kondom gestülpt. Zartrosa, mit Plastiknoppen.

»Trotzdem glaube ich, dass du dir falsche Vorstellungen von der kasachischen Exotik machst«, sagte ich.

»Jetzt ist es zu spät, um darüber nachzudenken, schließlich sitz ich ja schon im Zug«, brummte Lass. »Heute Morgen ist es mir so durch den Kopf geschossen, warum ich eigentlich nicht mal nach Kasachstan fahre. Dann habe ich meine Sachen zusammengepackt, meinen Stellvertreter instruiert - und ab in den Zug.«Ich merkte auf.

»Du bist einfach so los? Bist du immer so spontan?«

Lass dachte nach. Schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Aber diesmal hat es mich irgendwie angepikt… Ach, lassen wir das. Genehmigen wir uns lieber noch ein letztes Schlückchen…«

Während er eingoss, schaute ich ihn mir abermals durchs Zwielicht an.

Selbst jetzt, da ich wusste, wonach ich suchte, nahm ich nur mit Mühe die Spur wahr - so elegant und leicht war die Berührung des unbekannten Anderen gewesen. Eine Spur, die bereits verlosch, die fast erkaltet war.

Eine einfache Intervention, zu der selbst der schwächste Andere in der Lage ist. Aber unglaublich akkurat!

»Gut«, stimmte ich zu. »Mir fallen die Augen auch schon zu… Aber ich hoffe, wir quatschen noch mal miteinander.«

In der nächsten Stunde durfte ich an Schlaf allerdings nicht denken. Mir stand ein Gespräch mit Edgar bevor, möglicherweise auch eins mit Geser.

Vier

Betrübt blickte Edgar auf die Scherben der Flasche. Leider eignete sich seine Aufmachung jedoch so gar nicht, schweren Kummer auszudrücken: weite, fröhlich bedruckte Unterhosen, ein ausgeleiertes Hemd und ein zwischen Unterhose und Hemd hervorlugendes Bäuchlein. Um ihr körperliches Erscheinungsbild sorgen sich Inquisitoren nicht sehr, sie vertrauen offenbar ganz auf kraftvolle Magie.

»Du bist hier nicht in Prag«, versuchte ich ihn zu trösten. »Das ist Russland. Wenn sich eine Flasche nicht ergibt, wird ihr hier der Hals umgedreht.«

»Jetzt muss ich eine Erklärung schreiben«, sagte Edgar finster. »Die Bürokraten in Tschechien sind nicht besser als die in Russland. »

»Dafür wissen wir jetzt aber, dass Lass kein Anderer ist.«

»Nichts wissen wir«, brummte der Inquisitor mürrisch. »Ein positives Resultat wäre eindeutig gewesen. So ist es ein negatives… nun, es könnte schließlich sein, dass er als sehr starker Anderer die Falle gespürt hat. Und sich dann einen Scherz erlaubt hat… zumindest was er dafür hält.«

Ich hüllte mich in Schweigen. Diese Möglichkeit durften wir in der Tat nicht außer Acht lassen.

»Er wirkt nicht wie ein Anderer«, bemerkte Kostja leise. Er saß bloß in Unterhose im Bett, schweißgebadet und schwer atmend.

Offenbar hatte er zu lange im Körper einer Fledermaus Unfug getrieben. »Ich habe ihn im Assol überprüft. Mit allen Mitteln. Und jetzt auch… Er wirkt nicht wie ein Anderer.«

»Wir beiden haben auch noch ein Wörtchen miteinander zu reden«, fuhr ihn Edgar an. »Warum bist du direkt vor seinem Fenster herumgeflattert? »

»Ich habe ihn beobachtet.«

»Hättest du nicht an die Decke fliegen und dich kopfüber da hinhängen können?«

»Bei einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern? Ich bin zwar ein Anderer, aber die Gesetze der Physik kann ich nicht ändern. Es hätte mich fortgerissen!«

»Aber die Physik hindert dich nicht daran, mit einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern zu fliegen? Du kannst dich halt bloß nicht auf das Dach des Zuges setzen, ja?«

Kostja zog die Brauen zusammen und hüllte sich in Schweigen. Er langte nach seinem Jackett und beförderte eine kleine Flasche zu Tage. Und trank einen Schluck, irgendein dickes dunkelrotes, fast schwarzes Zeug.

Edgar runzelte die Stirn. »Was ist? Brauchst du bald was… zu essen?«

»Wenn ich mich nicht mehr transformieren muss, erst morgen Abend.«Kostja schüttelte die Flasche. Etwas gluckerte träge. »Zum Frühstück reicht es noch.«

»Ich könnte… angesichts der besonderen Umstände…«Edgar schielte zu mir herüber. »… dir eine Lizenz geben.«

»Nein«, sagte ich schnell. »Das würde den derzeitigen Status quo zerstören.«

»Konstantin steht jetzt in Diensten der Inquisition«, erinnerte mich Edgar. »Die Lichten werden entsprechend Kompensation erhalten. »

»Nein«, wiederholte ich.

»Er braucht Nahrung. Und die Menschen in diesem Zug sind vermutlich eh alle verdammt. Alle, bis auf den letzten.«Kostja schwieg. Sah mich an. Ohne zu lächeln, völlig ernst…

»Dann verlasse ich den Zug«, sagte ich. »Dann könnt ihr machen, was ihr wollt.«

»Jetzt spricht die Nachtwache aus dir«, brachte Kostja leise heraus. »Du wäschst deine Hände in Unschuld, nicht wahr? Das macht ihr ja immer. Ihr selbst weist uns die Menschen zu - um dann abfällig das Gesicht zu verziehen.«

»Ruhe jetzt!«, brüllte Edgar, indem er sich erhob und sich zwischen uns stellte. »Und zwar alle beide! Wenn ihr euch streiten wollt, verschiebt das auf später! Kostja, brauchst du eine Lizenz? Oder kannst du noch durchhalten?«

»Ich brauche keine Lizenz«, antwortete Kostja kopfschüttelnd. »In Tambow machen wir Halt, da verschwinde ich kurz und fang mir ein paar Katzen.«

»Warum gerade Katzen?«, wollte Edgar wissen. »Warum nicht… äh… beispielsweise Hunde?«

»Es würde mir leid tun, einen Hund zu töten«, erklärte Kostja. »Bei Katzen ist es eigentlich genauso… aber wo kriege ich denn in Tambow eine Kuh oder ein Schaf her? Und auf den kleinen Bahnhöfen hält der Zug nicht lange.«

»Du bekommst in Tambow einen Hammel«, versprach Edgar. »Wir brauchen… der Mythenbildung keine neue Nahrung zu geben. So hat schließlich einmal alles angefangen: Jemand findet eine blutlose Tierleiche, schreibt einen Artikel für ein Boulevardblatt…«

Er holte sein Handy heraus und wählte eine eingespeicherte Nummer. Er musste lange warten, bis der friedlich schlafende Mensch endlich ranging.

»Dmitri? Spar dir das Gejammer, zum Schlafen ist jetzt keine Zeit, die Heimat ruft…«Er schielte zu uns herüber. »Einen ganz herzlichen und hochoffiziellen Gruß von Solomon«, sagte Edgar dann betont.

Eine Zeit lang schwieg Edgar, entweder um dem Menschen Zeit zu lassen, zu sich zu kommen, oder um sich die Antwort anzuhören.

»Ja. Edgar. Erinnerst du dich noch? Genau der«, sagte Edgar. »Wir haben dich nicht vergessen. Und jetzt bräuchten wir deine Hilfe. In vier Stunden macht in Tambow der Zug MoskauAlmaty Halt. Wir brauchen einen Hammel. Was?«

Eine Sekunde lang hielt Edgar das Handy vom Ohr weg und legte die Hand darüber. »Was für Esel, diese angeheuerten Leute!«, empörte sich Edgar.

»Einen Esel würde ich auch nehmen«, feixte Kostja.

Dann sprach Edgar wieder ins Handy. »Nein, nicht du. Ja, ein Hammel. Ein Tier. Oder ein Schaf. Oder eine Kuh. Das ist mir egal. In vier Stunden wartest du mit dem Tier in der Nähe des Bahnhofs. Nein, ein Hund geht nicht! Weil es eben nicht geht! Nein, niemand wird ihn essen. Das Fleisch und das Fell kannst du mitnehmen. Das war's, ich melde mich wieder, kurz bevor wir ankommen.«

Damit beendete Edgar das Gespräch. »In Tambow müssen wir mit einem sehr bescheidenen… Kontingent zurechtkommen«, erklärte er. »Momentan gibt es dort keine Anderen, nur Menschen, die wir angeheuert haben.«

»Oh, oh«, konnte ich nur sagen. In den Wachen haben noch nie Menschen gearbeitet.

»Manchmal kommt man da nicht drum herum«, meinte Edgar nebulös. »Aber keine Sorge, er wird das schon schaffen. Schließlich wird er dafür bezahlt. Du kriegst deinen Hammel, Kostja.«

»Danke«, erwiderte Kostja friedlich. »Ein Schaf wäre natürlich besser gewesen. Aber ein Hammel tut's auch.«

»Habt ihr die kulinarische Diskussion jetzt beendet?«, konnte ich mir nicht verkneifen. »Unsere Kampffähigkeit ist ebenfalls ein wichtiger Faktor…«, brachte Edgar mit Nachdruck hervor. »Du bleibst also dabei, dass bei diesem… Lass… eine magische Intervention vorgenommen worden ist?«

»Ja. Heute Morgen. Ihm ist der Wunsch eingegeben worden, mit dem Zug nach Alma-Ata zu fahren.«

»Sinnvoll wäre das schon«, meinte Edgar. »Wenn du die Spur nicht entdeckt hättest, hätten wir ihn vermutlich für unseren Mann gehalten. Und hätten jede Menge Kraft und Zeit mit ihm vergeudet. Aber das heißt…«

»Dass der Täter mit den Fällen der Wachen aufs Beste vertraut ist«, meinte ich nickend. »Er weiß über die Ermittlungen im Assol Bescheid, weiß, wen wir in Verdacht hatten. Das heißt…«

»Jemand von ganz oben«, pflichtete mir Edgar bei. »Fünf, sechs Andere aus der Nachtwache, genauso viele aus der Tagwache. Sagen wir mal insgesamt zwei Dutzend… Das sind immer noch sehr, sehr wenige. »

»Oder jemand von der Inquisition«, gab Kostja zu bedenken.

»Nun mach mal halb lang! Und nenn mir einen Namen, Freundchen! Einen Namen!«Edgar grinste. »Wer?«

»Viteszlav.«Kostja schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Zum Beispiel.«

Ein paar Sekunden lang glaubte ich, der normalerweise so unerschütterliche Dunkle Magier würde aufs Übelste losschimpfen. Obendrein mit baltischem Akzent. Doch Edgar riss sich zusammen. »Nach deiner Transformation musst du doch sehr müde sein, oder, Konstantin? Vielleicht solltest du dich schlafen legen?«

»Edgar, ich bin jünger als du, aber wir beide, du und ich, sind die reinsten Wickelkinder im Vergleich zu Viteszlav«, erwiderte Kostja gelassen. »Was haben wir denn gesehen? Einen Anzug voller Asche. Haben wir die Asche persönlich überprüft?«Edgar hüllte sich in Schweigen.

»Ich bin nicht sicher, dass man die Überreste eines Vampirs bestimmen kann…«, warf ich ein.

»Weshalb sollte Viteszlav…«, setzte Edgar an.

»Macht«, sagte Kostja lakonisch.

»Was hat Macht damit zu tun? Wenn er das Buch hätte stehlen wollen, warum hat er dann seinen Fund erst bekannt gegeben? Er hätte es klammheimlich an sich nehmen und verschwinden können. Als er es gefunden hat, war er allein! Verstehst du? Allein!«

»Vielleicht hat er nicht gleich begriffen, was er da gefunden hatte«, parierte Kostja. »Oder sich nicht sofort zu dem Verbrechen durchgerungen. Aber den eigenen Tod zu inszenieren und mit dem Buch unterzutauchen, während wir seinen Mörder jagen, ist ein brillanter Schachzug!«

Edgars Atem beschleunigte sich. »Gut«, meinte er. »Ich werde darum bitten, das man dem nachgeht. Ich setze mich gleich mit… mit den Hohen in Moskau zusammen und bitte sie, die Asche zu überprüfen.«

»Vorsichtshalber solltest du auch Geser und Sebulon bitten, die Überreste zu prüfen«, riet Kostja. »Wir können nicht sicher sein, dass die beiden nichts mit der Sache zu tun haben.«

»Bring einer Henne nicht das Eierlegen bei…«, brummte Edgar. Er setzte sich bequemer hin - und klinkte sich aus dem Geschehen aus.

O ja, Geser und Sebulon dürften diese Nacht auch kein Auge zutun.

Ich gähnte. »Meine Herren, machen Sie, was Sie wollen, aber ich leg mich jetzt schlafen«, verkündete ich.

Edgar antwortete nicht, da er gerade telepathisch mit einem der Großen kommunizierte. Kostja nickte und verschwand ebenfalls unter der Bettdecke.

Ich kletterte zur oberen Liege, zog mich aus und stopfte Jeans und Hemd in das Fach über dem Bett. Dann nahm ich die Uhr ab und legte sie neben mich, denn ich schlafe nicht gern mit dem Ding. Unter mir kippte Kostja den Schalter vom Nachtlicht um - es wurde dunkel.

Edgar saß reglos da. Die Räder ratterten gemütlich. In Amerika sollen in die langen, in einem Stück gegossenen Schienen angeblich spezielle Rillen eingelassen sein, um das Rattern zu imitieren und dieses gemütliche Geklopfe der Räder zu erzeugen… Ich konnte nicht einschlafen.

Jemand hatte einen Hohen Vampir ermordet. Oder dieser Vampir hatte seinen Tod selbst inszeniert. Das spielte keine Rolle. In beiden Fällen verfügte da jemand über unvorstellbare Kraft.

Warum hatte er fliehen müssen? Sich in einem Zug verstecken - und dabei das Risiko eingehen, dass der ganze Zug gesprengt oder beispielsweise von Hunderten von Hohen umstellt wird, die jeden Einzelnen überprüfen? Das ist dumm, unnötig und riskant. Wenn du erst mal der stärkste Andere geworden bist, fällt dir die Macht früher oder später sowieso zu. In hundert Jahren, in zweihundert, wenn alles vergessen ist, was die Hexe Arina und das mythenumwobene Buch angeht. Wenn auch nicht jedem, aber Viteszlav wäre das klar gewesen.

Das sieht zu sehr… nach einem Menschen aus. Verworren und unlogisch. Überhaupt nicht wie die Tat eines weisen starken Anderen.

Doch nur ein solcher Anderer konnte Viteszlav ermordet haben. Schon wieder passten nicht alle Teile zusammen…

Unten rührte sich Edgar. Seufzte, raschelte mit der Decke und kletterte ebenfalls auf seine Liege hinauf.

Ich schloss die Augen und versuchte mich so gut es ging zu entspannen.

Ich stellte mir vor, wie sich die Gleise hinter dem Zug dahinzogen… von einem großen Bahnhof zu einem kleinen, vorbei an Städten und Städtchen, bis hin nach Moskau, wo fächerförmig vom Bahnhof Straßen abgingen, um hinter der Ringautobahn zu einer Berg- und Talbahn zu werden, um sich hundert Kilometer weiter in holprige kleine Wege zu verwandeln, die zu einem gotterbärmlichen Dörflein führten, zu einem alten Holzhaus…

»Swetlana?«

»Ich hab dich schon erwartet, Anton. Was macht ihr?«

»Wir sind im Zug. Hier ist was Merkwürdiges passiert…«

Ich versuchte, mich ihr maximal zu öffnen… na ja, fast maximal. Ich rollte mein Gedächtnis aus wie eine Stoffbahn auf dem Tisch einer Schneiderin. Der Zug, die Inquisitoren, das Gespräch mit Lass, das Gespräch mit Edgar und Kostja…

»Komisch«, sagte Swetlana nach einer kurzen Pause. »Sehr komisch. Ich habe den Eindruck, als ob jemand mit euch spielt. Das gefällt mir nicht, Anton. »

»Mir auch nicht. Wie geht es Nadja? »

»Sie schläft schon lange.«

In einem Gespräch wie diesem, das nur Andere verstehen können, fehlt jede Intonation. Allerdings wird sie durch irgendwas ersetzt. Und ich spürte eine leichte Unsicherheit Swetlanas. »Du bist nicht zu Hause, oder? »

»Stimmt. Ich bin zu Besuch bei einer alten Frau. »

»Swetlana!«

»Ich bin wirklich zu Besuch, also mach dir keine Sorgen! Ich wollte mit ihr die ganze Situation durchgehen… und etwas über das Buch erfahren.«

Ich hätte doch gleich wissen müssen, dass nicht nur die Sorge um unsere Tochter Swetlana gezwungen hat, uns zu verlassen. »Und was hast du rausbekommen?«

»Es war das Fuaran. Ebendas. Das echte. Und… was Gesers Sohn anging, da hatten wir Recht. Unsere Alte war mit sich und der Welt zufrieden… und hat nützliche Kontakte wiederhergestellt. »

»Und dann hat sie das Buch geopfert?«

»Ja. Sie hat es in der hundertprozentigen Überzeugung zurückgelassen, dass das Geheimversteck schnell gefunden wird und man dann die Fahndung nach ihr einstellt.«

»Und was hält sie von dem, was passiert ist?«Angestrengt versuchte ich, Namen zu vermeiden - als ob so ein Gespräch abgehört werden könnte.

»Ich glaube, sie ist in Panik geraten. Obwohl sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen.«

»Swetlana, wie schnell kann das Fuaran einen Menschen in einen Anderen verwandeln?«

»Fast sofort. Man braucht etwa zehn Minuten, um alle Zaubersprüche aufzusagen, dann sind noch ein paar Zutaten nötig… oder genauer gesagt eine - das Blut von zwölf Menschen. Selbst wenn von jedem nur ein Tropfen gebraucht wird, aber es müssen zwölf verschiedene Menschen sein. »

»Weshalb?«

»Das musst du Fuaran fragen. Ich bin überzeugt, dass statt Blut auch jede andere Flüssigkeit ginge, aber die Hexe hat den Zauberspruch an Blut gebunden… Also zehn Minuten Vorbereitung, zwölf Tropfen Blut, und du kannst aus einem Menschen einen Anderen machen. Oder aus einer ganzen Gruppe von Menschen. Hauptsache, sie sind alle in deinem Blickfeld. »

»Und wie stark werden sie sein?«

»Das variiert. Aber schwache Andere können mit dem nächsten Zauberspruch auf eine höhere Stufe gezogen werden. Theoretisch kannst du aus jedem Menschen einen Hohen Magier machen.«

Etwas hatte sie gesagt. Etwas Wichtiges. Nur kriegte ich diesen Faden im Moment noch nicht zu fassen… »Und was fürchtet… die Alte, Sweta? »

»Eine Massenverwandlung der Menschen in Andere. »

»Will sie nicht herkommen und ein Geständnis ablegen? »

»Nein, sie will die Beine in die Hand nehmen. Und ich verstehe sie.«

Ich seufzte. Arina sollte eigentlich schon zur Verantwortung gezogen werden… wenn die Inquisition sie dann nicht wegen Sabotage anklagen würde. Und wieder einmal hatte Geser seine Finger im Spiel…

»Sweta, frage sie doch…frage sie, weshalb der Dieb nach Osten fahren könnte? Hat das Fuaran vielleicht mehr Kraft an dem Ort, wo es geschrieben worden ist?«

Pause. Zu dumm, dass das kein Handy war, dass ich mit der Hexe nicht persönlich sprechen konnte. Denn ein direktes Gespräch ist nur zwischen Anderen möglich, die sich nahe stehen. Oder zumindest Gleichgesinnte sind.

»Nein… Sie wundert sich sehr darüber. Sie sagt, dass es keine Verbindung zwischen dem Fuaran und dieser Gegend gebe. Das Buch würde auch im Himalaja funktionieren oder an der Antarktis oder der Elfenbeinküste.«

»Dann… dann frag sie, ob Viteszlav es benutzen könnte. Immerhin ist er ein Vampir, ein niederer Anderer…«Abermals Pause.

»Er könnte. Ob Vampir oder Tiermensch, das spielt keine Rolle. Auch nicht, ob Dunkler oder Lichter. Es gibt keine Einschränkungen. Bis auf die, dass Menschen das Buch nicht benutzen können. »

»Das ist klar… Sonst noch was?«

»Nein, Anton. Ich hatte gehofft, sie könne uns einen Hinweis geben… Aber ich habe mich geirrt. »

»Gut. Vielen Dank. Ich liebe dich.«

»Ich dich auch. Schlaf gut. Ich bin überzeugt, dass morgen früh alles besser aussieht…«

Das dünne Fädchen, das zwischen uns gespannt gewesen war, riss. Ich zuckte zusammen, dann machte ich es mir gemütlich. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und schaute zum Tisch hinunter.

Die Nadel des»Kompasses«drehte sich nach wie vor. Das Fuaran war im Zug.

Nachts wachte ich zwei Mal auf. Einmal, als einer der Inquisitoren zu Edgar kam, um ihm zu berichten, dass sie bestimmte Beweise nicht hatten entdecken können. Das zweite Mal, als der Zug in Tambow hielt und Kostja sich leise aus dem Abteil schlich.

Erst nach zehn stand ich auf.

Edgar trank Tee. Kostja, rosig und frisch, kaute ein Wurstbrot. Die Nadel drehte sich. Alles wie gehabt.

Ich zog mich gleich im Bett an und sprang nach unten. Zu meinem Bettzeug gehörte ein winziges Stück Seife - das war jedoch alles, was mir für meine Körperpflege zur Verfügung stand.

»Nimm das«, brummte Kostja und reichte mir eine Plastiktüte. »Ich habe was besorgt… in Tambow…«

In der Tüte entdeckte ich ein Päckchen Einwegrasierklingen und eine kleine Flasche mit Rasiercreme von Gillette, eine Zahnbürste und Zahncreme der Marke Neue Perle.

»Eau de Cologne habe ich vergessen«, fügte Kostja hinzu. »Ich habe nicht daran gedacht.«

Kein Wunder, dass er es vergessen hatte. Vampire und Tiermenschen haben etwas gegen starke Gerüche. Ob vielleicht auch die Wirkung des Knoblauchs, der im Grunde für Vampire absolut unschädlich ist, darauf beruht, dass er Vampire daran hindert, ihre Opfer zu wittern? »Danke«, sagte ich.

»Was kriegst du?«Kostja winkte ab.

»Ich habe ihm schon Geld gegeben«, teilte Edgar mit. »Du bekommst übrigens auch Tagegeld für eine Dienstreise. Fünfzig Dollar pro Tag plus die Summe für die Verpflegung, die du mit Quittungen nachweisen kannst.«

»Die Inquisition lebt nicht schlecht«, stichelte ich. »Gibt es Neuigkeiten?«

»Geser und Sebulon versuchen, alles über die Gebeine von Viteszlav herauszubekommen.«So drückte er sich aus, die Gebeine, feierlich und offiziell. »Es ist schwierig, etwas zu sagen.

Du weißt ja: Je älter ein Vampir, desto weniger bleibt von ihm nach dem Tod übrig…«

Kostja kaute konzentriert sein Brot.

»Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Ich geh mich mal waschen.«

Im Waggon waren bereits fast alle wach, nur bei ein paar Abteilen, wo es gestern Abend heiß hergegangen war, waren die Türen noch geschlossen. Nachdem ich in der kurzen Schlange angestanden hatte, zwängte ich mich in das Zugklo mit seinem Armeekomfort. Das warme Wasser kam in einem dünnen Strahl träge aus dem Hahn. Die polierte Stahlfolie, die den Spiegel ersetzte, war seit langem über und über mit kleinen Spritzern übersät. Während ich mir die Zähne mit der harten Zahnbürste aus China putzte, ließ ich mir mein nächtliches Gespräch mit Sweta noch einmal durch den Kopf gehen.

Irgendwas Wichtiges hatte sich zwischen ihren Worten versteckt. Es war da - aber weder Swetlana noch ich verstanden es. Dabei musste ich es verstehen.

Als ich ins Abteil zurückkehrte, war ich der Wahrheit zwar kein Stück näher gekommen, hatte aber eine Idee, die mir Erfolg versprechend schien. Meine Reisegefährten hatten ihr Frühstück bereits beendet. Ich schloss die Tür und packte den Stier gleich bei den Hörnern. »Edgar, ich habe eine Idee. Deine Jungs sollen auf einem langen Streckenabschnitt die Waggons abkoppeln. Einen nach dem andern. Einer von ihnen soll den Maschinisten kontrollieren, damit der Zug nicht anhält. Wir behalten den»Kompass«im Auge. Sobald der Waggon mit dem Buch abgekoppelt ist, zeigt die Nadel uns das an. »

»Ja und?«, fragte Edgar desinteressiert.

»Wir orten das Buch. Mit der Genauigkeit von einem Waggon. Dann können wir den Waggon umstellen und jeden Fahrgast einzeln mit seinem Gepäck herauslotsen. Sobald wir den Mörder haben, wird die Nadel uns das zeigen. Das war's! Dann brauchen wir den Zug nicht zu sprengen!«

»Ich habe auch schon darüber nachgedacht«, gab Edgar ungern zu. »Es gibt ein einziges Argument dagegen, das ist jedoch ausschlaggebend. Der Täter wird merken, was im Gang ist. Und könnte als Erster zuschlagen.«

»Dann kommen eben auch Geser, Sebulon, Swetlana, Olga… haben die Dunklen noch weitere starke Magier?«Ich sah Kostja an.

»Die werden sich finden«, wich Kostja aus. »Reichen unsere Kräfte denn? »

»Gegen einen einzigen Anderen?«

»Der nicht irgendein Anderer ist«, erinnerte mich Edgar. »Der Legende zufolge haben sich mehrere hundert Magier zusammengefunden, um Fuaran zu töten.«

»Dann werden auch wir unsere Kräfte zusammenziehen. Die Nachtwache hat fast zweihundert Mitarbeiter, in der Tagwache sind es nicht weniger. Hinzu kommen noch Hunderte von Reservisten. Jede Seite kann mindestens tausend Andere aufstellen.«

»Die in der Regel schwach sind, sechster, siebter Grad. Die echten Magier, vom dritten Grad an aufwärts, zählen nicht mehr als ein paar Hundert.«Edgar sprach so überzeugt, dass kein Zweifel aufkommen konnte: Er hatte die Variante eines direkten Kräftemessens tatsächlich schon in Gedanken durchgespielt. »Das könnte reichen, wenn die Dunklen und die Lichten durch Inquisitoren unterstützt werden, die Amulette einsetzen und beide Kräfte vereinen. Aber es muss nicht reichen. Dann würden die stärksten Kämpfer sterben, und der Täter hätte freie Hand. Meinst du nicht, dass er genau darauf hofft?«Ich schüttelte den Kopf.

»Darüber habe ich nämlich schon nachgedacht«, meinte Edgar mit düsterer Genugtuung. »Der Täter kann den Zug als Falle benutzen, in die alle starken Magier Russlands tappen. Er könnte den ganzen Zug mit Zaubern beladen haben, die wir nicht spüren.«

»Warum machen wir uns dann überhaupt noch die Mühe?«, fragte ich. »Warum sind wir dann hier? Eine Atombombe - und alle unsere Probleme wären gelöst.«

»Ja«, meinte Edgar nickend. »Wir brauchten eine Atombombe, denn sie geht durch alle Schichten des Zwielichts hindurch. Aber zunächst müssen wir sicherstellen, dass uns das Zielobjekt nicht im letzten Moment entwischt. »

»Schlägst du dich jetzt auf Sebulons Seite?«, wollte ich wissen.

Edgar seufzte. »Ich schlage mich auf die Seite des gesunden Verstandes. Bei einer vollständigen Überprüfung des Zuges unter Hinzuziehung etlicher Kräfte droht uns ein magisches Gemetzel. Die Menschen sterben jedoch so oder so. Sprengen wir den Zug - ja, dann würden mir die Menschen leid tun. Aber immerhin würden wir auf diese Weise weltweite Konflikte vermeiden. »

»Aber wenn es noch eine Chance gibt…«, setzte ich an.

»Die gibt es«, pflichtete Edgar mir bei. »Deshalb schlage ich vor, unsere Suche fortzusetzen. Kostja und ich schnappen uns meine Jungs als Hilfe und durchkämmen den Zug - gleichzeitig vom ersten und vom letzten Waggon aus. Wir werden Amulette einsetzen und gegebenenfalls versuchen, den Verdächtigen durchs Zwielicht zu überprüfen. Und du sprich noch mal mit Lass. Schließlich gehört er immer noch zu unseren Verdächtigen.«

Ich zuckte mit den Schultern. All das erinnerte mich bloß schrecklich an die Imitation einer Suche. Im tiefsten Herzen hatte Edgar bereits kapituliert. »Wann ist die Stunde X?«, fragte ich.

»Morgen Abend«, antwortete Edgar. »Wenn wir durch die menschenleeren Landstriche bei Semipalatinsk kommen. Dort sind sowieso schon Bomben gezündet worden… ein taktischer Sprengkörper mehr richtet dort keinen großen Schaden an. »

»Erfolgreiche Jagd«, sagte ich und ging aus dem Abteil.

Das war doch Wahnsinn. Das alles war nur eine Zeile in einem Bericht, an dem Edgar innerlich schon schrieb. »Ungeachtet der ergriffenen Maßnahmen konnten weder der Täter lokalisiert noch das Fuaran sichergestellt werden…«

Ab und zu hatte ich schon mal darüber nachgedacht, ob die Inquisition nicht eine reale Alternative zu den Wachen ist. Womit beschäftigen wir uns denn schon? Wir grenzen Menschen und Andere voneinander ab. Achten darauf, dass die Menschen durch die Handlungen der Anderen nur minimal betroffen sind. Gewiss, praktisch ist das unmöglich, denn einige Andere sind von Natur aus Parasiten. Und die Widersprüche zwischen Dunklen und Lichten sind nun mal so, dass Konfrontationen unvermeidlich sind.

Aber es gibt noch die Inquisition, sie steht über den Wachen, sie bewahrt das Gleichgewicht, sie ist die dritte Kraft und die abgrenzende Struktur einer höheren Ordnung, sie korrigiert die Fehler der Wachen… Und jetzt stellte sich raus: Dem ist nicht so.

Es gibt keine dritte Kraft. Es gibt sie nicht - und hat sie nie gegeben.

Die Inquisition ist das Werkzeug, um Dunkle und Lichte voneinander abzugrenzen. Mehr nicht. Sie achtet auf die Einhaltung des Großen Vertrages, aber nicht im Interesse der Menschen, sondern ausschließlich im Interesse der Anderen. Die Inquisition, das sind die Anderen, die wissen: Wir sind alle Parasiten, ein Lichter Magier ist um keinen Deut besser als ein Vampir.

Und in der Inquisition zu arbeiten heißt, sich damit abzufinden. Es heißt, endgültig erwachsen zu werden, den naiven jugendlichen Maximalismus gegen einen gesunden erwachsenen Zynismus einzutauschen. Anzuerkennen, dass es Menschen gibt und dass es Andere gibt - und das die beiden nichts miteinander verbindet.

Bin ich bereit, das anzuerkennen? Ja, vermutlich.

Aber aus irgendeinem Grund will ich nicht in die Inquisition wechseln.

Lieber reiß ich in der Nachtwache meine Stunden ab. Gehe meiner absolut überflüssigen Arbeit nach, die darin besteht, absolut überflüssige Menschen zu schützen.

Und warum überprüfte ich dann nicht jetzt unsern einzigen Verdächtigen? Noch hatte ich Zeit.

Lass war bereits wach. Er saß in seinem Abteil, schaute finster auf die erbärmliche Landschaft draußen. Der Tisch war hochgeklappt, im Waschbecken kühlte er unter dem dünnen Wasserstrahl eine Flasche Kumys.

»Hier fehlt ein Kühlschrank«, sagte er traurig. »Selbst im besten Waggon ist kein Kühlschrank im Abteil vorgesehen. Willst du Kumys?«

»Ich habe bereits gefrühstückt. »

»Wann? »

»Na gut, ein klitzekleines Schlückchen…«, stimmte ich zu.

Den Kognak goss Lass in der Tat tröpfchenweise ein, gerade so viel, um die Lippen zu befeuchten. Wir tranken ex. »Was hat mich nur gestern gepikt?«, meinte Lass nachdenklich. »Sag mir mal ganz ehrlich, warum ein normaler Mensch plötzlich auf die Idee kommt, in Kasachstan Urlaub zu machen? Spanien, gut. Türkei, ja. Peking, ja - zum Kussfestival, falls du auf Extremtourismus stehst. Aber Kasachstan?«Ich zuckte mit den Schultern.

»Das muss eine merkwürdige Fluktuation meines Bewusstseins gewesen sein«, sagte Lass. »Ich habe einfach gedacht…»

»Und jetzt willst du aussteigen«, fuhr ich fort.

»Richtig. Und dann steige ich in den nächsten Zug wieder ein. In die entgegengesetzte Richtung.«

»Eine kluge Entscheidung«, sagte ich ehrlich. Erstens waren wir damit einen Verdächtigen los. Zweitens würde ein anständiger Mensch gerettet.

»In ein paar Stunden sind wir in Saratow«, überlegte Lass laut. »Da steige ich aus. Ich rufe jetzt meinen Geschäftspartner an und bitte ihn, mich abzuholen. Saratow ist eine schöne Stadt. »

»Und was ist daran schön?«, wollte ich wissen.

»Nun…«Abermals füllte Lass unsere Becher, diesmal etwas großzügiger. »Im Gebiet von Saratow leben seit Jahrhunderten Menschen. Das unterscheidet es auch aufs Vorteilhafteste von den Gebieten im Hohen Norden und ähnlichen Gegenden. Zur Zarenzeit gab es dort ein Gouvernement, das jedoch in der Entwicklung etwas hinterherhinkte. Nicht umsonst hat Tschazki gesagt: »Auf in die Wildnis, auf nach Saratow!«Heute ist es das Industrie- und Kulturzentrum der Region, ein großer Eisenbahnknotenpunkt.«

»Nun übertreib mal nicht«, merkte ich vorsichtig an. Mir war nicht klar, ob er das ernst meinte oder einfach Unsinn faselte, bei dem er Saratow leicht durch Kostroma, Rostow am Don oder jede x-beliebige andre Stadt hätte austauschen können.

»Das Wichtigste dort ist der Eisenbahnknotenpunkt«, erklärte Lass. »Ich werde in einem McDonald's essen - und dann ab nach Hause. Außerdem gibt es dort noch eine alte Kathedrale, die werde ich bestimmt besichtigen. Damit habe ich die Reise nicht umsonst gemacht, oder?«

Ach ja, hatte unser unbekannter Gegner am Ende doch nicht richtig aufgepasst. Die Intervention war zu schwach und verflog innerhalb von vierundzwanzig Stunden.

»Und weshalb wolltest du nun unbedingt nach Kasachstan?«, fragte ich noch einmal.

»Ich habe es dir doch schon gesagt: einfach so«, seufzte Lass.

»Wirklich einfach so?«

»Na ja… ich habe so rumgesessen, nichts Böses ahnend, die Saiten meiner Gitarre gewechselt. Plötzlich klingelt das Telefon. Jemand hatte sich verwählt, wollte irgendeinen Kasachen sprechen… den Namen habe ich schon wieder vergessen. Kaum hatte ich den Hörer aufgelegt, fing ich an darüber nachzudenken, wie viele Kasachen in Moskau leben. Auf meiner Gitarre waren gerade genau zwei Saiten aufgezogen, wie bei einer Dombra, so einer Art kasachischer Balalaika. Ich spannte sie und fing an zu klimpern. Das war komisch. Denn es kam irgendeine Melodie heraus… die sich in mir festsetzte und mich betörte. Da habe ich gedacht: Jetzt fahre ich nach Kasachstan! »

»Eine Melodie?«, hakte ich nach.

»Hmm. Eine betörende, lockende. Die Steppe, Kumys, all das…«

Ob es doch Viteszlav gewesen war? Ein normaler Mensch bemerkt die Magie in der Regel nicht. Aber die Magie der Vampire steht zwischen richtiger Magie und sehr starker Hypnose. Sie ist auf Blickkontakt angewiesen, auf Geräusche, eine Berührung - auf einen wenn auch minimalen Kontakt zwischen Vampir und Mensch. Und sie hinterlässt Spuren: Der Mensch meint, einen Blick zu spüren, eine Berührung, ein Geräusch zu hören… Ob der alte Vampir uns alle betrogen hatte?

»Anton«, sagte Lass nachdenklich. »Du handelst doch nicht wirklich mit Milch, oder?«Ich schwieg.

»Wenn da irgendwas wäre, was den FSB interessieren könnte, dann würde ich mir vor Angst in die Hosen pinkeln«, fuhr Lass fort. »Nur glaube ich, dass auch der FSB in meiner Situation Angst hätte.«

»Wir wollen diese Frage nicht weiter vertiefen, ja?«, schlug ich vor. »Das ist besser.«

»Hmm«, stimmte Lass mir schnell zu. »Gut. Was ist? Kann ich in Saratow aussteigen?«

Ich nickte. »Steig aus und fahr nach Hause. Danke für den Kognak. »

»Zu Befehl«, entgegnete Lass. »Ich helfe immer gern.«

Mir war nicht klar, ob er mich verarschte. Bei manchen Menschen ergibt sich diese Art zu sprechen wohl von selbst.

Lass und ich drückten uns recht feierlich die Hand, ich trat in den Gang hinaus und steuerte auf meinen Waggon zu.

Also doch Viteszlav? Ach ja, dieser schlaue Kerl… dieser verdiente Mitarbeiter der Inquisition!

Jagdfieber packte mich. Natürlich konnte Viteszlav sich die Unvorstellbarkeit des Ganzen zunutze machen und sich als sonst wer tarnen. Als dieser Rotzbengel von zwei Jahren, der vorsichtig aus einem Abteil herausspähte. Als diese dicke junge Frau mit den geschmacklosen, großen goldenen Ohrringen. Als Waggonbetreuer, der um Edgar herumscharwenzelte. Warum nicht? Sogar als Edgar oder Kostja…

Ich blieb stehen, sah auf den Vampir und den Inquisitor, die vor unserer Abteiltür im Gang standen. Und wenn er wirklich…

Nein, stopp. Langsam werde ich wahnsinnig. Alles ist möglich - aber nicht alles geschieht auch. Ich bin ich, Edgar ist Edgar, Viteszlav ist Viteszlav. Sonst könnte ich gar nicht arbeiten.

»Es gibt was Neues«, sagte ich, als ich zwischen Kostja und Edgar trat.

»Ja?«, meinte Edgar.

»Lass ist von einem Vampir manipuliert worden. Er erinnert sich… dass er so etwas wie Musik gehört hat, die ihn zur Reise aufgefordert hat.«

»Wie poetisch«, schnaubte Edgar. Er lächelte jedoch nicht, lobte mich aber: »Musik? Das klingt sehr nach einem Blutsau… entschuldige, Kostja. Nach einem Vampir.«

»Du könntest dich auch einer politisch korrekten Ausdrucksweise bedienen: nach einem Hämoglobinabhängigen«, meinte Kostja, wobei er die Lippen zu einem Lächeln verzog.

»Das Hämoglobin hat damit nichts zu tun, das weißt du selbst«, fuhr Edgar ihn an. »Gut, das ist eine Spur.«Plötzlich lächelte er und klopfte mir auf die Schultern. »Du bist hartnäckig. Nun denn, so hat der Zug eine Chance. Wartet hier auf mich.«

Mit schnellen Schritten ging Edgar den Gang hinunter. Ich glaubte schon, er wolle zu seinen Kämpfern, aber Edgar betrat das Abteil des Zugführers und schloss hinter sich die Tür. »Was er wohl vorhat?«, fragte Kostja.

»Woher soll ich das wissen?«Ich schielte zu ihm hinüber. »Vielleicht gibt es ja spezielle Zaubersprüche, mit denen man einen Vampir erkennen kann.«

»Nein«, entgegnete Kostja scharf. »Das ist so wie bei allen Anderen. Wenn Viteszlav sich als Mensch tarnt, können wir ihn mit keinem Zauberspruch aufdecken. Das ist zu dumm…«

Er wurde nervös. Ich verstand ihn. Es ist schwer, der am stärksten diskriminierten Minderheit der Anderen anzugehören - und dann den eigenen Artgenossen zu jagen. Was hatte er mir mal gesagt… als ich noch ein junger, kühner Vampirjäger war: »Wir sind nur sehr wenige, Anton. Wenn einer von uns stirbt, spüren wir das sofort. »

»Kostja, hast du Viteszlavs Tod gespürt? »

»Was meinst du, Anton?«

»Du hast mal gesagt, dass ihr spürt, wenn… einer von euch stirbt.«

»Wir spüren es, wenn es ein Vampir mit Lizenz ist. Wenn ihn das Registrierungssiegel tötet - dann fühlen alle in der Nähe ein schmerzhaftes Echo. Viteszlav hatte kein Siegel.«

»Aber Edgar hat doch offenbar etwas vor?«, murmelte ich. »Ist das irgendein Trick der Inquisition?«

»Vermutlich.«Kostja kniff die Augen zusammen. »Warum, Anton? Warum sind wir die einzigen, die permanent gejagt werden… selbst von den eigenen Leuten? Die Dunklen Magier morden schließlich auch!«

Plötzlich redete er mit mir genauso wie früher. Als er noch ein unschuldiger Vampirjunge gewesen war… Obwohl: Wie kann ein Vampir unschuldig sein?

Und das war schrecklich, das stellte alles auf den Kopf. Verfluchte Fragen und verfluchte Vorherbestimmung, das alles präsentiert von jemandem, der diese Grenze bereits überschritten hatte. Der jagte und mordete…»Ihr mordet… um an Nahrung zu kommen«, sagte ich.

»Aber für Macht, für Geld, zum Spaß - das ist anständiger?«, fragte Kostja bitter. Er wandte sich mir zu und schaute mich an. »Warum… widert es dich so an, mit mir zu reden? Wir sind doch mal Freunde gewesen. Was hat sich bloß geändert? »

»Du bist ein Hoher Vampir geworden. »

»Ja, und? »

»Ich weiß, wie Vampire zu Hohen Vampiren werden, Kostja.«

Einige Sekunden lang sah er mir in die Augen. Dann zeichnete sich ein Lächeln auf seinen Lippen ab. Ein Vampirlächeln - bei dem du im Mund die Eckzähne zwar noch nicht sehen kannst, du die Dinger aber schon an deinem Hals spürst.

»Ach ja… Man muss das Blut unschuldiger junger Frauen und Kinder trinken, sie ermorden… Das alte, klassische Rezept. So ist Viteszlav ein Hoher Vampir geworden… Willst du damit sagen, du hättest niemals einen Blick in mein Dossier geworfen? »

»Ja«, bestätigte ich.

Er sackte förmlich in sich zusammen. Sein Lächeln wirkte mit einem Mal mitleidheischend und verwirrt. »Nicht einmal?«

»Genau«, antwortete ich, obwohl mir bereits schwante, dass ich einen Fehler gemacht hatte.

Ungeschickt breitete Kostja die Arme aus - und dann legte er los, wobei er ausschließlich mit Konjunktionen, Interjektion und Pronomen auskam. »Ah… ha… wie… du… dabei… ich… aber du…«

»Ich schaue nicht gern in das Dossier eines Freundes«, sagte ich und fügte dummerweise hinzu: »Selbst wenn es ein ehemaliger Freund ist.«

»Und ich habe gedacht, du hättest es dir angesehen«, sagte Kostja. »Gut. Wir leben im 21. Jahrhundert, Anton. Also…«Er griff in die Tasche seines Jacketts und zog sein Fläschchen heraus. »Das ist ein Konzentrat… Spenderblut. Zwölf Menschen haben ihr Blut gegeben… Man muss niemanden umbringen. Hämoglobin hat in der Tat nichts damit zu tun! Wichtiger sind die Emotionen, die ein Mensch empfindet, wenn er Blut spendet. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie viele Menschen eine Todesangst davor haben und trotzdem zum Arzt gehen, um Blut für ihre Verwandten zu spenden. Mein persönliches Rezept… das Sauschkin-Rezept. Meist spricht man jedoch vom Sauschkin-Cocktail. Vermutlich steht das im Dossier.«

Triumphierend sah er mich an - und konnte einfach nicht begreifen, warum ich nicht lächelte. Warum ich nicht schuldbewusst murmelte: »Kostja, verzeih mir, ich habe dich für ein Arschloch und einen Mörder gehalten… dabei bist du ein ehrlicher Vampir, ein guter Vampir, ein moderner Vampir…«

Ja, auch das war er. Ehrlich, gut und modern. Nicht umsonst hatte er in einem Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Hämatologie gearbeitet.

Aber warum hatte er die Zusammensetzung erwähnt? Das Blut von zwölf Menschen?

Obwohl schon klar war, warum. Woher sollte ich den Inhalt des Fuaran kennen? Woher sollte ich wissen, dass für den Zauber eben das Blut von zwölf Menschen nötig ist?

Viteszlav standen keine zwölf Menschen zur Verfügung. Er konnte den Zauber aus dem Fuaran nicht wirken und seine Kraft auf diese Weise nicht erhöhen. Aber Kostja hatte sein Fläschchen.

»Anton, was hast du?«, fragte Kostja. »Warum sagst du denn nichts?«

Gerade trat Edgar aus dem Abteil des Zugführers, sagte etwas, drückte dem Mann die Hand und kam auf uns zu, auf den Lippen immer noch ein zufriedenes Lächeln. Ich starrte Kostja an. Und las alles in seinen Augen. Er hatte verstanden, dass ich verstanden hatte.

»Wo hast du das Buch versteckt?«, fragte ich. »Sag's. Das ist deine letzte Chance. Deine einzige Chance. Mach dich nicht unglücklich…«

In dem Augenblick schlug er zu. Ohne jede Magie - wenn man die übermenschliche Kraft eines Vampirs nicht als Magie betrachtet. Mit einem weißen Blitz explodierte die Welt, in meinem Mund knackten die Zähne, und mein Kiefer schien wie gelähmt. Ich flog bis ans eine Ende des Ganges und prallte auf einen Mitreisenden, der nicht rechtzeitig aus dem Weg gegangen war. Vermutlich sollte ich mich bei ihm bedanken, dass ich nicht das Bewusstsein verloren hatte - an meiner Stelle wurde er ohnmächtig.

Kostja stand da und rieb sich die Faust. Sein Körper flimmerte, weil er immer wieder kurz ins Zwielicht eintrat, weil er zwischen den Welten hin und her huschte. Wie hatte mich diese Besonderheit der Vampire einst fasziniert: Gennadi, Kostjas Vater, war über den Hof auf mich zugekommen, Kostjas Mutter Polina hatte dem damals noch so jungen Vampir den Arm um die Schulter gelegt… wir sind gesetzestreu… wir ermorden niemanden… was müssen wir auch ausgerechnet mit einem Lichten Magier Tür an Tür leben! »Kostja?!«, rief Edgar und blieb stehen.

Langsam drehte ihm Kostja den Kopf zu. Ich sah nicht, spürte aber, wie er die Zähne fletschte.

Edgar riss die Hände hoch, worauf den Gang eine trübe Mauer versperrte, die an Bergkristall erinnerte. Möglicherweise durchschaute er noch nicht hundertprozentig, was hier vor sich ging - doch die Instinkte des Inquisitors funktionierten einwandfrei.

Kostja stieß ein tiefes Heulen aus und drückte mit den Händen gegen die Mauer. Die gab nicht nach. Der Waggon erbebte, hinter mir fing eine Frau an, langsam und gedehnt zu kreischen. Kostja schwankte hin und her und versuchte, Edgars Verteidigung zu durchbrechen.

Ich hob die Hand und schickte eine»graue Andacht«auf Kostja, jenen alten Zauber gegen die Untoten. Jeden Organismus, der sich aus seinem Grab erhoben hat, kein Bewusstsein besitzt, sondern nur durch den Willen eines Zauberers lebt, hackt die»graue Andacht«kurz und klein. Vampiren nimmt sie die Schnelligkeit und Stärke.

Kostja drehte sich um, als die dünnen grauen Fäden ihn im Zwielicht umwickelten. Er kam auf mich zu und schüttelte sich - worauf der Zauber sich sofort auflöste. Niemals hatte ich eine derart grobe, aber effektive Arbeit gesehen.

»Stör mich nicht!«, brüllte er. Kostjas Gesicht war spitz geworden, die Eckzähne hatten sich jetzt wirklich gebildet. »Ich will dich nicht… ich will dich nicht umbringen…«

Ich konnte mich hochrappeln und kroch über den zu Boden gegangenen Mann in ein Abteil. Auf den oberen Liegen fingen irgendwelche Männer mit beeindruckenden Fratzen an zu winseln, und zwar keinesfalls schlechter als jene Frau, die vor der Toilettentür stand und schrie. Über den Fußboden rollten Gläser und Flaschen.

Mit einem Sprung tauchte Kostja in der Türfüllung auf. Er bedachte die Männer mit einem einzigen Blick - und sie verstummten.

»Ergib dich…«, flüsterte ich, während ich mich vor dem Tisch auf den Boden setzte. Mit meinem Kiefer stimmte was nicht - er schien zwar nicht ausgerenkt, aber jede Bewegung tat mir weh.

Kostja lachte. »Ich erledige euch alle hier… Wenn ich will. Komm mit mir, Anton. Komm! Ich will nichts Böses! Was hast du bei der Inquisition verloren? Was bei den Wachen? Wir werden alles verändern!«Er sprach absolut aufrichtig. Sogar bittend.

Warum musste er der Allerstärkste werden, um sich diese Schwäche zu leisten? »Wach auf…«, flüsterte ich.

»Du bist ein Idiot! Ein Oberidiot!«, brüllte Kostja, während er einen Schritt auf mich zumachte. Er streckte die Hand aus. Seine Finger mündeten bereits in Krallen. »Du…«

Eine offene Flasche Posolskaja, aus der träge der Wodka tropfte, fiel mir von selbst in die Hände. »Es ist an der Zeit, Brüderschaft zu trinken«, sagte ich.

Er schaffte es zwar auszuweichen, doch ein paar Spritzer trafen sein Gesicht dennoch. Kostja heulte auf und warf den Kopf in den Nacken. Selbst wenn du der Allerhöchste Vampir bist - Alkohol ist und bleibt Gift für dich.

Ich stand auf, griff mir vom Tisch ein nicht ausgetrunkenes Glas und holte aus. »Nachtwache!«, schrie ich. »Du bist verhaftet! Hände hinter den Kopf! Zieh die Eckzähne ein!«

Genau in diesem Moment zwängten sich drei Inquisitoren durch die Tür herein. Ob Edgar sie gerufen hatte? Oder ob sie selbst gespürt hatten, dass etwas nicht stimmte? Sie stürzten sich auf Kostja, der sich immer noch das blutüberströmte Gesicht rieb. Einer versuchte Kostja eine graue Metallscheibe an den Hals zu drücken, ein Ding, das bis zum Anschlag magisch aufgeladen sein musste…

Im nächsten Moment stellte Kostja unter Beweis, wozu er in der Lage war.

Mit dem Fuß trat er mir das Glas aus der Hand und presste mich mit dem Rücken gegen das Fenster. Der Rahmen knackte. Dort, wo eben noch Kostja gestanden hatte, erhob sich jetzt ein grauer Wirbel - und mit einer unsagbaren, nur Kinohelden eigenen Schnelligkeit hagelten Fausthiebe und Tritte auf mich ein. Von allen Seiten spritzte Blut und flogen Fleischfetzen durch die Luft, so, als ob jemand Frischfleisch mit einem Mixer püriere.

Dann sprang Kostja in den Gang, sah sich um - und schlüpfte durchs Fenster, als bemerke er die dicke Doppelglasscheibe gar nicht. Umgekehrt bemerkte die Scheibe ihn auch nicht.

Kostja tauchte noch einmal kurz im Fenster auf, dann schlüpfte er seitlich nach unten weg - der Zug hatte ihn hinter sich gelassen.

Wann immer ich von diesem Vampirtrick gehört hatte, hatte ich ihn als reines Phantasieprodukt abgetan. Selbst in Nachschlagewerken stand unter dem Eintrag zu den Möglichkeiten»in der realen Welt durch Wände und Fenster zu gehen«, ein verschämtes»n.b.«, ein»nicht bewiesen«.

Im Abteil lagen zwei Inquisitoren in einem formlosen Haufen. Sie waren derart zerfetzt, dass niemand auf die Idee kam, ihren Puls zu fühlen.

Der dritte hatte Glück gehabt, er saß auf einer Liege und hielt sich eine Bauchwunde. Der Boden schwamm in Blut.

Die Reisenden in den oberen Liegen schrien nicht mehr. Der eine hatte den Kopf unter ein Kissen gesteckt, der zweite sah mit starren Augen nach unten und kicherte leise.

Ich kroch unterm Tisch hervor und trat auf wackligen Beinen in den Gang hinaus.

Fünf

Wie sagt der Held in einem bösen alten Witz: »Aber das Leben richtet sich jetzt wieder ein!«

Die Mitreisenden in unserem Waggon saßen in ihren Abteilen und starrten mit leeren Augen zum Fenster raus. Die Menschen, die durch unseren Waggon liefen, beschleunigten aus irgendeinem Grund den Schritt und blickten stur geradeaus. In einem abgeschlossenen Abteil lag - zusammen mit den in schwarze Plastiksäcke verpackten Körpern - der verletzte Inquisitor, den ein Kollege bereits seit einer Viertelstunde mit Heilzaubern behandelte. Zwei weitere Inquisitoren standen an der Tür zu unserem Abteil Wache. »Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Edgar.

Nachdem er zunächst seinem verletzten Kollegen geholfen hatte, kurierte er meinen Kiefer binnen drei Minuten. Ich fragte nicht, was ich gehabt hatte, eine schlichte Quetschung, einen Riss oder einen Bruch. Er war wieder in Ordnung, das genügte. Allerdings fehlten mir zwei Vorderzähne, und die Stelle mit der Zunge zu berühren, war unangenehm.

»Ich habe mich an etwas aus dem Fuaran erinnert…«, sagte ich. In den chaotischen ersten Minuten nach Kostjas Flucht hatte ich genug Zeit gehabt, mir eine Erklärung zu überlegen. »Die Hexe… also, Arina… sie hat gesagt, dass der Legende zufolge die Zauber aus dem Fuaran wirken, wenn man das Blut von zwölf Menschen hat. Selbst wenn es nur sehr wenig Blut ist…«

»Warum bist du nicht schon früher damit herausgerückt?«, fragte Edgar scharf.

»Ich habe dem keine Bedeutung beigemessen. Damals hielt ich die ganze Geschichte mit dem Fuaran für ein reines Phantasieprodukt… Dann hat Kostja mir erzählt, dass sein Cocktail aus dem Blut von zwölf Spendern besteht… und da habe ich zwei und zwei zusammengezählt.«

»Verstehe. Viteszlav hatte kein Dutzend Menschen zur Hand«, meinte Edgar. »Wenn du das gleich gesagt hättest… wenn du das doch bloß gesagt hättest…»

»Kennst du die Zusammensetzung des Cocktails?«

»Ja, natürlich. In der Inquisition ist über den Sauschkin-Cocktail diskutiert worden. Das Zeug vollbringt keine Wunder, du wirst damit nicht stärker, als es dir von der Natur gegeben ist. Aber es erlaubt einem Vampir in der Tat, sich voll zu entfalten, ohne Menschen töten zu müssen…»

»Sich zu entfalten oder sich gehen zu lassen?«, fragte ich.

»Wenn kein Mord nötig ist, kann man ohne Bedenken von Entfaltung sprechen«, antwortete Edgar sachlich. »Nun sag bloß nicht, du hättest… davon nichts gewusst…«Ich schwieg.

Nein, ich hatte es nicht gewusst. Denn ich hatte es nicht wissen wollen. Ich wollte ein Held sein. Mit dem Ergebnis, dass jetzt zwei Inquisitoren in schwarzen Plastiksäcken liegen, denen niemand mehr helfen kann…

»Lassen wir das«, meinte Edgar. »Was hat er nur jetzt… Er fliegt, siehst du?«

Ich schielte zum»Kompass«hinüber. Ja… ganz offenbar. Der Abstand zu Kostja - genauer zum Buch - blieb konstant, obwohl der Zug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 70 bis 80 Stundenkilometern dahinraste. Er flog uns also nach. Floh nicht!

»Anscheinend hat er in Zentralasien wirklich etwas vor…«, sagte Edgar irritiert. »Nur was…»

»Wir müssen die Großen rufen«, sagte ich.

»Die kommen von selbst«, winkte Edgar ab. »Ich habe ihnen alles berichtet, ein Portal aufgehängt… sie werden selbst entscheiden, was sie tun.«

»Ich weiß schon, was sie entscheiden werden«, murmelte ich. »Sebulon verlangt, dass ihm Kostja ausgeliefert wird, damit er ihn bestrafen kann. Und vor allem wird er das Fuaran haben wollen.«

»Das Buch wird niemand bekommen, da mach dir keine Sorgen.«

»Außer der Inquisition?«Edgar hüllte sich in Schweigen. Ich setzte mich bequemer hin. Betastete meinen Kiefer. Er tat nicht mehr weh.

Aber um meine Zähne tat es mir leid. Entweder musste ich zum Zahnarzt oder zu einem Heiler. Doch selbst die besten Lichten Heiler können Zähne nicht schmerzlos heilen! Sie können es nicht - Punkt, aus, Ende.

Die Nadel des»Kompasses«zitterte, hielt aber die Richtung. Der Abstand veränderte sich nicht: zehn, zwölf Kilometer. Kostja musste sich ausgezogen und in eine Fledermaus verwandelt haben. Oder in sonst ein Tier. In eine gigantische Ratte, einen Wolf. Egal. Er hatte sich in eine Fledermaus verwandelt und flog dem Zug hinterher, dabei das Bündel mit seinen Sachen und das Buch in den Pfoten haltend. Wo hatte er es eigentlich versteckt gehabt, der Dreckskerl? Am Körper? In einer geheimen Tasche in seiner Kleidung?

Ein Dreckskerl, sicher… aber wie abgebrüht! Wie mies und wie mutig - auf sich selbst Jagd zu machen, sich Versionen auszudenken, zu beratschlagen… Alle hatte er zum Besten gehalten.

Aber wozu? Wollte er absolute Macht? Letzten Endes standen die Chancen für einen Sieg nicht gut, und Kostja hatte sich noch nie durch besonderen Ehrgeiz ausgezeichnet. Das heißt: Er war ehrgeizig, erhob jedoch keine verrückten Ansprüche, die Weltherrschaft zu erlangen.

Weshalb floh er jetzt eigentlich nicht? An seinen Händen klebte das Blut von drei Inquisitoren. Das wird man ihm nie verzeihen, selbst wenn er mit einem Geständnis ankommt, selbst wenn er das Buch rausrückt. Er müsste fliehen… und sicherheitshalber das Buch vernichten, an das der Suchzauber gekoppelt ist. Aber nein, er schleppt das Buch mit sich rum und folgt dem Zug. Was für ein Wahnsinn… Oder hoffte er immer noch auf einen Dialog?

»Wie wolltest du Viteszlav unter den Mitreisenden ausmachen?«, fragte ich Edgar.

»Wie bitte?«, erwiderte der in seine Gedanken versunkene Inquisitor nach einer Weile. »Eine dumme Frage. Natürlich auf die gleiche Weise, wie es dir gelungen ist: mit der Unverträglichkeit von Alkohol. Wir hätten uns weiße Kittel angezogen und wären als medizinische Inspektoren durch alle Waggons gegangen. Mit der Begründung, Kranke mit einer atypischen Lungenentzündung zu suchen. Jedem hätten wir ein Thermometer gegeben, das tief in Alkohol getaucht worden war. Wer es nicht in den Händen halten konnte oder Verbrennungen davontrug, wäre unser Verdächtiger gewesen.«

Ich nickte. Freilich, es hätte auch schief gehen können. Und natürlich wären wir dabei ein Risiko eingegangen - aber etwas zu riskieren, das ist unsere Arbeit. Die Großen wären in der Nähe gewesen, »auf Abruf«, um im Notfall mit ganzer Kraft zuzuschlagen.

»Das Portal öffnet sich…«Edgar packte mich beim Arm und zog mich auf die Liege. Wir setzten uns nebeneinander hin, mit untergeschlagenen Beinen. Im Abteil breitete sich ein flackerndes weißes Licht aus. Ein leiser Aufschrei war zu hören: Geser hatte sich beim Verlassen des Portals den Kopf an einer der Liegen gestoßen.

Nach ihm tauchte Sebulon auf, der im Unterschied zum Chef rundum zufrieden wirkte und lächelte.

Geser rieb sich den Schädel und sah uns böse an. »Warum habt ihr das Portal nicht gleich in einem Auto aufgehängt…«, brummte er. »Wie ist die Lage?«

»Die Reisenden haben sich beruhigt, das Blut ist aufgewischt, der Verletzte ist behandelt«, berichtete Edgar. »Der Verdächtige Konstantin Sauschkin bewegt sich parallel zum Zug mit einer Geschwindigkeit von 70 Stundenkilometern.«

»Jetzt ist er also… unser Verdächtiger…«, brachte Sebulon giftig hervor. »Dabei war er so ein begabter Junge… so aussichtsreich.«

»Du hast kein Glück mit den Aussichtsreichen, Sebulon«, bemerkte Edgar leise. »Irgendwie kannst du sie nicht halten.«

Die beiden Dunklen Magier maßen sich mit kalten Blicken. Edgar hatte mit Sebulon noch eine Rechnung zu begleichen, die auf die Geschichte mit Fafnir und der finnischen Sekte zurückging. Niemand macht gern den Bauern.

»Sparen Sie sich Ihre Sticheleien, meine Herren«, bat Geser. »Sonst hätte ich dazu auch noch etwas zu sagen… was sowohl dich beträfe, Sebulon, als auch dich, Edgar… Wie stark ist er?«

»Sehr stark«, antwortete Edgar, den Blick unverwandt auf Sebulon gerichtet. »Der Junge war ohnehin schon ein Hoher…»

»Vampir.«Sebulon grinste verächtlich.

»Ein Hoher Vampir. Sicher, es mangelte ihm an Erfahrung… da konnte er mit Ihnen nicht mithalten. Aber mit Hilfe des Buches ist er stärker als Viteszlav geworden. Und das will etwas heißen. Ich neige der Auffassung zu, dass Viteszlav mit Ihnen auf einer Stufe stand, verehrte Große.«

»Wie hat er Viteszlav getötet?«, fragte Sebulon. »Gibt es dafür schon eine Erklärung?«

»Jetzt ja«, meinte Edgar. »Vampire haben ihre eigene Hierarchie. Der Junge hat ihn zu einem Duell um die Führungsposition herausgefordert. Das ist… kein Vergnügen. Ein Zweikampf des Verstandes, ein Duell des Willens. Etwas in der Art wie das Ausguckspiel. Ein paar Sekunden lang starren sich die beiden in die Augen, dann gibt einer nach und unterwirft sich vollständig dem Willen des Gegners. Wann immer die Inquisition es mit Vampiren zu tun bekam, hat Viteszlav sie sich alle problemlos gefügig gemacht. Aber dieses Mal hat er das Spiel verloren. »

»Und ist daran gestorben«, sagte Sebulon.

»Was nicht zwangsläufig so sein musste«, stellte Edgar fest. »Kostja hätte ihn auch zu seinem Sklaven machen können. Aber… entweder hatte er Angst, die Kontrolle über ihn zu verlieren, oder er wollte die Sache bis zum bitteren Ende durchziehen. Kurzum, er hat Viteszlav befohlen, sich zu dematerialisieren. Und der musste ihm gehorchen.«

»Ein talentierter Junge«, bemerkte Geser in ironischem Ton. »Ich kann nicht behaupten, dass der endgültige Tod Viteszlavs mich sonderlich betrübt… Aber gut, Konstantin ist jetzt stärker als Viteszlav. Schätz mal seine Kraft ein!«

Edgar zuckte mit den Achseln. »Wie denn? Er ist stärker als ich. Vermutlich stärker als jeder von Ihnen. Möglicherweise sogar stärker als wir alle zusammen.«

»Nur keine Panik«, murmelte Sebulon. »Er ist unerfahren. Magie ist kein bloßes Kräftemessen, Magie ist eine Kunst. Wenn du einen Degen in Händen hältst, ist es wichtig, präzise zuzustoßen, nicht, mit aller Wucht zuzuschlagen…«

»Ich kriege keine Panik«, meinte Edgar leise. »Ich schätze nur seine Kraft ein. Sie ist sehr hoch. Ich habe den»Kristallschild«gegen ihn eingesetzt - und Kostja hätte ihn beinahe eingedrückt.«

Die Großen wechselten beredte Blicke. »Den»Kristallschild«drückt niemand ein«, bemerkte Geser. »Wie kommst du überhaupt zu… ach ja, klar. Die Artefakte aus den Spezialdepots.«

»Er hätte den»Schild«beinahe zerquetscht«, wiederholte Edgar.

»Und wie hast du das überlebt?«, fragte Geser mich. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, vielleicht schwang in seiner Stimme aber tatsächlich ein Hauch von Mitleid mit.

»Kostja wollte mich nicht umbringen«, erklärte ich schlicht. »Er hat sich auf Edgar gestürzt… Als Erstes habe ich mit der»grauen Andacht«auf ihn eingeschlagen«- Geser nickte zustimmend -, »dann habe ich eine Flasche Wodka zu fassen gekriegt und ihm davon etwas ins Gesicht gespritzt. Kostja ist ausgerastet. Trotzdem wollte er mich nicht umbringen. Dann hat er sich die Inquisitoren vorgenommen, sie zerfetzt und ist geflohen.«

»Typisch Russe-. Probleme mit einem Glas Wodka zu lösen«, kommentierte Geser finster. »Weshalb? Weshalb hast du ihn so auf die Palme gebracht? Er ist schließlich kein Anfänger mehr. Ist dir denn wirklich nicht klar, dass du gegen ihn keine Chance gehabt hättest? Dass ich dann Swetlana deine Überreste hätte bringen können?«

»Ich bin genauso ausgerastet wie er«, gab ich zu. »Das kam alles zu überraschend. Und dann wollte Kostja mich auf seine Seite ziehen: »Komm mit mir mit, ich will dir nichts Böses«.

»Ich will dir nichts Böses«, echote Geser bitter. »Ein reformorientierter Vampir. Ein progressiver Herrscher über die Welt…«

»Geser, wir müssen eine Entscheidung treffen«, sagte Sebulon leise. »Ich kann Jagdflugzeuge vom Militärflughafen aus losschicken.«Die Magier schwiegen.

Ich stellte mir vor, wie reaktive Jagdflugzeuge über den Nachthimmel einer Fledermaus nachsetzten, sie beschossen und Raketen auf sie abfeuerten… Eine Phantasmagorie.

»Dann eher Hubschrauber…«, sagte Geser nachdenklich. »Nein, das ist Quatsch, Sebulon. Er wird die Menschen aus dem Weg räumen. »

»Also doch die Bombe?«, wollte Sebulon neugierig wissen.

»Nein!«Geser schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht hier. Außerdem kann ihm das nichts anhaben… er ist vorsichtig. Man muss ihn mit Magie schlagen.«Sebulon nickte. Und lachte plötzlich leise los. »Was ist?«, fragte Geser.

»Davon träume ich schon mein ganzes Leben lang«, sagte Sebulon. »Glaubst du das, alter Feind? Ich träume davon, einmal mit dir zusammenzuarbeiten! Offenbar ist doch was dran… vom Hass zur Liebe…«

»Du bist und bleibst doch ein hoffnungsloser Fall«, bemerkte Geser leise.

»Ganz in Ordnung ist das Oberstübchen ja bei keinem von uns«, kicherte Sebulon. »Was ist? Du und ich? Oder sollen wir unsere Leute noch dazuziehen? Sollen sie uns Kraft nachliefern, während wir die Speerspitze bilden.«Geser schüttelte den Kopf.

»Nein, Sebulon. Wir brauchen uns nicht auf Konstantin zu stürzen. Ich wüsste eine Alternative…«Er sah mich an.

Ich tastete mit der Zunge nach der Zahnlücke. Wie dumm doch alles gelaufen war…»Ich bin bereit, Geser.«

»Das könnte eine Chance sein«, meinte Sebulon zustimmend. »Wenn Kostja noch irgendwelche sentimentalen Gefühle hegt… Aber wirst du auch zuschlagen können, Anton?«

Ich antwortete nicht gleich. Denn ich musste wirklich erst darüber nachdenken.

Es ging hier nicht um eine Verhaftung. Vermutlich würde ich tödlich zuschlagen müssen. Zur Spitze werden, zum Zentrum der Kraft, die Geser, Sebulon, Edgar und möglicherweise noch weitere Magier in mich hineinpumpen würden. Sicher, ich besitze weniger Erfahrung als die Großen. Doch ich hatte die Chance, mich Kostja ohne Kampf zu nähern. Wenn man von jenen»sentimentalen Gefühlen«ausgeht.

Die Alternative sähe einfach aus: Die Großen würde alle Kraft in eine Faust legen. Selbst Nadjuschkas Kraft würden sie brauchen. Geser würde von Swetlana verlangen, unsere Tochter zu initiieren…

Also gab es keine Alternative. »Ich werde Kostja umbringen«, sagte ich.

»Nicht so«, sagte Geser leise. »Rede nicht so, Wächter. »

»Ich werde einen Vampir töten«, flüsterte ich. Geser nickte.

»Denk nicht zu viel darüber nach, Gorodezki«, fügte Sebulon hinzu. »Zeig jetzt Rückgrat. Den netten Jungen Kostja, den gibt es nicht. Und es hat ihn nie gegeben. Gewiss, er hat keine Menschen umgebracht, um an ihr Blut zu kommen. Aber er ist ein Vampir. Ein Untoter.«Geser nickte zustimmend. Einen Augenblick lang schloss ich die Augen. Ein Untoter.

Der nicht über das verfügt, was wir der Einfachheit halber Seele nennen.

Über eine selbst für uns, die Anderen, nicht fassbare Komponente. Nicht einmal in der frühesten Kindheit, dafür hatten seine Eltern gesorgt. Er wuchs auf, der Bezirksarzt hörte sein Herz ab und lobte die Gesundheit des Jungen. Von einem Jungen verwandelte er sich in einen jungen Mann, und keine Frau hätte behauptet, seine Lippen seien beim Küssen kalt. Er hätte Kinder haben können - ganz normale Kinder von einer ganz normalen Menschenfrau. Aber all das ist ein Nicht-Leben. Ist Ersatz, ist gestohlen. Und Doch zumindest leben wir bis zum Tod.

»Lasst mich mit Anton allein«, sagte Geser. »Ich werde versuchen, ihn vorzubereiten.«

Ich hörte, wie Sebulon und Edgar aufstanden. Sie gingen in den Gang hinaus und schlossen die Tür hinter sich. Etwas raschelte, anscheinend schirmte Geser uns gegen jede Beobachtung ab. Dann fragte er: »Nimmt es dich mit?«

»Nein.«Ich schüttelte den Kopf, ohne jedoch die Augen zu öffnen. »Ich denke nach. Schließlich hat Kostja versucht, sich nicht wie ein Vampir zu verhalten…»

»Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Er wird es nicht aushalten.«Ich öffnete die Augen und sah Geser ins Gesicht. »Er wird es nicht aushalten, er wird zusammenbrechen. Den physischen Bedarf nach Menschenblut konnte er ersticken, aber alles andre… Er ist ein Nicht-Lebender unter Lebenden und leidet darunter. Früher oder später wird Kostja zusammenbrechen.«Geser wartete ab.

»Einmal ist das schon passiert«, fuhr ich fort. »Als er Viteszlav und die Inquisitoren ermordet hat… Einer der Inquisitoren war ein Lichter, oder?«Geser nickte.

»Ich werde tun, was nötig ist«, versprach ich. »Kostja tut mir leid, aber das ändert nichts.«

»Ich glaube dir, Anton«, sagte Geser. »Und jetzt stell mir die Frage, die du eigentlich stellen willst! »

»Was hält Sie in der Nachtwache, Chef?«, fragte ich. Geser lächelte.

»Wir haben doch alle mehr oder weniger den gleichen Dreck am Stecken«, sagte ich. »Wir kämpfen nicht gegen die Dunklen, sondern wir kämpfen gegen diejenigen, die auch von den Dunklen verachtet werden… gegen Psychopathen, Verrückte, Größenwahnsinnige. Aus verständlichen Gründen gibt es bei Vampiren und Tiermenschen mehr davon. Und das sind halt Dunkle… Die Tagwache fängt die Lichten, die mit einem Schlag die ganze Menschheit glücklich machen wollen… also letzten Endes diejenigen, die den Menschen unsere Existenz enthüllen. Die Inquisition… sie sollte irgendwie über dem Kampf stehen, achtet aber eigentlich nur darauf, dass die Wachen ihre Aufgabe nicht übertrieben ernst nehmen. Dass die Dunklen nicht nach der förmlichen Macht über die Menschenwelt streben, dass die Lichten die Dunklen nicht vollständig ausrotten… Geser, die Nachtwache und die Tagwache - das sind zwei Hälften eines Ganzen.«Geser schwieg. Sah mich an und schwieg.

»Hat… hat man das mit Absicht so gemacht?«, fragte ich. Und gab mir gleich darauf selbst die Antwort: »Vermutlich schon. Die Jugend, die frisch initiierten Anderen würden niemals eine gemeinsame Wache aus Lichten und Dunklen anerkennen. Wie sähe das denn aus, wenn es hieße: Geh mit einem Vampir auf Patrouille! Ich selbst würde mich auch darüber aufregen. Deshalb wurden zwei Wachen geschaffen. Und die unteren Ränge bekriegen sich heute mit Feuereifer, während die Chefs ihre Intrigen spinnen, aus Langweile und um die Form zu wahren. Aber über beiden Wachen steht eine gemeinsame Leitung!«

Geser seufzte und holte sich eine Zigarre raus. Schnitt das Ende ab und zündetet sie an.

»Ich bin ein Idiot, dass ich die ganze Zeit grüble«, murmelte ich, ohne den Blick von Geser zu wenden. »Wie können wir überhaupt existieren? Hier die Wache in Samara, hier die in Groß Nowgorod, hier die im Dorf Kirejewski im Tomsker Gebiet. Alle scheinen irgendwie selbstständig zu sein. Aber im Grunde kommen bei Problemen alle zu uns gerannt, nach Moskau… Freilich, de jure ist nichts festgelegt, aber de facto ist es so: Die Moskauer Nachtwache leitet die Nachtwachen in ganz Russland.«

»Und von noch drei GUS-Staaten…«, murmelte Geser. Er stieß Rauch aus. Der Qualm ballte sich in der Luft zu einer dichten, schweren Wolke, die im Abteil hängen blieb.

»Gut, und wie weiter?«, fragte ich. »Wie können denn dann die unabhängigen Wachen Russlands und beispielsweise die Litauens zusammenarbeiten? Oder die Russlands, Litauens, der USA und Ugandas? In der Menschenwelt ist das alles klar: Wer den größeren Knüppel und das dickere Portemonnaie hat, der bestellt auch die Musik. Aber die russischen Wachen sind größer als die amerikanischen! Ich glaube sogar…«

»Die stärkste Wache ist die französische«, erklärte Geser mit gelangweilter Stimme. »Stark, aber extrem faul. Ein erstaunliches Phänomen. Wir können nicht begreifen, worauf es zurückzuführen ist - doch wohl nicht auf den Genuss von trockenem Wein und Austern in unvorstellbaren Mengen…«

»Die Inquisition regiert die Wachen«, sagte ich. »Sie entscheidet keine Streitigkeiten, bestraft keine Aussteiger, sondern regiert. Sie gibt die Erlaubnis für verschiedene gesellschaftliche Experimente, bestimmt und entlässt die Chefs… versetzt jemanden von Usbekistan nach Moskau… Es gibt eine Inquisition, und die hat zwei Arbeitsorgane. Die Nachtwache und die Tagwache. Und das einzige Ziel der Inquisition besteht im Erhalt des gegenwärtigen Status quo. Deshalb wäre ein Sieg der Dunklen genauso wie einer der Lichten eine Niederlage für die Inquisition als solche.«

»Und weiter, Anton?«, fragte Geser. Ich zuckte mit den Achseln.

»Weiter? Nichts weiter. Die Menschen leben ihr kleines Menschenleben. Freuen sich an den kleinen Menschenfreunden. Ernähren uns mit ihrer Energie… und liefern neue Andere. Die Anderen, die nicht so ehrgeizig sind, führen weiterhin ein fast normales Leben. Nur dass es satter, gesünder und länger ist als das von normalen Menschen. Wer unbedingt Auseinandersetzungen und Abenteuer braucht, Ideale und Kampf in seinem Leben haben will, kommt in die Wache. Wer sein Vertrauen in die Wache verliert, geht zur Inquisition. »

»Ja und?«, ermunterte mich Geser.

»Was machen Sie dann noch in der Nachtwache, Chef?«, fragte ich. »Haben Sie es nicht über… nach Tausenden von Jahren?«

»Nehmen wir einmal an, dass mir die Auseinandersetzungen und Abenteuer immer noch gefallen«, gab Geser zu bedenken. »Was dann?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Boris Ignatjewitsch. Das glaube ich nicht. Ich habe Sie schon… anders gesehen. Zu müde. Zu enttäuscht.«

»Dann gehen wir halt davon aus, dass ich trotz allem noch mit Sebulon abrechnen will«, sagte Geser ruhig.

Ich dachte kurz darüber nach. »Das kann auch nicht sein. In all den Jahrhunderten… da hätte einer von Ihnen den andern schon längst erledigt haben können. Sebulon hat gerade gesagt, dass die Magie wie ein Stoß mit einem Degen ist. Sie kämpfen jedoch gar nicht mit Degen, sondern mit Sportfloretts. Sie deuten den Stoß an, spießen den Feind aber nicht auf.«

Nach kurzem Zögern nickte Geser. Abermals ergoss sich dichter Qualm in die nebelgraue Rauchwolke.

»Was denkst du, Anton, kann man Jahrtausende leben und die Menschen nach wie vor bedauern? »

»Bedauern?«, fragte ich zurück.

Geser nickte. »Ja, bedauern. Nicht lieben, denn es steht nicht in unseren Kräften, die ganze Welt zu lieben. Nicht bewundern, denn wir wissen nur zu gut, was das ist, ein Mensch.«

»Bedauern kann man sie vermutlich«, sagte ich. »Aber wozu brauchen sie Ihr Mitleid, Chef? Es ist leer und unfruchtbar. Die Anderen machen diese Welt nicht besser.«

»Das machen wir, Anton. Wie auch immer sie jetzt ist, aber genau das tun wir. Glaub einem alten Mann, der schon viel gesehen hat. »

»Aber trotzdem…»

»Ich warte auf ein Wunder, Anton.«Fragend sah ich Geser an.

»Ich weiß nicht, auf was für eins. Dass alle Menschen die Fähigkeiten von Anderen bekommen. Dass die Anderen wieder zu Menschen werden. Dass irgendwann die Teilung nicht nach»Mensch oder Anderen«vorgenommen wird, sondern nach»gut oder schlecht«.«Geser lächelte sanft. »Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie das vor sich gehen sollte und ob es irgendwann dazu kommt. Aber wenn…, dann würde ich es vorziehen, auf der Seite der Nachtwache zu stehen. Und nicht in der Inquisition zu sein, dieser starken, weisen, gerechten, allmächtigen Inquisition. »

»Ob Sebulon auf dasselbe wartet?«, fragte ich.

»Vielleicht«, antwortete Geser. »Ich weiß es nicht. Aber lieber habe ich es mit einem alten Feind zu tun, den ich kenne, als mit einem jungen, unberechenbaren Dummkopf. Halte mich für konservativ, aber die Sportfloretts und Sebulon sind mir lieber als ein Baseballschläger und ein progressiver Dunkler Magier. »

»Und was raten Sie mir?«

»Was ich dir rate?«Geser breitete die Arme aus. »Dass du selbst eine Entscheidung triffst. Du kannst uns verlassen und ein normales Leben führen. Du kannst in die Inquisition wechseln… Ich würde dich nicht daran hindern. Und du kannst in der Nachtwache bleiben. »

»Und warten?«

»Und warten. In dir das Menschliche bewahren, das noch da ist. Dich weder zu Ekstase noch zu Rührung hinreißen lassen, indem du den Menschen ein Licht bringst, das sie nicht wollen. Nicht in Zynismus und Misstrauen verfallen und dich nicht selbst für rein und vollkommen halten. Und das Schwierigste: nicht verzagen, den Glauben nicht verlieren, nicht gleichgültig werden. »

»Keine große Auswahl…«, sagte ich.

»Ha!«Geser lächelte. »Sei froh, dass du überhaupt eine hast.«

Draußen blitzte der Stadtrand von Saratow auf. Der Zug wurde langsamer.

Ich saß in einem leeren Abteil und sah auf die kreisende Nadel.

Kostja folgte uns weiter.

Worauf wartete er?

In den Kopfhörern erklang die Stimme von Arbenin:

Zwischen Verrat und Ruchlosigkeit

Nur Manna vom Himmel schneit.

Von einer Siesta zur nächsten

Man uns abfüttert mit Manifesten.

Einer stirbt, einer verschwindet,

Damit meine Wahl auch schon endet.

Doch mein siebter Sinn, der flüstert mir:

Wir sind nicht wie alle,

Anders sind wir.

Ich schüttelte den Kopf. Wir sind die Anderen. Doch selbst wenn es uns nicht gäbe, würden die Menschen sich und andere gegeneinander abgrenzen. Was auch immer diese Anderen dann ausmachen würde.

Die Menschen können ohne Andere nicht auskommen. Setze zwei Menschen auf einer unbewohnten Insel aus, dann wird einer ein Mensch und einer ein Anderer. Und der Unterschied besteht darin, dass der Andere immer unter seinem Anderssein leidet. Die Menschen haben es leichter. Sie haben keine Komplexe. Sie wissen, dass sie Menschen sind - und das auch sein sollen. Dass alle das sein sollen. Alle. Für immer.

Wir stehen in der Mitte der Gleise,

Verbrennen als Lagerfeuer auf dem Eise.

Dabei wollten wir nur Wärme schmecken,

Doch das Ziel wir hinter den Mitteln verstecken.

So brennen wir nieder bis zur Seele Grund

Bei diesem Blick in der Ödnis Schlund.

Die Tür öffnete sich, und Geser kam ins Abteil. Ich stöpselte die Kopfhörer aus.

»Schau mal.«Geser legte einen Palm auf den Tisch. Auf dem Display des Organizers kroch ein Punkt über eine Karte, unser Zug. Geser sah flüchtig auf den»Kompass«, nickte und zog selbstsicher mit dem Metallstift eine dicke Linie auf dem Display.

»Was heißt das?«, fragte ich, während ich das Rechteck betrachtete, in dem Kostjas Flugbahn lag. Und gab mir selbst die Antwort: »Der Flughafen?«

»Genau. Er rechnet nicht mit Verhandlungen.«Geser grinste. »Er fliegt auf kürzestem Weg zum Flughafen. »

»Ist das ein Militärflughafen?«

»Nein, ein ziviler. Aber was macht das für einen Unterschied? Das Modul mit den Pilotenkenntnissen ist in ihm abgespeichert.«

Ich nickte. Alle Fahnder verfügen»auf Vorrat«über eine Auswahl nützlicher Fähigkeiten: Sie können mit Autos, Flugzeugen und Hubschraubern umgehen, erste Hilfe leisten, beherrschen den Nahkampf… Natürlich ersetzt ein solches Modul die entsprechenden Fähigkeiten nur ansatzweise. Ein erfahrener Autofahrer hängt einen Anderen mit seinen Modulkenntnissen ab, ein guter Arzt operiert unvergleichlich besser. Aber jedes x-beliebige Fluggerät in die Luft bringen, das konnte Kostja.

»Das ist doch ganz gut«, sagte ich. »Wir schnappen uns ein paar Jagdflugzeuge und…«

»Und die Passagiere?«, fragte Geser scharf.

»Im Vergleich zum Zug ist das trotzdem besser«, sagte ich leise. »Es würde weniger Opfer geben.«

In diesem Moment zog sich etwas in mir schmerzhaft zusammen. Zum ersten Mal wog ich auf der unsichtbaren Waage der Rationalität die menschlichen Opfer aus - und befand die eine Schale für leichter.

»Das würde nichts bringen…«, sagte Geser. Und fügte hinzu: »Zum Glück. Was sollte ihm die Zerstörung des Flugzeugs schon anhaben? Er würde sich in eine Fledermaus verwandeln und entwischen.«

Draußen kam der Bahnsteig in Sicht. Schnaufend fuhr die Lok in den Bahnhof ein. »Atomare Abfangraketen«, sagte ich ganz offen.

Erstaunt sah mich Geser an. »Was ist denn mit dir los?«, fragte er. »Was für Kernsprengköpfe… die sind längst abgerüstet. Möglicherweise gibt es um Moskau noch einen Raketenabwehrgürtel… Aber Kostja wird nicht nach Moskau kommen. »

»Sondern?«, hakte ich nach.

»Woher soll ich das wissen? Es ist deine Aufgabe, dass er nirgendwo hingeht«, entgegnete Geser scharf. »Aha! Er hält an!«

Ich sah auf den»Kompass«. Der Abstand zwischen uns und Kostja begann sich zu vergrößern. Ob er wie eine Fledermaus geflogen oder wie der Graue Wolf aus dem Märchen gerannt war - jetzt hielt er jedenfalls an.

Geser hatte interessanterweise noch nicht einmal auf den»Kompass«geschaut.

»Der Flughafen«, sagte er voller Genugtuung. »Schluss jetzt, der Worte sind genug gewechselt. Geh. Schnapp dir jemandem mit einem guten Auto und sieh zu, dass du zum Flughafen kommst.«

»Aber…«, setzte ich an. »Keine Artefakte, das würde er wittern«, widersprach Geser gelassen. »Und keine Partner. Momentan spürt er uns alle, verstehst du? Alle! Los!«

Die Bremsklötze zischten, der Zug hielt an. Einen Moment lang blieb ich in der Tür stehen und hörte: »Ja, mit der»grauen Andacht«. Nur nichts Kompliziertes. Wir pumpen dich so voll, dass es ihn auf dem Flugfeld zu Brei zerquetscht.«

In Ordnung. Der Chef war anscheinend der Ansicht, ich bräuchte nicht mehr mit ihm zu reden. Er hörte meine Gedanken, bevor ich sie in Worte gebracht hatte.

Im Gang ging ich an Sebulon vorbei - und zuckte unwillkürlich zusammen, als der mir aufmunternd auf den Rücken klopfte.

Sebulon nahm es nicht krumm. »Viel Erfolg, Anton!«, wünschte er mir. »Du bist unsere Hoffnung.«

Die Menschen saßen friedlich in ihren Abteilen. Nur der Zugführer, der etwas in ein Mikrofon sprach, begleitete mich mit gläsernem Blick.

Ich öffnete die Zugtür selbst, ließ das Trittbrett herunter und sprang auf den Bahnsteig. Alles irgendwie ziemlich schnell. Zu schnell…

Auf dem Bahnhof herrschte das übliche Gedränge. Eine laute Reisegesellschaft, die aus dem Nachbarwaggon ausstieg, fragte grölend: »Wo bleiben denn die Omas mit unserm guten Tröpfchen?«

Die»Omas«im Alter von zwanzig bis siebzig Jahren kamen bereits auf den Ruf herbeigeeilt. Jetzt würde es Bier und Wodka und gebratenen Schinken und Piroggen mit zweifelhafter Füllung geben. »Anton!«

Ich drehte mich um. Neben mir stand Lass mit einer Tasche über der Schulter. In seinem Mund steckte eine nicht angezündete Papirossa, er machte einen zufriedenen und aufgeräumten Eindruck.

»Steigst du auch aus?«, fragte Lass. »Kann ich dich vielleicht irgendwo absetzen? Mein Auto wartet hier. »

»Ist es ein gutes Auto?«, hakte ich nach.

»So was wie ein VW.«Lass runzelte die Stirn. »Geht der? Oder fährst du nur im Cadillac?«

Ich drehte mich zurück zum Fenster unseres Waggons. Geser, Sebulon und Edgar sahen mich an.

»Der geht«, sagte ich finster. »Also… tut mir leid. Ich hab's wirklich ziemlich eilig, da brauchte ich ein Auto. Ich bekehre dich zum…«

»Was stehen wir dann hier rum, wenn du es eilig hast? Gehen wir«, meinte Lass und ließ mich damit die Standardformel zur Anwerbung eines Freiwilligen nicht zu Ende sprechen.

Er fädelte sich so geschickt in die Menge ein, dass mir nichts weiter übrig blieb, als ihm zu folgen.

Wir schlugen uns durch die Menschenmenge und erreichten den Platz vor dem Bahnhofsgebäude. Ich schloss zu Lass auf, packte ihn bei der Schulter. »Ich bekehre dich zum…«

»Da, ich seh ihn schon!«Lass schüttelte meine Hand ab. »Hallo, Roma!«

Auf uns kam ein Mann zu - am liebsten hätte ich ihn, warum auch immer, »Bürger«genannt -, der relativ groß und irgendwie kindlich pummelig war: Alles an ihm war rund, weich und leicht eingeschnürt. Der Mund war klein, die Lippen wie ein Hühnerhintern, die Augen waren ebenfalls winzig und wirkten selbst hinter der Brille ausdruckslos und gelangweilt.

»Hallo, Alexander«, begrüßte der Bürger Lass ausgesprochen zeremoniell und streckte ihm eine schlaffe Hand entgegen. Dann richtete er den Blick auf mich.

»Das ist Anton, ein Freund von mir. Können wir ihn mitnehmen?«, sagte Lass.

»Warum nicht?«, meinte Roma melancholisch. »Die Räder sind in Ordnung, die Straße ebenfalls.«

Daraufhin wandte er sich um und steuerte auf einen neuen VW Bora zu.

Erst stieg er ins Auto ein, dann wir. Rücksichtslos wählte ich den Beifahrersitz. Lass schnaubte, nahm aber gehorsam hinten Platz. Roman ließ den Motor an. »Wohin müssen Sie, Anton?«

Er redete sogar rund und weich, als spreche er nicht, sondern schreibe die Wörter in die Luft. »Zum Flughafen, und zwar schnell«, sagte ich finster.

»Wohin?«, fragte Roman ehrlich erstaunt. Dann sah er Lass an. »Sollen wir nicht lieber ein Taxi für deinen Freund suchen?«

Bedripst sah Lass mich an. Dann richtete er seinen Blick - genauso bedripst - auf Roman.

»Gut«, sagte ich. »Ich bekehre dich zum Licht. Verleugne das Dunkel, verteidige das Licht. Ich verleihe dir den Blick, um das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Ich verleihe dir den Glauben, dem Licht zu folgen. Ich verleihe dir die Kühnheit, gegen das Dunkel zu kämpfen.«Lass kicherte. Und verstummte gleich darauf.

Natürlich sind hier nicht die Worte entscheidend. Worte können nichts ändern, selbst wenn jedes Einzelne so ausgesprochen würde, als sei es in Großbuchstaben geschrieben. Das ist wie bei den Zaubersprüchen der Hexen. Es ist bloß eine Formel, die das in meinem Gedächtnis abgelegte Modul aktiviert. Ich hätte mir einen Menschen auch selbst gefügig machen können, aber so… so war es irgendwie richtiger. Denn so kam ein vor langer Zeit abgesegneter Mechanismus zum Tragen.

Roman nahm eine würdevolle Haltung an, sogar die Rundlichkeit seiner Wangen schien zu verschwinden. Eben noch saß neben mir ein dicker und etwas verwöhnter Junge, jetzt ein Mann! Ein Kämpfer!

»Das Licht sei mit dir!«, beendete ich die Formel. »Zum Flughafen!«, rief Roman begeistert aus. Der Motor heulte auf, und wir schossen davon, indem wir aus dem deutschen Wagen alles rausholten, was in ihm steckte. Ich hätte schwören können, dass dieser sportive Kasten noch nie gezeigt hatte, wozu er in der Lage war!

Ich schloss die Augen und sah durchs Zwielicht in das von bunten Fäden durchzogene Dunkel. In dieses verknäulte Bündel von Lichtröhren, in grüne, gelbe, rote. Ich kann die Wahrscheinlichkeitslinien nicht sehr gut ausmachen, doch jetzt fiel es mir überraschend leicht. Ich spürte, dass ich in Form war wie nie zuvor.

Was bedeutete, dass bereits fremde Kraft in mich hineinströmte. Die Kraft von Geser und Sebulon, von Edgar und den Inquisitoren. Möglicherweise erstarrten ja gerade in ganz Moskau Andere, Lichte wie Dunkle, alle, von denen Geser und Sebulon etwas nehmen durften.

Nur einmal hatte ich bislang etwas Vergleichbares gespürt. Und zwar damals, als ich mir von den Menschen Kraft geholt hatte.

»An der dritten Kreuzung nach links, sonst kommen wir in einen Stau«, sagte ich. »Dann biegen wir nach rechts ab, in einen Hof rein, wir fahren durch das Tor… dort ist eine Gasse…«

Ich war noch nie in Saratow gewesen. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

»Zu Befehl!«, salutierte Roman munter. »Gib Gas! »

»Wird gemacht!«

Ich sah Lass an. Der hatte ein Päckchen Papirossy herausgeholt und sich eine angesteckt. Das Auto raste durch die verlassenen Straßen. Roman saß hinterm Steuer mit dem Eifer eines Straßenbahnfahrers, der die Chance bekommen hatte, Schumacher bei einem Formel-1-Rennen zu besiegen.

Lass seufzte. »Und was wird jetzt mit mir?«, fragte er. »Holst du eine Taschenlampe heraus und sagst»Das war eine Sumpfgasexplosion«?«

»Du siehst doch, dass eine Taschenlampe dafür gar nicht nötig ist«, erwiderte ich.

»Aber ich werde das doch überleben?«, ließ Lass nicht locker.

»Das wirst du«, beruhigte ich ihn. »Aber du wirst dich an nichts erinnern. Tut mir leid, aber das ist eben die übliche Prozedur.«

»Alles klar«, sagte Lass traurig. »Mist… Was soll das bloß alles… Aber wo ich jetzt schon mit drinhänge, könntest du mir wenigstens sagen…«

Das Auto raste ohne Rücksicht auf Verluste durch die Gasse und hüpfte über Schlaglöcher hinweg. Lass machte die Papirossa aus. »Wer bist du?«, fragte er. »Ein Anderer. »

»Was für ein Anderer? »

»Ein Magier. Aber keine Angst, ich bin ein Lichter Magier.«

»Du bist erwachsen geworden, Harry Potter…«, bemerkte Lass. »Was man nicht alles mitmacht. Oder bin ich vielleicht verrückt geworden?«

»Da besteht leider keine Hoffnung…«, sagte ich und stemmte die Hand gegen die Decke. Roman mühte sich gewaltig, jagte über Blumenbeete und schnitt Kurven. »Pass auf, Roman! Wir müssen schnell und sicher ankommen!«

»Dann sag mir auch noch eins«, fing Lass wieder an. »Diese Jagd… autsch… hängt die mit dieser anormalen Riesenfledermaus zusammen, die wir gestern Nacht gesehen haben?«

»Du wirst darüber lachen - aber das tut sie!«, bestätigte ich. Die Kraft brodelte in mir, machte mich trunken wie Champagner. Ich wollte albern sein, meinen Spaß haben. »Hast du Angst vor Vampiren?«

Lass holte eine Flasche Whisky aus seiner Tasche, schraubte sie mit einer heftigen Bewegung auf und setzte sie an den Mund. »Kein bisschen!«, behauptete er munter.

Sechs

Auf halber Strecke hängte sich ein Polizeiwagen an uns an. Ich wirkte für den Bora einen Zauber, der die Aufmerksamkeit der Menschen ablenkt, und sofort entfernten die Polizisten sich. Normalerweise schützen Andere ihre Autos mit diesem Zauber gegen Diebstahl - jetzt freute ich mich, eine neue Anwendung für ihn gefunden zu haben. Allerdings wäre kurz darauf beinah ein LKW in uns reingefahren, worauf ich den Zauber umgehend wieder aufhob.

»In fünfzehn bis zwanzig Minuten sind wir am Flughafen«, erstattete Roma Bericht, der wild mit dem Lenkrad hantierte. »Welche Instruktionen haben Sie dann, Chef?«

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich, wie Lass den Kopf schüttelte und einen weiteren Schluck trank. Wir waren bereits aus der Stadt raus und rasten über die Straße zum Flughafen dahin. Eine ziemlich gute Straße - für die Verhältnisse in Mittelrussland.

»Schalte das Radio an«, bat ich. »Sonst macht die Fahrt keinen Spaß.«

Roma schaltete das Radio ein. Wir erwischten gerade noch die letzten Nachrichten. »… zur Freude von Millionen von Lesern hat das Warten nach drei Jahren nun ein Ende«, verkündete die Sprecherin. »Zum Abschluss noch eine Mitteilung vom Kosmodrom Baikonur, wo in Kooperation von Russen und Amerikanern eine Rakete ins All geschickt werden soll. Der Start ist für 18.32 Uhr Moskauer Zeit geplant. Und jetzt setzen wir unser Musikprogramm fort…«

»Willst du auch einen Whisky?«, fragte Lass.

»Nein, ich muss noch arbeiten.«

»Reiß dich zusammen, Alexander, das ist nicht die Zeit zum Trinken!«, rief Roman munter. »Wir haben noch Arbeit!«

Dieser gutmütige Mann, der normalerweise wohl keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, hielt sich jetzt für James Bond. Oder seinen Assistenten.

Irgendwie haben wir alle in unserer Kindheit nicht genug gespielt.

»Du wirst das Auto bewachen«, sagte ich ihm. »Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Wir zählen auf dich. »

»Ich diene dem Licht!«, schrie Roman.

»Niemals hätte ich geglaubt…«, stöhnte Lass auf der Rückbank. »Soll ich auch auf das Auto aufpassen?«

»Ja«, meinte ich. »Nur… ich habe eine große Bitte: Versuch nicht wegzurennen.«

Von hinten war abermals ein Gluckern zu hören. Ob ich auch Lass dem Licht empfehlen sollte? Das wäre humaner… Warum sollte ich den Menschen unnötig quälen?

Zeit zum Nachdenken blieb mir jedoch nicht. Das Auto raste auf den Platz vor dem Flughafengebäude zu und hielt mit quietschenden Bremsen vorm Eingang an. Niemand achtete besonders auf uns: Jemand, der zu spät zu seinem Flug kam, nichts Außergewöhnliches. Ich holte Arinas Brief heraus. Sah auf den»Kompass«.

Die Nadel bewegte sich leicht hin und her, gab aber noch keine Richtung an.

Ob Kostja meine Ankunft spürte? Zumindest Geser war überzeugt davon. Was würde nun auf mich zukommen?

Seltsamerweise empfand ich bis jetzt keine Angst. Innerlich war ich nicht bereit, Kostja als Feind zu sehen - noch dazu als einen Feind, der fähig ist zu morden. Ich bin ein Magier zweiten Grades, das ist nicht schlecht. Hinter mir stand die gesamte Kraft der Nachtwache und nun auch - was noch nie da gewesen war - die der Tagwache. Was sollte mir ein einziger Vampir da schon anhaben? Selbst wenn er ein Hoher war.

Doch dann fiel mir das verzerrte Gesicht Viteszlavs wieder ein. Kostja hatte ihn ermordet. Ihn überwältigt.

»Lass«, sagte ich. »Ich hätte eine kleine Bitte… Komm hinter mir her. In gewissem Abstand. Wenn was passiert… Wenn du etwas bemerkst, sagst du es mir.«

Lass nahm den letzten Schluck Whisky und warf die leere Flasche auf die Rückbank. »Warum sollte ich nicht mitkommen?«, sagte er vernünftig. »Vorwärts, bleichgesichtiger Blade.«

Ihm war jetzt anscheinend alles schnuppe. Er hatte sich einen angetrunken - was auch eine gute Methode ist, um sich gegen einen Vampir zu schützen. Das Blut eines angetrunkenen Menschen bekommt ihm nicht, das eines stark betrunkenen kann ihn sogar umbringen. Ob sich Vampire deswegen immer lieber in Europa rumgetrieben haben als in Russland?

Aber ein Vampir ist keinesfalls gezwungen, das Blut eines getöteten Menschen zu trinken. Futter ist Futter, und Dienst ist Dienst. »Komm mir nicht zu nah«, wiederholte ich. »Halte Abstand!«

»Passen Sie auf sich auf, Chef!«, bat Roman. »Viel Erfolg. Sie sind unsere Hoffnung!«

Ich sah ihn an und erinnerte mich an die Abschiedsworte Sebulons. Wie ähnlich wir uns doch sind.

Wie ähnlich wir uns doch alle sind. Menschen und Andere, Dunkle und Lichte.

»Leise, geduldig, ohne Aggression«, sagte ich vor mich her, während ich die vor dem Eingang zum Flughafengebäude rauchenden Männer anstarrte. Überwiegend intelligente Menschen mit Krawatte. Eine Putzfrau in einer orangefarbenen Jacke, die eine Prima qualmte, sah neben ihnen völlig wild aus. »Leise und friedlich…«

Ich steuerte auf das Gebäude zu. Die Raucher wichen mir aus, denn in mir steckte jetzt zu viel Kraft, sogar normale Menschen konnte das spüren.

Und sobald sie es spürten, brachten sie sich klugerweise in Sicherheit.

Als ich hineinging, sah ich mich um. Lass kam mit einem gutmütigen Lächeln hinter mir hergetrottet. Wo bist du, Kostja?

Wo bist du, Hoher Vampir, der nie einen Menschen um der Kraft willen umgebracht hat?

Wo bist du, der du davon träumst, wie in einem billigen Hollywoodstreifen der Herrscher über die Welt zu werden?

Dort, wo auch der kleine Vampir ist, der versucht hat, sein Schicksal zu überlisten… Ich werde dich töten.

Nicht»Ich muss töten«, nicht»Ich kann töten«, nicht»Ich will töten«. Genug mit den Präzisierungen. Ich habe das»Müssen«, habe Rotz und Tränen hinter mir, die intellektuelle Selbstzerfleischung und Selbstrechtfertigung. Ich habe das»Können«, habe die Komplexe und Qualen eines Magiers dritten Grades hinter mir, die Anspannung eines Anderen, der seine Grenze erreicht hatte. Ich habe das»Wollen«, habe die Emotionen und Leidenschaften hinter mir, den Zorn und das Mitleid. Jetzt tu ich nur, was getan werden muss.

Falsche Ideale und Pseudoziele, fiebrige Losungen und doppeldeutige Postulate interessierten mich nicht mehr. Ich glaube nicht mehr an das Licht und nicht mehr an das Dunkel. Das Licht, das ist nur ein Photonenstrom. Das Dunkel nichts weiter als die Abwesenheit von Licht. Die Menschen sind unsere kleinen Brüder. Die Anderen sind das Salz der Erde. Wo bist du, Kostja Sauschkin?

Wo auch immer du hingerannt bist - zu den alten Artefakten des Ostens, zu einer milliardenstarken Armee aus chinesischen Magiern - ich werde deinen Sieg nicht zulassen. Wo bist du?

In der Mitte der Halle - der nicht allzu großen Halle eines Provinzflughafens - blieb ich stehen. Ich hatte den Eindruck, ihn zu spüren…

Ein verschwitzter Mann mit einem Koffer stolperte in mich hinein, entschuldigte sich und ging weiter. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf seine Aura: ein nicht initiierter Anderer, ein Lichter, der Angst vorm Fliegen hatte, der aber gerade glücklich gelandet war und sich entspannte. Ein zufriedener Mann - der eben deshalb auffiel. Im Moment interessierte mich das nicht. Kostja?

Ich drehte mich um, als habe jemand meinen Namen gerufen. Ich starrte auf das Schild»Personaleingang«und auf das Codeschloss.

Im Lärm des Flughafens erhob sich eine für niemandem hörbare Melodie. Offenbar rief er mich.

Die Knöpfe des Codeschlosses leuchteten gehorsam auf, als ich meine Hand danach ausstreckte. Vier, drei, zwei, eins. Ein wirklich schlauer Code…

Ich öffnete die Tür, sah mich um und nickte Lass zu, um die Tür dann vorsichtig, damit sie nicht wieder ins Schloss fiel, anzulehnen.

Leere, in einem trostlosen Grün gestrichene Gänge. Durch die ich jetzt ging.

Die Melodie schwoll an, schlingerte durch die Luft, schwang sich empor und sank wieder. Wie eine versponnene Melodie auf einer klassischen Gitarre. Dazu die zarten Klänge einer Geige.

Das ist er also, der richtige Ruf eines Vampirs, der Ruf, der dir gilt.

»Ich komme ja schon«, murmelte ich, während ich auf eine weitere Tür mit Codeschloss zusteuerte. Hinter mir ging eine Tür: Lass folgte mir.

Ein neues Schloss, ein neuer Code. Sechs, drei, acht, eins. Ich öffnete die Tür - und fand mich auf dem Rollfeld wieder.

Langsam kroch ein dickbäuchiger Airbus über den Beton. Weiter hinten heulten die Turbinen einer Tupolew, die auf die Startbahn zusteuerte.

Fünf Meter vor der Tür stand Kostja. In der Hand hielt er einen kleinen, piekfeinen Aktenkoffer aus Hardplastik. Mir war klar, dass er das Fuaran enthielt. Kostjas Hemd war eingerissen als ob es ihm zwischendurch zu klein gewesen sei.

Offenbar war er aus dem Zug gesprungen und hatte mit der Transformation begonnen, bevor er sich vollständig ausgezogen hatte.

»Hallo«, sagte Kostja.

Die Musik verstummte, riss mitten im Ton ab.

»Hallo«, erwiderte ich. »Du bist schnell hergeflogen.«

»Geflogen?«Kostja schüttelte den Kopf. »Nein… eine Fledermaus schafft diese Strecke kaum. »

»Und in was hast du dich dann verwandelt? In einen Wolf?«

Kostjas Antwort setzte der absurden Profanität unseres Gesprächs die Krone auf: »In einen Hasen. Eine großen grauen Hasen. Sprung für Sprung…«

Ich konnte nicht an mich halten - und kicherte los, als ich mir den gigantischen Hasen vorstellte, der durch Gärten rannte, mit riesigen Sprüngen über Bäche und Zäune setzte. »Stimmt…«Kostja breitete die Arme aus. »Es war wirklich komisch. Ist mit dir alles in Ordnung? Habe ich dich nicht… zu sehr…? Sind die Zähne in Ordung?«

Ich versuchte, so breit wie möglich zu lächeln.

»Entschuldige.«Kostja wirkte ehrlich bedrückt. »Das lag daran, dass alles so überraschend kam. Wie bist du dahinter gekommen, dass ich das Buch habe? Der Cocktail? »

»Ja. Für den Zauber ist das Blut von zwölf Menschen nötig.«

»Woher weißt du das?«, fragte Kostja gedankenversunken. »Euch ist doch gar nicht bekannt, was im Fuaran steht… Na ja, egal. Ich möchte mit dir reden, Anton.«

»Ich mit dir auch«, sagte ich. »Gib auf. Noch kannst du dein Leben retten.«

»Ich lebe seit langem nicht mehr.«Kostja lächelte. »Hast du das etwa vergessen? »

»Du weißt, was ich meine.«

»Lüg mich nicht an, Anton. Du glaubst ja selbst nicht, was du da sagst. Ich habe vier Inquisitoren ermordet!«

»Drei«, korrigierte ich ihn. »Viteszlav und zwei im Zug. Der dritte hat überlebt.«

»Ein gewaltiger Unterschied.«Kostja runzelte die Stirn. »Schon einen würden sie mir niemals verzeihen.«

»Das ist ein besonderer Fall«, entgegnete ich. »Ich sage es ganz offen, die Großen haben es mit der Angst bekommen. Sie könnten dich umbringen, doch der Preis für ihren Sieg wäre sehr hoch. Die Großen würden sich auf Verhandlungen einlassen.«Kostja schwieg und sah mich unverwandt an.

»Wenn du das Fuaran zurückgibst, wenn du dich freiwillig ergibst, krümmen sie dir kein Haar«, fuhr ich fort. »Du bist doch ein gesetzestreuer Vampir. Das liegt alles an dem Buch, du hast im Affekt gehandelt…«

Kostja schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht. Edgar hat die Worte Viteszlavs nicht für voll genommen. Aber ich habe sie geglaubt. Ich bin umgekehrt und zur Hütte zurückgeflogen. Viteszlav hat nicht mit einer Falle gerechnet… Er hat mir das Buch gezeigt und alles erklärt. Als ich das von dem Blut von zwölf Menschen gehört habe… da war mir klar, dass das meine Chance ist. Er hat noch nicht einmal Einwände gegen das Experiment erhoben. Vermutlich wollte er so schnell wie möglich herauskriegen, ob es sich wirklich um das echte Buch handelt. Erst in dem Moment hat er begriffen, dass ich stärker geworden bin… und dann hat er seine Kräfte angespannt. Aber es war bereits zu spät.«

»Wozu?«, fragte ich. »Das ist doch Wahnsinn, Kostja! Wozu brauchst du die Weltherrschaft?«

Kostja zog die Brauen hoch. Eine Zeit lang sah er mich an - dann lachte er los. »Wovon redest du, Anton? Was für eine Herrschaft? Du hast ja rein gar nichts verstanden!«

»Ich verstehe sehr wohl«, sagte ich trotzig. »Du fliehst nach China, oder? Bringst eine Milliarde Magier unter deine Macht?«

»Idioten«, sagte Kostja leise. »Ihr seid alle Idioten. Ihr könnt immer nur an eins denken… Macht und Kraft… Ich brauche diese Macht nicht! Ich bin ein Vampir! Verstehst du? Ich bin ein Ausgestoßener! Mieser als jeder sonstige Andere! Ich will nicht der stärkste Ausgestoßene werden! Ich will ganz normal werden! Ich will so sein wie alle!«

»Aber mit dem Fuaran kannst du einen Anderen nicht in einen Menschen umwandeln…«, murmelte ich.

Kostja kicherte. »Ach!«Er schüttelte den Kopf. »Schalt mal dein Hirn ein, Anton! Die haben dich mit Kraft aufgetankt und losgeschickt, um mich umzubringen, das weiß ich. Aber denk vorher wenigstens nach, Anton! Mach dir klar, was ich will!«

Hinter mir quietschte die Tür. Lass kam herein. Verwirrt sah er mich an, dann schielte er zu Kostja hinüber. Kostja schüttelte den Kopf.

»Ich störe wohl?«, sagte Lass, nachdem er die Situation abgeschätzt hatte. »Tut mir leid, ich bin schon wieder weg… «

»Stopp«, meinte Kostja sachlich. »Du kommst gerade recht.«

Lass erstarrte. Ich hatte in Kostjas Stimme keinen Befehl herausgehört, aber da war wohl doch einer gewesen.

»Ein kleines Experiment zur Veranschaulichung«, sagte Kostja. »Schau dir an, wie es gemacht wird…«

Heftig schüttelte er seinen Aktenkoffer, worauf die Schlösser gehorsam aufsprangen, der Koffer sich öffnete und aus ihm ein schweres, solides Buch herausflog. Das Fuaran.

Der Einband war in der Tat aus Leder, aus grau-gelbem Leder. Kupferne Dreiecke schützten die Ecken. Außerdem gab es noch eine sinnreiche Schließe, die verhinderte, dass das Buch sich öffnete.

Kostja fing das Buch mit einer Hand und schlug es mit so erstaunlicher Leichtigkeit auf, als hantiere er nicht mit einem mehrere Kilogramm schweren Folianten, sondern blättere eine Zeitung durch. Er ließ den Aktenkoffer fallen, der auf den Beton krachte.

»Hier steht größtenteils Gewäsch drin«, amüsierte sich Kostja. »Eine Chronik missglückter Experimente. Die Anleitung kommt am Ende… Es ist ganz einfach.«

Mit der freien Hand holte Kostja aus der Gesäßtasche seiner Jeans die kleine Metallflasche. Schraubte den Verschluss ab und gab einen Tropfen direkt auf die aufgeschlagene Seite. Worauf wartete ich noch? Was hatte er vor?

Alles in mir schrie: Greif ihn an! Schlag mit voller Kraft zu, solange er abgelenkt ist! Doch ich wartete, von dem Anblick wie gebannt.

Der Blutstropfen verschwand von der Seite. Schmolz dahin, gab braunen Rauch ab. Und das Buch… das Buch fing an zu singen. Es stieß einen Laut aus, der einem kehligen Gesang ähnelte, an eine menschliche Stimme erinnerte. Es lag nichts Artikuliertes darin.

»Beim Dunkel und beim Licht…«, sagte Kostja, während er auf die aufgeschlagenen Seiten blickte. Er sah etwas, das mir verborgen blieb. »Om… Mrigankandata gauri… Auchitya dhvani… Nach meinem Willen… Mokscha gauri…«

Die Stimme des Buches - und ich hegte nicht den geringsten Zweifel, dass hier das Buch sprach - schwoll an. Erstickte Kostjas Stimme, erstickte die Worte des Zauberspruchs, sowohl die russischen als auch jener alten Sprache, in der das Fuaran abgefasst worden war.

Kostja hob die Stimme, als versuche er das Buch zu überschreien.

Ich verstand nur das letzte Wort, wieder ein Om. Der Gesang riss mit einem scharfen, dissonanten Ton ab. Hinter mir fluchte Lass. »Was war das denn?«, fragte er.

»Ein Meer«, amüsierte sich Kostja. Er bückte sich, hob den Aktenkoffer auf und legte sowohl das Buch als auch die Flasche hinein. »Ein ganzes Meer neuer Möglichkeiten.«

Ich drehte mich um - obwohl ich bereits wusste, was ich sehen würde. Kniff die Augen zusammen und fing mit den Pupillen den Schatten meiner Wimpern auf. Ich betrachtete Lass durchs Zwielicht.

Die Aura eines nicht initiierten Anderen war absolut klar zu erkennen. Herzlich willkommen in unserem Freundeskreis…

»So funktioniert es bei Menschen«, sagte Kostja. Auf seiner Stirn standen jetzt zwar Schweißtropfen, dennoch wirkte er rundum zufrieden. »Genau so. »

»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich.

»Ich möchte ein Anderer unter Anderen sein«, sagte Kostja. »Ich möchte, dass das alles aufhört… Lichte und Dunkle, Menschen und Andere, Magier und Vampire. Alle sollen zu Anderen werden, begreifst du das? Alle Menschen auf der Welt.«

Ich lachte. »Kostja… du brauchst zwei oder drei Minuten pro Mensch. Wie steht's mit deinen Kenntnissen in Arithmetik?«

»Hier hätten auch zweihundert Menschen stehen können«, erklärte Kostja. »Dann wären sie jetzt alle Andere geworden. Hier hätten zweitausend Menschen stehen können. Der Zauber wirkt auf alle, die sich in meinem Blickfeld befinden. »

»Trotzdem…«

»In anderthalb Stunden startet vom Kosmodrom Baikonur die nächste Rakete zur Internationalen Raumstation«, sagte Kostja. »Ich glaube, der deutsche Weltraumtourist wird mir seinen Platz überlassen müssen.«Einen Moment lang schwieg ich und wog seine Worte ab.

»Ich werde ganz ruhig am Fenster sitzen und auf die Erde glotzen«, verkündete Kostja. »Wie es sich für einen Weltraumtouristen gehört. Ich werde auf die Erde schauen, etwas Blut aus der Flasche auf den Seiten verschmieren und den Zauberspruch flüstern. Und weit unter mir werden die Menschen zu Anderen. Alle Menschen, verstehst du? Vom Säugling in der Wiege bis zum Greis im Rollstuhl.«

Jetzt wirkte er fast wie ein Lebender. Durch und durch. In seinen Augen loderte etwas, das nicht der Vampirkraft entsprang, sondern normalem menschlichen Eifer.

»Anton, du hast doch selbst auch schon davon geträumt, oder? Dass es keine Menschen mehr gibt! Dass alle gleich sind!«

»Ich habe davon geträumt, dass alle zu Anderen werden«, sagte ich. »Aber nicht davon, dass es keine Menschen mehr gibt.«

Kostja verzog das Gesicht. »Hör doch auf! Das sind Wortklaubereien… Wir haben die Chance, die Welt zum Guten zu verändern, Anton. Fuaran konnte das nicht, denn zu ihrer Zeit gab es noch keine Raumschiffe. Geser und Sebulon können das nicht, denn sie haben das Buch nicht. Aber wir, wir können es! Ich will keine Macht, versteh mich doch! Ich will Gleichheit! Freiheit!«

»Glück für alle, und umsonst?«, fragte ich. »Und dass niemand gekränkt fortgeht?«Er verstand mich nicht.

»Ja, Glück für alle! Die Erde den Anderen! Und keine Kränkungen! Ich will, dass du mit mir kommst, Anton. Dass du dich auf meine Seite stellst.«

»Das ist eine vorzügliche Idee«, rief ich und sah ihm in die Augen. »Kostja, du bist einfach fabelhaft!«

Lügen konnte ich noch nie. Und einen Vampir zu täuschen, das ist fast unmöglich. Aber offenbar wollte Kostja unbedingt hören, dass ich ihm zustimmte. Er lächelte. Entspannte sich.

In dem Moment hob ich die Hand und schlug mit der»grauen Andacht«zu.

Das hatte nichts mehr mit dem Schlag zu tun, den ich ihm im Zug versetzt hatte. Die Kraft brodelte in mir, strömte aus meinen Fingerspitzen heraus! Ohne Ende! Wer kann schon wissen, dass er eine Leitung ist, solange kein Strom fließt?

Der Zauber ließ sich sogar in der Menschenwelt erkennen. Schlingernde graue Fäden schossen aus meinen Händen, spannen Kostja ein, zogen sich um ihn zusammen, schnappten ihn sich, bildeten einen zuckenden grauen Kokon um ihn. Im Zwielicht geschah etwas Unvorstellbares: Ein tosender grauer Schneesturm brandete durch die Welt, im Vergleich zu dem der normale graue Nebel direkt farbenfroh wirkte. Jedem normalen, registrierten Vampir in einem Radius von mehreren Kilometern, so schoss es mir durch den Kopf, dürfte es jetzt auch nicht gerade prächtig gehen. Einzelne abprallende Zauberfragmente würden ihn wegfegen und dematerialisieren…

Kostja fiel auf ein Knie. Er hielt sich, versuchte zu entkommen, aber die»graue Andacht«saugte die Kraft schneller aus ihm heraus, als er dem Zauber entgehen konnte. »Mein lieber Schieber!«, rief Lass begeistert hinter mir. Nie zuvor war so viel Kraft durch mich hindurchgeströmt.

Mit der Welt um mich herum geschah etwas Seltsames. Das Flugzeug auf der Startbahn verlor seine Farbe, verwandelte sich in einen grauen steinernen Klotz. Der Himmel bleichte aus, wurde fahl und hing jetzt tief. Die Ohren schienen mit Watte zugestopft. Anscheinend drängte das Zwielicht in unsere Welt…

Aber ich konnte nicht aufhören. Ich spürte: Sollte ich auch nur eine Sekunde erlahmen, würde Kostja sich losreißen, würde zum Gegenschlag ausholen. Und dann so zuschlagen, dass mir Hören und Sehen verging… Dann würde ich und nicht Kostja da auf dem Asphalt liegen, zu Brei zerquetscht…

Er hob den Kopf. Sah mich an. Nicht böse, sondern eher verletzt und ungläubig. Ganz langsam breitete er die Arme aus… Sollte er tatsächlich noch Kraftreserven haben?

Um Kostja herum zeichnete sich ein hellblaues, durchscheinendes Prisma in der Luft ab. Es zerschnitt die grauen Fäden des Zaubers, kreiste und schrumpfte zu einem Punkt zusammen. Dann verschwand es. Zusammen mit dem Vampir. Kostja war durch ein Portal geflohen.

Nach wie vor brandete die Kraft in mir. Die Kraft von Tausenden von Anderen, die Geser und Sebulon mir zugeleitet hatten, eine überbordende, unkontrollierte Kraft, die nach Anwendung verlangte. Menschenkraft, die durch dritte Hand zu mir gelangt war… Es reichte…

Ich führte meine Hände zusammen und ballte die grauen Fäden zu einem festen Knäuel. Es reichte…

Der Feind stand nicht mehr vor mir. Es reichte…

Ein Duell der Magier - das bedeutet zu fechten, nicht mit einem Knüppel zuzuhauen. Es reichte. Kostja hatte sich als der Raffiniertere erwiesen.

Ein leichtes Zittern schüttelte mich, trotzdem hörte ich auf. Der Himmel gewann seine Farbe zurück, auf der Startbahn raste das Flugzeug los. Kostja war weg. Geflohen?

Nein, er war einfach weg. Noch nie hatte ich von Vampiren gehört, die imstande sind, ein direktes Portal zu öffnen. Und die Großen hatten offenbar ebenfalls nicht erwartet, dass Kostja uns mit einer solchen Finte täuschen würde.

Als er zum Flughafen gekommen war, hatte er damit gerechnet, dass alle nur an Flugzeuge und Hubschrauber denken würden. Sich entspannen würden, denn ihnen blieb noch genug Zeit, sie konnten den Vampir ja in der Luft abfangen, Jagdflugzeuge losschicken, sie konnten Raketen abfeuern…

Kostja hatte sich jedoch von Anfang an auf einen Sprung in ein direktes Portal vorbereitet. Anderthalb Stunden vor dem Start der Rakete… Niemals hätte er es geschafft, mit einem Flugzeug pünktlich in Baikonur einzutreffen! Außerdem flog da sowieso keins hin, schließlich gab es in dem Gebiet - wozu auch immer es jetzt erklärt sein mochte - noch eine Luftabwehr. Und nur deshalb hatte er den Sprung selbst unter dem Druck der»grauen Andacht«geschafft: Der Zauber für das Portal war bereits gewirkt, bereits»aufgehangen«- genau wie die Kampfzauber bei uns Fahndern.

Also hatte er doch nicht geglaubt, dass ich zu ihm überlaufen würde. Oder zumindest ernsthafte Zweifel daran gehabt. Trotzdem war es für ihn wichtig - sehr wichtig -, mich zu besiegen. Und zwar nicht durch reine Kraft. Was bedeutet schon Kraft, wenn er nun ein Hoher und ich immer noch ein Magier zweiten Grades war, selbst wenn man noch so viel geliehene Kraft in mich gepumpt hatte. Nein, der reinste, der überzeugendste Sieg ist der, wenn der Gegner deine Wahrheit anerkennt. Sich kampflos ergibt. Sich unter deine Fahne stellt.

Letzten Endes bin ich doch ein Dummkopf. Ich hatte ihn für einen Freund oder einen Feind gehalten. Doch er war keins von beiden. Er gedachte lediglich seine Wahrheit zu beweisen. Und wie es der Zufall so wollte, sollte ich als Mittel der Beweisführung dienen. Schon kein Freund mehr, aber noch kein Feind. Sondern nur der Träger einer alternativen Wahrheit. »Hat er sich mit Teleportation davongemacht?«, fragte Lass.

»Was?«Ich drehte mich um und sah ihn an. »Nun… etwas in der Art. Er hat ein Portal geöffnet und ist verschwunden. Wie bist du dahintergekommen?«

»In einem Computerspiel habe ich mal etwas gesehen, das kam dem hier ziemlich nahe…«, sagte Lass leicht zweifelnd. Um dann verärgert zu präzisieren: »Sehr nahe!«

»Diese Spiele werden nicht nur von Menschen gemacht…«, erklärte ich. »Ja, er ist verschwunden. Nach Baikonur. Er möchte einen Weltraumtouristen ersetzen…»

»Das habe ich gehört«, sagte Lass. »So ein Idiot. »

»Ist dir klar, warum er ein Idiot ist?«, fragte ich.

Lass schnaubte. »Wenn alle Menschen Magier werden… Heute pöbelt man dich in der Straßenbahn an, und morgen verbrennt man dich auf der Stelle zu Asche. Heute zerkratzt man einem unangenehmen Nachbarn die Tür mit einem Nagel oder denunziert dich beim Finanzamt, morgen wirkt man irgendein Unheil oder saugt ihm das Blut aus. Ein Affe auf einem Motorrad ist nur im Zirkus amüsant, nicht im Straßenverkehr… Und schon gar nicht, wenn der Affe eine Maschinenpistole in der Hand hat.«

»Glaubst du, dass die Mehrheit aus Affen besteht?«, wollte ich wissen.

»Wir alle sind Affen.«

»Dein Weg führt in die Wache«, murmelte ich. »Wart mal gerade… ich muss mir Rat holen.«

»Was für eine Wache?«, fragte Lass misstrauisch. »Vielen Dank auch! Glücklicherweise bin ich nämlich kein Magier!«

Ich schloss die Augen und lauschte. Stille.

»Geser!«

Stille.

»Geser! Lehrer!«

»Wir beratschlagen gerade, Anton.«

In einem telepathischen Gespräch fehlt jede Intonation. Und trotzdem… trotzdem witterte ich einen Hauch von Müdigkeit in Gesers Worten.

»Er ist nach Baikonur unterwegs. Das Fuaran funktioniert wirklich. Er will alle Menschen auf der Welt in Andere verwandeln!«

Ich verstummte, weil ich begriff: Geser wusste bereits Bescheid. Er hatte alles, was passiert war, angesehen und angehört - ob mit meinen Augen und meinen Ohren oder mit sonstigen magischen Methoden, was spielte das für eine Rolle. »Du musst ihn aufhalten, Anton. Folge ihm und halte ihn auf. »

»Und Sie?«

»Wir halten den Kanal aufrecht, Anton. Versorgen dich mit Kraft. Weißt du, wie viele Andere ihre Kraft für die»graue Andacht«gegeben haben? »

»Ich ahne es.«

»Anton, ich kann mich nicht mit ihm messen. Sebulon auch nicht. Und auch Swetlana nicht. Wir können jetzt nur noch eins machen: dich mit Energie versorgen. Wir ziehen aus allen Anderen Moskaus Kraft. Falls nötig, fangen wir an, sie direkt bei den Menschen abzupumpen. Wir haben keine Zeit, jetzt noch was umzuorganisieren oder weitere Magier als Leiter hinzuziehen. Du bist es, der Kostja aufhalten muss… mit unserer Hilfe. Die Alternative wäre ein Atomangriff auf Baikonur. »

»Ich kann kein direktes Portal öffnen, Geser.«

»Doch. Das Portal ist noch nicht endgültig wieder geschlossen. Du musst den Eingangsschacht finden und es erneut aktivieren.«

»Überschätzen Sie mich nicht, Geser! Selbst mir Ihrer Hilfe bin ich nur ein Magier zweiten Grades!«

»Wach auf, Anton. Du hast Sauschkin gegenübergestanden, als er den Zauberspruch rezitiert hat. Du bist über den zweiten Grad hinaus. »

»Und welchen…?«

»Über dem ersten gibt es nur noch eine Kategorie. Die höchste. Schluss jetzt mit dem Gerede! Folge ihm! »

»Aber wie kann ich ihn besiegen? »

»Wie du willst.«Ich öffnete die Augen.

Lass stand vor mir und fuchtelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

»Oh! Er lebt noch!«, freute er sich. »Was ist das für eine Wache? Und soll das heißen, dass ich jetzt auch ein Magier bin? »

»Fast.«Ich machte einen Schritt nach vorn.

Hier hatte Kostja gestanden… er war hingefallen… hatte die Arme ausgebreitet… das Portal war entstanden… Die Menschenwelt war leer.

Wind ging, die zerknüllte Zellophanhülle einer Zigarettenschachtel raschelte über den Beton… Das Zwielicht war leer.

Die graue Finsternis, die steinernen Klötze anstelle des elastischen, wabernden Geflechts aus blauem Moos… Die zweite Schicht des Zwielichts.

Der schwere schieferfarbene Nebel… das gespenstische tote Licht unter schweren Wolken… ein winziger blauer Funken, wo das Portal gewesen war… Ich streckte die Hand aus -in der Menschenwelt, in der ersten Schicht des Zwielichts, in der zweiten Schicht des Zwielichts… Und erfasste mit den Fingern den ersterbenden blauen Funken.

Halt! Erlisch nicht! Hier bekommst du es mit einer Kraft, mit einer wütenden Energie zu tun, die die Grenzen zwischen den Welten aufhebt. Von meinen Fingern regneten brennende Tropfen. Herab auf die verlöschende Glut…

Wachse, öffne dich, kriech unter die heiße Sonne, denn du musst noch arbeiten! Ich nahm die Spur desjenigen wahr, der das Portal geöffnet hatte. Sah, wie er es gemacht hatte. Konnte seinen Weg nachgehen.

Und ich brauchte dazu nicht einmal mehr Zauber, nicht all diese komischen Formeln in unverständlichen alten Sprachen. Auf die auch die Hexe Arina nicht angewiesen ist, wenn sie ihren Kräutertrunk braut. Auf die auch Geser und Swetlana nicht angewiesen sind. Ist es das, was einen Hohen Magier ausmacht?

Dass er keine Schemata mehr lernen muss, sondern die Bewegung der Kraft spürt? Wie erstaunlich - und wie einfach.

Dabei sind noch nicht mal die Möglichkeiten das Erstaunlichste, nicht die beeindruckende Kraft des Fireballs oder die Stärke des»Freeze«. Denn mit abgezapfter fremder Kraft oder mit kunstvoll angesammelter eigener kann selbst ein gewöhnlicher Magier so loslegen, dass er einen Hohen Mores lehrt. Nein, alles steht und fällt mit der Freiheit. Ein Unterschied wie zwischen einem Schwimmer - und möge er noch so begabt sein - und einem Delphin - selbst wenn dieser extrem träge ist.

Wie schwer muss es für Swetlana gewesen sein, mit mir zusammenzuleben, ihre Kraft zu vergessen, ihre Freiheit zu vergessen? Das lässt sich nicht mit dem Unterschied zwischen stark und schwach vergleichen, sondern nur mit dem zwischen einem Gesunden und einem Invaliden…

Aber die gewöhnlichen Menschen leben doch auch, oder? Zusammen mit Blinden und Lahmen. Denn das Wichtigste ist eben nicht die Freiheit. Freiheit - das ist eine Rechtfertigung für Arschlöcher und Idioten. Wenn die von Freiheit sprechen, denken sie nicht an die Freiheit der andern, sondern an die eigene Sklaverei.

Und selbst Kostja - der kein Idiot und kein Arschloch ist - hängt an jenem Haken, an dem sich schon die Revolutionäre aller Couleur die Lippen aufgerissen haben - von Spartakus bis Trotzki, vom Bürger Robespierre bis zum Commandante Che Guevara, von Jemelka Pugatschow bis zum namenlosen Selbstmordattentäter.

Wäre ich selbst nicht auch daran hängen geblieben? Noch vor fünf oder zehn Jahren?

Wenn man mir gesagt hätte: »Man kann alles auf einen Schlag ändern - und zwar zum Guten!«Aber das hat zum Glück keiner.

So bin ich noch einmal davongekommen, zusammen mit denjenigen, die mir etwas bedeuten. Die bei den Worten»Freiheit und Gleichheit«immer voller Zweifel den Kopf schütteln.

Vor mir öffnete sich das Portal: ein hellblaues Prisma, leuchtende Schnüre als Rippen, eine glimmernde Hülle als Grenze…

Ich schob die Schnüre mit den Händen auseinander und trat ins Portal.

Sieben

Was an Portalen nicht gut ist: Man hat keine Möglichkeit, sich auf den neuen Ort einzustellen. Ein Zug ist in dieser Hinsicht ideal. Du betrittst dein Abteil, wechselst die Jeans gegen Trainingshosen und die Schuhe gegen Gummilatschen, entspannst dich bei Speis und Trank und kommst - falls du das Pech hast, allein zu fahren - mit deinen Mitreisenden ins Gespräch. Die Räder rattern, der Bahnsteig entschwindet. Das war's, du bist unterwegs. Du bist ein andrer Mensch. Du teilst deine geheimsten Sorgen mit Unbekannten, streitest über Politik, obwohl du dir gelobt hast, nie über sie zu streiten, trinkst fragwürdigen, auf einem kleinen Bahnhof erworbenen Wodka. Du bist nicht hier und nicht da. Du bist unterwegs. Unternimmst deine eigene kleine Queste, in dir steckt etwas von Frodo und etwas von Paganel, dann noch ein Tröpfchen Robinson und ein ganz klein wenig von Radischtschew. Vielleicht dauert deine Reise nur ein paar Stunden, vielleicht ein paar Tage. Das Land ist groß, und es zieht vor den Fenstern deines Abteils vorbei. Du bist nicht hier. Du bist nicht da. Du bist ein Reisender.

Bei einem Flugzeug sieht die Sache schon anders aus. Trotzdem bereitest du dich auch hier auf deine Reise vor. Du kaufst ein Ticket, stehst in aller Herrgottsfrühe auf, setzt dich in ein Taxi und fährst zum Flughafen. Die Räder schlucken die Kilometer, du guckst in den Himmel, bist in Gedanken bereits in der Luft. Das nervöse Durcheinander im Wartesaal, löslicher Kaffee im Restaurant, das Einchecken, die Sicherheitskontrolle, wenn du ins Ausland fliegst der Zoll und der Duty-free-Shop, die kleinen Freuden der Reise vor den engen Flugzeugsitzen, dem Heulen der Turbinen und dem optimistischen Slogan der Stewardess. »Die Notausgänge befinden sich…«Und dann verschwindet die Erde bereits unter dir, die Hinweisschilder gehen aus, die Raucher verdrücken sich schamhaft in die Toilette, die Stewardessen übersehen sie taktvoll, das Mittagessen wird in kleinen Plastikschüsseln gebracht, denn aus irgendeinem Grund schlagen sich bei Flügen immer alle den Magen voll. Das ist keine Reise im eigentlichen Sinne. Das ist ein Ortswechsel. Aber… aber trotzdem siehst du unter dir Städte und Flüsse dahinschwinden, blätterst im Reiseführer oder überprüfst, ob die Bestätigung deiner Dienstreise in Ordnung ist, denkst darüber nach, wie du die Geschäftsverhandlungen führen sollst oder wie du den zehntägigen Urlaub im gastfreundlichen Land Türkei/Spanien/Kroatien am vergnüglichsten verbringen kannst. So oder so, du bist unterwegs.

Ein Portal ist ein Schock. Ein Portal ist ein Wechsel im Bühnenbild, ist eine Drehbühne im Theater. Du bist hier - und du bist da. Ohne unterwegs zu sein. Und ohne Zeit zum Nachdenken.

Ich stürzte aus dem Portal. Mit einem Bein schlug ich auf dem gefliesten Boden auf, mit dem andern landete ich im Klosett.

Nur gut, dass es ein recht sauberes Klo war. Als ob ich in einem anständigen amerikanischen Film wäre, wo sich die Helden auf der Toilette die Fresse polieren. Trotzdem zog ich mein Bein heraus - und Schmerz ließ mich das Gesicht verziehen.

Eine winzige Kabine. An der Decke eine Minilampe und ein Lüftungsgitter, ein Halter mit einer Rolle Klopapier. Ein tolles Portal! Aus irgendeinem Grund hatte ich erwartet, dass Kostja das Portal direkt an der Startrampe aufhängen würde, an der Einstiegsluke der Rakete.

Mit immer noch schmerzverzerrtem Gesicht öffnete ich die Tür einen Spalt und lugte vorsichtig hinaus. Anscheinend war die Toilette leer. Kein Geräusch war zu hören, nur an einem der Waschbecken tropfte der Hahn…

In diesem Augenblick prallte mir etwas voller Wucht in den Rücken, sodass ich aus der Kabine flog, indem ich die Tür mit dem Kopf aufstieß. Ich stürzte auf den Rücken und riss eine Hand hoch, bereit zuzuschlagen.

In der Kabine stand Lass - der, gegen die Wand gelehnt, mit den Armen ruderte und sich verdutzt umsah.

»Was machst du denn hier?«, brüllte ich. »Warum bist du mir gefolgt?«

»Du hast mir doch selbst gesagt, ich soll dir nachkommen!«, schmollte Lass. »Du hundsmiserabler Zauberer!«Ich stand auf. Jetzt zu streiten wäre in der Tat dumm.

»Ich muss einen durchgedrehten Vampir aufhalten«, sagte ich. »Den heute stärksten Magier der Welt. Es… es wird hier sehr heiß hergehen…«

»Wo sind wir? In Baikonur?«, fragte Lass, der nicht die geringste Angst zeigte. »Wow! Einfach klasse! Aber war es unbedingt nötig, für die Teleportation die Kanalisation zu wählen?«

Ich winkte bloß ab. Hörte in mich hinein. Ja, Geser war in der Nähe. Geser und Sebulon… und Swetlana… und noch Hunderte oder Tausende von Anderen. Sie alle warteten. Sie hofften auf mich.

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Lass. »Soll ich vielleicht Stöcke aus Espenholz suchen? Übrigens werden Streichhölzer aus Espenholz gemacht, wusstest du das? Ich habe mich immer gefragt, warum ausgerechnet aus diesem Holz. Das brennt doch wohl nicht besser, oder? Jetzt ist mir klar, dass man es macht, um Vampire zu bekämpfen. Du spitzt einfach ein Dutzend Streichhölzer an…«Ich sah Lass an.

Der breitete die Arme aus. »Schon gut, schon gut… War ja bloß ein Vorschlag.«

Ich ging zur Toilettentür und spähte nach draußen. Ein langer Gang, Neonlicht, keine Fenster. Am Ende des Gangs stand ein Mann in Uniform mit einer Pistole am Gürtel. Ein Wachtposten? Ja, vermutlich dürfte es hier Wachen geben. Sogar in der heutigen Zeit.

Aber warum war der Mann in dieser unnatürlichen Pose erstarrt?

Ich ging den Gang hinunter, auf den Soldaten zu. »Entschuldigen Sie bitte«, sprach ich ihn leise an. »Dürfte ich Sie kurz stören?«

Der Soldat erwiderte nichts. Er starrte in den Raum - und lächelte. Ein junger Mann, noch keine dreißig. Völlig reglos. Und sehr blass.

Ich legte ihm die Finger an die Halsschlagader. Der Puls ließ sich kaum noch spüren. Die Bissspuren waren fast nicht zu sehen, nur am Kragen entdeckte ich ein paar Blutstropfen. Ja, Kostja musste nach der Flucht sehr müde gewesen sein. Er hatte sich stärken müssen - und eine Katze war ihm nicht über den Weg gelaufen.

Wenn der Soldat jetzt noch am Leben war, hatte er übrigens Chancen, das Ganze zu überstehen.

Ich zog die Pistole aus seinem Halfter - offenbar hatte er nach ihr greifen wollen, als der Befehl des Vampirs ihn zwang zu erstarren - und legte den Mann sorgfältig auf den Fußboden. Sollte er ruhig ein bisschen liegen. Dann drehte ich mich um.

Natürlich war Lass mir gefolgt. Jetzt betrachtete er schweigend den reglosen Wachtposten. »Kannst du schießen?«, fragte ich.

»Ich werde es versuchen.«

»Falls nötig, schieß ihm ins Herz und in den Kopf. Wenn du triffst, haben wir Chancen, ihn aufzuhalten.«

Selbstverständlich machte ich mir nichts vor. Selbst wenn Lass das ganze Magazin in Kostja abfeuerte - was ihm wohl kaum gelingen dürfte -, würden die Kugeln den Hohen Vampir nicht aufhalten. Besser rechneten wir mit dem Schlimmsten.

Und Hauptsache, er schoss mir nicht vor lauter Angst in den Rücken…

Kostja zu finden war nicht schwer, selbst ohne Magie anzuwenden. Wir stießen noch auf drei weitere Männer, einen Wachtposten und zwei Zivilpersonen, die erstarrt und gebissen waren. Vermutlich bewegte sich Kostja in dieser Vampirmanier fort, bei der jede Bewegung unfassbar schnell wird und der Prozess des»Essens«nur ein paar Sekunden in Anspruch nimmt. »Werden sie jetzt zu Vampiren?«, wollte Lass wissen.

»Nur wenn er das gewollt hat. Und nur wenn sie selbst einverstanden waren. »

»Ich hätte nicht gedacht, dass man noch die Wahl hat.«

»Man hat immer die Wahl«, antwortete ich, während ich die nächste Tür öffnete. Und begriff, dass wir am Ziel angelangt waren.

Ein weitläufiger heller Saal. Voller Menschen, mindestens zwanzig Menschen. Darunter auch Kosmonauten, der russische Kommandant des Raumschiffs, ein Amerikaner und der Weltraumtourist, ein Schokoladenfabrikant aus Deutschland.

Natürlich wiesen alle die gleiche wonnige Starre auf - mit Ausnahme von zwei Technikern in weißen Kitteln, deren Augen zwar ebenso ausdruckslos waren, deren Hände Kostja jedoch mit gewohnter Leichtigkeit in den Skaphander halfen. Keine leichte Aufgabe, denn die Raumanzüge sind maßgeschneidert und Kostja war etwas größer als der Deutsche.

Der glücklose Tourist saß völlig nackt - Kostja war sich nicht zu fein gewesen, sogar seine Unterwäsche anzuziehen - etwas abseits und nuckelte an seinem Zeigefinger.

»Ich habe nur noch zwei, drei Minuten«, sagte Kostja fröhlich. »Halt mich also nicht auf, Anton. Wenn du versuchst, dich mir in den Weg zu stellen, bring ich dich um.«Natürlich überraschte ihn mein Auftauchen nicht.

»Die Rakete bekommt keine Starterlaubnis«, sagte ich. »Worauf hoffst du eigentlich? Die Hohen wissen, was du vorhast.«

»Die Rakete wird starten, da kannst du machen, was du willst«, antwortete Kostja gelassen. »Die Luftverteidigung hier ist durchaus akzeptabel, das kannst du mir glauben. Und der Chef der Wachtposten vom Kosmodrom hat gerade eben alle notwendigen Befehle gegeben. Willst du mir weismachen, ihr würdet zum massiven Angriff mit ballistischen Raketen gegen mich blasen? »

»Ja.«

»Du bluffst«, antwortete Kostja ungerührt. »Ein Schlag seitens der Chinesen oder Amerikaner ist ausgeschlossen, das würde einen Weltkrieg auslösen. Unsere Raketen sind nicht auf Baikonur gerichtet. Flugzeuge mit taktischen Geschossen kommen hier nicht rein. Euch bleibt kein Ausweg. Lehnt euch zurück und genießt das Ganze.«Vielleicht hatte er Recht.

Aber vielleicht hatten die Großen auch einen Plan, wie sie Baikonur durch einen Atomschlag vernichten konnten, ohne einen Weltkrieg zu provozieren. Das spielte keine Rolle.

Das Wichtigste war, dass Kostja für sich schon alles entschieden hatte. Er würde sich nicht aufhalten lassen. Gleich würde man ihn zur Rakete bringen, ihn hineinsetzen… Und dann?

Was könnte er tun, wenn er in diesem Eisenfass saß und ein Dutzend Hohe ihre Portale im Raumfahrtzentrum öffnen würden? Wenn sie im Handumdrehen das Gedächtnis des Chefs der Wachtposten reinigen würden und von all denjenigen, die auf einen Startknopf drücken müssen? Wenn sie den Befehl zur Sprengung der Rakete geben oder»aus der Hüfte«mit einem transportablen Kernsprengkopf schmeißen oder irgendeinen geheimen Sputnik mit einem Röntgenlaser einsetzen würden? Nichts könnte er machen!

Ein Raumschiff ist kein Automobil, das man einfach klauen kann! Bei einem Raketenstart müssen Tausende von Menschen Hand anlegen, und in jeder Phase gibt es genügend»Knöpfchen zu drücken«, damit das Raumschiff auf gar keine Umlaufbahn kommt.

Selbst wenn Kostja ein Idiot wäre - er ist jetzt ein Hoher Vampir und sollte die Realitätslinien lesen, die Zukunft voraussagen können und begreifen, dass wir ihn aufhalten würden. Oder…

Oder das Kosmodrom, die Menschen, die er unter seine Kontrolle gebracht beziehungsweise betäubt hatte - all das musste eine Finte sein. Eine Finte, wie der Flughafen in Saratow. Er brauchte keine Rakete! Genau wie er kein Flugzeug brauchte! Er würde das Portal direkt im Kosmos öffnen.

Aber warum war er dann erst nach Baikonur gekommen? Für den Skaphander? Quatsch. Das Zentrum zur Ausbildung von Kosmonauten wäre weitaus näher gewesen, und dort hätte er mit Sicherheit einen passenden Skaphander gefunden. Also war er nicht nur wegen des Anzugs hier…

»Ich muss die Zaubersprüche lesen«, sagte Kostja. »Blut über die Seite verteilen. Im Vakuum geht das nicht.«

Er erhob sich und schob die Techniker beiseite, die gehorsam strammstanden.

»Ich muss das Portal in der Raumstation öffnen. Dafür muss ich die genaue Lage kennen. Trotzdem kann ich Fehler machen… Manche lassen sich gar nicht vermeiden.«

Ich hatte nicht gespürt, wie er meine Gedanken gelesen hatte. Obwohl er genau das getan hatte.

»Du hast alles richtig verstanden, Anton. Ich bin bereit, jede Sekunde zur Station zu starten. Bevor ihr noch irgendwas dagegen unternehmen könnt. Und selbst wenn Geser und Sebulon sich gewaltig ins Zeug legen würden, würden eure Kräfte nicht ausreichen. Ich habe meine Kraft nämlich maximal entfaltet. Ich habe die absolute Kraft erlangt! Darüber gibt es nichts mehr! Geser hat davon geträumt, dass deine Tochter die erste Zauberin mit einer solchen Kraft wird…«Kostja grinste. »Aber jetzt bin ich es geworden! »

»Eine Zauberin?«Ich gestattete mir ein Grinsen.

»Ein absoluter Magier«, entgegnete Kostja scharf. »Deshalb werdet ihr mich nicht besiegen. Denn ihr werdet nicht mehr Kraft zusammenbekommen, als ich habe, das ist euch doch klar, oder? Ich bin absolut!«

»Du bist eine absolute Null«, sagte ich. »Du bist ein absoluter Vampir.«

»Ein Vampir, ein Magier… was macht das schon für einen Unterschied? Ich bin ein absoluter Anderer.«

»Stimmt, es gibt keinen Unterschied. Wir leben nämlich alle auf Kosten der menschlichen Kraft. Und du bist mit Sicherheit nicht der Stärkste, du bist der Schwächste. Du bist die absolute Leere, in die fremde Kraft strömt.«

»Von mir aus auch das.«Kostja ließ sich auf keinen Streit ein. »Das ändert nämlich gar nichts, Anton! Ihr werdet mich nicht aufhalten, und ich werde das tun, was ich vorhabe.«Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Und du schlägst dich sowieso nicht auf meine Seite… Worüber denkst du nach?«Ich antwortete nicht. Ich schöpfte Kraft.

Von Geser und Sebulon, von den Dunklen und den Lichten, von den Guten und den Bösen. Irgendwo dort, weit weg von mir, gaben mir diejenigen, die ich liebte, ihre Kraft. Und auch diejenigen, die ich hasste. Jetzt spielte es für mich keine Rolle mehr, ob die Kraft licht oder dunkel war. Wir alle saßen im selben Boot… in einem Raumschiff, das in die absolute Leere flog…

»Was ist? Schlag schon zu«, sagte Kostja amüsiert. »Überraschen wirst du mich sowieso nie wieder.«

»Schlag«, flüsterte Geser. »Schlag mit dem»weißen Höhenrauch«.«

Das Wissen, was es mit dem»weißen Höhenrauch«auf sich hatte, kroch mit der lichten Kraft in mich hinein. Ein schreckliches Wissen, ein beängstigendes - deshalb hatte selbst Geser diesen Zauber nur ein einziges Mal angewendet und danach geschworen, es nie wieder zu tun…

»Schlag«, riet Sebulon. »Am besten mit dem»Schatten der Herrscher«.«

Das Wissen, was es mit dem»Schatten der Herrscher«auf sich hatte, huschte mit der dunklen Kraft in mich hinein. Ein ekelhafter Zauber, der Entsetzen verbreitete - deshalb hatte selbst Sebulon es nie riskiert, diesen Schatten aus der fünften Schicht des Zwielichts aufzuheben…

»Schlag«, sagte Edgar. »Mit dem»Sarkophag der Zeiten«. Unbedingt mit dem»Sarkophag der Zeiten«.«

Das Wissen, was es mit dem»Sarkophag der Zeiten«auf sich hatte, sprudelte mit der Kraft der Inquisitoren in mich. Ein kaltes Wissen, ein tödliches - denn derjenige, der den Zauber wirkte, blieb zusammen mit seinem Opfer im Sarkophag. Für immer, bis ans Ende des Universums…

»Und wenn wir ihm den Skaphander durchlöchern?«, fragte Lass, der mit der Pistole in der Tür stand. Ein absoluter Anderer. Eine absolute Null. Der Stärkste, der Schwächste… Ich sammelte die mir verliehene Kraft - und legte sie in einen

Zauber siebten Grades, einen der einfachsten Zauber, die jeder Andere beherrscht.

Den»Schild des Magiers«.

Vermutlich wurde noch nie so viel Kraft so sinnlos vergeudet.

Und vermutlich war noch nie ein Magier auf der Welt so gut abgeschirmt. Gegen alles.

Ein weißer netzartiger Kokon entstand um mich herum. Die durch die Fäden des Kokons strömende Energie ließ sie leise knistern. Der Kokon verlor sich im Nirgendwo, tief im Universum, dort, wo man aufhört, die Schichten des Zwielichts zu zählen, wo es keine Materie mehr gibt, keinen Raum, keine Zeit, rein gar nichts, was ein Mensch oder ein Anderer verstehen könnte.

»Was… machst du da?«, fragte Kostja - und sein Gesicht nahm einen kindlich verletzten Ausdruck an. »Was machst du, Anton?«

Ich schwieg. Stand da und sah ihn an. Nicht einmal der Schatten eines Gedankens durfte über mein Gesicht huschen. Sollte Kostja doch denken, was er wollte. Sollte er doch.

»Hast du Angst bekommen?«, fragte Kostja. »Du… ja… du bist ein Angsthase, Anton!«Ich schwieg.

Und die Hohen schwiegen. Nein, vermutlich schwiegen sie nicht. Sie schrien, schimpften, verfluchten mich - weil ich die von ihnen gesammelte Kraft zum absoluten Schutz von mir selbst verschwendete.

Wenn in diesem Moment über Baikonur eine Wasserstoffbombe abgeworfen werden würde, würde ich heil und unversehrt bleiben. In einer Wolke aus Plasma schwimmend, eingeschmolzen in einen kochenden Stein, aber absolut unversehrt. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll…«Kostja breitete die Arme aus. »Ich wollte dich doch nicht umbringen! Ich weiß doch noch, dass du einmal mein Freund gewesen bist!«Ich schwieg.

Verzeih mir, aber ich kann dich jetzt nicht mehr als meinen Freund bezeichnen. Denn du darfst nicht das verstehen, was ich verstanden habe. Du darfst meine Gedanken nicht lesen. »Leb wohl, Anton«, sagte Kostja.

Die Techniker kamen zu ihm und ließen die Scheibe des Druckhelms herunter. Er sah mich noch einmal durch das Glas an - verständnislos, gekränkt. Dann drehte er sich um.

Ich dachte, er würde das Portal in den Kosmos jetzt gleich öffnen. Aber Kostja hatte sich in der Tat gründlich auf den Sprung vorbereitet. Gewiss, ich habe nie zuvor auch nur von dem Versuch gehört, sich an Bord eines in der Luft befindlichen Flugzeugs zu katapultieren. Geschweige denn auf eine Raumstation.

Kostja ließ die Kosmonauten und Techniker einfach in ihrer Erstarrung zurück und ging aus dem Saal. Lass wich ihm aus, schielte zu mir hinüber und deutete mit dem Blick auf die Pistole. Ich schüttelte den Kopf, und er schoss nicht. Wir folgten ihm nur.

Im Koordinationsraum saßen die Techniker und Programmierer irgendwie schlaftrunken hinter ihren Computern.

Wann hatte er es geschafft, sie alle seinem Willen zu unterwerfen?

Doch nicht gleich in dem Moment, als er in Baikonur angekommen war?

Ein normaler Vampir bringt leicht ein oder zwei Menschen unter seiner Kontrolle. Ein Hoher kann es mit ein paar Dutzend aufnehmen.

Aber Kostja war in der Tat zu einem absoluten Anderen geworden - der gesamte Betrieb des riesigen Raumfahrtzentrums drehte sich jetzt um ihn. Man brachte ihm irgendwelche Listen. Zeigte ihm etwas auf den Bildschirmen. Er hörte zu, nickte - und blickte noch nicht einmal in unsere Richtung.

Ein kluger Junge. Mit solider Bildung. Er hatte erst Physik studiert, dann Biologie, aber Physik und Mathematik konnte er anscheinend immer noch etwas abgewinnen. Mir hätten diese Schemata und Graphiken nichts gesagt, aber er bereitete alles vor, um im Orbit ein Portal aufzuhängen. Mit magischen Mitteln in den Kosmos zu gelangen, das ist ein kleiner Schritt für einen Anderen, aber ein großer Sprung für die ganze Menschheit… Wenn er jetzt bloß nicht trödelte. Wenn Geser bloß keine Panik bekam.

Wenn sie bloß auf einen atomaren Schlag verzichteten, denn der brachte nichts und war überflüssig. Völlig überflüssig!

Kostja sah mich erst an, als er das Prisma des Portals öffnete. Blickte mich herablassend und beleidigt an. Die Lippen hinter der Scheibe seines Helms bewegten sich. »Lebe wohl«, las ich. »Lebe wohl«, wünschte auch ich ihm.

Mit dem Behälter der Lebenserhaltungssysteme in der einen Hand und dem Aktenkoffer mit dem Fuaran in der andern betrat Kostja das Portal.

In dem Moment erlaubte ich mir, den Schild zu senken. Die fremde Kraft brandete in den Raum, ergoss sich überall hin. »Wie willst du das alles erklären?«, fragte Geser.

»Was meinen Sie?«Ich nahm auf dem nächstbesten Stuhl Platz. Ich zitterte am ganzen Körper. Wie lange reicht der Sauerstoff in einem leichten Skaphander, der nicht für einen Ausstieg im Weltall gedacht ist? Ein paar Stunden? Bestimmt nicht länger. Kostja Sauschkin würde nicht mehr lange leben.

»Warum bist du sicher…«, setzte Geser an. Um dann zu verstummen. Ich meinte sogar, ein Gespräch zwischen ihm und Sebulon aufzuschnappen. In dem es um Befehle ging, die geändert werden müssten, um die Bomber, die ins Kosmodrom zurückkehren müssten. Um ein Team von Magiern, das die Spuren des Wahnsinns in Baikonur beseitigen sollte. Um eine offizielle Version für den geplatzten Start.

»Was ist passiert?«, fragte Lass, während er sich zu mir setzte. Der Techniker, den er ohne zu fackeln von seinem Stuhl vertrieben hatte, sah sich begriffsstutzig um. Die Menschen in unserer Nähe kamen wieder zu sich.

»Schluss«, sagte ich. »Jetzt ist alles aus. Fast.«

Aber ich wusste, dass das noch nicht das Ende war. Denn irgendwo weit oben am Himmel, über den Wolken, in der kalten Sternenwelt, purzelte der absolute Andere Kostja Sauschkin in einem gestohlenen Skaphander herum. Er wollte ein Portal öffnen - und schaffte es nicht. Wollte die an ihm vorbeiziehende Weltraumstation erreichen - und schaffte es nicht. Wollte zur Erde zurückkehren - und schaffte es nicht. Denn er war eine Absolute Null. Denn wir alle sind Vampire.

Und dort, jenseits der warmen, lebenden Erde, weit weg von Mensch und Tier, von Pflanzen und Mikroben, von allem, was atmet, sich bewegt, leben will - dort werden wir alle zu absoluten Nullen. Dort sind wir jener Gratiskraft beraubt, die es uns erlaubt, uns gegenseitig mit so schönen und grellen Blitzen zu befeuern, Krankheiten zu heilen und Unheil anzurichten, ein Ahornblatt in eine Banknote zu verwandeln und saure Milch in alten Whisky.

Unsere ganze Kraft ist eine fremde. Unsere ganze Kraft liegt in unserer Schwäche.

Und das war das, was der brave Junge Kostja Sauschkin nicht verstehen konnte und wollte.

Ich hörte Sebulons Gelächter, weit, weit weg, in der Stadt Saratow, wo er in einem Gartencafe mit einem Glas Bier unter einem Sonnenschirm stand und in den Abendhimmel hinaufschaute - an dem er einen neuen, schnell dahinziehenden Stern suchte, der seine Bahn klar, aber nur kurz beschreiben würde.

»Ich glaube, du weinst«, sagte Lass. »Nur ohne Tränen.«

»Stimmt«, antwortete ich. »Ich habe keine Tränen, und ich habe keine Kraft. Ich kann kein Portal für den Rückweg öffnen. Wir müssen fliegen. Oder auf die Gruppe von Putzmagiern warten, vielleicht kann die uns helfen.«

»Wer sind denn Sie?«, fragte ein Techniker. »Was geht hier eigentlich vor?«

»Wir sind Inspektoren vom Gesundheitsministerium«, sagte Lass. »Und Sie sollten uns lieber mal erklären, wer auf die Idee gekommen ist, abgeernteten Hanf im Luftfänger des Entlüftungssystems zu verbrennen! »

»W-was für Hanf?«, fing der Techniker an zu stottern.

»Baumartigen!«, gab ich scharf zurück. »Gehen wir, Lass. Ich schulde dir noch ein paar Erklärungen.«

Wir verließen den Saal. Ein paar Mitarbeiter und ein paar Soldaten mit Maschinenpistolen kamen uns entgegengerannt. Bei der enormen Aufregung achtete niemand auf uns. Vielleicht schützten uns aber auch die Reste des magischen Schilds. Am Ende des Ganges leuchtete kurz der rosarote Hintern des deutschen Weltraumtouristen auf: Hüpfend rannte er davon, den Finger immer noch im Mund. Ihm folgten zwei Männer in weißen Kitteln.

»Hör mal«, sagte ich zu Lass. »Außer der normalen Menschenwelt, die du mit dem Auge sehen kannst, gibt es noch die Welt des Zwielichts. Und ins Zwielicht eintreten können nur diejenigen…«

Ich schluckte und stockte. Ein Bild von Kostja tauchte wieder auf. Kostja, wie er vor langer Zeit einmal gewesen ist, dieser Vampirjunge, der nichts zustande brachte…

»Guck mal, ich verwandel mich! Ich bin eine schreckliche Fledermaus! Ich fliege! Ich fliege!«Leb wohl. Du hast es in der Tat geschafft. Du fliegst.

»Ins Zwielicht eintreten können nur diejenigen, die über etwas verfügen, das…«, fuhr ich fort.

Epilog

Semjon betrat das Arbeitszimmer zusammen mit Lass, den er vor sich herstieß, als sei er ein kleiner Dunkler Zauberer, den er auf frischer Tat ertappt hatte. Lass fuchtelte mit einer fest zusammengerollten Papierröhre in den Händen herum und versuchte, sie hinter seinem Rücken zu verstecken.

Semjon ließ sich in einen Sessel fallen. »Das ist doch dein Protege, Anton, oder?«, brummte er. »Dann kümmer dich gefälligst auch um ihn. »

»Was ist passiert?«, fragte ich alarmiert.

Lass blickte nicht im Mindesten schuldbewusst drein. Eher leicht verwirrt.

»Den zweiten Tag im Praktikum«, sagte Semjon. »Die simpelsten und elementarsten Aufgaben. Die noch nicht mal was mit Magie zu tun haben…»

»Was denn?«, wollte ich wissen.

»Ich habe ihn gebeten, Herrn Sisuke Sasaki von der Tokioer Wache am Flughafen abzuholen…«Ich schnaubte.

Semjon wurde puterrot. »Das ist ein völlig normaler japanischer Name! Auch nicht lustiger als Anton Sergejewitsch!«

»Schon verstanden«, beschwichtigte ich ihn. »Ist das der Sasaki, der 1994 den Fall mit den Tierfrauen geleitet hat? »

»Genau der.«Semjon rutschte nervös im Sessel hin und her.

Lass stand nach wie vor neben der Tür. »Er ist auf der Durchreise nach Europa, will aber etwas mit Geser besprechen. »

»Was ist denn nun passiert?«

Semjon warf Lass einen wütenden Blick zu. Hüstelte. »Der Herr Praktikant hat sich höchst angelegentlich bei mir erkundigt, ob der verehrte Sasaki Russisch könne«, sagte er dann. »Ich habe ihm erklärt, dass er es nicht kann. Daraufhin hat der Herr Praktikant an seinem Rechner ein Plakat ausgedruckt und ist nach Scheremetjewo gefahren, um den Japaner abzuholen… Nun zeig dein Plakat schon!«Seufzend entrollte Lass das Papier.

In sehr großer Schrift standen dort die Hieroglyphen eines japanischen Namens. Lass hatte sich alle Mühe gegeben und sogar einen Treiber für Japanisch installiert.

Darüber stand in einer etwas kleineren Schrift: »Zweiter Moskauer Kongress der Opfer von zwangsweiser Cholerainfektion«

Es kostete mich gewaltige Mühe, eine steinerne Miene beizubehalten. »Weshalb hast du das geschrieben?«, fragte ich.

»Ich mache das immer, wenn ich Ausländer abhole«, sagte Lass beleidigt. »Sowohl bei meinen Geschäftspartnern wie auch bei Verwandten… ich habe noch Familie im Ausland… Wenn sie kein Wort Russisch verstehen, schreibe ich ihren Namen ganz groß in ihrer Muttersprache und etwas kleiner irgendwas Komisches auf Russisch. Zum Beispiel: »Konferenz Transsexueller mit nicht traditioneller Orientierung«, »Europäisches Festival taubstummer Musiker und Sänger«, »Forum der Aktivisten der Werlbewegung für vollständige sexuelle Enthaltsamkeit… Dann warte ich also mit meinem Plakat… drehe mich mit dem Ding nach allen Seiten um, damit alle Ankommenden es sehen…«

»Den Teil habe ich verstanden«, sagte ich. »Was ich wissen will, ist, weshalb du das alles schreibst.«

»Wenn der Mensch dann durch den Zoll kommt, interessiert sich bereits die ganze Halle für ihn«, erklärte Lass unerschütterlich. »Sobald er auftaucht, lächeln ihn alle an, viele klatschen, pfeifen und winken. Der Mensch versteht sowieso nicht, was diese Reaktion ausgelöst hat! Er sieht nur, dass alle sich über sein Erscheinen freuen, bemerkt seinen Namen und kommt zu mir. Ich rolle das Plakat dann schnell ein und bringe ihn zum Auto. Danach wird dieser Mensch allen erzählen, wie einzigartig und gastfreundlich die Russen sind! Alle haben ihn mit einem Lächeln auf den Lippen empfangen!«

»Du Dummerjan«, meinte ich voller Mitleid. »Das sind Menschen. Aber Sasaki ist ein Anderer. Ein Hoher Anderer übrigens! Er kann zwar kein Russisch, aber den Sinn des Plakats nimmt er über die reine Bedeutungsebene auf!«

Lass seufzte. »Das habe ich inzwischen ja begriffen…«, meinte er mit gesenktem Kopf. »Also, wenn ich mir etwas habe zu Schulden kommen lassen, schmeißt mich halt raus! »

»Ist Herr Sasaki denn beleidigt?«, fragte ich. Semjon zuckte mit den Schultern.

»Als ich ihm alles erklärt hatte, hat Herr Sasaki geruht, lange darüber zu lachen«, verkündete Lass.

»Trotzdem«, bat ich, »lass das in Zukunft sein, ja? »

»Generell? »

»Zumindest bei Anderen!«

»Klar, ich tu's nicht mehr«, versprach Lass. »Der Spaß verliert sowieso seinen Sinn.«Ich breitete die Arme aus. Sah Semjon an.

»Warte draußen auf mich«, befahl Semjon. »Und das Plakat bleibt hier.«

»Aber eigentlich sammel ich…«, setzte Lass an, ließ das Plakat dann aber doch da und ging hinaus.

Sobald die Tür zu war, grinste Semjon, griff nach dem Plakat und entrollte es noch einmal. »Ich geh mit dem Ding mal durch die Abteilungen und heiter unsere Leutchen ein bisschen auf…«, verkündete er. »Wie geht's dir?«

»So lala.«Ich lehnte mich im Sessel zurück. »Ich bin dabei, mich einzugewöhnen.«

»Ein Hoher…«Semjon betonte jede Silbe. »Ha… Und dabei heißt es immer, man solle nicht nach den Sternen greifen. Ein Hoher Magier… Was für eine Karriere du gemacht hast, Gorodezki!«

»Semjon… das ist nicht mein Verdienst. Es ist einfach so passiert.«

»Ich weiß ja, ich weiß…«Semjon erhob sich und tigerte durch mein Arbeitszimmer. Ein kleiner Raum, aber immerhin mein eigenes Arbeitszimmer. »Stellvertretender Personalchef… ha. Wer weiß, was die Dunklen jetzt wieder aushecken? Mit dir und Swetlana sind wir vier Hohe. Und in der Tagwache ist nach dem Verlust Sauschkins nur noch Sebulon übrig…«

»Sollen sie doch jemanden aus der Provinz rekrutieren«, sagte ich. »Ich hätte nichts dagegen. Oder wir warten auf das Auftauchen eines neuen Spiegels.«

»Wir sind jetzt klüger«, meinte Semjon. »Wir lernen immer aus unseren Fehlern.«

Er ging zur Tür und kratzte sich den Bauch durch sein ausgeblichenes T-Shirt hindurch. Ein weiser, guter, müder Lichter Magier. Wir alle werden weise und gut, wenn wir müde sind. An der Tür blieb er noch einmal stehen und sah mich nachdenklich an. »Sauschkin tut mir leid. Er war ein prima Kerl, soweit das möglich ist… bei einem Dunklen. Machst du dir große Vorwürfe?«

»Ich hatte keine Wahl«, erwiderte ich. »Er hatte keine… und ich auch nicht. »

»Und um das Fuaran ist es auch schade…«, fügte Semjon hinzu.

Kostja war in der Atmosphäre verbrannt, vierundzwanzig Stunden nach seinem Sprung in den Orbit. So präzise war seine Umlaufbahn dann eben doch nicht berechnet.

Zusammen mit ihm war sein Aktenkoffer verbrannt. Bis zum letzten Moment waren sie im Ortungsgerät zu erkennen. Die Inquisition hatte verlangt, ein Shuttle loszuschicken, um das Buch zu retten, aber dafür hatte die Zeit nicht gereicht. Was meiner Meinung nach nur zu begrüßen war.

Vielleicht hatte er sogar noch gelebt, als in einer Höhe von mehreren hundert Kilometern sein Skaphander unter den feurigen Küssen der Atmosphäre in Flammen aufging. Immerhin war er ein Vampir, und Sauerstoffmangel konnte ihm nicht so viel anhaben wie einem normalen Anderen. Auch die Überhitzung oder die Unterkühlung oder sonstige Lieblichkeiten des Weltalls nicht, die einen nur mit einem Skaphander ausgestatteten Kosmonauten erwarten. Ich weiß das nicht, aber ich werde deswegen keine Lexika wälzen. Und sei es auch nur, weil niemand wissen kann, was schlimmer ist: Tod durch Ersticken oder Tod durch Feuer. Denn niemand stirbt zweimal, selbst ein Vampir nicht.

»Guck mal, ich bin ein schrecklicher, unsterblicher Vampir! Ich kann mich in einen Wolf oder in eine Fledermaus verwandeln! Ich kann fliegen!«

Semjon ging hinaus, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Lange saß ich da und sah aus dem Fenster. Hinaus in den reinen wolkenlosen Himmel. Der Himmel ist nichts für uns. Es ist uns nicht gegeben zu fliegen.

Und alles, was wir tun können, ist zu versuchen, nicht zu fallen.

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