ZWEITES BUCH

37

Jennifer Parker stand nackt am Fenster und blickte auf die Bucht von Tanger hinunter. Es war ein herrlicher, trockener Herbsttag, und die Bucht war voller dahinstreichender weißer Segel und röhrender Motorboote. Ein halbes Dutzend großer Yachten dümpelte an ihren Ankern im Hafen. Jennifer spürte seine Nähe und drehte sich um. »Gefällt dir die Aussicht?«

»Ich liebe sie.«

Er blickte ihren nackten Körper an. »Ich auch.« Seine Hände legten sich auf ihre Brüste und liebkosten sie. »Komm zurück ins Bett.«

Seine Berührung ließ Jennifer erzittern. Er verlangte Dinge von ihr, um die sie noch kein Mann gebeten hatte, und er tat mit ihr, was niemand zuvor zu tun gewagt hatte. »Ja, Michael.«

Sie gingen zurück ins Schlafzimmer, und dort dachte Jennifer einen Herzschlag lang an Adam Warner, ehe sie alles vergaß, außer, was mit ihr geschah.

Jennifer hatte nie jemanden wie Michael Moretti kennengelernt. Er war unersättlich. Sein Körper war athletisch, schlank und hart, er wurde ein Teil von Jennifers Körper, hüllte sie in seine Raserei, riß sie mit sich auf einer anschwellenden Woge hämmernder Erregung, die über ihr zusammenschlug, bis sie vor wilder Lust schreien wollte. Wenn die Ekstase vorüber war und Jennifer erschöpft auf dem Rücken lag, begann Michael von vorn, und wieder und wieder vereinigte sie sich mit ihm in einer Leidenschaft, die beinahe unerträglich war.

Jetzt lag er auf ihr, blickte in ihr gerötetes, glückliches Gesicht und fragte: »Das gefällt dir, nicht, Baby?«

»Ja.«

Es war beschämend - beschämend, wie sehr sie ihn brauchte, seine Leidenschaft brauchte.

Wieder erinnerte sie sich an das erste Mal.

Es war an dem Morgen, als Michael Moretti Joshua sicher heimgebracht hatte. Jennifer wußte, daß Frank Jackson tot war und daß Michael ihn getötet hatte. Der Mann, der vor ihr stand, hatte ihren Sohn gerettet und für sie getötet. Eine tiefe, atavistische Erregung hatte sie erfüllt. »Wie kann ich Ihnen danken?« hatte sie gefragt. Und Michael Moretti war auf sie zugegangen, hatte sie in die Arme genommen und geküßt. Aus alter Loyalität zu Adam hatte Jennifer sich vorgemacht, daß es bei dem Kuß bleiben würde; statt dessen war es ein Anfang geworden. Sie wußte, wer Michael Moretti war, und doch hatte all das keine Bedeutung angesichts dessen, was er für sie getan hatte. Sie hörte auf zu denken und gab sich ihren Gefühlen hin. Sie gingen nach oben ins Schlafzimmer, und Jennifer sagte sich, daß sie Michael für seine Hilfe bezahlte, und dann waren sie im Bett, und es war ein Erlebnis, das all ihre Träume überstieg.

Adam Warner hatte mit ihr geschlafen, aber Michael Moretti ergriff Besitz von ihr. Er erfüllte jeden Teil ihres Körpers mit berauschenden Empfindungen. Es war, als wäre jede seiner Berührungen eine helle, leuchtende Farbe, und die Farben veränderten sich von einem Moment zum nächsten wie bei einem wunderschönen Kaleidoskop. In der einen Sekunde war er zärtlich und empfindsam, in der nächsten brutal, verlangend, und der ständige Wechsel trieb Jennifer zur Raserei. Er zog sich aus ihr zurück, reizte sie, bis sie mehr und mehr wollte, und wenn sie auf dem Höhepunkt der Erregung war, hielt er inne.

Als sie es nicht mehr aushalten konnte, bettelte sie: »Nimm mich, Michael! Bitte, nimm mich!«

Und sein hartes Glied begann wieder in sie zu stoßen, bis sie vor Vergnügen schrie. Sie war längst keine Frau mehr, die eine Schuld zurückzahlte. Sie war eine Sklavin, Gefühlen ausgeliefert, die sie nie zuvor gekannt hatte. Michael blieb vier Stunden bei ihr, und als er ging, wußte Jennifer, daß sich ihr Leben verändert hatte.

Sie lag im Bett und versuchte, darüber nachzudenken, was mit ihr geschehen war, versuchte es zu verstehen. Wie konnte sie Adam lieben und dennoch von Michael Moretti so überwältigt sein? Thomas von Aquin hat gesagt, daß man nur Leere vorfand, wenn man ins Herz des Bösen vorstieß. Jennifer fragte sich, ob es mit der Liebe genauso war. Sie war sich bewußt, daß der Grund für ihr Verhalten zum Teil in ihrer Einsamkeit zu suchen war. Zu lange hatte sie mit einem Phantom gelebt, einem Mann, den sie weder sehen noch anfassen konnte, und dennoch wußte sie, daß sie Adam immer lieben würde. Oder war dieses Gefühl nur eine Erinnerung an jene Liebe?

Jennifer war nicht sicher, was sie für Michael empfand. Dankbarkeit, ja. Aber das war nur ein kleiner Teil. Da war mehr. Viel mehr. Sie wußte, wer Michael Moretti war und was er darstellte. Er hatte für sie getötet, aber er hatte auch für andere getötet. Er hatte Menschen für Geld, für Macht oder aus Rache umgebracht. Wie konnte sie so für einen solchen Mann empfinden? Wie konnte sie zulassen, daß er mit ihr schlief und daß sie mit solcher Erregung reagierte? Eine Art Scham erfüllte sie, und sie dachte: Was für ein Mensch bin ich? Sie fand keine Antwort.

In den Abendzeitungen stand ein Bericht über einen Motelbrand in Queens. In den Ruinen waren die Überreste eines unidentifizierten Mannes gefunden worden. Man vermutete Brandstiftung.

Als Joshua aufwachte, bereitete Jennifer sein Essen und brachte es ihm ans Bett. Es war eine lächerliche Mahlzeit, die aus all dem wertlosen Zeug bestand, das er liebte: ein Hot Dog, ein Erdnußbuttersandwich, Kartoffelchips und Malzbier. »Du hättest ihn sehen müssen, Mama«, sagte Joshua mit vollem Mund. »Er war verrückt!« Er hielt seine bandagierte Hand hoch. »Glaubst du, daß er mich wirklich für Jesus Christus gehalten hat?«

Jennifer unterdrückte ein Schaudern. »Ich - ich weiß nicht,

Liebling.« »Warum wollen Menschen andere Menschen umbringen?« »Nun...« Jennifers Gedanken wanderten plötzlich zu Michael Moretti zurück. Hatte sie das Recht, ihn zu verurteilen? Sie wußte nicht, welche schrecklichen Kräfte sein Leben geformt, ihn zu dem gemacht hatten, was er geworden war. Sie mußte mehr über ihn erfahren, um ihn kennenlernen und verstehen zu können.

Joshua fragte: »Muß ich morgen in die Schule?« Jennifer umarmte ihn. »Nein, Liebling. Wir bleiben beide zu Hause und schwänzen die ganze Woche. Wir...« Das Telefon klingelte. Es war Michael. »Wie geht's Joshua?«

»Es geht ihm prächtig, danke.« »Und wie fühlst du dich?«

Jennifer hatte vor Verwirrung plötzlich einen Frosch im Hals. »Ich - ich fühle mich gut.«

Er lachte in sich hinein. »Gut. Ich treffe dich morgen zum Mittagessen. Bei Donato in der Mulberry Street. Halb eins.«

»In Ordnung, Michael. Halb eins.« Nach diesen Worten gab es kein Zurück mehr.

Der Oberkellner bei Donato kannte Michael und hatte ihm den besten Tisch im Restaurant reserviert. Ständig kamen Leute vorbei und begrüßten Michael, und wieder war Jennifer erstaunt darüber, wie sie um ihn herumscharwenzelten. Es war seltsam, wie sehr Michael Moretti sie an Adam Warner erinnerte. Jeder hatte auf seine Weise eine Aura von Macht. Jennifer begann Michael nach seiner Vergangenheit zu fragen, weil sie wissen wollte, wie und warum er sich in ein Leben wie das seine verstrickt hatte.

Er unterbrach sie. »Du glaubst, ich bin so, weil meine Familie oder sonst jemand mich dazu gezwungen hat?«

»Nun - ja, Michael. Natürlich.«

Er lachte. »Ich habe mir den Arsch aufgerissen, um dahin zu gelangen, wo ich bin. Ich bin gerne dort. Ich liebe das Geld. Ich liebe die Macht. Ich bin ein König, Baby, und ich genieße es.«

Jennifer blickte ihn an und versuchte, zu verstehen. »Aber es kann dir doch nicht wirklich Spaß bereiten...«

»Hör zu!« Sein Schweigen hatte sich plötzlich in Worte, Sätze und Mitteilungen verwandelt, die aus ihm herausströmten, als hätte er sie jahrelang für jemand aufgehoben, der sie mit ihm teilen konnte. »Mein Vater war eine Coca-Cola-Flasche.«

»Eine Coca-Cola-Flasche?«

»Richtig. Es gibt Milliarden davon auf der Welt, und man kann eine nicht von der anderen unterscheiden. Er war Schuhmacher. Er arbeitete sich die Finger wund, damit etwas zu essen auf dem Tisch stand. Wir hatten nichts. Armut ist nur in Büchern romantisch. In Wirklichkeit bedeutet sie stinkende Räume mit Ratten oder Küchenschaben und schlechtes Essen, von dem nie genug da ist. Als ich ein junges Bürschchen war, habe ich alles, aber auch alles getan, um einen Dollar zu verdienen. Ich erledigte Botengänge für die großen Bonzen, brachte ihnen Kaffee und Zigarren, besorgte ihnen Mädchen -alles, nur um zu überleben. Nun, einmal bin ich nach Mexico City getrampt, im Sommer. Ich hatte kein Geld, nichts. Der Arsch ging mir auf Grundeis. Eines Abends lud mich ein Mädchen, das ich getroffen hatte, in ein teures Restaurant zu einer Party ein. Wir saßen alle beim Essen, und dann wurde der Nachtisch gebracht. Es war ein spezieller mexikanischer Kuchen, in den eine Tonpuppe eingebacken war. Einer der anderen am Tisch erklärte, daß dem Brauch nach derjenige das Essen zu bezahlen hätte, in dessen Stück sich die Tonpuppe befand. Die Puppe war in meinem Stück.« Er machte eine Pause. »Ich habe sie heruntergeschluckt.« Jennifer schob ihre Hand über seine. »Michael, andere Leute sind auch arm gewesen, und...«

»Laß mich mit anderen Leuten in Ruhe.« Seine Stimme klang hart und kompromißlos. »Ich bin ich. Ich weiß, wer ich bin. Ich frage mich, ob du weißt, wer du bist.«

»Ich glaube, schon.«

»Warum bist du mit mir ins Bett gegangen?« Jennifer zögerte. »Nun, ich - ich war dankbar und...« »Blödsinn! Du wolltest mich haben.« »Michael, ich...«

»Ich brauche mir Frauen nic ht zu kaufen. Weder mit Geld noch mit Dankbarkeit.«

Jennifer gestand sich ein, daß er recht hatte. Sie hatte ihn gewollt, genau wie er sie gewollt hatte. Und doch, dachte sie, hat dieser Mann einmal versucht, mich zu vernichten. Wie kann ich das vergessen?

Michael beugte sich vor und ergriff Jennifers Hand, die Innenfläche nach oben. Langsam liebkoste er jeden Finger, jede Kuppe, ohne die Augen von ihr zu nehmen. »Versuch nicht, mit mir zu spielen. Niemals, Jennifer.« Sie fühlte sich hilflos. Was immer im Augenblick zwischen ihnen passierte, es verdrängte die Vergangenheit.

Beim Dessert sagte Michael es dann. »Ach, übrigens, ich habe einen Fall für dich.«

Es war, als hätte er ihr eine Ohrfeige verpaßt. Jennifer starrte ihn an. »Was für einen Fall?«

»Einer me iner Jungen, Vasco Gambutti, ist verhaftet worden, weil er einen Bullen umgelegt hat. Ich möchte, daß du ihn verteidigst.«

Jennifer spürte Schmerz und Wut darüber, daß er sie immer noch zu benutzen versuchte, in sich aufsteigen. Gleichmütig sagte sie: »Es tut mir leid, Michael. Ich habe dir schon einmal gesagt, ich kann mich nicht mit - mit deinen... Freunden einlassen.«

Michael lächelte kalt. »Kennst du die Geschichte von dem kleinen Löwenjungen in Afrika? Es läßt seine Mutter zum erstenmal allein, um zum Fluß hinunterzulaufen und zu trinken, und noch ehe es angekommen ist, wird es von einem Gorilla niedergeschlagen. Während es noch versucht, wieder auf die Beine zu kommen, wird es von einem Leoparden beiseitegestoßen. Eine Elefantenherde trampelte es halb zu Tode. Das Junge taumelt schließlich völlig erschüttert nach Hause und sagt: ›Weißt du was, Mama - das da draußen ist ein Dschungel!‹«

Er schwieg. Auch Jennifer schwieg. Das war tatsächlich ein Dschungel da draußen, dachte Jennifer, aber sie hatte sich immer herausgehalten oder nur bis zum Rand vorgewagt, und sie hatte die Möglichkeit zur Flucht besessen, wann immer sie wollte. Sie hatte die Regeln aufgestellt, und ihre Klienten mußten sie befolgen. Aber jetzt hatte Michael Moretti das alles über den Haufen geworfen. Es war sein Dschungel. Jennifer hatte Angst davor, nicht mehr herauszufinden. Und doch, wenn sie daran dachte, was er für sie getan hatte, verlangte er nicht allzu viel. Sie würde ihm diesen einen Gefallen erweisen.

38

»Wir übernehmen den Fall Vasco Gambutti«, informierte Jennifer Ken Bailey.

Ken blickte Jennifer ungläubig an. »Gambutti gehört zur Mafia! Er ist einer von Michael Morettis Killern. Solche Mandanten nehmen wir gewöhnlich nicht.«

»Diesen nehmen wir.«

»Jennifer, wir können es uns nicht leisten, uns mit der Organisation einzulassen.«

»Gambutti hat wie jeder andere das Recht auf einen fairen Prozeß.« Die Worte klangen sogar in ihren eigenen Ohren hohl. »Ich lasse nicht zu, daß du...«

»So lange dies meine Firma ist, treffe ich die Entscheidungen.« Sie sah, wie ein überraschter und verletzter Ausdruck in seine Augen trat.

Ken nickte, drehte sich um und verließ das Büro. Jennifer hätte ihn am liebsten zurückgerufen, um ihm alles zu erklären. Aber wie? Sie war nicht einmal sicher, daß sie es sich selbst erklären konnte.

Als Jennifer sich das erste Mal mit Vasco Gambutti traf, versuchte sie, in ihm nur einen weiteren Mandanten zu sehen. Sie hatte schon vorher Klienten vertreten, die des Mordes beschuldigt waren, aber irgendwie war es diesmal etwas anderes. Dieser Mann war ein Mitglied des organisierten Verbrechens, eines Syndikats, das das Land um Milliarden Dollar zur Ader ließ, eines Geheimbundes, der, um sich zu schützen, auch vor Mord nicht zurückschreckte. Die Beweislast gegen Gambutti war überwältigend. Er war bei einem Überfall auf ein Pelzgeschäft überrascht worden und hatte einen Polizeibeamten getötet, der ihn festzunehmen versuchte. Die Morgenzeitungen verkündeten, daß Jennifer Parker die

Verteidigung übernehmen würde. Richter Lawrence Waldman rief sie an und fragte: »Stimmt das, Jennifer?«

Jennifer wußte sofort, worauf er sich bezog. »Ja, Lawrence.« Eine Pause. »Ich bin überrascht. Sie wissen natürlich, wer er ist.«

»Ja, ich weiß Bescheid.«

»Sie begeben sich auf gefährlichen Boden.«

»Nicht wirklich. Ich tue nur einem Freund einen Gefallen.«

»Ich verstehe. Seien Sie vorsichtig.«

»Das werde ich«, versprach Jennifer.

Erst hinterher fiel ihr auf, daß er kein Wort über ihr gemeinsames Abendessen verloren hatte.

Nachdem sie das Material, das ihr Stab zusammengetragen hatte, durchgegangen war, stellte Jennifer fest, daß sie überhaupt nichts in der Hand hatte.

Vasco Gambutti war auf frischer Tat bei einem Raubüberfall in Tateinheit mit Mord ertappt worden, und es gab keine mildernden Umstände. Darüber hinaus hatten Geschworene immer eine starke Aversion gegen Polizistenmörder. Sie rief Ken Bailey zu sich und gab ihm Instruktionen. Er sagte nichts, aber Jennifer spürte seine Mißbilligung und war betrübt. Sie schwor sich, daß sie nie wieder für Michael arbeiten würde.

Ihr Privatapparat klingelte, und sie hob ab. Michael sagte: »Hallo, Baby. Ich habe Lust auf dich. Sei in einer halben Stunde bei mir.«

Sie saß da, lauschte und fühlte bereits seine Umarmung, den Druck seines Körpers gegen den ihren. »Ich komme«, sagte sie. Der Schwur war vergessen.

Der Gambutti-Prozeß dauerte zehn Tage. Die Presse war in voller Stärke aufmarschiert, um Staatsanwalt Di Silva und Jennifer Parker wieder einmal in offener Schlacht zu sehen. Di Silva hatte seine Hausaufgaben sorgfältig erledigt. Er vertrat seine Position bewußt unterkühlt und überließ es den Geschworenen, aus den Andeutungen, die er fallenließ, sich in ihrer Phantasie noch größere Schreckensszenen auszumalen als die von ihm beschriebenen.

Jennifer hörte den Zeugenaussagen schweigend zu und gab sich nur selten die Mühe, Einspruch zu erheben. Sie wartete mit ihrem Zug bis zum letzten Verhandlungstag. Es gab eine Faustregel im Strafrecht, nach der man den Spieß umdrehen und dem Kläger den Prozeß machen mußte, wenn man eine schwache Verteidigungsposition hatte. Da Jennifer keine Möglichkeit sah, Vasco Gambutti wirklich zu verteidigen, schlug sie Scott Norman, den getöteten Polizeibeamten, ans Kreuz. Ken Bailey hatte alles nur Wissenswerte über Scott Norman ausgegraben. Sein Führungszeugnis war nicht gerade gut, aber Jennifer ließ es noch zehnmal schlechter aussehen. Norman war zwanzig Jahre bei der Polizei gewesen, und während dieser zwanzig Jahre war er dreimal wegen unnötiger Gewaltanwendung vom Dienst suspendiert worden. Er hatte einen unbewaffneten Verdächtigen angeschossen und beinahe getötet, er hatte einen Betrunkenen in einer Bar zusammengeschlagen, und ein dritter Mann mußte im Krankenhaus zusammengeflickt werden, nachdem Norman eine häusliche Streitigkeit geschlichtet hatte. Obwohl diese Zwischenfälle sich über ein Periode von zwanzig Jahren verteilten, ließ Jennifer es aussehen, als hätte der Verstorbene eine verachtenswerte Handlung nach der anderen begangen. Jennifer hatte eine ganze Reihe von Zeugen aufgeboten, die gegen Scott Norman aussagten, und Robert Di Silva konnte nichts dagegen tun.

In seinem Schlußplädoyer sagte er: »Bitte vergessen Sie nicht, meine Damen und Herren Geschworenen, daß nicht der Beamte Scott Norman hier vor Gericht stand. Scott Norman ist das Opfer. Er wurde von dem Angeklagten, Vasco Gambutti, getötet.«

Aber noch während der Staatsanwalt sprach, wußte er, daß seine Bemühungen sinnlos waren. Jennifer hatte Scott Norman als genauso verachtenswert und wertlos hingestellt wie Vasco Gambutti. Er war nicht mehr der anständige Polizeibeamte, der sein Leben gegeben hatte, um ein Verbrechen zu verhindern. Jennifer Parker hatte das Bild so verzerrt, daß das Opfer nicht besser wirkte als der angeklagte Killer. Die Jury sprach den Angeklagten nicht schuldig des Mordes ersten Grades und verurteilte ihn wegen Totschlags. Es war eine betäubende Niederlage für Staatsanwalt Di Silva, und die Medien verkündeten mit Freuden einen weiteren Sieg für Jennifer Parker.

»Zieh dein Chiffonkleid an. Wir feiern«, wies Michael sie an. Sie aßen in einem Fischrestaurant im Village zu Abend. Der Eigentümer schickte eine Flasche seltenen Champagners an den Tisch, und Michael und Jennifer prosteten sich zu.

»Ich bin sehr zufrieden.«

Aus Michaels Hand war das wie ein Ritterschlag. Er legte eine kleine, rotweiß verpackte Schachtel in ihre Hände. »Mach es auf.«

Er sah zu, wie sie die goldene Kordel aufknüpfte und den Deckel der Schachtel abhob. Innendrin lag ein Ring mit einem großen, von Diamanten eingefaßten, viereckig geschliffenen Smaragd.

Jennifer starrte ihn an. Sie wollte protestieren. »Oh, Michael!« Sie sah den stolzen, vergnügten Ausdruck auf seinem Gesicht.

»Michael - was soll ich nur mit dir machen?« Und sie dachte: Oh, Jennifer, was mache ich erst mit dir? »Du brauchst ihn zu dem Kleid.« Er schob den Ring auf den dritten Finger ihrer linken Hand.

»Ich - ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich - danke dir. Das ist wirklich eine Feier!«

Michael grinste. »Die Feier hat noch gar nicht begonnen. Dies ist nur das Vo rspiel.«

Sie fuhren in der Limousine zu der Wohnung, die Michael oben in Manhattan unterhielt. Michael drückte einen Knopf. Die Glasscheibe, die den hinteren Teil des Wagens vom Fahrer trennte, glitt nach oben.

Wir sind eingeschlossen in unsere eigene kleine Welt, dachte Jennifer. Michaels Nähe erregte sie.

Sie blickte in seine dunklen Augen. Er rückte heran und strich ihr mit der Hand über die Schenkel, und Jennifers Körper stand augenblicklich in Flammen.

Michaels Lippen fanden die ihren. Ihre Körper preßten sich gegeneinander. Jennifer fühlte seine Erektion, und sie glitt auf den Boden des Wagens. Sie begann ihn zu liebkosen und zu küssen, bis Michael zu stöhnen begann, und Jennifer stöhnte mit ihm, bewegte sich schneller und schneller, bis sie die Zuckungen seines Körpers spürte. Die Feier hatte begonnen.

All dies fiel Jennifer wieder ein, als sie in ihrem Hotelzimmer in Tanger im Bett lag und Michaels Geräusche unter der Dusche vernahm. Sie fühlte sich befriedigt und glücklich. Das einzige, was ihr fehlte, war ihr Sohn. Sie hatte daran gedacht, Joshua auf einige ihrer Reisen mitzunehmen, aber ihr Instinkt riet ihr, ihn und Michael Moretti nicht miteinander in Berührung kommen zu lassen. Von diesem Teil ihres Lebens mußte Joshua unberührt bleiben. Jennifer hatte das Gefühl, daß ihr Leben in eine Reihe von Abteilungen gegliedert war: da war Adam, da war ihr Sohn, und da war Michael Moretti. Und jeder mußte von den anderen ferngehalten werden. Michael kam aus dem Badezimmer, nur mit einem Handtuch bekleidet. Die Haare an seinem Körper glitzerten vom Wasser. Er war ein herrliches, aufregendes Tier. »Zieh dich an. Wir haben noch zu arbeiten.«

39

Es geschah so allmählich, daß es überhaupt nicht zu geschehen schien. Angefangen hatte es mit Vasco Gambutti, und kurz danach hatte Michael Jennifer gebeten, einen anderen Fall zu übernehmen, dann einen weiteren, bis es sich schließlich zu einem stetigen Strom entwickelt hatte. Michael rief Jennifer an und sagte: »Ich brauche deine Hilfe, Baby. Einer meiner Jungs hat ein Problem.« Und Jennifer dachte an Pater Ryans Worte: Einer meiner Freunde hat ein kleines Problem. Bestand da wirklich ein so großer Unterschied? Amerika hatte sich damit abgefunden, daß es den Paten wirklich gab und daß die Mafia ein Teil des täglichen Lebens war. Jennifer sagte sich, daß sie jetzt nichts anderes tat, als sie schon immer getan hatte. In Wahrheit aber gab es einen Unterschied - einen großen Unterschied. Sie befand sich im Mittelpunkt einer der mächtigsten Organisationen der Welt.

Michael lud Jennifer in das Farmhaus in New Jersey ein, wo sie zum erstenmal die Bekanntschaft von Antonio Granelli und einigen anderen Mitgliedern der Organisation machte. An dem großen Tisch in der Küche saßen Nick Vito, Arthur »Speckartie« Scotto, Salvatore Fiore und Joseph Colella. Als Jennifer und Michael eintraten und im Türrahmen stehenblieben, sagte Nick Vito gerade: »... wie damals, als ich in Atlanta gesessen habe. Ich war ganz gut mit Heroin im Geschäft. Plötzlich kommt dieser Schmalspurzuhälter daher und versucht mich übers Ohr zu hauen, weil er eine Scheibe vom Kuchen abhaben will.«

»Kanntest du den Burschen!« fragte Speckartie Scotto. »Da brauchte man nichts zu kennen. Er wollte, daß man ihm ein Licht aufsteckt. Er versuchte, mich unter Druck zu setzen.«

»Dich?«

»So isses. Er hatte nich' alle Tassen im Schrank.«

»Was hast du gemacht?«

»Eddie Fratelli und ich, wir haben ihn in eine Ecke des Hofs

gezogen und ihm eins aufgebrannt. Zum Teufel, er war so oder

so fällig.« »He, was ist eigentlich aus Little Eddie geworden?« »Der sitzt vorübergehend in Lewisburg.« »Und seine Kleine? Die war 'ne tolle Nummer.« »Verdammt, ja. Der würde ich gern mal das Höschen naß

machen.« »Die ist immer noch scharf auf Eddie. Nur der Papst weiß,

warum.«

»Ich mochte Eddie. Der packte den Stier immer bei den Hörnern.«

»Jetzt hat er weiche Knie gekriegt. Wo wir gerade davon sprechen, wißt ihr, wer jetzt auch unter die Dealer gegangen ist...?« Fachsimpelei.

Michael grinste über Jennifers verwirrtes Gesicht und sagte: »Komm, ich stelle dich Papa vor.«

Der Anblick Antonio Granellis traf Jennifer wie ein Schock. Er saß in einem Rollstuhl, zum Skelett abgemagert, und es fiel schwer, sich vorzustellen, wie er einmal gewesen sein mußte. Eine attraktive Brünette mit einer fülligen Figur betrat den Raum, und Michael sagte: »Das ist Rosa, meine Frau.« Jennifer hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet. In manchen Nächten hatte sie, nachdem Michael gegangen war und sie auf jede nur denkbare Weise befriedigt zurückgelassen hatte, eine beinahe überwältigende Schuld gefühlt. Ich möchte keiner anderen Frau weh tun. Ich bin ein Dieb. Ich muß damit aufhören. Sie hatte die Schlacht jedesmal verloren. Rosa blickte Jennifer mit wissenden Augen an. Sie weiß Bescheid, dachte Jennifer.

Eine kleine Verlegenheitspause entstand, und dann sagte Rosa sanft: »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Parker. Michael sagte mir, Sie seien sehr intelligent.« Antonio Granelli grunzte. »Es ist nicht gut für eine Frau, zu klug zu sein. Gehirn ist bei Männern besser aufgehoben.« Mit ernstem Gesicht sagte Michael: »Für mich ist Mrs. Parker wie ein Mann, Pa.«

Sie aßen in dem großen Eßzimmer zu Abend. »Sie sitzen neben mir«, befahl Antonio Granelli Jennifer. Michael saß neben Rosa. Thomas Colfax, der consigliere, saß Jennifer ge genüber, und sie konnte seine Feindseligkeit spüren.

Das Essen war hervorragend. Zuerst wurde eine Unmenge Antipasti serviert, und dann pasta fagioli. Es gab einen Salat mit Garbanzo und Champignons, Piccata, Linguini und gebackenes Huhn. Es schien, als nähmen die Speisen überhaupt kein Ende.

Im ganzen Haus waren keine Diener zu sehen, und Rosa sprang ununterbrochen auf, um den Tisch abzuräumen und Nachschub aus der Küche zu holen.

»Meine Rosa ist eine hervorragende Köchin«, erzählte Antonio Granelli Jennifer. »Sie ist beinahe so gut wie ihre Mutter. Nicht, Mike?«

»Ja«, antwortete Michael höflich.

»Seine Rosa ist eine wundervolle Ehefrau«, fuhr Antonio Granelli fort, und Jennifer fragte sich, ob es sich um eine beiläufige Bemerkung oder eine Warnung handelte. Michael bemerkte: »Du hast dein Kalbfleisch nicht aufgegessen.«

»Ich habe noch nie in meinem Leben so viel gegessen«, protestierte Jennifer.

Und es war noch nicht vorbei. Eine Schale mit frischem Obst wurde hereingetragen, eine Käseplatte, Eiscreme mit heißer Zabaglione, Zuckerplätzchen und Pfefferminzlikör. Jennifer wunderte sich, daß es Michael bei solchem Essen gelungen war, seine Figur zu halten.

Die Konversation war leicht und angenehm und hätte in jedem anderen italienischen Haushalt stattfinden können. Es fiel Jennifer schwer, zu glauben, daß diese Familie anders als andere Familien war.

Bis Antonio Granelli fragte: »Wissen Sie über die Unione Siciliana Bescheid?«

»Nein«, sagte Jennifer.

»Lassen Sie mich ein paar Worte darüber verlieren, Lady.«

»Pop - ihr Name ist Jennifer.«

»Das ist kein italienischer Name, Mike. Ich kann ihn mir nicht merken. Ich nenne Sie Lady, Lady. Okay?«

»Okay«, erwiderte Jennifer.

»Die Unione Siciliana fand sich in Sizilien zusammen, um die Armen gegen Unrecht und Ungerechtigkeiten zu schützen. Verstehen Sie, die Mächtigen haben die Armen ausgeraubt. Die Armen hatten nichts - kein Geld, keine Arbeit, keine Gerechtigkeit. Also wurde die Unione gebildet. Wenn irgendwo ein Unrecht geschah, gingen die Geschädigten zu den Mitgliedern der geheimen Bruderschaft, und sie wurden gerächt. Ziemlich bald wurde die Unione stärker als das Gesetz, denn sie war das Gesetz des Volkes. Wir glauben an die Worte der Bibel, Lady.« Er blickte Jennifer in die Augen. »Wenn jemand uns betrügt, rächen wir uns.« Die Botschaft war unmißverständlich.

Jennifer hatte immer geahnt, daß sie ein großes Risiko eingehen würde, wenn sie für die Organisation arbeitete, aber, wie die meisten Außenseiter, hatte sie eine falsche Vorstellung von der Beschaffenheit dieser Organisation. Die meisten Menschen stellten sich die Mafia als einen Haufen von Schurken vor, die im Hinterzimmer einer Kneipe herumsaßen, Mordaufträge vergaben und das Geld zählten, das Bordelle und Buchmacher ihnen einbrachten. Aber das war nur ein Teil des Bildes. Die Konferenzen, bei denen Jennifer anwesend war, verschafften ihr Einblicke in den Rest: Sie hatte es mit Geschäftsleuten zu tun, die auf einer atemberaubenden Bandbreite operierten. Ihnen gehörten Hotels und Banken, Restaurants und Casinos, Versicherungsgesellschaften und Fabriken, Baufirmen und ganze Krankenhausketten. Sie kontrollierten Gewerkschaften und Schiffahrtslinien. Sie waren im Plattengeschäft und verkauften Automaten. Ihnen gehörten Beerdigungsinstitute, Bäckereien und Ingenieurbüros. Ihr jährliches Einkommen bezifferte sich auf Milliarden. Wie sie sich all diese Geschäftszweige angeeignet hatten, ging Jennifer nichts an. Sie war nur für die Verteidigung zuständig, wenn einer von ihnen Ärger mit dem Gesetz bekam.

Robert Di Silva erhob gegen drei von Michael Morettis Männern Anklage, weil sie eine Gruppe von Imbißstuben um Schutzgebühren angegangen waren. Sie wurden der Verschwörung zum Zweck der Geschäftsstörung durch Erpressung beschuldigt sowie sieben weiterer Anklagepunkte der Rubrik Einmischung in den Handelsverkehr. Die einzige Zeugin gegen die Männer war eine Frau, der einer der Imbißstände gehört hatte.

»Sie wird uns aus den Schuhen pusten«, sagte Michael zu Jennifer. »Wir müssen uns ihrer annehmen.«

»Dir gehört doch ein Teil von einem Zeitschriftenverlag, oder?« wollte Jennifer wissen. »Ja. Aber was hat das mit Imbißständen zu tun?«

»Das wirst du schon merken.«

Jennifer kümmerte sich darum, daß ein Magazin der Zeugin eine große Summe für ihre Geschichte anbot. Die Zeugin ging darauf ein. Vor Gericht benutzte Jennifer das, um die Motive der Frau ins Zwielicht zu rücken, und die Beschuldigungen wurden fallengelassen.

Jennifers Verhältnis zu ihren Partnern in der Kanzlei hatte sich verändert. Als das Büro immer mehr Mafiafälle übernahm, kam Ken Bailey eines Tages in ihr Büro und sagte: »Was geht hier eigentlich vor? Du kannst nicht dabei bleiben, diese

Halunken zu verteidigen. Sie werden uns ruinieren.« »Mach dir darüber keine Sorgen, Ken. Sie werden bezahlen.« »Du kannst doch nicht so naiv sein. Am Ende wirst du bezahlen müssen. Spätestens dann, wenn sie dich am Haken haben.«

Weil sie wußte, daß er im Recht war, sagte Jennifer ärgerlich: »Ich will nichts mehr darüber hören, Ken.« Er sah sie lange an und sagte dann: »Einverstanden. Du bist der Boß.«

Die Gerichtsszene war eine kleine Welt, und Neuigkeiten verbreiteten sich schnell. Als bekannt wurde, daß Jennifer Parker Mitglieder der Organisation verteidigte, tauchten wohlmeinende Freunde bei ihr auf und wiederholten dasselbe, was ihr schon Richter Lawrence Waldman und Ken Bailey erzählt hatten.

»Wenn du dich mit solchen Leuten einläßt, wirst du mit derselben Bürste gestriegelt werden.«

Jennifer sagte allen das gleiche: »Jeder hat ein Recht auf einen fairen Prozeß.«

Sie wußte ihre Warnungen zu schätzen, aber sie fand sie in ihrem Fall nicht zutreffend. Sie gehörte nicht zur Organisation, sie verteidigte lediglich einige ihrer Mitglieder. Sie war ein Anwalt wie ihr Vater und sie würde nichts tun, das ihn dazu gebracht hätte, sich für sie zu schämen. Es gab den Dschungel, natürlich, aber sie war immer noch draußen.

Pater Ryan war zu Besuch gekommen. Diesmal bat er nicht um Hilfe für eines seiner Schäfchen.

»Ich mache mir Sorgen um Sie, Jennifer. Ich habe gehört, daß Sie - nun, die falsche n Leute vertreten.«

»Wer sind die falschen Leute? Haben Sie die Menschen gerichtet, die Sie um Hilfe gebeten haben? Halten Sie Leute von Gott fern, weil sie gesündigt haben?«

Pater Ryan schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber es ist eine Sache, wenn ein Mensch einen Fehler begeht. Eine ganz andere Sache ist es dagegen, wenn Korruption und Verbrechen organisiert sind. Wenn Sie diesen Leuten helfen, billigen Sie damit ihr Tun. Sie tragen dazu bei.«

»Nein, Pater Ryan. Ich bin Anwalt. Ich helfe Leuten aus ihren Schwierigkeiten.«

Jennifer lernte Michael Moretti besser kennen als jeder vor ihr. Ihr gegenüber gab er sich Blößen, die er niemals zuvor jemandem gezeigt hatte. Im Grunde war er ein einsamer, verschlossener Mann, und Jennifer hatte es als einzige geschafft, ihn aus seinem Schneckenhaus hervorzulocken. Sie hatte das Gefühl, daß er sie brauchte, und dieses Gefühl hatte sie bei Adam nie gehabt. Michael hatte sie auch dazu gebracht, zuzugeben, wie sehr sie ihn brauchte. Er hatte Regungen in ihr bloßgelegt - wilde, atavistische Leidenschaften -, die sie immer unterdrückt und vor denen sie Angst gehabt hatte. Bei Michael hatte sie keine Hemmungen. Wenn sie zusammen im Bett waren, gab es kein Halt, keine Barrieren. Nur Lust und Befriedigung in einem Ausmaß, da s Jennifer nie für möglich gehalten hätte.

Michael hatte Jennifer gestanden, daß er Rosa nicht liebte, aber es war offensichtlich, daß Rosa ihn verehrte. Sie war ihm immer zu Diensten und stand bereit, wenn er etwas brauchte. Jennifer traf die Frauen anderer Mafiosi und war fasziniert von ihrem Leben. Ihre Ehemänner gingen in Restaurants und Bars, trieben sich mit Geliebten herum, während sie zu Hause blieben und auf sie warteten.

Die Frau eines Mafioso erhielt immer ein großzügig bemessenes Haushaltsgeld, aber sie mußte sehr genau aufpassen, wie und wofür sie es ausgab, damit sie nicht die Aufmerksamkeit des Finanzamtes auf sich zog.

Es gab eine Hackordnung, die vom einfachen soldato bis zum capo di tutti capi reichte, und eine Frau besaß niemals einen teureren Pelz oder Wagen als die Frau des unmittelbaren Vorgesetzten ihres Mannes.

Die Frauen gaben Parties für die Geschäftsfreunde ihrer Männer, aber sie durften niemals verschwenderischer sein, als ihre Position es ihnen im Vergleich zu den anderen gestattete. Bei Hochzeiten oder Kindstaufen durfte eine Frau nie mehr Geld für Geschenke ausgeben als die Frau eine Stufe über ihr in der Hierarchie. Die Etikette war nicht weniger streng als die von U. S. Steel oder einem anderen großen Konzern. Die Mafia bestand aus zwei gleichwertigen Elementen: Geld und Macht.

»Die Organisation ist größer als die meisten Regierungen der Welt«, sagte Michael oft. »Wir setzen mehr um als ein halbes Dutzend der bedeutendsten amerikanischen Konzerne zusammen.«

»Es gibt nur einen Unterschied«, meinte Jennifer. »Sie stehen auf dem Boden der Gesetze, während...« Michael lachte. »Du meinst, die sind noch nicht geschnappt worden. Dutzende der größten Konzerne dieses Landes haben schon vor Gericht gestanden, weil sie ein Gesetz gebrochen haben. Mach dir nichts vor, Jennifer. Der Durchschnittsamerikaner kann dir keine zwei Astronauten nennen, die im Weltall waren, aber jeder kennt die Namen Al Capone und Lucky Luciano.«

Auf seine Weise setzte Michael sich für seine Ziele mit der gleichen Entschlossenheit ein wie Adam Warner für die Seinen. Der Unterschied bestand darin, daß ihre Wege in entgegengesetzter Richtung verliefen.

Wenn es um Geschäfte ging, war Michael völlig gefühllos, und darin lag seine Stärke. Er traf Entscheidungen ausschließlich auf der Basis, ob sie der Organisation nützten oder nicht. In der Vergangenheit hatte Michael sich ausschließlich darum gekümmert, seine Ziele zu erreichen und seine Ambitionen zu erfüllen. Für Gefühle einer Frau gegenüber war in seinem Leben kein Platz gewesen. Weder Rosa noch seine Freundinnen hatte er jemals wirklich gebraucht. Bei Jennifer verhielt es sich anders. Er brauchte sie, wie er noch nie eine Frau gebraucht hatte. Er hatte niemals jemanden wie sie gekannt. Sie erregte ihn körperlich, aber das hatten auch Hundert andere getan. Das Besondere an Jennifer war ihre Intelligenz, ihre Unabhängigkeit. Rosa gehorchte ihm; andere Frauen fürchteten ihn; Jennifer forderte ihn heraus. Sie war ein gleichberechtigter Partner. Er konnte mit ihr reden, Geschäfte mit ihr diskutieren. Sie war mehr als intelligent. Sie war klug. Er wußte, daß er sie nie gehen lassen würde.

Gelegentlich unternahm Jennifer Geschäftsreisen mit Michael, aber sie vermied lange Abwesenheiten, wenn sie konnte, weil sie soviel Zeit wie möglich mit Joshua verbringen wollte. Er war jetzt sechs und wuchs unglaublich schnell. Jennifer hatte ihn in eine nahe gelegene Privatschule gegeben, und der Unterricht bereitete ihm Spaß. Er hatte ein Fahrrad, besaß eine Flotte von Spielzeugautos und führte lange, ernsthafte Gespräche mit Jennifer und Mrs. Mackey. Jennifer wollte, daß Joshua als Erwachsener stark und unabhängig war, und deswegen wog sie ihr Verhalten ihm gegenüber sorgfältig ab, ließ ihn wissen, wie sehr sie ihn liebte und daß sie immer für ihn da war, wenn er sie brauchte, und ließ ihn dennoch ein Gefühl eigener Unabhängigkeit entwickeln. Sie lehrte ihn die Liebe zu guten Büchern und die Freude an der Musik. Sie nahm ihn mit ins Theater, mied aber Premierenabende, um den Fragen ihrer vie len Bekannten zu entgehen. Am Wochenende hatten sie und Joshua ihren Kinotag. Sie sahen sich am Samstagnachmittag einen Film an, gingen in ein Restaurant essen und sahen sich danach einen zweiten Film an. Am Sonntag unternahmen sie Segeltörns oder Fahrradtouren. Jennifer gab ihrem Sohn alle Liebe, derer sie fähig war, aber sie achtete darauf, ihn nicht zu verwöhnen. Sie plante seine Erziehung achtsamer, als sie je einen Prozeß vorbereitet hatte, entschlossen, nicht in die Fallen zu gehen, die überall lauerten, wenn nur ein Elternteil zu Hause war. Es war kein Opfer für sie, so viel Zeit mit Joshua zu verbringen, im Gegenteil. Immer wieder erfreute sie sich an seinem schnellen Auffassungsvermögen. Er war Klassenbester und ein hervorragender Sportler, aber er nahm sich selber nicht zu ernst. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor. Wenn es sich mit der Schule vereinbaren ließ, verreiste sie mit Joshua. Im Winter nahm sie sich Zeit, um mit ihm zum Wintersport in die Poconos zu fahren. Im Sommer nahm sie ihn nach London zu einer Geschäftsreise mit, und sie verbrachten zwei Wochen auf dem Land. Joshua war begeistert von England.

»Kann ich hier zur Universität gehen?« fragte er. Jennifer fühlte einen Stich. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde er sie verlassen, zur Uni gehen, sein Glück suchen, heiraten und seine eigene Familie gründen. War es nicht genau das, was sie sich für ihn wünschte? Natürlich. Wenn es soweit war, würde sie Joshua mit offenen Armen gehen lassen, und doch wußte sie, wie schwer es ihr fallen würde. Joshua blickte sie an, wartete auf eine Antwort. »Darf ich, Mama?« fragte er. »Vielleicht nach Oxford?« Jennifer umarmte ihn. »Natürlich. Sie werden dich mit Freuden nehmen.«

An einem Sonntagmorgen, als Mrs. Mackey frei hatte, mußte Jennifer nach Manhattan, um die Abschrift einer Zeugenaussage abzuholen. Joshua besuchte einige Freunde. Als Jennifer zurück war, begann sie, für Joshua und sich Abendessen zu bereiten. Sie öffnete den Kühlschrank - und wäre beinahe tot umgefallen. Zwischen zwei Milchflaschen steckte ein Zettel. Auf diese Weise hatte Adam ihr immer kleine Botschaften zukommen lassen. Wie gelähmt starrte Jennifer den Zettel an, unfähig, ihn zu berühren. Schließlich zog sie ihn langsam heraus und faltete ihn auseinander. Überraschung! stand darauf. Ist es in Ordnung, wenn Alan mit uns zu Abend ißt? Es dauerte eine halbe Stunde, bis sich Jennifers Puls wieder beruhigt hatte.

Hin und wieder fragte Joshua sie nach seinem Vater. »Er ist in Vietnam gefallen, Joshua. Er war ein tapferer Mann.«

»Haben wir nicht irgendwo ein Bild von ihm?«

»Nein, leider nicht, Liebling. Wir - wir waren noch nicht sehr lange verheiratet, als er gestorben ist.« Sie haßte es, zu lügen, aber sie hatte keine Wahl. Michael Moretti hatte sich nur einmal nach Joshuas Vater erkundigt.

»Es ist mir egal, was war, bevor du mir gehört hast - ich bin nur neugierig.«

Jennifer überlegte, was für eine Macht Michael über Senator Adam Warner haben würde, wenn er je die Wahrheit erführe. »Er ist in Vietnam gefallen. Sein Name ist nicht wichtig.«

40

In Washington, D. C, war ein Untersuchungsausschuß des Senats unter der Führung von Adam Warner ins letzte Stadium einer intensiven Prüfung des neuen XK-1-Bombers getreten, für den die Air Force die Zustimmung des Senats haben wollte. Wochenlang hatten sich Experten auf dem Capitol Hill die Klinke in die Hand gegeben. Die eine Hälfte war der Meinung, daß der neue Bomber ein kostspieliger Albatros war, der das Verteidigungsbudget sprengen und das Land ruinieren würde, während die andere die Überzeugung vertrat, daß die Verteidigungsbereitschaft des Landes ohne die Zustimmung des Senats zu dem neuen Bomber so geschwächt würde, daß die Russen die Vereinigten Staaten schon am nächsten Sonntag erobern könnten.

Adam hatte sich bereit erklärt, einen Prototyp des neuen Bombers zu testen, und seine Kollegen hatten sein Angebot erfreut angenommen. Adam war einer von ihnen, ein Mitglied ihres Clubs, und er würde ihnen die Wahrheit sagen. Adam war an einem Sonntagmorgen mit der Stammbesatzung des Bombers in die Luft gestiegen und hatte das Flugzeug einer Reihe von rigorosen Tests unterzogen. Der Flug war ein uneingeschränkter Erfolg geworden, und Adam hatte den Untersuchungsausschuß wissen lassen, daß der neue Bomber ein wichtiger Fortschritt für die militärische Luftfahrt sei. Er empfahl, den XK 1 sofort in Produktion gehen zu lassen. Der Senat gab seine Zustimmung.

Die Presse spielte die Geschichte begeistert hoch. Sie beschrieb Adam als Mitglied einer neuen Generation von Senatoren, als Gesetzgeber, der selber auszog, um die Fakten zu recherchieren, statt sich auf das Wort von Lobbyisten und anderen Interessengruppen zu verlassen. Sowohl Newsweek als auch Time brachten Titelgeschichten über Adam, und der Artikel in Newsweek endete mit den Worten: Der Senat hat einen anständigen und fähigen neuen Wächter gefunden, der ein Auge auf die lebenswichtigen Probleme hat, die dieses Land heimsuchen, und sie mit dem Verstand statt mit Leidenschaft betrachtet. Mehr und mehr wächst unter den Königmachern das Gefühl, daß Adam Warner über die Eigenschaften verfügt, die einen Präsidenten schmücken würden.

Jennifer verschlang die Artikel über Adam und war erfüllt von Stolz. Und Schmerz. Sie liebte Adam immer noch, sie liebte aber auch Michael Moretti, und sie verstand nicht, wie das möglich war, wie sie sich so verändern konnte. Adam hatte in ihr Leben eine Bresche für die Einsamkeit geschlagen. Michael hatte sie gefüllt.

Der Drogenschmuggel von Mexiko in die Vereinigten Staaten hatte ungeheuer zugenommen, und ganz offensichtlich stand das organisierte Verbrechen dahinter. Adam wurde gebeten, den Vorsitz eines Untersuchungsausschusses zu übernehmen. Er koordinierte die Bemühungen eines halben Dutzends von Regierungsstellen, flog nach Mexiko und erreichte die Zusammenarbeit der mexikanischen Behörden. Innerhalb von drei Monaten reduzierte sich der Drogenstrom auf ein Tröpfeln.

Im Wohnzimmer des Farmhauses in New Jersey sagte Michael Moretti: »Wir haben ein Problem.« In dem großen, komfortablen Raum hielten sich Jennifer, Antonio Granelli und Thomas Colfax auf. Antonio Granelli hatte einen weiteren Schlaganfall erlitten und war um zwanzig Jahre gealtert. Er wirkte geschrumpft, wie die Karikatur eines Mannes. Die rechte Seite seines Gesichts war gelähmt, und wenn er sprach, rann ihm Speichel aus den Mundwinkeln. Er war alt und senil, mehr und mehr verließ er sich auf Michaels Urteil. Widerstrebend hatte er sogar Jennifer akzeptiert. Nicht so Thomas Colfax. Der Konflikt zwischen ihm und Michael war stärker geworden. Colfax wußte, daß Michael beabsichtigte, ihn durch diese Frau zu ersetzen. Er mußte zugeben, daß Jennifer Parker eine gerissene Anwältin war, aber was konnte sie schon über die Tradition der borgata wissen? Davon, was die Organisation all die Jahre so glatt und effektiv hatte arbeiten lassen? Wie konnte Michael einen völlig Fremden - schlimmer, eine Frau! -einführen und ihr Geheimnisse von Leben und Tod anvertrauen? Es war eine unhaltbare Situation. Colfax hatte mit den caporegime und den soldati gesprochen, hatte jedem einzelnen seine Befürchtungen mitgeteilt und versucht, sie auf seine Seite zu bringen, aber sie hatten Angst, sich gegen Michael zu stellen. Wenn er dieser Frau vertraute, dann mußten sie ihr genauso trauen. Thomas Colfax beschloß, weiter auf den richtigen Augenblick zu warten. Aber irgendwie würde er sie loswerden. Jennifer war sich seiner Antipathien bewußt. Sie hatte ihn ersetzt, und sein Stolz würde ihr das nie verzeihen. Seine Loyalität dem Syndikat gegenüber würde ihn auf Vordermann halten und sie schützen, aber wenn sein Haß jemals stärker als seine Loyalität werden sollte...

Michael wandte sich an Jennifer. »Hast du je von Adam Warner gehört?«

Jennifers Herzschlag stockte. Sie bekam plötzlich keine Luft mehr. Michael beobachtete sie und wartete auf eine Antwort. »Du - du meinst diesen Senator?« brachte sie schließlich heraus.

»Ja. Wir werden diesem Hundesohn eine kalte Dusche verpassen müssen.« Jennifer fühlte, wie sie blaß wurde. »Warum, Michael?«

»Er stört unsere Kreise. Seinetwegen hat die mexikanische Regierung Fabriken geschlossen, die unseren Freunden gehören. Alles bricht zusammen. Ich will diese Laus aus unserem Pelz haben. Er muß weg.«

Jennifers Gedanken überschlugen sich. »Wenn du Senator Warner antastest«, sagte sie und wählte ihre Worte sorgfältig, »zerstörst du dich selber.«

»Ich bin nicht bereit, zuzulassen...«

»Hör mir zu, Michael. Beseitige ihn, und sie werden zehn an seine Stelle setzen. Oder hundert. Jede Zeitung im ganzen Land wird hinter dir her sein. Die Untersuchung, die zur Zeit stattfindet, ist ein Ringelreihen gegen das, was passieren wird, wenn Senator Warner etwas zustößt.« Michael sagte ärgerlich: »Ich sagte nicht zustoßen, ich sagte weh tun!«

Jennifer schlug einen anderen Ton an. »Michael, denk nach. Das ist nicht die erste Untersuchung, die du erlebst. Wie lange dauern sie? Fünf Minuten, nachdem der Senator fertig ist, wird er sich einer anderen Sache annehmen, und diese ist vergessen. Die Fabriken, die sie geschlossen haben, werden wieder eröffnet, und wir sind wieder im Geschäft. Auf diese Weise hat es keine Nachwirkungen. Wenn wir es auf deine Weise handhaben, wird es kein Ende nehmen.«

»Ich bin anderer Meinung«, sagte Thomas Colfax. »Ich glaube...«

Michael Moretti fuhr ihn an: »Niemand hat dich um deine Meinung gebeten.«

Thomas Colfax zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden. Michael achtete nicht darauf. Colfax wandte sich an Antonio Granelli, um seine Unterstützung zu erbitten. Der alte Mann war eingeschlafen.

Michael sagte zu Jennifer: »Einverstanden, wir lassen Warner fürs erste in Ruhe.«

Jennifer merkte, daß sie den Atem angehalten hatte. Langsam atmete sie aus. »Sonst noch was?«

»Ja.« Michael zündete sich eine Zigarette mit einem schweren Goldfeuerzeug an. »Einer unserer Freunde, Marco Lorenzo, ist wegen Erpressung und Raubüberfall verurteilt worden.« Jennifer hatte davon gelesen. Den Zeitungen nach war Lorenzo ein geborener Verbrecher mit einer langen Liste von Festnahmen wegen Gewaltverbrechen. »Möchtest du, daß ich Berufung einlege?«

»Nein, ich möchte, daß du dafür sorgst, daß er ins Gefängnis kommt.«

Jennifer blickte ihn überrascht an.

Michael legte das Feuerzeug wieder auf den Tisch. »Ich habe gehört, daß Di Silva ihn zurück nach Sizilien deportieren lassen will. Marco hat Feinde dort unten. Wenn er zurückgeschickt wird, bleibt er keine vierundzwanzig Stunden am Leben. Der sicherste Ort für ihn ist Sing Sing. Wenn sich in ein oder zwei Jahren alles abgekühlt hat, holen wir ihn heraus. Kannst du dich darum kümmern?«

Jennifer zögerte. »Wenn wir in einem anderen Gerichtsbezirk wären, vielleicht. Aber Di Silva wird sich mit mir auf keinen Handel einlassen.«

Thomas Colfax sagte rasch: »Vielleicht sollte jemand anderer das in die Hand nehmen.«

»Wenn ich jemand anderen gewollt hätte«, blaffte Michael, »hätte ich das gesagt.« Er wandte sich wieder an Jennifer. »Ich möchte, daß du es übernimmst.«

Michael Moretti und Nick Vito sahen Thomas Colfax vom Fenster aus in seinen Wagen steigen und davonfahren.

Michael sagte: »Nick, ich möchte, daß du ihn aus dem Weg räumst.«

»Colfax?«

»Ich kann ihm nicht mehr vertrauen. Er lebt mit dem alten Mann in der Vergangenheit.«

»Wie du willst, Mike. Wann soll ich es erledigen?«

»Bald. Ich sage dir Bescheid.«

Jennifer saß in Richter Lawrence Waldmans Büro. Sie hatte ihn über ein Jahr lang nicht mehr gesehen. Die freundschaftlichen Telefonanrufe und Einladungen zum Essen hatten aufgehört. Nun, das ließ sich nicht ändern, dachte Jennifer. Sie mochte Lawrence Waldman, und sie bedauerte es, seine Freundschaft verloren zu haben, aber sie hatte ihre Wahl getroffen. In unbehaglichem Schweigen warteten sie auf Robert Di Silva und gaben sich nicht die Mühe, unverbindlich miteinander zu plaudern. Als der Staatsanwalt eintraf, begann die Unterredung.

Richter Waldman sage zu Jennifer: »Bobby sagt, Sie wollen einen Handel vorschlagen, ehe ich das Urteil über Lorenzo verkünde.«

»Das ist richtig.« Jennifer wandte sich an Staatsanwalt Di Silva. »Ich glaube, es wäre ein Fehler, Marco Lorenzo nach Sing Sing zu schicken. Er gehört nicht dorthin. Er ist ein illegaler Einwanderer. Ich finde, er sollte nach Sizilien deportiert werden, wo er herkam.«

Di Silva sah sie überrascht an. Er hatte die Deportierung empfehlen wollen, aber wenn Jennifer Parker das auch wollte, dann mußte er seine Entscheidung umstoßen. »Warum schlagen Sie das vor?« fragte er. »Aus verschiedenen Gründen. Erstens wird ihn das davon abhalten, hier noch weitere Verbrechen zu begehen, und...«

»Eine Zelle in Sing Sing hätte den gleichen Effekt.« »Lorenzo ist ein alter Mann. Er wird es nicht aushalten, eingesperrt zu werden. Er wird durchdrehen, wenn man ihn ins Gefängnis steckt. Seine ganzen Freunde sind in Sizilien. Dort kann er in der Sonne leben und in Frieden in den Armen seiner Familie sterben.«

Di Silvas Mund wurde schmal vor Wut. »Wir reden von einem Verbrecher, der sein Leben damit zugebracht hat, zu rauben, zu töten und Frauen zu vergewaltigen, und Sie machen sich darüber Sorgen, ob er auch bei seinen Freunden in der Sonne sein kann?« Er wandte sich an Richter Waldman. »Sie ist phantastisch!«

»Marco Lorenzo hat ein Recht auf...« Di Silva schlug mit der Faust auf den Tisch. »Er hat überhaupt keine Rechte! Er ist der Erpressung und des Raubes schuldig gesprochen worden.«

»Wenn in Sizilien ein Mann...«

»Er ist nicht in Sizilien, verdammt noch mal!« schrie Di Silva. »Er ist hier! Er hat die Verbrechen hier begangen, und hier wird er auch dafür bezahlen.« Er stand auf. »Euer Ehren, wir verschwenden Ihre Zeit. Der Staat lehnt jeden Handel in diesem Fall ab. Wir bitten darum, daß Marco Lorenzo nach Sing Sing geschickt wird.«

Richter Waldman wandte sich an Jennifer. »Haben Sie noch etwas zu sagen?«

Sie blickte Robert Di Silva ärgerlich an. »Nein, Euer Ehren.« Richter Waldman sagte: »Das Urteil wird morgen verkündet werden. Sie sind beide entlassen.«

Di Silva und Jennifer erhoben sich und verließen das Büro. Im Korridor wandte sich der Staatsanwalt an Jennifer und lächelte. »Scheint nicht mehr alles zu Gold zu werden, was Sie berühren, Frau Kollegin.«

Jennifer zuckte mit den Schultern. »Man kann nicht immer gewinnen.«

Fünf Minuten später rief sie Michael Moretti aus einer Telefonzelle an.

»Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Marco Lorenzo wird nach Sing Sing kommen.«

41

Die Zeit floß dahin wie ein Fluß ohne Ufer, Quelle oder Mündung. Sie zerfiel nicht mehr in Winter, Frühling, Herbst oder Sommer, sondern in Geburtstage und freudige, traurige oder schmerzliche Ereignisse. Es gab gewonnene und verlorene Prozesse, die Wirklichkeit Michaels und die Erinnerung an Adam. Aber in erster Linie war Joshua das Maß der Zeit, ein täglicher Kalender, an dem sich ablesen ließ, wie schnell die Jahre verstrichen.

Er war unglaublicherweise schon sieben. Über Nacht, so schien es, hatten Sport und Modellflugzeuge die Buntstifte und Bilderbücher ersetzt. Joshua war groß geworden, und er ähnelte seinem Vater jeden Tag mehr, aber nicht nur in der körperlichen Erscheinung. Er war sensibel, höflich, und er hatte einen ausgeprägten Sinn für Fairneß. Wenn Jennifer ihn für etwas bestrafte, protestierte Joshua trotzig: »Ich bin zwar erst einen Meter zwanzig groß, aber ich habe auch meine Rechte.«

Er war eine Miniaturausgabe von Adam, mit der gleichen Vorliebe für Sport. Am Wochenende sah er sich jede Sportsendung im Fernsehen an - Football, Baseball, Basketball, egal was. Am Anfang hatte Jennifer ihn allein zuschauen lassen, aber als er hinterher versucht hatte, mit ihr über die Spiele zu diskutieren, und als sie dabei vollständig ins Schwimmen geraten war, hatte sie beschlossen, in Zukunft auch zuzuschauen. Und so saßen sie nebeneinander vor dem Fernsehapparat, mampften Popcorn und feuerten die Spieler an.

Eines Tages kehrte Joshua von einem Ballspiel nach Hause zurück, einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht, und fragte: »Mama, können wir uns mal von Mann zu Mann unterhalten?«

»Sicher, Joshua.«

Sie setzten sich an den Küchentisch, und Jennifer bereitete ihm ein Erdnußbuttersandwich und goß ein Glas Milch ein. »Was hast du für Kummer?«

Seine Stimme klang ernsthaft und sehr besorgt. »Nun, ich habe die anderen Jungs reden gehört, und ich habe mich nur gefragt - glaubst du, daß es noch Sex gibt, wenn ich groß bin?«

Jennifer hatte einen schmalen Newport-Segler gekauft, und am Wochenende unternahmen sie und Joshua Segeltörns auf dem Sund. Jennifer beobachtete gern sein Gesicht, wenn er im Bug des Boots saß. Er trug ein aufgeregtes kleines Lächeln, er war ein geborener Segler wie sein Vater. Der Gedanke brachte Jennifer ruckartig wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie fragte sich, ob sie ihr Leben mit Joshua als Adams Stellvertreter zu leben versuchte. Alles, was sie mit ihrem Sohn unternahm -segeln, Theater, Sport im Fernsehen -, hatte sie auch schon mit seinem Vater getan. Jennifer sagte sich, daß sie nur das tat, was Joshua Spaß bereitete, aber sie war nicht sicher, ob sie sich selbst gegenüber völlig aufrichtig war. Sie beobachtete Joshua beim Einholen des Segels, seine Haut gebräunt von Wind und Sonne, ein glückliches Glühen auf dem Gesicht, und sie wußte, daß die Gründe unwichtig waren. Wichtig war allein, daß ihr Sohn mit dem Leben an ihrer Seite zufrieden war. Er war kein Abziehbild seines Vaters. Er war eine eigene Persönlichkeit, und Jennifer liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt.

42

Antonio Granelli starb, und Michael übernahm sein Königreich. Die Beerdigung war so pompös, wie es einem Mann vom Format des Paten anstand. Die Dons und Mitglieder aller Familien des Landes erschienen, um ihrem verblichenen Freund den Tribut zu zollen und den neuen capo ihrer Loyalität und Unterstützung zu versichern. Das FBI, im Schlepptau ein halbes Dutzend anderer Behörden, war ebenfalls da und fotografierte.

Rosa war erschüttert, denn sie hatte ihren Vater sehr geliebt, aber die Tatsache, daß ihr Ehemann den Platz ihres Vaters an der Spitze der Familie übernahm, war ihr Trost und Stolz.

Jennifer wurde für Michael von Tag zu Tag wertvoller. Wenn es irgendwo ein Problem gab, konsultierte er sie und niemand anderen. Thomas Colfax war nur noch ein lästiges Anhängsel. »Mach dir um ihn keine Sorgen«, sagte Michael zu Jennifer. »Er wird bald in den Ruhestand gehen.«

Das leise Summen des Telefons weckte Jennifer. Sie lag im Bett, lauschte einen Moment, dann setzte sie sich auf und warf einen Blick auf die Digitaluhr auf dem Nachttisch. Es war drei Uhr morgens. Sie hob den Hörer ans Ohr. »Hallo.« Es war Michael. »Kannst du dich rasch anziehen?« Jennifer blinzelte und versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu wischen. »Was ist los?«

»Eddie Santini wurde gerade wegen bewaffneten Raubüberfalls verhaftet. Es ist bereits das zweite Mal wegen des gleichen Vergehens. Wenn er schuldig gesprochen wird, schmeißen sie die Schlüssel weg.«

»Irgendwelche Zeugen?«

»Drei, und alle haben ihn genau gesehen.«

»Wo ist er jetzt?«

»Im 17. Revier.«

»Ich bin auf dem Weg, Michael.«

Jennifer zog sich ein Kleid an, ging hinunter in die Küche und kochte sich eine Tasse Kaffee. Sie trank den Kaffee im Frühstückszimmer, starrte in die Nacht hinaus und dachte nach. Drei Zeugen. Und alle haben ihn genau gesehen.

Sie hob den Hörer des Telefons ab und wählte. Sie verlangte die Stadtverwaltung und dort den Raum, wo die Gerichtsreporter auf Neuigkeiten warteten. Dann sagte sie hastig: »Ich habe eine Information für euch. Ein Bursche namens Eddie Santini ist gerade wegen bewaffneten Raubüberfalls verhaftet worden. Sein Anwalt ist Jennifer Parker. Sie wird versuchen, ihn rauszuholen.«

Sie hängte auf und wiederholte den Anruf bei zwei Zeitungsredaktionen und einem Fernsehsender. Als sie fertig war, blickte sie auf die Uhr und trank in aller Ruhe noch eine zweite Tasse Kaffee. Sie wollte sicher sein, daß die Reporter genug Zeit hatten, um das 17. Revier zu erreichen. Sie ging wieder nach oben und zog sich fertig an. Bevor sie das Haus verließ, warf sie noch einen Blick in Joshuas Schlafzimmer. Sein Nachtlicht brannte. Er schlief fest, die Bettlaken hatten sich um seinen ruhelosen Körper geschlungen. Jennifer glättete vorsichtig die Laken, küßte Joshua auf die Stirn und bewegte sich auf Zehenspitzen aus dem Raum. »Wohin gehst du?«

Sie drehte sich um. »Ich gehe zur Arbeit. Schlaf schön weiter.«

»Wie spät ist es?«

»Es ist vier Uhr morgens.«

Joshua kicherte. »Für eine Dame arbeitest du zu ziemlich seltsamen Zeiten.«

Sie ging zurück zu ihm ans Bett. »Und für einen Mann schläfst du zu ziemlich seltsamen Zeiten.«

»Schauen wir uns heute abend das Spiel der Mets an?«

»Darauf kannst du wetten. Und jetzt zurück ins Reich der Träume.«

»Okay, Mama. Viel Erfolg.« »Danke, Kumpel.«

Einige Minuten später saß Jennifer im Wagen und war unterwegs nach Manhattan.

Als Jennifer eintraf, wartete der Fotograf der Daily News als einziger einsam und allein vor dem Revier. Er starrte Jennifer an und sagte: »Es stimmt tatsächlich! Übernehmen Sie den Fall Santini?«

»Woher wissen Sie das?« fragte Jennifer. »Ein kleines Vögelchen hat's gezwitschert.«

»Sie verschwenden Ihre Zeit. Keine Bilder.« Sie ging hinein und kümmerte sich um Eddie Santinis Kaution, wobei sie die Prozedur in die Länge zog, bis sie sicher sein konnte, daß ein Kameramann des Fernsehens sowie ein Reporter und Fotograf der New York Times eingetroffen waren. Auf die Post konnte sie nicht mehr warten. Der Captain vom Dienst sagte: »Da draußen sind einige Reporter und Fernsehleute, Miß Parker. Wenn Sie wollen, können Sie hinten 'rausgehen.«

»Danke«, sagte Jennifer. »Mit denen werde ich schon fertig.« Sie führte Eddie Santini zum Haupteingang, wo die Fotografen und Reporter warteten. Sie sagte: »Bitte Herrschaften, keine Bilder.« Und trat zur Seite, während das Blitzlichtgewitter losbrach. Ein Reporter fragte: »Was ist an diesem Fall so Besonderes, daß Sie ihn übernehmen?«

»Das werden Sie morgen herausfinden. In der Zwischenzeit möchte ich Ihnen den guten Rat geben, diese Bilder nicht zu verwenden.«

Einer der Reporter rief: »Aber, aber, Jennifer! Haben Sie noch nie was von Pressefreiheit gehört?«

Gegen Mittag erhielt Jennifer einen Anruf von Michael Moretti. Seine Stimme klang verärgert. »Hast du die Zeitungen gesehen?«

»Nein.«

»Eddie Santinis Bild ist auf allen Titelseiten und in den Fernsehnachrichten. Ich habe dir nicht gesagt, daß du diese Sache in einen verdammten Zirkus verwandeln sollst.«

»Ich weiß. Es war meine eigene Idee.«

»Jesus! Weswegen?«

»Wegen der drei Zeugen, Michael.«

»Was ist mit ihnen?«

»Du hast gesagt, sie haben ihn genau gesehen. Nun, wenn ich sie im Zeugenstand habe, werden sie erst mal beweisen müssen, daß sie ihn nicht anhand der Bilder in den Zeitungen und dem Fernsehen identifiziert haben.«

Michael schwieg lange, und dann sagte er bewundernd: »Ich bin vielleicht ein idiotischer Hurensohn!« Jennifer mußte lachen.

Als sie an diesem Nachmittag in ihr Büro ging, wartete Ken Bailey schon auf Jennifer. Sie merkte sofort an seinem Gesichtsausdruck, daß etwas nicht stimmte. »Warum hast du es mir nicht gesagt?« wollte Ken wissen. »Was nicht gesagt?«

»Das mit dir und Michael Moretti.«

Jennifer unterdrückte die Antwort, die ihr auf den Lippen lag. Nur Das geht dich nichts an zu sagen, wäre zu einfach gewesen. Ken war ihr Freund; er sorgte sich um sie. Es ging ihn etwas an. Sie hatte nichts vergessen - das kleine, schäbige Büro, das sie geteilt hatten, und wie hilfreich er ihr gewesen war. Ein Freund von mir, ein Rechtsanwalt, bekniet mich die ganze Zeit, damit ich einige Vorladungen für ihn zustelle, aber ich habe keine Zeit. Er zahlt zwölf Dollar fünfzig für jede Vorladung, plus Kilometergeld. Würden Sie das für mich tun? »Ken, laß uns dieses Thema vergessen.« Seine Stimme war voll kalter Wut.

»Warum? Jeder andere spricht darüber. Man sagt, du seist Morettis Freundin.« Sein Gesicht war blaß. »Mein Gott!«

»Mein Privatleben...«

»Er lebt in einer Kloake, und du hast die Kloake in unser Büro gebracht. Du hast uns alle für Moretti und seine Gangster arbeiten lassen.«

»Hör auf!«

»Das werde ich auch tun. Deswegen bin ich hier. Ich gehe.« Seine Worte trafen Jennifer wie ein Faustschlag. »Das kannst du nicht tun. Du hast eine falsche Meinung von Michael. Wenn du ihn kennen würdest, müßtest du...« Im gleichen Augenblick wußte Jennifer, daß sie einen Fehler begangen hatte.

Ken blickte sie traurig an und sagte: »Er hat dich wirklich eingewickelt, was? Es gab eine Zeit, da wußtest du, wer du warst. Das ist das Mädchen, das ich in Erinnerung behalten möchte. Sag Joshua in meinem Namen auf Wiedersehen.« Und Ken Bailey war verschwunden.

Jennifer spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, und ihre Kehle zog sich zusammen, so daß sie kaum atmen konnte. Sie legte den Kopf auf den Tisch und schloß die Augen, um den Schmerz zu verbannen.

Als sie die Augen wieder öffnete, war die Nacht hereingebrochen. Das Büro lag im Dunkeln, abgesehen von dem unheimlichen roten Glühen der Lichter der Stadt vor dem Fenster. Jennifer ging ans Fenster. Die Stadt sah aus wie ein Dschungel bei Nacht, kaum erhellt von einem verlöschenden Lagerfeuer, das die herankriechenden Schrecken fernhalten sollte. Es war Michaels Dschungel, und kein Weg führte heraus.

43

Der mit lärmenden, singenden Delegierten aus dem ganzen Land gefüllte Cow Palace in San Francisco erinnerte an ein Irrenhaus. Drei Kandidaten wetteiferten um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten, und jeder hatte sich in den Vorwahlen gut geschlagen. Aber der Star, der alle anderen übertraf, war Adam Warner. Im fünften Durchgang war er einstimmig nominiert worden. Seine Partei hatte endlich einen Kandidaten, auf den sie stolz sein konnte. Der amtierende Präsident und Führer der Oppositionspartei hatte den Tiefpunkt seiner Glaubwürdigkeit erreicht und wurde von der Mehrheit des Volkes abgelehnt.

»Falls du nicht gerade in den Abendnachrichten deinen Schwanz rausholst und die Kamera anpinkelst«, meinte Stewart Needham zu Adam, »wirst du der nächste Präsident der Vereinigten Staaten sein.«

Nach der Nominierung flog Adam nach New York, um sich im Regency Hotel mit Needham und verschiedenen einflußreichen Mitgliedern der Partei zu treffen. Ebenfalls anwesend war ein Mann namens Blair Roman, Chef der zweitgrößten Werbeagentur des Landes. Stewart Needham sagte: »Blair wird für die Öffentlichkeitsarbeit während deines Wahlkampfes verantwortlich sein, Adam.«

»Kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, an Bord zu sein«, grinste Blair Roman. »Sie werden mein dritter Präsident.«

»Wirklich?« Adam war nicht sonderlich beeindruckt von Roman.

»Lassen Sie mich einen kurzen Überblick über die Spielregeln geben.« Blair Roman begann im Raum auf und ab zu marschieren, wobei er einen imaginären Golfstock schwang. »Wir werden das Land mit Fernsehspots überschwemmen und von Ihnen das Image des Mannes aufbauen, der Amerikas Probleme lösen kann. Big Daddy - allerdings ein junger, gutaussehender Big Daddy. Mitgekommen, Mr. President?«

»Mr. Roman...« »Ja.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich nicht Mr. President zu nennen?«

Blair Roman lachte. »Entschuldigung. Kleiner Ausrutscher, A. W. Ich sehe Sie schon jetzt im Weißen Haus. Glauben Sie mir, ich weiß, Sie sind der Richtige für den Job, sonst würde ich bei dieser Kampagne gar nicht mitmachen. Ich bin zu reich, um für Geld zu arbeiten.«

Achtung vor Leuten, die behaupten, zu reich zu sein, um für Geld zu arbeiten, dachte Adam.

»Wir wissen, daß Sie der Richtige für den Job sind, nun müssen wir es nur noch dem Volk beibringen. Wenn Sie bitte einmal einen Blick auf die Tabellen werfen, die ich vorbereitet habe, so werden Sie feststellen, daß ich das Land in verschiedene ethnische Territorien aufgeteilt habe. Wir schicken Sie an die Schlüsselplätze, wo Sie auf die Tränendrüsen drücken können.«

Er beugte sich vor und sagte Adam ernsthaft ins Gesicht: »Ihre Frau ist dabei ein großer Aktivposten. Die Frauenzeitschriften werden verrückt nach Material über Ihr Familienleben sein. Wir werden Sie vermarkten, A. W.« Adam fühlte, wie er langsam gereizt wurde. »Und wie stellen Sie sich das vor?«

»Ganz einfach. Sie sind ein Produkt, A. W. Wir werden Sie verkaufen wie jedes andere Produkt. Wir...« Adam wandte sich an Stewart Needham. »Stewart, könnte ich dich einen Moment allein sprechen?«

»Sicher.« Needham blickte die anderen an und sagte: »Wir legen eine Pause zum Abendessen ein. Um neun Uhr treffen wir uns wieder hier. Wir reden dann weiter.« Als die beiden Männer allein waren, sagte Adam: »Jesus, Stewart! Dieser Mann macht einen Zirkus aus der Sache. ›Sie sind ein Produkt, A. W. Wir werden Sie verkaufen wie jedes andere Produkt.‹ Er widert mich an.«

»Ich weiß, wie du dich fühlst, Adam«, sagte Stewart Needham beschwichtigend, »aber Blair erzielt Erfolge. Als er sagte, du seist sein dritter Präsident, hat er keinen Witz gemacht. Jeder Präsident seit Eisenhower hat seine Kampagne von einem Werbebüro steuern lassen. Ob es dir gefällt oder nicht, ein Wahlkampf muß verkauft werden. Blair Roman kennt die Psychologie der Massen. So geschmacklos es sein mag, die Wirklichkeit ist, daß du verkauft, vermarktet werden mußt, wenn du in ein öffentliches Amt gewählt werden willst.«

»Ich hasse das.«

»Es ist ein Teil des Preises, den du bezahlen mußt.« Er trat zu Adam und legte ihm einen Arm um die Schulter. »Du darfst nie das Ziel aus den Augen verlieren. Du willst das Weiße Haus? Einverstanden. Wir tun alles, was wir können, um dich hineinzubringen. Aber du mußt auch etwas dazu beitragen. Und wenn es unumgänglich ist, mußt du als Clown in einem Zirkus auftreten.«

»Brauchen wir diesen Blair Roman wirklich?«

»Wir brauchen einen Blair Roman. Blair ist der Beste, den wir kriegen können. Laß mich das machen, Adam. Ich halte ihn so weit wie möglich von dir fern.«

»Das wüßte ich sehr zu schätzen.«

Die Kampagne begann. Am Anfang standen ein paar TV-Spots und persönliche Auftritte, aber nach und nach wurde das ganze Land umspannt. Wohin man auch ging, Senator Adam Warner war bereits in Farbe und Breitwand da. In jedem Bundesstaat konnte man ihn im Fernsehen sehen, im Radio hören oder an Plakatwänden bewundern. Gesetz und Ordnung waren eines der Hauptanliegen der Kampagne, und Adams Ausschuß zur Untersuchung des organisierten Verbrechens wurde stark in Anspruch genommen. Adam nahm Fernsehspots von sechzig Sekunden, drei und fünf Minuten Länge auf, die für verschiedene Teile des Landes bestimmt waren. Die für West Virginia produzierten Spots hatten die Arbeitslosigkeit und die großen unterirdischen Kohlevorkommen zum Inhalt, die das Land wohlhabend machen könnten; für Detroit wurden Kommentare über die Zerstörung der Städte ausgewählt; in New York war das Thema die steigende Kriminalität.

Blair Roman vertraute Adam an: »Sie brauchen die wunden Punkte nur zu berühren. Sie müssen die Schlüsselthemen gar nicht ausführlich diskutieren. Wir verkaufen das Produkt, und das sind Sie.«

Adam erwiderte: »Mr. Roman, es interessiert mich nicht, was Ihre verdammten Statistiken sagen. Ich bin keine Erdnußbutter, und ich möchte auch nicht so verkauft werden. Ich werde ausführlich über diese Dinge reden, weil ich das amerikanische Volk für intelligent genug halte, daß es mehr darüber hören will.«

»Ich wollte nur...«

»Ich möchte, daß Sie versuchen, eine Diskussion zwischen mir und dem Präsidenten zu arrangieren.« Blair Roman sagte: »Gut. Ich werde mich sofort mit den Jungs des Präsidenten in Verbindung setzen, A. W.«

»Noch etwas«, sagte Adam. »Ja? Was?«

»Hören Sie auf, mich A. W. zu nennen.«

44

Bei der Post war eine Einladung der Amerikanischen Anwaltsvereinigung zu ihrem jährlichen Konvent in Acapulco. Jennifer steckte mitten in einem halben Dutzend Fälle, und normalerweise hätte sie die Einladung ignoriert, aber der Konvent fand während Joshuas Ferien statt, und sie dachte, daß Joshua Acapulco bestimmt gefallen würde.

Sie trug Cynthia auf: »Sagen Sie zu. Ich will drei Reservierungen.«

Sie würde Mrs. Mackey mitnehmen.

Beim Abendessen teilte sie Joshua die Neuigkeiten mit. »Wie würde es dir gefallen, nach Acapulco zu fahren?«

»Das ist in Mexiko«, verkündete er. »An der Westküste.«

»Genau.«

»Können wir an einen Oben-ohne-Strand gehen?«

»Joshua!«

»Wieso, da gibt es so was. Nacktsein ist nur normal.«

»Ich überlege es mir.«

»Und Hochseefischen?«

Jennifer stellte sich vor, wie Joshua einen riesigen Marlin über Bord zu ziehen versuchte, und unterdrückte ein Lächeln. »Wir werden sehen. Einige dieser Fische werden ziemlich groß.«

»Das macht es ja gerade so aufregend«, erklärte Joshua ernsthaft. »Wenn es einfach ist, bereitet es keinen Spaß. Es ist nicht sehr sportlich.« Genauso hätte Adam geredet. »Ich bin ganz deiner Meinung.«

»Was können wir da noch machen?«

»Nun, wir können reiten, wandern, die Gegend besichtigen...«

»Bloß keinen Haufen alter Kirchen, ja? Sie sehen alle gleich aus.«

Adam hatte gesagt: Wenn man eine Kirche gesehen hat, kennt man alle.

Der Kongreß begann an einem Montag. Jennifer, Joshua und Mrs. Mackey flogen am Freitagmorgen nach Acapulco. Joshua war schon oft geflogen, aber Flugzeuge faszinierten ihn immer noch. Mrs. Mackey war vor Furcht wie versteinert. Joshua beruhigte sie. »Betrachten Sie es einfach so: Selbst wenn wir abstürzen, tut es nur eine Sekunde weh.« Mrs. Mackey wurde bleich.

Das Flugzeug landete um vier Uhr nachmittags in Acapulco, und eine Stunde später kamen die drei in Las Brisas an. Das Hotel lag acht Meilen von Acapulco entfernt und bestand aus einer Reihe schöner rosa Bungalows auf einem Hügel, und jeder hatte seine eigene Terrasse. Jennifers Bungalow verfügte wie einige der anderen über einen privaten Swimmingpool. Die Reservierung war etwas schwierig gewesen, weil Acapulco wegen des Konvents überfüllt war, aber Jennifer hatte einen ihrer einflußreichen Mandanten angerufen und erhielt eine Stunde später die Nachricht, daß Las Brisas sie ungeduldig erwarte.

Als sie ausgepackt hatten, fragte Joshua: »Können wir in die Stadt gehen und die Leute reden hören? Ich war noch nie in einem Land, wo niemand Englisch spricht.« Er dachte einen Moment nach und fügte hinzu: »Abgesehen von England.«

Sie gingen in die Stadt und flanierten durch den Zocalo, das hektische Zentrum des Ortes, aber zu Joshuas Enttäuschung hörten sie nichts als Englisch, denn die Stadt war von amerikanischen Touristen überflutet.

Sie wanderten über den farbenprächtigen Markt gegenüber von Sanborn's in der Altstadt, wo an Hunderten von Ständen eine verwirrende Vielfalt von Waren verkauft wurde. Am späten Nachmittag nahmen sie eine calandria, eine Pferdekutsche, nach Pie de la Cuesta, dem Strand des Sonnenuntergangs, und kehrten danach in die Stadt zurück.

Sie aßen in Armando's Le Club zu Abend. Die Speisen waren hervorragend.

»Ich liebe mexikanisches Essen«, erklärte Joshua. »Das freut mich«, sagte Jennifer. »Bloß ist dies hier französisch.«

»Na gut, aber es hat einen mexikanischen Geschmack.«

Der Samstag war vom Morgen bis Abend ausgefüllt. Am Vormittag gingen sie an der Quebrada einkaufen, wo die schöneren Geschäfte lagen, und anschließend nahmen sie ein mexikanisches Mittagessen im Coyuca 22 ein, und Joshua sagte: »Ich vermute, du willst mir erzählen, dies ist auch französisch, oder?«

»Nein, dies ist original mexikanisch, Gringo.« »Was ist ein Gringo?« »Du bist einer, Amigo.«

Als Jennifer vorschlug, ins Hotel zurückzugehen, fragte Joshua: »Können wir nicht vorher noch die Felsenspringer anschauen?«

Der Geschäftsführer des Hotels hatte sie am Morgen erwähnt.

»Bist du sicher, daß du dich nicht ausruhen möchtest, Joshua?«

»Ach so, wenn du müde bist, sicher. Ich vergesse immer, wie alt du schon bist.«

»Vergiß mein Alter«, sagte Jennifer. Sie wandte sich an Mrs. Mackey. »Sind Sie dabei?«

»Klar«, stöhnte Mrs. Mackey.

Die Vorstellung fand bei den Klippen von La Quebrada statt. Jennifer, Joshua und Mrs. Mackey standen auf einer Aussichtsplattform, während sich die Springer mit brennenden Fackeln fünfzig Meter tief in eine schmale Felsenbucht warfen, wobei sie ihren Sprung genau auf die anrollenden Brecher abstimmten. Der kleinste Fehler in der Berechnung hätte ihren sofortigen Tod bedeutet.

Als die Vorstellung vorbei war, ging ein Junge herum und sammelte für die Springer. »Un peso, por favor.« Jennifer gab ihm fünf Pesos. In dieser Nacht träumte sie von den Felsenspringern.

Las Brisas hatte seinen eigenen Strand, La Concha, und früh am Sonntagmorgen fuhren Jennifer, Joshua und Mrs. Mackey in einem der rosafarbenen, mit Baldachinen überdeckten Jeeps, die das Hotel seinen Gästen zur Verfügung stellte, hinunter zum Meer. Das Wetter war vollkommen. Der Hafen war eine glitzernde blaue Leinwand, besprenkelt mit Segeln und Motorbooten.

Joshua stand am Geländer der Terrasse und beobachtete die vorbeirasenden Wasserskifahrer.

»Wußtest du, daß Wasserski in Acapulco erfunden wurde, Mama?«

»Nein. Wo hast du das gehört?«

»Entweder habe ich es in einem Buch gelesen oder erfunden.«

»Ich tippe auf ›erfunden‹.«

»Soll das heißen, daß ich nicht Wasserski fahren darf?«

»Diese Motorboote sind ziemlich schnell. Hast du keine Angst?«

Joshua blickte zu den Skifahrern hinaus, die über das Wasser flogen. »Dieser Mann hat gesagt, ›Ich schicke dich nach Hause zu Jesus‹. Und dann hat er einen Nagel in meine Hand geschlagen.«

Es war die erste Anspielung, die er auf die schrecklichen Quälen machte, die er durchlitten hatte.

Jennifer kniete nieder und legte ihre Arme um den Jungen. »Wie kommt es, daß du gerade jetzt daran gedacht hast,Joshua?«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Ich schätze, weil Jesus auf dem Wasser gegangen ist und die da draußen auch alle auf dem Wasser gehen.« Er sah den erschreckten Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter. »Entschuldige, Mama. Ich denke nicht oft daran, ehrlich.«

Sie umarmte ihn fest und sagte: »In Ordnung, Liebling. Natürlich kannst du Wasserski fahren. Aber zuerst essen wir zu Mittag.«

Das Restaurant von La Concha hatte schmiedeeiserne Tische mit rosa Decken und rosaweiß gestreifte Sonnenschirme im Freien. Es gab ein Büffet, und der Selbstbedienungstisch war mit einer unglaublichen Auswahl von Speisen bedeckt. Frischer Hummer, Krabben und Lachs wechselten mit kaltem und warmem Fleisch ab, umgeben von Salaten, einer Vielfalt von rohem und gekochtem Gemüse, Käse und Früchten. Ein Extratisch bot eine Reihe frisch zubereiteter Desserts an. Joshua füllte und leerte seinen Teller dreimal, ehe er sich endlich gesättigt zurücklehnte.

»Es ist ein sehr gutes Restaurant«, betonte er, »ganz egal, was für Essen es ist.« Er stand auf. »Ich sehe mich jetzt mal um wegen des Wasserskis.«

Mrs. Mackey hatte ihr Essen kaum berührt. »Fühlen Sie sich nicht gut?« fragte Jennifer. »Sie haben noch keinen Bissen gegessen, seit wir angekommen sind.« Mrs. Mackey beugte sich vor und flüsterte düster: »Ich möchte nicht das Opfer von Montezumas Rache werden.«

»Ich glaube nicht, daß Sie sich an einem Ort wie diesem deswegen Sorgen bereiten müssen.«

»Ich halte nichts von ausländischem Essen«, schnüffelte Mrs. Mackey.

Joshua kam an den Tisch gerannt und sagte: »Ich habe ein Boot bekommen. Können wir jetzt gehen, Mama?«

»Möchtest du nicht noch eine Weile warten?« »Weswegen?«

»Joshua, du wirst wie ein Stein untergehen, nach allem, was du gegessen hast.« »Laß es mich probieren«, bettelte er.

Während Mrs. Mackey am Strand zurückblieb, stiegen Jennifer und Joshua in das Motorboot, und Joshua hatte seine erste Wasserskistunde. Die ersten fünf Minuten fiel er fortwährend um, aber danach zeigte er die Leistung eines geborenen Wasserskifahrers. Bevor der Nachmittag vorbei war, vollführte er Kunststücke auf einem Ski und glitt schließlich sogar ohne Bretter auf den Fersen über das Wasser. Den Rest des Nachmittags verbrachten sie damit, faul im Sand zu liegen oder zu schwimmen.

Auf dem Rückweg nach Las Brisas im Jeep kuschelte sich Joshua an Jennifer und sagte: »Weißt du was, Mama? Ich glaube, heute war wahrscheinlich der schönste Tag meines ganzen Lebens.«

Michaels Bemerkung blitzte in ihr auf: Ich möchte Ihnen sagen, daß dies die schönste Nacht meines Lebens war.

Am Montag stand Jennifer früh auf und zog sich an, um zum Kongreß zu gehen. Sie entschied sich für einen fließenden, langen dunkelgrünen Rock und eine schulterfreie, mit großen roten Rosen bestickte Bluse, die ihre Sonnenbräune sehen ließ. Sie musterte sich im Spiegel und war zufrieden. Trotz der Tatsache, daß Joshua sie bereits für jenseits von Gut und Böse hielt, wirkte sie eigentlich eher wie seine schöne, vierunddreißig Jahre alte Schwester. Sie lachte über sich und dachte, daß dieser Urlaub eine gute Idee gewesen war. Mrs. Mackey trug sie auf, sich um Joshua zu kümmern, während sie arbeitete, und ihn nicht zu lange in die Sonne zu lassen.

Der riesige Kongreßkomplex bestand aus einer Gruppe von fünf Gebäuden, die durch überdachte Terrassen miteinander verbunden waren. Er erhob sich auf einer leuchtenden Grünanlage von über fünfunddreißig Morgen, deren gepflegte Rasenflächen mit präkolumbianischen Statuen geschmückt waren. Der Konvent des Anwaltsvereins wurde im Teotihuacan, der Haupthalle, abgehalten, die rund siebentausendfünfhundert Menschen faßte.

Jennifer ging zur Rezeptionstheke, trug sich ein und betrat die riesige Halle. In der Menge erblickte sie Dutzende von Freunden und Bekannten. Fast alle hatten sich statt konservativer Geschäftsanzüge für bunte Freizeithemden und Hosen entschieden, so daß es wirkte, als verbringe hier jeder seinen Urlaub.

Jennifer hatte an der Tür ein Programm erhalten, aber nicht hineingeschaut, weil sie in ein Gespräch mit Bekannten vertieft gewesen war.

Eine tiefe Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Achtung, bitte! Würden S ie sich bitte alle hinsetzen? Achtung, bitte! Wir würden gern anfangen. Würden Sie sich bitte hinsetzen!«

Nur zögernd lösten sich die kleinen Gruppen auf, als die einzelnen Teilnehmer ihre Sitze suchten. Jennifer blickte auf und sah, daß ein halbes Dutzend Männer auf das Podium gestiegen waren. In der Mitte war Adam Warner. Jennifer stand wie erstarrt, als Adam zu dem Stuhl am Mikrofon ging und sich hinsetzte. Ihr Herz schlug wild. Sie hatte Adam das letzte Mal in dem kleinen italienischen Restaurant gesehen, an dem Tag, an dem er ihr gesagt hatte, daß Mary Beth schwanger war.

Ihr erster Impuls war, zu fliehen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß Adam hier sein würde, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm plötzlich gegenüberzustehen. Daß Adam und sein Sohn in derselben Stadt waren, erfüllte sie mit Panik. Sie wußte, daß sie die Halle schnell verlassen mußte. Sie wollte sich gerade umdrehen, als der Vorsitzende über den Lautsprecher verkündete: »Wenn sich auch die letzten von Ihnen noch setzen könnten, wären wir soweit.« Alle anderen hatten sich hingesetzt, nur Jennifer stand noch. Um nicht aufzufallen, glitt sie in einen Sitz, fest entschlossen, bei der ersten Gelegenheit hinauszuschlüpfen. Der Vorsitzende sagte: »Wir fühlen uns geehrt, als Gastredner heute einen Kandidaten für das Präsidentenamt der Vereinigten Staaten unter uns zu haben. Er ist Mitglied der New Yorker Anwaltskammer und einer der profiliertesten Männer im amerikanischen Senat. Meine Damen und Herren, ich bin stolz, Ihnen unseren prominenten Gast vorstellen zu dürfen: Senator Adam Warner!

Adam Warner stand auf, von warmem Applaus begrüßt, trat ans Mikrofon und ließ seine Augen über das Auditorium schweifen. »Danke, meine Damen und Herren.«

Adams Stimme war voll und kräftig. Eine hypnotisierende Aura von Autorität umgab ihn. Die Stille in der Halle war vollkommen.

»Es gibt eine Vielzahl von Gründen, aus denen wir heute hier versammelt sind.« Adam machte eine Pause. »Einige von uns schwimmen gern, andere tauchen lieber...« Eine Welle anerkennenden Gelächters rollte zum Rednerpult vor. »Aber der Hauptgrund für unsere Anwesenheit liegt im Austausch von Ideen, Erfahrungen und neuen Vorstellungen. Rechtsanwälte sind heute mehr Angriffen ausgesetzt als zu irgendeiner Zeit, an die ich mich erinnern könnte. Sogar der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes hat unseren Berufsstand scharf kritisiert.«

Jennifer war begeistert davon, wie er sich durch das kleine Wort uns zu einem Teil der im Saal versammelten Männer und Frauen machte. Sie ließ seine Worte an sich vorbeirauschen, zufrieden, ihn nur ansehen, seine Stimme, seine Bewegungen wahrnehmen zu können. An einer Stelle hielt er inne und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, und Jennifer fühlte einen Stich. Genauso fuhr sich Joshua oft durch das Haar. Adams Sohn war nur wenige Meilen entfernt, und Adam würde es nie erfahren.

Seine Stimme schwoll an. »Einige von Ihnen sind Strafverteidiger. Ich muß gestehen, daß ich diesen Zweig immer als den aufregendsten unseres Berufsstandes betrachtet habe. Strafverteidiger haben es nicht selten mit Leben und Tod zu tun. Es ist ein sehr ehrenwerter Beruf, auf den wir alle stolz sein können. Allerdings...«, seine Stimme wurde hart, »... sind einige von ihnen auch eine Schande für den Eid, den sie geleistet haben.« Jennifer bemerkte, daß Adam sich jetzt distanzierte, indem er sie statt uns sagte. »Das amerikanische System der Rechtsprechung basiert auf dem Recht eines jeden Bürgers auf einen fairen Prozeß. Aber wenn man sich über das Gesetz lustig macht, wenn Anwälte ihre Zeit und Energie, ihre Phantasie und ihr Talent darauf verschwenden, dieses Recht herauszufordern und die Gerechtigkeit zu pervertieren, dann ist es an der Zeit, daß etwas getan wird.« Jedes Gesicht im Raum war nach vorn gerichtet, wo Adam mit flammenden Augen seine Rede hielt. »Meine Damen und Herren, ich spreche aus persönlicher Erfahrung und aus tiefer Sorge über einiges, was um mich herum passiert. Gegenwärtig führe ich den Vorsitz in einem Senatsausschuß zur Untersuchung des organisierten Verbrechens in den Vereinigten Staaten. Mein Komitee ist immer wieder enttäuscht und frustriert worden von diesen Menschen, die sich für mächtiger halten als die höchste unserer Behörden. Ich habe bestochene Richter gesehen, habe die Angst in den Gesichtern der Familien von Zeugen bemerkt und miterlebt, wie Schlüsselzeugen plötzlich verschwunden sind. Das organisierte Verbrechen in unserem Land ist wie eine tödliche Python, die unsere Wirtschaft erwürgt, unsere Gerichte verschlingt und unser aller Leben bedroht. Die große Mehrheit aller Anwälte sind ehrliche Männer und Frauen, die ihre Arbeit auf anständige Weise erledigen. Aber ich warne diejenigen, die glauben, ihr Recht sei besser als unser Recht. Sie begehen einen schweren Fehler, und Sie werden für diesen Fehler bezahlen.

Danke.« Als Adam sich setzte, brach tobender Applaus los, der sich zu einer stehenden Ovation steigerte. Jennifer sprang mit den anderen auf und klatschte, aber die letzten Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Es war, als hätte Adam sie ganz persönlich angesprochen. Jennifer wandte sich um und drängte sich durch die Menge zum Ausgang.

Als sie die Tür fast erreicht hatte, wurde sie von einem mexikanischen Kollegen begrüßt, mit dem sie vor einem Jahr zusammengearbeitet hatte. Galant küßte er ihr die Hand und sagte: »Welch eine Ehre, Sie wieder einmal in unserem Land zu haben, Jennifer. «Ich bestehe darauf, daß Sie heute abend mit mir essen.«

Jennifer und Joshua wollten an diesem Abend ins Maria Elena gehen, um sich die einheimischen Tänzer anzusehen. »Es tut mir leid, Luis. Ich bin schon verabredet.« Seine großen, feuchten Augen zeigten seine Enttäuschung. »Dann morgen?«

Bevor Jennifer antworten konnte, war ein Staatsanwalt aus New York an ihrer Seite.

»Hallo Sie«, sagte er. »Wieso treiben Sie sich mit dem einfachen Volk herum? Wie wär's, wenn Sie heute mit mir zu Abend essen würden? Ich kenne eine mexikanische Disco namens Nepentha mit einem von unten beleuchteten Glasboden und einem Spiegel an der Decke.«

»Klingt faszinierend, danke. Aber ich habe schon etwas vor.« Wenige Augenblicke später fand sie sich umgeben von Anwälten aus dem ganzen Land, mit denen und gegen die sie im Lauf der Zeit gearbeitet hatte. Sie war eine Berühmtheit, und jeder wollte mit ihr sprechen. Es dauerte eine halbe Stunde, ehe sie sich freimachen konnte. Sie eilte durch die Lobby, und als sie auf einen der Ausgänge zuging, sah sie plötzlich, wie Adam sich inmitten eines Pulks von Journalisten und Sicherheitsbeamten auf sie zubewegte. Sie versuchte, sich zurückzuziehen, aber es war zu spät. Adam hatte sie entdeckt.

»Jennifer!«

Für einen Moment erwog sie, so zu tun, als hätte sie ihn nicht gehört, aber sie konnte ihn nicht vor allen anderen in Verlegenheit bringen. Sie würde ihn kurz begrüßen und dann schnell wieder verschwinden.

Sie sah Adam auf sich zukommen, hörte, wie er die Presse abwimmelte. »Mehr habe ich nicht zu sagen, meine Damen und Herren.«

Einen Herzschlag später berührte er ihre Hand, blickte ihr in die Augen, und es war, als hätten sie sich nie getrennt. Sie standen in der Lobby, umgeben von all den Menschen, und dennoch waren sie völlig allein.

Endlich sagte Adam: »Ich glaube, wir brauchen einen Drink.«

»Ich glaube, wir sollten darauf verzichten.« Sie mußte weg von diesem Ort.

Adam schüttelte den Kopf. »Abgelehnt.« Er nahm ihren Arm und führte sie in die überfüllte Bar. Sie fanden einen Tisch ganz hinten im Raum. »Ich habe dir geschrieben und versucht, dich anzurufen«, sagte Adam. »Du hast nie reagiert.«

Seine Augen standen voller Fragen. »Es gab nicht einen Tag in der Vergangenheit, an dem ich nicht an dich gedacht habe. Warum bist du verschwunden?«

»Es gehörte zu meinem Zaubertrick«, sagte Jennifer leichthin. Ein Kellner nahm ihre Bestellung auf. »Was möchtest du haben?« fragte Adam.

»Nichts. Ich muß wirklich gehe n, Adam.«

»Du kannst jetzt nicht gehen. Dies ist ein Anlaß zum Feiern. Der Jahrestag der Revolution.«

»Ihrer oder unserer?«

»Wo liegt der Unterschied?« Er wandte sich an den Kellner. »Zwei Margaritas.« »Nein, ich...« Na gut, dachte sie, einen Drink. »Einen doppelten für mich«, sagte sie tollkühn. Der Kellner nickte und verschwand.

»Ich habe viel über dich gelesen«, sagte Jennifer. »Ich bin stolz auf dich, Adam.«

»Danke.« Adam zögerte. »Ich habe auch über dich gelesen.« Jennifer ging auf den Ton in seiner Stimme ein. »Aber du bist nicht stolz auf mich.«

»Du scheinst eine Menge Mandanten aus dem Syndikat zu haben.«

Jennifer nahm eine abwehrende Haltung ein. »Ich dachte, dein Vortrag wäre zu Ende.«

»Dies ist kein Vortrag, Jennifer. Ich mache mir Sorgen um dich. Mein Ausschuß ist hinter Michael Moretti her, und wir werden ihn kriegen.«

Jennifer blickte sich um. »Um Himmels willen, Adam, wir sollten uns nicht über dieses Thema unterhalten, schon gar nicht hier.«

»Wo dann?«

»Nirgendwo. Michael Moretti ist mein Mandant. Ich kann nicht mit dir über ihn sprechen.«

»Ich will mit dir reden. Wo?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dir gesagt, ich...«

»Ich muß über uns mit dir reden.«

»Es gibt kein ›uns‹ mehr.« Jennifer wollte aufstehen. Adam legte seine Hand auf ihren Arm. »Bitte, geh nicht. Ich kann dich nicht gehen lassen. Nicht jetzt.« Zögernd setzte Jennifer sich wieder.

Adams Augen hingen an ihrem Gesicht. »Denkst du jemals an mich?«

Jennifer blickte ihn an und wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ob sie je an ihn dachte? Er lebte bei ihr zu Hause!

Sie gab ihm jeden Tag einen Gutenmorgenkuß, bereitete ihm das Frühstück, ging mit ihm segeln, liebte ihn. »Ja«, sagte Jennifer schließlich. »Ich denke an dich.«

»Das freut mich. Bist du glücklich?«

»Natürlich.« Sie wußte, daß sie zu schnell geantwortet hatte. Sie ließ ihre Stimme beiläufiger klingen. »Ich habe eine erfolgreiche Kanzlei, ich verdiene viel Geld, ich reise oft und treffe mich mit einer Menge attraktiver Männer. Wie geht es deiner Frau?«

»Gut, danke.« Seine Stimme klang düster. »Und deine Tochter?«

Er nickte mit stolzem Gesicht. »Samantha ist ein prächtiges Kind. Sie wird nur zu schnell größer.« Sie muß in Joshuas Alter sein. »Du hast nie geheiratet?«

»Nein.«

Eine lange Pause entstand, und Jennifer versuchte, fortzufahren, aber sie hatte zu lange gezögert. Es war zu spät. Adam hatte ihr in die Augen geblickt und sofort Bescheid gewußt. Er umfaßte ihre Hand. »Oh, Jennifer. Oh, mein Liebling!« Jennifer fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Sie hatte die ganze Zeit gewußt, daß es ein Fehler sein würde. »Ich muß gehen, Adam. Ich habe eine Verabredung.«

»Laß sie sausen«, drängte er sie.

»Es tut mir leid. Das kann ich nicht.« Sie wollte nur noch hier heraus, ihren Sohn von diesem Ort wegbringen, nach Hause fliehen.

Adam sagte: »Eigentlich sollte ich heute nachmittag ein Flugzeug nach Washington nehmen. Ich könnte bis morgen bleiben, wenn du mich heute abend sehen willst.«

»Nein. Nein!«

»Jennifer, ich kann dich nicht noch einmal gehen lassen. Nicht so. Wir müssen miteinander reden. Iß wenigstens mit mir zu Abend.«

Er hielt ihre Hand fest. Sie sah ihn an und wehrte sich mit aller Kraft gegen ihn, aber sie spürte sich schwächer werden. »Bitte, Adam«, sagte sie. »Wir sollten nicht zusammen gesehen werden. Wenn du hinter Michael Moretti her...«

»Das hier hat nichts mit Moretti zu tun. Ein Freund hat mir sein Boot angeboten. Es heißt Paloma Bianca. Es liegt im Yachtclub vor Anker. Acht Uhr.«

»Ich werde nicht kommen.«

»Ich schon. Ich werde auf dich warten.«

Auf der anderen Seite des Raums saß Nick Vito mit zwei mexikanischen putanas, die ihm ein Freund verschafft hatte, an der überfüllten Bar. Beide Mädchen waren hübsch, dumm und minderjährig, genau wie Nick Vito sie mochte. Sein Freund hatte ihm etwas Besonderes versprochen, und er hatte Wort gehalten. Sie preßten sich an ihn und flüsterten erregende Versprechungen in sein Ohr, aber er hörte nicht zu. Er starrte zu dem Tisch hinüber, an dem Jennifer Parker und Adam Warner saßen.

»Warum gehen wir nicht jetzt in dein Zimmer hinauf, Querido?« fragte eins der Mädchen Nick Vito. Nick Vito war versucht, zu Jennifer und dem Fremden zu gehen und sie zu begrüßen, aber die beiden Mädchen hatten ihre Hände zwischen seinen Beinen und streichelten ihn. Es würde einen verdammt flotten Dreier geben. »Gut, gehen wir hoch«, sagte Nick Vito.

45

Die Paloma Bianca war ein Motorsegler. Stolz und weiß leuchtete sie im Mondschein. Jennifer näherte sich ihr vorsichtig. Sie blickte immer wieder über die Schulter, um sicherzugehen, daß niemand sie beobachtete. Adam hatte ihr gesagt, er würde den Sicherheitsbeamten entwischen, und offensichtlich hatte er Erfolg gehabt. Nachdem Jennifer Joshua und Mrs. Mackey beim Maria Elena abgesetzt hatte, war sie in ein Taxi gestiegen und hatte den Fahrer zwei Blocks vom Pier entfernt halten lassen.

Im Lauf des Nachmittags hatte sie wiederholt den Hörer abgehoben, um Adam anzurufen und ihm abzusagen. Sie hatte einen Brief begonnen, dann aber wieder zerrissen. Seit sie Adam in der Bar verlassen hatte, durchlitt sie den brennenden Schmerz der Entschlußlosigkeit. Sie hatte sich alle möglichen Gründe überlegt, warum sie Adam nicht sehen konnte. Ein Treffen würde nichts Positives bewirken, konnte aber ungeheuer viel Schaden bringen. Es konnte Adams Karriere aufs Spiel setzen. Er stand auf dem Höhepunkt seiner Popularität, ein Idealist in einer zynischen Zeit, die Hoffnung des Landes für die Zukunft. Er war der Liebling der Medien, aber dieselben Leute, die mitgeholfen hatten, ihn aufzubauen, würden ihn nur zu gern wieder in den Abgrund stoßen, wenn er ihr Bild von sich zerstörte. Also hatte Jennifer beschlossen, ihn nicht zu sehen. Sie war eine andere Frau geworden, lebte ein anderes Leben und gehörte jetzt zu Michael Moretti...

Adam erwartete sie am anderen Ende des Landungsstegs. »Ich hatte solche Angst, du würdest nicht kommen«, sagte er.. Sie lag in seinen Armen, und sie küßten sich. »Was ist mit der Mannschaft, Adam?« fragte sie endlich. »Ich habe sie weggeschickt. Weißt du noch, wie man segelt?«

»Ich habe es nicht vergessen.«

Sie hißten die Segel, und zehn Minuten später durchschnitt die Paloma Bianca das Hafenwasser in Richtung auf die offene See. Die erste halbe Stunde waren sie mit der Navigation beschäftigt, aber es gab nicht eine Sekunde, in der sich jeder vo n ihnen nicht voll der Gegenwart des anderen bewußt gewesen wäre. Die Spannung stieg ununterbrochen, und beide wußten, was unausweichlich kommen mußte. Als sie den Hafen endlich verlassen hatten und auf den vom Mond mit silbrigem Glanz überzogenen Pazifik segelten, stellte sich Adam neben Jennifer und legte den Arm um sie. Sie liebten sich auf dem Deck unter den Sternen, und eine sanfte, aromatische Brise kühlte ihre nackten Körper. Die Vergangenheit und die Zukunft waren ausgelöscht, allein die Gegenwart umfing sie, hielt sie in kurzen, flüchtigen Momenten zusammen. Jennifer wußte, daß diese Nacht in Adams Armen kein Anfang, sondern ein Ende war. Keine Brücke führte über die Kluft zwischen den Welten, die sie trennten. Sie hatten sich zu weit voneinander entfernt, und es gab keinen Weg zurück. Weder jetzt noch jemals sonst. Sie würde in Joshua immer einen Teil von Adam haben, und das würde ihr genügen. Hatte ihr zu genügen.

Diese Nacht mußte für den Rest ihres Lebens vorhalten. Sie lagen zusammen auf dem Deck und lauschten dem Flüstern der See am Bootskörper. Adam sagte: »Morgen...«

»Sag nichts«, flüsterte Jennifer. »Liebe mich, das genügt, Adam.«

Sie bedeckte seine Lippen mit kleinen Küssen und ließ ihre Finger zärtlich über seinen starken, schlanken Körper gleiten.

Sie bewegte ihre Hand in kleinen Kreisen abwärts, bis sie ihn fand und zu streicheln begann.

»O Gott, Jennifer«, flüsterte Adam, und sein Mund glitt langsam an ihrem nackten Körper hinab.

46

»Dieser Arschficker starrte mich weiter mit seinem malocchio an, mit seinem bösen Blick«, sagte der kleine Salvatore Fiore, »so daß ich ihm schließlich eins aufbrennen mußte.« Nick Vito lachte, denn jeder, der so dumm war, sich mit der Pusteblume anzulegen, verdiente, was ihm geschah. Nick Vito vertrieb sich die Zeit in der Küche des Farmhauses mit Salvatore Fiore und Joseph Colella. Sie sprachen über alte Zeiten und warteten darauf, daß die Konferenz im Wohnzimmer endete. Der Liliputaner und der Riese waren seine besten Freunde. Sie waren miteinander durchs Feuer gegangen. Nick Vito betrachtete die beiden Männer und dachte glücklich: Für mich sind sie wie Brüder.

»Wie geht es deinem Cousin Pete?« fragte Nick Colella. »Er hatte Krebs, und sie haben ziemlich an ihm herumgeschnippelt, aber er wird es schaffen.«

»Er ist sagenhaft.«

»Ja. Pete ist wirklich ein guter Typ. Er hat nur ein bißchen Pech gehabt. Er war bei einem Banküberfall dabei, hatte aber nicht gerade seinen guten Tag, und die verdammten Cops haben ihn geschnappt und weggesteckt. Das war hart für ihn. S ie versuchten, ihn umzudrehen, aber da waren sie bei ihm an der falschen Adresse.«

»Ja, Pete hat Klasse.«

»Das kann man wohl sagen. Großes Geld, große Weiber und große Autos - das ist sein Stil.«

Aus dem Wohnzimmer drang das Geräusch wütender, lauter Stimmen. Die drei Männer hörten einen Augenblick zu. »Klingt, als hätte Colfax eine Zecke im Hintern.«

Thomas Colfax und Michael Moretti waren allein im Wohnzimmer. Sie diskutierten eine umfangreiche Operation. die das Glücksspiel auf den Bahamas weitgehend in die Hände der Familie bringen sollte. Michael hatte Jennifer damit beauftragt, die geschäftlichen Arrangements zu treffen. »Das kannst du nicht machen, Mike«, protestierte Colfax. »Ich kenne jeden da unten, sie niemanden. Diese Sache kann nur ich übernehmen.« Er wußte, daß er zu laut redete, aber er konnte sich nicht mehr beherrschen. »Zu spät«, sagte Michael.

»Ich traue dem Mädchen nicht. Tony auch nicht.«

»Tony ist nicht mehr unter uns.« Michaels Stimme war gefährlich leise.

Thomas Colfax wußte, daß er jetzt besser zurücksteckte. »Sicher, Mike. Ich sage ja nur, daß ich das Mädchen für einen Fehler halte. Natürlich, sie ist klug, aber ich warne dich, sie könnte uns alle auffliegen lassen.«

Aber Michael machte sich mehr Sorgen wegen Thomas Colfax. Die Untersuchung der Warner-Kommission lief auf vollen Touren. Wenn die Welle Colfax erfaßte, wie lange würde er standhalten können? Er wußte mehr über die Familie, als Jennifer Parker je erfahren konnte. Colfax war es, der sie alle zerstören konnte, und Michael vertraute ihm nicht. Thomas Colfax sagte: »Schick sie für eine Weile weg. Nur, bis die Untersuchung sich etwas abgekühlt hat. Sie ist eine Frau. Wenn sie anfangen, sie unter Druck zu setzen, wird sie reden.« Michael betrachtete ihn und traf eine Entscheidung. »Vielleicht hast du in dem Punkt recht. Jennifer ist vielleicht nicht gefährlich, aber andererseits ist sie nicht hundertprozentig auf unserer Seite. Warum ein unnötiges Risiko eingehen?«

»Mehr wollte ich auch nicht vorschlagen, Mike.« Colfax erhob sich vo n seinem Stuhl. »Glaub mir, du tust das Richtige.«

»Ich weiß.« Michael sah zur Küche hinüber und rief: »Nick!« Eine Sekunde später erschien Nick Vito. »Fahr den consigliere nach New York zurück, Nick, ja?«

»Natürlich, Boß.«

»Ach, bei der Gelegenheit kannst du ein Päckchen für mich abgeben.« Er wandte sich an Colfax. »Das macht dir doch nichts aus?«

»Natürlich nicht, Mike.« Der consigliere war ganz von seinem Sieg in Anspruch genommen.

Michael Moretti sagt zu Vito: »Komm mit es ist oben.«

Nick folgte Michael nach oben in sein Schlafzimmer. Michael schloß die Tür hinter ihnen.

»Ich möchte, daß du einen Halt einlegst, bevor du New Jersey verläßt.«

»Sicher, Boß.«

»Ich möchte, daß du etwas Müll rauswirfst.« Nick Vito blickte verwirrt. »Den consigliere«, erklärte Michael. »Oh. Okay. Was immer du willst.«

»Fahr ihn hinaus zur Müllhalde. Um diese Zeit wird dort niemand sein.«

Eine Viertelstunde später war die Limousine auf dem Weg nach New York. Nick Vito saß am Steuer, Thomas Colfax auf dem Beifahrersitz.

»Ich bin froh, daß Mike diese Nutte auf das Abstellgleis geschoben hat«, sagte Thomas Colfax.

Nick warf einen Seitenblick auf den ahnungslosen Anwalt neben sich. »Ja.«

Thomas Colfax konsultierte seine goldene Armbanduhr von Baume & Mercier. Es war drei Uhr morgens, schon lange Schlafenszeit. Es war ein langer Tag gewesen, und er war müde. Ich werde langsam zu alt für solche Schlachten, dachte er. »Wie weit fahren wir hinaus?«

»Nicht weit«, murmelte Nick.

Nick Vitos Gedanken befanden sich in Aufruhr. Töten war ein Teil seines Jobs, ein Teil, den er genoß, denn es gab ihm ein Gefühl der Macht. Wenn er tötete, fühlte Nick Vito sich wie ein Gott; er war allmächtig. Aber heute nacht war er beunruhigt. Er konnte nicht verstehen, warum er beauftragt worden war, Thomas Colfax auszulöschen. Colfax war der consigliere, der Mann, an den sich alle wandten, wenn es Ärger gab. Nach dem Paten war der consigliere der wichtigste Mann in der Organisation. Er hatte Nick ein dutzendmal aus der Klemme geholfen.

Scheiße! dachte Nick. Colfax hatte recht. Mike hätte niemals eine Frau in Berührung mit den Geschäften bringen sollen. Männer dachten mit dem Verstand, Frauen mit der Fotze. Oh, wie gern er sich einmal mit dieser Jennifer Parker beschäftigt hätte! Er hätte sie gefickt, bis es ihr zum Hals herauskam, und dann...«

»Achtung, du kommst von der Straße ab!« »Entschuldigung.« Nick steuerte den Wagen rasch wieder in die Mitte der Spur.

Die Müllhalde war nicht mehr weit weg. Nick spürte, wie er unter den Armen zu schwitzen begann. Er warf einen weiteren Seitenblick auf Thomas Colfax.

Ihn auszulöschen, würde ein Kinderspiel sein. Nicht schwerer, als ein Baby ins Bett zu bringen, aber, verdammt, es war das falsche Baby. Jemand hatte Mike falsch gepolt. Es war eine Sünde. Es war, als legte man seinen Vater um.

Er wünschte sich, er hätte darüber mit Salvatore und Joe reden können. Sie hätten ihm sagen können, was er tun sollte. Nick konnte die Müllhalde rechts vom Highway auftauchen sehen. Seine Nerven begannen zu vibrieren, wie sie es immer taten, bevor er abdrückte. Er preßte seinen linken Arm gegen seinen Körper und konnte den beruhigenden Druck des kurzläufigen 38er Smith & Wesson unter seiner Achsel fühlen.

»Ich freue mich auf das Bett und einen guten Schlaf«, gähnte Colfax.

»Ja.« Es würde ein langer, langer Schlaf werden. Der Wagen näherte sich der Müllhalde. Nick blickte in den Rückspiegel und auf die Straße vor sich. Weit und breit keine anderen Autos.

Er bremste scharf und sagte: »Verdammter Mist, sieht fast so aus, als hätten wir einen Platten.«

Er ließ den Wagen ausrollen, öffnete die Tür und stieg aus. Er zog den Revolver aus dem Holster und preßte ihn gegen den Oberschenkel. Dann drehte er sich zu Colfax um und fragte: »Können Sie mir helfen?«

Thomas Colfax öffnete seine Tür und sagte: »Ich habe nicht viel Ahnung von...« Er bemerkte den erhobenen Revolver in Nicks Hand und hielt inne. Er versuchte, zu schlucken. »Was -was soll das, Nick?« Seine Stimme brach. »Was habe ich getan?«

Das war genau die Frage, die Nick Vito während der ganzen Fahrt auf den Fingerspitzen gebrannt hatte. Irgend jemand hatte Mike aufs Glatteis geführt. Colfax war auf ihrer Seite, er war einer von ihnen. Als Nicks jüngerer Bruder Ärger mit dem FBI hatte, war es Colfax gewesen, der dazwischen gesprungen war und den Jungen gerettet hatte. Er hatte ihm sogar einen Job verschafft. Ich stehe in seiner Schuld, gottverdammt! dachte Nick.

Er ließ seine Revolverhand sinken.

»Ich schwöre bei Gott, ich weiß es nicht, Mr. Colfax. Es ist nicht recht.«

Thomas Colfax blickte ihn einen Moment lang an und seufzte dann. »Tu, was du tun mußt, Nick.«

»Jesus, ich kann es nicht. Sie sind mein consigliere.«

»Mike wird dich umbringen, wenn du mich laufenläßt.« Nick wußte, daß Colfax die Wahrheit sagte. Michael Moretti ließ einem keinen Ungehorsam durchgehen. Nick dachte an Tommy Angelo. Angelo war Fahrer bei einem Bruch in ein Pelzgeschäft gewesen. Michael hatte ihm aufgetragen, den Wagen, den sie benutzt hatten, zu einem Schrottplatz der Familie zu fahren und dort zerstampfen zu lassen. Tommy Angelo aber war wegen einer Verabredung in Eile gewesen und hatte den Wagen einfach an einer Straße auf der East Side stehengelassen, wo ihn die Untersuchungsbeamten gefunden hatten. Angelo war am nächsten Tag verschwunden, und dem Gerücht nach war sein Körper in dem Kofferraum eines alten Chevy verstaut und dann eingestampft worden. Niemand legte Mike aufs Kreuz und blieb am Leben. Doch, es gibt eine Möglichkeit, dachte Nick.

»Mike braucht es ja nicht zu erfahren«, sagte Nick. Sein gewöhnlich etwas schwerfälliger Verstand arbeitete auf Hochtouren, und er sah alles mit seltener Klarheit. »Schauen Sie«, sagte er, »Sie brauchen bloß aus dem Land zu verschwinden. Ich sage Mike, ich hätte Sie unter dem Müll begraben, also wird man Sie nie finden. Sie können sich irgendwo in Südamerika verstecken. Sie haben doch sicher einen Notgroschen beiseite gesteckt.«

Thomas Colfax versuchte, die plötzliche Hoffnung nicht in seiner Stimme durchklingen zu lassen. »Ich habe eine ganze Menge, Nick. Ich gebe dir soviel wie...« Nick schüttelte leidenschaftlich den Kopf. »Ich tu das nicht für Geld. Ich tu es, weil...« Wie sollte er es ausdrücken?»... weil ich Respekt vor Ihnen habe. Sie müssen mich aber beschützen. Können Sie ein Morgenflugzeug nach Südamerika kriegen?«

Thomas Colfax sagte: »Kein Problem, Nick. Setz mich bei meinem Haus ab, damit ich meinen Paß holen kann.«

Zwei Stunden später saß Thomas Colfax in einem Jet der Eastern Airlines. Der Zielflughafen war Washington, D. C.

47

Es war ihr letzter Tag in Acapulco, ein vollkommener Morgen. Eine warme, sanfte Brise ließ Melodien in den Palmen erklingen. Der Strand war mit Touristen übersät, die gierig Sonne tankten, bevor sie wieder zur blassen Routine des Alltags zurückkehrten.

Joshua kam in der Badehose an den Frühstückstisch gerannt. Sein athletischer kleiner Körper war braungebrannt. Mrs. Mackey versuchte ächzend, mit ihm Schritt zu halten. Joshua sagte: »Ich hatte mehr als genügend Zeit, mein Essen zu verdauen, Mama. Kann ich jetzt Wasserski fahren?«

»Joshua, du hast gerade erst aufgehört zu essen.«

»Ich habe eine sehr hohe Stoffwechselquote«, erklärte er ernsthaft. »Ich verdaue schnell.« Jennifer lachte. »Einverstanden. Viel Spaß.«

»Danke. Du mußt mir aber zuschauen.« Jennifer sah Joshua den Pier entlang zu einem wartenden Rennboot laufen. Sie sah ihn den Fahrer in ein ernstes Gespräch verwickeln, und dann blickten beide zu Jennifer herüber. Sie signalisierte ihre Zustimmung, der Fahrer nickte, und Joshua legte die Wasserski an.

Das Motorboot erwachte zum Leben, und Jennifer beobachtete, wie Joshua sich auf seinen Skiern aufrichtete. Mrs. Mackey sagte stolz: »Er ist der geborene Sportler, nicht?«

In diesem Augenblick drehte Joshua sich um, winkte Jennifer und verlor das Gleichgewicht. Er stürzte gegen die Planken des Stegs. Jennifer sprang auf und rannte auf den Pier zu. Aber einen Augenblick später sah sie Joshuas Kopf aus dem Wasser auftauchen, und er blickte sie grinsend an. Sie blieb stehen. Ihr Herz raste. Sie sah zu, wie Joshua die Ski erneut anlegte. Das Boot zog einen Kreis und gewann allmählich genug Geschwindigkeit, um Joshua auf die Füße zu ziehen. Er drehte sich noch einmal um und winkte Jennifer, dann jagte er auf den Kämmen der Wellen davon. Sie stand da und sah ihm zu, und ihr Herz schlug immer noch heftig vor Angst. Wenn ihm irgend etwas geschah... Sie fragte sich, ob andere Mütter ihre Kinder so sehr liebten, wie sie ihren Sohn liebte, aber das schien nicht sehr wahrscheinlich. Sie wäre für Joshua gestorben, hätte für ihn getötet. Ich habe für ihn getötet, dachte sie, mit Michael Morettis Hand.

Mrs. Mackey sagte: »Das hätte ein häßlicher Sturz werden können.«

»Gott sei Dank war es keiner.«

Joshua war eine Stunde lang draußen auf dem Wasser. Als das Boot sich wieder dem Land näherte, ließ er das Schleppseil los und glitt graziös auf den Sandstrand. Er lief auf Jennifer zu, noch ganz aufgeregt. »Du hättest den Unfall da draußen sehen sollen, Mama. Es war unwahrscheinlich! Ein großes Segelboot ist gekentert, und wir haben angehalten und ihr Leben gerettet.«

»Das ist ja großartig, Sohn. Wie viele Leben hast du gerettet?«

»Sie waren zu sechst.«

»Und du hast sie aus dem Wasser gezogen?« Joshua zögerte. »Na ja, ich habe sie nicht direkt aus dem Wasser gezogen. Sie saßen sozusagen auf der Seite des Boots. Aber sie wären vielleicht verhungert, wenn wir nicht vorbeigekommen wären.«

Jennifer biß sich auf die Lippen, um nicht zu lächeln. »Ich verstehe. Die hatten ganz schön Glück, daß du aufgetaucht bist, was?«

»Das würde ich auch sagen.«

»Hast du dir weh getan, als du gefallen bist, Liebling?«

»Natürlich nicht.« Er betastete seinen Hinterkopf. »Ich habe eine kleine Beule.«

»Laß mich mal fühlen.«

»Warum? Du weißt doch, wie sich eine Beule anfühlt.« Jennifer strich vorsichtig über Joshuas Hinterkopf. Ihre Finger fanden eine große Schwellung. »Das ist so groß wie ein Ei, Joshua.«

»Es ist nichts.«

Jennifer stand auf. »Ich glaube, wir sollten besser ins Hotel zurückgehen.«

»Können wir nicht noch ein Weilchen bleiben?«

»Ich fürchte, nein. Wir müssen packen. Du willst doch das

Ballspiel am Samstag nicht verpassen, oder?« Er seufzte. »Nein.

Old Terry Waters wartet nur darauf, meinen Platz einzunehmen.«

»Keine Chance. Er wirft wie ein Mädchen.« Joshua nickte grinsend. »Ja, findest du auch, nicht?«

Als sie wieder in Las Brisas waren, rief Jennifer den Manager an und bat ihn, einen Arzt auf das Zimmer zu schicken. Der Doktor traf eine halbe Stunde später ein, ein behäbiger Mexikaner mittleren Alters in einem altmodischen weißen Anzug. Jennifer bat ihn in den Bungalow.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte Dr. Raul Mendoza. »Mein Sohn ist heute morgen gestürzt. Er hat eine häßliche Beule am Kopf. Ich möchte nur sichergehen, daß ihm nichts fehlt.«

Jennifer führte Mendoza in Joshuas Schlafzimmer, wo der Junge gerade seinen Koffer packte. »Joshua, das ist Doktor Mendoza.« Joshua blickte auf und fragte: »Ist jemand krank?«

»Nein. Niemand ist krank, Kleiner. Ich möchte nur, daß der Doktor sich einmal deinen Kopf ansieht.«

»Oh, das darf doch nicht wahr sein, Mama! Was hast du bloß mit meinem Kopf?«

»Nichts. Ich würde mich nur wohler fühlen, wenn Doktor Mendoza einen Blick darauf würfe. Tu mir den Gefallen, ja?«

»Frauen!« sagte Joshua. Er blickte den Arzt mißtrauisch an. »Sie fangen doch nicht an, mich mit Nadeln zu spicken oder so was?«

»Nein, Senor, ich bin ein äußerst schmerzloser Doktor.«

»Das ist die Art, die ich mag.«

»Setz dich bitte.«

Joshua setzte sich auf den Bettrand, und Dr. Mendoza ließ seine Finger über den Hinterkopf des Jungen gleiten. Joshua blinzelte vor Schmerz, aber er gab keinen La ut von sich. Der Arzt öffnete seine Tasche und holte ein Ophtalmoskop heraus. »Die Augen weit auf, bitte.«

Joshua gehorchte. Doktor Mendoza starrte durch das Instrument.

»Sehen Sie da drin irgendwelche nackten Mädchen tanzen?«

»Joshua!«

»Ich habe ja nur ge fragt.«

Dr. Mendoza untersuchte das andere Auge. »Du bist so gesund wie ein Fisch im Wasser.« Er richtete sich wieder auf und schloß seine Arzttasche. »Tun Sie etwas Eis auf die Beule«, sagte er zu Jennifer. »Morgen geht es dem Jungen schon wieder bestens.«

Es war, als würde eine schwere Last von Jennifers Herz genommen. »Danke«, sagte sie.

»Ich werde meine Bemühungen auf die Hotelrechnung setzen lassen, Senora. Auf Wiedersehen, junger Mann.«

»Auf Wiedersehen, Doktor Mendoza.« Als der Arzt fort war, wandte sich Joshua an seine Mutter. »Dir macht es ganz schön Spaß, dein Geld zum Fenster herauszuwerfen, Mama.«

»Ich weiß. Ich verschwende es für Dinge wie Essen, deine Gesundheit...«

»Ich bin der gesündeste Mann im ganzen Team.«

»Bleib so.«

Er grinste. »Versprochen.«

Sie nahmen die Sechs-Uhr-Maschine nach New York und waren spät in der Nacht wieder in Sands Point. Joshua schlief während der ganzen Rückreise.

48

Der Raum war von Geistern bevölkert. Adam Warner saß in seinem Arbeitszimmer und bereitete sich auf einen wichtigen Fernsehauftritt vor, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Er dachte an Jennifer. Seit seiner Rückkehr aus Acapulco konnte er an nichts anderes mehr denken. Das Wiedersehen hatte Adam nur in seinem Wissen bestärkt: Er hatte die falsche Wahl getroffen. Er hätte Jennifer nie aufgeben dürfen. Das Wiedersehen, das Zusammensein mit ihr, erinnerte ihn an alles, was er einmal besessen und weggeworfen hatte, und er konnte es nicht ertragen, daran zu denken. Er war in einer ausweglosen Situation. Eine Null-Chancen-Situation hätte Blair Roman sie genannt.

Es klopfte an der Tür, und Chuck Morrison, Adams Assistent, trat ein, in der Hand eine Kassette. »Kann ich eine Minute mit dir sprechen, Adam?«

»Hat das nicht Zeit, Chuck? Ich bin mitten in...«

»Ich glaube nicht.« Chucks Stimme klang aufgeregt. »Na gut. Was ist so dringend?«

Chuck Morrison trat an den Tisch. »Ich habe gerade einen Anruf erhalten. Es könnte sich um einen Verrückten handeln, aber wenn nicht, dann hat sich der Weihnachtsmann dieses Jahr ganz schön verfrüht. Hör dir das an.« Er schob die Kassette in den Recorder auf Adams Tisch, schaltete ihn ein, und das Band lief ab. Wie war noch Ihr Name?

Mein Name spielt keine Rolle. Ich spreche nur mit Senator Adam Warner.

Der Senator ist beschäftigt. Warum hinterlassen Sie ihm nicht eine Nachricht, und ich sorge dafür...

Nein! Hören Sie zu, es ist äußerst wichtig. Sagen Sie Senator Warner, ich kann ihm Michael Moretti auf einem Silbertablett servieren. Ich riskiere mein Leben mit diesem Anruf. Richten Sie das Senator Warner aus. Gut. Wo sind Sie?

Ich bin im Capitol-Motel an der 32. Straße. Zimmer 14. Sagen Sie ihm, er soll nicht vor Anbruch der Dunkelheit kommen und darauf achten, daß niemand ihn verfolgt. Ich weiß, daß Sie unser Gespräch mitschneiden. Wenn Sie das Band irgend jemand anderem als ihm vorspielen, bin ich ein toter Mann.

Ein Klicken ertönte. Chuck Morrison stoppte das Band und fragte: »Was meinst du?«

»Die Stadt ist voller Verrückter. Andererseits weiß der Bursche ziemlich genau, wo er den Hebel ansetzen muß, was? Mein Gott, Michael Moretti!«

Um zehn Uhr nachts erschien Adam Warner, begleitet von vier Sicherheitsbeamten, vor Zimmer 14 im Capitol-Motel. Er klopfte. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Als Adam das Gesicht des Mannes in dem Zimmer erblickte, wandte er sich an seine Begleiter und sagte: »Bleibt draußen. Niemand darf in die Nähe dieses Raums.« Die Tür wurde weiter geöffnet, und Adam trat ein. »Guten Abend, Senator Warner. »Guten Abend, Mr. Colfax.« Die beiden Männer musterten sich.

Thomas Colfax sah älter aus, als Adam ihn in Erinnerung hatte, aber es gab einen weiteren, beinahe undefinierbaren Unterschied. Und dann erkannte Adam, worum es sich handelt. Angst. Thomas Colfax hatte Angst. Er war immer ein selbstsicherer, beinahe arroganter Mann gewesen, und jetzt war diese Selbstsicherheit verschwunden. »Danke, daß Sie gekommen sind, Senator.« Colfax' Stimme klang erschöpft und nervös.

»Ich habe gehört, Sie wollen mit mir über Michael Moretti reden?«

»Ich kann ihn Ihnen frei Haus liefern.«

»Sie sind Morettis Anwalt. Warum sollten Sie das tun wollen?«

»Ich habe meine Gründe.«

»Nehmen wir mal an, ich ziehe mit Ihnen am gleichen Strang. Was erwarten Sie dafür?«

»Zunächst einmal vollkommene Immunität. Dann möchte ich das Land verlassen können. Ich brauche Papiere, einen Paß -eine neue Identität.«

Also hatte Michael Moretti Thomas Colfax auf die Todesliste gesetzt. Es war die einzige Erklärung. Adam konnte sein Glück kaum fassen. Es war der beste Zufall, der ihm passieren konnte.

»Falls ich Immunität für Sie erreichen kann«, sagte Adam, »... und ich verspreche Ihnen wohlgemerkt noch nichts, dann erwarte ich dafür, daß Sie vor Gericht auftreten und eine rückhaltlose Aussage machen. Ich will dann alles hören, was Sie wissen.«

»Das werden Sie.«

»Weiß Moretti, wo Sie sind?«

»Er hält mich für tot.« Colfax lächelte nervös. »Wenn er mich findet, werde ich auch tot sein.«

»Er wird Sie nicht finden. Nicht, wenn wir ins Geschäft kommen.«

»Ich lege mein Leben in Ihre Hände, Senator.«

»Offen gesagt«, informierte Adam ihn, »ist Ihr Leben mir völlig egal. Ich will Moretti. Wir legen jetzt die Spielregeln fest. Wenn wir eine Übereinkunft erreichen, kriegen Sie allen Schutz, den die Regierung Ihnen gewähren kann. Wenn ich mit Ihrer Aussage zufrieden bin, erha lten Sie von uns so viel Geld, daß Sie in jedem Land, das Ihnen gefällt, unter einem angenommenen Namen leben können. Als Gegenleistung erklären Sie sich mit dem Folgenden einverstanden: Ich möchte von Ihnen alles über Michael Morettis Aktivitäten wissen. Sie müssen vor einer Anklagekammer aussagen, und wenn wir Moretti den Prozeß machen, erwarte ich, daß Sie als Belastungszeuge für die Regierung auftreten. Einverstanden?«

Thomas Colfax blickte zur Seite. Schließlich sagte er: »Tony Granelli muß sich im Grab umdrehen. Was ist nur aus den Menschen geworden? Was ist aus Ehre und Anstand geworden?«

Adam hatte keine Antwort. Vor ihm stand ein Mann, der Hunderte von Malen das Gesetz übertreten, der dutzendweise bezahlte Killer eingesetzt und mitgeholfen hatte, d ie Unternehmungen der bösartigsten Verbrecherorganisation zu steuern, die die Zivilisation je gekannt hatte. Und er fragte, was aus Ehre und Anstand geworden war. Thomas Colfax sah Adam an. »Wir sind im Geschäft. Ich will es schriftlich, und ich will es mit der Unterschrift des Generalstaatsanwalts.«

»Sie kriegen es.« Adam blickte sich in dem schäbigen Motelzimmer um. »Lassen Sie uns von hier verschwinden.«

»Ich gehe nicht in ein Hotel. Moretti hat überall Augen und Ohren.«

»Nicht da, wo ich Sie jetzt hinbringe.« Zehn Minuten nach Mitternacht fuhren ein Militärlastwagen und zwei Jeeps mit schwerbewaffneten Marineinfanteristen vor dem Capitol-Motel auf. Vier Militärpolizisten gingen in Zimmer 14 und erschienen kurz darauf mit Thomas Colfax, den sie zur Ladefläche des Lastwagens eskortierten. Der Konvoi setzte sich in Bewegung. Ein Jeep fuhr an der Spitze, der andere hinter dem Laster. Das Ziel war Quantico, Virginia, fünfunddreißig Meilen südlich von Washington. Die drei Wagen der Karawane fuhren schnell und trafen vierzig Minuten später in dem US-Marinestützpunkt Quantico ein. Der Kommandant des Stützpunktes, Generalmajor Roy Wallace, und eine Abteilung schwerbewaffneter Marinesoldaten warteten am Tor. Als die Karawane anhielt, sagte Wallace zu dem Captain: »Der Gefangene wird direkt in den Bau gebracht. Kein Wort darf mit ihm gewechselt werden.« Roy Wallace beobachtete den Konvoi, der auf das Gelände fuhr.

Er hätte einen Monatslohn dafür gegeben, wenn er gewußt hätte, wer sich in dem Laster befand. Seinem Kommando unterstand der dreihundertzehn Morgen große Marinestützpunkt und ein Teil der FBI-Akademie. Es war das Hauptquartier der Trainingsoffiziere der Marine der Vereinigten Staaten. Wallace hatte noch nie zuvor einen Zivilisten als Gefangenen beherbergt. Es war außerhalb jeder Vorschrift. Vor zwei Stunden hatte er einen Anruf vom Oberkommando der Marinestreitkräfte erhalten. »Ein Mann befindet sich auf dem Weg zu Ihrem Stützpunkt, Roy. Ich möchte, daß Sie das gesamte Militärgefängnis räumen und ihn dabehalten, bis Sie weitere Befehle erhalten.«

Wallace glaubte, falsch verstanden zu haben. »Sagten Sie, den ganzen Bau räumen, Sir?«

»Richtig. Der Mann muß völlig allein bleiben. Niemand darf in seine Nähe. Verdoppeln Sie die Zahl der Wachtposten. Verstanden?«

»Jawohl, General.«

»Und noch was, Roy. Wenn dem Mann irgend etwas passiert, während Sie für ihn verantwortlich sind, esse ich Ihren Arsch auf Toast zum Frühstück.« Und der General hatte aufgehängt.

Generalmajor Wallace sah den Laster auf den Bau zurollen und ging dann in sein Büro zurück und klingelte nach seinem Adjutanten, Captain Alvon Giles.

»Wegen dieses Mannes, den wir in den Bau stecken...«, begann Wallace. »Ja, Sir?«

»Unsere wichtigste Aufgabe ist seine Sicherheit. Sie selber suchen die Wachen aus, und zwar mit der Lupe. Niemand anderer kommt in seine Nähe. Keine Besucher, keine Post, keine Pakete. Verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Ich möchte, daß Sie persönlich in der Küche sind, wenn sein Essen gekocht wird.«

»Ja, Sir.«

»Falls jemand sich übertrieben für ihn interessiert, möchte ich sofort darüber informiert werden. Irgendwelche Fragen?«

»Nein, Sir.«

»Sehr schön, Al. Bleiben Sie am Ball. Wenn irgend etwas schiefläuft, esse ich Ihren Arsch auf Toast zum Frühstück.«

49

Jennifer erwachte von dem leisen Trommeln eines leichten Morgenregens. Sie lag im Bett und lauschte, wie er das Haus mit zarten Schlägen bearbeitete. Sie blickte auf den Wecker. Es war Zeit, aufzustehen. Eine halbe Stunde später ging sie hinunter ins Eßzimmer, um mit Joshua zu frühstücken. Er war nicht da. Mrs. Mackey trat aus der Küche. »Guten Morgen, Mrs. Parker.«

»Guten Morgen. Wo ist Joshua?«

»Er wirkte so müde, daß ich ihn etwas länger schlafen ließ. Er muß erst morgen wieder in die Schule.« Jennifer nickte. »Gute Idee.«

Sie frühstückte und ging hinauf, um sich von Joshua zu verabschieden. Er lag im Bett und schlief fest. Jennifer setzte sich auf die Bettkante und sagte leise: »He, Schlafmütze, möchtest du auf Wiedersehen sagen?« Langsam öffnete er die Augen. »Sicher, Freund, Ciao.« Seine Stimme war schlaftrunken. »Muß ich aufstehen?«

»Nein. Weißt du was? Warum faulenzt du heute nicht ein bißchen? Du kannst hierbleiben und dich amüsieren. Es regnet zu stark, um draußen zu spielen.«

Er nickte schläfrig. »Okay, Mama.« Seine Augen schlossen sich, und er war wieder eingeschlafen.

Jennifer verbrachte den Nachmittag im Gericht, und als sie fertig war und nach Hause zurückkehrte, war es bereits nach sieben. Der Nieselregen, der den ganzen Tag gefallen war, hatte sich in eine Sturmflut verwandelt. Als Jennifer den Wagen die Zufahrt hinauflenkte, sah das Haus wie eine belagerte Burg aus, umgeben von einem grauen, schäumenden Festungsgraben.

Mrs. Mackey öffnete die Vordertür und half Jennifer aus dem tropfenden Regenmantel. Jennifer schüttelte die Feuchtigkeit aus ihrem Haar und fragte: »Wo ist Joshua?«

»Er schläft.«

Jennifer blickte Mrs. Mackey besorgt an. »Hat er den ganzen Tag geschlafen?«

»Himmel, nein. Er ist aufgestanden und hat hier rumgeturnt. Ich habe ihm Abendessen gemacht, aber als ich hinaufgegangen bin, um ihn herunterzuholen, war er schon wieder eingedöst, und da habe ich ihn schlafen lassen.«

»Ich verstehe.« Sie ging nach oben in Joshuas Zimmer und trat leise ein. Joshua schlief. Sie beugte sich vor und berührte seine Stirn. Er hatte kein Fieber; seine Farbe war normal. Sie fühlte seinen Puls. Alles war in bester Ordnung, abgesehen von ihrer Phantasie. Die ging wieder mal mit ihr durch. Joshua hatte wahrscheinlich den ganzen Tag über wie ein Wilder gespielt, und es war nur normal, daß er jetzt müde war. Sie schlüpfte aus dem Zimmer und ging wieder nach unten. »Warum bereiten Sie ihm nicht ein paar Sandwiches, Mrs. Mackey? Stellen Sie sie ihm ans Bett. Dann kann er sie essen, wenn er aufwacht.«

Jennifer aß an ihrem Schreibtisch zu Abend und bereitete den morgigen Prozeßtag vor. Sie dachte daran, Michael anzurufen und ihm zu sagen, daß sie zurück war, aber sie zögerte, so kurz nach der Nacht mit Adam mit ihm zu sprechen... Spät nach Mitternacht hörte sie auf zu lesen. Sie stand auf und reckte sich, um die Spannung in Rücken und Nacken zu lockern. Sie legte die Unterlagen in ihren Diplomatenkoffer, schaltete das Licht aus und ging nach oben. Sie blickte zu Joshua ins Zimmer. Er schlief noch immer. Die Sandwiches neben seinem Bett waren unberührt.

Als Jennifer am folgenden Morgen zum Frühstück hinunterging, saß Joshua am Tisch, bereits für die Schule angezogen. »Morgen, Mama.«

»Guten Morgen, Liebling. Wie fühlst du dich?«

»Großartig. Ich war wirklich müde. Muß die mexikanische Sonne gewesen sein.«

»Ja, muß wohl.«

»Acapulco ist wirklich schön. Können wir in meinen nächsten Ferien wieder hinfahren?«

»Ich wüßte nicht, warum wir das nicht können sollten. Freust du dich, wieder in die Schule zu gehen?«

»Ich verweigere die Aussage, weil sie mich belasten könnte.«

Mitten am Nachmittag unterbrach Cynthia bei einer Zeugenbefragung.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe, aber Mrs. Stout ist in der Leitung und...«

Joshuas Hauslehrerin. »Stellen Sie durch.« Jennifer hob den Hörer ab. »Hallo, Mrs. Stout. Stimmt irgend etwas nicht?«

»O nein, alles ist in bester Ordnung, Mrs. Parker. Ich wollte Sie nicht beunruhigen. Ich wollte Ihnen nur vorschlagen, daß es nicht schlecht wäre, wenn Joshua etwas mehr Schlaf bekäme.«

»Was meinen Sie damit?«

»Er ist heute fast während jeder Stunde eingeschlafen. Sowohl Miß Williams wie auch Mrs. Toboco haben es erwähnt. Vielleicht könnten Sie darauf achten, daß er etwas früher ins Bett kommt.«

Jennifer starrte das Telefon an. »Ich - ja, das werde ich tun.« Langsam legte sie den Hörer wieder auf und wandte sich an die Leute im Raum, die sie beobachteten. »Es - es tut mir leid«, sagte sie. »Entschuldigen Sie mich.« Sie lief hinaus in den Empfangsraum. »Cynthia, such Dan! Bitte ihn, die Zeugenbefragung für mich zu Ende zu führen. Mir ist etwas dazwischengekommen.«

»Einver...«

Jennifer war schon aus der Tür.

Sie fuhr nach Hause wie eine Wahnsinnige, übertrat die Geschwindigkeitsbegrenzung, ignorierte rote Ampeln. Visionen von einem schrecklichen Unglück stiegen in ihr auf. Die Fahrt schien unendlich, und als das Haus in der Ferne auftauchte, erwartete Jennifer halb und halb, eine Armee von Krankenwagen und Polizeifahrzeugen auf dem Bürgersteig stehen zu sehen. Die Zufahrt war verwaist. Jennifer fuhr bis zum Vordereingang und hastete ins Haus. »Joshua!«

Er saß im Wohnzimmer und sah sich ein Baseballspiel im Fernsehen an. »Hi, Mama. Du bist aber früh zu Hause. Haben sie dich gefeuert?«

Jennifer stand im Türrahmen, starrte ihn an und spürte, wie sie von Erleichterung durchflutet wurde. Sie fühlte sich wie eine Idiotin.

»Du hättest die letzte Halbzeit sehen sollen. Craig Swan war phantastisch!«

»Wie fühlst du dich, Sohn?«

»Großartig.«

Jennifer legte die Hand auf seine Stirn. Er hatte kein Fieber. »Bist du sicher, daß du in Ordnung bist?«

»Natürlich. Warum schaust du so komisch? Hast du Kummer? Möchtest du dich von Mann zu Mann unterhalten?« Sie lächelte. »Nein, Liebling. Ich habe nur - tut dir irgend etwas weh?«

Er stöhnte. »Das kann man wohl sagen. Die Mets verlieren sechs zu fünf. Weißt du, was in der ersten Halbzeit passiert ist?«

Aufgeregt begann er, die Heldentaten seiner Lieblingsmannschaft zu rekapitulieren. Jennifer stand da, betrachtete ihn hingerissen und dachte: Meine verdammte Einbildung! Natürlich ist er gesund.

»Schau dir den Rest des Spiels an. Ich kümmere mich um das Abendessen.«

Erleichtert ging Jennifer in die Küche. Sie beschloß, einen Bananenkuchen zu machen, eines von Joshuas Lieblingsgerichten.

Als Jennifer dreißig Minuten später wieder in das Fernsehzimmer ging, lag Joshua bewußtlos auf dem Boden.

Die Fahrt zum Blinderman Memorial Hospital schien eine Ewigkeit zu dauern. Jennifer saß hinten im Ambulanzwagen und preßte Joshuas Hand. Ein Sanitäter hielt eine Sauerstoffmaske gegen das Gesicht des Jungen. Er hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Die Sirene des Krankenwagens heulte durchdringend, aber der Verkehr war zähflüssig, und der Wagen konnte nur langsam fahren, während neugierige Passanten durch die Scheiben auf die bleiche Frau und den bewußtlosen Jungen gafften.

»Warum gibt es in Krankenwagen keine Einwegfenster?« fragte Jennifer.

Der Sanitäter blickte irritiert auf. »Bitte?«

»Nichts... nichts.«

Nach einer scheinbar unendlichen Fahrt hielt die Ambulanz am Noteingang hinter dem Hospital. Zwei Assistenzärzte warteten bereits an der Tür. Hilflos sah Jennifer zu, wie Joshua aus dem Krankenwagen auf eine fahrbare Bahre gehoben wurde.

Ein Pfleger fragte: »Sind Sie die Mutter des Jungen?«

»Ja.«

»Hier lang, bitte.«

Danach erschien Jennifer alles wie ein verwischter, kaleidoskopartiger Eindruck von Geräuschen, Licht und Bewegungen. Sie sah, wie Joshua einen langen weißen Korridor hinunter in einen Röntgenraum gerollt wurde. Sie wollte ebenfalls hineingehen, aber der Pfleger sagte: »Sie müssen ihn erst eintragen.«

Eine dünne Frau am Empfangstisch fragte Jennifer: »Wie wollen Sie für die Behandlung aufkommen? Sind Sie im Blauen Kreuz oder in einer anderen Versicherung?« Jennifer mußte sich davon abhalten, die Frau anzubrüllen. Sie wollte zurück an Joshuas Seite, aber sie zwang sich, die Fragen zu beantworten.

Als sie vorbei waren und Jennifer verschiedene Formulare ausgefüllt hatte, erlaubte die Frau ihr, zu gehen.

Sie lief zum Röntgensaal und ging hinein. Der Raum war leer. Joshua war weg. Jennifer lief zurück in den Flur und blickte gehetzt in beide Richtungen. Eine Schwester näherte sich. Jennifer packte ihren Arm. »Wo ist mein Sohn?« Die Schwester sagte: »Ich weiß nicht. Wie heißt er?«

»Joshua. Joshua Parker.«

»Wo haben Sie ihn verlassen?«

»Er - er sollte geröntgt werden... er...« Sie war unfähig, zusammenhängend zu reden. »Was haben sie mit ihm gemacht? Sagen Sie es mir!«

Die Schwester sah Jennifer genauer an und sagte dann: »Warten Sie hier, Mrs. Parker. Ich werde versuchen, es herauszufinden.«

Ein paar Minuten später kehrte sie zurück. »Dr. Morris würde gern mit Ihnen sprechen. Kommen Sie bitte mit.« Jennifer stellte fest, daß ihre Beine zitterten. Das Laufen fiel ihr schwer.

»Geht es Ihnen gut?« Die Schwester starrte sie an. Jennifers Mund war trocken vor Angst. »Ich will meinen Sohn.«

Sie gelangten zu einem Raum, der mit fremdartig aussehenden Instrumenten gefüllt war. »Warten Sie hier, bitte.« Dr. Morris kam ein paar Augenblicke später. Er war sehr dick, hatte ein rotes Gesicht und Nikotinflecken an den Fingern. »Mrs. Parker?«

»Wo ist Joshua?«

»Treten Sie einen Augenblick herein, bitte.« Er führte Jennifer in einen kleinen Büroraum.

Jennifer nahm Platz. »Joshua ist... ist es... es ist doch nichts Ernstes, oder, Doktor?«

»Das wissen wir noch nicht.« Seine Stimme war überraschend hell für einen Mann seines Umfangs. »Ich brauche einige Informationen. Wie alt ist Ihr Sohn?«

»Er ist erst sieben.«

Das erst war ihr herausgerutscht, ein Verweis für Gott. »Hatte er kürzlich einen Unfall?«

Blitzartig stieg vor Jennifers Augen das Bild vo n Joshua auf, wie er ihr zuwinkte, das Gleichgewicht verlor und gegen die Planken stürzte. »Er - er ist beim Wasserski gestürzt. Er hat sich eine Beule am Kopf geholt.« Der Arzt kritzelte Notizen. »Wie lange ist das her?«

»Ich... ein paar... ein paar Tage. In Acapulco.« Es war schwierig, logisch zu denken. »Wirkte er nach dem Unfall normal?«

»Ja. Er hatte eine Beule am Hinterkopf, aber davon abgesehen wirkte er in Ordnung.« »Haben Sie irgendeinen Gedächtnisverlust bemerkt?« »Nein.«

»Keine Veränderungen in seinem Wesen?« »Nein.«

»Keine Krämpfe? Ein steifer Nacken oder Kopfschmerzen?« »Nein, nichts.«

Der Arzt hörte auf zu schreiben und blickte Jennifer an. »Ich habe ihn röntgen lassen, aber das Ergebnis war nicht befriedigend. Ich möchte sein Gehirn gern fotografieren lassen.«

»Sein...?«

»Mit einer neuen, computergesteuerten Maschine aus England, die das Innere des Gehirns ablichten kann. Es kann sein, daß ich danach noch ein paar weitere Tests mit ihm machen möchte. Sind Sie damit einverstanden?«

»Wewewenn...«, stotterte sie, »wenn es notwendig ist. Es - es wird ihm nicht weh tun, oder?«

»Nein. Eventuell muß ich auch eine Punktion des Rückgrats vornehmen.« Er jagte ihr Angst ein.

Sie zwang sich zu fragen: »Was hat er, Ihrer Meinung nach? Was ist mit meinem Sohn?« Sie erkannte den Klang ihrer eigenen Stimme nicht wieder.

»Ich würde es vorziehen, keine Vermutungen zu äußern, Mrs. Parker. In einer oder zwei Stunden wissen wir Bescheid. Er ist jetzt wach, falls Sie ihn sehen wollen.«

»O ja, bitte!«

Eine Krankenschwester führte sie zu Joshuas Zimmer. Er lag im Bett, eine blasse, kleine Gestalt. Als Jennifer eintrat, öffnete er die Augen. »Hallo, Mama.«

»Hallo, du da.« Sie setzte sich auf die Kante seines Betts. »Wie fühlst du dich?«

»Irgendwie komisch. So, als wäre ic h gar nicht hier.« Jennifer ergriff seine Hand. »Du bist hier, Liebling. Und ich bin bei dir.«

»Ich sehe alles doppelt.«

»Hast du - hast du das dem Doktor gesagt?«

»Ja. Ich habe ihn doppelt gesehen. Hoffentlich schickt er dir nicht zwei Rechnungen.«

Jennifer legte ihre Arme um Joshua und drückte ihn an sich. Sein Körper wirkte geschrumpft und zerbrechlich. »Mama?«

»Ja, Liebling?«

»Du läßt mich nicht sterben, oder?«

Ihre Augen brannten plötzlich. »Nein, Joshua, ich lasse dich nicht sterben. Die Ärzte machen dich wieder gesund, und dann nehme ich dich mit nach Hause.«

»Okay. Außerdem hast du versprochen, daß wir irgendwann wieder nach Acapulco fahren.«

»Ja. Sobald du...«

Er war schon wieder eingeschlafen.

Dr. Morris betrat den Raum, begleitet von zwei Männern in weißen Jacketts.

»Wir würden jetzt gern mit dem Test beginnen, Mrs. Parker. Sie dauern nicht lange. Warum warten Sie nicht hier und machen es sich bequem?«

Jennifer sah zu, wie sie Joshua aus dem Raum trugen. Sie hockte auf der Kante des Betts und fühlte sich, als hätte man sie zusammengeschlagen. Jegliche Energie hatte sie verlassen. Sie saß da wie in Trance und starrte die weiße Wand an.

Einen Augenblick später sagte eine Stimme: »Mrs. Parker...« Jennifer blickte auf. Dr. Morris stand vor ihr. »Bitte, gehen Sie und machen Sie die Tests.« Er blickte sie seltsam an. »Wir sind schon fertig.« Jennifer blickte auf ihre Armbanduhr. Sie hatte zwei Stunden so dagesessen. Wo war die Zeit geblieben? Sie blickte den Arzt an, suchte nach den kleinen, verräterischen Zeichen, die preisgaben, ob er gute oder schlechte Nachrichten für sie hatte. Wie oft hatte sie das nicht schon getan, hatte in den Gesichtern von Geschworenen gelesen und schon vorher an ihrem Ausdruck erkannt, wie das Urteil lauten würde. Hundertmal? Fünfhundert? Aber jetzt, geschüttelt von Panik, konnte sie überhaupt nichts erkennen. Ihr Körper begann unkontrolliert zu zittern.

Dr. Morris sagte: »Ihr Sohn leidet an einem subduralen Hämatom. Allgemeinverständlich ausgedrückt, sein Gehirn hat eine schwere Verletzung erlitten.«

Ihre Kehle war plötzlich so trocken, daß sie nicht mehr sprechen konnte.

»Wa...« Sie schluckte und versuchte es noch einmal. »Was bedeu...?« Sie konnte den Satz nicht beenden.

»Ich möchte auf der Stelle operieren. Ich brauche Ihre Genehmigung.«

Er spielte ihr irgendeinen grausamen Streich. Nur noch einen Augenblick, dann würde er lächeln und ihr sagen, daß es Joshua gut ging. Ich habe Sie nur dafür bestraft, daß Sie meine Zeit verschwendet haben, Mrs. Parker. Ihr Sohn ist kerngesund, er braucht nur etwas Schlaf. Er ist ein Heranwachsender. Sie sollten uns nicht die Zeit stehlen - wir haben schließlich Patienten, die uns wirklich brauchen. Gleich würde er sie anlächeln und sagen: »Sie können Ihren Sohn jetzt mitnehmen.« Dr. Morris fuhr fort: »Er ist jung und scheint kräftig zu sein. Wir haben allen Grund, zu hoffen, daß die Operation erfolgreich verlaufen wird.«

Er würde das Gehirn ihres Babys aufschneiden, mit seinen scharfen Instrumenten hineindringen und vielleicht alles zerstören, was Joshua zu Joshua machte. Vielleicht - würde er ihn töten. »Nein!« Das Wort war ein wütender Schrei. »Sie erlauben uns nicht, zu operieren?«

»Ich...« Sie war so verwirrt, daß sie nicht mehr denken konnte. »Was - was ist, wenn Sie ihn nicht operieren?« Dr. Morris sagte schlicht: »Ihr Sohn wird sterben. Ist der Vater des Jungen hier?«

Adam! Oh, wie gern hätte sie ihn jetzt hier gehabt, seine Arme um sich gespürt, seinen Trost. Sie wollte, daß er ihr sagte, daß sich alles wieder einrenken, daß Joshua gesund werden würde.

»Nein«, antwortete Jennifer schließlich. »Er ist nicht hier. Ich - ich gebe Ihnen die Erlaubnis. Operieren Sie!« Dr. Morris füllte ein Formular aus und reichte es ihr. »Würden Sie das bitte unterschreiben?«

Jennifer unterschrieb das Papier, ohne es anzuschauen. »Wie lange wird es dauern?«

»Das weiß ich erst, wenn ich seinen Kopf geöff..« Er sah den Ausdruck ihres Gesichts, »... wenn ich mit der Operation begonnen habe. Wollen Sie hier warten?«

»Nein!« Die Mauern zogen sich um sie zusammen, erstickten sie. Sie konnte kaum atmen. »Gibt es hier eine Kapelle?«

Die Krankenhauskapelle war klein. Über dem Altar hing ein Gemälde des Jesuskindes. Außer Jennifer befand sich niemand im Raum. Sie kniete, aber sie konnte nicht beten. Sie war nie sehr religiös gewesen; warum sollte Gott ihr jetzt zuhören? Sie versuchte sich zu beruhigen, so daß sie mit Gott sprechen konnte, aber ihre Furcht war zu stark; sie hatte sie vollkommen in ihre Gewalt gebracht. Jennifer beschuldigte sich selber mitleidlos. Wenn ich Joshua nur nicht mit nach Acapulco genommen hätte, dachte sie... wenn ich ihn nicht Wasserski fahren gelassen hätte... wenn ich diesem mexikanischen Arzt nicht vertraut hätte... wenn. Wenn. Wenn. Dann schlug sie Gott ein Tauschgeschäft vor. Mach ihn gesund, und ich tue alles, was du willst.

Anschließend leugnete sie ihn. Wenn es einen Gott gäbe, würde er ein Kind, das niemandem etwas zuleide getan hat, so bestrafen? Was ist das für ein Gott, der unschuldige Kinder sterben läßt? Als sie völlig erschöpft und am Ende ihrer Kraft war, hörten ihre Gedanken auf zu rasen, und sie erinnerte sich an Dr. Morris' Worte: Er ist jung und scheint kräftig zu sein. Wir haben allen Grund, zu hoffen, daß die Operation erfolgreich verlaufen wird. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Natürlich würde es gelingen. Wenn alles vorbei war, würde sie mit Joshua irgendwohin fahren, wo er sich ausruhen konnte. Acapulco, wenn er wollte. Sie würden lesen, spielen und sich unterhalten...

Als Jennifer schließlich nicht einmal mehr denken konnte, ließ sie sich auf die harte Holzbank zurücksinken. Ihr Kopf war benommen und leer. Jemand berührte sie am Arm, und sie sah auf, und Dr. Morris stand über sie gebeugt. Jennifer blickte in sein Gesicht und brauchte keine Fragen mehr zu stellen. Sie fiel in Ohnmacht.

50

Joshua lag auf einem schmalen Metalltisch, sein Körper für immer reglos. Er wirkte wie in einem friedlichen Schlaf befangen, sein hübsches, junges Gesicht erleuchtet vom Widerschein geheimer, ferner Träume. Jennifer hatte diesen Ausdruck schon tausendmal gesehen, wenn Joshua sich in sein Bett kuschelte, während sie auf der Kante saß und sein Gesicht anschaute, erfüllt von einer Liebe, die sie mit ihrer Heftigkeit fast erstickte. Und wie oft hatte sie die Decke von allen

Seiten unter ihn geschoben, um ihn vor der Nachtkälte zu beschützen?

Jetzt war die Kälte tief in ihn eingedrungen. Er würde nie wieder warm sein. Seine strahlenden Augen würden sich nie wieder öffnen und sie ansehen, und sie würde niemals mehr das Lächeln auf seinen Lippen erblicken oder seine kleinen, starken Arme um sich fühlen. Er war nackt unter dem dünnen, weißen Tuch.

Jennifer sagte zu dem Arzt: »Ich möchte, daß Sie ihn zudecken. Er wird frieren.«

»Er kann nicht...« Dr. Morris blickte in Jennifers Augen, und was er da sah, ließ ihn sagen: »Ja, natürlich, Mrs. Parker.« Er wandte sich an die Schwester und sagte: »Holen Sie eine Decke.«

Anscheinend war mindestens ein halbes Dutzend Leute im Raum, die meisten in weißen Kitteln, und alle schienen mit Jennifer zu reden, aber sie konnte nicht verstehen, was sie sagten. Es war, als befände sie sich unter einer Glasglocke, getrennt von ihrer Umwelt. Sie konnte sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, aber es gab kein Geräusch. Sie wollte sie anschreien, sie wegjagen, aber sie hatte Angst, Joshua zu erschrecken. Jemand schüttelte ihren Arm, und der Bann war gebrochen, der Raum war plötzlich von einer Geräuschexplosion erfüllt, und alle schienen gleichzeitig zu reden. Dr. Morris sagte: »...unerläßlich, eine Autopsie vorzunehmen.«

Jennifer sagte ruhig: »Wenn Sie meinen Sohn noch einmal anrühren, bringe ich Sie um.«

Und sie lächelte alle ringsum an, weil sie nicht wollte, daß sie auf Joshua böse wurden.

Eine Schwester wollte Jennifer aus dem Zimmer führen, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn nicht allein lassen. Jemand könnte das Licht ausmachen. Joshua hat Angst im Dunkeln.«

Jemand preßte ihren Arm. Jennifer fühlte den Stich einer Nadel, und wenig später versank sie in ein Gefühl von Wärme und Frieden und schlief ein.

Sie erwachte am späten Nachmittag. Sie befand sich in einem kleinen Zimmer im Krankenhaus. Jemand hatte sie ausgezogen und in ein Spitalgewand gehüllt. Sie stand auf. zog sich an und begab sich auf die Suche nach Dr. Morris. Sie war unnatürlich ruhig.

Dr. Morris sagte: »Wir kümmern uns um die Beerdigungsvorbereitungen, Mrs. Parker. Sie brauchen sich da...«

»Ich kümmere mich selber darum.«

»Wie Sie wollen.« Er zögerte verlegen. »Wegen der Autopsie - ich weiß, daß Sie das heute morgen nicht so gemeint haben. Ich...«

»Sie irren sich.«

Die nächsten beiden Tage waren mit den Ritualen des Todes ausgefüllt. Jennifer suchte einen örtlichen Leichenbestatter auf und traf die Vorbereitungen für das Begräbnis. Sie entschied sich für einen weißen, mit Satin ausgelegten Sarg. Sie war selbstbeherrscht und gelassen, und als sie später darüber nachzudenken versuchte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Es war, als hätte sich jemand anderer in ihrem Körper und ihrem Verstand eingenistet und handelte an ihrer Stelle. Sie stand unter schwerem Schock und verbarg sich im Schutz dieses Schneckenhauses, um nicht wahnsinnig zu werden. Als Jennifer das Büro des Leichenbestatters verließ, sagte er: »Falls Sie Ihren Sohn in bestimmten Kleidern Ihrer Wahl beerdigt sehen möchten, Mrs. Parker, können Sie sie uns zukommen lassen, und wir ziehen sie ihm an.« »Ich ziehe Joshua selber an.«

Er blickte sie erstaunt an. »Wenn Sie wollen, natürlich, aber...« Er blickte ihr nach und fragte sich, ob sie wußte, was es bedeutet, eine Leiche anzuziehen.

Jennifer fuhr nach Hause, stellte den Wagen auf der Zufahrt ab und ging ins Haus.

Mrs. Mackey befand sich in der Küche. Ihre Augen waren rot, das Gesicht von Kummer verzerrt. »Oh, Mrs. Parker. Ich kann gar nicht glauben, daß...«

Jennifer sah und hörte sie nicht. Sie ging an ihr vorbei, nach oben in Joshuas Zimmer. Es sah aus wie immer. Nichts hatte sich verändert, außer daß es leer war. Joshuas Bücher, seine Spiele, die Baseball- und Skiausrüstung waren da und warteten auf ihn. Jennifer stand im Türrahmen und starrte in den Raum und fragte sich, was sie hier gewollt hatte. Ach ja. Kleider für Joshua. Sie ging zum Schrank. Da hing ein dunkelblauer Anzug, den sie ihm zu seinem letzten Geburtstag gekauft hatte. Joshua hatte ihn getragen, als sie ihn zum Abendessen zu Lutèce geführt hatte. Der Abend war ihr noch lebhaft in Erinnerung. Joshua hatte so erwachsen ausgesehen, und Jennifer hatte einen Stich gefühlt und gedacht: Eines Tages wird er hier mit dem Mädchen sitzen, das er heiraten will. Dieser Tag würde niemals kommen. Es würde kein Erwachsenwerden geben. Kein Mädchen. Kein Leben.

Neben dem blauen Anzug hingen mehrere Blue Jeans und T-Shirts, eins davon mit dem Namen von Joshuas Baseballmannschaft bedruckt. Jennifer ließ ihre Hände ziellos über die Kleider gleiten. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Mrs. Mackey erschien. »Geht es Ihnen gut, Mrs. Parker?« Jennifer sagte artig: »Es geht mir gut, danke, Mrs. Mackey.« »Kann ich Ihnen bei irgend etwas behilflich sein?« »Nein, danke. Ich muß Joshua anziehen. Was, glauben Sie, würde er gern tragen?« Ihre Stimme klang hell und fröhlich, aber ihre Augen waren tot.

Mrs. Mackey hatte plötzlich Angst. »Warum legen Sie sich nicht ein wenig hin, Mrs. Parker? Ich rufe den Doktor.« Jennifers Hände strichen über die Kleider im Schrank. Sie zog die Baseballuniform vom Bügel. »Ich glaube, das würde Joshua gefallen. So, was braucht er noch?« Hilflos sah Mrs. Mackey zu, wie Jennifer zur Kommode ging und Unterwäsche, Socken und ein Hemd herausholte. Joshua braucht diese Dinge, denn er fährt in die Ferien. Ganz lange Ferien. »Glauben Sie, daß er es darin warm genug haben wird?« Mrs. Mackey brach in Tränen aus. »Bitte, nicht«, bettelte sie. »Lassen Sie die Sachen. Ich kümmere mich darum.« Aber Jennifer war schon wieder auf dem Weg nach unten.

Der Körper lag in der ›Schlummerkammer‹ der Leichenhalle. Man hatte Joshua auf einen langen Tisch gelegt, der seine kleine Gestalt wie die eines Zwergs wirken ließ. Als Jennifer mit Joshuas Kleidern zurückkehrte, versuchte der Bestatter noch einmal, sie von ihrem Plan abzubringen. »Ich habe mit Dr. Morris gesprochen. Wir sind der Meinung, Mrs. Parker, daß es viel besser wäre, wenn Sie uns das überließen.

Wir haben darin eine gewisse Übung und...«

Jennifer lächelte ihn an und sagte: »Raus!« Er schluckte. »Jawohl, Mrs. Parker.«

Jennifer wartete, bis er den Raum verlassen hatte, und dann wandte sie sich ihrem Sohn zu.

Sie blickte in sein schlafendes Gesicht und sagte: »Deine Mutter wird sich um dich kümmern, mein Liebling. Du wirst deine Baseballuniform tragen. Das gefällt dir, nicht?« Sie zog das Leichentuch beiseite und blickte auf seinen nackten, eingefallenen Körper, und dann begann sie ihn anzuziehen. Sie wollte ihm den Slip über den Körper streifen, und sie zuckte vor der eisigen Kälte seines Körpers zurück. Er war so hart und steif wie Marmor. Jennifer versuchte, sich weiszumachen, daß dieses eiskalte, leblose Stück Fleisch nicht ihr Sohn war, daß Joshua sich woanders befand, warm und glücklich, aber sie konnte sich nicht überzeugen. Es war Joshua da vor ihr auf dem Tisch. Ihr Körper begann zu zittern. Es war, als hätte Joshuas Kälte auf sie übergegriffen und wäre bis ins Knochenmark vorgedrungen. Hör auf! sagte sie zu sich selber. Hör auf! Hör auf! Hör auf! Hör auf!

Sie holte tief Luft, und als sie sich schließlich wieder beruhigt hatte, begann sie erneut, ihren Sohn anzuziehen und dabei mit ihm zu reden. Sie zog ihm frische Unterhosen an, danach eine Hose, und als sie ihn hochhob, um ihm das Hemd überzustreifen, rutschte ihre Hand ab, und sein Kopf fiel auf den Tisch, und Jennifer schrie: »Entschuldige, Joshua, vergib mir!« Und sie begann zu weinen.

Sie brauchte fast drei Stunden, um ihn anzuziehen. Er trug seine Baseballuniform, sein Lieblings- T-Shirt, weiße Strümpfe und Turnschuhe. Der Schirm der Baseballkappe überschattete sein Gesicht, so daß Jennifer sie schließlich auf seine Brust legte. »Du kannst sie so mitnehmen, mein Liebling.«

Als der Leichenbestatter hereinschaute, stand Jennifer über den angekleideten Körper gebeugt, hielt Joshuas Hand und redete mit ihm. Der Mann ging zu ihr und sagte sanft: »Wir kümmern uns jetzt um ihn.«

Jennifer blickte ihren Sohn ein letztes Mal an. »Bitte, gehen Sie vorsichtig mit ihm um. Er hat sich am Kopf verletzt, müssen Sie wissen.«

Die Beerdigung war schlicht. Jennifer und Mrs. Mackey gaben Joshua als einzige das letzte Geleit. Sie sahen zu, wie der schmale, weiße Sarg in das frisch ausgehobene Grab gesenkt wurde. Jennifer hatte daran gedacht, Ken Bailey zu informieren, denn Ken und Joshua hatten sich innig geliebt, aber Ken spielte keine Rolle mehr in ihrem Leben. Als die erste Schaufel voll Dreck auf den Sarg geworfen wurde, sagte Mrs. Mackey: »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.«

Jennifer sagte höflich: »Es geht mir gut. Joshua und ich, wir brauchen Sie nicht mehr, Mrs. Mackey. Ich sorge dafür, daß Sie einen Jahreslohn ausgezahlt bekommen, und ich gebe Ihnen ein gutes Zeugnis. Joshua und ich danken Ihnen für alles.«

Sie drehte sich um, ließ Mrs. Mackey stehen und schritt davon. Sie ging vorsichtig und hielt sich sehr aufrecht, als ginge sie einen endlosen Korridor entlang, der gerade breit genug für eine Person war.

Das Haus war still und friedlich. Sie ging nach oben in Joshuas Zimmer, schloß die Tür und legte sich auf sein Bett. Sie betrachtete all die Dinge, die ihm gehört hatten, die er geliebt hatte. Ihre ganze Welt war in diesem Zimmer. Jetzt gab es nichts mehr zu tun für sie - nichts mehr zu tun und kein Ziel. Es gab nur Joshua. Jennifer begann mit dem Tag seiner Geburt und versank in einem Meer von Erinnerungen. Joshua erste Schritte... Joshua, der Auto-Auto sagte und Mama, geh mit deinem Spielzeug spielen... Joshua, wie er zum erstenmal allein zur Schule ging, eine kleine, tapfere Gestalt... Joshua mit Masern im Bett... Joshua, der für seine Mannschaft ein Baseballspiel gewann... Joshua am Bug des Segelboots... Joshua, wie er einen Elefanten im Zoo fütterte... wie er am Muttertag Shine On, Harvest Moon sang..., die Erinnerungen zogen vorbei, Kurzfilme auf der Leinwand ihrer Seele. Sie endeten mit dem Tag, an dem sie nach Acapulco fuhren.

Acapulco... wo sie Adam getroffen und mit ihm geschlafen hatte. Gott strafte sie, weil sie nur an sich gedacht hatte. Natürlich, dachte Jennifer. Joshuas Tod ist meine Strafe. Er ist meine Hölle.

Und sie begann wieder von vorn, mit dem Tag, an dem Joshua geboren worden war... seine ersten Schritte... Auto-Auto und Mama, geh mit deinem Spielzeug spielen... Die Zeit verstrich. Manchmal hörte Jennifer das Telefon in einem fernen Winkel des Hauses klingeln, und einmal klopfte jemand an die Vordertür, aber diese Geräusche hatten keine Bedeutung für sie. Sie war mit ihrem Sohn zusammen und ließ sich durch nichts dabei stören. Sie blieb in Joshuas Zimmer, aß und trank nichts, verloren in ihrer eigenen Welt mit Joshua. Sie hatte kein Gefühl mehr für Zeit, keine Ahnung, wie lange sie auf dem Bett lag und in der Vergangenheit lebte.

Fünf Tage später hörte Jennifer die Türklingel erneut. Dann hämmerte jemand an die Tür, aber sie kümmerte sich nicht darum. Wer es auch immer war, er würde gehen und sie in Ruhe lassen. Undeutlich vernahm sie das Geräusch von splitterndem Glas. Einige Sekunden später sprang die Tür von Joshuas Zimmer auf, und Michael Moretti erschien im Rahmen. Er warf einen Blick auf die hagere Gestalt, die aus tiefliegenden Augen vom Bett zu ihm hochstarrte und sagte: »Jesus Christus!«

Michael Moretti brauchte seine ganze Kraft, um Jennifer aus dem Raum zu schaffen. Sie wehrte sich hysterisch, schlug nach ihm und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Nick Vito wartete im Erdgeschoß, und sogar zu zweit hatten sie alle Hände voll zu tun, um Jennifer in den Wagen zu bringen. Jennifer hatte keine Ahnung, wer sie waren und warum sie da waren. Sie wußte nur, daß diese Männer sie von ihrem Sohn fortbrachten. Sie versuchte, ihnen zu erklären, daß sie sterben würde, wenn sie ihr das antaten, aber schließlich war sie zu erschöpft, um sich noch länger zu wehren. Sie schlief ein.

Jennifer erwachte in einem hellen, sauberen Zimmer mit einem großen Aussichtsfenster, durch das sie einen Berg und einen See in der Ferne erblicken konnte. Eine Krankenschwester saß in einem Stuhl neben dem Bett und las ein Magazin. Als Jennifer die Augen öffnete, sah sie auf. »Wo bin ich?« Das Sprechen schmerzte in Jennifers Kehle. »Sie sind bei Freunden, Mrs. Parker. Mr. Moretti hat Sie hergebracht. Er hat sich große Sorgen um Sie gemacht. Er wird sich freuen, wenn er hört, daß Sie wieder wach sind.« Die Schwester eilte aus dem Raum. Jennifer lag da, gedankenblind, und wollte, daß ihr Verstand für immer leer blieb. Aber die Erinnerungen kehrten zurück, ungebeten, unerwünscht, und es gab kein Versteck, keine Fluchtmöglichkeit vor ihnen. Jennifer begriff, daß sie versucht hatte, Selbstmord zu begehen, ohne wirklich den Mut dazu zu haben. Sie hatte einfach sterben und den Tod herbeizwingen wollen. Michael hatte sie gerettet. Welche Ironie! Nicht Adam, sondern Michael. Vermutlich war es unfair, Adam einen Vorwurf zu machen. Sie hatte ihm die Wahrheit verheimlicht, hatte ihm den Sohn, der geboren worden und nun tot war, vorenthalten. Joshua war tot. Jetzt konnte Jennifer der Tatsache ins Gesicht sehen. Der Schmerz war tief und quälend, und sie wußte, daß dieser Schmerz sie ihr Leben lang begleiten würde. Aber sie konnte es ertragen. Sie mußte. Es war die ausgleichende Gerechtigkeit, die ihr die Rechnung vorlegte.

Jennifer hörte Schritte und blickte auf. Michael hatte den Raum betreten. Er stand vor dem Bett und sah sie fragend an. Als Jennifer verschwunden war, hatte er sich wie ein Wilder aufgeführt. Aus Angst um sie hatte er beinahe den Verstand verloren. Er ging auf sie zu und blickte ihr in die Augen. »Warum hast du mir nichts gesagt?« Er setzte sich auf die Bettkante. »Es tut mir so leid.«

Sie nahm seine Hand. »Danke, daß du mich hergebracht hast. Ich - ich glaube, ich war ein bißchen verrückt.«

»Ein bißchen.«

»Wie lange bin ich schon hier?' »Vier Tage. Der Doktor hat dich intravenös ernährt.« Jennifer nickte, und sogar diese kleine Bewegung kostete sie große Anstrengung.

»Dein Frühstück ist unterwegs. Er hat mir aufgetragen, dich zu mästen.« »Ich bin nicht hungrig. Ich glaube, ich will nie wieder essen.« »Du wirst.«

Und zu ihrer Überraschung hatte Michael recht. Als die Schwester ihr auf einem Tablett weichgekochte Eier, Toast und Tee brachte, stellte sie fest, daß sie ausgehungert war. Michael blieb bei ihr und beobachtete sie, und als sie fertig war, sagte er: »Ich muß wieder zurück nach New York und mich um ein paar Angelegenheiten kümmern. In ein paar Tagen bin ich wieder da.«

Er beugte sich vor und küßte sie zärtlich. »Ich sehe dich am Freitag.« Langsam strich er mit einem Finger über ihr Gesicht. »Ich möchte, daß du schnell wieder gesund wirst, hörst du?« Jennifer sah ihn an und sagte: »Ich höre.«

51

Der riesige Konferenzraum des Stützpunktes der US-Marineinfanterie platzte beinahe aus den Nähten. Vor der Tür stand eine Abteilung bewaffneter Wachen auf dem Posten. Hinter der Tür fand eine außergewöhnliche Versammlung statt. In Stühlen längs der Wand saßen die Mitglieder einer Anklagekammer. Auf der einen Seite eines langen Tisches saßen Adam Warner, Robert Di Silva und der stellvertretende Direktor des FBI. Ihnen gegenüber saß Thomas Colfax. Die Geschworenen der Anklagekammer, die Grand Jury in den Stützpunkt zu schaffen, war Adams Idee gewesen. »Nur so können wir Colfax' Schutz gewährleisten.« Die Grand Jury hatte Adams Vorschlag zugestimmt, und die Geheimsitzung konnte beginnen.

Adam forderte Thomas Colfax auf: »Würden Sie sich bitte identifizieren?« »Mein Name ist Thomas Colfax.« »Was sind Sie von Beruf, Mr. Colfax?«

»Ich bin Rechtsanwalt, zugelassen im Staat von New York und einigen anderen Staaten im ganzen Land.«

»Wie lange üben Sie diesen Beruf schon aus?«

»Über fünfunddreißig Jahre.«

»Haben Sie eine öffentliche Praxis?«

»Nein, Sir. Ich habe nur einen Mandanten.«

»Wer ist dieser Mandant?«

»Den größten Teil der fünfunddreißig Jahre handelte es sich um Antonio Granelli, der jetzt tot ist. Seinen Platz hat Michael Moretti eingenommen. Ich vertrete ihn und seine Organisation.«

»Beziehen Sie sich auf das organisierte Verbrechen?«

»So ist es, Sir.«

»Könnte man aufgrund der Position, die Sie so lange Jahre eingenommen haben, davon ausgehen, daß Sie einen einzigartigen Einblick in die Mechanismen dessen hatten, was wir die Organisation nennen wollen?«

»Es geschah nicht viel, wovon ich nichts wußte.«

»Und das umfaßt auch kriminelle Aktivitäten?«

»Ja, Senator.«

»Würden Sie uns etwas über diese Aktivitäten erzählen?«

Thomas Colfax redete zwei Stunden lang ununterbrochen. Seine Stimme war fest und sicher. Er nannte Namen, Orte un d Daten, und zeitweise war sein Vortrag so faszinierend, daß die im Raum Anwesenden vergaßen, wo sie sich befanden, in Bann geschlagen von den Horrorgeschichten, die Colfax erzählte.

Er sprach von Mordaufträgen, von getöteten Zeugen, von Brandstiftungen, Vergewaltigungen, weißem Sklavenhandel -und vor der Augen der Anwesenden entstand ein Gemälde wie von Hieronymus Bosch. Zum erstenmal wurden die geheimsten Operationen des größten Verbrechersyndikats der Welt vor aller Augen bloßgelegt. Gelegentlich stellten Adam oder Robert Di Silva eine Frage, soufflierten Colfax, hakten nach, wo immer es notwendig wurde, um die eine oder andere Lücke zu schließen. Die Sitzung lief wesentlich besser, als Adam gehofft hatte. Da passierte plötzlich, kurz vor Schluß, die Katastrophe. Einer der Männer in der Grand Jury hatte eine Frage gestellt. Es ging darum, wie die Organisation schmutziges Geld gewaschen hatte.

»Das geschah vor ungefähr zwei Jahren. Von einigen der späteren Unternehmungen hat Michael mich ferngehalten. Das war Jennifer Parkers Ressort.« Adam erstarrte.

Robert Di Silva fragte: »Jennifer Parker?« Seine Frage hatte eine geradezu explosive Intensität.

»Ja, Sir.« Thomas Colfax' Stimme hatte plötzlich einen rachsüchtigen Klang. »Sie ist jetzt die Chefanwältin der Organisation.«

Adam wünschte sich verzweifelt, ihn zum Schweigen bringen zu können, seine weiteren Worte aus dem Protokoll herauszuhalten, aber es war zu spät. Di Silva hatte die Schlagader anvisiert, und nichts konnte ihn mehr zurückhalten. »Erzählen Sie uns mehr über sie«, sagte Di Silva gespannt. Thomas Colfax fuhr fort: »Jennifer Parkers Gebiete sind Briefkastenfirmen, neue Möglichkeiten, Geld weißzuwaschen...« Adam versuchte, ihn zu unterbrechen. »Ich glaube nicht...«

»... Mord.« Das Wort hing im Raum.

Adam brach das Schweigen. »Wir - wir müssen uns an die Tatsachen halten, Mr. Colfax. Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß Jennifer Parker an einem Mord beteiligt war?«

»Genau das wollte ich sagen. Sie hat einem Mann den Bleistift schicken lassen, der ihren Sohn gekidnappt hatte. Der Name des Mannes war Frank Jackson. Sie bat Michael Moretti, ihn zu töten, und er hat es getan.« Erstauntes Stimmengemurmel erhob sich. Ihr Sohn! Adam dachte: Irgendwo muß da ein Fehler liegen. Er sagte stockend: »Ich glaube - ich glaube, wir haben auch ohne Gerüchte genug Beweise. Wir...«

»Das ist kein Hörensagen«, versicherte Thomas Colfax ihm. »Ich war im selben Zimmer wie Moretti, als sie anrief.« Adams Hände preßten sich unter dem Tisch so heftig gegeneinander, daß alles Blut aus ihnen wich. »Der Zeuge sieht müde aus. Ich glaube, für heute haben wir genug.« Robert Di Silva sagte zu der Grand Jury: »Ich möchte einen Vorschlag zur Verfahrensweise machen...« Adam hörte nicht zu. Er fragte sich, wo Jennifer sein mochte. Sie war schon wieder verschwunden. Er hatte wiederholt versucht, sie aufzuspüren, aber jetzt war er zu allem, entschlossen. Er mußte sie erreichen, und zwar schnell.

52

Die umfassendste Geheimoperation in der Geschichte der Verbrechensbekämpfung in den Vereinigten Staaten wurde in die Wege geleitet. Spezialeinheiten zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens und Bandenunwesens arbeiteten Hand in Hand mit dem FBI, den Post- und Zollbehörden, dem Finanzamt, der Rauschgiftpolizei und einem halben Dutzend anderer Regierungsstellen.

Die Bandbreite der Untersuchungen umfaßte Mord, Verschwörung zum Zweck der Begehung eines Mordes, Bandenunwesen, Erpressung, Unterschlagung von Einkommenssteuern, Gewerkschaftskorruption, Brandstiftung, Geldwucher und Drogen.

Thomas Colfax hatte der Regierung den Schlüssel zur Büchse der Pandora gegeben, einer Büchse des Verbrechens und der Korruption, und dieser Schlüssel half mit, einen großen Teil des organisierten Verbrechens auszurotten. Michael Morettis Familie wurde am schwersten getroffen, aber das Beweismaterial belastete Dutzende anderer Familien im ganzen Land.

Überall in den Vereinigten Staaten und außerhalb unterzogen Agenten der Regierung Freunde und Geschäftspartner der Männer auf ihrer Liste einer diskreten Befragung. Age nten in der Türkei, in Mexiko, San Salvador, Marseille und auf Honduras setzten sich mit ihren Anlaufstellen in Verbindung und gaben ihnen Informationen über illegale Unternehmungen in ihren Operationsgebieten. Kleine Fische, die ins Netz gingen, erhielten Straffreiheit zugesichert, wenn sie sangen und Beweismaterial gegen die Drahtzieher lieferten. Alles lief so unauffällig wie möglich ab, so daß die anvisierte Beute nicht vor dem Sturm gewarnt wurde, der sich über ihrem Kopf zusammenbraute.

Als Vorsitzender des Senatsausschusses empfing Adam Warner einen ständigen Strom von Besuchern in seinem Haus in Georgetown, und die Gespräche in seinem Arbeitsraum dauerten oft bis in die frühen Morgenstunden. Es bestanden wenig Zweifel, daß das Weiße Haus ein leichter Sieg für Adam Warner werden würde, wenn die Untersuchung vorbei und Michael Morettis Organisation zerschlagen war. Er hätte ein glücklicher Mann sein müssen. Statt dessen fühlte er sich elend angesichts der größten moralischen Krise seines Lebens. Jennifer Parker war von den Vorgängen zutiefst betroffen, und er mußte sie warnen, ihr nahelegen, zu fliehen, so lange sie noch eine Chance hatte. Nichtsdestoweniger hatte er eine andere Pflicht, eine Pflicht gegenüber dem Ausschuß, der seinen Namen trug, eine Pflicht gegenüber dem Senat der Vereinigten Staaten. Er war Jennifers Ankläger, wie konnte er ihr Beschützer sein? Wenn er sie warnte und dabei ertappt wurde, würde es die Glaubwürdigkeit seines Ausschusses und alles, was er bisher erreicht hatte, gefährden. Es würde seine Zukunft und seine Familie zerstören. Colfax' Bemerkung, daß Jennifer ein Kind hatte, war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Er wußte, daß er mit Jennifer sprechen mußte. Adam wählte ihre Büronummer, und eine Sekretärin sagte: »Es tut mir el id, Mr. Adams, Miß Parker ist nicht da.« Adam hielt sich im Arbeitszimmer auf und versuchte zum drittenmal an diesem Tag, Jennifer anzurufen, als Mary Beth in den Raum trat. Unauffällig legte Adam den Hörer wieder auf.

Mary Beth ging zu ihm und fuhr ihm mi t den Fingern durch das Haar.

»Du siehst müde aus, Darling.«

»Es geht mir gut.«

Sie ging zu einem lederbezogenen Sessel auf der anderen Seite von Adams Schreibtisch und setzte sich. »Langsam fügt sich alles zusammen, nicht, Adam?«

»Sieht so aus, ja.«

»Ich hoffe, daß bald alles vorüber ist, in deinem Interesse. Der Streß muß schrecklich sein.«

»Ich kann es aushalten, Mary Beth. Mach dir um mich keine Sorgen.«

»Ich mache mir aber Sorgen. Jennifer Parkers Name steht auf der Liste, oder?«

Adam blickte sie scharf an. »Woher weißt du das?« Sie lachte. »Mein Engel, du hast dieses Haus in einen Marktplatz verwandelt. Ich kann nichts dafür, daß ich manchmal ein wenig von dem höre, was vorgeht. Alle scheinen geradezu kopflos vor Aufregung. Jeder will Michael Moretti und seine Freundin fangen.« Sie beobachtete Adams Miene, aber es gab keine Reaktion.

Mary Beth betrachtete ihren Mann liebevoll und dachte: Wie naiv Männer doch sind. Sie wußte mehr über Jennifer Parker als er. Es hatte sie immer erstaunt, wie hervorragend ein Mann im Geschäftsleben oder der Politik sein konnte und wie töricht, wenn es sich um Frauen handelte. Wie viele wirklich große Männer hatten billige kleine Dummchen geheiratet. Mary Beth verstand es völlig, daß ihr Ehemann eine Affäre mit Jennifer gehabt hatte. Schließlich war Adam ein sehr attraktiver und begehrenswerter Mann. Und wie alle Männer war er für neue Reize empfänglich. Ihre Philosophie war, zu vergeben, aber niemals zu vergessen.

Mary Beth wußte, was gut für ihren Ehemann war. Alles, was sie tat, geschah zu seinem Besten. Wenn dies alles vorbei war, würde sie mit ihm irgendwohin fahren. Er sah wirklich müde aus. Sie würden Samantha bei der Haushälterin lassen und in eine romantische Gegend fahren. Vielleicht nach Tahiti.

Mary Beth blickte aus dem Fenster und sah zwei Sicherheitsbeamte miteinander reden. Sie hatte diesen Männern gegenüber gemischte Gefühle. Einerseits mißbilligte sie das Eindringen in ihr Privatleben, aber andererseits erinnerten sie sie ständig daran, daß ihr Mann einmal Präsident der Vereinigten Staaten werden würde. Es gab keinen Zweifel daran, daß er es schaffen würde. Jeder sagte das. Die Vorstellung, im Weißen Haus zu leben, war so greifbar, daß ihr schon warm wurde, wenn sie nur daran dachte. Ihre Lieblingsbeschäftigung, während Adam mit seinen ganzen Konferenzen zu tun hatte, bestand darin, das Weiße Haus umzudekorieren. Stundenlang saß sie allein in ihrem Zimmer, rückte in ihrer Phantasie Möbel herum, wechselte ganze Einrichtungen aus und dachte an all die aufregenden Dinge, die sie tun würde, wenn sie First Lady wäre.

Schon jetzt hatte sie die Räume gesehen, in die die meisten Besucher gar nicht hereingelassen wurden: das chinesische Zimmer, die Bücherei mit ihren fast dreitausend Büchern, den Raum für diplomatische Empfänge und die Zimmer der Präsidentenfamilie mitsamt den sieben Gästeschlafzimmern im zweiten Stock.

Sie und Adam würden in diesem Haus wohnen und ein Teil seiner Geschichte werden. Mary Beth schauderte, wenn sie daran dachte, wie nahe Adam daran gewesen war, alle ihre Chancen zu verspielen, nur wegen dieser Parker. Nun, das war Gott sei Dank vorbei.

Sie betrachtete Adam, der erschöpft und abgemagert an seinem Schreibtisch saß.

»Kann ich dir eine Tasse Kaffee kochen, Liebling?« Adam wollte schon nein sagen, aber dann entschied er sich anders. »Das wäre schön.«

»Es wird nur eine Sekunde dauern.«

Kaum hatte Mary Beth den Raum verlassen, da hob Adam den Hörer erneut auf und begann zu wählen. Es war Abend, und er wußte, daß niemand mehr in Jennifers Büro sein würde, aber sie mußte den Auftragsdienst eingeschaltet haben. Nach einer Ewigkeit meldete sich der Auftragsdienst. »Hier spricht Mr.Adams«, sagte Adam. »Seit Tagen versuche ich, Jennifer Parker zu erreichen. Es ist äußerst dringend.«

»Einen Augenblick, bitte.« Dann meldete sich die Stimme wieder. »Es tut mir leid, Mr. Adams. Ich habe keine Ahnung, wo sich Mrs. Parker befindet. Wollen Sie eine Botschaft hinterlassen?«

»Nein.« Adam knallte enttäuscht den Hörer auf. Er wußte, daß sie unter Garantie nicht reagieren würde, selbst wenn er eine Nachricht für Jennifer hinterließ und sie bat, ihn anzurufen. Er saß in seiner Höhle, starrte in die Nacht hinaus und dachte an die Dutzende von Haftbefehlen, die demnächst ausgestellt werden würden. Einige unter ihnen würden auf Mordverdacht lauten. Und einer davon würde Jennifer Parkers Namen tragen.

Es dauerte fünf Tage, bis Michael Moretti wieder zu der Berghütte zurückkehrte, in der Jennifer sich aufhielt. Sie hatte sich ausgeruht, gegessen und lange Spaziergänge auf den Pfaden um das Haus unternommen. Als sie Michaels Wagen den Berg heraufkommen hörte, ging sie nach draußen, um ihn zu begrüßen.

Michael blickte sie an und sagte: »Du siehst schon wesentlich besser aus.«

»Ich fühle mich auch besser, danke.«

Sie gingen auf dem Pfad entlang, der zum See herunterfühlte. Michael sagte: »Ich habe Arbeit für dich.«

»Worum geht es?«

»Ich möchte, daß du morgen nach Singapur fliegst.«

»Singapur?«

»Ein Steward wurde dort auf dem Flughafen verhaftet, weil er eine Ladung Kokain bei sich hatte. Sein Name ist Stefan Bjork. Er sitzt im Gefängnis. Ich möchte, daß du ihn auf Kaution herausholst, ehe er zu singen anfängt.«

»In Ordnung.«

»Komm so schnell wie möglich zurück. Du wirst mir fehlen.« Er zog sie an sich und küßte sie zärtlich auf die Lippen, dann flüsterte er: »Ich liebe dich, Jennifer.« Und sie wußte, daß er diese Worte nie zuvor zu einer Frau gesagt hatte.

Aber es war zu spät. Es war vorbei. Irgend etwas in ihr war für immer gestorben, und sie war zurückgeblieben, für immer einsam, für immer schuldig. Sie hatte sich entschlossen, Michael zu sagen, daß sie ihn verlassen würde. Es würde keinen Adam und keinen Michael geben. Sie mußte irgendwohin gehen, allein, und von vorn anfangen. Sie mußte eine Rechnung begleichen. Sie würde diese eine Angelegenheit noch für Michael in Ordnung bringen und ihm nach der Rückkehr ihre Pläne mitteilen. Am nächsten Morgen flog sie nach Singapur.

53

Nick Vito, Tony Santo, Salvatore Fiore und Joseph Colella aßen in Tony's Place zu Mittag. Sie saßen an einem der vorderen Tische, und jedesmal, wenn sich die Tür öffnete, blickten sie auf, um den Ankömmling zu mustern. Michael Moretti hielt sich im Hinterzimmer auf, und obwohl es zur Zeit keine Streitigkeiten zwischen den Familien gab, war es immer besser, auf Nummer Sicher zu gehen. »Was ist Jimmy passiert?« fragte Joseph Colella. »Astutatumorte«, sagte Nick Vito. »Der blöde Hurensohn ist auf die Schwester eines Bullen reingefallen. Die Braut war nicht astrein, sage ich euch. Sie und ihr Bullenbruder haben Jimmy einen Floh ins Ohr gesetzt. Er hatte einen richtigen Höhenflug. Jimmy arrangierte ein Treffen mit Mike, und dabei trug er eine Drahtstange im Hosenbein.«

»Und dann?« fragte Fiore.

»Dann wurde Jimmy so nervös, daß er dringend pissen mußte. Als er seinen Hosenschlitz aufgemacht hat, ist der gottverdammte Draht rausgerutscht.«

»Oh, Scheiße!«

»Genau die hat Jimmy gebaut. Mike hat Gino auf ihn losgelassen. Der hat ihn mit seinem eigenen Draht stranguliert. Er wurde ganz langsam getötet - suppilu suppilu.« Die Tür öffnete sich, und die Männer blickten auf. Es war der Zeitungsbote mit der Nachmittagsausgabe der New York Post. Joseph Colella rief: »Hierher, Sonny!« Er wandte sich an die anderen. »Ich muß mir mal kurz die Sportseite ansehen. Ich habe heute in Hialeah ein Pferd am Start.« Der Zeitungsjunge, ein wettergegerbter Mann in den Siebzigern, reichte Joseph Colella eine Nummer der Post, und Colella gab ihm einen Dollar. »Der Rest ist für dich.« Genau das hätte Michael Moretti gesagt. Joseph Colella schlug die Zeitung auf, und Nick Vitos Aufmerksamkeit wurde von einem Foto auf der Titelseite angezogen. »He«, meinte er. »Den Burschen kenne ich doch!« Tony Santo warf einen Blick über Vitos Schulter. »Natürlich kennst du ihn, Witzbold. Das ist Adam Warner. Er bewirbt sich um die Präsidentschaft.«

»Nein, ich meine, ich habe ihn persönlich gesehen.« Er zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, sich zu erinnern. Plötzlich fiel es ihm ein.

»Jetzt weiß ich's. Er war der Mann, den ich mit Jennifer Parker in einer Bar in Acapulco gesehen habe.« »Wovon sprichst du eigentlich?«

»Weißt du noch, wie ich letzten Monat drüben war und eine Lieferung abgegeben habe? Ich habe diesen Burschen in Begleitung von Jennifer Parker gesehen. Sie haben zusammen was getrunken.«

Salvatore Fiore starrte ihn an. »Bist du sicher?«

»Ja. Warum?«

Fiore sagte langsam. »Ich glaube, du solltest vielleicht besser Mike davon erzählen.«

Michael Moretti starrte Nick Vito an und sagte: »Du hast wohl deinen verdammten Verstand verloren! Was sollte Jennifer Parker mit Senator Warner zu tun haben?«

»Keine Ahnung, und wenn Sie mich schlagen würden, Boß. Ich weiß nur, daß sie in dieser Bar saßen und Margaritas tranken.«

»Nur sie beide?«

»Ja.«

Salvatore Fiore schaltete sich ein: »Ich dachte, du solltest das wissen, Mike. Dieser Warner untersucht sogar noch unsere Scheiße. Er macht uns das Leben zur Hölle. Warum sollte Jennifer einen Drink mit ihm nehmen?«

Genau das wollte auch Michael wissen. Jennifer hatte von Acapulco und dem Konvent erzählt und ein halbes Dutzend Leute erwähnt, die sie getroffen hatte. Über Adam Warner hatte sie kein Wort verloren.

Michael wandte sich an Tony Santo. »Wer ist zur Zeit Geschäftsführer der Portiersgewerkschaft?« »Charlie Corelli.«

Fünf Minuten später telefonierte Michael Moretti mit Charles Corelli. »Ein Freund von mir wohnte vor neun Jahren in den Belmont Towers«, sagte Michael. »Ich würde gern mit dem Mann sprechen, der damals dort Pförtner war.« Michael lauschte einen Moment. »Ich weiß das zu schätzen, mein Freund. Ich schulde Ihnen einen Gefallen.« Er hängte auf. Nick Vito, Santo, Fiore und Colella beobachteten ihn. »Habt ihr Bastarde nichts zu tun? Macht, daß ihr hier rauskommt, zum Teufel!«

Die drei Männer verließen eilig den Raum. Michael saß an seinem Schreibtisch, dachte nach, stellte sich Jennifer und Adam Warner zusammen vor. Warum hatte sie ihn nie erwähnt? Und Joshuas Vater, der in Vietnam gefallen war. Warum hatte Jennifer nie von ihm gesprochen? Michael Moretti begann in seinem Büro auf und ab zu gehen.

Drei Stunden später führte Tony Santo einen schüchternen, schlecht angezogenen Mann von etwa sechzig Jahren in den Raum. Der Mann hatte offensichtlich Angst.

»Das ist Wally Kawolski«, sagte Tony.

Michael stand auf und schüttelte Kawolski die Hand. »Danke, daß Sie vorbeikommen konnten. Ich weiß das zu schätzen.

Setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken? Eine Zigarre?«

»Nein, nein, danke, Mr. Moretti. Es geht mir gut, Sir, danke sehr.«

Fehlte nur noch, daß er sich verbeugte. »Sie brauchen nicht nervös zu sein. Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen, Wally.«

»Gern, Mr. Moretti. Alles, was Sie wissen wollen. Alles, was ich weiß. Alles.« »Arbeiten Sie immer noch in den Belmont Towers?« »Ich? Nein, Sir. Ich habe dort vor, oh, ungefähr fünf Jahren aufgehört. Meine Schwiegermutter hatte einen schweren...«

»Erinnern Sie sich noch an die Mieter?«

»Ja, Sir. Zumindest an die meisten, schätze ich. Sie waren ziemlich...«

»Erinnern Sie sich an eine Jennifer Parker?« Walter Kawolskis Gesicht strahlte. »Oh, natürlich. Sie war eine vornehme Dame. Ich kann mich sogar an die Nummer ihrer Wohnung erinnern. 1929. Wie das Jahr mit dem großen Börsenkrach, wissen Sie? Ich mochte sie.«

»Hatte Miß Parker viele Besucher, Wally?« Walter kratzte sich gemächlich den Kopf. »Nun, das ist schwer zu sagen, Mr. Moretti. Ich sah sie eigentlich nur, wenn sie hereinkam oder hinausging.«

»Haben manchmal Männer die Nacht in ihrer Wohnung verbracht?«

»O nein, Sir.«

Eine Welle der Erleichterung durchflutete Michael. Also war alles viel Lärm um nichts gewesen. Er hatte die ganze Zeit gewußt, daß Jennifer niemals...

»Ihr Freund hätte ja auftauchen und sie erwischen können.« Michael glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Ihr Freund?«

»Ja. Dieser Bursche, mit dem Miß Parker in der Wohnung gelebt hat.«

Die Worte trafen Michael wie ein Vorschlaghammer. Er verlor die Beherrschung. Er packte Walter Kawolski an den Aufschlägen und riß ihn hoch. »Du dämlicher Arschficker! Ich habe dich gefragt, ob... wie hieß er?«

Der kleine Mann wurde von Entsetzen geschüttelt. »Ich weiß nicht, Mr. Moretti. Ich schwöre bei Gott, ich weiß es nicht.«

Michael stieß ihn weg. Er hob die Zeitung auf und hielt sie unter Kawolskis Nase.

Kawolski blickte auf das Foto von Adam Warner und sagte aufgeregt: »Das ist er. Das ist ihr Freund.« Und Michael fühlte seine Welt auseinanderbrechen. Jennifer hatte ihn die ganze Zeit belogen; sie hatte ihn mit Adam Warner betrogen! Hinter seinem Rücken waren die beiden herumgeschlichen, hatten sich gegen ihn verschworen und einen Idioten aus ihm gemacht. Sie hatte ihm Hörner aufgesetzt.

Wie reißende Ströme stiegen Gedanken an Rache in Michael Moretti auf, und er wußte, daß er sie beide töten würde.

54

Jennifer flog über London nach Singapur. In Bahrain hatte sie einen zweistündigen Aufenthalt. Der fast neue Flughafen des Ölemirats war bereits ein Slum geworden. Männer, Frauen und Kinder in den Kleidern der Eingeborenen schliefen auf Fluren und Bänken. Vor dem Spirituosenstand des Flugplatzes war ein Schild mit der Warnung angebracht, daß jeder, der in der Öffentlichkeit trank, ins Gefängnis gesteckt würde. Die Atmosphäre wirkte feindselig, und Jennifer war erleichtert, als ihr Flug aufgerufen wurde.

Die Boeing 747 landete um vier Uhr vierzig auf dem ChangiFlughafen von Singapur. Der Flugplatz war brandneu, vierzehn Meilen vom Zentrum der Stadt entfernt. Er hatte den alten International Airport ersetzt, und als das Flugzeug die Landebahn entlangrollte, konnte Jennifer sehen, daß noch immer gebaut wurde.

Das Zollgebäude war riesig, luftig und modern. Zur Bequemlichkeit der Passagiere gab es Reihen von Gepäckwagen. Die Zollbeamten waren tüchtig und höflich. Jennifer war bereits nach fünfzehn Minuten abgefertigt und auf dem Weg zum Taxistand.

Hinter dem Ausgang näherte sich ihr ein kräftiger Chinese mittleren Alters. »Miß Jennifer Parker?«

»Ja.«

»Ich bin Chu Ling.« Morettis Kontaktmann in Singapur. »Ich bin mit dem Wagen da.«

Chu Ling ließ Jennifers Gepäck in den Kofferraum seiner Limousine laden, und einige Minuten später waren sie bereits auf dem Weg in die City.

»Hatten Sie einen angenehmen Flug?« fragte Chu Ling. »Ja, danke.« Aber Jennifers Gedanken waren bei Stefan Bjork. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, nickte Chu Ling zu einem Gebäude vor ihnen. »Das ist das Changi-Gefängnis. Bjork befindet sich dort.«

Jennifer betrachtete es aufmerksam. Das Gefängnis war ein mächtiges Gebäude jenseits der Straße, umgeben von einem grünen Zaun und elektrisch geladenem Stacheldraht. An jeder Ecke erhob sich ein mit bewaffneten Posten bestückter Wachturm, und der Eingang wurde von einem weiteren Stacheldrahtverhau und noch mehr Wachen am Tor blockiert. »Während des Krieges wurden hier alle Briten, die sich im Land aufhielten, interniert«, erklärte Chu Ling. »Wann kann ich Bjork sehen?«

Chu Ling antwortete vorsichtig: »Die Lage ist äußerst delikat, Mrs. Parker. Die Regierung ahndet den Gebrauch von Drogen mit außerordentlicher Härte. Sogar Leute, die zum erstenmal straffällig werden, können auf eine gnadenlose Behandlung rechnen. Wenn jemand aber mit Drogen handelt...« Chu Ling zuckte ausdruckslos mit den Schultern. »Singapur wird von einigen wenigen, sehr mächtigen Familien beherrscht. Der Familie Shaw, C. K. Tang, Tan Chin Tuan und dem Premierminister. Diese Sippen kontrollieren Wirtschaft und Finanzen von Singapur. Sie wollen hier keine Drogen.«

»Wir müssen hier doch einige Freunde mit Einfluß haben.«

»Es gibt einen Polizeiinspektor, David Touh - ein sehr vernünftiger Mann.«

Jennifer fragte sich, wieviel dieses »vernünftig« sie kosten würde, sprach aber nicht mit Chu Ling darüber. Später würde noch Zeit genug sein. Sie lehnte sich zurück und betrachtete die Gegend. Sie fuhren jetzt durch die Vororte von Singapur. Überall erstreckten sich weitflächige Grünanlagen, betupft mit blühenden Blumen. Zu beiden Seiten der MacPherson Road lagen moderne Einkaufscenter neben alten Heiligtümern und Pagoden. Einige der Fußgänger trugen Turbane und einheimische Trachten, andere waren nach der neuesten westlichen Mode gekleidet. Die Stadt war eine farbenprächtige Mischung aus der historischen Kultur des Landes und einer modernen Metropolis. Die Einkaufscenter wirkten neu und geradezu fleckenlos sauber. Als Jennifer eine Bemerkung darüber machte, lächelte Chu Ling. »Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung. Auf Umweltverschmutzung steht eine Geldbuße von mindestens fünfhundert Dollar, und sie wird auch rigoros verhängt.«

Der Wagen bog in die Stevens Road, und Jennifer erblickte ein schönes, völlig von Bäumen und Blumen eingefaßtes Gebäude auf einem Hügel. »Das ist das Shangri- La, Ihr Hotel.«

Das Foyer war riesig, schneeweiß, peinlich sauber und bestand hauptsächlich aus Marmorsäulen und Glas. Während Jennifer sich eintrug, sagte Chu Ling: »Inspektor Touh wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.« Er gab ihr seine Karte. »Unter dieser Nummer können Sie mich stets erreichen.«

Ein lächelnder Page bemächtigte sich Jennifers Gepäck und führte sie durch die Halle zum Lift. Jennifer bemerkte einen überwältigenden Garten unter einem Wasserfall und einen Swimmingpool. Das Shangri-La war das atemberaubendste Hotel, das sie je gesehen hatte. Ihre Suite im zweiten Stock bestand aus einem großen Wohnzimmer, einem Schlafzimmer und einer Terrasse, die auf einen farbenprächtigen See aus roten und weißen Blumen, purpurner Bougainvillea und kokosnußbehangenen Palmen ging. Als befände man sich mitten in einem Gauguin-Gemälde, dachte Jennifer. Eine leichte Brise bauschte die Vorhänge. Es war ein Tag, wie Joshua ihn liebte. Können wir heute nachmittag segeln gehen, Mama? Hör mit dem Unsinn auf, schalt Jennifer sich selbst. Sie ging zum Telefon. »Ich möchte ein Gespräch in die Vereinigten Staaten anmelden, nach New York City. Der Teilnehmer ist Michael Moretti.« Sie nannte seine Telefonnummer. Die Telefonistin sagte: »Es tut mir außerordentlich leid. Alle Leitungen sind belegt. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«

»Ich danke Ihnen.«

Im Erdgeschoß blickte die Telefonistin einen Mann neben dem Schaltbrett fragend an. Der Mann nickte beifällig. »Gut«, sagte er. »Sehr gut.«

Der Anruf von Inspektor Touh erfolgte eine Stunde, nachdem Jennifer sich eingetragen hatte. »Miß Jennifer Parker?«

»Am Apparat.«

»Hier spricht Inspektor David Touh.« Er hatte einen schwachen, undefinierbaren Akzent.

»Ich habe Ihren Anruf erwartet. Ich bin hier, um mit...« Der Inspektor unterbrach sie. »Ich frage mich, ob Sie mir heute abend beim Essen das Vergnügen Ihrer Gesellschaft bereiten würden.«

Eine Warnung. Er hatte wahrscheinlich Angst, daß das Telefon abgehört wurde. »Ich wäre sehr erfreut.«

Das Great Shanghai war ein riesiges, lärmerfülltes Restaurant, das zum größten Teil von Eingeborenen bevölkert war, die laut aßen und redeten. Auf einer Bühne spielte eine Drei-Mann-Band, und ein attraktives Mädchen in einem Cheongsam sang amerikanische Schlager.

Der Oberkellner fragte Jennifer: »Ein Tisch für eine Person?«

»Ich bin hier verabredet. Mit Inspektor Touh.« Das Gesicht des Oberkellners teilte sich in ein breites Lächeln. »Der Inspektor wartet bereits auf Sie. Hier entlang, bitte.« Er führte Jennifer zu einem Tisch in der Nähe der Band. Inspektor David Touh war ein großer, schlanker, attraktiver Mann von Anfang Vierzig mit feinen Gesichtszügen und dunklen, feuchten Augen. Er trug einen dunklen, gutgeschnittenen Anzug.

Er hielt Jennifers Stuhl, dann setzte er sich selber. Die Band spielte einen ohrenbetäubenden Rocksong. Inspektor Touh beugte sich vor und fragte: »Darf ich Ihnen einen Drink bestellen?«

»Ja, danke.«

»Sie müssen einen chendol versuchen.«

»Einen was?«

»Einen Drink mit Kokosnußmilch, Kokoszucker und kleinen Gelatinestückchen. Er wird Ihnen schmecken.« Der Inspektor sah auf, und sofort war eine Kellnerin an ihrem Tisch. Der Inspektor bestellte die Drinks und dim sum, chinesische Appetitanreger. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich auch das Essen für Sie auswähle.«

»Ganz und gar nicht. Es wäre mir ein Vergnügen.«

»Ich weiß, daß in Ihrem Land die Frauen daran gewöhnt sind, das Ruder in die Hand zu nehmen. Hier hat noch immer der Mann zu sagen.«

Ein männlicher Chauvinist, dachte Jennifer, aber sie hatte keine Lust, sich zu streiten. Sie brauchte diesen Mann. Wegen des unvorstellbaren Getöses und der Musik war es fast unmöglich, ein Gespräch zu führen. Jennifer lehnte sich zurück und blickte sich im Raum um. Sie war schon in anderen orientalischen Ländern gewesen, aber die Menschen in Singapur waren außerordentlich schön, Männer und Frauen gleichermaßen.

Die Kellnerin stellte Jennifers Drink vor sie hin. Er erinnerte an ein Schokoladensoda, mit schlüpfrigen Klumpen darin. Inspektor Touh beobachtete sie. »Sie müssen ihn umrühren.«

»Ich kann Sie nicht verstehen.« Er brüllte: »Sie müssen ihn umrühren!« Gehorsam rührte Jennifer ihren Drink um. Sie kostete. Er war schrecklich, viel zu süß, aber sie nickte und sagte: »Er - er ist ungewöhnlich.«

Ein halbes Dutzend Teller mit dim sum erschienen auf dem Tisch. Einige dieser Köstlichkeiten hatten höchst ungewöhnliche Formen, die Jennifer noch nie gesehen hatte, aber sie beschloß,nicht zu fragen. Das Essen war hervorragend. Inspektor Touh brüllte Erklärungen: »Dieses Restaurant ist bekannt für sein Essen im Nonya-Stil. Es handelt sich um eine Mischung aus chinesischen Zutaten und malayischen Soßen. Die Rezepte sind nirgendwo niedergeschrieben.«

»Ich möchte mit Ihnen über Stefan Bjork reden«, sagte Jennifer.

»Ich kann Sie nicht verstehen.« Der Lärm der Band hatte einen neuen Höhepunkt erreicht.

Jennifer beugte sich näher zu Touh. »Ich möchte wissen, wann ich Stefan Bjork sehen kann.«

Inspektor Touh zuckte mit den Schultern und gestikulierte, daß er sie nicht verstehen konnte. Jennifer fragte sich plötzlich, ob er diesen Tisch ausgewählt hatte, damit sie ungehört reden konnten oder damit jegliches Gespräch unmöglich war.

Eine endlose Prozession von Speisen folgte auf die dim sum, und es war ein überwältigendes Mahl. Das einzige, was Jennifer störte, war, daß sie nicht ein einziges Mal das Thema Stefan Bjork zur Sprache bringen konnte.

Als sie zu Ende gegessen hatten und wieder auf der Straße waren, sagte Inspektor Touh: »Ich habe meinen Wagen da.« Er schnippte mit den Fingern, und ein schwarzer Mercedes, der in der zweiten Reihe geparkt hatte, rollte heran. Der Inspektor öffnete Jennifer die Hintertür. Ein mächtiger, uniformierter Polizist saß am Steuer. Irgend etwas stimmte nicht. Wenn Inspektor Touh vertrauliche Dinge mit mir besprechen wollte, dachte Jennifer, dann hätte er dafür gesorgt, daß wir alleine sind. Sie nahm auf dem Rücksitz Platz, und der Inspektor glitt neben sie.

»Sie sind das erste Mal in Singapur, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ah, dann gibt es viel für Sie zu sehen.«

»Ich bin nicht als Tourist hier, Inspektor. Ich muß so schnell wie möglich wieder nach Hause zurück.« Der Inspektor seufzte. »Ihr Amerikaner seid immer in einer solchen Hetze. Haben Sie schon einmal von der Bugisstraße gehört?«

»Nein.«

Jennifer veränderte ihre Stellung, so daß sie Inspektor Touh studieren konnte. Er hatte ein sehr bewegliches Gesicht, und seine Gesten waren ausdrucksvoll. Er wirkte extrovertiert und redselig, und dennoch schaffte er es, seit Stunden praktisch nichts zu sagen.

Der Wagen mußte wegen eines betjaks halten, eines dreirädrigen Fahrrads, mit dem eingeborene Fahrer Touristen beförderten. Inspektor Touhs Gesicht hatte einen verächtlichen Ausdruck angenommen. »Eines Tages werden wir das verbieten.«

Jennifer und der Inspektor verließen den Wagen einen Block von der Bugisstraße entfernt.

»Hier sind keine Automobile erlaubt«, erklärte Touh. Er nahm Jennifers Arm, und sie begannen, den belebten Bürgersteig entlangzugehen. Nach ein paar Minuten war die Menge so dicht, daß es fast unmöglich wurde, sich zu bewegen. Die Bugisstraße war eng und zu beiden Seiten von Ständen gesäumt, an denen Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch feilgeboten wurden. Es gab Terrassenrestaurants mit kleinen, von Stühlen umgebenen Tischen. Jennifer blieb stehen und sog Farben, Geräusche und Gerüche, die ganze fremdartige Szenerie ein. Inspektor Touh nahm ihren Arm und bahnte ihr einen Weg durch die Menge. Sie erreichten ein Restaurant mit drei Tischen davor, die alle besetzt waren. Der Inspektor ergriff den Arm eines vorbeieilenden Kellners, und einen Augenblick später war der Eigentümer an ihrer Seite. Der Inspektor sagte ein paar Worte auf chinesisch zu ihm. Der Chef ging zu einem der Tische und redete mit den Gästen. Sie sahen zu Inspektor Touh her und standen dann hastig auf, um zu verschwinden. Der Inspektor und Jennifer nahmen an dem Tisch Platz.

»Darf ich Ihnen etwas bestellen?«

»Nein, danke.« Jennifer beobachtete das Menschengewimmel, das sich auf der Straße und den Bürgersteigen drängte. Unter anderen Umständen hätte sie den Abend genossen. Singapur war eine faszinierende Stadt, eine Stadt, die man mit einem Menschen erleben mußte, der einem etwas bedeutete. Inspektor Touh sagte: »Passen Sie auf. Es ist beinahe Mitternacht.«

Jennifer wußte zuerst nicht, was er meinte. Dann bemerkte sie, daß alle Geschäftsleute gleichzeitig ihre Stände zu schließen begannen. Innerhalb von zehn Minuten waren alle Stände abgesperrt, die Besitzer verschwunden. »Was geht da vor?« fragte Jennifer. »Das werden Sie gleich sehen.«

Vom Ende der Straße drang ein Murmeln, und die Menschen zogen sich auf die Bürgersteige zurück. Ein breiter Streifen der Straße war jetzt frei. Ein chinesisches Mädchen in einem langen, enganliegenden Abendkleid wandelte in der Mitte des Streifens. Sie war die schönste Frau, die Jennifer je gesehen hatte. Sie schritt stolz und langsam dahin und blieb hin und wieder an verschiedenen Tischen stehen, um Leute zu begrüßen, ehe sie weiterging.

Als das Mädchen sich dem Tisch näherte, an dem Jennifer und der Inspektor saßen, konnte Jennifer es genauer betrachten, und aus der Nähe war es sogar noch attraktiver. Seine Gesichtszüge waren weich und feingeschnitten, die Figur war atemberaubend. Das an den Seiten hochgeschlitzte weiße Seidenkleid ließ hinreißend geschwungene Schenkel und kleine, perfekte Brüste erkennen.

Als Jennifer sich an den Inspektor wandte, um eine Bemerkung fallenzulassen, erschien ein zweites Mädchen. Es war womöglich noch schöner als das erste. Hinter ihr kamen zwei weitere, und binnen weniger Sekunden war die Straße mit

jungen Mädchen überflutet. Sie waren eine Mischung aus malayischen, indischen und chinesischen Einflüssen. »Es sind Prostituierte, nicht wahr?« riet Jennifer. »Ja, Transsexuelle.«

Jennifer starrte ihn an. Das war doch nicht möglich. Sie beobachtete wieder die Mädchen. Sie konnte absolut nichts Männliches an ihnen erkennen. »Sie nehmen mich auf den Arm.«

»Sie werden die Billy Boys genannt.« Jennifer war verwirrt. »Aber sie...«

»Sie haben sich alle operieren lassen. Sie halten sich für Frauen.« Er zuckte mit den Schultern. »Warum auch nicht? Sie tun niemandem weh. Sie müssen wissen«, fügte er hinzu, »daß Prostitution bei uns verboten ist. Aber die Billy Boys locken Touristen an, und solange sie die Gäste nicht belästigen, drückt die Polizei ein Auge zu.«

Jennifer konnte ihre Blicke nicht von den vollkommenen jungen Leuten wenden, die sich die Straße hinunterbewegten und an den Tischen stehenblieben, um Kunden für sich zu interessieren.

»Es geht ihnen nicht schlecht. Sie berechnen bis zu zweihundert Dollar.«

Die meisten Mädchen saßen jetzt bei Männern an den Tischen und feilschten. Eine nach der anderen standen sie auf und verschwanden mit ihren Kunden.

»Die meisten bringen es auf zwei oder drei Transaktionen pro Nacht«, erklärte der Inspektor. »Sie übernehmen die Bugisstraße um Mitternacht, und um sechs Uhr morgens müssen sie verschwunden sein, damit die Stände wieder öffnen können. Wenn Sie soweit sind, können wir gehen.«

»Ich bin soweit.«

Während sie die Straße hinuntergingen, tauchte Ken Baileys Bild vor Jennifers innerem Auge auf, und sie dachte: Ich hoffe,es geht dir gut und du bist glücklich.

Auf dem Weg zurück zum Hotel entschloß sich Jennifer -Chauffeur hin, Chauffeur her -, die Rede auf Bjork zu bringen.

Als der Wagen sich ihrem Hotel näherte, sagte sie: »Wegen Stefan Bjork...«

»Ach ja. Ich habe dafür gesorgt, daß Sie ihn morgen früh um zehn Uhr besuchen können.«

55

In Washington wurde Adam Warner aus einer Konferenz gerufen, weil er telefonisch dringend aus New York verlangt wurde.

Staatsanwalt Di Silva war am Apparat. Er frohlockte. »Die Grand Jury hat gerade die Anklageverfügungen ausgesprochen, um die wir sie ersucht haben. In jedem einzelnen Fall. Wir können jederzeit losschlagen.« Er erhielt keine Antwort. »Sind Sie noch dran, Senator?«

»Ja.« Adam zwang sich, begeistert zu klingen. »Das sind ja gute Nachrichten.«

»Innerhalb von vierundzwanzig Stunden müßten wir sie einkreisen können. Wenn Sie nach New York kämen, sollten wir morgen früh eine letzte Konferenz abhalten, damit wir unsere Züge koordinieren können. Wäre das möglich, Senator?«

»Ja«, sagte Adam.

»Ich bereite alles vor. Zehn Uhr morgen früh.«

»Bis dann.« Adam legte den Hörer auf. Die Grand Jury hat gerade die Anklageverfügungen ausgesprochen, um die wir sie ersucht haben. In jedem einzelnen Fall. Adam nahm den Hörer wieder auf und begann zu wählen.

56

Das Besuchszimmer im Changi-Gefängnis war ein kleiner, kahler Raum mit weißverputzten Wänden und einem langen Tisch mit harten Holzstühlen zu beiden Seiten. Jennifer saß auf einem der Stühle. Sie wartete. Als Stefan Bjork, begleitet von einem uniformierten Wärter, eintrat, blickte sie auf. Bjork war etwa dreißig, ein großer Mann mit einem düsteren Gesicht und hervorquellenden Augen. Er hat es an den Schilddrüsen, dachte Jennifer. Auf Bjorks Wangen und Stirn leuchteten Prellungen. Er nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz.

»Ich bin Jennifer Parker, Ihre Anwältin. Ich werde versuchen, Sie hier herauszuholen.«

Er blickte sie an: »Am besten beeilen Sie sich etwas damit.« Es klang wie eine Drohung. Jennifer dachte an Michaels Worte: Ich möchte, daß du ihn auf Kaution herausholst, ehe er zu singen anfängt.

»Werden Sie gut behandelt?«

Er warf einen versteckten Blick zu dem Wärter an der Tür. »Ja. Es geht.«

»Ich habe beantragt, Sie auf Kaution freizulassen.«

»Wie stehen die Chancen?« Bjork war unfähig, die Hoffnung in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Ich glaube, ganz gut. Es wird längstenfalls noch zwei oder drei Tage dauern.« »Ich muß hier 'raus.« Jennifer stand auf. »Wir werden uns bald wiedersehen.«

»Danke«, sagte Stefan Bjork. Er streckte seine Hand aus. Der Wärter rief scharf: »Nein!« Beide wandten sich um. »Keine Berührung.«

Stefan Bjork warf Jennifer einen Blick zu und sagte heiser:

»Beeilen Sie sich!«

Als Jennifer wieder im Hotel war, fand sie eine Nachricht vor. Inspektor Touh hatte angerufen. Während sie die Zeilen überflog, klingelte das Telefon. Es war der Inspektor. »Ich dachte, daß Sie vielleicht gern eine kleine Stadtrundfahrt unternehmen würden, während Sie warten, Miß Parker.«

Zuerst wollte Jennifer ablehnen, aber dann überlegte sie, daß sie nichts tun konnte, bis sie Bjork sicher in einem Flugzeug aus Singapur herausgebracht hatte, und so lange war es wichtig, Inspektor Touh bei Laune zu halten. Jennifer sagte: »Danke schön. Das würde mir Spaß machen.«

Sie aßen bei Kampachi zu Mittag und fuhren dann aufs Land hinaus. Sie nahmen die Bukit-Timan-Straße nach Malaysia und kamen durch eine Reihe farbenprächtiger kleiner Dörfer voller Lebensmittelstände und Geschäfte. Die Menschen waren gut gekleidet und wirkten wohlhabend. Jennifer und Inspektor Touh hielten am Friedhof von Kranji und stiegen die Stufen zu den großen blauen Toren hinauf. Vor ihnen erhob sich ein großes Marmorkreuz und im Hintergrund eine riesige Säule. Dazwischen erstreckte sich ein Meer weißer Kreuze.

»Der Krieg war sehr schlimm für uns«, sagte Inspektor Touh. »Wir alle haben viele Freunde und Familienmitglieder verloren.«

Jennifer sagte nichts. Vor ihrem inneren Auge stieg ein Grab in Sands Point auf. Aber sie durfte nicht daran denken, was unter dem kleinen Hügel lag.

Bei der Nachrichtendiensteinheit der Polizei in Manhattan fand eine Konferenz verschiedener Dienststellen zur Verbrechensbekämpfung statt. Eine Stimmung von Triumph und Aufregung hing in der Luft. Viele der Männer hatten die Tatsache einer weiteren Untersuchung lange Zeit mit Zynismus betrachtet. Jahr um Jahr hatten sie immer wieder überwältigendes Beweismaterial gegen Schläger, Mörder und Erpresser zusammengetragen, und in einem Fall nach dem anderen hatten teure, gerissene Anwälte Freispruch über Freispruch für die Verbrecher, die sie vertraten, erreicht. Diesmal würde der Hase in die andere Richtung laufen. Sie hatten die Zeugenaussage von consigliere Thomas Colfax, und niemand würde das erschüttern können. Über fünfundzwanzig Jahre war Colfax die Radnabe der Mafia gewesen. Er würde vor Gericht auftreten und Namen, Daten, Fakten und Zahlen nennen. Und bald würden sie das Zeichen zum Losschlagen erhalten.

Adam hatte härter als alle anderen in diesem Raum gearbeitet, um zu diesem Punkt zu gelangen. Es hatte der Triumphwagen werden sollen, der ihn direkt ins Weiße Haus transportieren sollte. Und jetzt, wo der Augenblick da war, schmeckte der Sieg nach Asche. Vor Adam lag eine Liste mit Leuten, die von der Grand Jury unter Anklage gestellt worden waren. Der vierte Name auf der Liste war der von Jennifer Parker, und sie wurde des Mordes und der Verschwörung zu einem halben Dutzend anderer Kapitalverbrechen beschuldigt. Adam Warner blickte sich im Raum um und zwang sich, ein paar Worte zu sagen. »Ich - ich möchte Ihnen allen gratulieren.«

Er versuchte, noch mehr zu sagen, aber er brachte kein weiteres Wort heraus. Er war von solchem Abscheu vor sich selber erfüllt, daß es fast körperlich schmerzte.

Die Spanier haben recht, dachte Michael Moretti. Rache schmeckt am besten, wenn man sie kalt genießt. Der einzige Grund, aus dem Jennifer Parker noch lebte, lag in ihrer Abwesenheit. Sie war außer Reichweite. Aber bald würde sie zurückkehren. Und in der Zwischenzeit konnte Michael sich ausmalen, was er mit ihr anstellen würde. Sie hatte ihn auf jede nur mögliche Weise betrogen. Deswegen würde er sie mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln.

In Singapur versuchte Jennifer, zu Michael durchzukommen.

»Es tut mir leid«, sagte die Telefonistin, »aber alle Leitungen in die Vereinigten Staaten sind belegt.«

»Würden Sie es bitte weiter versuchen?«

»Natürlich, Miß Parker.«

Das Mädchen sah zu dem Mann neben dem Schaltbrett auf und lächelte ihm verschwörerisch zu.

In seinem Hauptquartier blickte Robert Di Silva auf einen Haftbefehl, der ihm gerade zugestellt worden war. Der Name auf dem Papier lautete Jennifer Parker. Endlich habe ich sie, dachte er. Und er verspürte wilde Genugtuung.

Die Telefonistin verkündete: »Inspektor Touh wartet im Foyer auf Sie.«

Jennifer war überrascht, denn sie hatte den Inspektor nicht erwartet. Er mußte Neuigkeiten von Stefan Bjork haben. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter in die Halle. »Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht angerufen habe«, entschuldigte der Inspektor sich. »Ich dachte, ich rede am besten persönlich mit Ihnen.«

»Haben Sie Neuigkeiten für mich?«

»Wir können uns im Wagen unterhalten. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Sie fuhren die Yio-Chu-Kang-Straße entlang. »Gibt es Probleme?« fragte Jennifer.

»Überhaupt nicht. Übermorgen wird die Kaution festgesetzt.« Wohin brachte er sie dann?

Sie passierten einen Gebäudekomplex an der Jalan Goatopah-Straße, und der Fahrer hielt an.

Inspektor Touh wandte sich an Jennifer. »Ich bin sicher, das wird Sie interessieren.«

»Was denn?«

»Kommen Sie mit, Sie werden schon sehen.« Das Innere des Gebäudes, das sie betraten, wirkte alt und heruntergekommen. Ein überwältigender, wilder und primitiver Moschusgestank hing in der Luft. Er war anders als alles, was Jennifer je gerochen hatte.

Ein junges Mädchen eilte auf sie zu und fragte: »Möchten Sie eine Begleitung haben? Ich...«

Der Inspektor winkte sie zur Seite. »Wir brauchen dich nicht.« Er nahm Jennifers Arm, und sie gingen ins Freie auf ein Gelände hinter dem Gebäude. Vor ihnen lag ein halbes Dutzend in die Erde versenkter Becken, aus denen seltsame, gleitende Geräusche drangen. Jennifer und Inspektor Touh erreichten das erste Gehege. Auf einem Schild stand: Nicht zu nah an die Becken treten. Gefahr! Jennifer blickte hinein. In dem Becken wimmelte es von Krokodilen und Alligatoren, die sich in ständiger Bewegung befanden, über- und untereinander glitten. Es mußten mindestens dreißig sein. Jennifer erschauerte. »Wo sind wir?«

»Das ist eine Krokodilfarm.« Er starrte zu den Reptilien hinein. »Wenn sie zwischen drei und sechs Jahre alt sind, werden sie gehäutet und zu Handtaschen, Gürteln und Schuhen verarbeitet. Wie Sie sehen, haben die meisten ihre Mäuler offen. Auf diese Weise faulenzen sie. Erst wenn sie die Mäuler schließen, muß man vorsichtig sein.« Sie gingen zu einem anderen Becken, in dem zwei riesige Alligatoren lagen. »Die hier sind fünfzehn Jahre alt. Sie sind nur zur Fortpflanzung da.«

Jennifer schüttelte sich. »Mein Gott, sind die häßlich. Wie können die sich nur gegenseitig ertragen!« Inspektor Touh sagte: »Tatsächlich können sie das auch nicht. Sie paaren sich nicht sehr oft.«

»Sie wirken richtig urzeitlich.«

»Genau. Sie sind Millionen Jahre alt und haben immer noch dieselben primitiven Verhaltensweisen wie zu Beginn der Zeiten.«

Jennifer fragte sich, warum Touh sie hergebracht hatte. Wenn er glaubte, diese scheußlich aussehenden Bestien interessierten sie, hatte er sich getäuscht. »Können wir gehen?« fragte sie.

»Gleich.« Der Inspektor sah zu dem jungen Mädchen hinüber, das sie am Eingang getroffen hatten. Es trug einen Eimer zu dem ersten Becken.

»Heute ist Futtertag«, sagte Touh. »Passen Sie auf.« Er führte Jennifer zurück zum ersten Becken. »Alle drei Tage werden sie mit Fisch und Schweinelungen gefüttert.« Das Mädchen begann, das Futter in das Gehege zu werfen, und sofort verwandelten sich die Bestien in eine kochende, brodelnde Masse. Sie stießen auf das rohe, blutige Fleisch zu und schlugen ihre Saurierfänge hinein. Vor Jennifers Augen stürzten sich zwei von ihnen auf dasselbe Stück und wandten sich sofort gegeneinander. Verbissen griffen sie sich mit Zähnen und Schwanzhieben an, und bald füllte sich das Becken mit Blut. Das eine Krokodil hatte seine Zähne tief in die Kiefer des anderen vergraben und ließ nicht mehr los, obwohl sein Augapfel halb herausgerissen war. Als das Blut stärker hervorströmte und das Wasser verfärbte, beteiligten sich die anderen Tiere an dem Kampf und fielen über ihre verwundeten Artgenossen her. Sie rissen an ihren Köpfen, bis das Fleisch bloßlag, und begannen, sie bei lebendigem Leib zu verspeisen.

Jennifer wurde übel. »Bitte, lassen Sie uns gehen.« Inspektor Touh legte die Hand auf ihren Arm. »Einen Augenblick.«

Er konnte sich nicht abwenden, und erst nach einer Weile ließ er Jennifer gehen.

In der Nacht träumte Jennifer davon, wie die Krokodile miteinander gekämpft und sich in Stücke gerissen hatten. Zwei von ihnen verwandelten sich plötzlich in Michael und Adam, und in der Mitte des Alptraums erwachte sie zitternd und konnte nicht wieder einschlafen.

Die Razzien begannen. In einem Dutzend verschiedener Staaten und mindestens sechs fremden Ländern schlugen die Männer des Bundes und der lokalen Polizeibehörden gleichzeitig zu.

In Ohio wurde ein Senator verhaftet, während er gerade vor einem Frauenverein eine Rede über Redlichkeit in der Regierung hielt.

In New Orleans wurde ein illegales Buchmacherunternehmen geschlossen.

In Amsterdam wurden Diamantenschmuggler auf frischer Tat ertappt.

Ein Bankmanager in Gary, Indiana, wurde unter der Beschuldigung festgenommen, er habe schmutziges Geld der Organisation weißgewaschen.

In Kansas City fand eine Razzia in einem großen Diskontgeschäft statt, das bis unters Dach mit gestohlenen Waren gefüllt war.

In Phoenix, Arizona, wurde ein halbes Dutzend Detektive der Sittenpolizei unter Arrest gestellt. In Neapel wurde eine Kokainfabrik beschlagnahmt. In Detroit wurde ein im ganzen Land tätiger Ring von Autodieben geknackt.

Da er Jennifer telefonisch nicht erreichen konnte, suchte Adam Warner ihr Büro auf. Cynthia erkannte ihn augenblicklich.

»Es tut mir leid, Senator Warner, Miß Parker ist außer Landes.«

»Wo hält sie sich auf?«

»Im Shangri- La Hotel in Singapur.«

Adams Hoffnungen stiegen wieder. Er konnte sie anrufen und davor warnen, zurückzukehren.

Der Etagenkellner betrat die Suite, als Jennifer gerade unter der Dusche hervorkam. »Entschuldigen Sie. Wann reisen Sie heute ab?« »Ich reise nicht heute ab, sondern morgen.« Der Etagenkellner wirkte verwirrt. »Mir wurde aufgetragen, die Suite für eine heute abend eintreffende Reisegruppe fertigzumachen.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Der Geschäftsführer.«

In der Telefonzentrale ging ein Anruf aus Übersee ein. Diesmal hatte eine andere Telefonistin Dienst, und ein anderer Mann stand bei ihr.

Die Telefonistin sprach in ihr Mundstück. »Ein Anruf aus New York City für Miß Jennifer Parker?« Sie blickte den Mann neben der Schalttafel an. Er schüttelte den Kopf.

»Es tut mir leid. Miß Parker ist schon vor einiger Zeit abgereist.«

Die Razzien gingen weiter. Auf Honduras, in San Salvador, Mexiko und der Türkei, überall wurden Verhaftungen vorgenommen. Dealer, Killer, Bankräuber und Brandstifter wurden in das ausgeworfene Netz geschwemmt. Es gab Festnahmen in Fort Lauderdale, Atlantic City und Palm Springs. Ein Ende war noch nicht in Sicht.

In New York verfolgte Robert Di Silva jeden Fortschritt, und sein Herz klopfte schneller, wenn er daran dachte, wie sich das Netz um Jennifer Parker und Michael Moretti zusammenzog.

Michael Moretti entkam dem Stahlnetz der Polizei durch reinen Zufall. Es war der Todestag seines Schwiegervaters, und er und Rosa waren zum Friedhof gegangen, um Antonio Granellis zu gedenken.

Fünf Minuten nach ihrem Aufbruch erreichte eine Wagenladung von FBI-Beamten Michael Morettis Haus und eine weitere sein Büro. Als sie feststellten, daß er weder am einen noch am anderen Ort war, richteten sie sich darauf ein, zu warten.

Jennifer fiel ein, daß sie vergessen hatte, für Stefan Bjork einen Rückflug in die Vereinigten Staaten zu buchen. Sie setzte sich mit den Singapore Airlines in Verbindung. »Hier spricht Jennifer Parker. Ich habe eine Reservierung für Ihren Flug EinsZwölf morgen nachmittag nach London. Ich möchte gern eine zusätzliche Buchung vornehmen.«

»Würden Sie bitte einen Augenblick in der Leitung bleiben?« Jennifer wartete, und nach einigen Minuten meldete sich die Stimme wieder. »Sagten Sie Parker? P-A-R-K-E-R?«

»Ja.«

»Ihre Reservierung ist storniert worden, Miß Parker.« Jennifer war überrascht. »Storniert? Von wem?«

»Ich weiß nicht. Ihr Name ist aus der Passagierliste gestrichen.«

»Das muß ein Mißverständnis gewesen sein. Bitte setzen Sie mich wieder auf die Liste.«

»Es tut mir leid, Miß Parker. Der Flug ist ausgebucht.«

Inspektor Touh wird das alles in Ordnung bringen können, dachte Jennifer. Sie hatte sich bereit erklärt, mit ihm zu Abend zu essen. Dann würde sie herausfinden, was vorging.

Er erschien noch vor der ausgemachten Zeit, um sie abzuholen.

Jennifer berichtete dem Inspektor von dem Durcheinander im Hotel und den Flugreservierungen.

Er zuckte mit den Schultern. »Unsere berühmte Schlamperei, fürchte ich. Ich werde mich darum kümmern.«

»Was ist mit Stefan Bjork?«

»Alles ist vorbereitet. Er wird morgen früh entlassen.« Der Inspektor sagte etwas auf chinesisch zu dem Fahrer, und der Wagen wendete mitten auf der Straße. »Sie haben die Kallang-Straße noch nicht gesehen. Sie werden sie äußerst interessant finden.«

Der Wagen bog nach links in die Lavender Street, dann einen Block weiter nach rechts in Richtung Kallang Bahru. Große Abbildungen warben für Blumenzüchter und Sarghersteller. Einige Blocks weiter wendete der Wagen erneut. »Wo sind wir?«

Inspektor Touh blickte sie an und sagte leise: »Wir sind auf der Straße ohne Namen und ohne Rückkehr.« Der Wagen fuhr jetzt sehr langsam. Zu beiden Seiten der Straße gab es ausschließlich Bestattungsunternehmen, eins neben dem anderen- Tan Kee Seng, Clin Noh, Ang Yung Long, Goh Soon. Direkt vor ihnen fand eine Beerdigung statt. Die Trauernden waren weiß gekleidet, und eine aus Tuba, Saxophon und Schlagzeug bestehende Kapelle spielte. Der Leichnam lag auf einem von Blumengewinden umgebenen Tisch, und ein großes Foto des Verstorbenen stand auf einer Staffelei vor der Fassade. Die Trauergäste saßen vor dem Tisch und aßen.

»Was ist das?« fragte Jennifer den Inspektor. »Dies sind die Häuser des Todes. Die Eingeborenen nennen sie Sterbehäuser. Das Wort Tod ist für sie zu schwer auszusprechen.«

Er sah Jennifer an und sagte: »Aber der Tod ist ja nur ein Teil des Lebens, nicht wahr?«

Jennifer blickte in seine kalten Augen und hatte plötzlich Angst.

Sie gingen ins Golden Phoenix, und erst als sie aßen, hatte Jennifer eine Gelegenheit, die Fragen zu stellen, die sie bewegten.

»Inspektor Touh, haben Sie mich aus einem bestimmten Grund zu der Krokodilfarm und den Sterbehäusern geführt?« Er sah sie an und sagte geradeheraus: »Natürlich. Ich dachte, sie würden Sie interessieren. Besonders, da Sie hierher gekommen sind, um Ihren Klienten, Mr. Bjork, zu befreien. Viele unserer jungen Leute sterben an den Drogen, die in unser Land geschmuggelt werden, Miß Parker. Ich hätte Sie zu den Krankenhäusern führen können, wo wir sie zu behandeln versuchen, aber ich hielt es für informativer, Ihnen zu zeigen, wo sie enden.«

»All das hat nichts mit mir zu tun.«

»Das scheint mir eine Frage des Standpunkts zu sein.« Jede Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden. Jennifer sagte: »Hören Sie, Inspektor Touh, ich bin sicher, Sie werden gut dafür bezahlt, daß...«

»Auf der ganzen Welt gibt es nicht genug Geld, um mich zu bezahlen.«

Er stand auf und nickte jemandem zu, und Jennifer drehte sich um. Zwei Männer in grauen Anzügen näherten sich dem Tisch.

»Miß Jennifer Parker?«

»Ja.«

Es bestand keine Notwendigkeit, daß sie ihre FBI-Ausweise zückten. Jennifer wußte Bescheid, bevor sie das erste Wort sagten. »FBI. Wir haben einen Auslieferungsbescheid sowie einen Haftbefehl gegen Sie. Wir bringen Sie mit der Mitternachtsmaschine nach New York zurück.«

57

Michael Moretti blickte auf die Uhr. Schon am Grab seines Schwiegervaters hatte er festgestellt, daß er eine Verabredung, die er für den späten Vormittag getroffen hatte, nicht mehr einhalten konnte. Er beschloß, sein Büro anzurufen und den Termin verlegen zu lassen. Er hielt auf dem Weg in die Stadt an einer Telefonzelle und wählte die Nummer. Das Telefon klingelte einmal, dann meldete sich eine Stimme: »Bauunternehmen Vollkommenheit.« Michael sagte: »Hier spricht Mike. Sag...«

»Mr. Moretti ist nicht da. Rufen Sie später noch einmal an.« Michaels Körper versteifte sich. Er sagte nur noch: »Tony's Place.« Dann hängte er auf und rannte zum Wagen. Rosa warf einen Blick auf sein Gesicht und fragte: »Ist alles in Ordnung, Michael?«

»Das wüßte ich selber gern. Ich setze dich bei deiner Cousine ab. Bleib da, bis du von mir hörst.«

Tony folgte Michael in das Büro im hinteren Teil des Restaurants.

»Ich habe gehört, daß es in deinem Haus und dem Büro in Manhattan von Bundespolizisten nur so wimmelt, Mike.« »Danke«, sagte Michael. »Ich möchte nicht gestört werden.« »Ich sorge dafür.«

Michael wartete, bis Tony den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann hob er den Telefonhörer ab und begann wütend zu wählen.

Michael Moretti brauchte weniger als zwanzig Minuten, um herauszufinden, daß ein mittleres Erdbeben stattfand. Mit steigendem Unglauben empfing er die Berichte von den Razzien und Verhaftungen im ganzen Land. Seine Soldaten und Leutnants wurden von der Straße weg festgenommen. Bullen tauchten an geheimen Treffpunkten auf; Glücksspieloperationen wurden gesprengt, vertrauliche Hauptbücher und geheime Unterlagen beschlagnahmt. Ein Alptraum nahm seinen Lauf. Die Polizei mußte von jemandem innerhalb der Organisation mit Informationen versorgt werden. Michael rief andere Familien im ganzen Land an, und alle wollten wissen, was eigentlich vorging. Ihnen wurden schwere Verluste zugefügt, und niemand wußte, wo das Leck war. Jeder vermutete es bei der Moretti-Familie. Jimmy Guardino in Las Vegas stellte ihm sogar ein Ultimatum. »Ich rufe im Auftrag der Kommission an, Michael.« In Krisenzeiten war die Kommission die höchste Instanz, der sich jede einzelne Familie unterzuordnen hatte. »Die Polizei hebt alle Familien aus. Diesmal singt eins von den großen Tieren. Dem Gerücht nach soll es einer deiner Jungs sein. Wir geben dir vierundzwanzig Stunden, ihn ausfindig zu machen und zum Schweigen zu bringen.«

In der Vergangenheit waren bei Razzien immer nur die kleinen Fische, auf die man verzichten konnte, ins Netz gegangen. Jetzt wurden zum erstenmal die Männer an der Spitze an Land gezogen. Diesmal singt eins von den großen Tieren. Dem Gerücht nach soll es einer von deinen Jungs sein. Wahrscheinlich hatten sie recht. Seine Familie war am schwersten getroffen worden, und die Polizei war ihm auf den Fersen. Irgend jemand mußte ihnen hieb- und stichfestes Beweismaterial geliefert haben, sonst hätten sie es niemals gewagt, soviel Staub aufzuwirbeln. Aber wer konnte es sein? Michael lehnte sich zurück und dachte nach.

Wer immer die Behörden belieferte, verfügte über Insiderwissen, das nur ihm selber und seinen beiden Vertrauensmännern Joseph Colella und Salvatore Fiore zugänglich war. Nur sie drei wußten, wo die Bücher versteckt gewesen waren, und die Polizei hatte sie gefunden. Der einzige, der noch Bescheid gewußt haben könnte, war Thomas Colfax, aber Colfax lag unter einem Müllhaufen in New Jersey. Michael dachte über Salvatore Fiore und Joseph Colella nach. Es fiel ihm schwer, zu glauben, daß einer von ihnen die omertà, das sizilianische Gesetz des Schweigens, gebrochen haben sollte. Sie waren von Anfang an dabei gewesen, er selber hatte sie mit der Lupe ausgesucht. Er hatte ihnen gestattet, nebenbei ihre eigenen Kreditgeschäfte zu betreiben und einen kleinen Prostituiertenring aufzuziehen. Warum sollten sie ihn verraten? Die Antwort war natürlich einfach: sein Stuhl. Sie wollten seinen Stuhl. Wenn er draußen war, konnten sie einziehen und den Laden übernehmen. Sie waren ein Team; sie steckten zusammen dahinter.

Michael war plötzlich von mörderischer Wut erfüllt. Diese verdammten Bastarde wollten ihn von seinem Thron stoßen, aber sie würden nicht mehr lange ge nug leben, um die Früchte ihrer Arbeit zu genießen.

Als erstes mußte er diejenigen unter seinen Männern, die verhaftet worden waren, auf Kaution herausholen. Er brauchte einen Anwalt, dem er vertrauen konnte. Colfax war tot, und Jennifer - Jennifer! Michael spürte wieder das eisige Gefühl in der Herzgegend. Er konnte sich noch sagen hören: Komm so schnell wie möglich zurück. Du wirst mir fehlen. Ich liebe dich, Jennifer. Er hatte so zu ihr gesprochen, und sie hatte ihn verraten. Dafür würde sie bezahlen.

Michael machte einen Anruf und wartete dann, bis fünfzehn Minuten später Nick Vito in den Raum geeilt kam. »Wie sieht es aus?« fragte Michael.

»Die FBI-Kerle schwärmen immer noch im ganzen Haus herum, Mike. Ich bin ein paarmal um den Block gefahren, habe mich aber an deine Worte gehalten. Ich bin nicht hineingegangen.«

»Ich habe einen Job für dich, Nick.«

»Klar. Boß. Was kann ich für dich tun?«

»Kümmere dich um Salvatore und Joe.« Nick Vito starrte ihn an. »Ich - ich verstehe nicht. Wenn du kümmere dich um sie sagst, meinst du doch nicht etwa...« Michael brüllte: »Ich meine, blas ihnen das verdammte Gehirn aus dem Schädel! Soll ich es dir noch buchstabieren?«

»Nein«, stammelte Nick Vito. »Es ist nur, ich - ich - ich dachte - Sal und Joe sind deine besten Leute!« Michael Moretti stand auf. Seine Augen blickten gefährlich. »Willst du mir erzählen, wie ich meine Geschäfte zu führen habe, Nick?«

»Nein, Mike. Ich - klar! Ich kümmere mich um sie. Wann...?«

»Jetzt. Jetzt gleich. Sie erleben den Mondaufgang heute abend nicht mehr. Hast du kapiert?«

»Ja. Kapiert, Boß.«

Michaels Hände ballten sich zu Fäusten. »Wenn ich die Zeit dazu hätte, würde ich es selber erledigen. Ich möchte, daß es ihnen weh tut. Mach es langsam, Nick. Suppilu, suppilu.«

»Klar. Okay.«

Die Tür flog auf, und Tony stürzte herein, aschgrau im Gesicht. »Da draußen sind zwei FBI-Beamte mit einem Haftbefehl gegen dich. Ich schwöre bei Gott, daß ich keine Ahnung habe, woher sie wissen, daß du hier bist.« Michael Moretti wandte sich an Nick Vito und schnappte: »Los, hinten heraus. Beweg dich schon!« Er blickte Tony an. »Sag ihnen, ich bin auf der Toilette. Ich komme gleich.« Michael hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. Eine Minute später sprach er mit einem Richter des Obersten Gerichtshofs von New York.

»Draußen sind zwei FBI-Leute mit einem Haftbefehl gegen mich.«

»Wessen werden Sie beschuldigt, Mike?«

»Das weiß ich nicht, und es ist mir auch scheißegal. Ich rufe Sie an, damit Sie sich darum kümmern, daß ich auf Kaution freigelassen werde. Ich habe keine Lust, hinter Schloß und Riegel zu kommen. Ich habe einiges zu tun.« Ein kurzes

Schweigen folgte, und dann sagte der Richter vorsichtig: »Ich fürchte, dieses Mal werde ich Ihnen nicht helfen können, Mike. Überall ist die Hölle los, und wenn ich mich einmische...«

Als Michael antwortete, hatte seine Stimme einen unheilvollen Klang. »Hören Sie zu, Sie Arschloch, und hören Sie gut zu. Wenn ich auch nur eine einzige Stunde im Gefängnis verbringen muß, sorge ich dafür, daß Sie für den Rest Ihres Lebens hinter Gitter gebracht werden. Ich habe mich Ihrer sehr lange angenommen. Wollen Sie, daß ich dem Staatsanwalt erzähle, wie viele Fälle Sie für mich in Ordnung gebracht haben? Wollen Sie, daß ich dem Finanzamt die Nummer Ihres Schweizer Bankkontos gebe? Wollen Sie...«

»Um Himmels willen, Michael!« »Dann setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung.« »Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Richter Lawrence Waldman. »Ich werde versuchen...«

»Versuchen, Scheiße! Tun Sie es! Hören Sie mich, Larry? Tun Sie es!« Er schmetterte de n Hörer auf den Apparat. Sein Verstand arbeitete glatt und kühl. Er bereitete sich wegen der beiden FBI-Beamten keine Sorgen mehr. Er wußte, daß Richter Waldman tun würde, was er ihm befohlen hatte, und er konnte sicher sein, daß Nick Vito sich Fiores und Colellas annahm. Ohne ihre Aussagen konnte die Regierung ihm nichts, aber auch gar nichts nachweisen. Michael blickte in den kleinen Wandspiegel, kämmte sich das Haar zurück, korrigierte den Sitz seines Krawattenknotens und ging dann zu den beiden FBIBeamten hinaus.

Richter Lawrence Waldman hatte Erfolg, wie Michael es vorhergesehen hatte. Bei der Voruntersuchung verlangte ein von Richter Waldman ausgesuchter Anwalt, Moretti auf Kaution freizulassen, und die Höhe der Summe wurde auf fünfhunderttausend Dollar festgesetzt.

Wütend und enttäuscht sah Robert Di Silva Michael Moretti aus dem Gerichtssaal wandern.

58

Nick Vito war ein Mann von begrenzter Intelligenz. Sein Wert für die Organisation bestand darin, daß er Befehle ausführte, ohne Fragen zu stellen, und daß er effektiv arbeitete. Hundertmal schon hatte er in Revolvermündungen gestarrt oder einen Lichtstrahl über eine Messerklinge huschen sehen, aber Furcht war ihm immer ein Fremdwort geblieben. Jetzt kannte er es. Jenseits seines Begriffsvermögens ging etwas vor, und er hatte das Gefühl, daß er irgendwie dafür verantwortlich war.

Den ganzen Tag hatte er von nichts anderem gehört als von Razzien und einer Welle von Verhaftungen. Den Gerüchten nach lief ein Verräter frei herum, jemand ganz hoch oben in der Organisation. Sogar mit seiner begrenzten Auffassungsgabe konnte Nick Vito die Tatsachen, daß er Thomas Colfax lebengelassen und daß kurz darauf jemand angefangen hatte, die Familie an die Behörden zu verraten, miteinander in Verbindung bringen. Vito wußte, daß es weder Fiore noch Colella sein konnten. Die beiden Männer waren wie Brüder für ihn, und Michael Moretti genauso loyal ergeben wie er. Aber es gab keine Möglichkeit, Michael das zu erklären, zumindest keine, die nicht bedeutete, daß er als Hackfleisch enden würde; denn der einzige, der noch als Verräter in Frage kam, war Thomas Colfax, und der war angeblich tot. Nick Vito steckte in der Zwickmühle. Er liebte den Riesen und die Pusteblume. Fiore und Colella hatten ihm in der Vergangenheit Dutzende von Gefallen erwiesen, genauso wie Thomas Colfax; aber er hatte Colfax aus der Klemme geholfen, und das hatte er jetzt davon. Also beschloß Nick Vito, nicht noch einmal auf sein weiches Herz zu hören. Es ging um sein Leben, und jeder war sich selbst der nächste. Wenn er Fiore und Colella erst getötet hatte, war er aus den roten Zahlen. Aber weil er für sie wie für Brüder fühlte, würde er sie schnell sterben lassen.

Es war einfach für Nick Vito, herauszufinden, wo sie sich aufhielten, denn sie mußten immer erreichbar sein, für den Fall, daß Michael sie brauchte. Der kleine Salvatore Fiore war zu Besuch in der Wohnung seiner Geliebten an der 83. Straße in der Nähe des Naturkundemuseums. Nick wußte, daß er von dort regelmäßig um fünf zu seiner Frau nach Hause ging. Es war jetzt drei. Nick überlegte hin und her. Er konnte vor dem Eingang des Appartementhauses warten oder nach oben gehen und Salvatore innerhalb der Wohnung erledigen. Aber eigentlich war er zu nervös, um zu warten. Und die Tatsache, daß er nervös war, ließ ihn noch nervöser werden. Die ganze Sache begann, ihm an die Nieren zu gehen. Wenn alles vorbei ist, dachte er, werde ich Mike um einen Urlaub bitten. Vielleicht schnappe ich mir ein paar junge Mädchen und fahre auf die Bahamas. Der Gedanke allein besserte seine Stimmung schon erheblich. Nick Vito parkte seinen Wagen um die Ecke und ging dann zu dem Appartementhaus. Er öffnete die Eingangstür mit einem Zelluloidstreifen, ließ den Fahrstuhl links liegen und ging die Treppe zum dritten Stock hinauf. Er näherte sich der Tür am Ende des Korridors und hämmerte mit der Faust dagegen. »Aufmachen! Polizei!«

Er hörte hastige Geräusche hinter der Tür, und einige Momente später wurde sie geöffnet, soweit die schwere Sicherheitskette es zuließ. Vito sah das Gesicht und Teile des nackten Körpers von Marina, Salvatore Fiores Geliebter. »Nick!« sagte sie. »Du verrückter Idiot. Du hast mir eine Heidenangst eingejagt!«

Sie nahm die Kette von der Tür und öffnete sie. »Sal, es ist Nick!«

Salvatore Fiore kam nackt aus dem Schlafzimmer. »He, Nick, Junge! Was, zum Teufel, machst du hier?«

»Sal, ich habe eine Nachricht von Mike für dich.« Nick Vito hob eine 22er Automatic mit Schalldämpfer und drückte ab. Der Hammer traf die Patrone Kaliber 22 und schleuderte sie mit einer Geschwindigkeit von tausend Fuß in der Sekunde aus der Mündung. Die erste Kugel zerschmetterte Salvatore Fiores Nasenrücken. Die zweite Kugel ließ sein linkes Auge zerplatzen. Als Marina den Mund aufriß und schrie, wandte sich Nick Vito um und jagte ihr die dritte Kugel direkt in den Rachen. Sie stürzte zu Boden, und er schoß noch einmal auf ihre Brust, nur um sicherzugehen. Eine Verschwendung, so ein tolles Weib umzulegen, dachte Nick, aber Mike würde es gar nicht gefallen, wenn ich irgendwelche Zeugen zurücklasse.

Joseph Colellas Pferd startete im achten Rennen im Belmont Park auf Long Island. Die Distanz in Belmont betrug anderthalb Meilen, die ideale Länge für eine junge Stute wie seine. Er hatte Nick geraten, auf sie zu setzen. In der Vergangenheit hatte Nick mit seinen Tips eine Menge Geld gewonnen, Colella setzte immer ein paar Dollar für Nick, wenn seine Pferde an den Start gingen. Als Nick Vito auf Colellas Box zuging, bedauerte er die Tatsache, daß er in Zukunft auf die Tips würde verzichten müssen. Das achte Rennen hatte gerade begonnen. Die Börse war hoch, und die Zuschauer schrien und johlten, als die Pferde zum erstenmal um die Bahn waren. Nick Vito trat hinter Colella in die Box und fragte: »Wie stehen die Aktien, Kumpel?«

»He, Nick! Du bist gerade rechtzeitig gekommen. Beauty Queen gewinnt, sage ich dir. Ich habe etwas Geld für dich gesetzt.«

»Prima, Joe.«

Nick Vito preßte die automatische Pistole gegen Joseph Colellas Wirbelsäule und feuerte dreimal durch den Mantelstoff. Die erstickten Geräusche gingen im Lärm der Menge unter. Nick sah Joseph Colella zu Boden sinken. Er überlegte einen Augenblick, ob er die Wettscheine aus Colellas Tasche nehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Schließlich konnte das Pferd ja auch verlieren. Er drehte sich um und ging ohne Eile zum Ausgang, ein Mann ohne Gesicht unter tausend anderen.

Michael Morettis Privatapparat klingelte. »Mr. Moretti?« »Wer will mit ihm reden?« »Hier spricht Captain Tanner.«

Michael brauchte eine Sekunde, um den Namen unterzubringen. Ein Captain. Revier in Queens. Auf der Gehaltsliste. »Moretti am Apparat.«

»Ich habe gerade etwas erfahren, das Sie interessieren dürfte.«

»Von wo rufen Sie an?«

»Aus einer öffentlichen Telefonzelle.«

»Weiter.«

»Ich habe herausgefunden, von wem der ganze Ärger ausgeht.«

»Sie sind zu spät dran. Man hat sich ihrer bereits angenommen.« »Ihrer? Oh. Ich habe nur von Thomas Colfax gehört.« »Sie wissen ja gar nicht, was Sie reden. Colfax ist tot.«

Jetzt war Captain Tanner verwirrt. »Wovon reden Sie denn da? Thomas Colfax sitzt gerade jetzt im Marinestützpunkt Quantico und singt sich die Kehle aus dem Leib, sobald jemand nur den Taktstock hebt.«

»Sie müssen den Verstand verloren haben«, schnappte Michael. »Zufällig weiß ich...« Er hielt inne. Was wußte er eigentlich? Er hatte Nick Vito aufgetragen, Thomas Colfax umzulegen, und Vito hatte behauptet, er habe den Auftrag erledigt. Michael dachte nach. »Wie sicher sind Sie sich Ihrer Sache, Tanner?«

»Mr. Moretti, würde ich Sie anrufen, wenn ich nicht sicher wäre?«

»Ich prüfe das nach. Wenn Sie recht haben, schulde ich Ihnen einen Gefallen.«

»Danke, Mr. Moretti.«

Zufrieden mit sich selber legte Captain Tanner den Hörer auf. Bisher war Michael Moretti immer ein äußerst großzügiger Mensch gewesen. Diesmal konnte er den großen Schnitt machen, der es ihm ermöglichen würde, sich zurückzuziehen. Er trat aus der Telefonzelle in die kalte Oktoberluft. Vor der Zelle standen zwei Männer, und als der Captain um sie herumgehen wollte, verstellte ihm einer von ihnen den Weg. Er hielt einen Ausweis hoch.

»Captain Tanner? Ich bin Lieutenant West, Abteilung für Innere Sicherheit. Der Polizeicommissioner möchte sich gern einmal mit Ihnen unterhalten.«

Michael Moretti legte langsam den Hörer auf. Mit geradezu animalischem Instinkt wußte er plötzlich, daß Nick Vito ihn belogen hatte. Thomas Colfax lebte noch. Das erklärte die ganzen Vorkommnisse. Er war der Verräter. Und Michael hatte Nick Vito losgeschickt, um Fiore und Colella umzulegen. Mein Gott, war er blöde gewesen. Geleimt von einem stumpfsinnigen, bezahlten Revolvermann, der ihn dazu gebracht hatte, seine beiden besten Männer für nichts und wieder nichts zu verschwenden. Eisiger Zorn stieg in ihm auf.

Er wählte eine Nummer und sprach kurz in den Hörer. Danach erledigte er einen weiteren Anruf, ehe er sich zurücklehnte und wartete.

Als Nick Vito anrief, mußte Michael sich dazu zwingen, seine Stimme frei von der Wut zu halten, die in ihm tobte. »Wie ist es gelaufen, Nick?«

»Gut, Boß. Wie du es haben wolltest. Die beiden haben ganz schön gelitten.«

»Ich kann mich immer auf dich verlassen, Nick, nicht wahr?«

»Das weißt du doch, Mike.«

»Nick, ich möchte dich noch um einen letzten Gefallen bitten. Einer der Jungs hat einen Wagen an der Ecke York 95. Straße stehenlassen. Es ist ein brauner Camaro. Die Schlüssel liegen hinter der Sonnenblende. Wir brauchen den Wagen für einen Job heute abend. Würdest du ihn herfahren?«

»Klar, Boß. Wie schnell brauchst du ihn? Ich wollte eigentlich...«

»Ich brauche ihn jetzt. Sofort, Nick.«

»Ich bin unterwegs.«

»Goodbye, Nick.«

Michael legte den Hörer wieder auf. Er wünschte sich, dabei sein und zusehen zu können, wie Nick sich selber in die Hölle sprengte, aber er hatte noch eine eilige Sache zu erledigen. Jennifer Parker würde bald auf dem Rückweg sein, und er wollte alles für sie vorbereitet haben.

59

Hier geht es zu wie bei den Dreharbeiten zu einem gottverdammten Hollywoodfilm, dachte Generalmajor Roy Wallace, und mein Gefangener ist der Star.

Der große Konferenzraum der Marinebasis war mit Technikern der Nachrichtentruppe überflutet, die Kameras, Scheinwerfer und Mikrofone aufstellten und sich dabei einer unverständlichen Geheimsprache bedienten. Sie bereiteten alles vor, um Thomas Colfax' Zeugenaussage aufzunehmen. »Eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung«, hatte Staatsanwalt Di Silva argumentiert. »Wir wissen, daß niemand an ihn herankommen kann, aber es ist in jedem Fall gut, wenn wir ihn noch auf Film haben.« Die anderen hatten ihm zugestimmt. Der einzige, der nicht anwesend war, war Thomas Colfax. Er würde erst in letzter Minute hereingebracht werden, wenn alles für ihn bereit war. Wie ein gottverdammter Filmstar.

In seiner Zelle hatte Thomas Colfax ein Gespräch mit David Terry vom Justizministerium, dem Mann, der für Zeugen, die unterzutauchen wünschten, neue Identitäten schuf. »Lassen Sie mich Ihnen das Sicherheitsprogramm des Bundes für seine Zeugen erläutern«, sagte Terry. »Wenn die Verhandlung vorbei ist, schicken wir Sie in jedes Land, das Ihnen gefällt. Ihre Wohnungseinrichtung und Ihr restlicher Besitz wird, mit einer Codenummer versehen, in ein Lagerhaus in Washington geschafft. Wir stellen sie Ihnen dann später zu. Es gibt keine Möglichkeit, für niemanden, Ihnen auf der Spur zu bleiben. Wir versorgen Sie mit einer neuen Identität, einer neuen Vergangenheit und, wenn Sie wollen, sogar mit einem neuen Äußeren.«

»Darum kümmere ich mich selber.« Colfax traute keinem. Er allein würde wissen, wie seine neue Erscheinung ausfallen würde.

»Normalerweise kümmern wir uns auch darum, für die Leute, denen wir eine neue Identität gegeben haben, Jobs zu finden, und wir versorgen sie mit etwas Geld. In Ihrem Fall dürfte das Geld kein Problem sein.«

Thomas Colfax fragte sich, was David Terry sagen würde, wenn er gewußt hätte, wieviel Geld der consigliere tatsächlich auf Konten in Deutschland, der Schweiz und Hongkong gehortet hatte. Sogar Colfax selber war nicht fähig gewesen, immer den Überblick zu behalten, aber eine vorsichtige Schätzung würde sich auf neun oder zehn Millionen Dollar belaufen. »Nein«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß Geld ein Problem sein wird.«

»Um so besser. Zuerst müssen wir uns überlegen, wohin Sie wollen. Haben Sie eine bestimmte Gegend im Auge?« Es war eine äußerst einfache Frage, und doch stand soviel dahinter. In Wirklichkeit fragte der Mann: Wo wollen Sie den Rest Ihres Lebens verbringen? Denn Colfax wußte, daß, wohin auch immer er ging, er nie wieder zurückkehren konnte. Es würde seine neue Heimat, sein Schutzschild werden, und nirgendwo sonst in der Welt würde er noch sicher sein.

»Brasilien.«

Es war eine logische Wahl. Er besaß dort bereits eine im Namen einer panamesischen Firma erworbene Zweihunderttausend-Morgen-Plantage, die nicht zu ihm zurückverfolgt werden konnte. Die Plantage selber war eine Festung. Er konnte es sich außerdem leisten, sich soviel Schutz zu kaufen, daß sogar Michael Moretti, sollte er jemals erfahren, wo er sich aufhielt, ihm nichts anzuhaben vermochte. Er konnte sich alles kaufen, inklusive jeder Frau, die er haben wollte. Er liebte lateinamerikanische Frauen. Die meisten Leute dachten, daß ein Mann sexuell am Ende war, wenn er die Sechzig erreicht hatte, daß Frauen ihn nicht mehr interessierten, aber Colfax hatte festgestellt, daß sein Appetit mit dem Alter noch gestiegen war. Sein Lieblingssport waren zwei oder drei schöne Frauen mit ihm im gleichen Bett, die ihm eine richtige Kopf-bis-Fuß-Behandlung gaben. Je jünger, desto besser. »Brasilien wird sich leicht arrangieren lassen«, sagte David Terry. »Die Regierung wird Ihnen dort ein kleines Haus kaufen, und...«

»Das wird nicht nötig sein.« Colfax hätte beinahe laut gelacht über den Gedanken, in einem kleinen Haus leben zu müssen. »Alles, was ich von Ihnen will, ist eine neue Identität und sicherer Transport. Um alles andere kümmere ich mich selber.«

»Wie Sie wollen, Mr. Colfax.« David Terry stand auf. »Ich glaube, wir haben an alles gedacht.« Er lächelte aufmunternd. »Dies ist einer von den leichten Fällen. Ich bringe die Sache schon mal in Bewegung. Sobald Sie mit Ihrer Aussage fertig sind, werden Sie in einem Flugzeug nach Südamerika sitzen.«

»Danke.« Thomas Colfax sah seinen Besucher gehen, und er war von einem Gefühl freudiger Erregung beseelt. Er hatte es geschafft! Michael Moretti hatte den Fehler seines Lebens begangen, als er ihn unterschätzte, und es würde sein letzter Fehler werden. Colfax würde ihn so tief begraben, daß er nie wieder auferstehen konnte.

Und seine Zeugenaussage würde gefilmt werden. Nicht uninteressant. Er fragte sich, ob sie ihn vorher schminken würden. Er betrachtete sich in dem schmalen Spiegel an der Wand. Nicht schlecht, dachte er, für einen Mann meines Alters sehe ich immer noch gut aus. Diese jungen südamerikanischen Mädchen lieben ältere Herren mit grauen Haaren.

Er hörte, wie sich die Zellentür öffnete, und wandte sich um. Ein Marinesergeant brachte ihm sein Mittagessen. Er hatte noch viel Zeit, bevor die Filmaufnahmen begannen. Am ersten Tag hatte sich Colfax über das Essen beschwert, das ihm serviert worden war, worauf Generalmajor Wallace dafür gesorgt hatte, daß seine Mahlzeiten aus dem Besten vom Besten bestanden. In den Wochen, die Colfax auf dem Stützpunkt verbracht hatte, war sein leisester Wunsch allen anderen Befehl gewesen. Sie taten, was sie konnten, um es ihm angenehm zu machen, und

Colfax nutzte es nach Kräften aus. Er hatte komfortable Möbel erhalten, einen Fernsehapparat, und täglich wurden ihm die neuesten Zeitungen und Magazine gebracht.

Der Sergeant stellte das Tablett auf den für zwei Personen gedeckten Tisch und machte dieselbe Bemerkung wie jeden Tag. »Scheint eßbar zu sein, Sir.«

Colfax lächelte höflich und setzte sich an den Tisch. Kaum durchgebratenes Roastbeef, genau wie er es mochte, Kartoffelpüree und Yorkshire-Pudding. Er wartete, bis sich der Sergeant einen Stuhl herangezogen und auf die andere Seite des Tisches gesetzt hatte. Der Sergeant ergriff Messer und Gabel, schnitt ein Stück Fleisch ab und begann zu essen. Auch eine von Generalmajor Wallaces Ideen. Thomas Colfax hatte seinen eigenen Vorkoster. Wie die Könige vergangener Jahrhunderte, dachte er. Er sah zu, wie der Marinesergeant das Roastbeef, die Kartoffeln und den Pudding probierte. »Wie schmeckt es?«

»Um die Wahrheit zu sagen, Sir, habe ich mein Fleisch lieber gut durch.«

Colfax ergriff sein eigenes Besteck und begann zu essen. Der Sergeant hatte keinen Geschmack. Das Fleisch war perfekt zubereitet, das Püree cremig und heiß, der Yorkshire-Pudding ein Gedicht. Colfax griff nach dem Meerrettich und streute ihn dünn über das Fleisch.

Es passierte nach dem zweiten Bissen. Plötzlich merkte Colfax, daß etwas ganz und gar nicht stimmte. In seinem Mund schien plötzlich ein Feuer zu explodieren, das sich durch den ganzen Körper fraß. Seine Kehle zog sich zu, schockartig gelähmt, und er schnappte nach Luft. Thomas Colfax umklammerte seinen Hals und versuchte, dem Sergeant mitzuteilen, was passierte, aber er brachte kein Wort hervor. Das Feuer breitete sich immer schneller und weiter aus, erfüllte ihn mit unsäglichen Qualen. In einer grauenhaften Zuckung versteifte sich sein ganzer Körper, und er stürzte nach hinten zu Boden.

Der Sergeant betrachtete ihn einen Augenblick, ehe er sich vorbeugte und Thomas Colfax' Augenlid hochhob, um sicherzugehen, daß er tot war. Dann erst schrie er nach Hilfe.

60

Der Flug 246 der Singapore Airlines landete um halb acht Uhr morgens auf dem Heathrow Airport in London. Die anderen Passagiere wurden gebeten, auf den Sitzen zu bleiben, bis Jennifer und die beiden FBI-Beamten das Flugzeug verlassen und das Sicherheitsbüro des Flughafens erreicht hatten. Jennifer gierte geradezu nach einer Zeitung, um herauszufinden, was zu Hause los war, aber ihre beiden schweigenden Begleiter schlugen ihr die Bitte ab und weigerten sich auch, in ein Gespräch verwickelt zu werden.

Zwei Stunden später stiegen die drei Reisenden in ein Flugzeug der TWA, Ziel New York.

Im Gerichtsgebäude am Foley Square fand sich ein Krisenstab zusammen. Unter den Anwesenden waren Adam Warner, Robert Di Silva, Generalmajor Roy Wallace und ein halbes Dutzend weiterer Vertreter vom FBI, dem Justizministerium und dem Schatzministerium.

»Wie, zum Teufel, konnte das passieren?« Robert Di Silvas Stimme zitterte vor Wut. Er wandte sich an den Generalmajor. »Sie wußten genau, wie wichtig Colfax für uns war.« Der Angesprochene breitete hilflos die Hände aus. »Wir haben jede nur mögliche Vorsichtsmaßnahme getroffen, Sir. Wir prüfen gerade nach, wie sie Zyanwasserstoffsäure in die...«

»Es ist mir scheißegal, wie sie es getan haben! Colfax ist tot!« Der Mann vom Schatzministerium wollte wissen: »Was bedeutet Colfax' Tod für uns?«

»Eine ganze Menge«, antwortete Di Silva. »Einen Mann in den Zeugenstand zu holen, ist eine Sache. Einen Haufen Hauptbücher und Berichte vorzuzeigen, eine ganz andere. Sie können Ihren Arsch darauf verwetten, daß irgendein gerissener Anwalt behaupten wird, die Bücher seien gefälscht.«

»Wie machen wir jetzt also weiter?«

»Wir machen weiter wie bisher«, antwortete Di Silva. »Jennifer Parker ist auf dem Rückweg von Singapur. Wir haben genug in der Hand, um sie für immer wegzustecken. Und während sie untergeht, werden wir dafür sorgen, daß sie Michael Moretti mit sich reißt.« Er wandte sich an Adam. »Halten Sie das nicht auch für das Beste, Senator?« Adam war übel geworden. »Entschuldigen Sie mich.« Er verließ den Raum mit schnellen Schritten.

61

Der durch übergroße Ohrenschützer behütete Bodenlotse winkte den Jumbo 747 mit seinen beiden Signalkellen an die wartende Treppe. Das Flugzeug rollte bis zu einem auf den Asphalt gemalten Kreis, und auf ein Zeichen würgte der Pilot die vier Pratt & Whitney-Düsen ab.

Im Inneren des Flugzeugs drang die Stimme einer Stewardeß aus den Lautsprechern. »Meine Damen und Herren, wir sind soeben in New York Kennedy Airport gelandet. Wir danken Ihnen, daß Sie mit TWA geflogen sind. Wir bitten Sie, bis zur nächsten Ansage in Ihren Sitzen zu bleiben. Danke sehr.« Protestgemurmel erhob sich. Einen Augenblick später wurden die Türen von der Bodencrew geöffnet. Die beiden FBIBeamten, die mit Jennifer im vorderen Teil des Flugzeugs gesessen hatten, standen auf. Einer von ihnen wandte sich an Jennifer und sagte: »Gehen wir.«

Neugierig sahen die Passagiere zu, wie die drei Fluggäste die Maschine verließen. Einige Minuten später ertönte wieder die Stimme der Stewardeß aus den Lautsprechern. »Wir danken Ihnen für Ihre Geduld. Sie können jetzt aussteigen.«

Am Seiteneingang des Flughafens wartete eine Limousine der Regierung und fuhr geradewegs zum Metropolitan-Gefängnis an der Park Row 150, die mit dem Gerichtsgebäude am Foley Square verbunden war.

Nachdem Jennifer für das Album fotografiert worden war und ihre Fingerabdrücke hinterlassen hatte, sagte einer der FBIAgenten: »Es tut uns leid, aber wir können Sie nicht hierbehalten. Wir haben Befehl, Sie nach Riker's Island zu bringen.«

Die Fahrt nach Riker's Island verlief schweigend. Jennifer saß auf dem Rücksitz zwischen den beiden FBI-Beamten. Sie sagte nichts. Nur ihr Verstand raste. Die beiden Männer hatten während der ganzen Reise über den Ozean kein Wort gesagt, so daß Jennifer nicht die geringste Ahnung hatte, in welchen Schwierigkeiten sie steckte. Sie wußte nur, daß es ernst war, denn einen Auslieferungsbescheid erreichte man nicht ohne weiteres.

Sie konnte nichts für sich tun, solange sie im Gefängnis saß. Deswegen mußte sie als allererstes auf Kaution freikommen.

Sie fuhren über die Brücke nach Riker's Island, und Jennifer blickte auf die vertraute Szenerie, die sie schon hundertmal auf dem Weg zu ihren Mandanten gesehen hatte. Jetzt war sie selbst die Gefangene.

Aber nicht lange, dachte Jennifer. Michael wird mich rausholen. Die beiden FBI-Beamten begleiteten Jennifer in das Aufnahmegebäude, und einer von ihnen reichte dem Wärter den Haftbefehl. »Jennifer Parker.«

Der Wärter warf einen Blick darauf. »Wir haben Sie erwartet, Miß Parker. Untersuchungszelle drei ist für Sie reserviert.«

»Ich habe das Recht auf einen Anruf.« Der Wärter nickte zu dem Telefon auf dem Schreibtisch. »Klar.« Jennifer hob den Hörer ab und betete innerlich, daß Michael Moretti zu Hause sein möge. Sie begann zu wählen.

Michael Moretti hatte auf Jennifers Anruf gewartet. Während der letzten vierundzwanzig Stunden hatte er an nichts anderes denken können. Er hatte in jedem Augenblick gewußt, wo sie war - wann sie in London gelandet war, wann ihr Flugzeug Heathrow verlassen und in New York aufgesetzt hatte. Er hatte an seinem Schreibtisch gesessen und Jennifer im Geist auf ihrem Weg nach Riker's Island verfolgt. Er hatte sich ausgemalt, wie sie das Gefängnis betreten hatte. Er wußte, daß sie verlangen würde, ein Gespräch zu führen, ehe sie in die Zelle gesperrt wurde. Sie würde ihn anrufen. Mehr verlangte er nicht. Binnen einer Stunde würde er sie freihaben, und sie würde sich auf dem Weg zu ihm befinden. Michael Moretti lebte nur noch für den Augenblick, in dem sie durch die Tür trat.

Sie hatte das Unverzeihliche getan. Sie hatte sich dem Mann hingegeben, der ihn zu vernichten suchte. Und was hatte sie ihm noch gegeben? Welche Geheimnisse hatte sie ihm erzählt?

Adam Warner war der Vater von Jennifers Sohn, dessen war Michael sich jetzt sicher. Von Anfang an hatte Jennifer ihn belogen, hatte ihm weisgemacht, daß Joshuas Vater tot war. Nun, diese Prophezeiung wird bald erfüllt sein, dachte Michael. Er steckte in einer Klemme, die nicht ohne Ironie war. Auf der einen Seite hatte er eine mächtige Waffe, um Adam Warner zu diskreditieren und zu zerstören. Er konnte Warner mit der Drohung erpressen, seine Affäre mit Jennifer an die große Glocke zu hängen, aber wenn er das tat, stellte er sich selber bloß. Wenn die anderen Familien erfuhren - und sie würden es erfahren -, daß Michaels Geliebte auch die des Vorsitzenden des Senatsausschusses war, würde er die Zielscheibe ihres Spotts werden. Er würde seine Männer nicht mehr bei der Stange halten können. Ein Hahnrei hatte kaum die Qualifikation zu einem Don. Also war eine solche Erpressung ein zweis chneidiges Schwert, und so verlockend es auch war, Michael wußte, daß er es nicht benutzen durfte. Er mußte seine Feinde auf andere Weise vernichten.

Er warf einen Blick auf die kleine, schlecht gezeichnete Skizze vor sich auf dem Tisch. Es war die Route, auf der Adam Warner heute abend zu einem Wahlessen fahren würde. Die Karte hatte Michael Moretti fünftausend Dollar gekostet. Adam Warner aber würde sie das Leben kosten. Das Telefon klingelte, und unwillkürlich zuckte Michael zusammen. Er hob ab und hörte Jennifer Parkers Stimme in der Leitung. Diese Stimme, die Zärtlichkeiten in sein Ohr geflüstert, die ihn angefleht hatte, mit ihr zu schlafen, die... »Michael - bist du's?«

»Ja. Wo bist du?«

»Sie halten mich in Riker's Island fest. Sie beschuldigen mich des Mordes. Bis jetzt ist noch keine Kaution festgesetzt worden. Wann kannst du...«

»Ich hole dich sofort heraus. Du kannst schon auf dem Sprung sitzen. Okay?«

»Ja, Michael.« Er hörte die Erleichterung in ihrer Stimme. »Ich sorge dafür, daß Gino dich abholt.« Wenige Sekunden später wählte er eine Nummer und sprach einige Minuten in den Hörer.

»Es ist mir egal, wie hoch die Kaution ist. Ich will sie sofort draußen haben.«

Er legte den Hörer wieder auf und drückte einen Knopf an seinem Schreibtisch. Gino Gallo betrat den Raum. »Jennifer Parker sitzt auf Riker's Island. Sie müßte in ein oder zwei Stunden entlassen werden. Hol sie ab und bring sie her.«

»Wird gemacht, Boß.«

Michael lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sag ihr, daß wir uns ab heute wegen Adam Warner keine Sorgen mehr zu machen brauchen.«

Gino Gallos Gesicht leuchtete auf. »Nein?«

»Nein. Er ist auf dem Weg zu einem Vortrag, aber er wird nie ankommen. Er wird auf der Brücke bei New Canaan einen Unfall haben.«

Gino Gallo lächelte. »Großartig, Boß.« Michael deutete auf die Tür. »Ab mit dir.«

Staatsanwalt Di Silva widersetzte sich dem Antrag, Jennifer auf Kaution freizulassen, mit jedem ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Die Verhandlung fand vor Richter William Bennett, einem Mitglied des Obersten Gerichtshofs von New York, statt.

»Euer Ehren«, sagte Di Silva, »die Angeklagte wird eines Dutzends schwerer Verbrechen beschuldigt. Wir mußten sie von Singapur ausliefern lassen. Wenn sie gegen Kaution freigelassen wird, kann sie sich in ein Land absetzen, mit dem wir keinen Auslieferungsvertrag unterhalten.«

John Lester, ein ehemaliger Richter, der Jennifer vertrat, antwortete: »Der Staatsanwalt macht sich der böswilligen Verdrehung von Tatsachen schuldig, Euer Ehren. Meine Mandantin ist nirgendwohin geflohen. Sie war geschäftlich in Singapur. Wenn die Regierung sie aufgefordert hätte, zurückzukommen, hätte sie der Aufforderung freiwillig Folge geleistet. Sie ist eine angesehene Anwältin mit einer großen Kanzlei in dieser Stadt. Es wäre undenkbar, daß sie weglaufen würde.«

Der Streit ging noch länger als dreißig Minuten weiter. Schließlich sagte Richter William Bennett: »Das Gericht setzt eine Kaution in Höhe von fünfhunderttausend Dollar fest.«

»Danke, Euer Ehren«, sagte Jennifers Anwalt. »Wir hinterlegen die Kaution.«

Eine Viertelstunde später half Gino Gallo Jennifer auf den Rücksitz einer Mercedes-Limousine. »Das ging schnell«, sagte er.

Jennifer antwortete nicht. Sie hatte gar nicht zugehört. Sie überlegte, was passiert sein konnte. Sie war in Singapur vollkommen isoliert gewesen. Sie hatte keine Ahnung, was in den Vereinigten Staaten vorgefallen war, aber zweifellos war ihre Verhaftung kein Zufall. Sie waren nicht allein hinter ihr her. Sie mußte unbedingt mit Michael sprechen und herausfinden, worum es ging. Di Silva mußte seiner verdammt sicher gewesen sein, wenn er ihre Auslieferung unter einer Mordanklage beantragt hatte. Er...

Gino Gallo sagte zwei Worte, die Jennifer aus ihren Gedanken rissen.

»... Adam Warner...«

»Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte, um Adam Warner brauchen wir uns nicht mehr zu kümmern. Mike hat sich seiner angenommen.« Jennifer spürte ihr Herz schlagen. »Hat er das? Wann?« Gino Gallo nahm die Hand vom Lenkrad, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. »In etwa fünfzehn Minuten. Es wird wie ein Unfall aussehen.«

Jennifers Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Wo...« Sie brachte die Worte kaum heraus. »Wo - wo wird es passieren.«

»New Canaan. An der Brücke.« Sie fuhren durch Queens. Vor ihnen lag ein Einkaufszentrum mit einer Apotheke.

»Gino, könntest du vor dem Drugstore halten? Ich muß noch etwas besorgen.«

»Klar.«

Geschickt schwenkte er das Lenkrad herum und steuerte in die Einfahrt des Einkaufszentrums. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein, nein. Ich - ich bleibe nur eine Minute weg.« Jennifer sprang aus dem Wagen und eilte mit vibrierenden Nerven in den Laden. Im hinteren Teil des Geschäfts befand sich eine Telefonzelle. Jennifer griff in ihre Geldbörse. Sie hatte kein Kleingeld, abgesehen von einigen Münzen aus Singapur. Sie lief zur Kasse und holte einen Dollar heraus. »Könnten Sie mir den bitte wechseln?« Die gelangweilte Kassiererin nahm Jennifers Dollar und gab ihr eine Handvoll Kleingeld. Jennifer eilte zurück zum Telefon. Eine stämmige Frau hatte den Hörer ergriffen und wählte.

Jennifer sagte: »Es handelt sich um einen Notfall. Könnte ich vielleicht...«

Die Frau starrte sie an und wählte weiter. »Hallo, Hazel«, keuchte sie dann. »Mein Horoskop stimmte genau! Ich hatte einen grauenhaften Tag. Erinnerst du dich noch an die Schuhe, die ich mir bei Delmans holen wollte? Kannst du dir vorstellen, daß sie das einzige Paar, das sie in meiner Größe hatten, schon verkauft haben?«

Jennifer berührte den Arm der Frau und sagte: »Bitte!«

»Besorgen Sie sich ein eigenes Telefon«, zischte die Frau. Sie wandte sich wieder dem Hörer zu. »Und erinnerst du dich noch an das Paar aus Wildleder, das wir gesehen haben? Weg! Willst du wissen, was ich getan habe? Ich habe zu der Bedienung gesagt...«

Jennifer schloß die Augen und vergaß alles außer dem Aufruhr in ihrem Inneren. Michael durfte Adam nicht umbringen. Sie mußte tun, was sie konnte, um ihn zu retten. Die Frau hängte auf und wandte sich an Jennifer. »Ich sollte noch jemanden anrufen, nur um Ihnen Benehmen beizubringen.«

Dann ging sie davon, stolz auf ihren kleinen Sieg. Jennifer packte den Hörer. Als erstes rief sie Adams Büro an. »Es tut mir leid«, sagte seine Sekretärin, »aber Senator Warner ist nicht da. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«

»Es ist dringend«, sagte Jennifer. »Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?«

»Nein, es tut mir leid. Wenn Sie gern...« Jennifer hängte auf. Sie stand da und dachte einen Augenblick nach, dann wählte sie eine andere Nummer. Robert Di Silva! Eine Ewigkeit verging, ehe sich eine Stimme meldete: »Büro des Staatsanwalts.«

»Ich muß mit Mr. Di Silva sprechen. Hier ist Jennifer Parker.« »Es tut mir leid. Mr. Di Silva ist in einer Konferenz. Er darf nicht gestört...«

»Sie holen ihn jetzt ans Telefon, sofort! Es handelt sich um einen Notfall. Laufen Sie schon!« Jennifers Stimme zitterte. Di Silvas Sekretärin zögerte. »Einen Moment bitte.« Kurz darauf kam Robert Di Silva an den Apparat. »Ja?« Sein Ton war unfreundlich.

»Passen Sie auf, und passen Sie gut auf«, sagte Jennifer.

»Adam Warner soll ermordet werden. Es soll in den nächsten zehn oder fünfzehn Minuten geschehen. Auf der Brücke von New Canaan.«

Sie hängte auf. Mehr konnte sie nicht tun. Sie stellte sich Adams Körper von einem Unfall zerfetzt vor und schauderte. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und betete innerlich, daß Di Silvas Männer schneller waren als Michaels Killer.

Robert Di Silva legte den Hörer auf und blickte die Männer in seinem Büro an. »Das war ein merkwürdiger Anruf.« »Von wem?«

»Jennifer Parker. Sie behauptete, daß jemand Senator Warner ermorden will.«

»Warum hat sie Sie angerufen?«

»Das weiß der Teufel.«

»Halten Sie ihre Vermutung für möglich?«

Staatsanwalt Di Silva sagte: »Natürlich nicht.«

Jennifer trat durch die Tür, und trotz allem konnte Michael nicht anders, als auf ihre Schönheit reagieren. Es war die gleiche Reaktion wie immer. Seine Gefühle hatten sich nicht verändert. Äußerlich war sie die entzückendste Frau, die er je gesehen hatte. Aber unter der schönen Schale war sie trügerisch, tödlich. Er blickte auf die Lippen, die Adam Warner geküßt hatten, und auf den Körper, der in Adam Warners Armen gelegen hatte.

Sie betrat den Raum und sagte: »Michael, ich bin so froh, dich zu sehen. Danke, daß du alles so schnell arrangiert hast.«

»Kein Problem. Ich habe auf dich gewartet, Jennifer.« Sie würde nie erfahren, wie sehr er auf sie gewartet hatte. Sie ließ sich in einen Armsessel fallen. »Michael, was, in Gottes Namen, geht hier eigentlich vor? Was ist los?« Beinahe bewundernd beobachtete er sie. Sie war mitverantwortlich dafür, daß sein Reich zusammenbrach, und nun saß sie ihm wie die Unschuld persönlich gegenüber und fragte, was eigentlich los sei.

»Weißt du, warum sie mich zurückgeholt haben?« Sicher, dachte er. Damit du ihnen noch etwas mehr vorsingen kannst. Er dachte an den kleinen gelben Kanarienvogel mit dem gebrochenen Genick. Genauso würde Jennifer auch bald enden.

Jennifer blickte in seine schwarzen Augen. »Geht es dir gut?«

»Es ist mir nie besser gegangen.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »In ein paar Minuten werden all unsere Probleme vorbei sein.«

»Wie meinst du?«

»Senator Warner wird einen Unfall haben. Das wird den Senatsausschuß etwas abkühlen.« Er blickte auf die Uhr an der Wand. »Ich erwarte den Anruf jeden Augenblick.« Michaels Benehmen war seltsam, erschreckend. Jennifer hatte plötzlich eine Ahnung von Gefahr.

Sie stand auf. »Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, auszupacken. Ich werde schnell...«

»Setz dich.« Der Unterton in Michaels Stimme ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. »Michael...«

Sie warf einen Blick zur Tür hinüber. Gino Gallo hatte sich mit dem Rücken dagegengelehnt und sah Jennifer ausdruckslos an. »Du gehst nirgendwo hin«, erklärte Michael ihr.

»Ich verstehe nicht...«

»Sei still. Sag nichts mehr, kein Wort.« Sie saßen einander gegenüber und starrten sich an, das einzige Geräusch im Raum war das Ticken der Uhr an der Wand. Jennifer versuchte, in Michaels Augen zu lesen, aber sie waren leer, verrieten nichts und zeigten keine Neugier. Das plötzliche Schrillen des Telefons zerriß die Stille. Michael hob den Hörer ab.

»Hallo?... Bist du sicher?... In Ordnung. Verschwindet dort.« Er legte den Hörer wieder auf und blickte Jennifer an. »Die Brücke bei New Canaan wimmelt von Cops.« Jennifer fühlte sich schwach vor Erleichterung. Michael beobachtete sie, und sie bemühte sich, ihre Gefühle zu verbergen. Sie fragte: »Was hat das zu bedeuten?« Michael sagte langsam: »Gar nichts. Denn dort werden wir Adam Warner nicht umlegen.«

62

Die Zwillingsbrücken des Garden State Parkway waren auf keiner Karte verzeichnet. Der Garden State Parkway führte zwischen den Amboys über den Raritan und spaltete sich dort in zwei Brücken, von denen die eine nach Norden und die andere nach Süden führte.

Die Limousine des Präsidentschaftskandidaten befand sich westlich von Perth Amboy auf dem Weg zur südlichen Brücke. Adam Warner saß auf dem Rücksitz, einen Sicherheitsbeamten neben und die Rücken von zwei weiteren vor sich.

Agent Clay Reddin war der Wachtruppe des Senators bereits vor sechs Monaten zugeteilt worden, und er hatte Adam Warner ziemlich gut kennengelernt. Er hatte ihn immer für einen offenen, zugänglichen Mann gehalten, aber heute war der Senator den ganzen Tag über seltsam schweigsam und zurückgezogen. Tief besorgt, war das Wort, das Reddin einfiel. Für ihn war es keine Frage, daß Senator Warner der nächste Präsident der Vereinigten Staaten sein würde, und er, Reddin, trug die Verantwortung dafür, daß ihm nichts zustieß. Er durchdachte noch einmal die Vorkehrungen, die zur Sicherheit des Senators getroffen waren. Zufrieden stellte er fest, daß nichts schiefgehen konnte.

Er blickte noch einmal zu dem Präsidentschaftskandidaten hinüber und fragte sich, woran er denken mochte. Adam Warner war von Di Silva informiert worden, daß Jennifer verhaftet worden war. Der Gedanke, daß sie wie ein Tier in einen Käfig gesperrt wurde, war qualvoll. Immer wieder mußte er an die wundervollen Stunden denken, die sie miteinander geteilt hatten. Er hatte Jennifer geliebt, wie er nie eine andere Frau geliebt hatte.

Einer der Sicherheitsbeamten auf den Vordersitzen sagte: »Wir müßten es rechtzeitig bis Atlantic City schaffen, Mr.President.«

Mr. President. Schon wieder dieses Wort. Den letzten Meinungsumfragen nach lag er weit vorn. Er war der neue Volksheld des Landes, und Adam wußte, daß nicht zuletzt der Ausschuß, dem er vorstand, dazu beigetragen hatte. Der Ausschuß, der Jennifer vernichten würde. Adam blickte auf und bemerkte, daß sie sich den Zwillingsbrücken näherten. Kurz davor mündete eine Seitenstraße auf den Parkway. Ein großer Sattelschlepper mit Lastauflieger stand auf der anderen Seite der Straße gegenüber der Seitenmündung. Als die Limousine sich der Brücke näherte, setzte sich der Laster plötzlich in Bewegung, so daß die beiden Fahrzeuge gleichzeitig bei der Brücke eintrafen. Der Fahrer trat auf die Bremse und verlangsamte. »Seht euch diesen Idioten an.« Die Funksprechanlage begann zu knistern. »Leuchtturm Eins! Kommen, Leuchtturm Eins!«

Der Lastwagen fuhr jetzt Seite an Seite mit der Limousine. Nebeneinander fuhren sie auf die Brücke. Die Sicht von der Fahrerseite der Limousine aus war vollständig versperrt. Der Sicherheitsbeamte am Steuer trat aufs Gaspedal, um den Laster zu überholen, aber der Sattelschlepper erhöhte ebenfalls die Geschwindigkeit.

»Was, zum Teufel, treibt der für ein Spielchen?« murmelte der Fahrer.

»Wir haben einen dringenden Anruf aus dem Büro des Staatsanwalts bekommen«, drang es aus der Funksprechanlage. »Fuchs Eins ist in Gefahr! Haben Sie mich verstanden?«

Ohne Warnung schwenkte der Laster nach rechts, traf die Seite der Limousine und drängte sie gegen das Geländer der Brücke. Eine Sekunde später hatten die Sicherheitsbeamten im Wagen ihre Revolver gezogen. »Nach unten!«

Adam fand sich auf dem Boden der Limousine wieder, geschützt durch Clay Reddins Körper. Die Sicherheitsbeamten kurbelten die Fenster an der linken Seite der Limousine herunter, aber ihre Revolvermündungen fanden kein Ziel. Der Lastwagen ragte neben ihnen hoch wie eine Wand. Der Fahrer thronte weit oben, außerhalb ihrer Sicht. Es gab einen neuen Stoß und ein knirschendes Krachen, als die Limousine wieder gegen das Geländer gestoßen wurde. Der Fahrer riß das Lenkrad nach links, um den Wagen auf der Brücke zu halten, aber der Laster drängte ihn immer wieder zurück. Zweihundert Fuß unter ihnen schäumte das eiskalte Wasser des Raritan dahin.

Der Sicherheitsbeamte neben dem Fahrer schrie in das Mikrofon: »Hier ist Leuchtturm Eins! Mayday! Mayday! Alle Einheiten zur Zwillingsbrücke!«

Aber jeder in der Limousine wußte, daß die Hilfe nicht mehr rechtzeitig eintreffen würde. Der Fahrer versuchte anzuhalten, aber der mächtige Kotflügel des Lasters hatte sich in die Limousine verkeilt und schleifte sie mit. Es war nur noch eine Sache von Sekunden, bis der Laster sie über die Kante der Brücke stoßen würde. Der Beamte am Steuer bearbeitete abwechselnd das Gaspedal und die Bremse, um die Limousine von dem Druck des Lasters zu befreien, aber der Laster nagelte den Wagen gnadenlos gegen das Brückengeländer. Die Limousine hatte nicht den geringsten Spielraum. Der Laster blockierte auf der linken Seite jede Fluchtmöglichkeit, und auf der rechten Seite wurde der Wagen gegen das Eisengeländer gepreßt. Der Fahrer kämpfte verzweifelt mit dem Lenkrad. Der Laster warf sich mit neuer Wucht gegen die Limousine, und jeder in ihrem Inneren konnte spüren, wie das Brückengeländer nachzugeben begann.

Der Laster rammte immer heftiger gegen die Karosserie und drängte die Limousine von der Brücke. Plötzlich brachen die Vorderräder des Wagens durch das Geländer. Der Wagen hatte jetzt starke Schlagseite. Jemand im Inneren stieß einen Schrei aus. Die Limousine schwankte auf der Kante der Brücke hin und her, und jeder im Wagen bereitete sich auf das Sterben vor.

Adam spürte keine Angst, nur ein Gefühl unbeschreiblichen Verlusts, Trauer über das verschwendete Leben. Mit Jennifer hätte er es teilen, Kinder haben sollen - und plötzlich wußte er von irgendwo aus der Tiefe seines Ich, daß sie ein Kind gehabt hatte.

Die Limousine neigte sich wieder dem Wasser zu, und Adam stieß einen einzigen lauten Schrei aus, eine Anklage gegen die Ungerechtigkeit dessen, was geschehen war und was noch geschah.

Aus dem Himmel über ihren Köpfen stießen plötzlich zwei Polizeihubschrauber herab. Das Hämmern von Maschinenpistolen erklang. Der Sattelschlepper schlingerte, und auf einen Schlag hörte alle Bewegung auf. Adam und die anderen konnten die Helikopter am Himmel kreisen hören. Die Männer rührten sich nicht, denn sie wußten, daß das kleinste Zucken den Wagen aus dem Gleichgewicht bringen und in die eisigen Fluten unter ihnen stürzen konnte.

Aus der Ferne näherten sich Polizeisirenen. Wenige Minuten später erklangen Stimmen, die Befehle brüllten. Der Motor des Sattelschleppers erwachte wieder zum Leben. Langsam, vorsichtig, setzte sich der Laster in Bewegung, kroch von der eingezwängten Limousine fort. Der Druck ließ nach. Der Wagen schwankte eine furchtbare Sekunde lang, dann stand er still. Der Laster gab den Blick aus dem linken Seitenfenster frei.

Streifenwagen und Polizisten in Uniform mit gezogenen Waffen schwärmten über die Brücke.

Ein Polizeicaptain tauchte neben dem verbeulten Wagen auf. »Es ist unmöglich, die Türen zu öffnen«, sagte er. »Wir holen Sie durch die Fenster heraus.«

Als erster wurde Adam aus dem Fenster gehoben, langsam und vorsichtig, um den Wagen nicht doch noch durch eine heftige Bewegung aus dem Gleichgewicht zu kippen. Nach ihm folgten die drei Sicherheitsbeamten. Als alle Insassen aus der

Limousine befreit waren, wandte sich der Captain an Adam und fragte: »Sind Sie in Ordnung, Sir?«

Adam blickte auf die Limousine, die über dem dunklen Wasser des Flusses weit unten hing. »Ja«, sagte er. »Alles in Ordnung.«

Michael Moretti warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Es ist vorbei«, sagte er. Er wandte sich an Jennifer. »Dein Geliebter dürfte jetzt im Fluß treiben.«

Sie starrte ihn an, bleich vor Entsetzen. »Du kannst doch nicht...«

»Keine Sorge. Du wirst einen fairen Prozeß bekommen.« Er blickte Gino Gallo an. »Hast du ihr erzählt, daß wir Adam Warner auf der Brücke von New Canaan erledigen wollten?«

»Genau wie Sie es mir aufgetragen hatten, Boß.« Michael sah Jennifer an. »Der Prozeß ist vorbei.« Er stand auf und ging zu ihr hinüber. Er packte ihre Bluse und riß sie hoch.

»Ich habe dich geliebt«, flüsterte er. Er schlug ihr heftig ins Gesicht. Jennifer zuckte mit keiner Wimper. Er schlug sie noch einmal, härter diesmal, dann ein drittes Mal, und sie stürzte zu Boden.

»Steh auf. Wir machen eine kleine Fahrt.« Betäubt von den Schlägen, lag Jennifer auf dem Boden und versuchte, ihren Kopf freizubekommen. Michael riß sie brutal auf die Füße.

»Wollen Sie, daß ich mich um sie kümmere, Boß?« fragte Gino Gallo.

»Nein. Fahr den Wagen zum Hintereingang.«

»Sofort, Boß.« Er eilte aus dem Raum. Jennifer und Michael waren allein.

»Warum?« fragte er. »Die Welt wa r unser, und du hast sie weggeworfen. Warum?« Sie antwortete nicht.

»Willst du, daß ich noch einmal mit dir schlafe - um der alten Zeiten willen?« Michael bewegte sich auf sie zu und ergriff ihren Arm. »Willst du das?« Jennifer antwortete nicht. »Du wirst nie mehr mit irgend jemandem schlafen, hörst du? Ich werde dich zu deinem Geliebten in den Fluß werfen. Dann könnt ihr euch für immer Gesellschaft leisten.« Gino Gallo kam mit weißem Gesicht in den Raum gestürzt. »Boß! Draußen sind...«

Von draußen drang ein Krachen herein. Michael war mit drei Schritten bei seinem Schreibtisch und riß die Schublade auf. Er hielt einen Revolver in der Hand, als die Tür aufsprang. Zwei FBI-Männer warfen sich mit gezogenen Waffen in den Raum.

»Keine Bewegung!«

In einem Sekundenbruchteil traf Michael seine Entscheidung. Er schwenkte den Revolver herum und feuerte auf Jennifer. Er sah die Kugeln einschlagen, dann begannen die FBI-Männer zu schießen. Er sah Blut aus Jennifers Brust sprudeln. Im nächsten Augenblick zerriß eine Kugel sein Fleisch, gefolgt von einer zweiten. Er sah Jennifer auf dem Boden liegen und wußte nicht, welche Qual größer war, ihr Tod oder der seine. Er spürte den Hammerschlag einer dritten Kugel, und dann fühlte er gar nichts mehr.

63

Zwei Pfleger rollten Jennifer aus dem Operationssaal in die Intensivstation. Ein uniformierter Polizist wich nicht von Jennifers Seite. Der Krankenhausflur wimmelte von Polizisten, Detektiven und Reportern.

Ein Mann ging auf den Empfangstisch zu und sagte: »Ich möchte zu Jennifer Parker.«

»Gehören Sie zur Familie?«

»Nein. Ich bin ein Freund.«

»Es tut mir leid. Keine Besucher. Sie liegt auf der Intensivstation.«

»Ich werde warten.«

»Es kann lange dauern.«

»Spielt keine Rolle«, sagte Ken Bailey.

Eine Seitentür wurde geöffnet, und Adam Warner, eingefallen und hager, trat ein, gefolgt von einem Trupp Sicherheitsbeamten.

Ein Arzt wartete bereits auf ihn. »Hier entlang, Senator Warner.« Er führte Adam in ein kleines Büro. »Wie geht es ihr?« fragte Adam.

»Ich habe nicht viel Hoffnung. Wir mußten drei Kugeln herausoperieren.«

Die Tür öffnete sich, und Staatsanwalt Robert Di Silva eilte herein. Er blickte Adam Warner an und sagte: »Bin ich froh, daß Ihnen nichts passiert ist.«

Adam sagte: »Ich glaube, ich verdanke Ihnen eine ganze Menge. W ie haben Sie davon erfahren?«

»Jennifer Parker hat mich angerufen. Sie sagte, man wollte Sie auf der New-Canaan-Brücke ermorden. Ich dachte mir schon, daß es sich um ein Ablenkungsmanöver handeln könnte, aber ich durfte kein Risiko eingehen, so daß ich der Sache nachging. In der Zwischenzeit habe ich herausgefunden, welche Route Sie wirklich gefahren sind, und habe ein paar Hubschrauber hinter Ihnen hergejagt, um Sie zu schützen. Ich vermute, die Parker wollte Sie aus dem Weg räumen.«

»Nein«, sagte Adam. »Nein.«

Robert Di Silva zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen, Senator. Hauptsache, Sie sind am Leben.« Wie aus einem nachträglichen Einfall heraus wandte er sich an den Arzt. »Wird sie durchkommen?«

»Ihre Chancen stehen nicht sehr gut.« Der Staatsanwalt bemerkte Adams Gesichtsausdruck und deutete ihn falsch. »Keine Sorge. Wenn sie es schafft, haben wir sie in jedem Fall festgenagelt.« Er sah genauer hin und meinte: »Sie sehen aus wie eine aufgewärmte Leiche. Warum fahren Sie nicht nach Hause und ruhen sic h aus?«

»Zuerst möchte ich Jennifer Parker sehen.« Der Arzt sagte: »Sie liegt im Koma. Vielleicht wird sie nie wieder daraus erwachen.« »Ich möchte sie sehen, bitte.« »Natürlich, Senator. Folgen Sie mir.«

Der Arzt führte Adam und Robert Di Silva aus dem Zimmer. Sie gingen den Flur entlang, bis sie ein Schild erreichten, auf dem INTENSIVSTATION - KEIN ZUTRITT! stand. Der Arzt öffnete die Tür und hielt sie den beiden Männern auf. »Sie liegt im ersten Raum.«

Ein Polizist hielt vor der Tür Wache. Als er den Staatsanwalt bemerkte, nahm er Haltung an.

»Niemand kommt in die Nähe dieses Zimmers ohne meine schriftliche Erlaubnis. Haben Sie verstanden?« sagte Di Silva. »Ja, Sir.«

Adam und Di Silva betraten den Raum. Es gab drei Betten, zwei davon leer. Jennifer lag im dritten. Schläuche führten in ihre Nasenlöcher und die Venen an den Handgelenken. Adam trat dicht an das Bett heran und starrte auf sie hinunter. Jennifers Gesicht auf dem weißen Kissen war sehr bleich. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht wirkte jetzt jünger und weicher. Vor Adams Augen lag das unschuldige Mädchen, das er vor Jahren getroffen hatte, das junge Mädchen, das ärgerlich zu ihm gesagt hatte: Glauben Sie, ich würde in diesem Loch leben, wenn ich auch nur ein bißchen Geld hätte? Es ist mir egal, was Sie tun. Lassen Sie mich in Ruhe, mehr will ich nicht. Er dachte an ihren Mut, ihren Idealismus und ihre Verletzlichkeit. Sie war auf der Seite der Engel gewesen, hatte an die Gerechtigkeit geglaubt und war bereit gewesen, dafür zu kämpfen. Was war falsch gelaufen? Er hatte sie geliebt und liebte sie immer noch. Er hatte eine einzige falsche Wahl getroffen, die ihrer beider Leben vergiftet hatte, und er wußte, daß er sich nie wieder schuldlos fühlen würde, solange er lebte. Er wandte sich an den Arzt. »Lassen Sie es mich wissen, wenn sie...« Er konnte es nicht aussprechen. »Halten Sie mich über alles auf dem laufenden.« »Natürlich«, sagte der Doktor.

Adam Warner warf einen langen, letzten Blick auf Jennifer und sagte ihr stumm Lebewohl. Dann drehte er sich um und ging hinaus zu den wartenden Reportern.

Durch den trüben, nebeligen Dunst des Komas hörte Jennifer die Männer gehen. Sie hatte nicht verstanden, was sie gesagt hatten, denn ihre Worte wurden verwischt durch die Schmerzen, die sie in ihrer Gewalt hatten. Sie glaubte, sie habe Adams Stimme gehört, aber das war unmöglich. Er war tot. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, aber die Anstrengung war zu groß.

Jennifers Gedanken wirbelten davon... Abraham Wilson kam in den Raum gestürzt, einen Kasten in der Hand. Er stolperte, der Kasten öffnete sich, und ein gelber Kanarienvogel flatterte heraus... Robert Di Silva schrie: Fangt ihn! Laßt ihn nicht entwischen!... und Michael Moretti hielt ihn in der Hand und lachte, Pater Ryan sagte: Seht alle her! Ein Wunder! Connie Garrett tanzte durch den Raum, und jeder applaudierte... Mrs. Cooper sagte: Ich schenke Ihnen den Staat Wyoming... Wyoming... Wyoming... Adam kam mit Dutzenden roter Rosen herein, Michael sagte: Sie sind von mir, Jennifer sagte: Ich stelle sie in eine Vase... sie verkümmerten und starben, und das Wasser aus der Vase ergoß sich auf den Boden und wurde ein See, auf dem sie und Adam segelten, Michael jagte sie auf Wasserskiern, und dann verwandelte er sich in Joshua und lächelte Jennifer an und winkte und begann, das Gleichgewicht zu verlieren, und sie schrie: Fall nicht!... Fall nicht!... Fall nicht!... eine riesige Welle spülte ihn in die Luft, und er breitete seine Arme aus wie Jesus und verschwand. Einen Augenblick lang wurde Jennifers Verstand klar. Joshua war fort. Adam war fort. Michael war fort.

Sie war allein. Am Ende war jeder allein. Jeder Mensch mußte seinen eigenen Tod sterben. Jetzt würde es ihr leichtfallen, für immer zu gehen.

Gesegneter Friede erfüllte sie. Bald, sehr bald schon wü rde es keine Schmerzen mehr geben.

64

An einem kalten Januartag wurde Adam Warner auf dem Capitol zum vierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt. Seine Frau trug eine Zobelmütze und einen dunklen Zobelmantel, der wundervoll mit ihrem bleichen Teint kontrastierte und ihre Schwangerschaft beinahe verbarg. Sie stand neben ihrer Tochter, beide sahen stolz zu, wie Adam seinen Amtseid leistete, und das Land freute sich mit ihnen. Sie waren die Edelsten Amerikas - anständig, ehrlich, gut, und sie ge hörten in das Weiße Haus.

In einer kleinen Anwaltspraxis in Kelso im Bundesstaat Washington saß Jennifer Parker allein vor dem Fernsehapparat und sah sich den Amtsantritt des neuen Präsidenten an. Sie wartete, bis die Zeremonie beendet war, bis Adam, Mary Beth und Samantha das Podium verlassen hatten, umgeben von Sicherheitsbeamten. Dann schaltete sie den Apparat aus, und die Bilder verblichen. Es war, als schaltete Jennifer die Vergangenheit ab und verbannte damit alles, was ihr zugestoßen war, die Liebe und den Tod, die Freude und den Schmerz. Nichts hatte sie zerstören können. Sie hatte überlebt. Sie zog ihren Mantel an, setzte einen Hut auf und ging nach draußen, wobei sie einen Augenblick lang stehenblieb und auf das Schild an ihrer Tür blickte. Jennifer Parker, Rechtsanwältin. Sie dachte an die Geschworenen, die sie freigesprochen hatten. Sie war noch immer eine Anwältin, so wie ihr Vater ein Anwalt gewesen war. Und sie würde fortfahren, nach diesem trügerischen Ding, genannt Gerechtigkeit, zu suchen. Sie wandte sich ab und ging in Richtung Gerichtsgebäude. Langsam schritt sie durch die verlassene, windgepeitschte Straße. Leichter Schneefall hatte eingesetzt und breitete einen Chiffonschleier über die Welt. Aus einem nahegelegenen Apartmenthaus drang ein plötzlicher Ausbruch von Heiterkeit. Es war ein so fremdartiges Geräusch, daß Jennifer für einen Augenblick stehenblieb und lauschte.

Dann zog sie ihren Mantel enger um sich und ging weiter die Straße entlang. Sie spähte in den Vorhang aus Schnee vor ihren Augen, als trachtete sie, in die Zukunft zu schauen.

Aber in Wirklichkeit blickte sie in die Vergangenheit und versuchte zu begreifen, wann alles Lachen verklungen und jede Fröhlichkeit für immer im Dunkeln erstorben war.

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