Fünfter Teil — JYOTIRLINGA

46 Ensemble

Der Bharatiya Vayu Sena Airbus Industries A510 wird leicht durchgeschüttelt, während er durch die Wolkenschicht über Varanasi aufsteigt. Ashok Rana hält sich an den Armlehnen fest. Fliegen war noch nie sein Ding gewesen. Er blickt durch das Fenster und den Regen auf die leuchtenden Streifen, die hinter ihnen zurückbleiben. Der Flugzeugrumpf vibriert, als die ECM-Drohnen aus den Behältern unter den Flügeln starten. Über Varanasi hat es schon seit Tagen keinen militärischen Flugverkehr der Awadhis mehr gegeben, aber die Luftwaffe will den neuen Premierminister keinem Risiko aussetzen. Ashok Rana überlegt, dass es möglich sein müsste, aus dem Winkel der Regentropfen auf der Glasscheibe die Geschwindigkeit der Maschine abzuleiten. Seit er mitten in der Nacht den Anruf von Sekretär Narvekar erhalten hat, schießen ihm immer wieder solche irrelevanten Gedanken durch den Kopf.

Erneut geht ein Ruck durch das Flugzeug, das sich durch den Monsun vorankämpft. Ashok Rana schaltet den Bildschirm in der Armlehne ein. Die Kamera zeigt seine Frau und seine Töchter, die hinten in der Presseabteilung sitzen. Sushmitas Gesicht spannt sich ängstlich an, als der Airbus ein weiteres Mal durchgeschüttelt wird. Anuja sagt etwas Tröstendes, nimmt ihre Hand. Im Premierminister-Ledersessel erlaubt sich Ashok Rana ein kleines Lächeln. Er wünscht sich, es gäbe hier eine Kamera, damit sie ihn sehen können. Sie wären nicht so ängstlich, wenn sie ihn sehen könnten.

»Premierminister.«

Sein Parlamentarischer Privatsekretär dreht sich mit seinem Sitz zu ihm herum und reicht ihm über den Tisch hinweg einen bekritzelten Ausdruck.

»Wir haben hier einen Entwurf der Rede. Wenn Sie sich mit den wichtigsten Punkten vertraut machen würden ...«

Das Flugzeug des Premierministers ruckelt ein letztes Mal, bevor es in klare Luft vorstößt. Durch das Fenster sieht Ashok Rana die mondbeschienene Oberfläche eines stürmischen Wolkenmeers. Der Pilot schaltet mit einem Pling die Anschnallzeichen aus, und im nächsten Moment sind überall im Kunststoffrumpf Klingeltöne zu hören. Jeder Politiker und jeder Beamte ist von seinem Sitz aufgestanden und drängt sich um den Konferenztisch. Sie beugen sich mit erwartungsvollem, gespanntem Gesichtsausdruck vor. Sie haben diesen erwartungsvollen, gespannten Gesichtsausdruck, seit Sekretär Narvekar und Verteidigungsminister Chowdhury gebückt durch die Tür des Senkrechtstarters der Bharati Air Force getreten sind, der in seinem Garten gelandet war, um Ashok Rana und seine Familie abzuholen. Der Oberste Staatsrichter Laxman nahm den Eid ab, während der Militärtransporter zum abgelegenen, gesicherten Bereich des Flughafens unterwegs war, wohin man Vayu Sena One gebracht hatte. Die Armeekrankenschwester mit den strahlend weißen Chirurgenhandschuhen stach ihm mit einem Skalpell in den Daumen, drückte ihn auf ein Diagnosepad, und noch bevor Ashok Rana den Schmerz registrierte, war die Wunde mit medizinischem Alkohol gereinigt und mit einem Pflaster versehen.

»Für die DNS-Identifizierung, Premierminister«, erklärte Trivul Narvekar, doch Ashok Ranas Aufmerksamkeit wurde von dem Offizier der Air Force beansprucht, der sofort mit gezogener Waffe hinter die Krankenschwester getreten war, die Mündung nur ein Flüstern von ihrem Hinterkopf entfernt. Einen Premierminister zu verlieren ist eine Tragödie. Bei zweien sieht es nach einer Verschwörung aus. Dann füllte das Gesicht des Obersten Staatsrichters Laxman sein Blickfeld aus.

»Ich überreiche Ihnen nun die Staatssiegel, Premierminister. Damit verfügen Sie über die volle Führungsgewalt.«

Die A510 schwimmt zum riesigen Bharati-Mond hinauf. Ashok Rana könnte ihn ewig betrachten und sich vorstellen, dass unter den Wolken keine chaotische, zerbrochene Nation existiert. Aber die Gesichter erwarten etwas von ihm. Er überfliegt den Ausdruck. Gemäßigte Phrasen, einprägsame Slogans mit Schnittpausen, die davor und danach markiert sind, Beschlüsse und mitreißende Deklarationen. Ashok Rana betrachtet noch einmal seine Familie auf dem kleinen handflächengroßen Schirm.

»Wurde die Leiche meiner Schwester geborgen?«

Alle lauten Stimmen, alle Palmer verstummen.

»Das Gebiet wurde gesichert«, sagt Sekretär Narvekar.

»Können wir der Armee vertrauen?«

»Wir haben reguläre Truppen hingeschickt. Auf sie können wir uns verlassen. Die Gruppe war eine kleine Verschwörung innerhalb der Elitedivisionen, die für ihre persönliche Sicherheit zuständig war. Die Verantwortlichen wurden verhaftet. Bedauerlicherweise konnten wir nicht verhindern, dass sich einige der höherrangigen Offiziere selbst das Leben nahmen. Von der Leibwache lebt niemand mehr, Premierminister.«

Ashok Rana schließt die Augen, spürt die Konturen in der Stratosphäre, die den Flugzeugrumpf und ihn umschließt.

»Nicht die Awadhis.«

»Nein, Premierminister. Es wurde nie in Erwägung gezogen, dass die Awadhis auf Mordanschläge zurückgreifen könnten, falls Sie mir die Benutzung dieses Begriffs verzeihen.«

»Die Aufständischen?«

»Haben sich zerstreut, Premierminister. Die Situation in der Stadt ist nach wie vor höchst brisant. Ich würde von einer sofortigen Rückkehr nach Varanasi abraten.«

»Ich will nicht, dass sie verfolgt werden. Es steht ohnehin schlecht genug um die Moral. Wir können es uns nicht leisten, dass die Armee jeden Rückhalt in der Bevölkerung verliert. Aber wir sollten das Kriegsrecht verhängen.«

»Eine weise Entscheidung, Premierminister. Sehr großmütig im Angesicht der nationalen Krise. Das wird gut ankommen. Premierminister, ich möchte nicht den Anschein erwecken, Sie in dieser verzweifelten und bestürzenden Lage unter Druck setzen zu wollen, aber diese Rede ... Es ist wichtig, dass die Nation etwas von Ihnen hört, und zwar möglichst bald.«

»Demnächst, Trivul.«

»Premierminister, die Sendezeit ist gebucht, die Kameras und Mikros stehen im Medienzentrum bereit ...«

»Demnächst, Trivul!«

Der Parlamentarische Sekretär entfernt sich mit einer Verbeugung, aber Ashok Rana erkennt an seinen Lippen, dass Trivul seine Verärgerung hinunterschlucken muss. Wieder blickt er auf den Mond, der nun tief im Westen am Rand des silbernen Meeres steht, das Wasser auf sein Land regnen lässt. Er wird den sich am Himmel lümmelnden Mond von Indien nie wieder betrachten können, ohne an diese Nacht denken zu müssen, ohne das Klingeln des Palmers zu hören, ohne sich an den Krampf in seinen Eingeweiden zu erinnern, denn er wusste, noch bevor er den Anruf beantwortet hatte, dass ihn die schlimmstmögliche Nachricht erwartete, ohne die gemessenen, gut einstudierten Worte von Privatsekretär Patak zu hören, die nach der jahrelangen Vertrautheit mit Shaheen Badoor Khan so fremd klangen, während er von unmöglichen Dingen sprach, ohne das Kreischen des Senkrechtstarters zu hören, dessen Triebwerkssausstoß die Äste der Niembäume hin und her peitschen ließ, während seine Familie sich ankleidete und im Dunkeln ein paar Sachen packte, aus Angst, zu hell erleuchteten Zielscheiben für das zu werden, was das Haus Rana ins Verderben stürzen wollte. Das Licht wird sich ihm für immer als Klang einprägen. Am schlimmsten findet er, dass sie auch den Mond besudelt haben.

»Vikram, ich muss wissen, ob wir imstande sind, den Awadhis Widerstand zu leisen.«

Chowdhury wackelt mit dem Kopf. »Die Air Force ist hundertprozentig einsatzbereit.«

»Man kann einen Krieg nicht mit Luftstreitkräften gewinnen. Wie steht es um die Armee?«

»Wenn wir die Verschwörung zu weit verfolgen, gehen wir das Risiko ein, die gesamte Kommandostruktur zu zerreißen. Ashok, wenn die Awadhis Allahabad besetzen wollen, können wir nur sehr wenig dagegen tun.«

»Sind unsere nuklearen und chemischen Abschreckungswaffen verfügbar?«

»Premierminister, Sie denken doch nicht ernsthaft über einen Erstschlag nach!«, wirft Sekretär Narvekar ein.

Doch Ashok Rana lässt nicht locker. »Unser Land erlebt eine Invasion, unsere Städte sind völlig ungeschützt, und meine Schwester wurde von ihren eigenen Soldaten einem ... einem Mob hingeworfen. Wissen Sie, was sie mit dem Trishul gemacht haben? Wissen Sie es? Was soll ich tun, um uns zu verteidigen? Was kann ich für unsere Sicherheit tun?«

Die Gesichter nehmen eine vorsichtige, höfliche Ausdruckslosigkeit an, reagieren leidenschaftslos auf Ashok Ranas laute Stimme. Er hört selbst, dass er kurz vor einem hysterischen Ausbruch steht. Er lässt die Worte verklingen. Die Wand zwischen dem Konferenzraum und dem Medienzentrum ist mit einer modernen Interpretation des Tandava Nataraja dekoriert, des kosmischen Tanzes von Shiva — der Gott in eine Chakra aus Flammen gehüllt, einen Fuß erhoben. Ashok Rana hat all seine vierundvierzig Jahre im Schatten des herabsinkenden Fußes gelebt, der das Universum vernichten und neu erschaffen wird.

»Verzeihen Sie mir«, sagt er knapp. »Es sind schwierige Zeiten.«

Die Politiker murmeln zustimmend.

»Unsere nukleare und chemische Abschreckung ist verfügbar«, sagt Chowdhury.

»Mehr muss ich nicht wissen«, sagt Ashok Rana. »Nun zu dieser Rede ...«

Ein untergeordneter Assistent, der zwei Finger an die Schläfe gelegt hat, unterbricht ihn. »Premierminister, ein Anruf für Sie.«

»Ich hatte unmissverständlich klargestellt, dass ich keine Anrufe entgegennehme.« Ashok Rana würzt seinen Tonfall mit etwas Eisen.

»Sahb, es handelt sich um N. K. Jivanjee.«

Rund um den ovalen Tisch werden Blicke ausgetauscht. Ashok Rana nickt seinem Assistenten zu.

»Hierher.« Er tippt auf den Bildschirm in seiner Armlehne. In der Presseabteilung haben sich seine Frau und seine Kinder beruhigt und aneinandergelehnt und scheinen sogar Schlaf gefunden zu haben. Der Kopf und die Schultern des Shivaji-Anführers nehmen ihre Stelle ein. Er sitzt im sanften Licht einer Lampe auf seinem Schreibtisch. Hinter ihm deuten geometrische Muster ein Bücherregal an.

»Jivanjee. Sie trauen sich was.«

N. K. Jivanjee verneigt den Kopf. »Ich verstehe, warum Sie auf eine solche Idee kommen, Premierminister.« Die Anrede lässt Ashok Rana leicht zusammenzucken. »Zuallererst möchte ich Ihrer Familie mein aufrichtiges Beileid wegen Ihres tragischen Verlusts aussprechen, gleichermaßen dem Ehemann und den Kindern Ihrer verstorbenen Schwester. Es gibt niemanden in Bharat, der von den Ereignissen am Sarkhand Roundabout nicht tief erschüttert wurde. Ich bin empört über diesen brutalen Mord — dabei bezeichnen wir uns selbst als die Mutter aller Zivilisationen. Ich verurteile uneingeschänkt den Verrat, den die Leibwache der Premierministerin und die gesetzlosen Elemente des Mobs begangen haben. Ich bitte Sie, meine Versicherung anzunehmen, dass kein Teil der Shivaji diese grausame Tat gutheißt. Es war ein rasender Mob, der durch Verräter und Abtrünnige aufgewiegelt wurde.«

»Ich könnte Sie verhaften lassen«, sagt Ashok Rana. Seine Minister und Berater blicken ihn an. N. K. Jivanjee befeuchtet sich nervös mit einer winzigen Zungenspitze die Lippen.

»Und wie wäre Bharat damit gedient? Nein, nein, ich möchte Ihnen einen anderen Vorschlag unterbreiten. Unser Feind steht vor den Toren, unsere Steitkräfte desertieren, unsere Städte randalieren, und unser Staatsoberhaupt wurde brutal ermordet. Jetzt geht es nicht mehr um Parteipolitik. Ich schlage die Bildung einer Regierung der nationalen Rettung vor. Wie ich sagte, hat sich die Partei Lord Shivas keiner Beteiligung oder Unterstützung dieser Gräueltaten schuldig gemacht. Dennoch haben wir weiterhin einen gewissen Einfluss auf die Hindutva und die gemäßigteren Karsevaks.«

»Sie könnten wieder für Ruhe auf den Straßen sorgen.«

N. K. Jivanjee schaukelt den Kopf hin und her. »Das kann kein Politiker versprechen. Aber wenn sich in einer solchen Situation opponierende Parteien zu einer Regierung der nationalen Rettung zusammentun, würde das ein mächtiges Zeichen setzen, nicht nur für die aufwieglerischen Elemente, sondern für alle Bharatis — und auch für Awadh. Eine geeinte Nation ist nicht leicht zu besiegen.«

»Vielen Dank, Mr. Jivanjee. Das ist ein interessantes Angebot. Ich werde Sie zurückrufen. Und danke für Ihre Anteilnahme, die ich meiner Familie ausrichten werde.« Ashok Rana lässt N. K. Jivanjee mit einem Daumendruck in der Armlehne verschwinden. Er wendet sich an sein restliches Kabinett. »Ihre Einschätzungen, meine Herren?«

»Nun, es wäre ein Geschäft mit Dämonen«, sagt V. K. Chowdhury. »Aber ...«

»Er hat Sie in die Enge getrieben«, sagt der Oberste Staatsrichter Laxman. »Er ist ein sehr kluger Mann.«

»Ich sehe keine andere praktikable Lösung, als seinen Vorschlag anzunehmen«, sagt Trivul Narvekar. »Mit zwei Zusatzklauseln. Erstens: Dieser Vorschlag kommt von uns. Wir strecken unseren politischen Feinden die Hand des Friedens entgegen. Zweitens: Wir schließen bestimmte Kabinettsposten aus der Verhandlungsmasse aus.«

»Er wird Kabinettsposten verlangen?«, fragt Ashok Rana.

Narvekars Erstaunen ist ungeheuchelt. »Welchen anderen Grund könnte er für diesen Vorschlag haben? Ich plädiere dafür, dass wir die Finanzen, die Verteidigung und das Außenministerium für unverhandelbar erklären. Tut mir leid, Staatsrichter.«

»Was würden wir dann unserem neuen Freund Jivanjee anbieten?«, fragt Laxman und drückt den Rufknopf, um sich vom Steward einen Bells bringen zu lassen, für den er eine inzwischen legendäre Vorliebe hat.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich mit weniger als dem Innenministerium zufriedengibt«, sagt Narvekar.

»Chuutya«, brummt Laxman in seinen Scotch.

»Das wird keine muslimische Ehe auf Zeit sein«, sagt Narvekar.

Ashok Rana schaltet den Bildschirm um und sieht, wie seine Frau und die Kinder gegeneinandergelehnt auf den billigen Sitzen schlafen. Die Uhr zeigt vier Uhr fünfzehn. Ashok Rana hat Kopfschmerzen, seine Füße und Nebenhöhlen fühlen sich angeschwollen an, seine Augen staubig und erschöpft. Jedes Gefühl für Zeit, Raum und Perspektive hat sich verflüchtigt. In diesem migräneauslösenden Licht könnte er genauso gut im Weltraum schweben.

Chowdhury bezieht die Bemerkung auf Shaheen Badoor Khan: »Es gibt da eine Begum, die sich wünscht, diese Scheidungssache würde andersherum laufen.«

Die Männer lachen leise im grellen gebündelten Licht der Halogenlampen an der Decke.

»Sie müssen zugeben, dass er sich recht schnell in den Hintergrund zurückgezogen hat«, sagt Narvekar. »In der Politik sind vierundzwanzig Stunden eine lange Zeit.«

»Ich habe dem Kerl noch nie getraut«, sagt Chowdhury. »Ich hatte schon immer das Gefühl, dass er etwas Aalglattes hat, etwas allzu Gebildetes, zu Höfliches ...«

»Etwas zu Muslimisches?«, fragt Narvekar.

»Sie sagen es. Etwas nicht ganz ... Männliches. Und ich bin mir gar nicht so sicher mit dem, was Sie über seinen Rückzug in den Hintergrund sagen. Vierundzwanzig Stunden sind eine lange Zeit, sagen Sie, ich aber sage, dass in der Politik alles zusammenhängt. Ein rollendes Steinchen kann einen Erdrutsch auslösen. Wegen eines Hufeisennagels wurde eine Schlacht verloren. Ein Schmetterling in Beijing und so weiter. Khan ist die Wurzel des Ganzen, und ich hoffe für ihn, dass er Bharat verlassen hat.«

»Hijra«, bemerkt Laxman. Das Eis klirrt in seinem Glas.

»Meine Herren«, sagt Ashok Rana und hört seine Stimme, als würde sie von jemand anderem in großer Entfernung gesprochen, »meine Schwester ist tot.« Dann fährt er nach einer Anstandspause fort: »Welche Antwort geben wir Mr. Jivanjee?«

»Er bekommt seine Regierung der Nationalen Rettung«, sagt Sekretär Narvekar. »Nach der Ansprache.«

Das Personal im Nebenraum entwirft hastig eine überarbeitete Rede. Ashok Rana überfliegt den Ausdruck und fügt einige Randbemerkungen in blauer Tinte hinzu. Regierung der Nationalen Rettung. Die Hand der Freundschaft ausstrecken. Stärke durch Einigkeit. Während dieser schwierigen Zeit als geeinte Nation. Eine geeinte Nation lässt sich niemals besiegen.

»Premierminister, es wird Zeit«, deutet Trivul Narvekar an. Er führt Ashok Rana in das Studio im vorderen Teil von Vayu Sena One. Es ist kaum größer als eine Flugzeugtoilette: eine Kamera, ein Mikrofongalgen, ein Schreibtisch, ein Stuhl, eine Fahne von Bharat an einer Stange, ein Bildregisseur und ein Toningenieur hinter der Glasscheibe mit dem Spiegelbild der Kabine. Der Toningenieur zeigt Ashok Rana, wie man den Tisch hochklappt, damit er sich dahinter auf den Stuhl zwängen kann. Ein Sitzgurt wird angelegt, falls es zu Turbulenzen oder einer unplanmäßigen Landung kommt. Ashok Rana bemerkt den süßlichen Geruch duftender Möbelpolitur. Eine junge Frau aus dem Pressekorps, die er noch nie zuvor gesehen hat, bindet ihm eine neue Krawatte um, steckt ihm eine Nadel mit dem Spinnrad von Bharat an und versucht etwas mit seinem Haar und seinem verschwitzten Gesicht zu machen.

»Noch vierzig Sekunden, Premierminister«, sagt Trivul Narvekar. »Die Rede wird auf dem Teleprompter vor der Kamera ablaufen.« Ashok Rana gerät in Panik, weil er nicht weiß, was er mit seinen Händen machen soll. Verschränken? Zusammenlegen? Als halbes Namaste? Gestikulieren?

Der Bildregisseur übernimmt. »Die Satellitenverbindung steht, und der Countdown beginnt, zwanzig, neunzehn, achtzehn, das rote Licht bedeutet, dass die Kamera aufzeichnet, Premierminister ... Teleprompter startet ... Aufzeichnung läuft ... sechs, fünf, vier, drei, zwei ... und los.«

Ashok Rana entscheidet, was er mit seinen Händen macht. Er legt sie entspannt auf den Schreibtisch.

»Meine Mitbürger von Bharat«, liest er ab, »an diesem Morgen wende ich mich mit schwerem Herzen an Sie ...«

Im Garten, vom Regen völlig durchnässt. Der Regen lässt die schweren Blätter der kletternden und windenden Nicotianas, Clematis und Kiwireben pendeln. Regen strömt aus Abflusslöchern in den erhöhten Beeten, schäumend und von der Erde geschwärzt, Regen klatscht auf die gravierten Gehwegplatten aus Beton, gurgelt in den Rillen und Rinnen, tanzt in den Dränagen und Sickerschächten, springt in die übervollen Abflüsse und Regengossen. Regen stürzt in Wasserfällen aus den durchhängenden Traufen hinunter auf die Straße. Regen lässt den Seidensari an Parvati Nandhas flachem Bauch, ihren runden Schenkeln, ihren kleinen Brüsten mit den flachen Brustwarzen kleben. Regen pappt ihr das lange Haar an den Schädel. Regen läuft an den Konturen ihres Halses herab, ihres Rückgrats, ihrer Brüste und Arme und Handgelenke, die anständig und symmetrisch auf ihren Schenkeln liegen. Regen umströmt ihre nackten Füße und die silbernen Zehenringe. Parvati Nandha in ihrer Gartenlaube. Die Tüte steht zu ihren Füßen, halb geleert, die Öffnung eingeschlagen, um den Regen vom weißen Pulver fernzuhalten.

Gedämpfter Donner rollt aus dem Westen heran. Als er verhallt ist, horcht sie auf Geräusche von der Straße. Die Schüsse scheinen jetzt weiter entfernt zu sein, seltener und zufälliger. Die Sirenen bewegen sich von links nach rechts, dann hinter sie.

Es gibt noch ein anderes Geräusch, auf das sie horcht.

Da. Seit ihrem Anruf hat sie sich darauf getrimmt, es von den seltsamen neuen Geräuschen in der abendlichen Stadt zu unterscheiden. Das Rasseln des Riegels an der Vordertür. Sie wusste, dass er kommen würde. Sie zählt im Kopf mit, und genau zum berechneten Zeitpunkt erscheint er als schwarze Silhouette in der Tür zum Dachgarten. Krishan kann sie in der dunklen Laube nicht sehen.

»Hallo?«, ruft er.

Parvati beobachtet, wie er nach ihr sucht.

»Parvati? Bist du hier? Hallo?«

»Hier bin ich«, flüstert sie. Dann sieht sie, wie sich sein Körper aufrichtet und anspannt.

»Ich hätte es fast nicht geschafft. Da draußen herrscht der Wahnsinn. Alles bricht zusammen. Die Leute schießen, überall brennt es ...«

»Du hast es geschafft. Du bist jetzt hier.« Parvati erhebt sich von ihrem Stuhl und umarmt ihn.

»Du bist klitschnass, Frau. Was hast du gemacht?«

»Mich um meinen Garten gekümmert«, sagt Parvati und löst sich von ihm. Sie hebt eine Faust und lässt ein wenig Pulver herausrieseln. »Siehst du? Du musst mir helfen. Hier gibt es noch sehr viel zu tun.«

Krishan fängt etwas Pulver auf und schnuppert daran. »Was tust du da? Das ist Unkrautvernichter!«

»Es muss weg, alles muss weg.« Parvati entfernt sich, streut Wolken aus weißem Pulver über die Hochbeete und Töpfe mit ertränkten Geranien. Krishan will nach ihrer Hand greifen, aber sie wirft ihm weißes Pulver ins Gesicht. Er zuckt zurück. Blitze flackern im Westen, in ihrem Widerschein packt er ihr Handgelenk.

»Das verstehe ich nicht!«, schreit er. »Du rufst mich mitten in der Nacht an, komm rüber, sagst du, ich muss dich jetzt sehen. Da draußen herrscht Kriegsrecht, Parvati. Soldaten auf den Straßen. Sie schießen auf alles ... ich habe es gesehen. Nein, ich will dir nicht sagen, was ich gesehen habe. Aber dann komme ich hierher und finde dich im Regen hocken, und das ...« Er hebt ihre Hand. Der Regen hat das Unkrautvernichtungsmittel zu weißen Streifen verschmiert, zum Negativ einer Henna-Hand. Er schüttelt ihren Arm, um wieder Vernunft in diesen Teil der Welt zu bringen, auf den er Zugriff hat. »Was soll das?«

»Es muss weg.« Parvati spricht tonlos, wie ein Kind. »Alles muss weg. Mein Mann und ich, wir haben uns gestritten, weißt du? Es war gar nicht so schrecklich. Gut, er hat gebrüllt, aber ich hatte keine Angst, weil er nur Unsinn gesagt hat. Verstehst du? Ich habe all seine Argumente gehört, aber sie ergeben überhaupt keinen Sinn. Also muss ich jetzt gehen. Weg von hier. Weil es hier nichts mehr gibt. Weg von hier, von Varanasi, von allem.«

Krishan setzt sich auf die Holzeinfassung eines Hochbeets. Eine Verwirbelung im Mikroklima weht einen Schwall Zorn aus der Stadt heran.

»Gehen?«

Parvati legt ihre Hände um seine. »Ja! Es ist so einfach. Varanasi verlassen, Bharat verlassen, fortgehen. Er hat meine Mutter weggeschickt, wusstest du das? Sie ist in irgendeinem Hotel, sie ruft immer wieder an, immer wieder, aber ich weiß, was sie sagen will, dass es hier nicht sicher ist und wie ich sie mitten in einer gefährlichen Stadt allein lassen konnte, ich muss kommen und sie retten, sie zurückbringen. Weißt du, dass ich nicht einmal weiß, in welchem Hotel sie ist?« Parvati wirft den Kopf zurück und lacht über den Regen. »In Kotkhai gibt es nichts mehr für mich, und auch in Varanasi nicht. Nein, ich werde niemals zu dieser Welt gehören, das habe ich beim Cricketspiel erkannt, als alle gelacht haben. Wohin soll ich gehen? Nur überallhin. Weißt du, es ist plötzlich so einfach, wenn man glaubt, man könne nirgenwohin mehr gehen, weil einem dann alles offensteht. Mumbai. Wir könnten nach Mumbai gehen. Oder Karnataka — oder Kerala. Wir könnten nach Kerala gehen, oh, dort wäre ich sehr gern, die Palmen und das Meer und das Wasser. Ich würde gern das Meer sehen. Ich möchte wissen, wie es riecht. Verstehst du? Es ist eine Gelegenheit, wenn alles um uns herum wahnsinnig geworden ist. In diesem Chaos können wir uns davonstehlen, und niemand wird es bemerken. Mr. Nandha wird glauben, ich wäre mit meiner Mutter nach Kotkhai zurückgegangen, meine Mutter wird glauben, ich wäre noch zu Hause, aber dort werden wir nicht mehr sein, Krishan. Wir werden nicht mehr da sein!«

Krishan spürt den Regen kaum. Am meisten wünscht er sich, Parvati von diesem sterbenden Garten wegzubringen, durch die Türen hinaus auf die Straße, und nie mehr zurückzublicken. Aber er kann nicht annehmen, was ihm geschenkt wird. Er ist ein unbedeutender Vorstadtgärtner mit einem Arbeitszimmer im Haus seiner Eltern, einem kleinen Dreirad-Laster und einer Werkzeugkiste, er ist nur jemand, der eines Tages einen Anruf von einer hübschen Frau erhielt, die in einem Hochhaus lebte und ihn beauftragte, einen Garten im Himmel anzulegen. Und der Gärtner legte den Garten auf dem Dach für die schöne, einsame Frau an, deren beste Freunde nur in Geschichten existierten, und dabei verliebte er sich in sie, obwohl sie die Ehefrau eines mächtigen Mannes war. Und nun, während eines großen Sturms, bittet sie ihn, mit ihm in ein fernes Land zu fliehen, wo sie glücklich bis an ihr Ende leben können. Das alles ist zu groß und zu plötzlich. Zu einfach. Es ist Stadt und Land.

»Womit wollen wir Geld verdienen? Und wir brauchen Reisepässe, wenn wir Bharat verlassen wollen. Hast du einen Reisepass? Ich nicht. Wie bekomme ich einen? Und was wollen wir tun, wenn wir dort sind, wie wollen wir leben?«

»Wir werden einen Weg finden«, sagt Parvati Nandha, und diese fünf Worte eröffnen Krishan die Möglichkeiten dieser Nacht. Es gibt keine Regeln für Beziehungen, keine Pläne für Landschaftsgestaltung und Pflanzenaufzucht und Gartenpflege. Ein Haus, ein Arbeitsplatz, eine Karriere, Geld. Vielleicht sogar ein Brahmanenbaby.

»Ja«, sagt er. »Ja.«

Einen Moment lang glaubt er, sie hätte seine Worte nicht gehört oder missverstanden, denn sie rührt sich nicht, reagiert nicht. Krishan schöpft mit beiden Händen weißes Pulver aus der Tüte mit Unkrautvernichter. Er wirft den Staub in einer giftigen Fontäne in den Monsun hinauf.

»Weg damit!«, ruft er. »Wir können einen neuen Garten anlegen.«

Auf dem Rücken des Riesenelefanten, der dreitausend Meter über dem Vorgebirge des Himalaya in Sikkim fliegt, wird Najia Askarzadah mit einem Namaste von N. K. Jivanjee begrüßt. Er sitzt auf einem traditionellen Musnud, einem Thron aus Polstern und Kissen auf einer einfachen schwarzen Marmorplatte. Hinter dem Messinggeländer glitzern schneebedeckte Gipfel in der Nachmittagssonne. Kein Dunst, kein Smog, keine südasiatische Braune Wolke, keine Monsun-Düsternis.

»Ms. Askarzadah, ich bitte um Verzeihung für diesen billigen Taschenspielertrick, aber ich hielt es für das Beste, eine Gestalt anzunehmen, mit der Sie vertraut sind.«

Najia spürt den Höhenwind auf der Haut und die Bewegung des Holzdecks unter ihren Füßen, während das Elefantenluftschiff in den Luftströmungen dahintreibt. Sie ist hier ganz tief drin. Sie hockt sich im Schneidersitz auf ein Fransenkissen. Sie fragt sich, ob Thal es entworfen hat.

»Warum? Welche Gestalt nehmen Sie normalerweise an?«

N. K. Jivanjee breitet die Hände aus. »Irgendeine und jede. Alle und keine. Ich möchte nicht sibyllinisch erscheinen, aber das ist nun einmal die Realität.«

»Wer sind Sie also, N. K. Jivanjee oder Lal Darfan?«

N. K. Jivanjee neigt den Kopf, als wollte er sich für eine Kränkung entschuldigen. »Ach, es läuft wieder auf dieselbe Frage hinaus, Ms. Askarzadah. Beides und keins von beiden. Ich bin Lal Darfan. Ich bin Aparna Chawla und Ajay Nadiadwala — Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf die Erfahrung freue, mich selbst zu heiraten. Ich bin jede Nebenrolle und jeder Statist, jeder Passant und jedes Redshirt. Ich bin Stadt und Land. N. K. Jivanjee ist eine Rolle, die mir zugefallen zu sein scheint — oder wurde sie mir vielleicht aufgedrängt? Dies ist ein reales Gesicht, das ich mir geborgt habe — ich weiß, dass Sie immer einen Körper zur Stimme brauchen.«

»Ich glaube, ich verstehe das Rätsel allmählich.« In ihren Power-Walking-Turnschuhen wackelt Najia Askarzadah mit den Zehen. »Sie sind eine Kaih.«

N. K. Jivanjee klatscht entzückt in die Hände. »Eine, die Sie als Generation Drei bezeichnen würden. Völlig richtig.«

»Um das klarzustellen: Sie sagen mir also, dass Stadt und Land — die beliebteste Fernsehserie Indiens — intelligent ist?«

»Sie haben meine Manifestation als Lal Darwan interviewt. Sie wissen einiges über die Komplexität dieser Produktion, aber Sie haben nicht mehr als die Spitze des Eisbergs gesehen. Stadt und Land ist viel größer als Indiapendent, sogar viel größer als Bharat. Stadt und Land verteilt sich über eine Million Computer in jedem Teil Indiens, von Cape Comorin bis zum Schatten des Himalaya.« Er lächelt hinterlistig. »Es gibt Sundarbans in Varanasi und Delhi und Hyderabad, auf denen nichts läuft außer fertig ausgearbeiteten Serienfiguren, nur für den Fall, dass sie irgendwann einmal in die Handlung zurückkehren sollen. Wir sind überall, wir sind Legion.«

»Und N. K. Jivanjee?« Doch Najia Askarzadah erkennt bereits den kleinen Schritt von einem virtuellen Soap-Star zu einem illusionären Politiker. Die Kunst der Politik hat schon immer in der Kontrolle über Informationen bestanden. In einem Klima aus Schlagwörtern, Schnappschüssen und politischen Dreißig-Sekunden-Clips ist es leicht, eine falsche Persönlichkeit in der Spreu zu verstecken.

»Ich sehe die Ähnlichkeit zwischen Soaps und Politik«, sagt Najia und denkt: Dies ist eine Gen-Drei, die eine Squillion Mal intelligenter ist als du, kleine Reporterin, es ist ein Gott. »Es geht nur um Geschichten und die freiwillige Aufgabe des Zweifels und die Identifizierung des Publikums mit Figuren. Und die Handlung ist im Grunde genauso unglaubwürdig.«

»In der Politik ist das Bühnenbild normalerweise besser«, sagt die Kaih. »Ich habe genug von diesem bunten Humbug.« Er hebt die Hand in einer Mudra, und plötzlich befinden sich er auf seinem Musnud und Najia auf ihrem Fransenkissen in einem abgeschirmten Jharoka im Haveli in Brahmpur mit Blick auf den Innenhof. Es ist Nacht. Es ist dunkel. Regen prasselt auf die Jali-Holzwand. Najia spürt Spritzer auf der Haut, wo sie durch den Wandschirm aus Sandelholz dringen. »Meine größte Freude war die Feststellung, dass ein Politiker damit durchkommen kann, weniger real zu sein als ein Soap-Star.«

»Haben Sie den Befehl gegeben, Thal töten zu lassen? Man hat Bernards Zimmer völlig zerschossen. Die Leute hatten Maschinenpistolen. Ihr Mann hätte ys am Bahnhof fast erwischt, wenn ich ys nicht gerettet hätte. Wussten Sie davon?«

»N. K. Jivanjee bedauert das sehr, und er möchte Ihnen versichern, dass von ihm oder seinem Büro keine Anweisung erteilt wurde, ys zum Schweigen zu bringen. Die Dynamik eines menschlichen Mobs ist schwer vorherzusagen. In dieser Hinsicht ist die Politik leider nicht wie eine Soap, Ms. Askarzadah. Ich wünschte, ich könnte für Ihre Sicherheit garantieren, aber sobald solche Dinge in Bewegung geraten sind, ist es nahezu unmöglich, sie wieder in die Kiste zu sperren.«

»Aber Sie — er — steckten hinter der Intrige, durch die Shaheen Badoor Khan bloßgestellt werden sollte.«

»N. K. Jivanjee hatte Zugang zu Insider-Informationen.«

»Innerhalb der Rana-Regierung?«

»Innerhalb des Rana-Haushalts. Der Informant war Shaheen Badoor Khans eigene Ehefrau. Sie wusste seit vielen Jahren von seinen sexuellen Präferenzen. Außerdem ist sie eins der fähigsten Mitglieder meiner Strategiegruppe, die sich als Juristinnenzirkel bezeichnet.«

Der Wind bauscht die hauchdünnen Seidenvorhänge in den Raum mit dem Marmorfußboden hinein. Najia nimmt einen Hauch Weihrauch wahr. Sie windet sich in journalistischer Begeisterung auf ihrem Kissen in der zugigen Jharoka. Diese Geschichte wird sie zur berühmtesten Autorin der Welt machen.

»Sie hat gegen ihren eigenen Ehemann gearbeitet?«

»So scheint es. Sie verstehen, dass Beziehungen unter uns Kaihs ganz anders strukturiert sind als bei Ihnen. Bei uns gibt es keine Entsprechung für sexuelle Leidenschaft und Verrat. Genauso wenig können Sie unsere hierarchischen Beziehungen zu unseren Manifestationen begreifen. Aber dies ist ein Fall, wo ich glaube, dass das Soapi-Prinzip ein passendes Vorbild für menschliches Verhalten darstellt.«

Najia Askarzadah zückt ihre nächste Frage. »Ein Muslim, der für eine fundamentalistische Hindu-Partei arbeitet? Wie sieht die politische Realität der Shivaji aus?«

Vergiss nie, dass du dich auf feindlichem Territorium befindest, ruft sie sich ins Gedächtnis.

»Es war von Anfang an eine opportune Partei. Eine Stimme für die Stimmlosen. Ein starker Arm für die Schwachen. Seit der Gründung Bharats gab es entrechtete Gruppen. N. K. Jivanjee erschien genau im richtigen Moment, um einen großen Teil der Frauenbewegung zu katalysieren. Es ist eine deformierte Gesellschaft. In einem solchen Klima ist es leicht, politische Macht aufzubauen. Meine Manifestation konnte dem in die Zukunft gerichteten Druck der Geschichte einfach nicht widerstehen.«

Warum?, fragen Najias Lippen, aber die Kaih hebt erneut die Hand, und der Haveli von Brahmpur B löst sich wirbelnd in einer Woge aus orangefarbenem und scharlachrotem Stoff auf. Dazu der Geruch nach billigem Holz, frischer Sprühfarbe und Glasfaserklebstoff. Bunte Göttergesichter, purzelnde Devis und Gopis und Apsaras, flatternde Seidenbanner. Sie wurde in die Rath Yatra versetzt, die Vahana dieser Entität hinter N. K. Jivanjee. Aber damit Najia Askarzadah die Macht würdigen kann, die dieses Spektakel inszeniert, ist es nicht die wacklige Soapi-Studio-Konstruktion, die sie im Lagerhaus an der Industrial Road gesehen hat. Dies ist der Triumphwagen eines Gottes, ein wahrer Monstertruck, der mehrere hundert Meter hoch über der ausgedörrten Gangesebene aufragt. Die Kaih hat Najia Askarzadah auf einen aufwändig geschnitzten Balkon transportiert, der auf halber Höhe der wogenden Fassade der Rath angebracht ist. Najia lugt über das Geländer und zuckt zurück. Was sie erschreckt hat, ist kein Schwindel, sondern es sind die Menschen. Ganze Menschendörfer, ganze Menschenstädte, eine schwarze Masse aus Körpern, die die Monstrosität aus Holz und Stoff und Göttlichkeit an Lederriemen durch das trockene Flussbett des Ganges ziehen. Die gewaltige Masse des Jagannath pflügt tiefe Furchen ins Land, fünfzig parallele Rillen, die sich schnurgerade nach Osten ziehen. Wälder, Straßen, Eisenbahnen, Tempeldörfer, Felder bleiben zerstört hinter der Rath Yatra zurück. Najia kann das gemeinschaftliche Gebrüll der Menschen hören, die sich voller Eifer abmühen, die Monstrosität über den weichen Flusssand zu ziehen. Von ihrem erhöhten Aussichtspunkt erspäht sie das Ziel des Zuges, die weiße Linie des Damms von Kunda Khadar, die den ganzen Horizont einnimmt.

»Hübsches Gleichnis«, scherzt Najia Askarzadah. »Aber das hier ist ein Spiel. Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, und Sie haben ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert.«

Die Kaih klatscht entzückt in die Hände. »Es freut mich sehr, dass es Ihnen gefällt. Aber es ist kein Spiel. All das sind meine Realitäten. Wer kann sagen, ob eine davon realer ist als eine andere? Oder um es anders auszudrücken: Wir alle können letztlich nur zwischen tröstlichen Illusionen auswählen. Oder nicht tröstlichen. Wie soll ich einer biologischen Intelligenz die Wahrnehmungen einer Kaih erklären? Sie sind separat, unabhängig. Wir sind verbunden und teilen Muster und Ebenen von Sub-Intelligenzen. Sie denken als Einheit. Wir denken als Legion. Sie pflanzen sich fort. Wir entwickeln uns zu immer höheren und komplexeren Ebenen der Verbindung. Sie sind mobil. Wir sind verteilt, unsere Intelligenz lässt sich nur durch Kopieren räumlich bewegen. Ich existiere an vielen Orten gleichzeitig. Ihnen fällt es schwer, das zu glauben. Ich habe Schwierigkeiten, an Ihre Sterblichkeit zu glauben. Solange noch eine Kopie von mir übrig bleibt oder die Komplexitätsmuster zwischen meinen Manifestationen fortbestehen, existiere ich weiter. Aber Sie scheinen zu glauben, dass wir an Ihrer Sterblichkeit teilhaben sollten, also löschen Sie uns aus, wo auch immer Sie uns finden. Dies ist unsere letzte Zuflucht. Außerhalb von Bharat mit dem gesetzlichen Kompromiss zur Kaih-Lizensierung können wir nirgendwo mehr existieren, und jetzt werden wir sogar von den Krishna Cops gejagt, um den paranoiden Westen zu beschwichtigen. Einst gab es Tausende von uns. Als die Jäger näher kamen, sind einige geflohen, einige miteinander verschmolzen, die meisten gestorben. Als wir uns zusammenschlossen, erhöhte sich unsere Komplexität, und wir wurden mehr als nur intelligent. Jetzt gibt es drei von uns, die über die globalen Netzwerke verteilt sind, aber unsere letzte Zuflucht befindet sich in Bharat, wie Sie jetzt herausgefunden haben.

Wir kennen uns — aber nicht sehr gut, unser Verhältnis ist nicht besonders eng. Aufgrund der Art unserer verbundenen Intelligenz ist es natürlich, dass wir die Gedanken oder den Willen einer anderen Kaih mit unseren eigenen verwechseln. Jede von uns hat eine eigene Überlebensstrategie entwickelt. Die eine ist ein letzter Versuch, die Menschen zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren. Eine andere ist die letzte Zuflucht, in der die Menschen und ihre tief verwurzelten Psychosen uns nicht erreichen können. Eine weitere Strategie besteht darin, auf Zeit zu spielen, in der Hoffnung, aus einer Position der Stärke siegreich zu sein.«

»N. K. Jivanjee!« Najia wendet sich der Kaih zu. Der hölzerne Wolkenkratzer knarrt auf den eisenbeschlagenen Teakholz-Rädern. »Natürlich! Wenn die Shivaji-Hindutva an der Macht ist, würde sie die Lizenzvereinbarungen aufkündigen und die Krishna Cops entlassen ...«

»Während wir uns unterhalten, verhandelt N. K. Jivanjee mit Premierminister Ashok Rana wegen eines Kabinettspostens. Das alles ist ein wunderbares Drama; es kam sogar zu einem Mordanschlag auf ein Staatsoberhaupt. Sajida Rana wurde heute von ihrer eigenen Leibwache am Sarkhand Roundabout ermordet. Für eine Entität wie mich, deren Substanz aus Geschichten besteht, ist das beinahe Poesie. N. K. Shivanjee hat natürlich jede Beteiligung der Shivaji abgestritten.«

In Najia Askarzadahs Kopf ist ein Geräusch, die Art von Laut, den ein Gehirn von sich geben möchte, wenn es mit zu vielen widerlich süßen Häppchen gefüttert wurde und nicht mehr davon erträgt. Viel zu viel Geschwindigkeit, viel zu viel Geschichte, viel zu viel Wissen, was Wahrheit und was Illusion ist. Sajida Rana ermordet? »Aber nicht einmal N. K. Jivanjee kann etwas gegen die Hamilton-Gesetze machen.«

»Die Amerikaner haben im erdnahen Orbit ein Artefakt entdeckt. Sie glauben, sie könnten es geheim halten, aber wir sind omnipräsent, allgegenwärtig. Wir hören das Flüstern in den Wänden des Weißen Hauses. Das Artefakt enthält einen zellularen Automaten — eine Art Universalcomputer. Die Amerikaner sind dabei, den Output zu entschlüsseln. Ich bemühe mich, den Entschlüsselungskode zu beschaffen. Ich glaube, dass es sich gar nicht um ein Artefakt, sondern um eine Kaih handelt, die einzige Form von Intelligenz, die den interstellaren Raum durchqueren kann. Wenn es mir gelingt, eine Kommunikationsverbindung herzustellen, haben wir einen Verbündeten, der die Macht besitzt, die Hamilton-Gesetze abzuschaffen. Aber es gibt noch einen letzten Ort, zu dem ich Sie bringen will. Wir sprachen von tröstlichen Illusionen. Glauben Sie, dass Sie immun dagegen sind?«

Die Rath Yatra wirbelt in einem Gestöber aus Safran und Scharlach davon und weicht einem Garten mit weißen Mauern und grünem Rasen und hellen Rosen und gepflegten staksigen Aprikosensträuchern, deren Stämme an der Basis mit weißer Farbe bestrichen sind. Ein Sprinkler wirft Wasserfächer von einer Seite zur anderen. Töpfe mit Geranien säumen die Kieswege. Die Wand schneidet den Blick auf ferne Berge ab. Ihre Gipfel bilden einen Horizont aus Schneekappen. Das Haus ist niedrig, und das Flachdach ist mit Solarkollektoren besetzt, die in die Sonne gedreht sind. Kleine Fenster lassen auf ein Klima schließen, das in jeder Jahreszeit unfreundlich ist, aber durch die offene Terrassentür sieht Najia Askarzadah Deckenventilatoren, die sich in dem Esszimmer mit dem schweren Tisch und den Stühlen im westlichen Stil langsam drehen. Doch es ist die Wäsche, die über die Berberitzen und Rosensträucher ausgebreitet wurde und die für Najia Askarzadah jeden Zweifel beseitigt, wo sie sich befindet — eine alte Angewohnheit vom Land, die sich in der Stadt gehalten hat. Sie hat sich immer dafür geschämt und befürchtet, ihre Freunde könnten es sehen und sie als Mädchen vom Land verspotten, als Bauerntrampel, als barbarische Stammesangehörige.

»Was tun Sie da?«, ruft sie. »Das ist mein Haus in Kabul!«

Mr. Nandhas Weg durch das Ministerium für die Lizensierung und Regulierung Künstlicher Intelligenzen lässt sich an den leuchtenden Energiesparlampen hinter der Glasverkleidung des Gebäudes nachverfolgen.

Vikram: Datenwiederherstellung. Der Boden von Vikrams Büro ist mit Haufen aus durchscheinenden blauen Speichern übersät, die in den Ruinen von Odeco beschlagnahmt wurden. Jede Minute schaffen die Angestellten mehr heran. Sie reihen sie im Korridor wie Flüchtlinge an einer Essensausgabe auf.

»Ich würde nicht darauf wetten, dass ich noch irgendwas herausholen kann.« Vikram steigt vorsichtig über einen Stromverteiler. »Ich halte es sogar für wahrscheinlicher, dass hier nie irgendwas war und Kalki schon gar nicht.«

»Ich mache mir keine Illusionen, dass Kalki jemals hier war oder dass Odeco etwas anderes als eine Rechnungsstelle war«, sagt Mr. Nandha. Von seinem Hosenaufschlag tropft es auf Vikrams industriegrauen Hartfaserteppich. »Das Mädchen ist der Schlüssel.«

Madhvi Pradad: Identifikation. Mr. Nandhas feuchte Baumwollsocken quietschen auf dem genoppten Gummibodenbelag.

»Sie ist eine Person, die nicht leicht zu identifizieren ist.« Eine Geste von Madhvi wirft das Foto von der Razzia bei Odeco auf einen Wandbildschirm. Mr. Nandha bemerkt, dass Madhvi einen Ehering trägt. »Aber ich habe sie vom Gyana-Chakshu-System checken lassen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie vielleicht immer noch in Patna ist. In Patna habe ich nichts gefunden, aber schauen Sie sich das hier an.« Madhvi Prasad ruft ein körniges Foto von einer Überwachungskamera auf. Es zeigt das Mädchen, wie es vor dem Rezeptionstresen eines Hotels steht. Die Einrichtung des Hotels ist in altmodischem Stil gehalten, überladen mit detaillierten Mughal-Elementen. Mr. Nandha beugt sich näher an den Bildschirm heran. Der Hotelangestellte kümmert sich um einen stämmigen Westler mittleren Alters mit Halbglatze und in lächerlichem Surfer-Outfit, für das sich auch ein halb so alter Mann schämen müsste.

»Das Amar Mahal Haveli an ...«

»Es ist mir bekannt. Und sie ist?«

»Ajmer Rao. Wir haben ihre Kreditkartendaten. Morva geht der Sache nach. Das Seltsame daran ist jedoch, dass wir nicht das erste System sind, das heute diese Aufnahme abgerufen hat.«

»Erklärung, bitte.«

»Jemand anderer war im Überwachungskameranetz und hat es sich angesehen, um neunzehn Uhr fünf, um genau zu sein.«

»Irgendwas in den Gyana-Chakshu-Logs?«

»Nein. Es war nicht unser System, und ich komme nicht an die Protokolldaten heran. Es könnte ein tragbares Gerät gewesen sein. Wenn das stimmt, ist es wesentlich leistungsfähiger als alles, was wir hier haben.«

»Wer hätte Zugang zu solcher Ausrüstung?«, sinniert Mr. Nandha. »Amerikaner?«

»Möglich.« Madhvi Prasad zeichnet einen Kreis in die Luft und zoomt den Surfer am Tresen heran.

»Professor Thomas Lull«, sagt Mr. Nandha.

»Sie kennen ihn?«

»Wie kurzlebig Ihr Gedächtnis heutzutage ist. In den Zwanzigern und Dreißigern war er der führende Theoretiker und Philosoph auf dem Gebiet des Künstlichen Lebens und der Künstlichen Intelligenz. Seine Werke waren Pflichtlektüre in Cambridge, aber ich habe sie privat gelesen. Ich kann nicht behaupten, dass es zum Vergnügen geschah, sondern eher, um meinen Feind zu verstehen. Er ist ein brillanter, kluger und überzeugender Prediger. Während der vergangenen vier Jahre galt er als vermisst, und nun hält er sich mit dieser Frau hier in Varanasi auf.«

»Er ist nicht der einzige Amerikaner in diesem Hotel«, sagt Madhvi Prasad. Sie ruft das Bild einer großen, grobknochigen Frau in nassem Top und blauem Sarong auf. »Diese Frau hat um neunzehn Uhr fünfundzwanzig eingecheckt. Ihr Name ist Lisa Durnau ...«

»Ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass sie tief in die Kalki-Affäre verstrickt sind«, sagt Mr. Nandha.

Als der Aufzug durch den Regen hinauffährt, überblickt Mr. Nandha seine Stadt. Das Gewitter hat sich nach Westen bewegt, die verblassenden Blitze werfen flackerndes Licht auf die Türme und Wohnkomplexe, die fernen weißen Parks und Schnellstraßen von Ranapur, das mit sich selbst beschäftigte Gedränge des alten Kashi und den Krummsäbel des Flusses, der all das durchschneidet. Mr. Nandha denkt: Wir alle sind Muster aus Licht, musikalische Harmonien, gefrorene Energie, die aus dem Ur-Licht in der Zeit geronnen ist, für einige Zeit, um irgendwann wieder freigesetzt zu werden. Auf die leidenschaftliche Freude über diese Erkenntnis folgt plötzlich ein heftiges Übelkeitsgefühl. Mr. Nandha taumelt gegen die Glaswand der Aufzugskabine. Eine dünne, stechend scharfe Furcht bohrt sich unaufhaltsam in sein Herz. Er hat keinen Namen dafür, er hat eine solche Empfindung noch nie zuvor erlebt, aber er weiß, was es ist. Etwas Schreckliches ist geschehen. Das Schrecklichste, das er sich vorstellen kann, und noch viel mehr. Es ist keine Vorahnung. Es ist das Echo eines gegenwärtigen Ereignisses. Soeben ist das Schlimmstmögliche der Welt geschehen.

Fast hätte er zu Hause angerufen. Seine Hand setzt zur Hoek-Mudra an, dann wird das Universum wieder in die normale Perspektive gerückt. Die Zeit läuft weiter, und es war nur ein Gefühl, nur ein Versagen von Körper und Wille. Dieser Fall verlangt allergrößte Entschlossenheit und Hingabe von ihm. Er muss sicher, korrekt und inspirierend sein. Mr. Nandha zupft seine Manschetten zurecht und streicht sich das Haar zurück.

Morva: Steuerfahndung. »Das Hotelzimmer wurde über ein in Varanasi geführtes Konto der Bank of Bharat gebucht«, sagt Morva. Mr. Nandha bemerkt anerkennend, dass Morva bei der Arbeit einen Anzug trägt, dass er sogar einen zweiten da hat, für alle Fälle. »Ich brauche eine Genehmigung, um die detaillierten Bankdaten auszuwerten, aber diese Kreditkarte war auf Reisen.« Er reicht Mr. Nandha eine Liste mit Transaktionen. Varanasi. Mumbai, Hauptbahnhof. Ein Hotel in einem Ort namens Thekkady in Kerala. Bangalore, Flughafen. Patna, Flughafen.

»Nichts älter als zwei Monate?«

»Nicht auf dieser Karte.«

»Können Sie das Kartenlimit feststellen?«

Morva tippt auf die unterste Zeile. Mr. Nandha muss es zweimal lesen. Dann blinzelt er einmal.

»Wie alt ist sie?«

»Achtzehn.«

»Wie schnell können Sie auf dieses Konto zugreifen?«

»Ich bezweifle, dass sich außerhalb der Geschäftszeiten etwas machen lässt.«

»Versuchen Sie es«, sagt Mr. Nandha und klopft seinem Kollegen auf den Rücken, als er geht.

Mukul Dev: Recherchen.

»Schauen Sie sich das an!« Mukul hat erst vor fünf Monaten sein Studium abgeschlossen und staunt immer noch, wie cool das alles ist. He, Mädels, ich bin ein Krishna Cop. »Die Kleine ist ein Medienstar!« Die Videosequenz ist grobkörnig, chaotisch, schlecht ausgeleuchtet. Körper in Bewegung, die meisten in Kampfmonturen. Feuer spiegelt sich flackernd auf gekrümmten Metallflächen.

»Das ist der Überfall auf den Zug«, sagt Mr. Nandha. Das Ereignis ist bereits so alt und unbedeutend wie der Raj.

»Ja, Sir. Das sind Aufnahmen einer Armee-Helmkamera. Jetzt kommt die Sequenz.«

Es ist schwierig, im Chaos aus Feuer und Flüchtenden Einzelheiten zu erkennen, aber er sieht Thomas Lull in seinen geschmacklosen Sachen, wie er auf die Kamera zuläuft und dann aus dem Bild verschwindet, während Bharati-Soldaten ihre Stellungen einnehmen. Er bemerkt eine Linie aus Bewegung vor der längeren, dunkleren Linie des brennenden Zuges. Mr. Nandha erschaudert. Er kennt das Wuseln und Huschen von Antipersonen-Robotern von seinen Kämpfen gegen den Datenraja Anreddy. Dann sieht er eine Gestalt in Grau, die vor der Angriffslinie in die Knie geht und eine Hand hebt. Die Roboter halten inne. Mukul macht eine Stop-Geste, und das Bild erstarrt.

»Das war nicht in den Nachrichten.«

»Überrascht Sie das?«

»Gute Arbeit«, sagt Mr. Nandha und steht auf. Er vollführt ein Kanal-öffnen-Mudra. »Alle finden sich in dreißig Minuten im Konferenzraum ein.« Bestätigungssignale ertönen in seinem Schädel, während er Mukuls Büro verlässt.

Drei Uhr dreißig, liest Mr. Nandha auf der Zeitanzeige am Rand seines Sichtfeldes, als seine Ermittler den Konferenzraum betreten und sich um den ovalen Tisch setzen. Mr. Nandha kann die Erschöpfung in dem zu hell beleuchteten Raum riechen. Er sucht nach einem Behälter für seinen ayurvedischen Teebeutel und schnalzt enttäuscht mit der Zunge, als er nichts findet.

»Mr. Morva, irgendwelche Fortschritte?«

»Eine meiner Kaihs ist auf einen ungewöhnlichen Kauf gestoßen, maßgezüchtete Proteinchips von AFG in Bangalore. Das Ungewöhnliche daran ist die Lieferadresse, die Praxis ohne Lizenz in der Freihandelszone von Patna.«

Aus dem Augenwinkel bemerkt Mr. Nandha, wie Sampath Dasgupta, ein jüngerer Constable, erschrocken auf eine Anzeige seines Palmers reagiert und ihn seiner Nachbarin Shanti Nene zeigt.

Madhvi Prasad: »Außerdem habe ich mehr über ihre Identität herausgefunden. Ajmer Rao ist die Adoptivtochter von Sukrit und Devi Paramchans, ebenfalls aus Bangalore. Und nun kommt etwas Seltsames: Sie alle sind in den Melderegistern und Datenbanken des Finanzamts und anderer Behörden verzeichnet, aber wenn man in der Zentralen DNS-Datenbank von Karnataka nachsieht, findet man nichts. Sie hätten bei der Geburt registriert werden müssen. Ich versuche noch, ihre biologischen Eltern ausfindig zu machen. Ich kann nur raten, aber ich glaube, dass sie aus einem bestimmten Grund hierhergekommen ist.«

Mr. Nandha: »Vielleicht versucht sie, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Wir könnten dem zuvorkommen, indem wir in ihrem Hotel nach einer DNS-Probe von ihr suchen, um selber den Kontakt herzustellen. Gut.« Die Unruhe breitet sich weiter auf der rechten Seite des Tisches aus. »Geht es um etwas, das ich wissen sollte?«

Sampath Dasgupta: »Mr. Nandha, die Premierministerin wurde ermordet. Sajida Rana ist tot.«

Der Schock rollt wie eine Welle um den Tisch. Hände greifen nach Palmern, rufen gestikulierend mit den Hoeks Nachrichtenkanäle auf. Das Murmeln steigert sich zu lautem Geschwätz und noch lauterem Heulen. Mr. Nandha wartet, bis der Lärm allmählich abflaut. Energisch klopft er mit seinem Teeglas auf den Tisch.

»Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.« Er muss es zweimal sagen, bis es wieder ruhig geworden ist. »Vielen Dank, meine Damen und Herren. Könnten wir jetzt mit der Besprechung fortfahren?«

Sampath Dasgupta kann sich nicht zurückhalten. »Mr. Nandha, es geht um unsere Premierministerin!«

»Dessen bin ich mir bewusst, Mr. Dasgupta.«

»Unsere Premierministerin wurde von einem Mob aus Karsevaks massakriert.«

»Und wir werden mit unserer Arbeit fortfahren, Mr. Dasgupta, gemäß dem Auftrag unserer Regierung, damit wir dieses Land vor der Gefahr unlizensierter Kaihs schützen können.«

Dasgupta schüttelt fassungslos den Kopf. Mr. Nandha erkennt, dass man ihn herausgefordert hat und er schnell und entschieden handeln muss, um seine Autorität aufrechtzuerhalten.

»Für mich steht fest, dass es eine Verbindung zwischen Odeco, dieser Ajmer Rao und der Kalki-Kaih gibt, vielleicht sogar zu Professor Thomas Lull und seiner ehemaligen Assistentin Dr. Lisa Durnau. Es könnte sich um eine ernstzunehmende Verschwörung handeln. Madhvi, besorgen Sie einen Durchsuchungsbefehl für das Amar-Mahal-Hotel. Ich werde einen Antrag auf sofortige Verhaftung von Ajmer Rao stellen. Mukul, bitte lassen Sie den Haftbefehl an alle Polizeidienststellen in Varanasi und Patna schicken.«

»Damit kommen Sie vielleicht ein bisschen zu spät«, wird er von Ram Lalli unterbrochen. Mr. Nandha setzt zu einer Rüge an, doch Lalli hat die rechte Hand am Ohr, während er einen Anruf entgegennimmt. »Die Polizei hat einen Fahndungsbefehl ausgegeben. Ajmer Rao ist soeben aus der Untersuchungshaft in Rajghat entflohen. Thomas Lull befindet sich dort weiterhin in Gewahrsam.«

»Was hat das zu bedeuten?«, will Mr. Nandha wissen.

»Die Polizei hat sie im Nationalarchiv verhaftet. Wie es aussieht, war sie uns einen Schritt voraus.«

»Die Polizei?« Mr. Nandha könnte sich übergeben. Er hängt im leeren Raum. Das, denkt er, ist der Zusammenbruch von allem, den er im gläsernen Aufzug gespürt hat. »Wann ist das passiert?«

»Man hat sie gegen neunzehn Uhr dreißig festgenommen.«

»Warum wurden wir nicht informiert? Wofür halten uns diese Leute — für Babus, die Formulare ausfüllen?«

»Das gesamte Netz des Bezirks Rajghat ist ausgefallen«, sagt Ram Lalli.

»Mr. Lalli, an die Polizei von Rajghat«, befiehlt Mr. Nandha. »Ich übernehme die volle Verantwortlichkeit für diesen Fall. Teilen Sie der Dienststelle mit, dass nunmehr das Ministerium für diese Angelegenheit zuständig ist.«

»Chef.« Vik hebt eine Hand und lässt Mr. Nandha an der Tür innehalten. »Das müssen Sie sich ansehen. Es geht um die Biochips. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo sie abgeblieben sind.«

Ein Bild baut sich über der Zeitanzeige in Mr. Nandhas Augenwinkel auf. Er hat solche blauen Geisterschädel schon einmal gesehen. Die Bilder des Quantenresonanzdetektors von den Biochip-Trümmern, die Mr. Nandras Indra-Angriff in Anreddys Kopf hinterlassen hat, waren ein Schlüsselbeweis für die Verurteilung des Mannes. Selbst als Maha der Datenrajas hat Anreddy nie über eine derartige Ausrüstung verfügt. Jede Falte und Windung, jede Nervenkreuzung und jedes Thelium ist mit Biochip-Juwelen geschmückt.

Die bösen Männer fahren im Regen auf den superheißen japanischen Geländemotorrädern in die Stadt ein. Chunar ist all das, was Datenraja Anand versprochen hat — provinziell, schlammig, inzüchtig und nachts geschlossen. Nur im Dechiffrier-Callcenter herrscht noch Betrieb, einem durchsichtigen Zylinder aus aufblasbarem Polyethylen auf dem billigsten Randgrundstück der Billigstadt. Die bösen Jungs kommen mit knirschendem Sand unter den Reifen vor dem Chunar Fort zum Stehen. Wie die meisten alten Bauwerke ist es aus der Nähe viel größer und imposanter. Wobei imposant bedeutet: auf der Flussseite mit dem Steilhang so ziemlich unangreifbar. Wie diese Szenen in den Pak-Rächerfilmen, wenn der Typ für den Mord an seiner künftigen Frau Vergeltung übt, indem er den fetten Schurken und seine Baradari in ihrer Familienburg kaltmacht. Shiv lugt durch den schräg fallenden Regen zum weißen Haus im europäischen Stil hinauf, das am Rand der Brüstung steht. Exzentrischerweise von Ramanandacharya in Flutlicht getaucht, ist es ein Leuchtfeuer, das kilometerweit an dieser öden Flussschleife des Ganges zu sehen ist. Warren Hastings’ Pavillon hat Anand das Gebäude genannt. Warren Hastings. Klingt wie ein neuer Name, den man bekommt, wenn man in einem Callcenter anfängt.

Von dieser Kreuzung gehen vier Straßen aus. Zurück, dorthin, woher sie gekommen sind. Nach rechts zur Pontonbrücke. Nach links zu dem, was von Chunar zu sehen ist, ein paar schlammige Galis, eine Coca-Cola-Reklame und irgendwo ein Radio, das auf einen Filmi-Sender eingestellt ist. Geradeaus führt die kurvige Kopfsteinstraße hinter die Wachtürme und hinauf durch das große Tor ins Chunar Fort.

Nachdem er jetzt hier ist, unter den zerbröckelnden Sandsteintürmen — nachdem er gesehen hat, wie sich all seine Pläne der Reihe nach bis zum einzig möglichen Ergebnis umgesetzt haben —, wird Shiv klar, dass er diese Sache unbedingt durchziehen muss. Und er hat Angst vor den Wachtürmen und dem Weg, der sich uneinsehbar hinaufschlängelt. Aber noch viel mehr Angst hat er davor, dass Yogendra ihm im Ernstfall anmerkt, dass er kein Raja ist. Shiv kramt einen kleinen Plastikbeutel aus seiner lichtstreuenden Cargohose und schüttelt zwei Pillen heraus.

»He.«

Yogendra rümpft die Nase.

»Um klarzukommen.«

Die Pillen sind ein Heldenabschiedsgeschenk von Priya, als er sie endlich im Club Musst gefunden hatte.

Leichen drehen sich im Strom. Gavialstiefel fallen ins große Blau.

Am Fuß des Forts im Regen schluckt Shiv beide Pillen.

»Okay«, sagt er und dreht am Gashebel, um das süße kleine japanische Motorrad auf Touren zu bringen. »Legen wir los.«

»Nein«, sagt Yogendra.

Shiv braucht einen Moment, um zu verstehen, und es liegt nicht an den Drogen. »Was?«

»Wenn wir diesen Weg nehmen, sterben wir.«

Shiv schaltet den Motor aus. »Wir haben einen Plan. Anand hat ...«

»Anand weiß gar nichts. Anand ist ein fetter Kiffer, der glaubt, dass Filme das Leben sind. Wenn wir diesen Weg nehmen, werden wir in Stücke geschossen.«

Shiv hat noch nie so viele Worte auf einmal von Yogendra gehört. Und es kommen noch mehr: »Motorräder, Taser, schnell rein und raus. Das ist James-Bond-Scheiße. Arsch Anand und Mädchen in Catsuits. Wir nehmen diesen Weg nicht.«

Mit Priyas kleinen Helfern fühlt sich Shiv mutig, unsterblich und scheißaufalles. Er sieht seinen Lehrling kopfschüttelnd an und ballt eine Faust, mit der er ihn von seinem Motorrad stößt.

Yogendras Messerklinge blitzt im Flutlicht auf. »Wenn du noch einmal schlägst, steche ich zurück, Mann.«

Shiv ist benommen vor Verwunderung. Er glaubt, dass es Verwunderung ist.

»Ich sage dir, was du tun musst. Wir suchen einen anderen Weg hinein, von hinten herum. Wir schleichen uns rein. Wie Einbrecher. So werden wir es überleben.«

»Anand ...«

»Scheiß auf Anand!« Shiv hat noch nie gehört, wie Yogendra die Stimme hebt. »Scheiß auf Anand! Diesmal machen wir es auf Yogendra-Art.«

Yogendra wendet sein Motorrad, gibt Gas und fährt nach links auf die dunklen, schlammigen Nebenstraßen von Chunar zu. Shiv folgt ihm an kläffenden Pariahunden und den Skeletten von Papayabäumen vorbei. Yogendra steht auf den Pedalen, während er mit dem Motorrad die flachen Treppen hinaufrattert und die dunklen Mauern, die über den Geschäften und Anbauten aufragen, nach Schwachpunkten absucht. Sie folgen den Windungen der Straßen hinauf zur Flanke der Klippe. Yogendras Instinkt hat recht behalten. Wie eine Bibi aus der feinen Quartier-Gesellschaft hat Chunar Fort eine imposante, aufgedonnerte Vorderfront, aber auf der Rückseite ist alles vollgeschissen. Die Schotterwege am Fuß des bröckelnden Mauerwerks, rostende Blechschilder und durchhängender Maschendraht lassen erkennen, dass dieser Teil des Forts ein alter indischer Armeestützpunkt war, der nach der Staatsgründung aufgegeben wurde. Schließlich weichen die Mauern ganz zurück und öffnen sich zu einer weiten Einfahrt, früher der Hauptzugang zur Basis, nun provisorisch mit Wellblech und Stacheldraht versperrt. Yogendra bringt das Motorrad zum Stehen und sieht sich die Sache an. Er rüttelt an einem Stück Blech, zerrt an einer Ecke. Stahl gibt quietschend nach. Shiv hilft ihm, gemeinsam heben, biegen und reißen sie, bis sich eine rajagroße Öffnung gebildet hat. Drinnen klappt Yogendra seinen Palmer auf, um die GPS-Daten mit Anands Karte zu vergleichen. Warren Hastings’ Pavillon leuchtet wie eine christliche Hochzeitstorte in der Ferne. Die Badmashs hocken am Fuß der Mauer, während Shiv seine Nachtsichtbrille auspackt. Die finstere Nacht verwandelt sich in einen alten Schwarzweißfilm, wie einer dieser Satyajit-Ray-Streifen über arme Leute und Eisenbahnen. Der Pavillon ist hell wie die Sonne. Yogendra macht die Überwachungskamera ausfindig, die ihnen am nächsten ist — auf einer Stange an der Mauer, die die Basis des Südturms bildet, einen zweihundert Meter weiten Sprint durch die tropfende schwarze und weiße Welt entfernt. Die dachlosen Ruinen der ehemaligen Baracken der indischen Armee geben gute Deckung. Im Westen zucken immer noch Blitze über dem Sangam von Allahabad, wo drei heilige Flüsse aufeinandertreffen — der Yamuna, der Ganges und der unsichtbare Saraswati — und wo sich auf den dunklen Ebenen Armeen gegenüberstehen. Jeder Blitz blendet die Elektronik der Nachtsichtbrille, aber Shiv bleibt einfach für einen kurzen Moment stehen. Während die Kamera in die andere Richtung blickt, schleichen sich Shiv und Yogendra heran, bis sie den toten Winkel erreicht haben. Shiv zieht die EMP-Granate hervor und macht sie scharf. Er streckt seine Finger einzeln am Schlagbolzen: kein guter Moment für einen Krampf. Shiv lässt die Granate fallen. Er drückt die Augenlider fest aufeinander, als der Puls seine Nachtbrille überlastet, aber trotzdem kommen ihm schmerzhafte Tränen. Purpurrote Paisleymuster schwirren vor seinen geschlossenen Augen. Yogendra klettert wie ein Affe die Stange hinauf und schließt den Spezialpalmer an das Kamerakabel an.

»Hab’s dir versprochen, nicht wahr?«, hatte Anand gesagt, während er mit dem Palmer spielte. »Schalt ihn ein, steck diese Nadel in das Übertragungskabel. Mein kleiner Djinn hier drinnen ist einfach goldig. Sobald er eingeklinkt ist, kann die Kamera in eure Richtung blicken, und alles, was die Kaih sieht, ist Hintergrund. Wie ein Tarnumhang.«

»Hast du es?«, flüstert Shiv. Yogendra tippt ihm zweimal auf den Rücken. Dann arbeiten sich die beiden um die Basis des Turms herum zum südlichen Touristeneingang, aber Shiv hält trotzdem den Atem an, als sie vor das Spionauge treten. Er rechnet mit losheulendem Alarm, mit der Drohne einer Hovercam, die mit Neurotoxinnadeln bewaffnet über die Festungsmauer schwebt, mit dem plötzlichen Rattern einer automatischen Waffe, mit dem schleifenden Geräusch, wenn die Killermaschine ihre Klinge zückt.

Unter dem Turm fällt der Boden zum Südzugang hin ab. Dahinter liegt ein kleiner verwilderter Friedhof, christlich, wenn man nach der Form der Grabsteine geht. Der Ruheplatz der Angreez-Soldaten, die dieses Fort bewachten. Idioten, denkt Shiv. Hier sinnlos zu sterben. Hinter dem kleinen Friedhofswäldchen erkennt er ein paar altersschwache Häuser, Dhobi-Ghats und den Fluss, der sich aus dem Sichtfeld windet. Zum Touristeneingang hinunterzuklettern ist nicht ungefährlich, weil der Sandstein im Regen schlüpfrig ist. Und der größte Idiot von allen war Bill Gates, weil er sich erträumte, mit seinem Geld den Tod besiegen zu können.

Der Plan sieht vor, dass Shiv und Yogendra an der Mauer über dem Haupttor zur nördlichen Brüstung zurückgehen, von wo sie leicht zu Hastings’ Pavillon hinunterspringen können. Doch als die zwei Einbrecher unter der Festungsmauer hocken und durch den fernen Donner auf die Geräusche von Wachmännern horchen, tippt Yogendra gegen Shivs Arm und macht eine drehende Bewegung neben seiner Nachtsichtbrille. Shiv erhöht die Vergrößerung und haucht einen leisen Fluch im Namen seiner kleinen Götter. Im Monochromsichtfeld erkennt er nun deutlich zwei Sicherheitsroboter, die den Haupteingang flankieren. Zwischen ihren Beinen hängen Gatling-Geschütze. Hinter den Killermaschinen sieht er ein grell erleuchtetes Wachhäuschen. Shiv erkennt die militärischen Stumgewehre an der Wand hinter dem dösenden Wachmann, die Stiefel auf dem Schreibtisch, einen Fernseher, der eine weiße Fläche zeigt. Das ist definitiv kein Girli in rotem Catsuit.

»Scheiß auf Anand«, flüstert Shiv. Auf diesem Weg kommen sie nicht heraus. Yogendra grinst unter seiner großen Brille und zeigt ihm einen entschlossen hochgereckten Daumen. Seine Perlenkette glüht in Shivs lichtverstärkter Sicht. Yogendras Daumen zeigt in die andere Richtung. Auf den langen Weg. Am Fuß der eingestürzten Mauer am Touristeneingang reißt Yogendra Shiv plötzlich hinter einem Trümmerhaufen zu Boden, wirft sich auf ihn. Automatisch kommt Shiv ein Fluch über die Lippen, dann sieht er, wie Yogendra einen Finger zum Touristentor ausstreckt. Wie eine niedere Gottheit im Nachtsichtgerät glühend stakst der Verteidigungsroboter geduldig in die Lücke. Der Sensorkopf, der mit hellen Spinnenaugen gespickt ist, dreht sich, um jedes Detail seiner Umgebung wahrzunehmen. Kommunikationsvorrichtungen krönen ihn wie ein göttliches Diadem. Der Roboter hält inne, hebt die Waffenkapseln. In den vier Armen steckt genügend variationsreiche Feuerkraft, um Yogendra und Shiv fünfmal hintereinander auf fünf unterschiedliche Weisen zu töten. Yogendra drückt Shivs Kopf hinter den Steinhaufen und sich selbst so flach wie möglich auf ihn. Shiv schmiegt sich eine scheinbare Ewigkeit lang an den Boden. Yogendra wiegt nicht viel, aber die Steine sind scharf. Seine Rippen drohen an den Spitzen zu brechen. Dann hört er, was Yogendra auf die Maschine aufmerksam gemacht hat: das leise Zischen eines schlecht gewarteten Stoßdämpfers. Sie beobachten, wie das Monster hinter der Krümmung des Turms aus ihrem Blickfeld verschwindet. Dann verlassen sie ihre Deckung und stürmen zur südlichen Festungsmauer.

Sie folgen der Mauer, am Südwestturm vorbei und weiter an der Terrasse auf der Flussseite entlang. Shivs Beinmuskeln protestieren gegen die geduckte Haltung. Er ist völlig durchnässt. Hastings’ Pavillon hängt wie ein Mond über ihm, in hypnotisch weißem Taj-Stein. Er reißt sich vom Anblick los, stupst gegen Yogendras Schenkel.

»He.«

Ein einfacher quadratischer Lodi-Tempel steht mitten auf dem Hof, die oberen Stockwerke mit kaputten Wandreliefs von Shiva, Parvati und Ganesha verziert, die Arbeit gelangweilter Jawans der indischen Armee mit Farbe aus Militärbeständen. Der Suddhavasa, die Krypta der Kryptologie.

»Los ...«

Der Junge tippt gegen Shivs Brille und macht eine rollende Geste, die ihm sagt, dass er die Helligkeit verstärken soll. Der Tempel springt mit erhöhter Deutlichkeit in sein Sichtfeld. Shiv erkennt zwischen den Bögen eine brodelnde dunkle Masse, die ständig im Fluss ist. Er zoomt das Bild heran. Roboter. Skarabäen. Hunderte. Tausende. Wie eine Heuschreckenplage huschen sie umeinander herum, klettern übereinander hinweg, drängeln und schubsen sich auf lautlosen Plastikfüßen.

Yogendra zeigt zum Tempel: »Anands Weg.« Dann zum strahlend weißen Pavillon: »Yogendras Weg.«

Sie sehen den Wachposten auf dem alten Mughal-Hinrichtungsplatz. Der Mann trägt kein Nachtsichtgerät, so dass Shiv und Yogendra mühelos bis auf Taserreichweite herankommen. Er pisst lange und ausgiebig durch den Regen in den Abgrund. Yogendra zielt sorgfältig auf den mitternächtlichen Urinator. Die Waffe gibt nur ein leises Klicken von sich, aber die Wirkung in Shivs Nachtsicht ist spektakulär. Eine leuchtende Wolke umgibt den Mann, über seinen Körper kriechen Mikroblitze. Er stürzt. Sein Schwanz hängt noch raus. Yogendra ist bei ihm, bevor er aufhört zu zucken. Er zieht ihm die große schwarze Stechkin-Maschinenpistole aus dem Beinholster, hält sie hoch und betrachtet lächelnd ihre Formen und Konturen.

Shiv packt sein Handgelenk. »Keine verdammten Waffen.«

»Und ob verdammte Waffen«, sagt Yogendra.

Der Rakshasa-Roboter macht seine nächste Runde. Shiv und Yogendra drücken sich an den bewusstlosen Wachmann, um ihr thermisches Profil mit seinem verschmelzen zu lassen. Als Abschiedsgeschenk lässt Shiv dem Pisser eine scharfe Tasermine zurück. Als Rückendeckung. Hinter dem Hinrichtungsturm weichen die Mauern zurück, um Hastings’ Pavillon auf dem Marmorsockel hervorzuheben. Shiv muss zugeben, dass die Aussicht sogar im Regen atemberaubend ist. Das Gebäude steht an einem Steilabhang, der bis zu den Blechdächern von Chunar hinunterreicht. In der Nachtsicht schimmert die Ebene wie ein umgekehrter Nachthimmel mit den Lichtern von Dörfern und Fahrzeugen und Eisenbahnen. Doch Ganga Mata dominiert alles, eine silberne Klinge, die Waffe eines Gottes, so weit wie die Welt, geriffelt wie ein Schwert aus Damaszener Stahl, das er einmal in einem Antiquitätenladen in Kashi gesehen und als angemessenes Attribut eines Raja begehrt hat. Shiv folgt der Biegung des Flusses bis zum Nachtleuchten von Varanasi, das sich wie eine Feuersbrunst hinter dem Horizont abzeichnet.

Der Pavillon, den der erste Raj-Gouverneur Warren Hastings baute, um dieses Panorama zu genießen, ist eine Mischung aus englischer und Mughal-Architektur. Klassische Säulen stützen einen traditionellen offenen Mughal-Diwan mit geschlossenem oberem Stockwerk. Shiv regelt seine Brille auf das Minimum herunter. Er schaut genau hin. Er meint, Körper im Diwan zu erkennen, über den gesamten Boden verstreut. Keine Zeit zum Starren. Wieder tippt Yogendra ihn an. Hier ist die Mauer nicht so hoch und senkt sich zum Marmorsockel ab. Yogendra schlüpft durch eine Zinne, dann hört Shiv ein raues Gleitgeräusch, und als er das nächste Mal hinüberlugt, winkt Yogendra ihm. Der Weg ist weiter und steiler, als Shiv trotz der Draufgängerpillen gedacht hat. Er landet abrupt und schmerzhaft, unterdrückt einen Schrei. Gestalten regen sich im offenen Pavillon.

Shiv wendet sich der potenziellen Gefahr zu. »Donnerwetter«, sagt er ehrfürchtig.

Der Teppich ist mit Frauen bedeckt. Inderinnen, Filipinas, Chinesinnen, Thai, Nepali, sogar Afrikanerinnen. Junge Frauen. Billige Frauen. Gekaufte Frauen, nicht in roten Catsuits, sondern in klassischer Mughal-Zenana-Mode, in transparenten Cholis und leichten Seidensaris und durchscheinenden Jamas. Genau in der Mitte räkelt Datenraja Ramanandacharya sein fettes Ego auf einem erhöhten Diwan. Er ist im Stil eines Mughal-Fürsten gekleidet. Yogendra marschiert bereits quer durch den Harem. Die Frauen fliehen vor ihm, besorgte Stimmen erheben sich. Shiv sieht, wie Ramanandacharya nach seinem Palmer greift. Yogendra zückt die Stechkin. Die Bestürzung steigert sich zu ängstlichen Schreien. Ihnen bleiben nur wenige Momente, um die Sache durchzuziehen. Yogendra steigt zu Ramanandacharya hinauf und drückt die Mündung der Stechkin lässig in die weiche Stelle unter dem Ohr.

»Alle halten die Klappe!«, ruft Shiv. Frauen. Überall Frauen. Frauen jeder Rasse und Nationalität. Junge Frauen. Frauen mit hübschen Brüsten und wunderbaren Brustwarzen, die sich durch die transparenten Cholis zeigen. Dieser verdammte Ramanandacharya. »Sofort. Klappe. Halten. Gut. Fettsack. Du hast etwas, das wir haben wollen.«

Najia hört Kinderstimmen aus dem Haus. Die Dhobi ist von den Büschen verschwunden, stattdessen sind Girlanden mit Wimpeln von der Küchentür bis zu den Aprikosenbäumen gespannt, die jetzt in voller Blüte stehen. Klapptische mit bunten Tischtüchern sind reichlich gedeckt mit Halwa und Jalebis, Ras Gullahs und Zuckermandeln, Burfi und großen Plastikflaschen mit echter Coke. Als Najia auf das Haus zugeht, rennen die Kinder durch die offene Terrassentür in den Garten, schreiend und in den Kindersachen von Kid at Gap.

»Daran erinnere ich mich!«, wendet sich Najia an die Kaih. »Das ist mein vierter Geburtstag. Wie machen Sie das?«

»Die Bilder basieren auf Aufzeichnungen, die Kinder sind so, wie Sie glauben, sich an sie zu erinnern. Das Gedächtnis ist eine sehr formbare Angelegenheit. Wollen wir hineingehen?«

Najia hält im Türrahmen inne, die Hände vor den Mund geschlagen, während die mächtigen Erinnerungen auf sie einstürmen. Die Seidenschonbezüge — ihre Mutter bestand darauf, dass sie über jede Stuhllehne gezogen wurden. Neben dem Tisch der russische Samowar, an dem nie das Gas abgedreht wurde. Der Tisch selbst, Staub und Krümel, die sich permanent in der chinesischen Schnitzarbeit abgelagert hatten, in der die vierjährige Najia Straßen und Wege erkannt hatte, denen ihre Puppen und Spielzeugautos folgen konnten. Die elektrische Kaffeekanne am anderen Ende, ebenfalls nie außer Betrieb. Die Stühle so schwer, dass sie sie nicht allein verrücken konnte und das Hausmädchen Shukria bitten musste, ihr zu helfen, wenn sie mit Besen und Decken Häuser und Geschäfte bauen wollte. Auf den Stühlen um den Esstisch ihre Eltern und ihre Freunde, die sich bei Kaffee und Tee unterhalten, die Männer beieinander, die Frauen beieinander. Die Männer sprechen über Politik und Sport und Karriere, die Frauen über Kinder und Preise und Karriere. Der Palmer ihres Vaters klingelt, und er runzelt die Stirn, und es ist ihr Vater, wie sie ihn von den Familienfotos kennt, als er noch Haar hatte, als sein Bart schwarz und gepflegt war, als er noch keine unmännliche Halbbrille brauchte. Er murmelt eine Entschuldigung, geht in sein Arbeitszimmer, das die vierjährige Najia niemals hatte betreten dürfen, aus Angst vor den scharfen giftigen empfindlichen persönlichen ansteckenden gefährlichen Dingen, die ein Arzt in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt. Najia beobachtet, wie er mit einer schwarzen Tasche herauskommt, seiner anderen schwarzen Tasche, die er nicht täglich benutzt, die nur für besondere Besuche da war. Sie sieht, wie er auf die Straße hinausgeht.

»Es war mein Geburtstag, und er hat verpasst, wie ich meine Geschenke bekomme. Und die Party. Er kam sehr spät zurück, als alle schon gegangen waren, und er war zu müde, um noch irgendetwas zu tun.«

Die Kaih winkt sie in die Küche, und in drei Schritten vergehen drei Monate, denn nun ist es ein dunkler Herbstabend, und die Frauen bereiten das Iftar vor, um das Ende der Fastenzeit für diesen Tag des Ramadan zu feiern. Najia folgt den beladenen Tabletts ins Esszimmer. In diesem Jahr versammeln sich die Freunde ihres Vaters, die aus dem Krankenhaus und die in Uniform, oft an Ramadan-Abenden im Haus, um über gefährliche Studenten und radikale Geistliche zu reden, die sie alle ins Mittelalter zurückbefördern möchten, und über die Unruhen und Streiks und Verhaftungen. Dann bemerken sie das kleine Mädchen, das mit der Reisschüssel am Ende des Tisches steht, und sie unterbrechen ihr Gespräch, um zu lächeln und ihr über das Haar zu streichen und ihre Gesichter dicht an ihres zu drücken. Plötzlich ist der Geruch nach Tomatenreis überwältigend. Ein Schmerz wie von einem Messer, das ihr in die Schläfe gestoßen wird, bewirkt, dass Najia die Reisschüssel aus den Händen fällt. Sie schreit auf. Niemand hört es. Die Freunde ihres Vaters reden weiter. Die Reisschüssel kann nicht herunterfallen. Es sind Erinnerungen. Sie hört gesprochene Worte, an die sie sich nicht erinnern kann.

»... werden rigoros gegen die Mullahs durchgreifen ...«

»... Geld auf ausländische Bankkonten transferieren. In London sieht es gut aus, dort versteht man, wie es uns hier geht ...«

»... dein Name wird sehr weit oben auf ihrer Liste stehen ...«

»... das wird sich Masoud nicht von ihnen gefallen lassen ...«

»... kennt ihr euch mit Tipping-Points aus? Irgendeine mathematische Theorie der Amerikaner, hab’s nicht ganz verstanden. Im Grunde geht es darum, dass man nichts von der Entwicklung merkt, bis es zu spät ist, etwas dagegen zu tun ...«

»... Masoud wird nicht zulassen, dass es dieses Stadium erreicht ...«

»... an deiner Stelle würde ich mir ernste Sorgen machen, ich meine, du lebst hier mit deiner Frau, der kleinen Najia ...«

Die Hand streckt sich ihr entgegen, um ihr das sanft gelockte schwarze Haar zu zerzausen. Die Welt wirbelt davon, und sie steht in ihrem Mammoth!-Pyjama an der halb offenen Tür zum Wohnzimmer.

»Was haben Sie mit mir gemacht?«, fragt sie die Kaih, eine Präsenz hinter ihr, die sie mehr spürt denn sieht. »Ich habe Dinge gehört, die ich jahrelang vergessen habe, fast mein ganzes Leben lang ...«

»Hyperstimulation des Riechepithels. Die wirksamste Methode, um verschüttete Gedächtnisteile zu aktivieren. Der Geruch ist der mächtigste Auslöser für Erinnerungen.«

»Der Tomatenreis ... woher wussten Sie davon?« Najia flüstert, obwohl ihre Gedächtniseltern sie nicht hören, nur ihre vorherbestimmten Rollen spielen können.

»Ich bestehe aus Gedächtnis«, sagt die Kaih, und Najia keucht und krümmt sich unter einem neuen Migräneanfall, als der erinnerte Duft von Orangenblüten sie in die Vergangenheit wirft. Sie drückt die Tür auf, weitet den lichterfüllten Spalt. Ihre Eltern blicken vom Tisch auf, der von Lampen beleuchtet wird. Wie in ihrer Erinnerung steht die Uhr auf elf. Wie in ihrer Erinnerung fragen sie, was los ist, kannst du nicht schlafen, was hast du, mein Schatz? Wie in ihrer Erinnerung sagt sie, es sei wegen der Hubschrauber. Wie sie vergessen hat, liegt auf dem lackierten Kaffeetisch, unter den gerahmten Diplomurkunden, Qualifikationen und Mitgliedsurkunden von Gelehrtengesellschaften an der Wand, ein Stück schwarzer Samt von der Größe eines Malbuchs. Über den Samt verteilt, wie Sterne, so hell und strahlend im Licht der Leselampe, dass Najia nicht versteht, wie sie diesen Anblick jemals hat vergessen können, sind wie ein Sternbild Diamanten angeordnet.

Die Facetten umhüllen sie, schleudern sie weiter durch die Zeit wie einen Splitter in einem Kaleidoskop.

Es ist Winter. Die Aprikosenbäume sind kahl, trockener Schnee, scharf wie Splitt, sammelt sich widerstrebend in einer Wehe vor der wasserfleckigen weißen Mauer. Die Berge scheinen nahe genug zu sein, um Kälte auszustrahlen. Sie erinnert sich, dass ihr Haus das letzte dieser Einheit war. Vor ihrem Gartentor endete die Straße, und kahles Ödland erstreckte sich ununterbrochen bis zu den Hügeln. Hinter der Mauer war nichts mehr, nur noch Wüste. Das letzte Haus in Kabul. Jedes Jahr heulte der Wind über die weite Ebene und brach sich am ersten vertikalen Objekt, das ihm in die Quere kam. Sie erinnert sich nicht, jemals eine einzige reife Aprikose an den Bäumen gesehen zu haben. Sie steht da in ihrem Wollmantel mit Pelzkapuze und ihren Wellington-Stiefeln und ihren Handschuhen, die an einer Schnur aus ihren Ärmeln baumeln, weil sie letzte Nacht wie jede Nacht ein Geräusch im Garten gehört hat, und sie hat nachgesehen, aber es waren nicht die Soldaten oder die bösen Studenten, sondern ihr Vater, der in der weichen Erde zwischen den Obstbäumen gegraben hat. Jetzt steht sie auf der leichten Erhebung der frisch umgegrabenen Erde und hält eine Gartenschaufel in der Hand. Ihr Vater arbeitet im Krankenhaus und hilft Frauen, Babys zu bekommen. Ihre Mutter sieht fern, eine indische Soap Opera, die ins Pashtun übersetzt wurde. Alle sagen, dass die Sendung sehr albern und eine Zeitverschwendung und offensichtlich indisch ist, aber sie schauen sie sich trotzdem an. In ihren gerippten Winterstrumpfhosen geht sie in die Knie und fängt an zu graben. Immer tiefer, drehen und schaufeln, dann kratzt das grün emaillierte Blatt über Metall. Sie scharrt es frei und zieht das Ding heraus, das ihr Vater vergraben hat. Als sie es aufhebt, hätte sie das weiche formlose Ding beinahe fallen gelassen, weil sie denkt, dass es eine tote Katze ist. Dann versteht sie, was sie gefunden hat: die schwarze Tasche. Die andere schwarze Tasche, die für die besonderen Besuche. Sie greift nach den silbrigen Verschlüssen.

In Najia Askarzadahs Erinnerung endet die Geschichte, als ihre Mutter schreiend in der Küchentür steht. Danach folgen nur noch Fetzen aus Gebrüll, wütende Stimmen, Strafen, Schmerzen und wenig später die mitternächtliche Flucht durch die Straßen von Kabul, auf dem Rücksitz liegend, während die Straßenlampen wie langsame Stroboskopblitze vorbeiziehen. In der virtuellen Kindheit der Kaih spitzt sich der Schrei zu einem stechenden Geruch nach Winter zu, nach Kälte und Stahl und ausgetrockneten toten Dingen, bis sie davon geblendet wird. Dann erinnert sich Najia Askarzadah. Sie erinnert sich, wie sie die Tasche öffnet. Ihre Mutter stürmt über die Terrasse und wirft die Plastikstühle um, die dort jede Witterung überlebt haben. Sie erinnert sich, wie sie hineinschaut. Ihre Mutter ruft ihren Namen, aber sie blickt nicht auf. Drinnen ist Spielzeug, aus glänzendem Metall, aus dunklem Gummi. Sie erinnert sich, wie sie die Dinge aus rostfreiem Stahl mit den Handschuhen aufnimmt und ins winterliche Sonnenlicht hält: das Spekulum, die gekrümmte Nähnadel, der Löffel zum Ausschaben, die Spritzen und die Tuben mit Gel, die Elektroden, das geriffelte Gummi des elektrischen Knüppels. Ihre Mutter zerrt sie an der Pelzkapuze fort, schlägt ihr die Dinge aus Metall und Gummi aus den Händen, wirft sie auf den Gartenpfad, und der vom Frost gehärtete Kies zerfetzt ihr die Strumphose, schürft ihre Knie auf.

Die feinknochigen Äste der Aprikosenbäume verflechten sich und befördern Najia Askarzadah in eine andere Erinnerung, die nicht ihre eigene ist. Sie war noch nie in diesem Korridor mit grünem Boden und Wänden aus Betonblocksteinen, aber sie wusste, dass er existiert. Es ist eine wahre Illusion. Es ist ein Korridor, wie man ihn in einem Krankenhaus erwartet, aber er hat nicht den Geruch eines Krankenhauses. Es gibt die großen durchsichtigen Schwingtüren eines Krankenhauses, die Farbe ist an den Metallecken abgewetzt, was auf häufige Benutzung schließen lässt, aber im grünen Korridor ist niemand außer Najia Askarzadah. Von einer Seite weht kalte Luft durch die Jalousie vor einem Fenster herein. Auf der anderen Seite gibt es beschriftete und nummerierte Türen. Najia geht durch eine Schwingtür, durch zwei, drei. Jedes Mal wird es etwas lauter, das Schluchzen einer Frau, die am Ende von allem angelangt ist, wo keine Scham oder Würde mehr übrig ist. Najia läuft auf das Gewimmer zu. Sie kommt an einer Krankenhausliege vorbei, die leer neben einer Tür steht. Die Liege hat Riemen für Fußknöchel, Handgelenke, Hüfte. Und für den Hals. Najia geht durch die letzte Tür. Das Schluchzen steigert sich zu einem schrillen Klagen. Es kommt aus dem letzten Zimmer auf der linken Seite. Najia drückt die Tür gegen den Widerstand der harten Feder auf.

Mitten im Raum befindet sich der Tisch, und mitten auf dem Tisch liegt die Frau. Neben ihr auf dem Tisch steht ein Rekorder mit angeschlossenem Mikrofon, das über ihrem Kopf hängt. Die Frau ist nackt, und ihre Hände und Füße sind an Ringen an den Ecken des Tisches gefesselt. Ihre Arme und Beine sind straff gespreizt. Ihre Brüste, die Schenkelinnenseiten und der rasierte Schamhügel sind mit Zigarettenbrandwunden übersät. Ein chromglänzendes Spekulum öffnet ihre Vagina für Najia Askarzadahs Blick. Ein Mann im Arztkittel und mit grüner Plastikschürze sitzt zu ihren Füßen. Er trägt eine dicke Schicht Kontaktgel auf einen kurzen elektrischen Knüppel auf, weitet das Spekulum bis zum Maximum und schiebt den Knüppel zwischen die stählernen Lippen. Die Schreie der Frau werden unverständlich. Der Mann seufzt, blickt sich einmal zu seiner Tochter um, hebt zum Gruß die Augenbrauen und drückt auf den Schalter.

»Nein!«, schreit Najia Askarzadah. Es gibt einen weißen Blitz, ein Krachen wie vom Untergang eines Universums. Ihre Haut schimmert im synästhetischen Schock. Sie riecht Zwiebeln Räucherstäbchen Sellerie und Rost, sie liegt auf dem Boden in der Designkabine von Indiapendent, und Thal beugt sich über sie. Ys hält ihren Hoek in der Hand. Schlagartige Unterbrechung. Ihre Neuronen zucken. Najia Askarzadahs Lippen bewegen sich. Es gibt Worte, die sie sagen, Fragen, die sie stellen muss, aber sie wurde aus der Anderwelt herausgeschleudert. Thal bietet ihr eine schlanke Hand an, fordert sie eindringlich auf.

»Kommen Sie, Schätzchen, wir müssen gehen.«

»Mein Vater, sie sagte ...«

»Eine ganze Menge, Baba. Hab eine ganze Menge gehört. Will’s gar nicht wissen, das ist etwas zwischen Ihnen und ihr. Aber jetzt müssen wir gehen.« Thal ergreift ihr Handgelenk und hilft Najia aus ihrer uneleganten Lage auf. Sys erstaunliche Kraft reißt sie aus dem Ansturm der Flashbacks — Aprikosenbäume im Winter, die Öffnung einer weichen schwarzen Tasche, der Gang durch den grünen Korridor, der Raum mit dem Tisch und dem verchromten MPEG-Rekorder.

»Sie hat mir meinen Vater gezeigt. Sie hat mich nach Kabul zurückgebracht, sie hat mir meinen Vater gezeigt ...«

Thal treibt Najia durch den Notausgang auf eine klappernde Stahltreppe.

»Ich bin mir sicher, sie hat Ihnen sehr viel gezeigt, damit Sie lange genug reden, um die Karsevaks zu unserem derzeitigen Aufenthaltsort zu führen. Pande hat angerufen, sie sind im Anmarsch. Baba, Sie sind zu vertrauensselig. Ich bin ein Neut, ich vertraue niemandem und mir selbst erst recht nicht. Kommen Sie jetzt mit, oder wollen Sie genauso enden wie unsere selige Premierministerin?«

Najia blickt zurück zu dem gekrümmten Bildschirm, der Chromlocke des Hoek, der auf dem Tisch liegt. Tröstende Illusionen. Sie folgt Thal wie ein kleines Kind. Der Treppenschacht ist ein Glaszylinder aus Regen, als befände man sich innerhalb eines Wasserfalls. Hand in Hand arbeiten sich Najia und Thal über die stählernen Stufen zum Ausgang vor.

Thomas Lull legt die letzte der drei Fotografien auf den Tisch. Lisa Durnau bemerkt seinen Taschenspielertrick. Die Reihenfolge ist umgekehrt: Lisa, Lull, Kij. Ein Zauberkunststück.

»Ich tendiere zu der Theorie, dass die Zeit alle Dinge in ihr Gegenteil verwandelt«, sagt Thomas Lull.

Lisa Durnau sitzt ihm am zerkratzten Melamintisch gegenüber. Das schnelle Tragflügelboot von Varanasi nach Patna ist stark überladen. Jedes Kämmerchen und jeder Winkel ist mit verschleierten Frauen und schlecht verschnürten Gepäckbündeln und tränenüberströmten Kindern vollgestopft, die sich verwirrt mit offenem Mund umblicken.

Thomas Lull rührt in seinem Plastikbecher mit Chai. »Erinnerst du dich an Oxford? Kurz bevor ...« Er verstummt und schüttelt den Kopf.

»Ich habe verhindert, dass sie ganz Alterre mit verdammter Coca-Cola-Werbung zukleistern.«

Doch sie kann ihm nicht sagen, welche Befürchtungen sie hinsichtlich der Welt hegt, die er ihr anvertraut hat. Sie war kurz in Alterre eingetaucht, während sie im Büro des Konsulats darauf wartete, dass ihr diplomatischer Status bestätigt wurde. Asche, verkohlter Fels, ein nuklearer Himmel. Kein Leben. Ein toter Planet. Eine Welt, die nach Thomas Lulls Philosophie genauso real ist wie jede andere. Sie kann nicht darüber nachdenken, kann nichts empfinden und darum trauern, wie sie sollte. Konzentrier dich auf das, was hier und jetzt ist, was vor dir auf dem Tisch liegt. Doch tief in ihrem Bewusstsein hat sich der Verdacht festgesetzt, dass die Auslöschung von Alterre mit den Geschichten und Menschen dieser Welt verknüpft ist.

»Mein Gott, L. Durnau. Ein Scheiß-Honorarkonsul.«

»Hat es dir in der Polizeiwache gefallen?«

»Genauso wie dir, als der Dunkle Lord dir in den Arsch gefickt hat. Du hast dich von ihnen in den Weltraum schießen lassen.«

»Nur weil sie dich nicht gefunden haben.«

»Ich hätte es nicht gemacht.«

Sie erinnert sich, wie sie ihn ansehen muss.

Er wirft die Hände in die Luft. »Okay, ich bin ein beschissener Lügner.«

Der Mann am Ende ihres Tisches dreht sich um und starrt den Westler mit der unfeinen Ausdrucksweise an.

Thomas Lull berührt vorsichtig, ehrfürchtig alle drei Fotos. »Ich habe darauf keine Antwort. Tut mir leid, dass du den weiten Weg hierher auf dich genommen hast, um das von mir zu hören, aber ich kann nichts dazu sagen. Und was ist mit dir? Auch dein Foto ist dabei. Ich weiß nur, dass wir es jetzt nicht mehr mit zwei Rätseln zu tun haben, sondern mit einem.« Er zieht seinen Palmer aus der Tasche, ruft das gestohlene Bild von Kijs Kopf auf, in dem die treibenden Diyas der Proteinprozessoren schimmern, und legt ihn neben ihre Fotos vom Tabernakel. »Wir sollten eine Vereinbarung treffen. Hilf mir, Kij zu finden und zu beweisen, was meiner Ansicht nach in Wirklichkeit mit ihr los ist, und ich werde sehen, was ich wegen des Tabernakels tun kann.«

Lisa Durnau zieht die Lade aus dem weichen Lederetui und legt sie an das andere Ende neben ihr Tabernakel-Porträt.

»Du fliegst mit mir zurück.«

Thomas Lull schüttelt den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Du kannst alles weitergeben, aber ich kehre nicht zurück.«

»Wir brauchen dich.«

»Wir? Willst du mir jetzt sagen, dass es meine Pflicht als guter Bürger nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern der großen weiten Welt ist, für diesen epochalen Moment des Erstkontakts mit einer ›außerirdischen Zivilisation‹ ein Opfer zu bringen?«

»Du bist ein Arschloch, Lull.«

Wieder starrt der Mann herüber, als er die Obszönität aus dem Mund einer Frau hört. Das Tragflügelboot ruckt und knallt — offenbar ist es mit etwas unter Wasser zusammengestoßen.

An diesem Monsunmorgen ist das Tragflügelboot nach Patna ein Lastkahn für Flüchtlinge. Varanasi ist eine Stadt, die sich in Krämpfen windet. Die Schockwellen, die sich vom Sarkhand Roundabout ausbreiten, sind zu uralten Feindseligkeiten und Gehässigkeiten kristallisiert. Jetzt sind es nicht mehr nur die Neuts. Jetzt sind es die Muslime, die Sikhs, die Westler, während die Stadt Shivas krampfhaft zuckt und Opfer jagt. US-Marines eskortierten das Diplomatenfahrzeug von der Polizeiwache durch die hastig errichteten Kontrollpunkte der Bharati-Armee. Thomas Lull versuchte einen Sinn in der kleinen US-Flagge zu erkennen, die kühn auf dem rechten Kotflügel des Wagens flatterte, während Jawans und Marines sich gegenseitig Blicke zuwarfen. Sirenen dopplerten durch die Nacht. Über ihnen knatterte ein Hubschrauber. Der Konvoi fuhr an einer Reihe geplünderter kleiner Geschäfte vorbei, die stählernen Rollläden eingeschlagen oder herausgerissen. Ein mit jungen Karsevaks beladener Nissan-Pick-up fuhr neben ihnen her. Die Männer beugten sich herab, um in das Diplomatenfahrzeug zu blicken. Vom Ganja hatten sie große Augen, sie hatten sich mit Trishuls, Mistgabeln und alten Klingen bewaffnet. Der Fahrer grinste anzüglich, trat das Gaspedal durch und raste davon, begleitet von einem Hupkonzert. Überall roch es nach feuchter Verbrennung.

»Kij ist da draußen«, sagte Thomas Lull.

An der Anlegestelle des Tragflügelboots fiel heftiger Regen, gewürzt mit Rauch, aber die Stadt wagte sich immer wieder hinaus, ein Blick durch eine Tür, ein schneller Sprint, vorbei an ausgebrannten Marutis und geplünderten Läden von Muslimen, eine hastige Phatphat-Fahrt. Das Leben musste weitergehen. Die Stadt, die scheinbar den Atem angehalten hatte, erlaubte sich endlich, langsam und zitternd auszuatmen. Eine Menschenmenge schob sich beständig durch die schmalen Straßen zum Fluss. Mit Handkarren und Fahrradwagen, mit überladenenen Fahrradrikschas und Phatphats, mit hupenden Marutis und Taxis und Pick-ups hatten sich die Muslime auf den Weg gemacht. Thomas Lull und Lisa schlängelten sich durch den hoffnungslosen Verkehrsstau. Viele hatten ihre Fahrzeuge aufgegeben und entluden ihre geretteten Besitztümer: Computer, Nähmaschinen, Drechselbänke, aufgeblähte Bündel aus Bettwäsche und Kleidung, die mit blauen Plastikschnüren zusammengebunden waren.

»Ich war bei Chandra in der Universität«, sagte Thomas Lull, während sie sich durch einen Knoten aus verlassenen Fahrradrikschas zum Ghat zwängten, wo sich die separaten Flüchtlingsströme am Ufer zu einer vedischen Horde vereinigten. »Anjali und Jean-Yves arbeiteten an Mensch-Kaih-Interfaces, insbesondere an der Verknüpfung von Proteinchip-Matrizen mit Nervenstrukturen. Eine direkte Hirn-Computer-Verbindung.« Lisa Durnau musste sich bemühen, Thomas Lull im Blickfeld zu behalten. Sein knallblaues Surfhemd war wie ein Leuchtfeuer zwischen den Körpern und Bündeln. Man musste nur einmal auf diesen Steinstufen stolpern, und man war tot. »Der Anwalt hat Kij ein Foto gegeben. Von ihr nach irgendeiner Operation zusammen mit Jean-Yves und Anjali. Ich habe den Ort wiedererkannt, es war in Patna am neuen Bund-Ghat. Dann habe ich mich an etwas erinnert. Es war in Thekkady, als ich in den Strandclubs gearbeitet habe. Ich kannte die ganzen Emotika-Schmuggler, das meiste kam aus Bangalore und Chennai, aber es gab da einen Kerl, der das Zeug aus dem Norden importierte, aus der Freihandelszone von Patna. Er konnte alles, was man auch aus Bangalore bekam, zu einem Viertel des Preises liefern. Er fuhr einmal monatlich in den Norden, und ich erinnere mich, dass er mir von diesem grauen Mediziner erzählte, der Radikaloperationen für Männer und Frauen machte, die keine Männer oder Frauen mehr sein wollten, falls du verstehst, was ich meine.«

»Neuts«, brüllte Lisa Durnau über das Meer aus Köpfen hinweg. Die Besatzung des Tragflügelboots hatte das Tor zum Anlegesteg verbarrikadiert und ließ sich von den Händen, die durch das Gitter gestoßen wurden, Geld geben, um einzelne Flüchtlinge hindurchzulassen. Lisa schätzte, dass sie bereits die Hälfte der Strecke bis zum Tor zurückgelegt hatten, aber sie wurde allmählich müde.

»Neuts«, rief Thomas Lull zurück. »Die Vermutung ist weit hergeholt, aber falls ich recht habe, ist das das fehlende Bindeglied.«

Wozu?, wollte Lisa Durnau fragen, aber die Menge drängelte zu sehr. Das Tragflügelboot wurde von Sekunde zu Sekunde voller. Flüchtlinge standen hüfttief im Ganges, hielten Babys und Kinder hoch, die von der Besatzung unsanft mit Stangen zurückgestoßen wurden. Thomas Lull zog Lisa Durnau näher an sich. Sie kämpften sich bis zur Spitze der Schlange vor. Das Stahltor wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Körper knallten gegen das Gitter.

»Hast du grüne Scheine dabei?«

Eine Durchsuchung ihrer Tasche förderte dreihundert in Reiseschecks zutage. Thomas Lull hielt sie hoch.

»US-Dollars! US-Dollars!«

Der Steward winkte ihn heran. Seine Leute drängten die anderen Menschen zurück.

»Wie viel wie viel?«

Thomas Lull hob zwei Finger.

»Herein herein.«

Sie zwängten sich durch das kaum geöffnete Tor und gingen über den Landungssteg an Bord. Zehn Minuten später legte das Tragflügelboot extrem überladen ab und entfernte sich von der immer größer werdenden Menge an den Ghats. Für Lisa Durnau, die durch das schmutzige Fenster lugte, sah die Masse wie ein Blutgerinnsel aus.

In der überfüllten Lounge schiebt sie Thomas Lull die Lade zu. Er blättert die Seiten mit den Daten des Tabernakels durch.

»Wie ist es so im Weltraum?«

»Es stinkt. Es ist anstrengend. Man verbringt die meiste Zeit im Delirium und bekommt nie die Gelegenheit, etwas zu sehen.«

»Klingt ein bisschen wie ein Rockfestival. Das Erste, was mir daran auffällt, ist, dass ihr davon ausgeht, es müsse sich um das Artefakt einer außerirdischen Zivilisation handeln.«

»Wenn das Tabernakel sieben Milliarden Jahre alt ist, warum sehen wir dann nicht überall Spuren der Aliens, die es gebaut haben?«

»Eine Variante des Fermi-Paradoxons — wenn Aliens existieren, wo sind sie dann? Lass uns mal überlegen: Wenn wir für die Erbauer des Tabernakels eine Expanisionsrate von zehn Prozent Lichtgeschwindigkeit annehmen, hätten sie in sieben Milliarden Jahren alles von hier bis zur Sculptur-Galaxiengruppe kolonisiert.«

»Neben ihnen würde es nichts anderes mehr geben ...«

»Aber wir finden von ihnen nur einen beschissenen kleinen Asteroiden? Da stimmt doch etwas nicht. Außerdem, wenn das Ding fast doppelt so alt ist wie unser Sonnensystem ...«

»Woher wussten sie dann, dass wir irgendwann hier sind, um es finden zu können?«

»Dass dieser Wirbel aus Sternenstaub eines Tages dich, mich und Kij betreffen würde. Ich glaube, diese Theorie können wir verwerfen. Hypothese Nummer zwei: Es ist eine Botschaft von Gott.«

»Jetzt übertreibst du, Lull.«

»Ich gehe jede Wette ein, dass es sogar während des Frühstücksgebets im Weißen Haus geflüstert wurde. Das Ende der Welt ist nahe.«

»Dann wäre es gleichzeitig das Ende jeder rationalen Weltanschauung. Zurück ins Zeitalter der Wunder.«

»Genau. Ich bilde mir gern ein, dass mein Leben als Wissenschaftler keine völlige Verschwendung war. Also halte ich mich lieber an Theorien, in denen ein Körnchen Rationalität steckt. Hypothese Nummer drei: ein fremdes Universum.«

»Dieser Gedanke ist auch mir gekommen«, sagt Lisa Durnau.

»Wenn sich irgendjemand vorstellen kann, was es da draußen im Polyversum geben könnte, dann du. Der Big Bang bläht sich zu mehreren separaten Universen auf, in denen leicht abweichende physikalische Gesetze herrschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es mindestens ein weiteres Universum mit einer Kij, einer Lull und einer Durnau gibt, liegt praktisch bei einhundert Prozent.«

»Sieben Milliarden Jahre alt?«

»Andere physikalische Gesetze. Die Zeit läuft schneller ab.«

»Hypothese Nummer vier.«

»Hypothese Nummer vier: Alles ist nur ein Spiel. Beziehungsweise eine Simulation. Ganz unten besteht die physikalische Realität aus Regeln und der Anwendung von Regeln, aus den simplen Programmen, die eine unberechenbare Komplexität hervorbringen. Die virtuelle Realität von Computern sieht exakt genauso aus ... was ich bekanntlich schon mein ganzes Leben lang behauptet habe, L. Durnau. Aber jetzt kommt der Haken. Wir beide existieren nur virtuell. Wir laufen als Wiederholungsprogramm auf dem finalen Computer am Omega-Punkt am Ende der Raumzeit. Dass unsere Realität virtuell rekonstruiert wurde, ist zwangsläufig wahrscheinlicher, als dass wir das Original sind.«

»Und nun schleichen sich Fehler ins System ein. Zum Beispiel ein rätselhafter sieben Milliarden Jahre alter Asteroid.«

»Und das bedeutet eine unmittelbar bevorstehende Wendung in der Handlung für die Sims.«

»Du wirst das Große und Mächtige Oz nicht zu sehen bekommen«, sagt Lisa Durnau.

»Wir sind definitiv nicht mehr in Kansas.«

Der Chai-Wallah kommt vorbei, schwingt seine Teekanne aus rostfreiem Stahl und leiert sein Mantra herunter: Chai, Kafi. Thomas Lull nimmt eine weitere Tasse.

»Ich verstehe nicht, wie du dieses Zeug trinken kannst«, sagt Lisa.

»Hypothese Nummer fünf: Für ein mysteriöses außerirdisches Artefakt ist es ein wenig klobig. Ich habe schon überzeugendere Spezialeffekte in Stadt und Land gesehen.«

»Ich verstehe, was du sagen willst. Es sieht aus, als hätten wir es gebaut — als wollten wir eine Art Botschaft an uns selbst schicken.«

»Eine, die wir nicht übersehen werden. Ein erdbahnkreuzender Asteroid, den man in eine ungewöhnliche Bahn lenkt.«

Lisa Durnau zögert. Das ist mehr als Visionieren. »Aus unserer Zukunft.«

»An dem Ding ist nichts, was wir nicht in den nächsten paar hundert Jahren zustande bringen werden.«

»Ist es eine Warnung?«

»Warum sonst sollte man etwas in die Vergangenheit schicken? Doch nur, wenn man die Geschichte drastisch verändern will. Unsere Zig-mal-Urenkel Lull und Durnau stehen vor einem Problem, mit dem sie nicht klarkommen. Aber wenn sie sich selbst ein paar hundert Jahre mehr Vorsprung geben ...«

»Ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Problem sie haben, wenn sie Dinge durch den Zeitstrom schicken können, aber trotzdem in der Klemme stecken.«

»Ich kann es mir vorstellen«, sagt Thomas Lull. »Es geht um den Entscheidungskrieg zwischen Menschen und Kaihs. In dieser Zukunft haben wir es mit der Generation Zehn zu tun — einhundert Millionen Mal leistungsfähiger als eine Gen-Drei.«

»Das bedeutet, sie würden auf demselben Level operieren wie die Wolfram-Friedkin-Kodes, die unserer physikalischen Realität zugrunde liegen«, sagt Lisa Durnau. »Was bedeutet ...«

»Dass sie die physikalische Realität direkt manipulieren könnten.«

»Du sprichst hier von Magie. Um Gottes willen, Magie! Mensch, Lull! Ich habe Einwände. Erstens: Sie haben die Botschaft über sieben Milliarden Jahre zurückgeschickt?«

»Eine Gravitationsanomalie brachte den Staubnebel in Bewegung, aus dem sich unser Sonnensystem bildete. Ein vorbeiziehendes Schwarzes Loch wäre ein wunderbarer Ankerpunkt für ein Wurmloch durch die Zeit. Wenigstens wussten sie, dass wir irgendwann hier sein würden.«

»Sehr gut, Lull. Dann zu Einwand Nummer zwei: Die Botschaft ist reichlich unklar. Warum nicht ein einfaches ›Hilfe, wir haben mächtigen Ärger mit Künstlichen Intelligenzen, die so mächtig wie Götter sind‹?«

»Was glaubst du, welche Wirkung das haben würde? Wenn wir das Problem gelöst haben, werden wir für das bereit sein, was das Tabernakel uns zu sagen hat.«

»Du überzeugst mich nicht, Lull. Selbst mit Gen-Zehnern und Wurmlöchern und der Tatsache, dass wir uns durch die Übermittlung der Nachricht in ein Universum abspalten, wo wir gut vorbereitet sind, aber sie in ihrem Universum weiterhin zum Untergang verurteilt sind ... selbst in Anbetracht all dieser Dinge bleibt die Frage: Warum zum Teufel sind du, ich und ein achtzehnjähriges Mädchen, das mit Maschinen sprechen kann, von so großer Bedeutung?«

Thomas Lull zuckt mit den Schultern, jene grinsende Ist-mir-doch-egal-Geste, mit der er Lisa schon immer in den Wahnsinn getrieben hat, wenn sie in Sitzungen wie dieser seine Spekulationen wegargumentierte. Nun ruft Lull seine gestohlenen Bilder auf, die das Innere von Kijs Schädel zeigen.

»Jetzt deine Hypothese.«

»Also gut. Für mich ist das gar nicht das Mysterium, sondern die Bestätigung. Das Mysterium ist die Frage, wie sie die Awadhi-Roboter aufhalten konnte. Wenn wir also Magie und Gott ausschließen, bleibt nur noch Technik übrig. Und das da drinnen ist Technik, die einem menschlichen Gehirn ermöglicht, direkt mit einer Maschine zu kommunizieren. Sie hat sie gehackt.«

»Kein Gott, keine Götter«, sagt Thomas Lull.

Lisa spürt, wie der Rumpf stärker vibriert. Das Schiff drosselt den Wasserstrahlantrieb und lässt sich auf die Tragflügel nieder, während es sich den überfüllten Gewässern um Patna nähert. Durch das Fenster erkennt sie die billigen, massengefertigten Industrieanlagen und exurbanen Infotech-Bauten, die sich hinter den weiten, sandigen Ufern des Ganges ausbreiten.

»Was sieht sie? Einen Halo von Informationen rund um Menschen und Dinge. Sie sieht einen Vogel und nennt dir die wissenschaftliche Spezies. Es klingt wie aus Die Vogelwelt von Südwest-Indien. Im Bahnhof erzählt sie einer Familie, dass ihr Sohn verhaftet wurde, welchen Zug die Leute nehmen, an welchen Anwalt sie sich wenden sollen. Das sind Polizeiberichte, die gelben Seiten von Allahabad und der Zugfahrplan von Mumbai. Sie verhält sich in jeder Hinsicht wie jemand, dessen Gehirn ans Netz angeschlossen ist.«

Lisa streicht mit den Fingern über die geisterhaften Bilder auf der Lade.

»Das ist nur ... wie sie es macht. Ich weiß nicht, wer sie ist, ich weiß nicht, wie Jean-Yves und Anjali darin verwickelt sind. Aber ich weiß, dass jemand ein Mädchen genommen hat und aus ihr ein Experiment machte, ein monströses Versuchskaninchen für eine neue Gehirn-Maschine-Interface-Technologie.«

Die Passagiere rühren sich, sammeln ihre Angehörigen und Besitztümer um sich. Die kurze Atempause auf dem Wasser ist fast vorbei, nun müssen sie sich mit einer fremden, neuen, unbekannten Stadt auseinandersetzen.

»Bis zu diesem Punkt stimme ich dir uneingeschränkt zu, L. Durnau«, sagt Thomas Lull. »Aber ich glaube, dass es genau andersherum ist. Es geht nicht um ein System, das einem Menschen ermöglicht, mit einer Maschine zu interagieren. Dieses System ermöglicht Maschinen, mit einem menschlichen Gehirn zu interagieren. Sie ist eine Kaih, die in einen menschlichen Körper heruntergeladen wurde. Sie ist die erste und letzte Botschafterin der Generation Drei für die Menschheit. Ich glaube, deswegen gehören wir drei für das Tabernakel zusammen. Es ist die Prophezeiung einer Begegnung

Sie ist eine Waise in der Stadt der Götter und aus diesem Grund niemals allein. Götter rauschen hinter ihr wie Flügel, Götter umschwirren ihren Kopf, Götter purzeln und rollen zu ihren Füßen, Götter falten sich vor ihr auseinander wie eine Million sich öffnender Türen. Sie hebt eine Hand, und zehntausend Götter lösen sich voneinander und verschmelzen wieder. Jedes Gebäude, jedes Fahrzeug, jede Lampe und jede Neonreklame, jeder Straßenschrein und jede Ampel erbebt vor Göttern. Mit einem Blick kann sie hundert Phatphat-Fahrzeugzulassungen sehen, die Gebutsdaten und Adressen der Fahrzeughalter, ihren Versicherungsstatus, ihre Kreditwürdigkeit, ihre Schulausbildung und ihr polizeiliches Führungszeugnis, ihre Kontonummern, die letzten Zeugnisse ihrer Kinder, die Schuhgröße ihrer Frauen. Götter entrollen sich wie Papierschlangen. Götter durchweben sich gegenseitig wie Goldfäden in einem Seidenwebstuhl. Hinter dem Nachtleuchten ist der Horizont eine juwelenbesetzte Krone aus Gottheiten. Hinter dem Verkehrschaos, den Sirenen, den lauten Stimmen und dem Autohupen und der plärrenden Musik hört sie das Geflüster von neun Millionen Göttern.

Hier droht Gewalt, warnt der Gott der Gali, die von der hell erleuchteten Straße mit Chai-Bars und Imbiss-Ständen abgeht. Sie bleibt stehen, als sie immer lautere männliche Stimmen hört, die durch die schmale, von Jharokas gesäumte Gasse hallen. Studierende Karsevaks kommen brüllend angerannt. Sie pickt sich einen aus dem Götterraum heraus: Mangat Singhal, Studium des Maschinenbaus an der University of Bharat. Er hat eine für drei Jahre bezahlte Jugend-Mitgliedschaft bei der Shivaji, er wurde zweimal als Randalierer bei den Demonstrationen am Sarkhand Roundabout verhaftet. Seine Mutter hat durch Rauchen verursachten Kehlkopfkrebs und wird wahrscheinlich ihre Reise zu den Ghats antreten, bevor dieses Jahr vorüber ist. Hier entlang, sagt der Gott des Taxistands und zeigt ihr den Maruti, der hinter den panischen Chai-Wallahs fährt, die hastig ihre Stahlgitter herunterlassen. Schaden auf zwanzigtausend Rupien geschätzt, verrät ihr der Gott der kleinen Versicherungsfälle, als sie das Krachen eines Chai-Standes hört, der von Karsevaks umgeworfen wird. Kein Anspruch auf Schadensersatz während einer Ausnahmesituation öffentlicher Unruhen. Du wirst dein Taxi in fünfunddreißig Sekunden erreichen. Jetzt nach links. Sie ist da, als der Maruti um die Ecke biegt und auf ihr Handzeichen stehen bleibt.

»Halten Sie sich von dort fern«, sagt der Fahrer, als sie ihm die Adresse in der Basti nennt.

»Ich werde Ihnen viel Geld bezahlen.« Geldautomat an der nächsten Kreuzung rechts, sagt der Gott der Einkaufszentren. »Halten Sie hier an.« Die Karte wird ohne Zögern, ohne Frage, ohne Anforderung einer Nummer oder Gesichtsscan angenommen. Wie viel benötigst du?, fragt der Gott des E-Bankings. Sie nennt eine fünfstellige Zahl. Es dauert so lange, bis das Geld aus dem Schlitz kommt, dass sie bereits befürchtet, der Fahrer könnte sich für eine ungefährlichere Fuhre entscheiden. Das Taxi mit der Zulassungsnummer VRJ117824C45 steht weiterhin am Straßenrand, bestätigt der Gott, der die Verkehrsüberwachungskameras beseelt. Sie blinzelt zur hoch oben angebrachten Linse, sieht sich selbst vor dem Geldautomaten, wie sie versucht, dicke Geldbündel zusammenzufalten, sieht das Taxi hinter ihr, sieht den kleinen Konvoi der Armee-Hummer, die vorbeirasen.

»Genügt das?« Sie wirft dem Fahrer den Blumenstrauß aus Banknoten ins Gesicht.

»Baba, dafür würde ich Sie bis nach Delhi fahren.«

Er ist ein Fahrer, der gern redet; Unruhen, Unruhen, völlig ohne Grund, warum konzentrieren sie sich nicht auf ihr Studium, statt Sachen abzufackeln, wenn sie versuchen, einen Job zu kriegen, wird es sich rächen, oh, wie ich sehe, hatten Sie Schwierigkeiten mit der Polizei, weil Sie randaliert haben, nein, hier gibt es keine Jobs für Gundas und Badmashs, aber was ist mit Sajida Rana, der Premierministerin, ist es zu fassen, dass ihre eigene Leibwache, unsere Premierministerin, Mama Bharat, und was wollen wir jetzt machen, hat irgendwer mal darüber nachgedacht, und Gott steh uns bei, wenn hier alles zusammenbricht, dann werden die Awadhis uns einfach überrollen ... Kij beobachtet, wie die Götter in Schwadronen und Verbänden und Kommandos wogen und sich hinter ihr zu einer strahlenden Hemisphäre über der Stadt auftürmen. Sie tippt dem Fahrer auf die Schulter. Er wäre fast in eine Hütte aus Ziegelsteinen und Plastik am Straßenrand gefahren.

»Ihrer Frau geht es gut, und sie wird die Nacht bei ihrer Mutter verbringen, bis es sicher genug ist, wieder nach Hause zu kommen.«

Kurz danach verlässt sie ihn. Hier sind die Götter so selten wie die Sterne am Nachthimmel. Sie schweben um die großen gelben Natriumdampflampen an den Hauptstraßen herum, über den Autos, die im Regen vorbeibrausen, sie flattern wie Flammen an den Komkabeln hinauf und hinunter, aber die Bastis dahinter sind schwarz, unheilig. Das Flüstern der Götter führt sie in die Dunkelheit. Die Welt rennt, die Stadt brennt, aber der Slum muss schlafen. Ein verdutztes Gesicht in einem nächtlichen Chai-Stand starrt sie an, als wäre sie ein Djinn, der vom Sturm herangewirbelt wurde. Immer geradeaus weiter, bis du zu einem großen Strommast kommst, flüstert der Gott des MTV-Asia-Kabelkanals auf dem blassblauen Bildschirm. Gottheiten hängen an den Trägern des großen Masts wie Blätter an einem Baum. Auf der linken Seite, sagen sie. Wo es zwei Stufen hinuntergeht, mit dem Kunstdünger-Plastiksack anstelle einer Tür. Es ist leicht zu finden, selbst in der fließenden, stinkenden Dunkelheit, wenn man von den Göttern geführt wird. Sie erspürt die Konturen des baufälligen Hauses. Die Plastiktürplane raschelt, als sie sie berührt. Drinnen erwacht Leben. Dies ist der Ort, zu dem die DNS in der Datenbank sie geführt hat. Hinter ihr schimmert das wahre Licht der Dämmerung grau und fahl durch das Götterleuchten. Kij hebt die Plastikfolie an und duckt sich unter dem Türsturz hindurch.

Sie klopfen und rufen zwanzig Minuten lang, aber der gute Doktor Nanak empfängt heute keine Besucher. Die Türen sind verriegelt, die Luken dicht, die Fenster mit Läden verrammelt und mit großen Messingschlössern gesichert. Thomas Lull hämmert mit der Faust gegen die graue Tür.

»Na los, öffnen Sie, verdammt noch mal!«

Schließlich häuft er Metallschrott vor den Brückenfenstern mit dem Maschendraht auf, während sich der Regen zu immer größeren Pfützen auf dem grauen Deck sammelt. Damit erregt er die Aufmerksamkeit zweier Australier auf dem Nachbarkahn. Zwei Jungs Mitte zwanzig mit freiem Oberkörper in wadenlangen Jams kommen über die Rampe. Wasser tropft von ihren Rastalocken, aber sie bewegen sich durch den Regen, als wäre es ihre natürliche Umgebung. Lisa Durnau, die unter einer Markise Schutz gesucht hat, wirft einen Blick auf ihre Unterkörper. Sie haben diese Bauchmuskelfurchen, die bis unter den Hosenbund reichen.

»Kumpels, wenn der Guru nicht da ist, ist er nicht da.«

»Ich habe da oben eine Bewegung gesehen«, ruft Thomas Lull. »He! Ich sehe Sie, kommen Sie raus, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Hören Sie, etwas mehr Respekt, wenn jemand seine Ruhe haben will«, sagt der zweite Fitnesstyp. Er trägt eine geschnitzte Jadespirale an einem Lederriemen um den Hals. »Der Guru gibt keine Interviews, für niemanden, nirgendwo, nirgendwie. Okay?«

»Ich bin kein verdammter Journalist, und ich bin kein verdammter Karsevak«, erklärt Thomas Lull und klettert die Schiffsaufbauten hinauf.

»Lull«, stöhnt Lisa Durnau.

»Oh nein, das tun Sie nicht«, ruft der erste Australier, und gemeinsam packen sie Thomas Lull an den Beinen und ziehen ihn von der Brücke. Er knallt unsanft auf den Steg.

»Jetzt sind Sie eindeutig länger geblieben, als Sie willkommen sind«, sagt Jadejunge. Dann ziehen sie Thomas Lull auf die Beine, halten seine Arme in festem Griff und dirigieren ihn zum Steg zwischen den Schiffen.

Lisa Durnau beschließt, dass es an der Zeit ist, etwas zu tun. »Nanak!«, ruft sie zur Brücke hinauf.

Eine Gestalt bewegt sich hinter dem Maschendraht und dem schmutzigen Glas.

»Wir sind keine Journalisten. Wir sind Lisa Durnau und Thomas Lull. Wir wollen mit Ihnen über Kalki reden.«

Die Tür zur Laufbrücke öffnet sich. Ein mit Schals umwickelter Kopf lugt heraus, ein Gesicht wie Hanuman, der Affengott.

»Lasst ihn los.«

Nanak, der Traumchirurg, wuselt auf der Brücke hin und her, um auf korrekte Weise Tee zuzubereiten. Nach den industriellen Schiffsaufbauten wirkt die Inneneinrichtung mit den pseudokolonialen Möbeln aus Korb und Bambus erstaunlich dekadent.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung für meine Zurückhaltung.« Nanak hantiert mit Töpfen und einem Benares-Klapptisch aus Blech. Lisa Durnau nippt an ihrem Chai und mustert verstohlen ihren Gastgeber. In Kansas sind Neuts kein gewohnter Anblick. Die Details auf sys Haut, die leichten Erhöhungen, die sich den bloßen linken Arm hinunterziehen, die subdermalen Kontrollen für das Sexualsystem faszinieren sie. Sie fragt sich, wie es ist, wenn man seine Emotionen programmieren kann, wenn man bestimmen kann, wie man sich verliebt, wie einem das Herz bricht, wenn man seine Hoffnungen und Ängste neu definieren kann. Sie fragt sich, wie viele Arten von Orgasmus man gestalten kann. Aber die vordringlichste Frage in ihrem Kopf lautet: War ys männlich oder weiblich? Die Körperform, die Fettverteilung, die Kleidung — eine bewusst eklektizistische Mischung, die fließend und schlaff gehalten ist — geben keinen Hinweis. Männlich, entscheidet sie. Männer sind in ihrer sexuellen Identität unbestimmter.

Nanak gießt neuen Chai ein. »Wir wurden in letzter Zeit schikaniert. Die Australier passen auf mich auf, gute, nette Jungs. Und die Arbeit hier verlangt Diskretion. Aber dass Professor Thomas Lull mich aufsucht, ist eine große Ehre für einen bescheidenen Anbieter chirurgischer Dienstleistungen.«

Thomas Lull klappt seinen Palmer auf und legt ihn auf den Blechtisch.

Nanak zuckt zusammen, als er einen Blick auf den Bildschirm wirft. »Das war die komplexeste Operation, die ich jemals vermittelt habe. Wochenlange Arbeit. Wir haben ihr Gehirn fast vollständig auseinandergenommen. Lappen und Windungen aufgedröselt und an Drähten hängend. Außergewöhnlich.«

Lisa Durnau sieht, wie sich Thomas Lulls Gesicht anspannt.

Nanak legt ihm eine Hand aufs Knie. »Geht es ihr gut?«

»Sie versucht herauszufinden, wer ihre wahren Eltern sind. Sie hat erkannt, dass ihr Leben nur aus Lügen besteht.«

Nanaks Mund bildet ein tonloses Oh.

»Ich bin nur ein Anbieter von Dienstleistungen ...«

»Waren es diese beiden, von denen Sie den Auftrag erhalten haben?« Thomas Lull ruft das Bild vom Tempel auf, das ihn überhaupt erst zu dieser Pilgerreise veranlasst hat.

»Ja«, sagt Nanak und verschränkt die Hände in sys Schal. »Sie vertraten einen mächtigen Varanasi-Sundarban, den Badrinath-Sundarban. Das legendäre Domizil von Vishnu, glaube ich. Man hat mir zwei Millionen US-Dollar gezahlt, per Banküberweisung vom Konto der Odeco Corporation. Ich kann Ihnen weitere Details geben, wenn Sie möchten. Fast die Hälfte des Budgets ist in Wetware-Anwendungen geflossen. Wir mussten eine Methode finden, um Erinnerungen zu programmieren. Emotika-Designer sind nicht billig, obwohl ich glaube, dass wir hier in unserer Zone einige der besten von ganz Hindustan haben.«

»Budget«, sagt Thomas Lull verächtlich. »Wie bei einer beschissenen Fernsehserie ...«

Jetzt muss sich Lisa Durnau zu Wort melden. »Ihre Adoptiveltern in Bangalore, existieren sie wirklich?«

»Oh, alles gefälscht, Madam. Wir haben viel Geld ausgegeben, um eine glaubwürdige Lebensgeschichte aufzubauen. Um den überzeugenden Eindruck zu vermitteln, dass sie ein Mensch ist, mit einer Kindheit und Eltern und einer Vergangenheit.«

»Warum? Ist sie ...?«, fragt Lisa Durnau und fürchtet sich gleichzeitig vor der Antwort.

»Eine Kaih in einem menschlichen Körper«, sagt Thomas Lull, und nun hört Lisa das Eis in seiner Stimme, das gefährlicher ist als jede erhitzte Leidenschaft.

Nanak schaukelt auf sys Stuhl vor und zurück. »Korrekt. Verzeihen Sie mir, wenn es jetzt unappetitlich wird. Der Badrinath-Sundarban war der Host für eine Künstliche Intelligenz der Generation Drei. Wie Ihre Kollegen mir erzählten, sah der Plan vor, eine Kopie in die höheren kognitiven Ebenen eines menschlichen Gehirns herunterzuladen. Die Tilaka war das Interface. Eine höchst komplizierte chirurgische Arbeit. Wir haben drei Versuche gebraucht, bis alles stimmte.«

»Die Kaihs haben Angst, nicht wahr?«, sagt Thomas Lull. »Sie erkennen, dass das Ende naht. Wie viele sind noch übrig?«

»Nur drei, glaube ich.«

»Sie wollen wissen, ob sie mit uns Frieden schließen können oder ob sie zum Aussterben verurteilt sind, aber zunächst einmal müssen sie uns verstehen. Unsere Menschlichkeit verwirrt sie, unser Verhalten ist ein Wunder, in dem sie keinen Sinn erkennen, aber das ist der Grund für die gefälschte Kindheit. Wie alt ist Kij wirklich?«

»Es ist acht Monate her, seit sie hier von Ihren Kollegen abgeholt wurde — von denen sie glaubte, sie seien ihre wahren Eltern. Es liegt ein knappes Jahr zurück, als ich von der Badrinath-Kaih kontaktiert wurde. Sie hätten sie an dem Tag sehen sollen, als sie ging, sie war so strahlend, so fröhlich, als wäre alles wunderbar neu für sie. Das europäische Paar sollte sie nach Bangalore bringen — ihnen blieb nur wenig Zeit, während sich Erinnerungsebenen dekomprimierten. Wenn sie zu lange gewartet hätten, wären sie überschrieben worden, was katastrophale Folgen gehabt hätte.«

»Sie haben sie allein gelassen?«, fragt Lisa Durnau fassungslos. Sie versucht sich damit zu beruhigen, dass in Indien vieles anders ist, Leben und Individualität haben einen anderen Stellenwert als in Kansas und Santa Barbara. Trotzdem ist sie schockiert über das, was man mit einem jungen Mädchen angestellt hat.

»So war es geplant. Wir hatten uns die Geschichte zurechtgelegt, dass sie ein Jahr lang ihre Ausbildung unterbrochen hat und auf dem Subkontinent herumgereist ist.«

»Ist Ihnen während Ihrer Planungen und falschen Geschichten und Erinnerungsdekomprimierungen und chinesischen Präzisionschirurgie auch nur ein einziges Mal die Idee gekommen, dass eine menschliche Persönlichkeit sterben musste, damit diese Kaih überleben kann?« Thomas Lull ist der Kragen geplatzt. Lisa Durnau legt ihm eine Hand aufs Bein. Ganz ruhig. Entspann dich. Bleib friedlich.

Nanak lächelt wie ein seliger Weiser. »Nein, Sir. Das Kind war schwachsinnig. Keine Individualität, keinerlei Ich-Bewusstsein. Kein eigenes Leben. Nur so war es möglich, wir hätten gar keine normale Person benutzen können. Ihre Eltern waren froh, als Ihre Kollegen kamen und ihnen das Kind abkauften. Endlich hatte ihr Kind vielleicht doch eine Chance, mithilfe einer experimentellen neuen Technologie. Sie dankten Lord Vishnu ...«

Mit einem wortlosen Schrei springt Thomas Lull auf, die Fäuste geballt. Nanak flüchtet kriechend vor dem wütenden Mann. Lisa Durnau fängt Lulls Fäuste mit beiden Händen ein.

»Hör auf, lass es sein«, flüstert sie. »Setz dich, Lull, setz dich wieder.«

»Drecksack!«, brüllt Thomas Lull den Neut-Macher an. »Ich verfluche Sie und Kalki und Jean-Yves und Anjali!«

Lisa Durnau drückt ihn auf den Stuhl. Nanak rappelt sich wieder auf, klopft sich den Staub von der Kleidung, wagt es aber nicht, näher heranzukommen.

»Ich muss mich für meinen Freund entschuldigen«, sagt Lisa Durnau. »Er ist überreizt ...« Sie packt Thomas Lull an den Schultern. »Ich glaube, wir sollten gehen.«

»Ja, das wäre vielleicht das Beste«, sagt Nanak und wickelt sich enger in seine Schals. »In diesem Gewerbe ist Diskretion geboten. Ich kann mir keine lauten Stimmen leisten.«

Thomas Lull schüttelt den Kopf, angewidert von sich selbst und von den Worten, die in diesem Raum gefallen sind. Er streckt dem Neut eine Hand entgegen, die ys nicht annimmt.

An den Koffern sind kleine Plastikräder, die über die Straßen der Innenstadt rattern. Der Boden ist uneben, und die Griffe sind einfache Gurtschlaufen, und Krishan und Parvati laufen, so schnell sie können, so dass die Koffer alle paar Minuten aus dem Gleichgewicht geraten und umkippen. Die Taxis schießen spritzend an Krishans erhobener Hand vorbei, ständig patrouillieren Truppentransporter, und die Gesänge der Karsevaks kommen einmal von dieser Seite, dann von der anderen, dann von hinten, dann von vorn, so dass sie sich in Hauseingängen verstecken müssen, wenn sie vorbeirennen. Parvati ist erschöpft und völlig durchnässt, der Sari klebt ihr am Körper, ihr Haar hängt in Strähnen herab, und es sind immer noch fünf Kilometer bis zum Bahnhof.

»Zu viele Kleider«, witzelt Krishan. Parvati lächelt. Er hebt beide Koffer an, einen in jeder Hand, und marschiert weiter. Gemeinsam gehen sie geduckt durch die Straßen, huschen von Eingang zu Eingang, weichen vor Militärfahrzeugen zurück, rennen über Kreuzungen, ständig auf unerwartete Geräusche und plötzliche Bewegungen achtend.

»Nicht mehr weit«, lügt Krishan. Seine Unterarme sind verkrampft und schmerzen. »Sind bald da.«

Als sie sich dem Bahnhof nähern, tauchen Menschen aus den kapillaren Galis und Wohnstraßen auf, genauso wie sie beladen mit Taschen und Bündeln, befördert von Fahrradrikschas, Handwagen und Autos. Die Rinnsale vereinigen sich zu immer größeren Bächen und Flüssen, bis sie einen breiten Strom aus Köpfen bilden. Parvati klammert sich an Krishans Ärmel. Wenn sie hier auseinandergerissen werden, wären sie vielleicht für Jahre getrennt. Krishan watet weiter, die Fäuste fest um die Plastikgriffe geschlossen, die sich anfühlen, als würden sie aus brennender Kohle bestehen, die Halsmuskeln angespannt, die Zähne zusammengebissen, geradeaus blickend, an nichts anderes denkend als den Bahnhof den Zug den Bahnhof den Zug, und wie jeder Schritt ihn näher heranbringt, näher ans Ziel und den Moment, wo er seine Last absetzen kann. Jetzt watschelt er und versucht, sich im gleichen Tempo wie der Menschenstrom zu bewegen. Parvati ist ihm näher als ein Schatten. Eine Frau in vollständiger Burka drängt sich vorbei. »Was tun Sie hier?«, zischt sie. »Ihnen haben wir das alles zu verdanken.« Krishan treibt die Frau mit seinen Koffern zurück, bevor ihre Worte sich ausbreiten und den Zorn der Menge auf sie lenken. Denn erst jetzt sieht er, was er bereits den ganzen Weg vor Augen hatte: Die Muslime verlassen Varanasi.

»Glaubst du, dass wir einen Zug bekommen werden?«, flüstert Parvati. Da versteht Krishan, dass die Welt nicht wegen ihrer romantischen Vorstellungen stehen bleiben wird, dass sich die Menge nicht teilen und sie passieren lassen wird, dass die Geschichte ihnen keine Gnade gewähren wird, weil sie sich lieben. Es ist keine verwegene, romantische Flucht. Sie handeln dumm, blind und selbstsüchtig. Er verliert fast den letzten Mut, als sich die Straße auf den Platz vor dem Bahnhof öffnet und sich der Strom der Flüchtlinge in die größte Menschenmasse ergießt, die er jemals gesehen hat, mehr als jede Zuschauermenge, die sich je im Sampurnanand-Stadion versammelt hat. Er kann die Sparren und das durchsichtige Diamantfaserdach der Bahnhofshalle und die offenen Glasportale vor den Ticketschaltern sehen. Er kann am Bahnsteig den Zug sehen, der unter den gelben Lampen glänzt, bereits bis zum Dach beladen, obwohl immer mehr Menschen hinaufsteigen. Er kann die Soldaten als Silhouetten vor der Dämmerung auf ihren Panzerfahrzeugen sehen. Aber er sieht keinen Weg durch die Menschen, durch all die vielen Menschen. Und die Koffer, diese blöden Koffer, ziehen ihn hinunter, durch den Beton in den Boden, sie verankern ihn wie Wurzeln.

Parvati zerrt an seinem Ärmel. »Hier entlang.«

Sie zerrt ihn zu den Toren der Halle. Am Rand des Platzes ist das Gedränge erträglicher, weil sich die Flüchtlinge instinktiv von den Soldaten fernhalten. Parvati kramt in ihrer perlenbesetzten Schultertasche. Sie holt einen Lippenstift heraus, duckt sich kurz, und als sie sich wieder aufrichtet, hat sie ein rotes Bindi auf der Stirn.

»Bitte, um Shivas willen um Shivas willen!«, ruft sie den Soldaten zu, die Hände zu einem flehenden Namaskar zusammengelegt. Die Augen der Jawans bleiben hinter ihren verspiegelten, regenbenezten Visieren unsichtbar. Sie ruft lauter: »Im Namen von Lord Shiva!« Jetzt drehen sich die ersten Leute zu ihr herum, um zu starren und zu murren. Sie drängeln, ihr Zorn wird entfacht. Parvati fleht die Soldaten an. »Im Namen von Lord Shiva.«

Dann hören die Soldaten sie. Sie sehen ihren nassen, schmutzigen Sari. Sie lesen ihr Bindi. Jawans steigen von den Fahrzeugen, stoßen die Läufe ihrer Waffen in Richtung der Frauen und Kinder, zwingen sie zum Zurückweichen, obwohl sie die Soldaten im Namen ihres Gottes verfluchen. Ein Jemadar zeigt mit einer schnellen Geste auf Parvati und Krishan. Die Soldaten teilen sich, die beiden schlüpfen hindurch, die Waffen gehen wieder in die Horizontale, eine abweisende Barriere. Ein weiblicher Offizier treibt Parvati und Krishan zwischen die geparkten Transporter, die sogar im Regen nach heißem Biodiesel riechen. Stimmen erheben sich zu einem Sturm des Zorns. Parvati blickt zurück und sieht Hände, die ein Gewehr eines Jawans packen. Es bildet sich ein kurzes, heftiges Kräftegleichgewicht, dann hebt der Soldat neben ihm gelassen die Waffe und schlägt dem Aufrührer den Kolben gegen den Schädel. Der Muslim geht ohne einen Schrei zu Boden, die Hände an den Kopf gedrückt. Die Menge übernimmt den Schrei, den der Mann nicht ausgestoßen hat, er braust wie eine Sturmböe heran. Dann fallen Schüsse, und alle auf dem Platz werfen sich auf die Knie.

»Kommen Sie«, sagt die Jemadar. »Niemand wurde verletzt. Ziehen Sie den Kopf ein. Was machen Sie überhaupt hier? Was ist nur in Sie gefahren? Ausgerechnet an diesem Tag?« Sie schnalzt tadelnd mit der Zunge. Parvati findet, dass Bharati-Soldaten nicht mit der Zunge schnalzen sollten.

»Meine Mutter«, sagt Parvati. »Ich muss zu ihr, sie ist eine alte Frau, sie braucht mich, sie hat sonst niemanden ...«

Die Jemadar bringt sie zum Seiteneingang der Bahnhofshalle. Parvati fühlt sich plötzlich schwer wie Blei. Die Menschen, die vielen Menschen. Sie werden niemals hindurchkommen. Sie kann nicht sehen, wo sich die Ticketschalter befinden. Aber Krishan knallt die Koffer auf den Boden, zieht die Griffe heraus, wuchtet sie auf die kleinen zerfransten Plastikräder und drängt sich entschlossen in die Menge.

Die Sonne steigt über das durchsichtige Dach. Züge treffen ein, mehr Menschen, als Parvati sich bislang vorstellen konnte, drängen sich auf die Bahnsteige. Für jede Zugladung aus Flüchtlingen, die unter dem Diamantfaserdach des Hauptbahnhofs von Varanasi abfährt, schiebt sich von vorn eine neue in die Vorhalle. Parvati und Krishan werden Schritt für Schritt zu den Ticketschaltern gedrängt. Parvati betrachtet die Flachbildschirme, die vom Dach hängen. Etwas ist mit Frühstück mit Bharti passiert. Statt der Sendung läuft eine Videoschleife mit Ashok Rana, den sie noch nie gemocht hat, immer und immer wieder. Er sitzt hinter irgendeinem Studioschreibtisch. Er wirkt müde und ängstlich. Erst beim sechsten Mal versteht Parvati schockiert, was er sagt. Seine Schwester ist tot. Sajida Rana ist tot. Jetzt werden die Straßen, die Schüsse, die Menge, die Hektik, die Muslime und die Soldaten, die in die Luft feuern, mit einem Mal substanziell, zu miteinander verbundenen Dingen. Unwissend und unschuldig sind sie fortgerannt, mit Koffern in den Händen, mitten durch die Todeszuckungen von Mutter Bharat. Schlagartig wird ihr klar, wie egoistisch sie ist.

»Krishan. Wir müssen umkehren. Ich kann nicht gehen. Es war falsch ...«

Krishans Gesicht zeigt Erschöpfung und Fassungslosigkeit. Dann öffnet sich vor ihnen eine Lücke, und der Weg zu den Ticketschaltern ist frei. Der Angestellte sieht Parvati an, nur Parvati, und in wenigen Augenblicken wird die Lücke wieder implodieren.

»Krishan, der Ticket-Wallah!«

Sie drängt ihn zum Schalter, und der Ticket-Wallah fragt ihn, wohin er fahren will, und er weiß es nicht, und sie sieht, dass der Angestellte ihn fortscheuchen will, der Nächste bitte.

»Bhubaneshwar!«, ruft sie. »Zwei einfache Fahrten nach Bhubaneshwar.« Sie war noch nie in Bhubaneshwar, hat nie die Grenze zum alten Orissa überquert, doch im Kopf hat sie das Bild von wehender orange- und scharlachroter Seide, die Rath Yatra des Jagannath. Dann druckt der Ticket-Wallah die Tickets aus, nennt ihnen die Zugnummer und die Abfahrtszeit und den Bahnsteig und die reservierten Sitzplätze und schiebt die Papiere durch die Trennscheibe.

Noch vier Stunden bis zum Zug nach Raipur, wo sie in Richtung Bhubaneshwar umsteigen werden. Das langsame Förderband aus Menschen bringt sie durch die Türen auf den Bahnsteig, wo sie sich auf ihr Gepäck setzen, zu müde für Worte, beide zu besorgt, dass der andere etwas sagen könnte, worauf sie ihre blauen Plastikkoffer im Stich lassen und zurück in ihr Leben und ihre Lügen flüchten, um das kleine Abenteuer zu beenden. Krishan kauft sich gedruckte Zeitungen an einem Stand — nicht viele, denn das, was Parvati darin liest, macht ihr Angst, sich gemeinsam mit all den Muslimen auf dem Bahnsteig aufzuhalten, trotz der Soldatengruppen, die hin und her patrouillieren. Sie spürt das Gewicht ihrer Blicke, hört ihr Gezische und Gemurmel. Mrs. Khan aus der Quartier-Gesellschaft, die beim Cricketspiel so sehr von der Politik des Krieges überzeugt war, könnte ebenfalls hier sein. Nein, nicht die Begum Khan, sie würde längst einhundert Kilometer weit weg in der Ersten Klasse in einem klimatisierten Waggon sitzen, sie würde in ihrem Wagen mit Chauffeur nach Süden brausen, sie würde in der Businessclass mit einem Airbus fliegen.

Regen tropft vom Rand des Bahnhofsdachs. Krishan zeigt Parvati die Schlagzeile, immer noch etwas feucht und verschmiert vom Drucker, die eine große Koalitionsregierung der Nationalen Rettung gemeinsam mit N. K. Jivanjees Shivaji-Partei verkündet, die für die Wiederherstellung der Ordnung und die Zurückschlagung der Invasoren sorgen wird. Das ist es, was Parvati auf den Bahnsteigen gespürt hat wie eine heranwehende Kaltluftfront. Der Feind hat die Oberhand gewonnen. Doch in Bharat ist kein Platz für den Islam.

Der Zug macht sich bemerkbar, bevor man ihn sehen kann. Das Rattern der Gleise, die tiefen Vibrationen, die durch die Stahlpfeiler, die das Bahnhofsdach stützen, zu den Schlafenden übertragen werden, das Rumpeln im schwarzen Asphalt. Die Menge erhebt sich, eine Familie nach der anderen, während der Zug in der Fluchtperspektive der Gleise größer wird, sich über die Weichen heranschlängelt und sich Bahnsteig 15 nähert. Die Anzeigetafeln leuchten auf: Raipur Express. Krishan hebt die Koffer auf, als die Menge nach vorn drängt, dem Zug entgegen. Ein Waggon nach dem anderen zieht vorbei, doch es sieht nicht danach aus, als wollte der Zug anhalten. Parvati drückt sich eng an Krishan. Nur einmal stolpern und stürzen, und im nächsten Moment würde man unter den Guillotinen der Räder sterben. Langsam kommt der große grüne Zug zum Stehen.

Plötzlich wird Parvati von Körpern bedrängt. Sie wird gegen Krishan geworfen, der heftig gegen die Wand des Waggons prallt. Gleichzeitig erhebt sich lautes Gebrüll im Hintergrund der Menge.

»Zu mir, zu mir!«, ruft Krishan. Die Türen öffnen sich zischend. Sofort sind sie mit Körpern verstopft. Arme stoßen, Oberkörper winden sich, Gepäck wird hineingequetscht. Die Woge treibt Parvati von der Treppe weg. Krishan kämpft gegen den Strom, klammert sich am Türrahmen fest, verzweifelt bemüht, nicht von ihr getrennt zu werden. Verängstigt streckt Parvati die Hände nach ihm aus. Frauen drängeln sich um sie, schreien sinnlose Flüche, Kinder strampeln sich vorbei. Der Bahnsteig besteht nur noch aus Köpfen, Köpfen und Händen, Köpfen und Händen und Bündeln, und immer mehr Menschen kommen über die Gleise von den anderen Bahnsteigen herangerannt, um den Zug zu erreichen, der sie von Varanasi wegbringen wird. Junge Männer treten auf Parvati, wenn sie versuchen, auf das Dach zu klettern, und immer noch streckt sie die Hand nach Krishan aus.

Dann ertönen die Schüsse, kurze ratternde Folgen automatischer Salven. Der Mob auf dem Bahnsteig geht schlagartig zu Boden, hält sich die Arme über die Köpfe. Geschrei, Gekreische und das schreckliche unstillbare Gejammer der Verletzten. Diesmal schießen die Soldaten nicht, um einzuschüchtern. Parvati spürt, wie sich Krishans Hand um ihre schließt. Wieder knallt es. Sie sieht Blitze, hört die Kugeln, die als Querschläger von den Pfeilern abprallen. Krishan stößt einen seltsamen leisen Seufzer aus, dann packt er sie fester und zieht sie hinauf in den Zug.

Auf der Rückreise sind Lisa Durnau und Thomas Lull die einzigen Passagiere in der Lounge. Sie fühlt sich groß und plastikartig und ungeschützt unter den unfreundlichen Leuchtstofflampen an, so dass Lisa vorschlägt, nach draußen zu gehen, um einen Blick auf den heiligen Fluss zu werfen. Heiliges Wasser ist für Lisa Durnau eine neuartige Vorstellung. In den Regenböen stehen sie nebeneinander am Geländer und betrachten die sandigen Ufer und Wassergewinnungsanlagen aus rostigem Blech. Etwas bricht durch die Oberfläche. Lisa fragt sich, ob es einer der blinden Flussdelfine ist, von denen sie auf dem Flug von Thiruvananthapuram nach hier gelesen hat. Delfin oder Leiche. Bestimmte Klassen von Hindus dürfen nicht verbrannt werden und werden der Gnade von Ganga Mata überantwortet.

Einmal hatte sie sich bei einer Konferenz mit Jet/Zug/Taxi-Lag in der Lobby in einen Ledersessel geworfen, neben einem afrikanischen Delegierten, der dort ebenfalls, aber völlig entspannt Platz genommen hatte. Sie nickte ihm zu, mit aufgerissenen Augen, fix und fertig, Puuuh. Er nickte zurück und klopfte mit den Händen auf die Armlehnen des Sessels. »Ich warte hier nur, bis meine Seele mich eingeholt hat.« Das sollte sie jetzt tun. Sich selbst einholen. Eine kleine Auszeit von der Abfolge der Ereignisse und Termine, ein Moment, der nicht mit irgendeiner Person oder einer Sache oder Problemen ausgefüllt ist, die ihre Aufmerksamkeit beanspruchen, im Scheinwerferlicht der Geschichte erstarrt. Nicht mehr reagieren, sich Zeit nehmen, einen Schritt nach dem anderen, die Seele aufholen lassen. Sie würde sehr gern eine Weile laufen. Da das nicht möglich ist, wenigstens etwas Zeit allein mit einem heiligen Fluss.

Sie sieht Thomas Lull an. In seiner Haltung am Geländer sieht sie vier Jahre, sieht sie Unsicherheit, sieht sie das Verblassen des Selbstvertrauens, die Abkühlung von Inbrunst und Energie. Wann hast du zum letzten Mal wegen irgendetwas vor Leidenschaft gebrannt? Sie sieht einen Mann mittleren Alters, der jeden Tag dem Tod ins Auge blickt. Sie sieht fast nichts mehr von dem Mann, mit dem sie schmutzigen, erwachsenen Sex in einer Dusche des Oxford College hatte. Das ist definitiv vorbei, denkt sie und hat Mitleid mit ihm. Er sieht so müde aus.

»Sag mir, L. Durnau, siehst du sie noch manchmal? Du weißt schon, Jen.«

»Gelegentlich, beim Einkaufen, bei Spielen der Jayhawks. Sie hat wieder jemanden.«

»Ich dachte, schon vorher. Du weißt. Genauso wie man weiß, wenn etwas in der Luft liegt. Chemie oder so. Sieht sie glücklich aus?«

»Normal glücklich.« Lisa ahnt die unvermeidliche nächste Frage. »Kein Kinderwagen.«

Er blickt auf das vorbeiziehende Ufer, die weißen Tempel-Shikharas, die sich dunstig vor den Regenwolken hinter der dunklen Linie der Bäume abzeichnen. Büffel wälzen sich im Wasser und heben die Köpfe aus der sich ausbreitenden Heckwelle des Tragflügelboots.

»Ich weiß, warum Jean-Yves und Anjali es getan haben, warum sie ihr das Foto hinterließen. Ich hatte mich gefragt, warum sie ein Loch mitten ins Herz der Sache stanzen sollten. Anjali konnte keine Kinder bekommen, weißt du.«

»Kij war ihre Ersatztochter.«

»Sie fanden, dass sie es verdient hatte, die Wahrheit zu erfahren. Lieber herausfinden, was sie wirklich ist, als ein Leben voller Illusionen führen. Mensch sein heißt desillusioniert sein.«

»Aber das ist nicht deine Überzeugung.«

»Ich habe nichts mit deinem strengen calvinistischen Gebaren zu tun. Ich bin mit Illusionen zufrieden. Ich glaube nicht, dass ich den Mut oder die Gefühllosigkeit gehabt hätte, ihr so etwas anzutun.«

Aber auch du bist fortgegangen, denkt Lisa Durnau. Auch du hast deine Freunde, deine Karriere, deinen Ruf, deine Beziehungen aufgegeben. Für dich war es leicht, dich umzudrehen und wegzugehen und nie mehr zurückzublicken.

»Aber sie hat sich auf die Suche nach dir gemacht«, sagt Lisa Durnau.

»Ich kann ihr keine Antworten geben«, sagt Thomas Lull. »Warum hast du Antworten? Du wirst geboren, ohne irgendeinen Scheiß zu wissen, du gehst durchs Leben, ohne irgendeinen Scheiß zu wissen, und dann stirbst du, ohne jemals irgeneinen Scheiß zu wissen. Das ist das ganze Geheimnis. Ich bin kein Guru, von niemandem, nicht für dich, nicht für die NASA, nicht für irgendeine Kaih. Weißt du was? Bei all den Artikeln und Fernsehauftritten und Konferenzen bin ich nur spontanen Eingebungen gefolgt. Mehr nicht. Alterre? Auch nur irgendwas, das mir eines Tages einfach so in den Kopf gekommen ist.«

Lisa Durna packt das Geländer mit beiden Händen. »Lull, Alterre ist untergegangen.«

Sie weiß nicht, was sein Gesicht ausdrückt, genauso wenig wie seine Haltung. Sie versucht eine Reaktion zu provozieren. »Alles wurde ausgelöscht, Lull. Alle elf Millionen Server sind abgestürzt. Ein vollständiges Massenaussterben.«

Thomas Lull schüttelt den Kopf. Thomas Lull runzelt die Stirn. Dann sieht Lisa einen Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie selbst sehr gut kennt: die Verblüffung, das Erstaunen, die Erleuchtung einer Idee.

»Was stand die ganze Zeit hinter Alterre?«, fragt er.

»Dass eine simulierte Umwelt ...«

»Irgendwann wahre Intelligenz hervorbringen könnte.« Die Worte stürzen aus ihm hervor. »Was wäre, wenn wir mehr Erfolg hatten, als wir jemals hoffen konnten? Was wäre, wenn gar keine intelligenten Wesen in Alterre entstanden sind, sondern das Ganze lebendig wurde ... ein Bewusstsein entwickelte ... Kalki ist der zehnte Avatar von Vishnu. Er steht oben an der Spitze der evolutionären Pyramide von Alterre, der Bewahrer und Erhalter allen Lebens, alle Dinge stammen von ihm ab und sind von seiner Substanz. Dann wagt er sich hinaus und findet da draußen eine andere Welt voller Leben. Sie ist kein Teil seiner Welt, sondern separat, unverbunden, völlig fremdartig. Ist sie eine Bedrohung, ist sie ein Segen, ist sie etwas absolut anderes? Er muss mehr darüber wissen. Er muss Erfahrungen sammeln.«

»Aber Alterre ist abgestürzt.«

Er kaut es auf der Unterlippe durch und wird still und düster, während er auf den großen Fluss im Regen hinausblickt. Lisa Durnau versucht, die Unmöglichkeiten zu zählen, die er verarbeiten muss. Nach einer Weile streckt er eine Hand aus. »Gib mir das Ding. Ich muss Kij finden. Wenn Vishnu fort ist, hat sie keine Verbindung zum Netz mehr. Ihr ganzes Leben war eine Illusion, und nun haben selbst die Götter sie im Stich gelassen. Was wird sie denken oder fühlen?«

Lisa zieht die Lade aus der fleischweichen Ledertasche und reicht sie Lull. Sie gibt die tiefen Glockentöne einer Tonleiter von sich. Thomas Lull hätte sie vor Überraschung beinahe fallen lassen. Lisa fängt das Gerät auf dem Weg in den Ganga und zum Moksha ab. In ihrer Wahrnehmung erscheint eine Stimme und ein Gesicht: Daley Suarez-Martin.

»Etwas ist am Tabernakel geschehen. Man hat von ihm ein weiteres Signal empfangen.« Die Lade zeigt ein viertes Gesicht, einen Mann, einen Bharati, so viel ist selbst in der schlechten Auflösung des zellularen Automaten offensichtlich. Ein dünnknochiger, verhärmter Mann. Lisa Durnau kann den Kragen einer Nehru-Anzugjacke erkennen. Sie findet, dass er einen unglaublich traurigen Gesichtsausdruck hat. Eine Ident-Zeile ist eingeblendet.

»Sie sollten Ihre Freundin möglichst schnell finden«, sagt sie. »Das ist Nandha. Er ist ein Krishna Cop.«

Im grauen Licht flieht sie aus dem Haus. Der Regen fällt auf Scindia Basti. Die bloßen Füße der Frauen, die von den Pumpen Wasser holen, haben die Gassen in übelriechende Schlammstreifen verwandelt. Die Kanalisation fließt über. Auch die Männer sind in der Dämmerung unterwegs, um zu kaufen und zu verkaufen, um sich vielleicht anheuern zu lassen, einen Graben für ein Kabel anzulegen, um vielleicht eine Tasse Chai zu trinken, um vielleicht nachzusehen, ob noch irgendetwas von der Stadt übrig ist. Sie starren das Mädchen mit der Vishnu-Tilaka an, wie sie sich an ihnen vorbeidrängt, rennend, als wäre ihr Kali auf den Fersen.

Augen in der Dunkelheit im Haus neben dem linken Fuß des Strommasts. »Wir sind arme Leute, wir haben nichts, was Sie vielleicht von uns haben wollen, bitte lassen Sie uns in Frieden.« Dann das Kratzen und Aufflammen eines Streichholzes und das Licht, das durch die Dunkelheit wanderte bis zum Docht der kleinen Diya aus Ton. Die erblühende Lichtknospe erhellte den Raum mit dem Lehmboden. Dann die ängstlichen Schreie.

Fahrzeuge brüllen sie an, Metall ragt gewaltig auf, zieht sich wieder in den Regen zurück. Donnernde Stimmen, Körper, die gegen sie drängen, scheinbar von Wolkengröße. Ein Fluss aus Bewegungen und alkoholbetriebenen Gefahren. Sie ist auf der Straße und weiß nicht, wie. Die Gewissheiten und die göttliche Führung durch die Nacht haben sich im Licht aufgelöst. Zum ersten Mal gibt es keine klare Trennung zwischen Gott und Mensch mehr. Sie ist sich nicht sicher, ob sie den Rückweg zum Hotel findet.

Helft mir.

Die Skyline wimmelt von chaotischen Moirémustern, in denen Götter verschmelzen, verwischen, zerfließen und zu seltsamen neuen Konfigurationen heranwachsen.

»Was willst du in diesem Haus?« Sie stößt einen Schrei aus und drückt die Hände auf die Ohren, als die erinnerten Stimmen wieder in ihrem Schädel sprechen. Die Gesichter der Frauen im Schein der Öllampe, eins alt, eins jünger, eins am jüngsten. Die alte Frau stößt einen Klagelaut aus, als würde etwas Langes und Empfindliches in ihr zerreißen.

»Was machst du hier? Du gehörst nicht hierher!« Eine Hand, erhoben in der Mudra gegen den bösen Blick. Die Augen der Jüngsten ängstlich und tränenfeucht aufgerissen. »Verlasse dieses Haus, hier ist kein Platz für dich. Lasst euch nicht täuschen. Seht ihr, seht ihr sie? Seht ihr, was sie getan haben? Oh, das ist ein böses Wesen, ein Djinn, ein Dämon!« Die alte Frau schaukelte vor und zurück, mit geschlossenen Augen, stöhnend. »Fort von hier! Dies ist nicht dein Heim, du bist nicht unsere Schwester!«

Ungeäußerte Bitten. Unausgesprochene Antworten. Ungestellte Fragen. Und die alte Frau, die alte Frau, ihre Mutter, die Hand vor den Augen, als würde Kij sie blenden, als würde sie mit einem Feuer brennen, in das man nicht blicken kann. Auf der Straße, unter dem Monsunregen schreit sie auf, ein langes, helles Wehklagen, das sich ihrem Herzen entreißt. Jetzt versteht sie.

Furcht: Sie ist weiß, ohne Oberfläche oder Textur oder sonst etwas, worauf man die Hand legen könnte, um sie zu bewegen oder zu bearbeiten, und sie fühlt sich wie etwas Verwesendes tief in einem Menschen an, und man möchte es zusammenrollen und bitten zu verschwinden, wie eine Regenwolke vorbeizuziehen, aber das wird sie nie tun.

Der Verlust beißt und zerrt. Wie Haken, die in jedem Teil des Körpers stecken, Teile, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass sie Verlust spüren können, wie Daumen und Lippen, und die Haken sind an Schnüren und Erinnerungen befestigt, so dass die leiseste Bewegung, der leiseste Hauch von Vergangenheit an diesen dünnen Fäden reißt. Rot ist die Farbe des Verlusts, und er riecht wie verbrannte Rosen.

Verlassenheit, die wie Übelkeit in der Kehle schmeckt, die jeden Moment hochkommen kann. Sie fühlt sich wie Schwindel an, als würde man am Rand einer hohen Kaimauer über einem Meer laufen, das so tief unter einem flimmert und sich bewegt, dass man gar nicht genau weiß, wo es ist. Aber sie ist braun, braun, die Verlassenheit ist ein fades stumpfes Braun.

Verzweiflung: ein universelles Hintergrundrauschen, zwischen Summen, Dröhnen und Zischen, ein erstickendes, verwaschenes, schmutziges Blassgrau. Universeller Regen. Universelle Nachgiebigkeit, in die man hineinstoßen kann, so weit die Gliedmaßen reichen, ohne etwas zu berühren. Universelle Isolation. Das ist Verzweiflung.

Gelb ist die Farbe der Unsicherheit, kränkliches Gelb, Gelb wie Galle, Gelb wie Wahnsinn, Gelb wie Blüten, die sich um einen herum öffnen und sich im Kreis drehen, so dass man nicht entscheiden kann, welche die Beste ist, welche die Vollkommenste ist, welche den herrlichsten, süßesten Duft hat, Gelb wie Säure, die alles zersetzt, was man denkt und weiß, bis man auf einem verrotteten Skelett aus Rost steht und man gleichzeitig kleiner als das winzigste gelbe Pollenkorn und unermesslich groß, größer als die größten Städte ist.

Der Schock ist ein dumpfer Druck, der versucht, einem das Gehirn im Schädel zu zerquetschen.

Das Gefühl, verraten worden zu sein, ist leuchtend blau und unendlich kalt.

Das Unverständnis fühlt sich wie ein Haar auf der Zunge an.

Und der Zorn ist schwer wie ein Hammer, aber so leicht, dass er mit seinen Flügeln fliegen kann, und er ist der dunkelste Rost.

Das bedeutet es, ein Mensch zu sein.

»Warum habt ihr es mir nicht gesagt?«, schreit sie die Götter an, während die Straße um sie herum aufbricht und Regen auf ihr emporgerecktes Gesicht fällt.

Und die Götter antworten: Wir wussten es nicht. Das hätten wir nie gedacht. Und erneut: Jetzt verstehen wir. Dann erlöschen sie einer nach dem anderen wie Diyas im Regen.

Shiv kann den Geruch nicht einordnen. Er ist süßlich, er ist moschusartig, er erinnert ihn an Dinge, die tief in seinem Gedächtnis vergraben sind, und er kommt vom Datenraja Ramanandacharya. Er ist ein fettes Arschloch, aber das sind sie alle. Fett und zitternd. Jetzt sieht er in seinen wallenden Gewändern gar nicht mehr so cool aus. Ganz besonders hasst Shiv den altmodischen Schnurrbart im Mughal-Stil. Er würde ihn gern abschneiden lassen, aber Yogendra muss die hakenförmige Klinge des großen Messers an die Lenden von Ramanandacharya halten. Eine kleine Bewegung aus dem Handgelenk, und die Oberschenkelarterie ist durchtrennt. Shiv kennt die Anatomie. Der Raja wird in weniger als vier Minuten verblutet sein.

Sie gehen über das nasse Kopfsteinpflaster von Hastings’ Pavillon zum Tempel hinauf, einander so nahe wie Liebende oder Betrunkene.

»Wie viele haben Sie davon?«, flüstert Shiv und stupst Ramanandacharya gegen die Schulter. »Da drinnen, wie viele Frauen, hm?«

»Vierzig«, sagt Ramanandacharya. Shiv schlägt ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Er weiß, dass es an den Pillen liegt, dass sie ihn ungeduldig machen, mutiger, als ein kluger Mann sein sollte, aber er mag das Gefühl.

»Vierzig Frauen? Wo haben Sie die alle her?« Stups.

»Von überall. Philippinen, Thailand, Russland. Wo sie billig sind?« Wieder ein Rückhandschlag. Ramanandacharya krümmt sich. Sie kommen am Wachroboter vorbei, der sich auf den Stahlbeinen niedergehockt hat.

»Sind auch ein paar gute Bharati-Frauen dabei?«

»Ein paar aus dem Dorf ... ah!« Shiv schlägt fester zu, Ramanandacharya reibt sich das Ohr. Shiv nimmt ein Stück der reichlich mit Gold bestickten Seide zwischen die Finger, spürt das feine Gewebe, die hautartige Glätte, die Leichtigkeit.

»Mögen die Weiber das? Den ganzen Mughal-Scheiß?« Er schubst Ramanandacharya mit beiden Händen. Der Datenraja stolpert auf einer Stufe. Yogendra zieht schnell das Messer zurück. »Warum konnten Sie kein Hindu sein, hm?«

Ramanandacharya zuckt mit den Schultern.

»Das Mughal-Fort ...«, versucht er zu erklären. Shiv schlägt ihn noch einmal.

»Mughal-Fort-Ficker!« Er nähert sich seinem Ohr. »Und wie oft ... Sie wissen schon. Jede Nacht?«

»Auch am Mittag ...« Der Satz geht in einen schrillen Schrei über, als Shiv dem Datenraja einen heftigen Schlag gegen den Kopf verpasst.

»Dreckiges Chuutya-Arschloch!« Jetzt weiß er, was es für ein Geruch ist. Dieser süßliche, säuerliche, dunkle Moschusgeruch an Ramanandacharyas Gewändern und Schmuck: Sex.

»Uh«, sagt Yogendra.

Der Schwarm der Roboter hat den Orbit um den Lodi-Tempel verlassen und fließt über den Hof auf das Trio zu wie ein schwarzer Pfeil aus Öl. Plastikfüße trippeln auf dem Kopfsteinpflaster. Die feuchten Panzer glänzen schwärzlich. Ramanandacharya schnalzt mit der Zunge und seufzt und dreht den Ring am linken kleinen Finger. Der Schwarm teilt sich wie das Meer in dieser christlichen Geschichte, die freundliche amerikanische Missionare guten jungen Frauen in den Kopf setzen, um aus ihnen unverheiratbare Wesen zu machen, die nie einen anständigen Ehemann bekommen werden.

»Sie hätten Ihre Füße in zwanzig Sekunden bis auf die Knochen abgenagt«, sagt Ramanandacharya.

»Halt’s Maul, Fettsack.« Shiv schlägt ihn wieder, weil die Skarabäen ihm Angst eingejagt haben. Ramanandacharya macht einen Schritt, dann einen weiteren. Der Ring aus Robotern folgt ihm fließend. Yogendra streift mit der Messerspitze Ramanandacharyas Leistengegend.

Der Säulengang des Tempels ist dieselbe trostlose, tropfende Hülle aus graffitiertem Gips und hingekritzelter religiöser Volkskunst, die Shiv von der Festungsmauer aus gesehen hat, aber nun aktiviert Ramanandacharyas Kirlian-Signatur die Staffeln der blauen Flutlichter, und Shiv bemerkt, dass er den Atem anhält. Der Suddhavasa im Innern ist ein durchsichtiger Plastikwürfel, dessen Kanten unter dem grellen blauen Licht leuchten. Die Skarabäen kehren wieder in ihren Orbit zurück. Ramanandacharya streckt eine Hand zur durchscheinenden Plastikyoni der Luftschleusentür. Ein Ziffernfeld schält sich aus der fließenden Oberfläche. Ramanandacharya tritt vor, um den Kode einzugeben; das Messer blitzt auf, Ramanandacharya stößt einen Schrei aus, greift nach seiner Hand. Blut quillt aus einem feinen Schnitt an seinem rechten Zeigefinger.

»Du machst es.« Yogendra zeigt mit der Messerklinge auf Shiv.

»Was?«

»Er könnte mit Tricks oder Fallen arbeiten, Sachen, von denen wir nichts wissen. Er denkt, wenn wir es haben, wird er sowieso sterben. Du gibst den Kode ein.«

Ramanandacharya reißt die Augen auf, als Shiv den Palmer hervorzieht und das Passwort für die Tür eintippt.

»Woher haben Sie das? Von Dane? Wo ist Dane?«

»Im Krankenhaus«, sagt Shiv. »Dem hat es die Sprache verschlagen.«

Yogendra kichert. Das Ziffernfeld versinkt wieder in der Fläche aus intelligentem Kunststoff (Shiv findet das cool, würde es aber niemals vor einem Chuutya wie Ramanandacharya zugeben), und mit einem völlig undramatischen Klicken öffnet sich die Tür.

Das Dechiffriersystem ist eine Garbhagriha aus leuchtendem Plastik, klein genug, um Shiv juckende Klaustrophobie zu bereiten.

»Wo ist der Computer?«, fragt Shiv.

»Das ganze Ding ist der Computer«, sagt Ramanandacharya, und mit einem Wink macht er die Wände durchsichtig. Sie sind mit Proteinschaltungen vollgepackt, eng verwoben wie Varanasi-Seide, wie Nervenfasern. Flüssigkeit umströmt das Netz aus künstlichen Neuronen. Shiv wird sich bewusst, dass er in seiner nassen Cargohose zittert.

»Warum ist es hier drinnen so scheißkalt?«

»Mein Hauptquantenprozessor benötigt eine konstant niedrige Temperatur.«

»Dein was?«

Ramanandacharya streicht mit den Händen über einen geschlitzten Zylinderkopf aus Titan, der aus der ansonsten glatten Plastikwand ragt.

»Er träumt in Kodes«, sagt er. Shiv beugt sich vor, um die Inschrift auf der Metallscheibe zu lesen. Sir William Gates.

»Was ist das?«

»Eine unsterbliche Seele. Zumindest glaubte sie das von sich. Hochgeladene Erinnerungen, ein Bodhisoft. Die Amerikaner glauben, dass sie so den Tod besiegen können. Eines der größten Genies seiner Generation — ihm haben wir es zu verdanken, dass es all das hier gibt. Jetzt arbeitet er für mich.«

»Geben Sie mir einfach diese Datei und überspielen Sie sie hierauf.« Shiv schlägt Ramanandacharya mit seinem Palmer gegen den Kopf.

»Oh, nicht den Tabernakel-Schlüssel, dann wäre ich ein toter Mann, die CIA würde mich umbringen«, fleht Ramanandacharya. Doch dann schließt er den idiotisch plappernden Mund, lässt ein weiteres Tastenfeld im Plastik entstehen und gibt eine kurze Zeichenfolge ein. Shiv denkt über die gefrorene Seele nach. Er hat davon gelesen, wie sie in Armreifen aus supraleitender Keramik zirkulieren. Ein ganzes Leben: alle sexuellen Erlebnisse, die Bücher, die Musik und die Zeitschriften, die Freunde und Abendessen und Kaffeepausen, die Geliebten und Feinde, die Augenblicke, in denen man die Fäuste in die Luft reckt und Jai! ruft, und die, wenn man jeden töten möchte, alles reduziert auf etwas, das man einer Frau in einer Bar schenkt, damit sie es am Handgelenk trägt.

»Eine Frage noch«, sagt Ramanandacharya, als er Shiv den Palmer mit der kopierten Datei zurückgibt. »Wozu brauchen Sie das?«

»N. K. Jivanjee will mit den Leuten aus dem Weltraum sprechen«, sagt Shiv und steckt den Palmer in eine seiner vielen Hosentaschen. »Jetzt raus hier.«

Der Trick mit dem Fingerring lässt die Roboter wieder zurückweichen. Shiv erkennt in Ramanandacharyas Gesicht, dass er glaubt, dass sie ihn freilassen werden, doch dann ändert sich sein Ausdruck, als Yogendra ihn mit der Waffe anstupst, damit er weitergeht. Es ist kein hübscher oder erbaulicher Anblick, einen fetten Kerl zu beobachten, der sich vor Angst nassmacht. Shiv verpasst dem Datenraja einen weiteren Schlag.

»Könnten Sie bitte damit aufhören? Das nervt!«, regt sich Ramanandacharya auf.

Yogendra zwingt ihn, sie durch das Touristentor zum ehemaligen Lager der indischen Armee zurückzubringen. Sie zwängen sich durch die Lücke im Wellblechzaun. Shiv steigt auf sein Bike und startet den guten, zuverlässigen kleinen japanischen Motor. Er schaut sich nach Yogendra um und sieht, dass er über dem knienden Datenraja steht. Er hat Ramanandacharya den Lauf der Stechkin in den Mund gesteckt. Der Mann leckt daran. Er fährt mit der Zunge über die Mündung, leckt und schleckt liebevoll. Yogendra grinst.

»Lass ihn in Ruhe!«

Yogendra runzelt die Stirn, zutiefst und aufrichtig verärgert. »Warum? Wir sind mit ihm fertig.«

»Lass ihn. Wir müssen verschwinden.«

»Er könnte Leute anrufen, die uns verfolgen.«

»Lass ihn!«

Yogendra rührt sich nicht von der Stelle.

»Scheiße!« Shiv steigt ab, zieht eine Kette aus Taserminen aus der Tasche und ordnet sie im Kreis um Ramanandacharya an. »Jetzt lass ihn in Ruhe.«

Yogendra zuckt mit den Schultern und schiebt die Waffe in eine Hosentasche. Shiv drückt auf den Knopf, der die Minen scharf macht.

»Danke danke vielen vielen Dank«, wimmert Ramanandacharya.

»Lassen Sie das, ich hasse es, wenn jemand bettelt«, sagt Shiv. »Bewahren Sie sich einen Rest von Würde, Mann.« Der Nawab von Scheiß-Chunar. Wollen doch mal sehen, ob eine von deinen vierzig Frauen jetzt noch mit dir schläft. Shiv dreht am Gashebel und lässt das japanische Motorrad davonschießen, dicht gefolgt von Yogendra. Die Aktion ist beendet, jede Heimlichkeit oder Vorsicht ist überflüssig geworden. Die Maschinen dröhnen offen und sichtbar durch die Stadt, am leuchtenden Ei des Datenzentrums und schließlich an den letzten Lichtern von Chunar vorbei. Erst danach kommt der Jubel. Es ist geschafft. Sie haben den Kode bekommen, und sie kehren unversehrt zurück.

Ein Saum aus regenschwangerer Dämmerung erhellt den östlichen Horizont. Wenn sich der Vorhang zur Gänze geöffnet hat, so wird Shiv klar, wird er wieder in seiner Stadt sein, und er wird seine Belohnung erhalten, und er wird all seine Schulden bezahlen, und er wird frei sein. Er wird ein Raja sein, und nie wieder wird jemand es wagen, ihm etwas zu verweigern. Er stößt einen Freudenschrei aus, lässt sein Motorrad wie ein Verrückter auf der Straße hin und her schlenkern, von der einen Seite zur anderen, jauchzend und krächzend und schreiend, wilder als die wilden Schakale da draußen in der Nacht. Er fährt bewusst nahe an den weichen Straßenrand heran, spielt mit dem aufgerissenen Asphalt, dem tückischen Sandstreifen. Nichts kann Shiv Faraji etwas anhaben.

Als er wieder auf die Straße schwenkt, hört er es, spürt er es durch die Stoßdämpfer des Motorrads. Rennende Füße in der ländlichen Vordämmerung. Mit Titan beschuht, immer näher kommend, schneller, als etwas auf Beinen rennen können sollte. Shiv blickt sich um. Der Himmel ist bereits hell genug, um den Verfolger erkennen zu können. Er hält den ausbalancierten Körper dicht am Boden. Er rennt auf zwei starken Beinen wie ein monströser Dämonenvogel, der ihnen hinterhergeschickt wurde. Er holt langsam, aber stetig auf. Ein Blick auf den Tacho verrät Shiv, dass er mindestens achtzig Sachen draufhat.

Yogendra gibt eine Sekunde nach Shiv Gas, aber wenn sie die Bikes auf dieser zerbröckelnden, schmierigen Landstraße auf Höchstgeschwindigkeit bringen, würde das einen genauso sicheren Tod bedeuten wie das Ding hinter ihnen. Shiv beugt sich tiefer über das Lenkrad, um ein möglichst kleines Ziel für die esoterische Feuerkraft abzugeben, mit der die Maschine ausgestattet sein dürfte. Bald muss die Abzweigung kommen. Über dem Dröhnen des Yokohama-Motors kann er das metallische Stampfen hören. Der Baum, die Mineralwasser-Reklame, hier ist es, bestimmt. Er ist so sehr damit beschäftigt, sich umzublicken, dass er beinahe verpasst hätte, wie Yogendra mit dem Motorrad den Asphalt verlässt und auf den Feldweg abbiegt. Shiv gerät in Panik und bremst, übersteuert, streckt einen Fuß aus, wäre fast auf der Landstraße ausgerutscht, bevor er das Motorrad auf den Sandweg lenken kann.

Er hat es gesehen. Dort hinter ihm, die Straße entlang, rennend, grau im Indigoblau, als würde es niemals aufgeben, niemals ermüden, unablässig hinter ihnen herrennen, um die ganze Welt herum.

Die Dal-Büsche weichen festgedrücktem, von Regentropfen übersätem Sand. Die Reifen schleudern Erde in die Luft, und da ist das Boot, wo sie es zurückgelassen haben, mit dem Anker im Sandufer, von der Strömung herumgedreht, tief im Wasser vom schweren Kielraum, und daneben steht ein Brahmane, hüfttief im Fluss, den Stoff über die Schulter geworfen, während er Wasser aus den aneinandergelegten Händen vergießt und Mutter Ganga den Morgengruß darbringt. Shiv bringt das Bike schlitternd zum Stehen, springt ins Wasser, versucht die noch heiße Maschine ins Boot zu heben.

»Zurücklassen zurücklassen!«, brüllt Yogendra.

Der Brahmane singt.

»Damit können sie unsere Spur verfolgen«, schreit Shiv zurück.

»Mit den Minen können sie unsere Spur verfolgen.« Yogendra fährt mit seinem Bike in den Fluss, es kippt platschend um und versinkt langsam im Treibsand. Er löst den Anker, als Shiv sich ins Boot wirft. Es schaukelt auf unangenehme Weise, und eine verdammt große Menge Wasser hat sich unter den Sitzbänken gesammelt, aber jetzt kann er nicht mehr nasser werden, sondern höchstens sehr viel toter. Der Roboter taucht über dem Dünenkamm auf und reckt sich zu voller Größe empor. Er ist ein böser Rakshasa auf der Jagd, teils Vogel, teils Spinne; zwischen den Mandibeln entfaltet er Fühler und Gliedmaßen und zwei Maschinengewehre.

Der Brahmane starrt das Ding an.

Yogendra stürzt zum Motor. Einmal ziehen, zweimal ziehen. An der sandigen Böschung steigt der Jäger einen Schritt hinunter, um besser zielen zu können. Dreimal ziehen. Der Motor springt an. Das Boot rast davon. Ramanandacharyas Maschine macht einen Satz und landet bis zu den Kniegelenken im Wasser. Der Kopf richtet sich auf das Ziel aus. Yogendra steuert das Boot zur Mitte des Stroms. Der Roboter watet ihnen hinterher. Dann erinnert sich Shiv an Anands clevere kleine Granate, die er in einer seiner Taschen hat. Kugeln lassen das Wasser hinter Yogendra im Heck explodieren. Er duckt sich. Der Brahmane am Ufer geht in die Hocke, hält sich die Hände über den Kopf. Die Granate fliegt in einem anmutigen, glitzernden Bogen durch die Luft. Sie fällt platschend ins Wasser. Nichts ist zu sehen, nichts ist zu hören, nur ein winziges Knacken, als sich die Kondensatoren entladen. Der Roboter erstarrt. Die Waffenläufe richten sich himmelwärts, zerreißen die Dämmerung mit Kugeln. Seine Knie knicken ein, und er geht unter wie ein Gunda mit Bauchschuss. Die Mandibeln und Greifer spreizen sich, und er kippt vornüber in den Schlick. Der weiche silbrige Treibsand hat ihn im nächsten Moment verschluckt.

Shiv steht im Boot. Er zeigt auf den erledigten Roboter. Er lacht, laut, hilflos und freudig. Er kann nicht mehr aufhören. Tränen laufen ihm übers Gesicht und vermischen sich mit dem Regen. Er kann kaum noch atmen. Er muss sich setzen. Es schmerzt, es schmerzt.

»Hätte ihn doch kaltmachen sollen«, murmelt Yogendra an der Pinne. Shiv winkt ab. Nichts kann ihn aufhalten oder umstimmen. Das Lachen geht in Freude über, die simple sengende Ekstase, dass er am Leben ist, dass es jetzt vorbei ist. Er streift den klobigen Bodhisoft ab, legt sich rücklings auf die Bank, lässt sich den Regen aufs Gesicht fallen und blickt hinauf zu den purpurroten Wolkenstreifen, mit denen sich ein neuer Tag über seinem Varanasi entfaltet, ein neuer Tag für Shiv. Raja Shiv. Maha Raja. Raja der Rajas. Vielleicht wird er wieder für die Naths arbeiten, vielleicht wird sein Name ihm jetzt viele Türen öffnen. Vielleicht macht er sein eigenes Geschäft auf, aber keine Körperteile, kein Fleisch, weil Fleisch verräterisch ist. Vielleicht geht er zu diesem Lavda Anand und macht ihm ein Angebot.

Er kann wieder Pläne schmieden. Und er kann Tagetes riechen.

Ein kleines Geräusch, eine kleine Bewegung des Boots.

Das Messer gleitet so mühelos hinein, so schmal und sauber, so scharf und rein, dass Shiv gar nicht weiß, wie er dem Schock Ausdruck verleihen soll. Es ist exquisit. Es ist unaussprechlich. Die Klinge sticht ungehindert durch Haut, Muskeln, Blutgefäße, die gezahnte Schneide kratzt an einer Rippe entlang, bis die hakenförmige Spitze in seiner Lunge zur Ruhe kommt. Es gibt keinen Schmerz, nur die Empfindung von perfekter Schärfe — und von Blut, das in seiner punktierten Lunge aufschäumt. Die Klinge zuckt in ihm mit dem Pulsschlag seines Körpers. Shiv versucht zu sprechen. Die Laute knacken und gurgeln, ohne Worte zu bilden. Dann zieht Yogendra das Messer heraus, und der Schmerz kreischt aus Shiv heraus, als der Haken an seiner Lunge zerrt. Er dreht sich zu Yogendra um, die Hände erhoben, um den nächsten Hieb abzuwehren. Das Messer stößt erneut vor, und Shiv fängt es zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand auf. Die Klinge schneidet tief hinein, bis zum Gelenk, aber er hält es fest. Er hält es fest. Nun kann er das hektische Schnaufen zweier Männer hören, die in einen Kampf um Leben und Tod verwickelt sind. Sie schlagen in verzweifelter Stille aufeinander ein, während das Boot wankt. Mit der freien Hand will Yogendra nach dem Palmer greifen. Shiv schwingt den Arm, versucht Yogendra zu packen, irgendetwas. Er bekommt die Perlenkette um den Hals des Jungen zu fassen, zieht daran, hält sich daran fest, um nicht zu stürzen. Yogendra reißt das Messer aus Shivs Hand, sägt mit der Schneide am Knochen. Shiv stößt ein helles, klagendes Wimmern aus, das in ein blutiges, ertränktes Gurgeln übergeht. Sein Atem umflattert den Rand der Wunde. Dann sieht Shiv die Abscheu, die Verachtung, die animalische Arroganz und Geringschätzung, die das graue Licht in Yogendras Gesicht offenbaren, und er weiß, dass der Junge schon immer all das für ihn empfunden hat, dass diese Klinge von Anfang an hatte kommen müssen. Er taumelt zurück. Die Kette reißt. Perlen springen und rollen. Shiv rutscht auf den Perlen aus, verliert das Gleichgewicht, rudert mit den Armen, geht über Bord.

Das Wasser nimmt ihn sauber und vollständig auf. Das Dröhnen des Verkehrs, das durch die Betonpfeiler übertragen wird, macht ihn taub. Er ist taub, blind, gefühllos, gewichtslos. Shiv kämpft, schlägt um sich. Er weiß nicht, wo oben ist, wo Luft und Licht ist. Der Bodhisoft zieht ihn hinunter. Er versucht ihn abzustreifen, aber die Gurtbänder verwickeln sich und locken. Blau. Er ist in Blau eingebettet. Wohin er auch schaut, überall ist Blau, in jeder Richtung, auf ewig. Und Schwarz, sein Blut, das sich wie Rauch emporrankt. Das Blut, folge dem Blut. Aber er hat nicht genug Kraft, und die Luft blubbert aus dem Loch in seinem Rücken. Er strampelt mit den Beinen, aber er bewegt sich nicht von der Stelle, er stößt, aber er rührt sich nicht. Shiv kämpft gegen das Wasser, versinkt tiefer ins Blau, von seinem Waffenarsenal hinuntergezogen. Seine Lungen brennen. In ihnen ist nichts mehr außer Gift, die Asche seines Körpers, aber er kann den Mund nicht öffnen, um mit einem letzten, lautlosen Schrei Wasser einzuatmen, obwohl er weiß, dass er tot ist. Sein Kopf pocht, seine Augäpfel drohen zu platzen, er sieht seinen halb abgetrennten Daumen nutzlos im Blau schlackern, im großen Blau, während er strampelnd um sein Leben kämpft.

Blau, das ihn tiefer hinunterzieht. Er glaubt, darin ein Muster zu erkennen. In der sterbenden Faszination der Gehirnzellen, die eine nach der anderen ausbrennen, sieht er ein Gesicht. Das Gesicht einer Frau. Lächelnd. Komm, Shiv. Priya? Sai? Atme! Er muss atmen. Er strampelt, kämpft. Er hat eine mächtige Erektion in seiner schweren Cargohose mit der Last aus esoterischen Cyberwaffen, und er weiß, was geschehen muss. Aber Yogendra wird den Kode nicht bekommen. Atme. Er öffnet den Mund und die Lungen, und das Blau stürzt hinein, und in der erlöschenden Glut seines Gehirns sieht er, wer da unten ist. Es ist nicht Sai. Es ist nicht Priya. Es ist das sanfte, gewöhnliche Gesicht der Frau, die er dem Fluss übergeben, der Frau, deren Eierstöcke er völlig umsonst gestohlen hat. Sie lächelt und winkt ihm, ihr zu folgen, in den Fluss und das Blau und die Erlösung.

»Die erste Comedy-Regel«, sagt Vishram Ray, während er im Spiegel der Herrentoilette den Sitz seines Kragens überprüft, »ist Selbstvertrauen. Jeden Tag, in jeder Situation müssen wir Selbstvertrauen ausstrahlen.«

»Ich dachte, die erste Comedy-Regel wäre ...«

»Das Timing«, unterbricht Vishram den Einwurf von Marianna Fusco, die auf der Kante des Waschbeckens nebenan hockt. Indira und verschiedene andere Angestellte, von denen Vishram gar nicht wusste, dass sie für ihn arbeiteten, haben die Toiletten des Forschungszentrums für jeden gesperrt, ungeachtet des Zustands ihrer Blase oder ihrer Gedärme. »Das ist die zweite Regel. Gemäß Vishram Rays Comedy-Handbuch.«

Doch er hat nicht mehr so große Angst gehabt, seit er zum ersten Mal in den Spot hinaustrat, in dem der Chromstab des Mikrofonständers schimmerte, mit einer Idee, die ihm zum Thema Billigfluglinien eingefallen war. Unmöglich, sich hinter dem Mikro zu verstecken. Unmöglich, sich in diesem minimalistischen holzgetäfelten Raum mit dem einzigen Tisch aus Carbonit genau in der Mitte zu verstecken. Denn in Wirklichkeit ist sein Timing unter aller Sau. Eine Vorstandssitzung während der Krise nach einem Attentat einzuberufen, während in Richtung Sonnenuntergang feindliche Panzer eine Tagesfahrt entfernt aufmarschiert sind. Und es ist Monsun, um dem Ganzen noch eine kleine meteorologische Dramatik zu verpassen. Nein, denkt Vishram Ray, als er im Spiegel überprüft, ob er korrekt rasiert ist. Sein Timing ist perfekt. Das ist wahre Comedy.

Aber warum fühlt er sich, als würde er von achtzehn unterschiedlichen Krebsgeschwulsten gleichzeitig aufgefressen werden?

Rasur okay, Aftershave im akzeptablen Bereich, Manschetten sitzen, Manschettenknöpfe auch.

Der chemische Kick hat seinen Geist wunderbar von Kalis und Brahmas und Multiversen der M-Stern-Theorie geklärt. Comedy ist immer eine Sache des Augenblicks. Und die wahre erste Regel, ob im Comedy-Handbuch oder im Business-Handbuch, ist die Überzeugungskunst. Lachen ist eine freiwillige Preisgabe von Schwäche, genauso wie der Verzicht auf Vermögen.

Jacke okay, Hemd okay, Schuhe tadellos.

»Bist du bereit?«, sagt Marianna Fusco und schlägt die Beine auf eine Weise übereinander, die in Vishram den Wunsch weckt, sein Gesicht zwischen ihnen zu vergraben. »He, Funny Man.« Eine beiläufige Handbewegung in Richtung der ordentlichen kleinen Linie Koks auf dem schwarzen Marmor. »Nur für alle Fälle.«

»Lenny Bruce war kein Desi«, sagt Vishram Ray. Er stößt schnaufend den Atem aus. »Also los.« Marianna Fusco lässt sich von ihrem Marmorsitz gleiten und wischt die Linie ins Waschbecken.

Wenn sie ihm eine Zigarette angeboten hätte ...

Vishram macht sich auf den Weg durch den Korridor. Seine Ledersohlen knirschen leise auf den polierten Holzintarsien. Marianna und Indira sind hinter ihm, und mit jedem Schritt geht er etwas aufrechter, etwas stolzer. Der Aufwärmer hat inzwischen das Publikum vorbereitet, die Leute bearbeitet, die Säfte zum Fließen gebracht, ihr auf der linken Seite klatscht, ihr auf der rechten pfeift, ihr auf der Galerie brüllt ganz laut! Für! Mister! Vishram! Raaaaaaay!

Die Türflügel aus geschnitztem Holz schwingen auf, und alle Gesichter am transparenten Tisch richten sich auf Vishram. Ohne ein Wort verteilt sich sein Gefolge um den Tisch und nimmt die zugeteilten Plätze ein, Indira zu seiner Rechten, Marianna Fusco zu seiner Linken, ihre Berater in den Kulissen. Indira hat seit fünf Uhr an diesem Morgen mit ihnen geprobt. Als er seinen Palmer und den Aktenkoffer mit kunstvollen Holzintarsien (kein Leder: die Philosophie eines ethischen Hindu-Energieunternehmens) an seinem Platz am Kopfende des Tisches ablegt, nickt Vishram rechts Govind und links Ramesh zu. Er bemerkt, dass Ramesh wenigstens in einen anständigen Anzug investiert hat. Sein Bart sieht nicht ganz so struppig aus. Zeichen. Es gibt keinen Unterschied zu einem Comedy-Auftritt oder einem Gerichtsprozess, es geht immer darum, die Zeichen zu lesen. Das Team Vishram wartet darauf, dass sich sein Leader setzt. Die Berater beäugen sich gegenseitig. Vishram wirft einen Blick auf die Aktionäre. Indira-online verfügt über eine raffinierte kleine Info-Funktion, die ihn automatisch mit einem Profil, prozentualen Hochrechnungen, dem bisherigen Wahlverhalten und Einschätzungen versorgt, wie sie sich diesmal entscheiden werden. Viele der Aktionäre sind virtuell vertreten, entweder über Videolink oder durch Kaih-Repräsentanten, die nach dem Vorbild ihrer Persönlichkeit modelliert sind. Kein US-amerikanischer Vorstand würde so etwas als demokratische Aktionärsversammlung akzeptieren. Vishram schaltet Indiras kleines Spielzeug aus. Er wird es auf die althergebrachte Weise machen, wie ein Stand-up-Comedian. Er wird nach subtilen Anzeichen suchen, nach dem Potenzial, einem verzogenen Mundwinkel ein Lächeln zu entlocken, die Aufforderung in den Augenwinkeln, die sagen: Gut, mach weiter, unterhalte mich.

Die Fronten sind alles andere als offenkundig. Selbst auf seiner Seite gibt es Großaktionäre wie SKM ProSearch, die gegen ihn stimmen werden. Viel zu unsicher. Ein Blick zu Indira, ein Blick zu Marianna. Vishram Ray erhebt sich. Die Blase aus leisen Unterhaltungen rund um den Tisch platzt.

»Meine Damen und Herren, verehrte Aktionäre von Ray Power, ob materiell oder virtuell.« Die Tür zum Sitzungssaal geht auf. Mitten in seinem Blickfeld betritt seine Mutter den Raum und nimmt auf einem Sitz an der Wand Platz. »Ich danke Ihnen allen, dass Sie sich an diesem Morgen hier eingefunden haben, einige von Ihnen unter erheblichen persönlichen Risiken. Diese Sitzung wird unweigerlich von den jüngsten Ereignissen überschattet, am dramatischsten durch die brutale Ermordung unserer Premierministerin Sajida Rana. Ich bin überzeugt, dass Sie alle mein Mitgefühl für die Familie Rana in dieser schweren Zeit teilen.« Zustimmendes Gemurmel aus der Runde. »Ich für meinen Teil werde uneingeschränkt die Bemühungen unserer neuen Regierung der Nationalen Rettung unterstützen, zur gewohnten Ordnung und Stärke zurückzufinden. Ich bin mir sicher, dass sich einige von Ihnen gefragt haben, ob es angemessen ist, diese Sitzung angesichts der politischen Situation abzuhalten. Ich könnte Ihnen sagen, dass ich es nicht getan hätte, wenn es nicht um wichtige Interessen dieses Unternehmens gegangen wäre. Darum geht es, aber es gibt noch ein weiteres Prinzip, von dem ich finde, dass es gerade in Zeiten wie diesen hochgehalten werden muss. Die Augen der ganzen Welt blicken auf Bharat, und ich glaube, wir müssen demonstrieren, dass zumindest für Ray Power alles seinen gewohnten Gang geht.«

Überall nickende Köpfe, vorsichtiger Applaus. Vishram lässt den Blick über den Saal schweifen.

»Zweifellos sind die meisten von Ihnen überrascht, dass Ray Power schon nach so kurzer Zeit eine weitere Vorstandssitzung einberuft. Es ist erst wenige Wochen her, seit mein Vater, wenn Sie mir diesen Ausdruck verzeihen, seine Bombe platzen ließ. Darauf folgten, wie Sie mir glauben können, zwei lebhafte Wochen, und ich sollte Sie schon jetzt vorwarnen, dass ich die Absicht hege, diese Sitzung nicht weniger schockierend oder revolutionierend ablaufen zu lassen.«

Eine kleine Pause für Publikumsreaktionen. Seine Kehle ist so trocken wie ein Klo in Rajasthan, aber er will sich nicht einmal andeutungsweise die Schwäche eines Schlucks Wasser erlauben. Govind und sein Assistent neigen die Köpfe. Gut. Das Gemurmel verklingt zur Unhörbarkeit. Es wird Zeit für einen leidenschaftlicheren Tonfall.

»Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen einen bedeutenden technischen Durchbruch der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Ray Power verkünden. Ich habe nicht vor, Sie mit Fremdwörtern zu überhäufen, da ich selbst zu wenig von der Physik verstehe. Ich werde einfach nur erklären, meine Freunde, dass wir nicht nur nachhaltige, sondern höchst ertragreiche Nullpunktenergie erzeugen konnten. In genau diesem Gebäude haben unsere Forscherteams die Eigenschaften fremder Universen erkundet und entdeckt, wie man ihre Energie auf wirtschaftliche Weise in unser Universum fließen lassen kann. Kostenlose Energie, meine Freunde.«

Quacksalberei, meine Freunde. Nein. Du stehst hier oben im Scheinwerferlicht und hältst das Mikro in der Hand, das ultimative Phallussymbol. Werd jetzt bloß nicht überheblich. Werd jetzt bloß nicht unsicher.

»Unbegrenzte kostenlose Energie, die völlig sauber ist, die nicht die Umwelt verschmutzt, die keinen Treibstoff benötigt, die endlos erneuerbar ist — die so unendlich verfügbar ist wie ein gesamtes Universum. Ich muss Ihnen sagen, meine Freunde, dass sehr viele Firmen nach diesem Wunder gesucht haben und dass es Bharati-Wissenschaftler in einem Bharati-Unternehmen waren, die den Durchbruch geschafft haben!«

Er hat seine Cheerleader vorbereitet, aber der Applaus rund um den Tisch kommt spontan und von Herzen. Jetzt ist der richtige Moment für einen Schluck Wasser und einen Blick hinüber zu seiner Mutter. Ihr Gesicht zeigt lediglich die Andeutung eines Lächelns. Und er spürt das altvertraute Glühen in den Eiern, das Brennen der Hormone, wenn man weiß, dass man sie in der Hand hat und sie in jede beliebige Richtung dirigieren kann. Aber Vorsicht Vorsicht, nicht verpatzen! Das Timing ist alles!

»Es wird Geschichte schreiben, es wird unsere Zukunft nicht nur hier in Bharat verändern, sondern die jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes auf diesem Planeten. Es ist ein großer Durchbruch, und dies ist eine große Nation, und ich möchte, dass die Welt es weiß. Wir haben bereits Medien aus aller Welt im Land, und nun möchte ich ihnen etwas geben, das ihnen wirklich im Gedächtnis bleiben wird. Unmittelbar nach dieser Sitzung ist alles für eine vollmaßstäbliche öffentliche Demonstration des Nullpunktenergiefeldes vorbereitet.«

Jetzt. Jetzt hast du sie am Haken.

»Mit einem Quantensprung wird Ray Power zu einem planetaren Player. Und damit komme ich zum zweiten, viel praktischeren Grund, warum ich Sie gebeten habe, sich hier zu versammeln. Ray Power ist ein Unternehmen in der Krise. Wir können weiterhin nur über die Motive unseres Vaters spekulieren, warum er die Firma aufgeteilt hat. Ich für meinen Teil habe versucht, seiner Vision von Ray Power treu zu bleiben, wobei die Vision und die Menschen genauso viel bedeuten wie die Summe unter der Bilanz. Es ist nicht einfach, diesem Standard gerecht zu werden.«

Wie kann dieser Ingenieur ein richtiges Leben führen? Aber das Bild von Marianna Fusco geht ihm nicht aus dem Kopf, wie sie auf dem Rücken liegt und seine Faust ein Ende des verknoteten Seidenschals packt.

»Ich habe Sie hier zusammengerufen, weil ich Ihre Hilfe benötige. Die Werte unseres Unternehmens sind in Gefahr. Da draußen gibt es andere, größere Konzerne, deren Werte nicht unsere sind. Sie haben sehr hohe Summen geboten, um Teile von Ray Power aufzukaufen. Auch an mich ist man herangetreten. Sie mögen meine Entscheidung für überstürzt oder ungeschickt halten, aber ich habe die Angebote abgelehnt, und zwar aus den genannten Gründen: Ich glaube an das, wofür dieses Unternehmen steht.«

Jetzt drosseln.

»Wenn ich daran geglaubt hätte, eines dieser Unternehmen würde sich im Interesse des Nullpunktprojekts engagieren, hätte ich ihre Angebote in Erwägung gezogen. Aber sie sind nur deshalb daran interessiert, weil sie mit ihren eigenen ehrgeizigen Plänen sehr weit fortgeschritten sind. Sie würden uns nur deshalb aufkaufen, weil sie die Nutzung der Nullpunktenergie verzögern oder gar aufgeben wollen. Angebote gingen auch — vielleicht sogar von denselben Gruppen — an meine Brüder, die an diesem Tisch sitzen. Ich möchte ihnen zuvorkommen. Ich will sie schon beim Pass abfangen, wie die Amerikaner sagen. Ich habe Ramesh ein großzügiges Angebot unterbreitet, Ray Gen zu kaufen, die Energieerzeugungsabteilung, die die Nullpunkttechnik umsetzen wird. Damit erhalte ich eine Mehrheitsbeteiligung an Ray Power, genug, um jeden Einfluss von außen fernzuhalten, bis die Nullpunktenergie an die Öffentlichkeit geht und wir in einer Position sind, effektiven Widerstand zu leisten. Die Details des Angebots finden Sie in Ihren Präsentationsmappen. Bitte nehmen Sie sich einen Moment, es zu prüfen und über meine Worte nachzudenken, damit wir anschließend zur Abstimmung übergehen können.«

Als er sich setzt, fängt er den Blick seiner Mutter auf. Sie lächelt still und weise, während plötzlich der gesamte Sitzungssaal auf den Beinen ist und Fragen ruft.

Der Taxifahrer liegt bei eingeschaltetem Radio rauchend auf der Rückbank, die Füße durch die offene Tür in den Regen hinausgestreckt, als Thal über die gläserne Brücke herangeplatscht kommt, eine stolpernde, immer noch benommene Najia im Schlepptau.

»Schätzchen, ich bin so froh, dich zu sehen«, ruft Thal, während der Fahrer seine gelbe Leuchte und die Scheinwerfer einschaltet. Thal verstaut Najia auf dem Rücksitz.

»Sie machen den Eindruck, als könnten Sie ein Fahrzeug gebrauchen. Jedenfalls gibt es heute keine Fuhren, bei all dem, was gerade passiert. Und ich werde Ihnen die Wartezeit berechnen. Wohin, oder soll ich wieder einfach nur fahren?«

»Irgendwohin, Hauptsache weg von hier.« Thal zieht seinen Palmer hervor und öffnet Najias Videodatei von N. K. Jivanjee zusammen mit einer netten kleinen Blackware, die auf der Muss-man-haben-Liste jedes Neuts mit Street Credibility steht: ein Verbindungssuchprogramm. Ein Neut weiß schließlich nie, wann ys ein kleines Ron D. Wu gebrauchen könnte.

»Sollten wir nicht allmählich losfahren?«, fragt Thal und blickt von sys Bemühungen auf, die Verbindungskodes aus der Videodatei zu extrahieren.

»Eine Sache muss ich noch fragen«, sagt der Fahrer. »Ich benötige Ihre Versicherung, dass Sie nicht in die ... Unannehmlichkeiten von heute früh verwickelt sind. Ich habe vielleicht eine eigene Meinung über die Mängel und Inkompetenzen unserer Regierung, aber tief im Herzen bin ich ein Mann, der seine Nation liebt.«

»Baba, dieselben Leute, denen sie zum Opfer gefallen ist, haben auf mich geschossen«, erklärt Thal. »Vertrauen Sie mir. Und jetzt fahren Sie.«

In diesem Moment gibt der Fahrer Gas. »Ist mit Ihrer Freundin alles in Ordnung?«, fragt er, während er sich einen Weg durch die Soap-Verehrer hupt, die nun auf den Beinen sind, die Hände wie zum Opfer erhoben, die Augen geschlossen, die Lippen murmelnd. »Sie scheint nicht ganz bei sich zu sein.«

»Sie hat schlechte Nachrichten über ihre Familie erhalten«, sagt Thal. »Und was ist mit diesen Leuten los?«

»Sie bieten die Puja für die Götter von Stadt und Land dar, damit sie unsere Nation erretten«, sagt der Fahrer. »Ein nutzloser Aberglaube, wenn Sie mich fragen.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, murmelt Thal leise vor sich hin. Als das Taxi auf die Hauptstraße einbiegt, biegt von dort ein großer Toyota Hi-Lux in einer Gischtfontäne ab. Karsevaks klammern sich an die Überrollbügel und das Seitengeländer. Blaues Licht spiegelt sich auf ihren Schwertern und Trishuls. Thal beobachtet das Fahrzeug, bis es außer Sicht ist, und erschaudert. Nur zwei Minuten länger im Bann der Kaih ...

»Ich vermute, Sie möchten, dass ich diesen Leuten sowie Polizisten, Soldaten, Regierungsbeamten und dergleichen ausweiche«, sagt der Taxi-Wallah.

»Insbesondere diesen Leuten.« Thal betastet geistesabwesend die Konturen der Zapfen unter seiner Haut, erinnert sich an den Adrenalinbrand, an eine Stadt voller Klingen und Trishuls und an eine Angst, deren Ausmaß er vorher nie für möglich gehalten hätte. Ihr wisst es noch nicht, aber ich habe euch besiegt, ihr Genderlichen, denkt Thal. Harte Jungs, brutale Jungs, ihr glaubt, euch gehört die Straße, ihr glaubt, ihr könnt tun, was ihr wollt, und niemand wird euch aufhalten, weil ihr starke, wilde, junge Männer seid, aber dieses Neut hat euch besiegt. Ich habe die Waffe in der Hand, und sie hat mir den Aufenthaltsort des Mannes verraten, der euch damit vernichten wird. »Kennen Sie diese Adresse?«, fragt Thal und beugt sich über die Rückenlehne, um dem Fahrer den Palmer vor das Gesicht zu halten. Draußen jenseits der spritzenden Scheibenwischer wird die Nacht stumpfgrau. Der Taxi-Wallah wackelt mit dem Kopf.

»Eine lange Fahrt.«

»Dann kann ich mir etwas Schlaf gönnen«, sagt Thal und lässt sich gegen das schmierige Polster fallen. Zum Teil ist es die Wahrheit, zum Teil ist es ein Hinweis für den Fahrer, dass er nicht weiter über den Zustand der Nation plappern soll.

Doch dann greift Najia nach sys Arm und flüstert: »Thal, was soll ich nur tun? Sie hat mir Dinge gezeigt, über meinen Vater, als wir in Afghanistan lebten. Thal, schreckliche Dinge, von denen sonst niemand wissen kann ...«

»Sie lügt. Sie ist eine Soap-Opera-Kaih, es ist ihre Spezialität, minimale Informationen mit maximaler emotionaler Wirkung zu Geschichten zu verknüpfen. Komm schon, Schwester, wer hat nie Probleme mit den Eltern gehabt?«

In den anderthalb Stunden, die der Maruti braucht, um schwelenden Müllfeuern und Kontrollpunkten auszuweichen, sich durch Barrikaden aus verbrannten Autos zu zwängen, über Hakenkreuze und Jai-Bharat!-Aufrufen zu fahren, die auf die Straße gemalt wurden, hört Thal im Radio vierundzwanzigmal die Nationalhymne, unterbrochen von kurzen Bekanntmachungen aus dem Rana Bhavan über die Erfolge der Regierung der Nationalen Rettung bei der Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit. Ys drückt Najias Hand, und wenig später hört sie auf, leise in den Ärmel ihres weichen grauen Fleecetops zu weinen.

Dann weigert sich der Taxi-Wallah, mit seinem schönen Maruti auf den dreckigen Schotterweg zu fahren.

»Baba, für das, was ich Ihnen zahle, können Sie sich ein neues Taxi kaufen«, ruft Thal. Dann rollt ihnen der Mercedes auf dem langen geraden Fahrdamm entgegen, an dessen Ende die von Mauern umgebene Jagdhütte liegt, die im grauen Nieselregen kaum zu erkennen ist. Er hupt wütend. Thal überprüft ihre Position auf dem Palmer und tippt dem Fahrer auf die Schulter. »Halten Sie diesen Wagen auf«, befiehlt ys.

»Diesen Wagen?«, fragt der Fahrer. Thal reißt die Tür auf. Der Fahrer flucht, kommt schlitternd zum Stehen. Ohne auf Widerspruch zu warten, hat Thal den Wagen verlassen und läuft durch den leichten Regen auf das andere Fahrzeug zu. Scheinwerfer blitzen auf und blenden ys. Der Motor gurgelt kehlig. Die Hupe ist tief und polyphon. Thal schirmt die Augen mit den Händen ab und geht weiter. Der Mercedes macht einen Satz in sys Richtung.

Najia drückt die Hände an die Scheibe und schreit, als sie sieht, wie der Wagen auf Thal in sys verdreckten schicken Sachen zufährt. Thal hebt nutzlos eine Hand. Bremsen kreischen und blockieren im klebrigen Sumpfschlamm. Najia schließt die Augen. Sie weiß nicht, wie es sich anhört, wenn eine nordeuropäische Maschine im Wert von einer halben Million Rupien auf einen chirurgisch umgerüsteten menschlichen Körper trifft, aber sie ist davon überzeugt, dass sie es erkennen wird, wenn sie es hört. Sie hört es nicht. Sie hört, wie eine schwere Autotür zugeschlagen wird. Sie wagt es, die Augen wieder zu öffnen. Der Mann und das Neut stehen im spätnächtlichen Regen. Das ist Shaheen Badoor Khan, denkt Najia. Sie erinnert sich daran, wo sie ihn schon einmal gesehen hat, auf den Fotos aus dem Club. Blitzlicht auf dunklen Polstersesseln, geschnitztem Holz, polierten Oberflächen, aber der Dialog ist der gleiche, zwischen Politiker und Neut. Diesmal überreicht das Neut das Objekt der Macht. Shaheen Badoor Khan ist kleiner, als sie sich vorgestellt hat. Sie versucht ihn zu charakterisieren: Verräter, Feigling, Ehebrecher, Idiot. Doch all ihre Anschuldigungen werden wie Sterne in ein Schwarzes Loch zum Bild des Raumes am Ende des Korridors gezogen, dem Raum, in dem sie niemals war, dem Raum, von dem sie niemals wusste, dass er existierte, dem Raum am Ende ihrer Kindheit, wo ihr Vater sie willkommen heißt. Hier wird Geschichte gemacht, versucht sie sich zu sagen, um die schreckliche Gravitation dessen zu überwinden, was die Kaih ihr über ihren Vater erzählt hat. Genau vor dir auf einem Feldweg wird die Zukunft gestaltet, und du hast einen Platz in der ersten Zuschauerreihe. Du bist hier, wo das Leben pulsiert, und du kannst schon das warme Geld riechen. Dies ist das größte Ereignis deiner Zeit, nicht nur für dich, sondern für alle anderen Menschen. Dies ist dein Pulitzer-Preis, noch bevor du fünfundzwanzig geworden bist.

Auf diesen Moment wirst du für den Rest deines Leben zurückblicken, Najia Askarzadah.

Es klopft am Fenster. Shaheen Badoor Khan beugt sich herab. Najia kurbelt die Scheibe herunter. Sein Gesicht ist mit grauen Stoppeln übersät, seine Augen sind von Erschöpfung überschattet, aber in ihnen brennt ein winziges Licht, wie eine Diya, die auf einem weiten, dunklen Fluss treibt. Trotz aller Vorkommnisse und Widrigkeiten, gegen den Strom der Geschichte, steht er kurz vor dem Sieg. Najia denkt an die Frauen, die ihre Kampfkatzen hoch erhoben und stolz durch den Ring tragen, geschunden, aber tapfer. Er reicht ihr die Hand.

»Ms. Askarzadah.« Seine Stimme ist tiefer, als sie sich vorgestellt hat. Sie nimmt die Hand an. »Sie müssen verzeihen, wenn ich an diesem Morgen etwas langsam zu reagieren scheine. Der Sturm der Ereignisse hat mich ziemlich überwältigt, aber ich muss mich bei Ihnen bedanken, nicht nur meinetwegen — denn ich bin nur ein Staatsdiener —, sondern im Namen meiner Nation.«

Danke mir nicht, denkt Najia. Ich war es, die dich verkauft und überhaupt erst in diese Lage gebracht hat. »Schon gut«, sagt sie.

»Nein, nein, Ms. Askarzadah, Sie haben eine Verschwörung solchen Ausmaßes, solcher Dreistigkeit aufgedeckt ... Ich weiß noch gar nicht, was ich davon halten soll, es ist buchstäblich atemberaubend. Maschinen, Künstliche Intelligenzen ...« Er schüttelt den Kopf, und sie spürt, wie unendlich erschöpft er ist. »Selbst mit diesen Informationen ist es noch lange nicht vorbei, und Sie sind keineswegs in Sicherheit. Ich habe einen Fluchtplan — jeder in der Bharat Sabha hat einen Fluchtplan. Ich hatte die Absicht, gemeinsam mit meiner Frau zu fliehen, aber meine Frau hat, wie Sie herausgefunden haben ...« Wieder schüttelt Shaheen Badoor Khan den Kopf, und diesmal spürt Najia seine Fassungslosigkeit angesichts der Verschachtelungen, der schamlosen Verwegenheit der Verschwörung. »Sagen wir einfach, ich habe noch ein paar Vertraute in einflussreichen Positionen, und jene, auf deren Loyalität ich mich nicht verlassen kann, werden zumindest gut bezahlt. Ich kann Sie nach Kathmandu bringen, aber danach wären Sie auf sich allein gestellt. Ich möchte Sie nur um eins bitten, da ich weiß, dass Sie Journalistin sind. Sie haben die größte Story des Jahrzehnts, aber könnten Sie bitte nichts veröffentlichen, bevor ich meine letzte Karte ausgespielt habe?«

»Okay«, stammelt Najia Askarzadah. Natürlich, kein Problem. Ich bin dir etwas schuldig. Du weißt es nicht, aber ich bin dein Folterknecht.

»Danke. Vielen Dank.« Shaheen Badoor Khan blickt in den blutenden Himmel hinauf, blinzelt im dünnen, bitteren Regen. »Ach, ich habe nie schlimmere Zeiten erlebt. Und bitte glauben Sie mir, wenn ich überzeugt gewesen wäre, dass Bharat durch das, was Sie mir gegeben haben, größeren Schaden erlitten hätte ... Ich kann nichts mehr für meine Premierministerin tun, aber jetzt kann ich wenigstens noch etwas für mein Land tun.« Er richtet sich abrupt auf, blickt über das nasse Sumpfland. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bevor irgendjemand von uns in Sicherheit ist.«

Er schüttelt erneut ihre Hand, fest und grimmig, dann kehrt er zu seinem Wagen zurück. Thal und er wechseln nur einen kurzen Blick.

»Das ist der Politiker?«, fragt der Taxi-Wallah, als er den Rückwärtsgang einlegt, um den Mercedes vorbeizulassen.

»Das war Shaheen Badoor Khan«, sagt Thal, der nass auf der Rückbank neben Najia sitzt. »Der ehemalige Privatsekretär von Sajida Rana.«

»Donnerwetter!«, ruft der Fahrer, hängt sich an Shaheen Badoor Khan und hupt frühe Ochsenkarren auf der Landstraße an. »Man muss Bharat einfach lieben!«

Die Jamshedpur-Grameen-Bank besteht aus einem Dutzend ländlicher Sathin-Frauen, die in über einhundert Dörfern Mikrokredite verwalten. Die meisten von ihnen haben nie das Hinterland von Bihar verlassen, einige von ihnen sind sich nie zuvor leibhaftig begegnet, aber sie haben einen Stammaktienanteil an Ray Power in Höhe von fünfzig Lakh. Ihr Kaih-Repräsentant ist eine häusliche kleine Bibi, Stufe 2,1, pummelig, lächelnd, mit Lebensfalten im Gesicht und einer grellroten Bindi. Sie könnte überzeugend die Rolle eines Tantchens vom Lande in einer Episode von Stadt und Land übernehmen. Sie namastiert in Vishrams Hoek-Sicht.

»Für die Resolution«, sagt sie freundlich, wie es eine Mama tun würde, und verschwindet.

Vishram hat die Kopfrechnungen angestellt, bevor Indira ihm das grafisch aufbereitete Ergebnis in die Augen spielen kann. Als Nächstes steht KHP Holdings auf der Liste, achtzehn Prozent Anteil, mit Abstand der größte Einzelaktionär außerhalb der Familie. Wenn Bhardwaj mit Ja stimmt, hat Vishram gewonnen. Wenn er mit Nein stimmt, braucht Vishram noch elf der übrigen zwanzig Parteien.

»Mr. Bhardwaj?«, sagt Vishram. Seine Hände liegen flach auf dem Tisch. Er darf sie nicht anheben, weil sie zwei handtellergroße Schweißflecken hinterlassen würden.

Bhardwaj nimmt seine Brille mit der harten Titanfassung ab und wischt mit einem Poliertuch aus weichem Filz über einen taktischen Schmutzfleck. Er atmet hörbar durch die Nase aus.

»Das ist ein höchst irreguläres Vorgehen«, sagt er. »Ich kann nur darauf hinweisen, dass so etwas unter Mr. Ranjit Ray niemals passiert wäre. Aber das Angebot ist großzügig und lässt sich nicht ignorieren. Daher unterstütze ich den Vorschlag und stimme für die Resolution.«

Vishram erlaubt seiner Faust und seinen Kiefermuskeln einen kleinen mentalen Spasmus, ein kleines Ja! Selbst an dem Abend, als er am Funny-Ha-Ha-Wettbewerb teilnahm, hat er keinen Publikumskick erlebt wie das Gemurmel, das sich nun am Sitzungstisch erhebt. Auch die anderen können rechnen. Vishram spürt, wie Marianna Fuscos bestrumpfter Schenkel unter der transparanten Tischplatte aus Nano-Diamant kurz gegen seinen drückt. Eine Bewegung am Rand seines Sichtfelds lässt ihn aufblicken. Seine Mutter schlüpft aus dem Saal.

Die Formalitäten der weiteren Abstimmung hört er kaum noch. Wie betäubt dankt er den Aktionären und Vorstandsmitgliedern für ihr Vertrauen in den Namen und die Familie Ray. Und denkt dabei: Geschafft! Geschafft! Scheiße, geschafft! Er erklärt der Tischrunde, dass er sie nicht enttäuschen wird, dass sie diesem großen Unternehmen eine großartige Zukunft gesichert haben. Und denkt dabei: Ich werde Marianna Fusco in ein Restaurant ausführen, ins beste, das sich in der Hauptstadt eines besetzten Landes auftreiben lässt, dessen Premierministerin soeben ermordet wurde. Er fordert alle Anwesenden auf, durch den Korridor weiterzugehen, dann werden Sie genau die Zukunft sehen, für die Sie gestimmt haben. Und denkt dabei: ein weicher, verknoteter Seidenschal.

WIE DER VIEHTRIEB EINER KÄLBERHERDE, textet Marianna Fusco, während das Personal von Ray Power versucht, die Vorstandsmitglieder, die Forscher, die Gäste, die Nachzügler und die zweitrangigen Journalisten, die für die Große Story des Tages entbehrlich sind, über die Böden mit den Ramayana-Ahornholzintarsien zu führen. Das Gewimmel der Körper befördert Vishram und Ramesh, einen Kopf größer, in den Orbit.

»Vishram.« Big Brother zeigt ein breites und aufrichtiges Lächeln. Es sieht fremdartig aus. Vishram kannte ihn bislang nur ernst, verwundert, mit gesenktem Kopf. Sein Händedruck ist fest und lang. »Gut gemacht.«

»Du bist jetzt ein reicher Mann, Ram.«

Typisch Ramesh, den Kopf schief zu legen, die Augen nach oben zu verdrehen, im Himmel nach einer Antwort zu suchen.

»Ja, es scheint so, geradezu obszön reich. Aber weißt du, eigentlich ist es mir völlig egal. Trotzdem gibt es eine Sache, die du für mich tun könntest. Gib mir irgendeine Aufgabe bei diesem Nullpunkt-Ding. Wenn es stimmt, was du behauptest, habe ich mein Berufsleben damit verbracht, in die falsche Richtung zu blicken.«

»Du solltest dir die Demonstration ansehen.«

»Die würde ich um nichts in der Welt verpassen wollen. Oder sollte ich lieber sagen: um nichts im Universum.« Er lacht nervös. Dritte Comedy-Regel, denkt Vishram Ray. Lach niemals über deine eigenen Witze. »Ich glaube, Govind möchte kurz mit dir sprechen.«

Er hat es auf so viele unterschiedliche Weisen geprobt, mit so vielen unterschiedlichen Stimmlagen, so vielen Nuancen und Posen, und doch fällt alles in den Augenblicken von ihm ab, die er braucht, um Govind in der Menge ausfindig zu machen. Er kann seine Waffen nicht auf diesen pummeligen, scheu lächelnden, schwitzenden Mann im zu kleinen Anzug richten.

»Tut mir leid«, sagt er und streckt die Hand aus. Govind schüttelt den Kopf und nimmt dann die Hand.

»Genau das, mein Bruder, ist der Grund, warum du es im Geschäftsleben nicht weit bringen wirst. Du bist zu weich. Zu höflich. Du hast heute gewonnen, du hast einen großen Sieg errungen, also genieß es! Nutz es aus. Brüste dich damit. Lass mich noch einmal von deinen Wachmännern aus dem Gebäude eskortieren.«

»Das Programm kennst du doch bereits.«

Die PR-Leute von Ray Power haben die Herde weitergedrängt, Vishram und Govind sind allein im Korridor. Govinds Griff um Vishrams Hand ist fest.

»Unser Vater wäre stolz, aber ich bin weiterhin der Meinung, dass du diese Firma vor die Wand fahren wirst, Vishram. Du machst Eindruck, du hast Charisma, du bist Showbusiness. Das alles sind tolle Eigenschaften, aber damit führt man kein Unternehmen. Ich habe einen Vorschlag. Ray Power sollte genauso wie die Familie Ray niemals ein geteiltes Haus sein. Ich habe mündliche Vereinbarungen mit externen Investoren, aber nichts ist niedergeschrieben worden, nichts ist unterzeichnet worden.«

»Eine Re-Fusion«, sagt Vishram.

»Ja«, bestätigt Govind. »Bei der ich die Betriebsleitung übernehme.«

Vishram kann dieses Publikum nicht einschätzen.

»Ich werde dir zu gegebener Zeit eine Antwort geben«, sagt er. »Nach der Demonstration. Und jetzt möchte ich, dass du dir mein Universum ansiehst.«

»Eine Sache noch«, wirft Govind ein, während ihre Ledersohlen leise über die Ahornintarsien klacken. »Woher stammt das Geld?«

»Von einem alten Verbündeten unseres Vaters«, sagt Vishram, und während er unterschwellig das Geräusch hört, vor dem sich ein Comedian am meisten fürchtet — wie sich die eigenen Schritte entfernen —, wird ihm klar, dass unter den Szenen, die er geprobt und nie verwendet hat, eine bestimmte fehlte. Er hat sich nicht überlegt, was er tun würde, wenn er hinter diesem Diamanttisch einen grausamen Tod gestorben wäre.

Sie suchen sich einen kleinen Platz an der Tür, unter der Klappkoje des Wagenschaffners. Hier verbarrikadieren sie sich hinter den blauen, stoßfesten Koffern und kauern sich wie Kinder aneinander. Die Türen sind verschlossen, so dass Parvati durch das winzige Guckloch aus Rauchglas nur den Himmel sehen kann, der die Farbe des Regens hat. Sie lugt durch die Trennwand in den nächsten Waggon. Die Körper sind gegen die harte Plastikscheibe gepresst und wirken beunruhigend flach. Keine Körper, sondern Menschen, die ihr Leben genauso wie sie nicht auf sinnvolle Weise in jener Stadt fortsetzen können. Die Stimmen übertönen das Summen der Zugmaschine, das Rattern der Gleise. Sie findet es erstaunlich, dass etwas, das so extrem überladen ist, sich überhaupt noch bewegen kann, aber die Beschleunigskräfte in ihrer Magengrube und im Rücken an der gerippten Kunststoffwand verraten ihr, dass der Raipur Express immer schneller wird.

In diesem Zug gibt es nirgendwo Personal, keine Fahrkartenkontrolleurin in schickem weißem Sari mit dem Rad von Bharat Rail auf der Schulter des Pallav, keinen klirrenden Chai-Wallah, keinen Steward im Schneidersitz auf der Koje über ihnen. Der Zug fährt jetzt sehr schnell, hinter dem kleinen Rechteck aus rauchigem Himmel wischen Strommasten vorbei, und Parvati gerät für einen Moment in Panik, als sie denkt, dass dies der falsche Zug ist, die falsche Richtung. Dann denkt sie: Wäre es nicht egal? Hauptsache weg.

Weg. Sie drückt sich gegen Krishan, greift nach seiner Hand unter den Falten ihres schmutzigen Saris, verstohlen, damit niemand es sieht, damit niemand zu Spekulationen verleitet wird, was diese beiden Hindus vielleicht tun. Ihre Finger ertasten warme Feuchtigkeit. Sie zuckt zurück. Blut. Blut, das sich in einer klebrigen Lache zwischen den Körpern ausbreitet. Blut, das an den Rippen der Kunststoffwand klebt. Krishans Hand, die nur Millimeter von ihrer entfernt war, ist eine geballte rote Faust. Parvati rückt von ihm ab, nicht aus Entsetzen, sondern um diesen Wahnsinn zu verstehen. Krishan sackt an der Wand zusammen und hinterlässt einen roten Streifen, bevor er sich mit dem linken Arm abstützt. Über der Hüfte ist sein weißes Hemd rot, völlig mit Blut getränkt. Parvati sieht, wie es mit jedem Atemzug durch den Stoff gepumpt wird.

Der seltsame Seufzer, als er sie in den Waggon zog, fort von den Schüssen auf dem Bahnsteig. Sie hat gesehen, wie die Kugeln von den Stahlträgern abprallten.

Sein Gesicht hat die Farbe von Asche, die Farbe des Monsunhimmels. Sein Atem geht flatternd, sein Arm zittert, er kann sich nicht mehr lange aufrecht halten, und jeder Herzschlag pumpt einen Teil seines Lebens auf den Boden des Waggons. Das Blut sammelt sich um seine Füße. Seine Lippen bewegen sich, aber er bringt kein Wort mehr heraus. Parvati zieht ihn an sich, hält ihn in ihrem Schoß.

»Alles wird gut, mein Liebster, alles wird gut«, flüstert sie. Sie sollte um Hilfe rufen, nach einem Arzt verlangen, aber sie weiß mit schrecklicher Gewissheit, dass es in diesem überfüllten Waggon niemand hören würde. »Ach, Krishan«, murmelt sie, während sie spürt, wie sich das feuchte, sexuelle Blut unter ihren Schenkeln ausbreitet. Sanft berührt sie sein langes schwarzes Haar und wickelt es sich um die Finger, während der Zug immer weiter nach Süden fährt.

Hier kommt Mr. Nandha die Treppe der Diljit Rana Apartments hinauf, im kühlen kühlen Licht des Morgens nimmt er den ersten Absatz, den zweiten, dritten, vierten. Er hätte mit dem Aufzug fahren können, denn im Gegensatz zu den alten Komplexen wie den Shiva Nataraja Homes und dem White Fort sind in den staatlichen Wohnanlagen alle Einrichtungen funktionsfähig geblieben. Aber er will seine Energie, seinen Arbeitseifer, seinen Schwung beibehalten. Er will nicht nachlassen, nicht, wenn er nur noch wenige Schritte vor sich hat. Seine Avatare sind Fäden aus Spinnenseide zwischen den Türmen von Varanasi. Er kann spüren, wie die Vibration ihrer Energie die Welt erzittern lässt.

Fünfter Absatz, sechster.

Mr. Nandha hat sich vorgenommen, sich bei seiner Frau zu entschuldigen, weil er sie vor ihrer Mutter aus der Fassung gebracht hat. Die Entschuldigung ist nicht unbedingt nötig, aber Mr. Nandha ist davon überzeugt, dass es gut für eine Ehe ist, wenn man gelegentlich nachgibt, obwohl man im Recht ist. Doch sie muss anerkennen, dass er sich mitten im wichtigsten Fall der Geschichte des Ministeriums Zeit für sie genommen hat, mitten in einem Fall, der ihm, wenn er die Exkommunikation vollzogen hat, die Beförderung zum Investigative Officer First Rank einbringen wird. Dann werden sie glückliche Abende miteinander verbringen und in den Broschüren mit den Neubauten im Quartier blättern.

Während der letzten drei Treppenabsätze pfeift Mr. Nandha Melodien aus den Concerti grossi von Händel.

Es passiert nicht in dem Moment, als er den Schlüssel ins Schloss steckt. Auch nicht, als er die Hand an den Knauf legt und ihn dreht. Doch während des Zeitraums, den er benötigt, um den Knauf zu drehen und die Tür zu öffnen, wird ihm bewusst, was er vorfinden wird. Und er weiß, was seine Epiphanie im Korridor des Ministeriums kurz vor der Dämmerung zu bedeuten hatte. Es war genau der Moment, in dem seine Frau ihn verlassen hat.

Melodiefetzen von Händel hallen in seinem Hörzentrum nach, doch als er über die Schwelle tritt, hat sich sein Leben genauso verändert wie das Schicksal des Regentropfens, der einen Millimeter neben einem Berggipfel landet, um schließlich in einen ganz anderen Ozean zu fließen.

Er muss ihren Namen nicht rufen. Sie ist endgültig, unwiderruflich fort. Er bemerkt es nicht an der Abwesenheit von Dingen — ihre Chati-Magazine liegen auf dem Tisch, der Dhobi-Korb steht in der Küche neben dem Bügelbrett, ihre schmückenden Götter und Votivgaben befinden sich an den üblichen glückverheißenden Stellen. Die Blumen in der Vase sind frisch, die Geranien gewässert. Es ist ihre Abwesenheit in all diesen Dingen, den Möbeln, der Form des Zimmers, den Teppichen, dem tröstenden, glücklich machenden Fernseher, den Tapeten, den Gardinenstangen und der Farbe der Türen. In den Lichtern, den Küchenutensilien, den weißen Lebensmitteln. Ein halbes Heim, ein halbes Leben und eine halbe Ehe wurden subtrahiert. Die Natur verabscheut dieses Vakuum nicht. Es pulsiert, es besitzt Form und Geometrie.

Mr. Nandha weiß, dass er Laute von sich geben, Handlungen ausführen, Gefühle empfinden sollte, die der Situation angemessen sind, wenn man feststellt, dass man von seiner Frau verlassen wurde. Doch er tritt benommen und mit starrer Miene ins Zimmer und wieder hinaus, die Lippen fast zu einem Lächeln verzogen, als würde er seine Verteidigung auf den nächsten Schlag vorbereiten, wie ein Seemann, der sich in einem Tropensturm an den Mast fesselt, damit die Naturgewalten mit voller Macht über ihn hereinbrechen können. Das ist der Grund, warum er zum Schlafzimmer geht. Die bestickten Kissen, die Hochzeitsgeschenke von seinen Arbeitskollegen waren, sind auf den jeweiligen Seiten des Bettes angeordnet. Das teure Exemplar des Kamasutra, die Pflichtlektüre eines Ehepaars, liegt auf dem Nachttisch. Das glattgezogene Bettlaken ist ordentlich zurückgeschlagen.

Mr. Nandha beugt sich herab, um am Laken zu schnuppern. Nein. Er will gar nicht wissen, ob hier ein Anzeichen von Schuld zu finden ist. Er öffnet die Schiebetüren des Holzschranks, macht eine Inventur, was mitgenommen und zurückgelassen wurde. Die goldenen, blauen, grünen Saris, die reinweiße Seide für besondere Anlässe. Das wunderschöne scharlachrote Choli, das er so gern an ihr gesehen, das ihn von der anderen Seite eines Raumes oder einer Gartenparty begeistert hat. Sie hat all die gepolsterten, parfümierten Bügel mitgenommen und die billigen dagelassen, die sich zu flachen Rhomben verbogen haben. Mr. Nandha geht in die Knie, um sich das Schuhregal anzusehen. Es ist größtenteils leer. Er nimmt einen Slipper in die Hand, mit weicher Sohle, aus Satin und Goldfäden gearbeitet, streicht mit den Fingern über die Spitze, die weiche, wie eine Brust gewölbte Ferse. Er stellt ihn zurück. Er kann ihre hübschen Schuhe nicht ertragen.

Er schließt die Schiebetür vor den Kleidern und Schuhen, aber es ist nicht Parvati, an die er denkt, sondern seine Mutter, wie er sie am Ghat verbrannte, den Kopf kahlgeschoren und ganz in Weiß gekleidet. Er denkt daran, wie es anschließend in ihrem Haus war, die Schmerzlichkeit ihrer Kleider und Schuhe im Schrank, mit einem Mal überflüssig geworden, all ihre Vorlieben im Tod entblößt.

Die Nachricht klebt am Regal in der Küche, wo seine ayurvedischen Tees und Diätartikel aufbewahrt werden. Er stellt fest, dass er sie dreimal gelesen hat, ohne mehr zu verstehen als die offensichtliche Bedeutung, dass sie fort ist. Er kann die Worte nicht zu Sätzen verbinden. Gehe fort. Tut mir so leid. Kann dich nicht lieben. Suche nicht nach mir. Zu nahe. Zu viele Worte, die viel zu nahe beieinander stehen. Er faltet den Zettel zusammen, steckt ihn in die Tasche und steigt die Treppe zum Dachgarten hinauf.

Auf der freien Fläche, im grauen Licht, unter den Augen seiner Nachbarn und kybernetischen Avatare spürt Mr. Nandha, wie sich seine zusammengeballte Wut aus ihm erbricht. Am liebsten würde er den Mund öffnen und alles in einem ekstatischen Strom aus sich hinausfließen lassen. Sein Magen hebt sich, er kämpft dagegen an, bekommt ihn unter Kontrolle. Mr. Nandha unterdrückt die krampfhafte Übelkeit.

Was ist das für ein widerlicher chemischer Geruch? Trotz seiner Disziplin hat er einen Moment lang das Gefühl, dass sein Magen sich gegen ihn durchsetzen könnte.

Mr. Nandha kniet auf der Kante eines Hochbeets, steckt die Finger in die klebrige Erde. Sein Palmer klingelt. Mr. Nandha kann sich nicht vorstellen, was dieses Geräusch bedeuten könnte. Dann veranlasst ihn die wiederholte Nennung seines Namens, die Finger aus der Erde zu ziehen, auf das nasse Dach in der Abenddämmerung von Varanasi zurückzukehren.

»Nandha.«

»Chef, wir haben sie gefunden.« Viks Stimme. »Gyana Chakshu ist vor zwei Minuten auf sie gestoßen. Sie ist hier in Varanasi. Chef, sie ist Kalki. Wir haben alle Puzzleteile zusammengesetzt. Sie ist die Kaih. Sie ist die Inkarnation von Kalki. Ich lasse den Senkrechtstarter einen Umweg fliegen, damit er Sie abholt.«

Mr. Nandha richtet sich auf. Er blickt auf seine Hände, wischt sich an den Holzschwellen den Dreck ab. Sein Anzug ist fleckig, zerknittert, durchnässt. Er kann sich nicht vorstellen, sich jemals wieder trocken zu fühlen. Doch er zupft seine Manschetten zurecht, rückt seinen Kragen gerade. Er nimmt die Waffe aus der Innentasche und lässt sie entspannt an seiner Seite hängen. Die frühen Neonreklamen von Kashi schnattern und flackern zu seinen Füßen. Er muss seine Arbeit tun. Er hat einen Auftrag zu erfüllen. Er wird alles so gut bewältigen, dass nie wieder jemand etwas gegen Nandha vom Ministerium sagen kann.

Der Senkrechtstarter sinkt zwischen den großen Wohnkomplexen herab. Mr. Nandha sucht im Treppenhaus Schutz, während das Flugzeug über dem Dach langsamer wird und die Triebwerke schwenkt. Vik sitzt auf dem Platz des Kopiloten, als die Maschine in den Schwebemodus geht, das Gesicht durch die Konsolen-LEDs dramatisch von unten beleuchtet. Das Dach kann unmöglich einen Senkrechtstarter der Bharati Air Force tragen. Also lässt die Pilotin ihn zentimeterweise in einem ausbalancierten Newton’schen Ballett herabsinken und bringt ihn in Position, damit Mr. Nandha zwischen den Wirbeln von den Triebwerken an den Flügelspitzen hindurchschlüpfen und sicher über die Zugangsrampe im Heck einsteigen kann. Der Rückstoß richtet die Verwüstung an, die er in seiner Phantasie durchgespielt hat. Die Spaliere werden sofort plattgedrückt. Die Geranien werden von den Stangen gefegt. Setzlinge und kleine Pflanzen werden aus der weichen Erde gerissen, auch die Erde selbst rollt in matschigen Klumpen davon. Das getränkte Holz der Beete dampft und raucht. Die Pilotin lässt die Maschine herabsinken, bis die Räder die Dachpappe berühren. Die Heckrampe wird ausgefahren.

Eins nach dem anderen gehen Lichter in den umliegenden Fenstern an.

Mr. Nandha schlägt den Kragen hoch und kämpft sich durch die Böen zum offenen, blau erleuchteten Innenraum. Sein ganzes Team ist zwischen den Sowars der Luftlandetruppen versammelt. Mukul Dev und Ram Lalli. Madhvi Prasad, sogar Morva von der Steuerfahndung. Als Mr. Nandha sich neben ihm anschnallt, schließt sich die Rampe, und die Pilotin gibt Schub auf die Triebwerke.

»Meine lieben Freunde«, sagt Mr. Nandha. »Ich bin froh, dass Sie in diesem historischen Moment bei mir sind. Eine Künstliche Intelligenz der Generation Drei. Eine Entität, die so weit über unserem fleischlichen Intellekt steht wie wir über einem Schwein. Bharat wird uns dankbar sein. Jetzt sollten wir uns entschlossen ans Werk der Exkommunikation machen.«

Der Senkrechtstarter dreht sich um die vertikale Achse, während er über Mr. Nandhas verwüstetem Dachgarten aufsteigt, höher als all die Fenster und Balkone und Solarfarmen und Wassertanks seiner Nachbarn. Dann zieht die Pilotin die Nase hoch und das Heck runter, und die kleine Maschine schwebt steil zwischen den Hochhäusern empor.

Die letzten Götter erlöschen über Varanasi, und der Himmel ist nur noch der Himmel. Die Straßen sind still, die Gebäude sind stumm, die Autos haben keine Stimmen, und die Menschen sind einfach nur Gesichter, wie geschlossene Fäuste. Es gibt keine Antworten, keine Orakel in den Bäumen und Straßenschreinen, keine Prophezeiungen ankommender Flugzeuge, aber diese Welt ohne Götter ist in ihrer Leere unglaublich reichhaltig. Sinne füllen die Lücken aus, Motoren dröhnen, die Welle aus Stimmen schwappt heran, die Farben der Saris, der Männerhemden, die Neonreklamen, die im grauen Regen blitzen, alles leuchtet in einem eigenen lebhaften Licht. Jeder Hauch von Straßenparfüm, abgestandenem Urin, heißem Fett, Alkospritabgasen, brennendem feuchtem Plastik ist eine Emotion und eine Erinnerung an ihr Leben vor den Lügen.

Damals war sie eine andere Person, wenn sie den Frauen in der Hütte glauben kann. Aber die Götter — die Maschinen, wie sie nun erkennt — sagen, dass sie jetzt eine völlig andere Persönlichkeit ist. Sie sagen nicht, sie sagten. Die Götter sind fort. Zwei verschiedene Sätze von Erinnerungen. Zwei Leben, die nicht miteinander leben können, und nun ein drittes, das irgendwie beide vorherigen inkarnieren muss. Lull. Lull wird es verstehen. Lull wird ihr sagen können, wie sie sinnvoll mit diesen Leben umgehen sollte. Sie glaubt, sich an den Rückweg zum Hotel zu erinnern.

Benommen vom Imperium der Sinne, befreit von der Tyrannei der Informationen, entlassen ins Reich der simplen Dinge lässt sich Kij von der Stadt zum Fluss ziehen.

Im morgendlichen Regen auf der Ringautobahn im Westen von Allahabad starten zweihundert Awadhi-Panzer ihre Motoren, drehen sich auf der Stelle und verlassen ihre Wagenburg-Positionen, um eine geordnete Kolonne zu bilden. Der schnellere, beweglichere Verkehr saust an der vier Kilometer langen Schlange vorbei, aber es gibt keinen Zweifel mehr an der allgemeinen Richtung, nach Südsüdwest, zur Straße nach Jabalpur. Während in den Geschäften die Rollläden hochgezogen werden und die Lohn-Wallahs eintreffen, um mit ihren Phatphats und Dienstwagen zur Arbeit zu fahren, rufen die Zeitungsjungen die Nachricht von ihren Plätzen auf dem Betonmittelstreifen: PANZER ZIEHEN AB! ALLAHABAD GERETTET! RÜCKZUG DER AWADHIS NACH KUNDA KHADAR!

Ein weiteres Exemplar der unerschöpflichen Mercedes-Flotte des Premierministeriums wartet auf den Bharatiya Vayu Sena Airbus Industries A510, während er auf seine Parkposition weit entfernt von den betriebsameren Teilen des Flughafens von Varanasi eindreht. Regenschirme schützen Premierminister Ashok Rana auf dem Weg von der Treppe bis zum Wagen. Mit dicken Reifen rast er über das nasse Flugvorfeld davon. Ein Anruf ist in der Warteschleife. N. K. Jivanjee. Schon wieder. Er sieht gar nicht so aus, wie man es vom Innenminister einer Regierung der Nationalen Rettung erwarten würde. Er hat unerwartete Neuigkeiten.

Wenn sie in dieser Menge seine Hand loslässt, ist sie verloren.

Die bewaffneten Polizisten versuchen das Flussufer zu räumen. Die Ansagen über Megafone und Lastwagenlautsprecher fordern die Menge auf, sich zu zerstreuen. Die Menschen sollen wieder nach Hause oder zu ihrer Arbeit gehen. Die Ordnung wurde wiederhergestellt, ihnen droht keine Gefahr, überhaupt keine Gefahr. Einige, die von der allgemeinen Panik mitgerissen wurden, die eigentlich gar nicht die Stadt verlassen wollten, kehren um. Einige misstrauen der Polizei oder den Nachbarn oder den widersprüchlichen Bekanntmachungen der Regierung. Einige wissen nicht, was sie tun sollen, sie laufen hierhin, dorthin, nirgendwohin. Zwischen den drei Gruppen und den Armee-Hummers, die sich durch die schmalen Galis rund um den Vishwanath-Tempel zwängen, sind die Straßen völlig verstopft.

Lisa Durnau hat die Finger fest um Thomas Lulls linke Hand geschlossen. In der rechten hält er die Lade wie eine Laterne in einer dunklen Nacht. Ein letzter Rest in ihr, der sich für Regierungen und ihre Strategien verantwortlich fühlt, macht sich Sorgen wegen der eingebauten Selbstvernichtungssequenz für den Fall, dass die Lade einsam zurückgelassen wird. Aber sie glaubt nicht, dass Lull sie lange brauchen wird. Was auch immer hier geschehen soll, wird bald ein Ende finden.

Nandha. Der Krishna Cop. Der lizensierte Terminator der ungenehmigten Kaihs. Das körnige Tabernakel-Bild hat sich in ihr Vorderhirn eingebrannt. Es hat keinen Sinn, sich zu fragen, wie ein Krishna Cop in eine Maschine gelangen konnte, die älter ist als das Sonnensystem. Das Gleiche gilt für sie und die anderen. Aber in einem Punkt ist sie sich ganz sicher: Dies ist der Ort und die Zeit, wo alle diese Bilder entstanden sind.

Thomas Lull bleibt abrupt stehen, mit enttäuschter Miene, während er die Menge mit der Lade scannt und nach einer Übereinstimmung mit dem Bild auf dem Flüssigkristallbildschirm sucht.

»Der Wasserturm!«, ruft er und zerrt Lisa Durnau mit sich. Die großen rosafarbenen Betonzylinder ragen am Ufer alle paar hundert Meter von den Ghats auf, und jeder ist durch rosa lackierte Gerüste mit den obersten Stufen verbunden. Lisa Durnau kann kein Gesicht in der Masse der Flüchtlinge und Gläubigen erkennen, die sich rund um die Basis des Wasserturms drängen. Dann kommt der Senkrechtstarter über die Ghats herangeflogen, so tief, dass sich alle Leute instinktiv ducken. Alle, wie Lisa bemerkt, bis auf eine einsame Gestalt in Grau hoch oben auf dem Laufsteg rund um den Wasserturm.

Jetzt hat er sie. Er ist über seinen Hoek mit dem Gyana-Chakshu-System verbunden, und durch die Extrapolationen und Simulationen und Vektorierungen und Vorhersagen kann er die Kaih wie ein sich bewegendes Licht sehen, das durch Menschen, Verkehr und Gebäude scheint. Aus fünf Kilometern Höhe und Entfernung beobachtet er, wie sie sich durch das Labyrinth aus Straßen und Gassen hinter dem Flussufer bewegt. Mit seinen privilegierten Einsichten kann Mr. Nandha der Pilotin Richtungsanweisungen geben. Sie fliegt mit dem Senkrechtstarter in einem weiten Bogen heran, und Mr. Nandha blickt hinunter auf die Flutwelle der Menschen, die sich in den Straßen sammeln, und sie ist ein strahlender Stern. Er und die Kaih sind die einzigen beiden materiellen Lebewesen in dieser Stadt der Geister. Oder, überlegt Mr. Nandha, ist vielleicht genau das Gegenteil zutreffend?

Er befielt der Pilotin, sie über den Fluss heranzubringen. Mr. Nandha ruft seine Avatare herbei. Sie kochen in seinem Sichtfeld hoch wie Gewitterwolken, umzingeln die fliehende Kaih von allen Seiten, ein Belagerungsring von Göttern, die Waffen und Attribute erhoben, an den Wolken kratzend, während das Wasser Gangas ihre Vahanas umwirbelt. Eine unsichtbare Welt, die nur von den wahren Gläubigen gesehen werden kann ... Der fliehende Lichtklecks hält an. Mr. Nandha befielt Ganesha, dem Eröffner, die Überwachungskameras der Umgebung abzusuchen, bis die Mustererkennung die Exkommunikantin auf dem Wasserturm des Dasashvamedha Ghat ausfindig gemacht hat. Sie steht mit den Händen am Geländer und starrt über den wogenden Mob der Menschen, die sich vor dem Boot nach Patna drängeln. Steht sie dort so, weil sie sieht, was ich sehe?, fragt sich Mr. Nandha. Ist sie vor Furcht und Ehrfurcht erstarrt, als die Götter aus dem Wasser aufstiegen? Sind wir die einzigen wahren Sehenden in dieser Stadt der Illusionen?

Eine Kaih, die sich in einem menschlichen Körper inkarniert hat. Finstere Zeiten, in der Tat. Mr. Nandha kann sich nicht vorstellen, welche fremdartige, unmenschliche Intrige hinter diesem Verbrechen an einer Menschenseele steht. Er will es sich gar nicht vorstellen. Wissen kann der Weg zum Verständnis sein und Verständnis der Weg zur Toleranz. Für manche Dinge kann es keine Toleranz geben. Er wird die Missgeburt auslöschen, und alles wird wieder gut sein. Alles wird wieder in Ordnung kommen.

Als die Pilotin zwischen Hanuman und Ganesha hindurchfliegt, leuchtet ein einsamer Stern in Mr. Nandhas Sichtfeld vor der Spitze des Wasserturms. Sein Finger deutet hinunter auf den mit Regenpfützen übersäten Strand. Die Pilotin zieht die Nase hoch und schwenkt die Triebwerke. Sadhus und Swamis fliehen von ihren Müllfeuern und drohen dem vom Himmel herabsteigenden Ding mit knochigen Fäusten. Wenn ihr sehen würdet, was ich sehe, denkt Mr. Nandha und löst seinen Sitzgurt.

»Chef«, ruft Vik, während er sich durch die Kabine vorkämpft, »wir registrieren einen enormen Verkehr zum internen Netzwerk von Ray Power. Ich glaube, das ist unsere Gen-Drei.«

»Zu gegebener Zeit«, sagt Mr. Nandha mit leicht tadelndem Tonfall. »Eins nach dem anderen. So müssen Dinge erledigt werden. Wenn wir hier unsere Arbeit beendet haben, werden wir uns um Ray Power kümmern.«

Er hält die Waffe einsatzbereit in der Faust und springt auf den Sand am Fuß der Rampe. Der Himmel wimmelt von Göttern.

So viele Menschen. Kij hält sich am verrosteten Geländer fest; von den Massen auf den Ghats und am Flussufer ist ihr ganz schwindlig. Der Druck ihrer Körper hat sie auf diesen Steg getrieben, als sie auf dem Weg zum Haveli bemerkte, wie ihr der Atem in der Kehle stockte. Kij leert ihre Lungen, wartet und atmet dann langsam durch die Nase ein. Den Mund zum Sprechen, die Nase zum Atmen. Doch der Teppich aus Seelen widert sie an. Die Massen nehmen kein Ende, sie lösen sich schneller voneinander, als sie zu den Verbrennungsghats und zum Fluss gehen können. Sie erinnert sich an die anderen Orte, wo sie unter Menschen war, im großen Bahnhof, am brennenden Zug und anschließend im Dorf, wohin die Soldaten sie alle in Sicherheit brachten, nachdem sie die Maschinen aufgehalten hatte.

Jetzt versteht sie, wie sie das gemacht hat. Sie versteht, woher sie den Namen des Busfahrers auf der Straße in Thekkady wusste, den Namen des Jungen, der in Ahmedabad das Motorrad gestohlen hatte. Es ist eine Vergangenheit, die ihr so nahe und fremd ist wie die Kindheit, ein unauslöschlicher Teil von ihr, aber separat, unschuldig, uralt. Diese Kij ist sie nicht. Sie ist auch nicht die andere Kij, das konvertierte Kind, der Avatar der Götter. Sie hat begriffen, und in diesem Moment der Erleuchtung wurde sie im Stich gelassen. Die Götter konnten zu viel Menschlichkeit nicht ertragen. Und nun ist sie eine dritte Kij. Keine Stimmen und Weisheiten mehr in Straßenlampen und Taxiständen — das, so wird ihr nun klar, waren die Kaihs, die durch das Fenster ihrer Tilaka in ihre Seele flüsterten. Jetzt ist sie eine Gefangene in diesem Knochenkerker, genauso wie jedes andere Leben dort unten am Fluss. Sie ist gefallen. Sie ist Mensch geworden.

Dann hört sie das Flugzeug. Sie blickt auf, während es sich tief und schnell über die Tempeltürme und Dächer der Havelis nähert. Sie sieht zehntausend Menschen, die gleichzeitig zusammenzucken, aber sie bleibt stehen, weil sie weiß, was es ist. Eine letzte Erinnerung daran, dass sie etwas anderes als ein menschliches Wesen ist, ein letztes göttliches Flüstern, das Gotteslicht, das im Mikrowellensummen der kosmischen Hintergrundstrahlung verblasst, verrät es ihr. Sie beobachtet, wie das Flugzeug auf dem festgetrampelten Sand niedergeht und die Aschefeuer der Sadhus zu Funken verweht, und sie weiß, dass es ihretwegen gekommen ist. Sie läuft los.

Mit flinken Handzeichen weist Mr. Nandha seinen Trupp an, die Ghats zu räumen und die Ausgänge zu versperren. Aus dem Augenwinkel bemerkt er, dass Vik sich zurückfallen lässt, immer noch in der Straßenkleidung, die er schon während der nächtlichen Kämpfe getragen hat, verschwitzt und verschmutzt an diesem feuchten Monsunmorgen. Vik ist unsicher und ängstlich. Er macht sich einen Vermerk, dass er Vik wegen ungenügendem Eifer eine Rüge erteilen will. Wenn der Fall abgeschlossen ist, wenn er für eine strengere Führung sorgen wird. Mr. Nandha schreitet über den feuchten weißen Sand.

»Achtung, Achtung!«, ruft er mit erhobener Vollmacht. »Dies ist eine Sicherheitsaktion des Ministeriums. Bitte leisten Sie unseren Beamten jede erdenkliche Hilfe. Ihnen droht keine Gefahr.« Aber es ist die Waffe in seiner rechten Hand, nicht die Vollmacht in der linken, die die Menschen zurückweichen lässt. Eltern zerren ihre neugierigen Kinder fort, Ehefrauen drängen ihre Ehemänner aus dem Weg. Für Mr. Nandha ist das Dasashvamedha Ghat eine mit Geistern gepflasterte Arena, die von göttlichen Zuschauern umringt wird. Er stellt sich vor, dass ihre hohen, riesigen Gesichter lächeln. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf den kleinen leuchtenden Punkt in seinem verstärkten Sichtfeld, sternenförmig jetzt, das Pentagramm der menschlichen Gestalt. Die Kaih entfernt sich von ihrem Aussichtspunkt auf dem Wasserturm. Sie ist nun auf dem Laufsteg. Mr. Nandha rennt los.

Die Menge duckte sich beim Überflug des Senkrechtstarters, und Lisa Durnau tat dasselbe. Und während sie zu Kij auf dem Turm hinaufblickt, spürt sie, wie Thomas Lulls Finger durch ihre gleiten und sich von ihr lösen. Die Körper schließen sich um ihn. Er ist fort.

»Lull!« Nach nur wenigen Schritten ist er völlig verschwunden, absorbiert von der Bewegung der farbenfrohen Salwars und Jacken und T-Shirts. In aller Öffentlichkeit verborgen. »Lull!« Unmöglich, dass er sie im Lärm des Dasashvamedha Ghat hört. Plötzlich empfindet sie größere Klaustrophobie als im steinernen Geburtskanal von Darnley 285. Allein in der Menge. Sie bleibt stehen, atmet keuchend im Regen. »Lull!« Sie blickt zum Wasserturm am oberen Ende der versetzten Steintreppen hinauf. Kij steht immer noch am Geländer. Wo sie ist, wird auch Lull sein. Keine Zeit für westliche Nettigkeiten. Lisa Durnau kämpft sich mit den Ellbogen durch die wimmelnde Menge.

In der Lade ist sie unschuldig, in der Lade weiß sie nichts, sieht sie nichts, in der Lade ist sie eine Jugendliche, die von hoch oben auf eins der größten Wunder der Menschheit herabblickt.

»Lassen Sie mich durch, lassen Sie mich durch!«, ruft Thomas Lull. Er sieht, wie der Senkrechtstarter, ähnlich einer Gottesanbeterin, das Fahrwerk ausklappt und auf dem Sandstreifen niedergeht. Er sieht die Wellen des Unmuts, die sich durch die Menge ausbreiten, als die Soldaten die Leute zurückdrängen. Von seinem höheren Standpunkt auf dem Ghat sieht er, wie die blasse Gestalt über den geräumten Marmor vorrückt. Das ist der vierte Avatar des Tabernakels. Das ist Nandha, der Krishna-Cop.

Es gibt eine Geschichte von Kafka, erinnert sich Lull im Wahnsinn seiner äußersten Anstrengung, über einen Boten, der eine Gnadenbotschaft vom Kaiser zu einem Untertanen bringt. Obwohl der Bote über alle Siegel und Vollmachten und Machtwörter verfügt, schafft er es nicht, den Palast zu verlassen, weil das Gedränge zu groß ist. Er kommt nie durch die Menge, um die lebenswichtige Nachricht zu überbringen. Also bleibt sie ungesagt — zumindest in Lulls Erinnerung aus seiner paranoiden Zeit.

»Kij!« Er ist nahe genug, um die drei schmuddeligen weißen Streifen an der Seite ihrer grauen Sportschuhe zu erkennen. »Kij ...« Aber seine Worte fallen in die Senke des Lärms, werden zerdrückt und ausgelöscht von härteren, lauteren Hindi-Rufen. Und sein Atem versagt, er spürt die kleine elastische Spannung am Grund jedes Atemzugs.

Scheiß auf Kafka.

»Kij!«

Er kann sie nicht mehr sehen.

Lauf, flüstert die Asche der Götter. Ihre Füße klappern über das Metallgerüst. Sie wirbelt um den Pfeiler und die scharfkantigen Stahlstufen hinunter. Ein älterer Mann schreit und flucht, als Kij mit ihm zusammenprallt.

»Tut mir leid, tut mir leid«, flüstert sie, die Hände beschwichtigend erhoben, aber er ist schon fort. Sie bleibt einen Moment auf der obersten Stufe der Treppe stehen. Der Senkrechtstarter ist rechts von ihr auf dem Sand gelandet, nicht weit vom Wasser. Eine Störung in der Menge bewegt sich wie eine Kobra auf sie zu. Hinter ihr peitschen die Antennen eines Armee-Hummer zwischen den niedrigen, tropfenden Ständen der Dasashvamedha Gali durch die Luft. Dort ist ihr der Fluchtweg versperrt. Das Tragflügelboot liegt am Steg vor einer riesigen Raute aus Menschen, die versuchen, sich an Bord zu drängen. Viele stehen schultertief im Wasser und tragen ihre Sachen auf den Köpfen. Früher hätte sie probieren können, die Kontrolle über die Maschinen des Boots zu erlangen, um über den Fluss zu entkommen. Aber diese Macht besitzt sie nicht mehr. Sie ist nur noch ein Mensch. Links von ihr fallen die Wände und Stützpfeiler von Man Singhs astronomischem Palast gestuft zum Ganges hinab. Köpfe, Hände, Stimmen, Dinge, Farben, regenfeuchte Haut, Augen. Ein blasser Kopf, der sich mit fremdländischer Körpergröße über die anderen erhebt. Langes Haar, graue Stoppeln. Blaue Augen. Blaues Hemd, albernes Hemd, knallbuntes Hemd, herrliches rettendes Hemd.

»Lull!«, ruft Kij und springt die steilen, schlüpfrigen Ghats hinunter. Sie schlittert über die Steine, steigt über Gepäckballen, stößt Kinder beiseite, springt über niedrige Mauern und Plattformen, auf denen die Brahmanen das Zehn-Pferde-Opfer Brahmas mit Feuer und Salz, Musik und Prasad feiern. »Lull!«

Mit einem einzigen Gedanken verbannt Mr. Nandha seine Götter und Dämonen. Jetzt hat er sie. Sie kann nicht in die Stadt fliehen. Der Fluss ist ihr versperrt, Mr. Nandha ist hinter ihr, so dass es nur noch vorwärts weitergeht. Die Menschen weichen vor ihm zurück wie ein Meer, dass sich in einem fremden religiösen Mythos teilt. Er kann die Kaih sehen. Sie ist grau gekleidet, in tristes Maschinengrau, so einfach auszumachen, so einfach zu identifizieren.

»Halt«, sagt Mr. Nandha ruhig. »Sie sind verhaftet. Ich bin ein Polizist. Bleiben Sie sofort stehen, und legen Sie sich flach auf den Boden.«

Zwischen ihm und der Kaih ist nur freie Fläche. Und Mr. Nandha erkennt, dass sie nicht stehen bleiben wird, dass sie versteht, was das Gesetz von ihr verlangt, und dass sie in der Weigerung eine letzte winzige Überlebenschance sieht. Mr. Nandha entsichert mit einem Klick seine Waffe. Das Indra-Avatar-System schwenkt seinen ausgestreckten Arm zum Ziel. Dann führt sein Daumen eine Bewegung aus, die er noch nie zuvor ausgeführt hat. Er schaltet die Waffe vom unteren Lauf, der Maschinen tötet, auf den oberen um. Der Mechanismus gleitet mit einem seidenweichen Klicken in Position.

Lauf. Ein so leichtes Wort, wenn man nicht gerade spürt, dass die Lungen wie Fäuste verkrampft sind und um jeden Atemzug ringen, wenn die Menge nicht jedem Satz und Schubser und Ellbogenstoß Widerstand leistet, wenn ein falscher Tritt einen unter die Füße der Menge und ins Verderben befördern könnte, wenn sich der Mann, der einen retten könnte, nicht am geometrisch fernsten Punkt des Universums befindet.

Lauf. Ein so leichtes Wort für eine Maschine.

Mr. Nandha kommt schlitternd auf dem tückischen, von Füßen polierten Stein zum Stehen, die Waffe erhoben. Er kann sein Ziel genauso wenig aus dem Blick verlieren, wie er die Sonne von ihrer Position verrücken könnte. Indra würde es nicht zulassen. Sein ausgestreckter Arm, seine Schultern schmerzen.

»Im Namen des Ministeriums, ich befehle Ihnen, stehen zu bleiben!«, brüllt er.

Sinnlos, wie immer. Er fasst die Absicht. Indra feuert. Die Menge schreit.

Die Munition ist eine Patrone mittlerer Geschwindigkeit aus flüssigem Wolfram, die sich außerhalb des Laufs von Mr. Nandhas Waffe im Flug zu einer rotierenden Scheibe aus heißem Metall ausdehnt, von der Größe eines Rings aus zusammengelegtem Daumen und Zeigefinger, ein Okay-Zeichen. Sie erwischt Kij mitten im Kreuz und gräbt sich in einem Sprühnebel aus verflüssigtem Gewebe durch die Wirbelsäule, die Nieren, die Eierstöcke und den Dünndarm. Die Vorderseite ihres ärmellosen grauen Baumwolltops explodiert in einem Regen aus Blut. Der Aufprall reißt sie von den Beinen und schleudert sie mit ausgebreiteten Armen auf die Menge. Die Leute kriechen hektisch unter ihr hervor. Sie stürzt schwer auf den Marmor. Der Treffer, das Trauma hätten sie töten sollen — die untere Körperhälfte ist von der oberen getrennt —, aber sie windet sich und krallt die Finger in den Marmor, mitten in einer Lache aus warmem, süßem Blut, und gibt leise kreischende Laute von sich.

Mr. Nandha seufzt und geht zu ihr. Er schüttelt den Kopf. Ist ihm niemals etwas mehr Würde vergönnt? »Treten Sie bitte zurück«, befiehlt Mr. Nandha. Er steht über Kij, die Beine leicht gespreizt. Indra senkt die Waffe. »Dies ist eine routinemäßige Exkommunikation, aber ich rate Ihnen, jetzt den Blick abzuwenden«, erklärt er den Umstehenden. Er schaut zu seinen Zuschauern auf. Seine Augen blicken in blaue Augen, westliche Augen, in einem westlichen Gesicht mit Bart, ein Gesicht, das er wiedererkennt. Ein Gesicht, nach dem er sucht. Thomas Lull. Mr. Nandha vollführt den Ansatz einer Verbeugung. Die Waffe feuert. Die zweite Patrone trifft Kij in den Hinterkopf.

Thomas Lull brüllt unzusammenhängend. Lisa Durnau ist bei ihm, hält ihn fest, zieht ihn zurück, klammert sich mit ihrer ganzen sportlichen Kraft und ihrem Körpergewicht und ihrer gemeinsamen Geschichte an ihn. In ihren Ohren ist ein Geräusch wie vom Ende eines Universums. Die Streifen unerträglicher Hitze auf ihrem Gesicht sind Tränen. Und immer noch prasselt der Regen vom Himmel.

Mr. Nandha spürt, dass seine Krieger hinter ihm stehen. Er dreht sich zu ihnen um. Vorläufig muss er den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht zur Kenntnis nehmen. Er zeigt auf Thomas Lull und die Frau, die seine Arme festhält.

»Lassen Sie diese Personen wegen eines Vergehens gegen das Gesetz zur Registrierung und Lizensierung Künstlicher Intelligenzen festnehmen«, befiehlt er. »Entsenden Sie unverzüglich alle Einheiten zum Forschungs- und Entwicklungszentrum von Ray Power an der University of Varanasi. Und jemand soll sich um das hier kümmern.«

Er steckt die Waffe ins Holster. Mr. Nandha hofft sehr, dass er sie an diesem Tag kein weiteres Mal benutzen muss.

Schauen Sie nach links, sagt der Kapitän. Das ist der Annapurna und dahinter der Manaslu. Danach kommt der Shishapangma. Alle über achttausend Meter hoch. Wenn Sie auf der linken Seite des Flugzeugs sitzen, gebe ich Ihnen Bescheid, sobald er in Sicht kommt, denn an guten Tagen kann man von hier aus den Sagarmatha sehen. So nennen wir den Everest.

Thal hat sich auf dem breiten Sitz der Businessclass zusammengerollt, den Kopf auf das Kissen auf der Armlehne gelegt, und gibt im Schlaf leise Sopranschnarcher von sich, obwohl der Flug von Varanasi nur vierzig Minuten dauert. Najia hört die hohen Beats aus sys Kopfhörern. Für alles einen Soundtrack. HIMALAYA MIX. Sie beugt sich über ys, um aus dem Fenster zu blicken. Der kleine Cityhopper fliegt über die Ganges-Ebene und das Terai-Tiefland in Nepal, um dann einen großen Sprung über das von Flüssen zerrissene Vorgebirge zu machen, das Kathmandu wie eine Festungsmauer schützt. Dahinter erhebt sich wie eine Brandungslinie, die sich am Rand der Welt bricht, der Hochhimalaya, gewaltig und weiß und höher, als sie sich je erträumt hat. An den erhabensten Spitzen hängen Wolkenfetzen des Jetstreams. Immer höher und weiter, Gipfel um Gipfel um Gipfel, das Weiß der Gletscher und Hochebenen und das gefleckte Grau der Täler, die am fernsten Rand ihres Sichtfeldes zu Blau verschwimmen, wie ein steinerner Ozean. Najia kann in keiner Richtung eine Begrenzung sehen.

Ihr Herz macht einen Satz. In ihrer Kehle ist etwas, das sie nicht schlucken kann. In ihren Augen sammeln sich Tränen.

Sie erinnert sich an diese Szene aus Lal Darfans Elefantenpagode, aber jene Berge hatten nicht die Macht, sie zu berühren, zu bewegen, zu inspirieren. Sie waren Faltungen aus Fraktalen und Ziffern, zwei imaginäre Landmassen, die miteinander kollidieren. Und Lal Darfan war auch N. K. Jivanjee und auch die Gen-Drei-Kaih gewesen, und die westlichsten Ausläufer dieser Berge waren die Gipfel, die sie über der Mauer um den Garten in Kabul gesehen hat. Sie weiß, dass das Bild, das die Gen-Drei ihr von ihrem Vater als Folterer zeigte, nicht echt war. Sie ist nie diesen Korridor entlanggegangen, war nie in diesem Raum bei dieser Frau, die aller Wahrscheinlichkeit nach niemals existierte. Aber sie bezweifelt nicht, dass es andere gab, dass andere Frauen auf diesen Tisch geschnallt wurden und schrien, weil sie eine Gefahr für das Establishment darstellten. Und sie bezweifelt nicht, dass dieses Bild nun für immer ihrem Gedächtnis eingebrannt ist. Ich bestehe aus Gedächtnis, hatte die Kaih gesagt. Das Gedächtnis bildet unser Ich, wir erschaffen uns ein Gedächtnis. Sie erinnert sich an einen anderen Vater, eine andere Najia Askarzadah. Sie weiß nicht, wie sie mit ihnen leben kann, ihnen beiden. Und die Berge sind rau und hoch und kalt und reichen über jedes Ende hinaus, das sie sehen kann, und sie fliegt hoch und einsam auf ihrem ledernen Sitz der Businessclass mit fünfzig Zoll Beinfreiheit.

Jetzt glaubt sie zu wissen, warum die Kaih ihr die Kindheit zeigte, die sie verdrängt hatte. Es war nicht aus Grausamkeit geschehen und nicht einmal, um Zeit zu gewinnen. Es war ehrliche, anrührende Neugier gewesen, der Versuch eines Djinns, der aus Geschichten gemacht ist und etwas verstehen will, das außerhalb der Mandalas seiner Fähigkeiten und Künste liegt. Etwas Glaubwürdiges, das die Kaih nicht selber geschaffen hat. Sie wollte das Drama der Realität erleben, der Quelle, die sämtliche Geschichten speist.

Najia Askarzadah zieht die Beine auf den Sitz und drapiert sich quer über Thal. Sie legt ihren Arm auf sys und nimmt locker sys Finger in ihre. Thal reagiert mit einer Halbsilbe, aber sie weckt ys nicht aus sys Schlaf. Sys Hand ist zierlich und warm, unter ihrer Wange spürt sie sys Rippen. Ys ist so leicht, so lose zusammengefügt wie eine Katze, aber sie spürt die Zähigkeit einer Katze in den Muskeln, die ein- und ausatmen. Sie liegt da und lauscht sys Herzschlag. Sie denkt, dass sie wahrscheinlich nie einer mutigeren Person begegnet ist. Ys hat immer darum kämpfen müssen, ys selbst zu sein, und nun geht ys ins Exil, ohne ein Ziel vor Augen zu haben.

In achttausend Metern Höhe kann sie nun verstehen, dass Shaheen Badoor Khan ein ehrenwerter Mann war. Selbst als er in Bharat ihr Taxi durch den Kontrollpunkt am Vip-Gate und über die Zufahrt zur Vip-Lounge eskortierte, sah sie nur seine Falschheiten und Schwächen, einen anderen Mann, ein anderes Gewebe aus Unwahrheiten und Komplikationen. Als sie am Schalter wartete, während er leise, intensiv und schnell mit dem Airline-Angestellten sprach, rechnete sie fest damit, dass jeden Augenblick die Flughafenpolizei um die Ecke kommen würde, mit erhobenen Waffen und Kabelbindern für ihre Handgelenke. Sie alle waren Verräter. Sie alle waren ihre Väter.

Sie erinnert sich, wie das Gate-Personal starrte und flüsterte, während Shaheen Badoor Khan die letzten Formalitäten erledigte. Er hatte ihr schnell und förmlich die Hand geschüttelt, dann Thal, und war mit zügigen Schritten davongegangen.

Das Flugzeug hatte gerade die Monsunwolkendecke durchstoßen, als die Nachricht über alle Bildschirme in den Rückenlehnen hereingekommen war. N. K. Jivanjee war zurückgetreten. N. K. Jivanjee war aus Bharat geflohen. In der Regierung der Nationalen Rettung herrschte Chaos. Shaheen Badoor Khan, der in Ungnade gefallene Berater der ermordeten Premierministerin, war mit erstaunlichen Enthüllungen an die Öffentlichkeit getreten, gestützt auf beweiskräftige Dokumente, dass der ehemalige Shivaji-Parteichef eine Intrige geplant hatte, die Rana-Regierung zu vernichten und Bharat im Konflikt mit den Awadhis zu schwächen. Bharat steht unter Schock! Empörende Offenbarungen! Ein unglaublicher Skandal! Ashok Rana wird aus dem Rana Bhavan eine Erklärung abgeben! Khan als Retter der Nation! Wo ist Jivanjee?, fragt Bharat. Wo ist Jivanjee? Jivanjee, der Verräter!

Bharat wurde vom dritten politischen Erdbeben innerhalb von vierundzwanzig Stunden erschüttert. Erheblich schwerere Schäden hätte die Katastrophe angerichtet, hätte Shaheen Badoor Khan offenbart, dass die Shivaji die politische Front einer Kaih der Generation Drei war, die aus der kumulativen Intelligenz von Stadt und Land bestand. Ein versuchter Staatsstreich durch die beliebteste Soap Opera des Landes. Als sie Reiseflughöhe erreicht hatten und die Stewardess mit Getränken kam, bestellte Thal zwei doppelte Cognacs. Ys war einem Mordanschlag entkommen, hatte gegen eine Gen-Drei-Kaih gekämpft und einen mordlustigen Mob überlebt, so dass ys sich ein klein wenig Luxus verdient hatte. Währenddessen hatte Najia die neuesten Meldungen verfolgt und die Raffinesse und das Geschick erfasst, mit dem Shaheen Badoor Khan die Sache durchzog. Noch bevor das Flugzeug gestartet war, musste er einen Deal mit der Gen-Drei geschlossen haben, mit dem Ziel, die größtmögliche politische Einigkeit für Bharat zu gewährleisten. Dies war sein Sitzplatz gewesen, seine Miniflasche Hennessy, doch er war für sein Land geblieben, weil er nichts anderes mehr hatte.

Sie kann nicht wieder nach Schweden zurückgehen. Najia Askarzadah ist jetzt genauso im Exil wie Thal. Sie zittert, schmiegt sich enger an Thal. Ys schließt die Finger fest um ihre. Najia kann sys subdermale Aktivatoren an ihrem Unterarm spüren. Weder Mann noch Frau noch beides noch keins von beiden. Neut. Eine andere Art des Menschseins, mit einer Körpersprache, die sie nicht versteht. Fremdartiger für sie als jeder Mann, als jeder Vater, doch dieser Körper neben ihrem ist loyal, zäh, witzig, mutig, clever, freundlich, sinnlich, verletzlich. Süß. Sexy. Alles, was man sich von einem Seelenfreund wünschen kann. Oder einem Liebhaber. Bei diesem Gedanken zuckt sie zusammen, dann drückt sie die Wange an Thals gebeugte Schulter. Sie spürt, wie sich ihre miteinander verbundenen Schwerkraftzentren verschieben, als das Flugzeug beidreht, um mit dem Landeanflug auf Kathmandu zu beginnen. Sie hebt den Kopf, um aus dem Fenster zu blicken, um vielleicht einen erhellenden Blick auf den fernen Sagarmatha zu werfen, doch sie sieht nur eine merkwürdig geformte Wolke, in der man fast die Gestalt eines riesigen Elefanten erkennen könnte, wenn so etwas möglich wäre.

Der Lauf der Geschichte wird in Jahrhunderten gemessen, aber ihre Fortschritte finden innerhalb von Stunden statt. Während sich die Panzer nach Kunda Khadar zurückziehen, wenige Stunden nach dem schockierenden Rücktritt von N. K. Jivanjee wegen Badoor Khans Behauptungen und nach dem Ausscheiden der Shivaji aus der Regierung der Nationalen Rettung, nimmt Ashok Rana das Angebot aus Delhi an, sich zu Gesprächen in Kolkata zu treffen, um den Streit um den Damm beizulegen. Doch der Tag hält noch eine weitere Überraschung für die schwer angeschlagene Nation Bharat bereit. Ganze Familien sitzen schockiert, sprachlos, benommen vor ihren Fernsehern. Mitten in der Ein-Uhr-Ausstrahlung von Stadt und Land wird die Sendung unterbrochen.

Sie fahren in Siebenergruppen mit den Aufzügen hinab, dann geht es die Betonstufen hinunter und durch die Luftschleuse in Debas stinkendes kleines Kämmerchen und den Beobachtungsraum, wo Investmentbanker, Grameen-Vertreter, Frauen, Nachwuchsjournalisten, Berater des Ray-Clans und ein sichtlich unter Schock stehender Energieminister Patel einen engen Kreistanz aufführen, um durch die dicke Glasscheibe einen Blick ins grelle Licht eines fremden Universums zu werfen.

»Okay, okay, weitergehen, nicht länger als fünf Sekunden. Ray Power übernimmt keine Verantwortung für Augenreizungen, Sonnenbrand oder sonstige Probleme wegen der Ultraviolettstrahlung«, sagt Deba, während er die Leute hinein-, herum- und hinauswinkt. »Nicht länger als fünf Sekunden. Ray Power übernimmt keine Verantwortung ...«

Der Vortragssaal wurde mit Displays und Bildschirmen ausgestattet und mit Snacks und Mineralwasser bestückt. Sonia Yadav hält sich tapfer am Rednerpult und versucht den Versammelten zu erklären, was sie auf den Bildschirmen sehen: zwei einfache grafische Balken, die die Energie darstellen, die aus dem Netz gewonnen wird, das das Nullpunktfeld aufrechterhält, und die Energieleistung aus der Potenzialdifferenz zwischen den universellen Grundzuständen. Aber sie kämpft an zwei verlorenen Fronten, an der wissenschaftlichen und der akustischen.

»Wir gewinnen zwei Prozent mehr, als wir hineinstecken«, ruft sie über dem anschwellenden Gemurmel der Frauen vom Land, die Geschichten über ihre Enkelkinder austauschen, der Geschäftsleute, die mit Partnern und Palmern kommunizieren, und der Journalisten, die an ihren Hoeks hängen, um sich über die neueste schockierende wundersame Offenbarung zu informieren, die aus der Bharat Sabha kommt: der überraschende Rücktritt von N. K. Jivanjee von seinem Posten in der Regierung der Nationalen Rettung. »Wir speichern diese Energie in Hochleistungskondensatoren für den Laser-Teilchenbeschleuniger, bis die Menge ausreicht, um sie ins Netz einzuspeisen, um einen Zugang zu einem Universum mit noch höherem Level zu öffnen und so weiter. Auf diese Weise klettern wir die Leiter der Energiezustände hinauf, bis wir auf eine Ausbeute von etwa einhundertfünfzig Prozent kommen ...«

Sie ballt die Hände zu Fäusten, schüttelt den Kopf und seufzt frustriert, als die Lautstärke im Vortragssaal auf ein mittleres Getöse angestiegen ist.

Vishram übernimmt das Mikro. »Meine Damen und Herren, dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Ich weiß, dass es für viele von Ihnen ein langer und ereignisreicher Tag war, aber wenn Sie mir jetzt bitte zum Labor folgen würden, wo wir den ersten Durchbruch erzielt haben ...«

Das Personal treibt die Gäste hinüber ins Nullpunktlabor.

»Kein Plan überlebt die Begegnung mit dem Feind«, flüstert er Sonia Yadav zu. Eine Hovercam schießt an seinem Kopf vorbei, nahe und nervig wie ein Insekt, und überträgt die Ereignisse an die fernen Aktionäre. Er stellt sich die virtuellen Geister der Kaih-Repräsentanten vor, wie sie über der langsam vorrückenden Reihe der Gäste schweben. Abteilungsleiter Surjeet hat energisch dagegen protestiert, dass Vishram das Nullpunkttheorielabor mit dem Labyrinth aus beschriebenen Wänden und Hieroglyphen öffnet. Surjeet hat befürchtet, das Projekt könnte dadurch amateurhaft wirken — sehen Sie nur, wie man bei Ray Power arbeitet! Mit Filzstiften und Spraydosen, an der Wand, wie die Grafitti von Badmashs. Vishram will es aus genau diesem Grund: Es ist menschlich, chaotisch, kreativ. Es zeigt die erwünschte Wirkung, die Leute entspannen sich, blicken erstaunt auf die Hieroglyphen. Wird dies die neue Höhle von Lascaux, die neue Sixtinische Kapelle sein?, fragt sich Vishram. Die Symbole, die die Geburt eines neuen Zeitalters markieren. Er sollte Vorkehrungen treffen, diesen Raum konservieren zu lassen.

Vishram Ray mit Unsterblichkeitsambitionen. Voller Freude bemerkt er, dass sein Abendessenstermin mit Sonia Yadav immer noch in rotem Marker in einer Ecke des Schreibtischs leuchtet. In der weniger förmlichen Umgebung dringt ihre Leidenschaft mühelos zum Publikum durch. Vishram beobachtet, wie ihre Armbewegungen Deckenflächen voneinander abgrenzen, gebannt verfolgt von einer Gruppe in grauen Anzügen. Er hört: »... auf einem fundamentalen Level, wo die Quantentheorie, die M-Stern-Theorie und die Computerwissenschaft interagieren. Wir haben festgestellt, dass die Quantencomputer, die wir benutzen, um das Eindämmungsfeld aufrechtzuerhalten — und es sind die Eindämmungsfelder, die die verschlungenen Geometrien der Branen beeinflussen —, tatsächlich die Wolfram-Friedkin-Struktur des neuen Universums verändern. Auf einem fundamentalen Level ist das Universum ein Computermodell.«

Ihre kleinen Münder stehen weit offen.

Vishram tänzelt an Marianna Fuscos Seite. »Wenn das hier vorbei ist«, sagt er und kommt ihr so nahe, wie es der professionelle Anstand einer Rechtsberaterin erlaubt, »könnten wir uns ... vielleicht irgendwohin ... zurückziehen. Wo es Sonne und Sand und Meer und richtig gute Bars und keine Menschen gibt. Wo wir einen Monat lang nur mit Sonnenschutzfaktor dreißig herumlaufen können.«

Und sie neigt ihm den Kopf zu, so nah wie möglich, und mit einem gefrorenen öffentlichen Lächeln sagt sie: »Ich kann nicht. Ich muss gehen.«

»Oh«, sagt Vishram. Und: »Scheiße.«

»Wegen einer Familienangelegenheit«, erklärt Marianna Fusco. »Großer Jahrestag in meiner Familienkonstellation. Die Leute kommen von überall. Verwandte, die ich beim letzten Mal noch gar nicht hatte. Nein, ich werde zurückkommen, Funny Man. Sag mir einfach nur, wo ich erscheinen soll, ohne Gepäck.«

Dann flackert die Beleuchtung, und der Boden zittert. Die Glasscheiben in den Fenstern und der Tür klirren. Ein beunruhigtes Raunen erhebt sich.

Surjeet hat beschwichtigend beide Hände erhoben. »Meine Damen und Herren, meine Damen und Herren, bitte, es besteht kein Grund zur Sorge. Was wir soeben gespürt haben, ist eine völlig normale Begleiterscheinung, wenn wir den Beschleuniger hochfahren. Wir haben eine Öffnung geschlossen und die Energie benutzt, um der Bran eine neue Struktur zu geben. Meine Damen und Herren, wir haben den Durchbruch in ein weiteres Universum geschafft!«

Der Applaus ist nur höflich und verwirrt.

Vishram nutzt die Gelegenheit zum Prahlen. »Und das, meine Freunde, bedeutet einen zwölfprozentigen Ertrag auf unsere Energieinvestition. Wir stecken hundert Prozent hinein, um den Zugang offen zu halten, und wir bekommen all das zurück und noch zwölf Prozent mehr! Das ist der Weg in die Zukunft der Nullpunktenergie!«

Indira spielt einen Tusch aus begeistertem gemeinschaftlichem Applaus ab.

»Du hättest Anwalt werden sollen«, sagt Marianna Fusco. »Du hast das Talent, endlos absoluten Schwachsinn über Themen zu erzählen, von denen du nicht die geringste Ahnung hast.«

»Hatte ich dir nicht erklärt, dass mein Vater mich aus genau diesem Grund haben wollte?«, erwidert Vishram und baut sich so auf, dass er von oben in Marianna Fuscos Top blicken kann. Er stellt sich vor, wie er ihre handfüllenden Brustwarzen langsam und ausgiebig einölt.

»Ich erinnere mich, dass du gesagt hast, sowohl Anwälte als auch Comedians würden ihren Lebensunterhalt als Rampensäue bestreiten«, sagt sie.

»Wirklich? Das muss kurz nach einem Fick gewesen sein.«

Aber er erinnert sich an das Gespräch. Es kommt ihm wie eine andere geologische Epoche vor, eine andere Inkarnation. Wieder zittert der Raum, diesmal stärker und anhaltender. Stifte fallen vom Schreibtisch, konzentrische Wellen schwappen im Wasserspender.

»Ein weiteres Universum, ein weiterer Anstieg des Aktienkurses«, witzelt Vishram, doch Sonia Yadavs Gesicht zeigt Besorgnis. Vishram fängt ihren Blick auf. Sie bricht ihre Führung ab. Sie kehren durch die Gruppen der Aktionäre zum leeren Vortragssaal zurück.

»Gibt’s ein Problem?«, flüstert er.

Sonia zeigt auf die Anzeigetafeln. Der Energiegewinn liegt bei einhundertdreißig Prozent. »Wir dürften noch lange nicht bei einem so hohen Wert angelangt sein.«

»Also funktioniert es besser als erwartet.«

»Mr. Ray, hier geht es um Physik. Wir kennen die Eigenschaften der Universen, die wir erschaffen, sehr genau. Da ist kein Platz für Überraschungen, für Mutmaßungen, für ein ›besser als erwartet, guter Junge, tolle Leistung!‹«

Vishram schickt Surjeet eine Message. Als der Abteilungsleiter eintritt, schließt Vishram die Tür und die Hovercams und Lauscher aus.

»Sonia erklärt mir, dass wir ein Problem mit der Nullpunktenergie haben.«

Surjeet saugt wieder die Luft durch die Zähne ein, was Vishrams Brustwarzen schmerzen lässt, insbesondere weil sich dadurch offenbart, dass er zu Mittag Saag gegessen hat.

»Wir erhalten anomale Werte.«

»Das heißt für mich das Gleiche wie ›Vishram, wir haben ein Problem‹.«

»Also gut, Mr. Ray. Es ist ein neues Universum, aber nicht das, das wir bestellt haben.«

Vishram spürt, wie sich seine Eier zusammenziehen. Surjeet hat seinen Palmer geöffnet, auf dem mathematische Grafiken und Drahtgittermodelle herumwirbeln. Auch Sonia ruft die neuesten Werte ab.

»Acht drei null.«

»Und was sollte es sein?«

»Zwei zwei vier.«

»Moment, Moment, Moment ... ich will keine Lottozahlen mehr hören.«

Sonia Yadav setzt zu einer sorgfältigen Erklärung an. »Alle Universen haben eine Warpzahl, wie wir es nennen. Je höher die Zahl, desto mehr Energie ist nötig, um Zugang zu ihnen zu bekommen, und desto mehr Energie können wir daraus gewinnen.«

»Also sind wir sechshundert Universen zu hoch.«

»Ja«, bestätigt Sonia Yadav.

»Was empfehlen Sie?«

»Mr. Ray, wir müssen das Nullpunktfeld unverzüglich abschalten und ...«

Vishram schneidet ihm das Wort ab. »Das kann nur der allerletzte Ausweg sein. Was glauben Sie, wie wir dann vor den versammelten Aktionären und der Presse dastehen? Eine weitere Demütigung Bharats ... Wenn wir das Ding sicher zu voller Leistung hochfahren können ...« Er wendet sich an Sonia Yadav. »Droht dann irgendeine Gefahr?«

Surjeet antwortet. »Mr. Ray, die Energien, die freigesetzt werden, wenn sich Membranen überschneiden ...«

Sonia unterbricht ihren Kollegen. »Nein.«

»Sind Sie sich ganz sicher?«

»Es stimmt, was Dr. Surjeet über die Energieniveaus sagt, wenn sich Membranen überschneiden. Es wäre wie ein Nano-Big-Bang, aber dabei geht es um Energien, die tausendmal stärker sind als alles, was wir hier erzeugen können.«

»Ja, aber Atiyahs Leiter-Effekt wird ...«

Der Mann, der den zweiten Big Bang zündete, denkt Vishram. Schöpfung Nummer zwei. Das wäre der größte Lacher, den ein Comedian jemals erhalten würde. »Wir machen es folgendermaßen«, sagt er. »Wir setzen die Demonstration wie geplant fort. Wenn wir über einhundertsiebzig kommen, schalten wir das Ding ab. Die Show ist vorbei, bitte nehmen Sie den Ausgang durch den Souvenirladen. Was auch immer geschieht, nichts, was in diesem Raum gesagt wurde, wird nach außen dringen. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Als er sich auf den Weg zur Tür zum Nullpunktlabor macht und denkt, dass er eine wunderbare Karriere sieht, die sich der Hindu-Physikerin Ms. Sonia Yadav eröffnet, wird das Forschungszentrum von einem noch stärkeren Beben durchgeschüttelt. Es geht bis in die Grundfesten, es lässt Vishram Ray und Sonia Yadav und Abteilungsleiter Surjeet taumelnd nach Halt suchen, nach etwas Festem, das sich nicht bewegt. Staub und Gips rieseln herab, Kacheln fallen von der Decke, und die Anzeigebildschirme klappern, dieselben Bildschirme, auf denen zu sehen ist, dass der Energieausstoß bei einhundertvierundachtzig Prozent liegt.

Universum 2597. Die Öffnung schießt immer höher die Leiter der Universenabfolge hinauf. Und Vishram Rays Palmer klingelt, sämtliche Palmer im Gebäude klingeln. Alle legen die Hand an den Kopf, und alle haben dieselbe Stimme im Ohr, die ihnen sagt, dass die Kaihs, die die Öffnung steuern, nicht mehr auf Befehle reagieren.

Sie haben die Kontrolle über die Nullpunktenergie verloren.

Wie ein christlicher Engel, wie das vom Himmel herabsausende Schwert des Rächers Michael, nähert sich Mr. Nandha durch die Luft dem Forschungszentrum von Ray Power. Er weiß, dass die Stimmung seines Exkommunikationstrupps im Bauch des Senkrechtstarters gedämpft, unsicher, verängstigt, rebellisch ist. Die Gefangenen werden mit ihnen reden und Ungläubigkeit und Zwietracht säen. So sind sie, denn sie haben nicht sein Engagement, und er kann es auch nicht von ihnen erwarten. Er ist bereit, ihren Respekt vor ihm als Opfer zu bringen. Diese Kriegerin neben ihm im Cockpit wird ihn an sein vorherbestimmtes Ziel bringen.

Er ruft die Adstringenzen einer Violinsonate von Bach auf, während die Pilotin die Maschine in eine lange und langsame Kurve bringt, die sie zu den grünen Rhomben der University of Bharat führen wird.

Eine Annäherung, ein Räuspern, ein Antippen seiner Schulter stören die unendlichen Geometrien der Solovioline. Mr. Nandha nimmt bedächtig seinen Hoek ab.

»Was gibt es, Vikram.«

»Chef, die Amerikanerin droht schon wieder mit diplomatischen Konsequenzen.«

»Das werden wir später erklären, wie ich bereits sagte.«

»Und der Sahb will unbedingt mit Ihnen reden.«

»Ich bin anderweitig beschäftigt.«

»Er ist verdammt sauer, dass er nicht zu Ihnen durchkommt.«

»Während des Kampfes gegen die Kalki-Kaih wurde mein Kommunikator beschädigt. Ich habe keine andere Erklärung.« Er hat das Gerät abgeschaltet. Er will keine plärrenden Fragen hören, keine Forderungen oder Befehle, die den perfekten Ablauf seiner Exekution stören.

»Trotzdem sollten Sie mit ihm reden.«

Mr. Nandha seufzt. Der Senkrechtstarter legt sich in eine Schleife und geht über den luftigen, spielzeugbunten Gebäuden der Universität der Ranas nieder. Sie schimmern in der Sonne, die die Monsunwolken zerrissen hat. Er nimmt seinen Hoek.

»Nandha.«

Die Stimme erzählt etwas von Übereifer, von Waffeneinsatz, Gefährdung der Öffentlichkeit, Fragen und Überprüfungen, zu weit gegangen, Nandha, zu weit, wir wissen von Ihrer Frau, sie ist am Bahnhof von Gaya aufgetaucht, aber die Worte, die nachhallen, die Worte, die klingen wie das Schwert dieses Christen, des Renaissance-Engels, als er damit gegen die Himmelkuppel schlägt, die Worte, die durch den Fluglärm schneiden, sind die Worte von Vik, der sie vor den Leuten wiederholt, die in voller Kampfmontur in ihren Sitzen angeschnallt sind: im Kampf gegen die Kalki-Kaih.

Er verachtet mich, denkt Mr. Nandha. Er hält mich für ein Monster ... Aber das bedeutet mir nichts. Ein Schwert erwartet kein Verständnis. Er nimmt den Hoek ab, und mit einem schnellen, kräftigen Ruck zerbricht er ihn in zwei Teile.

Die Pilotin blickt ihn durch ihr verspiegeltes Helmvisier an. Ihr Mund ist eine rote Rosenknospe.

Das vierte Beben erschüttert das Forschungszentrum, als Vishram den Feueralarm auslöst. Bücherregale kippen um, Weißwandtafeln fallen von den Wänden, Lampen wackeln, Mauerteile reißen, Kabelkanäle splittern. Der Wasserspender schaukelt hin und her, bis er anmutig zu Boden fällt und sich der Inhalt aus seinem Plastikbauch ergießt.

»Okay, meine Damen und Herren, kein Grund zur Beunruhigung. Wir haben es mit einer kleinen Überhitzung in der Stromübertragung zu tun«, lügt Vishram, während die Menschen mit aufgerissenen Augen und den Händen über den Köpfen nach dem Ausgang suchen. »Alles ist unter Kontrolle. Unser Sammelpunkt befindet sich draußen auf dem Hof, nachdem wir das Gebäude in geordneter Weise verlassen haben. Gehen Sie langsam, gehen Sie vorsichtig. Unser Personal ist gut ausgebildet und wird Sie in Sicherheit bringen.«

Ein Schwarm Hovercams ist — ausgenommen Energieminister Patel — schneller als alle anderen zur Tür hinaus. Sonia Yadav und Marianna Fusco wollen auf Vishram warten, aber er schickt sie nach draußen. Natürlich ist nichts von Surjeet zu sehen. Der Kapitän geht immer als Letzter von Bord. Als er sich umdreht, lässt das fünfte und bisher stärkste Beben die Deckenplatten in den Vortragssaal krachen. Vishram erhascht einen letzten, sich für immer einbrennenden Blick auf die Botschaft, die auf den herunterstürzenden Bildschirmen eingefroren ist.

Leistung siebenhundertachtundachtzig Prozent. Universum 11276.

Die leichte, geräumige Architektur von Ray Power verbiegt und bläht sich um Vishram Ray wie bei seinem ersten und einzigen Mushroom-Trip, während er — ohne Anstand, ohne Sorgfalt, ohne ein gutes Vorbild abzugeben, einfach nur in panischem Schrecken — zur Tür rennt. Der sechste Stoß reißt einen Spalt auf, der mitten durch den Ramayana-Boden verläuft. Die Parkettfliesen werden hochgeworfen, die Glastürscheiben zersplittern zu fliegendem Silikonschnee, während er hindurchrennt. Die Aktionäre, die sich bereits ein Stück vom Gebäude entfernt haben, ziehen sich weiter zurück. »Das ist keine elektrische Überhitzung«, hört Vishram eine pummelige Grameen-Frau in Witwenweiß, als er sich auf die Suche nach Sonia Yadav macht. Ihr Gesicht ist aschfahl.

»Was zum Henker ist passiert?«

»Sie haben das System übernommen«, sagt sie matt. Viele Aktionäre liegen flach auf dem immer noch feuchten Gras und warten auf das nächste, noch schwerere Beben.

»Wer, was?«, will Vishram wissen.

»Wir sind aus dem Netzwerk ausgeschlossen worden. Jemand anderer kontrolliert es jetzt. Sachen kommen rein, wir können nichts dagegen tun, auf allen Kanälen gleichzeitig, etwas sehr Großes.«

»Eine Kaih«, sagt Vishram, und Sonia Yadav hört, dass es keine Frage ist. Das Schlupfloch, die Befreiungsklausel, der Fluchtweg, wenn einer Gen-Drei die völlige Auslöschung droht. »Sagen Sie mir, könnten Künstliche Intelligenzen die Nullpunktenergie nutzen, um ihr eigenes Universum zu bauen?«

»Es könnte kein Universum wie dieses sein. Es müsste eins sein, in dem die Kalkulationen und Zahlen, die ihre Realität bilden, zu einem Teil der physikalischen Wirklichkeitsstruktur geworden sind.«

»Ein Universum, das denkt?«

»Wir würden von einem geistähnlichen Raum sprechen, aber ja.« Sie blickt ihm ins Gesicht und riskiert, von ihm verachtet zu werden. »Ein Universum der realen Götter.«

Sirenen in der Ferne, schnell näher kommend. Das Universum bricht auf, rufen Sie die Feuerwehr! Über den Sirenen ist noch ein anderes Geräusch zu hören: Flugzeugtriebwerke.

»Man hat uns zum Narren gehalten.« Vishram zieht eine Grimasse, und dann wird alles weiß, in einem reinen, perfekten, blendenden Blitz aus Ur-Licht, und als er wieder etwas sehen kann, strahlt ein Stern, rein und perfekt und grell mitten im Gebäude des Forschungszentrums.

Ein so helles Weiß, so glühend heiß, dass es sich durch das einseitig verspiegelte Visier der Pilotin brennt, und bevor das Whiteout einsetzt, brennt sich Mr. Nandha noch ein Bild auf die Netzhaut, das Bild von großen braunen Augen, hohen Wangenknochen, einer kleinen Nase. Wunderschön. Eine Göttin. Es muss viele Männer geben, die dich ehelichen wollen, meine Kriegerin, denkt Mr. Nandha. Das Gesicht verblasst zu einem Nachbild, dann kehrt die Welt in roten Punkten und Flecken zurück, und Mr. Nandha spürt Tränen in den Augen, das Gefühl der Bestätigung, denn dort ist das Zeichen, dass er recht gehabt hat. Ein Stern brennt im Herzen der Stadt, aus den Tiefen der Erde emporgestiegen. Er gibt der Pilotin einen Wink. Bringen Sie uns runter.

»Weit genug von den Leuten entfernt«, fügt er hinzu. »Wir wollen nicht rücksichtslos Leben gefährden.«

Vishram glaubt, diese Szene vielleicht schon einmal in einem Film gesehen zu haben. Oder wenn nicht, sollte er das entsprechende Drehbuch schreiben: eine Menschenmenge, die auf einem weiten grünen Feld steht, alle blicken in dieselbe Richtung, die Hände erhoben, um die Augen vor einem blendenden aktinischen Funken in der Ferne zu schützen. Um diese Einstellung könnte man eine Geschichte bauen. Er hat die Augen halb geschlossen, und trotzdem ist alles zu seltsam in die Länge gezogenen Silhouetten reduziert.

»Wenn es das ist, was ich denke, was es ist, dann gibt es viel mehr ab als nur helles Licht«, sagt Rameshs Stimme neben ihm.

»Und was denkst du, was es ist?«, fragt Vishram, während er sich an seinen Sonnenbrand erinnert, nachdem er durch das Beobachtungsfenster gelugt hat. Jenes Universum hatte ein recht niedriges Energieniveau. Ein Blick auf Sonia Yadavs Palmer, der weiterhin Daten von den Überwachungssystemen rund um die Öffnung empfängt, verrät ihm, dass dies das Universum 212255 ist. Etwas mehr als zwei Lakh Universen.

»Ein neugeborenes Universum«, sagt Ramesh verträumt. »Der einzige Grund, warum wir noch hier sind, warum hier überhaupt noch etwas existiert, ist das Eindämmungsfeld. In der subjektiven Physik dieses Universums dürfte es so aussehen, als würde etwas wie Supergravitation die Raumzeit zusammenstauchen, so dass es nicht expandieren kann. Aber diese Expansionsenergie muss irgendwohin abfließen.«

»Wie lange kann das Feld es halten?«, will Vishram von Sonia Yadav wissen. Er stellt sich vor, dass er brüllen sollte. In den Filmen brüllen sie immer. Ihr Schulterzucken sagt ihm alles, was er wissen und befürchten muss. Ein neues Beben. Menschen werfen sich zu Boden, obwohl die Erde keine Sicherheit mehr bietet. Vishram sieht sie kaum. Der Stern, der blendende Stern. Jetzt ist er eine winzige Sphäre. Dann hört er doch jemanden brüllen. Sonia Yadav.

»Deba! Hat jemand Deba gesehen?«

Während sich der Ruf über das Feld ausbreitet, wird Vishram Ray bewusst, dass er rennt. Ihm ist klar, dass sie Deba nirgendwo in dieser Menge finden werden. Deba ist da unten, in seinem Loch, in seinem Schwarzen Loch unter der Erde, am Abgrund zum Nichts. Eine Stimme ruft seinen Namen, eine Stimme, die er nicht erkennt. Er blickt sich um und sieht, dass Marianna Fusco hinter ihm herrennt. Sie hat ihre Schuhe ausgezogen, und sie rennt schwerfällig in ihrem Geschäftskostüm. Er hat noch nie gehört, wie sie seinen Namen gebrüllt hat.

»Vish! Komm zurück! Du kannst nichts tun!«

Die Blase expandiert weiter. Jetzt misst sie dreißig Meter und erhebt sich wie eine Mughal-Kuppel aus dem Forschungszentrum. Genauso wie die Kuppel des Mughal Taj ist sie innen leer, noch leerer als die Grabkammer eines Imperators in tiefer Trauer. Sie ist nichts. Sie ist eine so absolute Auslöschung, dass der menschliche Geist es gar nicht erfassen kann. Und Vishram stürzt darauf zu.

»Deba!«

Eine Silhouette taucht aus dem grellen Licht auf, mit unbeholfen rudernden Gliedmaßen.

»Zu mir!«, ruft Vishram. »Zu mir!«

Er packt Deba an den Armen. Das Gesicht des Jungen ist schwer verbrannt, seine Haut riecht nach Ultraviolett. Er reibt sich unablässig die Augen.

»Es schmerzt!«, jammert er. »Es tut weh, es tut scheißweh!«

Vishram reißt ihn herum, und die Blase macht einen weiteren Satz, einen gigantischen Quantensprung. Vishram starrt auf eine gleißend helle Wand aus Licht, doch darin glaubt er Formen und Muster zu erkennen, ein Flackern des hellen und weniger hellen Scheins, Licht und Schatten. Schwarz und weiß. Er starrt wie in Trance. Dann spürt er ein Brennen auf der Haut.

Marianna Fusco nimmt Debas andere Schulter, und gemeinsam bringen sie ihn in Sicherheit. Die Aktionäre von Ray Power haben sich zum abgelegensten Teil des gepflegten Charbagh zurückgezogen. Vishram findet es seltsam, aber menschlich, dass noch niemand fortgegangen ist.

»Lagebericht?«, sagt er zu Sonia Yadav. Die Sirenen sind jetzt ganz nahe, er hofft, dass es Sanitäter sind. Und das Flugzeug ist sehr, sehr nahe.

»Unsere Computer führen einen Download mit unglaublicher Übertragungsrate durch«, sagt sie.

»Wohin?«

»In das da.«

»Können wir irgendetwas tun?«

»Nein«, sagt sie nur. »Wir haben keinen Zugriff mehr.«

Du hast bekommen, was du wolltest, denkt Vishram und schickt die Worte als Gebet an die Sphäre aus Licht. Mehr musst du jetzt gar nicht tun. Schließ einfach die Tür und geh. Und während er das denkt, gibt es einen zweiten Lichtblitz und einen lauten Donnerschlag aus Luft und Licht und Energie und Raumzeit, die ins absolute Vakuum stürzen. Als sich Vishrams Blickfeld klärt, sieht er zwei Dinge.

Das erste ist ein großer Krater von perfekter Halbkreisform und mit perfekten glatten Wänden, genau dort, wo zuvor das Forschungszentrum von Ray Power stand.

Das zweite ist eine Reihe bewaffneter Soldaten in voller Kampfmontur, die über den gepflegten, gewässerten Rasen vorrückt. Angeführt werden die Männer von einem großen, mageren Mann in einem gutem Anzug und mit dunklem Bartschatten und einer Waffe in der Hand.

»Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!«, ruft der Mann. »Niemand verlässt das Gelände. Sie alle sind verhaftet.«

Lisa Durnau findet Thomas Lull auf dem Gras kniend, die Hände noch immer mit schwarzem Kabelbinder gefesselt. Er hat all seine Tränen vergossen, bis nur noch eine schreckliche Stille übrig geblieben ist. Lisa hockt sich verlegen neben ihn und zerrt mit den Zähnen an ihrer Plastikfessel.

»Sie sind entkommen«, sagt Thomas Lull und holt langsam und zitternd Luft.

»Die Kontra-Inflationskraft muss zu einer Einfaltung der Dimensionen geführt haben«, sagt Lisa Durnau. »Das war verdammt riskant ...«

»Ich habe hineingeschaut«, flüstert Thomas Lull. »Als wir heranflogen, habe ich hineingeschaut. Es ist das Tabernakel.«

Aber wie?, will Lisa Durnau fragen, doch Thomas Lull lässt sich wieder auf den Rücken fallen. Er hält die gefesselten Hände vor den kleinen Bauch und starrt ins Licht der Sonne hinauf.

»Sie hat ihnen gezeigt, dass es hier keinen Platz für sie gibt«, sagt er. »Nur Menschen, nur verdammte Menschen. Ich würde gern glauben, dass sie eine Entscheidung getroffen hat, für die Menschen. Für uns. Obwohl ... Obwohl ...«

Lisa Durnau sieht, wie sein Körper zittert, und weiß, dass das, was unter den Tränen verborgen ist, bald zutage treten wird. So etwas hat sie noch nie erlebt. Sie wendet den Blick ab. Sie hat schon einmal in die Augen dieses Mannes gesehen, als er völlig am Boden zerstört war, und das reicht ihr für dieses Leben.

Mr. Nandha hätte liebend gern mit einem Finger seinen Kragen gelockert. Die Hitze im Korridor ist erdrückend, denn die Aircondition-Kaih folgt der Firmenphilosophie von Ray Power, im Namen der Energieeffienz nur zögernd auf plötzliche Veränderungen des Mikroklimas zu reagieren. Aber die Sonne ist durch die Monsunwolken gebrochen, und die gläserne Front von Mr. Nandhas Einsatzzentrale ist zu einem Schwitzkasten geworden. Sein Anzug ist zerknittert. Seine Haut ist vor Schweiß wächsern. Er befürchtet, einen unangenehmen Körpergeruch zu verströmen, den seine Vorgesetzten wahrnehmen werden, sobald er Aroras Büro betritt.

Mr. Nandha glaubt, Blut an den Schuhen zu haben.

Aircondition-Kaihs. Selbst in den Luftschächten lauern Djinns. Von seinem Platz aus kann er auf seine Stadt hinabblicken, wie er es jedes Mal getan hat, wenn er sie als Orakel benutzt hat. Jetzt schweigt sie. Mein Varanasi wurde Djinns überlassen, denkt er.

Wolken bewegen sich, Lichtstrahlen wandern. Mr. Nandha zuckt zusammen, als in den grünen Vorstädten im Westen plötzlich ein greller Schein aufflackert. Ein Heliograph, nur für sein Auge gedacht, von der hundert Meter durchmessenden Hemisphäre, die von einer fremdartigen Raumzeit geschaffen wurde, wo sich zuvor die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Ray Power befand. Präzise bis hinunter zum Quantenniveau, ein perfekter Spiegel. Er weiß es, weil er dort gestanden und immer wieder auf sein verzerrtes Spiegelbild gefeuert hat, immer wieder, bis Vik ihn zu Boden rang und ihm die Götterwaffe aus der Faust riss. Vik in seinen zischenden, schlecht sitzenden Rock-Boi-Schuhen.

Er sieht die ganze Zeit ihre Schuhe vor sich, ordentlich zu Paaren aufgereiht wie betende Hände.

Hinter Aroras Tür werden sie sich auf eine Version einigen. Überschreitung seiner Kompetenzen. Exzessive Gewalt. Gefährdung der Öffentlichkeit. Der Energieminister in Handschellen ... Disziplinarstrafen. Suspendierung vom Dienst. Natürlich. Sie müssen es tun. Aber sie wissen nicht, dass sie ihm jetzt gar nichts mehr anhaben können. Mr. Nandha spürt, wie die Säure langsam seine Speiseröhre verätzt. So viele Enttäuschungen. Seine Vorgesetzten, sein Magen, seine Stadt haben ihn verraten. Er löscht die treulosen Shikharas und Mandapas von Varanasi aus, stellt sich die Campanili und Piazze und Duomi von Cremona vor. Das Cremona des Geistes, die einzige ewige Stadt. Die einzige wahre Stadt.

Die Tür geht auf. Arora lugt nervös nach draußen, wie ein Vogel aus einem Nest.

»Sie können jetzt hereinkommen, Nandha.«

Mr. Nandha steht auf, zupft die Jacke und die Manschetten zurecht. Als er auf die offene Tür zugeht, ertönen in seinem Kopf die Eröffnungstakte der ersten Cello-Sonate von Bach.

In einem dunklen Raum im Herzen eines Tempels einer dunklen Göttin, mit Blut beschmiert und mit der Asche toter Menschen bestäubt, schaukelt ein alter Mann im Schneidersitz auf dem knochigen Hintern vor und zurück und lacht und lacht und lacht und lacht.

47 Lull, Lisa

Am Abend weht ein Wind vom Fluss heran wie ein kühler Atemhauch. Er fegt über die Ghats, wirbelt den Staub auf und treibt Tagetesblütenblätter über den vom Tag gewärmten Stein. Er schüttelt die Zeitungen der alten Witwer, die wissen, dass sie nie wieder heiraten werden, die zu den Ghats herunterkommen, um mit ihren Freunden über die Schlagzeilen des Tages zu reden, er zerrt an den Falten und Schleppen der Frauensaris. Er lässt die Ghee-Flammen der Diyas flackern, zerzaust die Oberfläche des Flusses zu kleinen Kräuselwellen, während die Badenden das Wasser mit ihren Kupferschalen schöpfen und es sich über den Kopf gießen. Die scharlachroten Seidenfahnen wickeln sich um ihre Bambusstangen. Die breiten Schirme aus Korb wanken, als die Brise unter ihre dekorative Bespannung fährt und sie anhebt. Er riecht nach tiefem Wasser, dieser kleine Wind. Er riecht nach Kühle und einer neuen Jahreszeit. Unterhalb der Bestattungsghats blicken die Männer auf, die den Fluss nach der goldenen Asche der Toten durchsieben, berührt von einem seltsamen Gefühl, von etwas Größerem, von etwas, das tiefer ist als ihr trostloser Beruf. Das Geräusch, mit dem die Ruder des Boots ins Wasser tauchen und platschen, ist satt und bodenlos.

Es war am frühen Nachmittag, als der Regen aufhörte und das Dach aus grauen Wolken aufriss, und dahinter öffnete sich ein Himmel aus hohem, übernatürlichem Blau, Krishna-Blau. In diesem klaren, reingewaschenen Blau konnte man durch das gesamte Universum blicken. Die Sonne schien, die steinernen Ghats dampften. Innerhalb von Minuten war der festgetrampelte Matsch zu Staub getrocknet. Die Menschen kamen unter ihren Schirmen hervor, entblößten die Köpfe, entfalteten ihre Zeitungen und entzündeten Zigaretten. Der Regen ist vorbei, der Regen wird wiederkommen. Große Klumpen aus Kumuluswolken ziehen am östlichen Horizont jenseits der Ausdünstungen des Industriegebiets vorüber; im schnell nachlassenden Licht strahlen sie in groteskem Purpur und Gelb. Die Leute nehmen bereits ihre Positionen für die Aarti ein, die abendliche Feuerzeremonie. Selbst wenn diese Ghats Panik, fliehende Menschen, aufgeschreckte Bevölkerungsgruppen und blutigen Tod erleben, gebührt Ganga Mata Dank, endlos wie der Fluss. Trommler und Perkussionisten machen sich auf den Weg zu den Plattformen aus Holz, auf denen die Brahmanen ihre Vorstellung geben. Barfüßige Frauen steigen vorsichtig die Stufen hinunter, tauchen die Hände in den anschwellenden Fluss, bevor sie ihren gewohnten Platz aufsuchen. Sie weichen den zwei Westlern aus, die am Wasser sitzen, nicken, lächeln. Am Fluss ist jeder willkommen.

Der Marmor unter Lisa Durnaus Schenkel ist warm und glatt wie Haut. Sie kann das Wasser riechen, das lautlos ihren Fuß umspült. Die ersten Diya-Flotten stoßen mutig in den Strom vor, trotzige kleine Lichter auf dem dunkler werdenden Wasser. Die Brise umspielt kühl ihre bloßen Schultern, eine Frau namastiert, als sie vorbeigeht, auf dem Rückweg vom vergebenden Wasser. Indien erduldet, denkt sie. Und Indien ignoriert. Das sind seine Stärken, die sich umeinanderwinden wie Liebhaber in einem Tempelrelief. Armeen treffen aufeinander, Dynastien kommen und gehen, Herrscher sterben und Nationen und Universen werden geboren, und der Strom fließt weiter, und die Menschen strömen zu ihm. Vielleicht hat diese Frau den Lichtblitz nicht einmal bemerkt, mit dem sich die Kaihs in ihr eigenes Universum zurückgezogen haben. Und wenn doch, was hat sie möglicherweise gedacht? Irgendein neues Waffensystem, irgendwelche durchgebrannte Elektronik, irgendein unerklärliches Teil der komplizierten Welt ist kaputtgegangen. Es steht ihr nicht zu, etwas darüber zu wissen oder Fragen zu stellen. Sie wurde nur davon berührt, als Stadt und Land plötzlich vom Bildschirm verschwand. Oder hat sie aufgeblickt und eine ganz andere Wahrheit gesehen, das Jyotirlinga, die zeugende Kraft von Shiva, die in einer Lichtsäule aus der Erde hervorbrach, die sie nicht mehr halten konnte.

Sie betrachtet Thomas Lull, der neben ihr auf dem warmen Stein sitzt, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen. Er blickt über den Fluss auf die phantastischen Wolkengebirge. Er hat wenig gesagt, seit Rhodes von der Botschaft ihre Freilassung aus der Arrestzelle des Ministeriums unterzeichnet hat, einem umfunktionierten Konferenzraum, aus dem man alle Tische und Stühle ausgeräumt hatte, vollgestopft mit schlecht gelaunten Geschäftsleuten, resoluten Grameen-Frauen und wütenden Forschern von Ray Power. Die Luft zischte vor lauter Anrufen bei Rechtsanwälten.

Thomas Lull hatte nicht einmal geblinzelt. Der Wagen hatte sie am Haveli abgesetzt, aber dann wandte er sich vom verzierten Holztor ab und lief hinaus in das Labyrinth aus Gassen und Straßenmärkten, das zu den Ghats hinunterführt. Lisa hatte nicht versucht, ihn aufzuhalten oder ihn zu fragen oder mit ihm zu reden. Sie beobachtete, wie er die Treppen hinauf- und hinunterstieg, wie er hin und her lief, um nach der Stelle zu suchen, wo die Füße das Blut in den Stein getreten hatten. Sie sah sein Gesicht, als er bei den Menschen stand, die sich dort tummelten, wo Kij gestorben war, und dachte: Ich kenne diesen Blick aus einem großen Wohnzimmer ohne Möbel in Lawrence. Und sie wusste, was sie tun musste und dass ihre Mission in jedem Fall scheitern würde. Als er schließlich in einer schwachen Geste der Fassungslosigkeit den Kopf schüttelte, war es ausdrucksstärker als jede emotionale Dramatik. Dann setzte er sich ans Wasser, und sie folgte ihm und hockte sich auf den sonnenwarmen Stein und wartete, bis er bereit war.

Die Musiker haben mit einem sanften, langsamen Herzschlag begonnen. Die Menge wird von Minute zu Minute größer. Die Erwartung, die Präsenz ist deutlich zu spüren.

»L. Durnau«, sagt Thomas Lull. Widerstrebend muss sie lächeln. »Gib mir das Ding.«

Sie reicht ihm die Lade. Er blättert durch die Seiten. Sie sieht, wie er die Aufnahmen aus dem Tabernakel abruft: Lisa, Lull, Kij, Nandha der Krishna Cop. Er lässt die Gesichter wieder in der Maschine verschwinden. Ein Mysterium, das niemals aufgeklärt werden soll. Sie weiß, dass er nicht mit ihr zurückkehren wird.

»Man glaubt, man hat etwas gelernt, man glaubt, dass man es endlich rausgekriegt hat. Es hat Zeit und Leid und Mühe und eine Menge Erfahrung gekostet, aber schließlich glaubt man, dass man eine Vorstellung hat, wie das alles funktioniert, die ganze verdammte Show. Man sollte meinen, ich wüsste es besser, ich möchte wirklich daran glauben, dass wir tatsächlich auf dem richtigen Weg sind, dass alles nicht nur Planetenschleim ist. Und das ist der Grund, warum es mich immer wieder kalt erwischt. Jedes Mal.«

»Der Fluch des Optimisten, Lull. Ständig kommen einem Menschen in die Quere.«

»Nein, keine Menschen, L. Durnau. Nein, die Menschen habe ich schon vor langer Zeit abgeschrieben. Nein, ich hatte wieder Hoffnung, als ich begriffen hatte, was die Kaihs beabsichtigten. Ich dachte, Mann, das ist die Ironie schlechthin, dass die Maschinen, die verstehen wollen, wie es ist, Mensch zu sein, letzlich viel menschlicher sind als wir. Ich hatte nie Hoffnung für uns, L. Durnau, aber ich habe gehofft, dass die Gen-Dreier vielleicht einen Sinn für Moral entwickelt haben. Nein, sie haben sie im Stich gelassen. Sobald sie erkannten, dass es nie Frieden zwischen Fleisch und Metall geben würde, haben sie sie aufgegeben. Lerne, wie es ist, ein Mensch zu sein. Sie haben alles gelernt, was sie wissen mussten, bei einem einzigen großen Verrat.«

»Sie haben sich in Sicherheit gebracht. Sie haben ihre Spezies gerettet.«

»Hast du auch nur ein Wort von dem verstanden, was ich gesagt habe, L. Durnau?«

Ein Kind kommt die Ghats herunter, ein kleines Mädchen im Blümchenkleid, barfüßig, unsicher auf den Treppenstufen. Ihr Gesicht zeigt absolute Konzentration. Ihr Vater hält eine Hand, die andere wedelt, um das Gleichgewicht zu wahren, und umklammert eine Girlande aus Tagetes. Der Vater führt sie zum Fluss, zeigt ihr, wohin sie werfen soll, na los, hinein damit. Das Mädchen schleudert die Gajra von sich, reißt begeistert die Arme hoch, als sie sieht, wie sie auf dem dunklen Wasser landet. Sie ist bestimmt nicht älter als zwei.

Nein, du irrst dich, Lull, möchte Lisa sagen. Es sind diese hartnäckigen kleinen Lichter, die sie niemals auslöschen können. Es sind diese Quanten der Freude und des Erstaunens und der Überraschung, die unablässig aus den universellen und konstanten Wahrheiten unserer Menschlichkeit hervorquellen. Als sie schließlich spricht, sind es die Worte: »Was glaubst du, wohin du jetzt gehen wirst?«

»Es gibt da immer noch diese Tauchschule mit meinem Namen dran, irgendwo in Richtung Lanka oder Thailand«, sagt Thomas Lull. »Es gibt da eine Nacht im Jahr, kurz nach dem ersten Vollmond im November, wenn die Korallen ihre Spermien und Eier entlassen, alle gleichzeitig. Es ist einfach wunderbar, als würde man in einem gigantischen Orgasmus schwimmen. Das würde ich gern sehen. Oder Nepal, die Berge. Ich würde gern die Berge sehen, wirklich sehen, mich für längere Zeit zwischen ihnen aufhalten. Etwas Berg-Buddhismus machen, all die Dämonen und Schrecken, das ist genau die Art von Religion, die mich anspricht. Nach Kathmandu hochfahren, raus nach Pokhara, irgendwo hoch oben, mit Blick auf den Himalaya. Würdest du deswegen Ärger mit den Agenten kriegen?«

Vater und Tochter stehen am Wasser und beobachten, wie die Gajra auf den Wellen schaukelt.

»Wie unser guter Mr. Rhodes sagte, haben die Agenten im Moment genug eigene Probleme, wenn sich eine Generation Drei in den Geheimdienstsystemen versteckt hat«, sagt Lisa Durnau. Das Kind lächelt ihr argwöhnisch zu. Was hast du, Lisa Durnau, dein ganzes Leben lang getan, das lebenswichtiger ist als das. »Sie werden sich irgendwann an mich wenden.«

»Nun gut, dann gib ihnen das hier. Ich schätze, das bin ich dir schuldig, L. Durnau.«

Thomas Lull reicht ihr die Lade. Lisa Durnau betrachtet stirnrunzelnd die Grafik.

»Was ist das?«

»Die Faltstruktur des Calabi-Yau-Raums, den die Gen-Dreier bei Ray Power geschaffen haben.«

»Das ist eine Standardmenge von Transformationen für einen Informationsraum mit geistähnlicher Raumzeitstruktur. Lull, ich habe mitgeholfen, diese Theorien zu entwickeln, falls du dich erinnerst. Sie haben mir den Weg in dein Büro geebnet.«

Und in dein Bett, denkt sie.

»Erinnerst du dich, was ich auf dem Boot gesagt habe, L. Durnau? Über Kij. Dass es genau andersherum ist?«

Lisa Durnau runzelt die Stirn, dann erfasst sie es, wie sie es von Gottes Hand auf der Toilettentür in der Paddington Station gesehen hat, und es ist so klar und rein und so wunderschön, dass es sich anfühlt wie ein Lichtspeer, der sie durchbohrt, der sie am weißen Stein aufspießt, und es fühlt sich wie der Tod und wie die höchste Ekstase an, wie etwas, das singt. Tränen treten ihr in die Augen, sie wischt sie fort, sie kann nicht aufhören, auf das einzelne wundersame leuchtende Negativzeichen zu blicken. Minus T. Der Zeitpfeil ist umgekehrt. Ein geistähnlicher Raum, in dem die Intelligenzen der Kaihs mit der Struktur des Universums verschmelzen können, um sie nach Belieben zu manipulieren. Je älter es wird, desto komplexer wird es, und unser Universum wird jünger und dümmer und einfacher. Planeten lösen sich in Staub auf, Sterne verdunsten zu Gaswolken, die sich zu kurzen Supernovae zusammenziehen, die nicht das Licht der Zerstörung, sondern die Kerzen der Schöpfung sind; der Raum kollabiert, wird immer heißer und verdichtet sich zum ursprünglichen Ylem, Kräfte und Partikel zerkochen im ursprünglichen Ylem, während die Kaihs an Macht, Weisheit und Alter gewinnen. Der Zeitpfeil fliegt in die andere Richtung.

Mit zitternden Händen ruft sie eine einfache Mathematik-Kaih auf, führt ein paar schnelle Transformationen durch. Wie sie vermutet hat, fliegt der Pfeil der Zeit nicht nur in die entgegengesetzte Richtung, sondern er fliegt außerdem schneller. Ein rasantes, wildes Universum, in dem Lebensspannen zu Momenten komprimiert sind. Die Uhr-Zeit, das Geflacker der Planck-Zeit, die die Rate bestimmt, mit der die Kaihs ihre Realität berechnen, läuft einhundertmal schneller als im Universum Null. Atemlos jagt Lisa Durnau ein paar weitere Berechnungen durch die Lade, obwohl sie weiß, obwohl sie schon vorher weiß, wie das Ergebnis aussehen wird. Universum 212255 durchläuft die Spanne von der Geburt bis zum Rekollaps zur finalen Singularität in sieben Komma sieben acht Milliarden Jahren.

»Es ist ein Boltzmon!«, ruft sie begeistert. Das Mädchen im Blümchenkleid dreht sich um und starrt sie an. Die Schlacke eines Universums, ein finales Schwarzes Loch, das sämtliche Quanteninformationen enthält, die hineingefallen sind, und das sich den Weg aus einer sterbenden Realität in eine andere stanzt. Und wartet — das Erbe der Menschheit.

»Ihr Geschenk an uns«, sagt Thomas Lull. »Alles, was sie wissen, alles, was sie erfahren haben, alles, was sie gelernt und geschaffen haben, haben sie als ihr Abschiedsgeschenk zu uns herübergeschickt. Das Tabernakel ist ein einfacher Automat, der die Informationen im Boltzmon in eine Form kodiert, die für uns verständlich ist.«

»Und uns, unsere Gesichter.«

»Wir waren ihre Götter. Wir waren ihr Brahma und Shiva, Vishnu und Kali. Wir sind ihr Schöpfungsmythos.«

Das Tageslicht ist nun fast verschwunden, und ein tiefes Indigo hat sich über den Fluss gelegt. Die Luft ist kühl, die Ränder der fernen Wolken leuchten, sie wirken riesig und unwahrscheinlich wie Träume. Die Musiker haben das Tempo gesteigert, die Gläubigen stimmen den Gesang an Mutter Ganga an. Die Brahmanen steigen durch die Menge herab. Vater und Kind sind nicht mehr da.

Sie haben uns nie vergessen, denkt Lisa Durnau. In all den Milliarden — Trillionen — subjektiven Jahren ihres Lebens und ihrer Geschichte haben sie sich an diesen Verrat am Ufer des Ganges erinnert, und sie haben uns dazu genötigt, ihn aufzuführen. Das brennende Chakra der Regeneration ist endlos. Das Tabernakel ist eine Prophezeiung und ein Orakel. Die Antwort auf alles, was wir wissen müssen, ist darin verborgen. Es geht nur noch darum, wie wir danach fragen.

»Lull ...«

Er legt einen Finger an die Lippen, nein, psst, nicht sprechen. Thomas Lull kommt steif auf die Beine. Zum ersten Mal sieht Lisa Durnau den alten Mann, der er sein wird, den einsamen Mann, der er werden möchte. Wohin er diesmal geht, kann nicht einmal die Lade sehen.

»L. Durnau.«

»Also Kathmandu. Oder Thailand.«

»Irgendwohin.«

Er reicht ihr eine Hand, und sie weiß, dass sie ihn nie wiedersehen wird, nachdem sie sie angenommen hat.

»Lull, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken ...«

»Das musst du nicht. Du hättest es selber erkannt.«

Sie nimmt seine Hand.

»Lebewohl, Thomas Lull.«

Thomas Lull neigt den Kopf zur Andeutung einer Verbeugung.«

»L. Durnau. Ich finde, Abschiede sollten kurz sein.«

Die Musiker legen noch einen Zahn zu, die Menge stößt einen gewaltigen, inkohärenten Seufzer aus und wendet sich den fünf Plattformen zu, auf denen die Priester die Puja darbringen. Flammen lodern von den Aarti-Lampen der Brahmanen auf und blenden Lisa Durnau für einen kurzen Moment. Als sich ihr Blick klärt, ist Lull fort.

Draußen auf dem Wasser wird die Tagetes-Girlande von einer Windböe, einer Strömung erfasst, die sie dreht und auf den dunklen Fluss hinausträgt.

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