Vierter Teil — TANDAVA NATARAJA

26 Shiv

Der Amerikaner im Sandring ist ein großer Mann und blutet stark. Shiv mustert ihn, unsichtbar in seiner Box im Schatten unter der Galerie. Es gibt einen Ausdruck aus amerikanischen Kriminalfilmen, den er mag. Abgestochenes Schwein. Er hat noch nie ein mit einer Klinge abgestochenes Schwein gesehen, aber er kann es sich vorstellen. Kleine Schweinebeine strecken sich und treten um sich, während das Tier gegen die Hände kämpft, die seinen Kopf zurückziehen und die Schweinekehle öffnen. Dann gleitet das Messer hinein in die weiche Stelle, die blutige Stelle. Er stellt sich die strampelnden Schweinebeine vor wie die blassen, haarigen Hachsen dieses Mannes, die aus seinen ausgeleierten Shorts ragen. Er glaubt, dass sich das Schwein anhören würde wie dieses keuchende Heulen, flach und hässlich, ausgestoßen durch Schichten von Fett. Es würde sich umblicken, seinen Mörder suchen. Er kleidet das Schwein in seiner Phantasie in dieses amerikanische Outfit.

Schweine ekeln ihn an.

Es war nur ein kleiner Schnitt, nur damit es zu bluten anfängt. Sie sind aggressiver, wenn Blut in der Luft liegt, hat das Mädchen im Muskeltop gesagt. Man könnte es sogar als modisches Statement betrachten. Der Ohrring sah bei einem erwachsenen Mann lächerlich aus. Besser gar kein Ohrläppchen.

»Ich frage Sie noch einmal. Wo ist der Sundarban?«

»Hören Sie, ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Ich weiß nicht, wovon Sie reden, zum Teufel! Ich bin nicht der Mann, den Sie suchen.«

Shiv seufzt. Er nickt Yogendra zu. Der Junge steigt auf das Geländer, die Schere erhoben, damit sich das Licht darauf spiegelt.

»Mann, verletz mich bloß nicht! Wenn du mich verletzt, ist das ein diplomatischer Zwischenfall. Dann bist du erledigt. Hörst du?«

Yogendra grinst, streckt die Arme seitlich aus, wackelt mit der Hüfte, schnippt mit seiner Schere schnipp-schnapp schnipp-schnapp. Shiv beobachtet, wie sich die Flussmündung des Blutes auf dem Hals des Amerikaners auffächert. Ein Teil ist bereits getrocknet und verkrustet, Nahrung für Fliegen. Er verfolgt die Spur unter den runden Kragen des Surfer-Hemdes — etwas Blut zeigt sich durch den Stoff —, den Arm hinunter, bis es rote Ringe um die Handgelenke bildet, dort, wo er sich an den Handschellen wundgerieben hat. Abgestochenes Schwein, denkt Shiv.

»Sind Sie Hayman Dane?«

»Nein! Ja. Hören Sie, ich weiß nicht einmal, wer Sie sind.«

»Hayman Dane, wo ist der Sundarban?«

»Sundarban? Welcher verdammte Sundarban?«

Shiv steht auf. Er klopft sich den Staub von seinem neuen bodenlangen Ledermantel. Morgenlicht macht den ganzen Unterschied, wie Reiseführer sagen, die die Rucksacktouristen vor Sonnenaufgang an den Ghats vorbeidirigieren. Es zeigt Kampf! Kampf! über dem billigen und schmutzigen kleinen Seitengassen-Wettschuppen. Es zeigt den Staub und die Brennspuren von Zigaretten und billiges Holz. Keine Kämpfer und Satta-Männer und Spieler. Kein Zirkusdirektor stolziert im Pailletten-Kostüm und singt ins Mikrofon, der Schuppen hat keinen Geist, kein Atman. Shiv öffnet die Tür seiner Box und tritt auf die niedrige Treppe.

»Der Sundarban, in dem die Regierung der Vereinigten Staaten Informationen entschlüsselt, die sie aus dem All empfangen hat.«

Der große Amerikaner rollt den Kopf zurück.

»Mann, verpiss dich, na los. Ich sag es dir, der kleine Arsch mit der Schere kann so viel abschneiden, wie er will, aber ihr solltet euch nicht mit dem Weißen Haus anlegen.«

Shiv geht zur vordersten Sitzreihe. Dies ist das Zeichen, das er vereinbart hat. Die Türen zur Arena öffnen sich, und auf einem Wagen mit Gummirädern schiebt das Mädchen den Käfig mit dem Mikrosäbler herein.

Es tat gut, in das Auto einzusteigen, die Lederpolsterung zu spüren, das Radio neu einzustellen, zu wissen, dass es nicht gemietet war, dass es seins war, sein Raja-Streitwagen, seine eigene Rath Yatra. Gut, eine anthrazitschwarze Karte ohne Limit in der Tasche zu haben, eingebettet in eine Rolle von Banknoten, weil jeder Ehrenmann weiß, dass bei wichtigen Transaktionen nur Bargeld zählt. Gut, die Straße wissen zu lassen, dass Shiv Faraji zurück und unantastbar ist. Im Club Musst blätterte er die Geldscheine hin, eintausend zweitausend dreitausend viertausend, und schob sie mit einer kleinen Fick-dich-Geste über den blauen Tresen zu Salman.

»Sie haben mir mehr gegeben, als Sie mir schulden, Sir.« Der dicke Salman stieß mit einem pummeligen Finger auf den letzten Geldschein, einen großen Zehntausender. Bar-Star Talvin war mit Gästen an der Ecke des Tresens, aber blickte zwischen seiner Cocktail-Akrobatik herüber.

»Das ist Trinkgeld.«

Alle Mädchen starrten, als er ging. Er hielt Ausschau nach Priya, um sie zu grüßen, ihr den Wink des großen Dankes zu geben, aber in dieser Nacht nahm sie ihre Drinks anderswo.

»Meinst du, dass wir jetzt vielleicht ein wenig arbeiten sollten?«

Es war der längste Satz, den er jemals von Yogendra gehört hatte. Shiv spürte eine Veränderung in ihrer Beziehung seit Construxx August 2047. Der Junge wird allmählich übermütig. Er hatte den Mumm, die Sachen zu machen, die Shiv nicht machte, weil er etwas empfand, weil er schwach war, weil er in dem einen Augenblick gehemmt war. Nie wieder. Der Junge würde schon sehen. Der Junge würde lernen. Nun gab es eine weitere Leiche neben der Frau im Sari, die im Ganges trieb: Juhi, rückwärts über das Geländer fallend, mit zuckenden Beinen, ausgestreckten Händen. Was er am allerdeutlichsten sah, waren ihre Augen. Lange aufklebbare Wimpern, die ihren Schock über den ultimativen Verrat signalisierten. Jetzt war es einfacher, und er wusste, es würde noch einfacher werden, aber es richtete ihn auf. Es war schlimm, so schlimm es nur sein konnte, aber er war wieder ein Mann. Ein Raja. Und er hatte jetzt einiges zu tun.

Nun ist es Morgen, und Hayman Dane weicht vor dem im Käfig knurrenden Mikrosäbler zurück. Er faucht, weil Sai, seine niedliche Betreuerin in der großen ausgebeulten Kampfhose und dem kleinen engen Muskeltop seinen Arsch mit Aufputschmitteln und Halluzinogenen vollgeschossen hat, so dass er, wenn er den fetten Amerikaner erblickt, nur ein feindliches böses Katzending sieht, das er hasst, töte Pussycat schneller schneller. Und, oh Gott, der fette Hayman Dane hat vergessen, dass er Handschellen trägt, und er geht mit der Wucht eines schweren Pakets zu Boden, das vom Laster fällt, mit den Beinen um sich tretend und hin und her rutschend, während er aufzustehen versucht. Aber das schafft man nicht, wenn man fett ist und die Hände auf den Rücken gefesselt sind.

»Bedauerlich.« Shiv steht auf und geht einen Schritt, zwei, drei Schritte auf die vorderste Sitzreihe zu.

»Zum Teufel mit dir, Mann!«, brüllt Hayman Dane. »Du kriegst eine Menge Ärger. Du bist tot, kapiert? Du und dein Drecksjunge und deine Hure und deine kleine stinkende Pussy.«

»Nun, eigentlich müsste es hier gar keinen Ärger geben«, sagt Shiv, während er sich setzt und sein Kinn auf den Händen und die Ellbogen auf der Holzbank aufstützt. »Sie könnten mir verraten, für welchen Sundarban Sie arbeiten.«

»Wie oft zum Teufel muss ich es noch sagen?«, brüllt Hayman Dane. Ein Faden aus Speichel läuft von seinem Mund bis zum Sand hinunter, auf dem er seitlich liegt, das Gesicht vor Wut gerötet. Für ein Genie gibt er einen sehr guten Idioten ab, denkt Shiv. Aber das wiederum ist die westliche Vorstellung von einem Genie, von jemandem, der nur in einem kleinen Bereich außergewöhnlich gut ist.

Ein großer Morgen öffnete sich in Scharlachrot und Safrangelb jenseits der Girlanden aus Strom- und Komkabeln, als Yogendra mit dem Wagen losfuhr, um die Lieferung zu erledigen. Unruhige Zeiten standen bevor. Vielleicht sogar der lang versprochene Monsun. Als ihm plötzlich kälter wurde, zog Shiv seine Jacke um sich und machte sich auf den Weg, um seinen technischen Berater zu treffen. Anand war ein aufstrebender Datenraja, der aus dem Hinterzimmer der Schusterwerkstatt seines Onkels in Panch Koshi seine nicht lizenzierten Kaihs der Stufe 2,5 vertrieb. So hatte Shiv ihn kennengelernt, in der Vergangenheit hatte er häufig seine Paare zu ihm gebracht. Anand konnte bestens mit Leder umgehen. Er vernähte es gut und dicht, während Shiv wartete, umgeben von den besten Handnäharbeiten, die er je gesehen hatte. Anand servierte seinen Kunden Kaffee, guten, starken Kaffee in arabischem Stil, mit einem in der süßen, brodelnden, schwarzen Flüssigkeit geschmolzenen Klumpen Nepali Temple Ball für alle, die das wollten.

An diesem Morgen maskierte Anands Gucci-Brille schuppige rote Augenhöhlen. Anand orientierte sich an der US-Zeit. Shiv ließ sich auf dem niedrigen Kissen nieder, hob eine winzige, wunderbar aromatische Tasse und nippte daran. In den Käfigen, die von den Balken des offenen Holzbalkons hingen, krächzten Mainas und kommentierten den aufziehenden roten Morgen. Er legte den Kopf zurück, als der Nepali zu wirken begann.

»Ein Sundarban überfallen.« Anand spitzte die Lippen und wippte mit dem Kopf, in der Art und Weise, wie aufstrebende Datenrajas sich beeindruckt zeigten. »Mein erster Rat lautet: Wenn du irgendwie damit durchkommen kannst, es nicht zu tun, dann tu es nicht.«

»Und dein zweiter Rat?«

»Beobachten, beobachten, beobachten. Ich kann dir was ranzüchten, das dich für die gewöhnlichen Überwachungs-Kaihs wahrscheinlich unsichtbar macht — nur wenige von ihnen erreichen mehr als Stufe eins, aber sie sind nicht gerade Industrie-Standard. Bis ich weiß, mit wem du es zu tun hast, ist alles nur Vermutung.« Anand blies die Wangen auf: Verblüffung bei einem aufstrebenden Datenraja.

»Wir sind gerade dabei.«

Yogendra müsste inzwischen fast da sein. Der Parkplatz vor dem Hotel war reserviert, eine Vereinbarung mit dem Portier. Er würde jetzt das Fenster herunterfahren, nach dem Stinger auf dem Beifahrersitz greifen. Keine Waffen. Shiv hasste Waffen. Du hast nur einen Versuch, Junge, mach es richtig.

Shiv lehnte sich auf dem niedrigen bestickten Diwan zurück. Der Kaffee blubberte auf dem Dreifuß über der Kohlenpfanne. Anand goss zwei frische Tassen ein. Er sieht vielleicht wie ein Lavda aus, aber er macht seine Sache gut, dachte Shiv.

»Meine nächste Frage?«

»Wie sehr glaubst du an Verschwörungstheorien?«

»Ich halte grundsätzlich nicht viel von Theorien.«

»Jeder hat eine Theorie, mein Freund. Theorie ist die Grundlage von allem. Der Bruder der Frau meines Vetters macht Datenverarbeitung für die ESA, und da gibt es folgendes Gerücht. Kannst du dich daran erinnern, dass die Amerikaner und Russen und Chinesen und Europäer vor einiger Zeit bekanntgaben, dass sie eine unbemannte Mission nach Tierra schicken wollten?«

Shiv schüttelte den Kopf. Nach der zweiten Tasse schien sich Anands Stimme in einem Schwall von Geschichten auszubreiten, als würde seine Mutter ihm eine Heldengeschichte von Rama und dem verwegenen Hanuman erzählen.

»Der erste EXP? Erdähnlicher extrasolarer Planet? Nein? Wie auch immer, sie fanden diesen Planeten Tierra, und es gab ein großes Trara auf den Nachrichtenkanälen, man sei dabei, eine Sonde zu bauen, die hinfliegen sollte. Und jetzt kommt die Verschwörung: Es gibt gar keine Tierra-Mission. Hat es nie gegeben. Alles ist nur ein Vorwand für das, was sie wirklich da oben treiben. Das Gerücht besagt, dass sie etwas entdeckt haben. Etwas, das Gott nicht geschaffen hat und das auch nicht von uns stammt. Eine Art Objekt, und es ist alt. Verdammt alt. Ich meine, nicht nur Millionen, sondern Milliarden Jahre alt. Kannst du dir das vorstellen? Arahbs von Jahren. Brahma-Zeitalter. Sie haben eine Menge Schiss bekommen — so viel Schiss, dass sie bereit sind, ihre Sicherheit aufs Spiel zu setzen und zu den Einzigen zu gehen, die richtig mit Quanten-Kryptologie zurechtkommen. Zu uns.« Er stieß den Daumen auf seine Brust.

Der Amerikaner dürfte jetzt rauskommen, dachte Shiv, mit dem süßen Rauch im Luftwürfel schweben, der den Hof erfüllt, weg von den leeren Worten der Straße, wo die Frauen arbeiteten und der große Mietwagen mit der Nadel wartete. Er wird aus der Tür kommen, blass und blinzelnd und gleichgültig. Er wird nicht einmal nach dem Auto schauen. Er wird an Kaffee und Donut, Kaffee und Donut, Kaffee und Donut denken. Es ist die Gewohnheit, die uns tötet. Shiv hörte das Fauchen des Stingers. Er sah die Knie des dicken Mannes einknicken, als die Chemikalien seine motorischen Neuronen überlasteten. Er sah Yogendra, der ihn nach hinten ins Auto verfrachtete. Er lächelte über das magere Straßenkind, das versuchte, den großen Mann durch die Heckklappe zu wuchten.

Shiv saß auf dem weichen Kissen, die Hände auf die Knie gelegt. Die frühen Wolkenstreifen verbrannten, der Himmel wurde blau. Ein weiterer knochentrockener Tag. Von fern konnte er ein Radio hören. Der Ansager schien von etwas sehr begeistert zu sein. Laute Stimmen, Debatten, eine Tonlage, die abstritt. Er legte den Kopf zurück und sah dem Dampf des Kaffees zu, der sich nach oben kräuselte, bis er ihn durch ein Blinzeln mit den Kondensstreifen eines Jets verschmelzen konnte. Der Nepali Temple Ball sagte: Glaube. Glaube, dass nichts feststeht, dass alles glaubwürdig ist. Es ist ein großes Universum. Scheiße. Das Universum war eng und gemein und zusammengestaucht in einem Keil aus Helligkeit und Musik und Haut, ein paar Jahrzehnte lang und nicht breiter als dein peripheres Blickfeld. Leute, die was anderes glaubten, waren Amateure.

»Und meine dritte Frage?«

Yogendra musste ihn jetzt haben, irgendwie nach hinten verladen haben, bevor die Zuckungen nachließen. Er würde sich in den Verkehr eingefädelt haben, fickt euch, ihr Autos, Taxis, Phatphats, Lastwagen, Busse, Mofas und heiligen Kühe. Er würde ihn herschaffen.

Anands Augen weiteten sich, als würden sie eine Wahrheit erkennen, die selbst für einen aufstrebenden Datenraja und Verschwörungstheoretiker zu viel war.

»Jetzt kommt der eigentliche Wahnsinn. Man legt sich nicht mit den Naths an, aber es gibt Gerüchte, mit wem sie zusammenarbeiten, wer ihr Kunde sein könnte.«

»Verschwörungen und Gerüchte.«

»Wenn es keinen Gott gibt, dann sind sie alles, was einem bleibt.«

»Der Kunde?«

»Niemand anderer als Mister Herzallerliebst höchstpersönlich, Freund der Armen und Held der Unterdrückten, Geißel der Ranas und Hammer der Awadhis: der ehrenwerte N. K. Jivanjee!«

Shiv nahm sich die dritte Tasse angereicherten Kaffees.

Shiv steht auf und geht langsam zur vordersten Sitzreihe, wie es das Stück vorsieht. Das ist das Zeichen für Yogendra, auf den Sand herunterzuspringen. Er schlendert zu Hayman Dane, der jetzt keucht. Yogendra dreht seinen Kopf zu einer Seite, dann zur anderen, betrachtet ihn, als sei er eine exotische Frucht. Yogendra hockt sich hin, achtet darauf, dass Hayman Dane sehen kann, was er macht, und hebt das abgetrennte Ohrläppchen auf. Er tänzelt zum Käfig mit dem Mikrosäbler und lässt das Stück Ohr vorsichtig durch die Stäbe fallen. Ein Schnappen. Shiv kann das Knirschen hören, leise, aber deutlich. Hayman Dane schreit, ein schrilles, in die Hose pissendes, wehklagendes Stöhnen, der Schrei eines Mannes in letzter Todesangst, der Schrei eines Mannes, der kein Mann mehr ist. Shiv verzieht das Gesicht, als er die hässlichen, ungebührlichen Laute hört. Er erinnert sich an den Anblick, den er bot, als Yogendra ihn durch den Tunnel in den Ring brachte, wie Yogendra ihn mit den Händen weiterstieß. Der dicke Mann machte tippelnde, trottende Schritte aus Furcht, das Gleichgewicht zu verlieren, gaffte, blinzelte, um zu begreifen, wohin man ihn gebracht hatte. Jetzt sieht Shiv den Pinkelfleck, der sich warm und dunkel wie Fruchtwasser über seine hellbraunen Shorts ausbreitet. Er kann nicht glauben, dass sich dieses weiße, westliche, käufliche Genie auf ein so törichtes Ende einlässt.

Yogendra hüpft zurück auf das Geländer. Sai geht zum Käfig. Sie hebt den Mikrosäbler hoch und beginnt mit ihrer Parade, einen Fuß langsam vor den anderen setzend. Schritt Schritt Schritt, Drehung. Schritt Schritt Schritt, Drehung. Der rituelle Tanz, der Shiv bezaubert und verführt hat, in jener Nacht, in der er sie in diesem Ring und auf diesem Sand gesehen hat. In der Nacht, als er alles verlor. Und nun tanzt sie für ihn. Es liegt etwas Uraltes darin, die Frau, die auf dem Kampfboden stelzt, machtvoll, ein Tanz der Kali. Der Mikrosäbler müsste ihr das Handgelenk aufschlitzen, ihr eine Seite des Kopfes abreißen. Doch er hängt in der Luft, von Händen liebkost, hypnotisiert.

Shiv geht jetzt zur vordersten Sitzreihe. Ringplatz.

»Ich frage Sie, Hayman Dane. Wo ist der Sundarban?«

Sai kauert sich vor ihm nieder, das eine Bein untergeschlagen, das andere zur Seite ausgestreckt. Sie fixiert Hayman Danes weinerliche Augen. Sie hängt sich die Katze um den Hals. Shiv hält den Atem an. Das hat er noch nie gesehen. Er hat eine schnelle, harte, erfreuliche Erektion.

»Chunar«, schluchzt Hayman Dane. »Im Chunar Fort. Ramanandacharya. Sein Name ist Ramanandacharya. Machen Sie meine Hände los, Mann! Machen Sie meine verdammten Hände los!«

»Noch nicht, Hayman Dane«, sagt Shiv. »Es muss einen Dateinamen und einen Kode geben.«

Der Mann ist jetzt hysterisch, ein Tier ohne Gedanken oder Geist.

»Ja!«, schreit er. »Ja, machen Sie einfach meine Hände los!«

Shiv nickt Yogendra zu. Der Junge kräht wie ein Hahn, flitzt zu dem Amerikaner und schließt die Handschellen auf. Hayman Dane schreit, als der Blutkreislauf in seine Gelenke zurückkehrt.

»Fick dich, Mann. Fick dich«, murmelt er, aber darin liegt jetzt kein Widerstand mehr.

Shiv hebt einen Finger. Sai streichelt den ramponierten Kopf ihres Mikrosäblers, Millimeter neben ihrem rechten Auge.

»Der Name und der Schlüssel, Hayman Dane.«

Der Mann hebt die Hände: Schau, ich bin unbewaffnet, hilflos, keine Bedrohung oder Gefahr. Er kramt in der Brusttasche des kitschigen Hemds. Er hat größere Titten als manche Frauen, die Shiv gefickt hat. Er hält seinen Palmer hoch.

»Sehen Sie? Er war die ganze Zeit in meiner verdammten Tasche.«

Shiv hebt einen Finger. Yogendra schnappt sich den Palmer, schwingt sich über das Geländer zu den Sitzreihen. Sai streichelt den ramponierten Kopf ihres Mikrosäblers.

»Lassen Sie mich jetzt gehen, Mann. Sie haben, was Sie wollten, lassen Sie mich jetzt gehen.«

Yogendra ist bereits halb den Gang rauf. Sai ist wieder auf den Beinen, geht zum Tunnel zurück. Shiv steigt die flachen Stufen hinauf, eine nach der anderen.

»He, was soll ich jetzt machen?«

Sai steht am Tor. Sie schaut Shiv wartend an. Shiv hebt einen Finger. Sai dreht sich um und wirft den Mikrosäbler in den Ring aus blutigem Sand. Schweinezeit.

27 Shaheen Badoor Khan

Sajida Rana beugt sich in einem weißen Yukata über die Balustrade aus gemeißeltem Stein und bläst den Rauch in die frühmorgendliche duftende Dunkelheit.

»Sie haben mich in den Arsch gefickt, Khan.«

Shaheen Badoor Khan hat geglaubt, er könnte keine schrecklichere Übelkeit, keine erdrückenderen Schuldgefühle, keine vernichtendere Demütigung empfinden, während sein Dienstwagen morgens um drei Uhr durch die Straßen zum Bhavan der Ranas gerollt war. Er hatte beobachtet, wie das Thermometer im Armaturenbrett gestiegen war. Endlich kommt der Monsun, hatte er gedacht. Es ist jedes Mal unerträglich, bevor das Wetter umschlägt. Doch er hat Eis gesehen, Bangla-Eis. Die States of Bengal und ihr gezähmter Eisberg hatten den Eiszauber bewirkt. Er versuchte ihn sich vorzustellen, im Golf von Bengalen verankert, mit blinkenden Navigationslichtern markiert. Er hat die Möwen gesehen, die darüber kreisten. Was auch immer geschieht, der Regen wird auf mich und auf diese Straßen fallen. Ich bin gestrauchelt, dachte er. Ich wurde zu Boden geworfen. Tiefer hinunter geht es nicht mehr. Auf der Veranda des Rana Bhavan versteht er, dass er noch nicht einmal den Kontinentalschelf erreicht hat. Bis zur Tiefseeebene geht es noch einmal zehn Kilometer runter, bis zur erdrückenden Finsternis. Und über ihm ist Eis, eine Eisschicht, die er niemals durchbrechen kann.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Es klingt so schwach. Und es ist eine Lüge. Er weiß, was er sagen sollte. Er hat es geübt, während er im Phatphat zum Haveli zurückgefahren war. Die Worte, die Reihenfolge der Geständnisse, die Offenlegung lebenslanger Geheimnisse, alles war in einem Schwung auf ihn eingestürzt, und in seinem Kopf war alles perfekt geordnet gewesen. Er hatte gewusst, was er tun musste. Aber er muss die Gelegenheit erhalten, es zu tun. Sie muss ihm diese Gnade gewähren.

»Ich glaube, ich habe etwas mehr verdient«, sagt Sajida Rana.

Shaheen Badoor Khan hebt in exquisiter Qual eine Hand, aber es lässt sich nichts beschwichtigen oder beschönigen. Er hat keine Gnade verdient.

In der alten Zenana hatten die Lampen gebrannt. Als er im Säulengang stand, hatte Shaheen versucht, die Stimmen der Frauen herauszuhören. An den meisten Abenden waren Gäste da, Schriftstellerinnen, Anwältinnen, Politikerinnen, Meinungsmacherinnen. Sie redeten stundenlang, über alle Kastengrenzen hinweg. Bilquis sollte es zuerst erfahren, noch vor seiner Premierministerin, aber nicht vor Gästen. Niemals vor anderen.

Der Chauffeur Gohil kam verschlafen mit einer heruntergerollten Socke im Schuh herangehumpelt und unterdrückte ein Gähnen. Er wendete den Dienstwagen im Hof.

»Zum Rana Bhavan«, wies Shaheen Badoor Khan an.

»Worum geht es, Sahb?«, fragte Gohil, während er durch das Automatiktor fuhr und sich in den ewig kriechenden Verkehr einfädelte. »Eine wichtige Staatsangelegenheit?«

»Ja«, sagte Shaheen Badoor Khan. »Eine Staatsangelegenheit.« Als der Wagen die Kreuzung erreichte, hatte er auf dem Regierungsnotepad in der Armlehne seinen Rücktrittsbrief fertig geschrieben. Dann nahm er seinen Hoek, stellte ihn auf Audio und rief die Nummer an, die er sich seit dem Tag eingeprägt hatte, als er ins Büro der Premierministerin eingeladen worden war und man ihm die Rolle des Großwesirs angeboten hatte. Die Nummer, von der er insgeheim erwartet hatte, sie niemals wählen zu müssen.

»Shah.« Er hörte Sajida Ranas Atem zittern. »Gott sei Dank sind Sie es. Ich dachte schon, unser Land wäre angegriffen worden.«

Shaheen Badoor Khan stellte sich die Frau in ihrem Bett vor. Es musste weiß sein, groß und weiß. Das Licht wäre ein kleiner, seichter Teich um eine Lampe. Sie würde sich über einen Nachtschrank beugen. Ihr Haar wäre offen, und es würde ihr dunkel über das Gesicht fallen. Er versuchte sich vorzustellen, was sie im Bett trug. Du hast deine Regierung verraten, deine Nation, deinen Glauben, deine Ehe, deine Würde, und du überlegst dir, ob deine Premierministerin nackt schläft? Narendra wäre an ihrer Seite, zu einem weißen Zylinder zusammengerollt, der sich herumdreht. Schlaf weiter, Staatsangelegenheiten. Es war allgemein bekannt, dass sie immer noch zusammen schliefen. Sajida Rana war eine lustbetonte Frau, aber sie hatte auf ihrem Familiennamen beharrt.

»Premierministerin, ich muss mit sofortiger Wirkung meinen Rücktritt einreichen.«

Ich hätte die Trennwand hochkurbeln sollen, dachte Shaheen Badoor Khan. Es hätte eine Glasscheibe zwischen mir und Gohil sein sollen. Aber wozu die Mühe? Am Morgen wird er alles sehen können. Jeder wird alles sehen können. Wenigstens hat er dann eine gute Geschichte zu erzählen, durchsetzt von Tratsch und Mitgehörtem.

»Shah, was ist das für ein Blödsinn?«

Shaheen Badoor Khan wiederholte sich wortwörtlich und fügte dann hinzu: »Premierministerin, ich habe mich in eine Position gebracht, die eine Gefährdung der Regierung darstellt.«

Ein leiser Seufzer wie eine entschwindende Seele. Ein müder, erschöpfter Seufzer. Ein Rascheln von feinem, frischem, sauber riechendem weißem Leinen.

»Ich glaube, Sie sollten herkommen.«

»Ich bin schon unterwegs, Premierministerin«, sagte Shaheen Badoor Khan, aber sie hatte die Verbindung bereits unterbrochen, und er hörte nur noch das cyberstatische Zenrauschen in der Abgeschiedenheit seines Schädels.

Sajida Rana steht an der weißen Balustrade, die Hände fest um das Geländer geschlossen.

»Wie detailliert sind die Aufnahmen?«

»Mein Gesicht ist deutlich erkennbar. Niemand wird daran zweifeln, dass ich es bin. Premierministerin, man hat mich fotografiert, wie ich dem Neut Geld gebe.«

Sie bleckt die Zähne, schüttelt den Kopf, zündet sich eine weitere Zigarette an. Shaheen Badoor Khan hat sich niemals vorgestellt, dass sie rauchen könnte. Ein weiteres Geheimnis seiner Premierministerin, ähnlich wie ihr loses Mundwerk. Das muss der Grund sein, warum sie ihn mit nach draußen genommen hat, um den Rauch aus dem Rana Bhavan fernzuhalten. Erstaunlich, wie viele Details ihm auffallen.

»Ein Neut.«

Jetzt beginnt das innere Absterben. In dieser einen Silbe liegt all ihre Abscheu und Verständnislosigkeit, all ihre Enttäuschung und Wut.

»Sie sind ... ein Gender ...«

»Ich weiß, was sie sind. Dieser Club ...«

Ein weiterer Brocken wird ihm aus dem Körper gerissen. Der Schmerz ist grausam, verflüchtigt sich aber schon im nächsten Moment. Es ist eine große Erleichterung, ausnahmsweise die Wahrheit sagen zu können.

»Dorthin gehen Leute, die Neuts treffen wollen. Leute, für die Neuts sexuell attraktiv sind.«

Rauch steigt senkrecht von Sajida Ranas Zigarette auf, bevor er sich in träge Zickzackschwaden auflöst. Die Luft ist wunderbar still. Selbst das ewige Dröhnen der Stadt ist gedämpft.

»Verraten Sie mir eins. Was haben Sie gedacht, was Sie mit ihnen tun könnten?«

Es ging nie darum, etwas zu tun, möchte Shaheen Badoor Khan erklären. Das ist etwas, das du nie verstehen wirst, wenn du aus deinem warmen, weichen Bett kommst und immer noch den Geruch deines Ehemannes an dir hast. Das ist etwas, das die Neuts immer verstanden haben. Es geht nicht ums Tun. Es geht ums Sein. Deshalb gehen wir dorthin, in diesen Club, um zu sehen, um im Kreis der Wesen aus unseren Phantasien zu sein, Wesen, nach denen wir uns schon immer gesehnt haben, aber zu denen wir selbst nie werden, weil wir nicht den Mut dazu haben. Für dieses kurze stechende Brennen der Schönheit.

Doch Sajida Rana gibt ihm gar nicht die Gelegenheit, all das zu sagen. »Ich muss gar nicht mehr wissen. Es besteht natürlich keine Hoffnung, dass Sie ein Mitarbeiter der Regierung bleiben.«

»Das habe ich keinen Augenblick lang erwartet, Premierministerin. Ich wurde in eine Falle gelockt.«

»Das ist keine Entschuldigung. Im Gegenteil, dadurch wird es sogar noch ... Was haben Sie sich dabei gedacht? Nein, antworten Sie nicht. Wie lange geht das schon?«

Eine weitere falsche, verständnislose Frage.

»Den größten Teil meines Lebens. So lange ich mich zurückerinnern kann. Schon immer.«

»Was Sie gesagt haben, als wir vom Damm zurückkehrten ... als Sie sagten, dass es sich zwischen Ihnen und Ihrer Frau abgekühlt hat ... verdammte Scheiße, Khan ...« Sajida Rana drückt den aufgerauchten Stummel mit dem Absatz ihres weißen Satinhausschuhs aus. »Sie haben es ihr doch erzählt, oder?«

»Nein, das nicht.«

»Was dann?«

»Sie weiß von meinen ... Vorlieben. Sie weiß es schon seit einiger Zeit. Seit langer Zeit.«

»Wie lange?«

»Jahrzehnte, Premierministerin.«

»Hören Sie auf, mich so zu nennen! Nennen Sie mich nicht so! Sie waren zwanzig Jahre lang ein Sicherheitsrisiko für diese Regierung, und Sie haben die Unverfrorenheit, mich weiterhin zu premierministrieren? Ich habe Sie gebraucht, Khan. Wir könnten verlieren. Ja, wir könnten diesen Krieg verlieren. Die Generäle haben mir all die Satellitenbilder gezeigt und ihre Kaih-Modelle, und sie selber sagen, dass die Awadhis Truppen in den Norden gegen Jaunpur vorrücken lassen. Ich bin mir da nicht so sicher. Es ist viel zu offensichtlich. Die Awadhis haben sich noch nie offensichtlich verhalten. Ich habe Sie gebraucht, Khan, um mich gegen diesen Idioten Chowdhury durchzusetzen.«

»Es tut mir leid, es tut mir unendlich leid.« Aber er will gar nicht hören, was seine Premierministerin zu sagen hat. Er hat alles schon mehrmals gehört, er hat es sich immer wieder selbst gesagt, während der Wagen durch den erstickenden Morgen gefahren war. Shaheen Badoor Khan will reden, damit all die Dinge, die er ein Leben lang weggepackt hat, wie Wasser über die steinernen Lippen einer Springbrunnenfigur in irgendeiner dekadenten europäischen Stadt sprudeln. Jetzt ist er frei. Jetzt gibt es kein Geheimnis mehr, keine Zwänge, und er möchte so sehr, dass sie versteht, dass sie sieht, was er sieht, fühlt, was er fühlt, seinen Schmerz nachempfindet.

Sajida Rana setzt sich seufzend auf die Balustrade. »Es regnet in Maratha, wussten Sie das? Der Monsun wird hier sein, bevor die Woche zu Ende ist. Die Wolken bewegen sich über den Dekkan. In diesem Moment tanzen die Kinder von Nagpur im Regen. Noch ein paar Tage, und sie werden auf den Straßen von Varanasi tanzen. Drei Jahre. Ich hätte warten können. Ich musste den Damm nicht besetzen. Aber ich durfte es nicht riskieren, länger zu warten. Also lasse ich jetzt meine Bharati-Jawans auf dem Damm von Kunda Khadar patrouillieren. Welchen Eindruck wird das auf die einfachen Menschen von Patna machen? Aber Sie hatten recht. Wir haben N. K. Jivanjee in den Arsch gefickt. Und jetzt rächt er sich an mir. Wir haben ihn unterschätzt. Sie haben ihn unterschätzt. Das ist das Ende von uns beiden.«

»Premier... Mrs. Rana, wir wissen nicht ...«

»Wer sonst? Sie sind nicht so clever, wie Sie glauben, Khan. Keiner von uns ist das. Ihr Rücktrittsgesuch wurde angenommen.« Dann beißt Sajida Rana die Zähne zusammen und schlägt mit der Faust gegen die Kalksteinbrüstung. Blut tritt aus ihren Fingerknöcheln hervor. »Warum haben Sie mir das angetan? Ich hätte Ihnen alles gegeben. Und Ihre Frau, Ihre Jungs ... Warum gehen Männer solche Risiken ein? Ich werde mich von Ihnen lossagen.«

»Natürlich.«

»Ich kann Sie nicht mehr beschützen. Shaheen, ich weiß nicht, was jetzt mit Ihnen geschehen wird. Verschwinden Sie aus meinem Blickfeld. Wir können uns glücklich schätzen, wenn wir diesen Tag überleben.«

Als Shaheen Badoor Khan mit knirschenden Schritten über den geharkten Kies zum Dienstwagen zurückläuft, beleben sich die dunklen Bäume und Büsche um ihn herum mit Vogelgezwitscher. Einen Augenblick lang denkt er, dass all die Lügen seines Lebens in seinem inneren Ohr klingeln, während sie sich hinaus und ans Licht drängeln. Dann wird ihm klar, dass es die Overtüre des Dämmerungschors ist, die Botenvögel, die bereits in dunkler Nacht singen. Shaheen Badoor Khan hält inne, dreht sich, hebt den Kopf, lauscht. Die Luft ist warm, aber schneidend klar und gegenwärtig. Er atmet reine Dunkelheit. Er spürt den Himmel als Kuppel über sich, und jeder Stern ist ein nadelfeiner Lichtstrahl, der ihm ins Herz sticht. Shaheen Badoor Khan spürt, wie das Universum um ihn rotiert. Er ist gleichzeitig die Achse und der Motor, Subjekt und Objekt, er dreht und wird gedreht. Ein winziges Ding, ein kleines Lied, das zusammen mit zahllosen anderen in der gewaltigen Dunkelheit widerhallt. Die Zeit wird die Wogen seiner Taten und Untaten glätten, die Geschichte wird seinen Namen im Staub der Allgemeinheit einebnen. Es hat nichts zu bedeuten. Zum ersten Mal, seit die Fischerkinder im Sonnenuntergang von Kerala planschten und spielten, versteht er, was Freiheit ist. Freude flammt in der Mulde seines Manipura-Chakras auf. Der sufistische Moment der Selbstlosigkeit, der Zeitlosigkeit. Gott im Unerwarteten. Er hat es nicht verdient. Das Geheimnis dabei ist, dass es niemals zu denen kommt, die glauben, es verdient zu haben.

»Wohin, Sahb?«

Verantwortungen. Nach der Erleuchtung die Pflicht.

»Zum Haveli.« Von nun an geht es nur noch bergab. Die Worte, die einmal ausgesprochen wurden, lassen sich so leicht wiederholen. Sajida Rana hatte recht. Er hätte es ihr sofort sagen müssen. Die Anschuldigung hat ihn überrascht: Shaheen Badoor Khan ist nachhaltig daran erinnert worden, dass seine Premierministerin eine Frau ist, eine verheiratete Frau, die nicht bereit war, den Namen ihres Ehemannes anzunehmen. Er polarisiert die Autofenster dunkel gegen neugierige Augen.

Bilquis hat es nicht verdient. Sie hat einen guten Ehemann verdient, einen wahren Mann, der sie niemals in der Öffentlichkeit bloßstellen würde, selbst wenn sie ihn nicht mehr liebt oder das Bett mit ihm teilt, selbst wenn sie kein gemeinsames Leben mehr führen. Einen Mann, der lächelt und die richtigen Worte sagt, der nie zulässt, dass sie vor den Damen ihres Juristinnenzirkels vor Scham das Gesicht bedecken muss. Er hat alles gehabt — das hat auch Sajida Rana gesagt —, aber er konnte trotzdem nicht verhindern, dass er selbst alles zerstört. Er hat wahrhaftig verdient, was mit ihm geschehen ist. Dann schlägt auf dem sonnenrissigen Ledersitz des Regierungsfahrzeugs plötzlich Shaheen Badoor Khans Wahrnehmung um. Er hat es nicht verdient. Niemand hat es verdient, und alle haben es verdient. Wer kann sich mit erhobenem Haupt anmaßen, über ihn zu urteilen? Er ist ein guter Berater, der beste Berater, den es gibt. Er hat seinem Land gute und weise Dienste geleistet. Es braucht ihn immer noch. Vielleicht kann er untertauchen, sich wie eine Kröte während der Trockenzeit tief in den Schlamm eingraben und darauf warten, dass sich das Klima ändert.

Das erste Licht des Morgens fällt auf die Straßen, während der Dienstwagen weitersurrt, sanft wie ein Nachtfalter. Shaheen Badoor Khan erlaubt sich in seinem verdunkelten Glaskasten ein Lächeln. Der Wagen biegt um die Ecke, wo der Sadhu auf einem Betonblock sitzt, den einen Arm in einer Schlinge erhoben, die an einem Laternenpfahl befestigt ist. Shaheen Badoor Khan kennt diesen Trick. Nach einiger Zeit verliert man jedes Gefühl. Der Wagen hält unvermittelt an. Shaheen Badoor Khan muss die Arme ausstrecken, um nicht zu fallen.

»Was gibt es?«

»Schwierigkeiten, Sahb.«

Shaheen Badoor Khan entpolarisiert das Fenster. Die Straße vor ihnen wird von frühem Verkehr blockiert. Die Leute haben die Taxis verlassen und lehnen sich gegen die offenen Türen, um das Spektakel zu beobachten, das sie an der Weiterfahrt hindert. Körper fließen über die Kreuzung, schemenhafte Männer in weißen Hemden und dunklen Hosen und junge Männer mit Schnurrbartansatz bewegen sich im stetigen, wütenden Trab, und die Lathis in ihren Händen wippen auf und ab. Eine Batterie Trommler kommt vorbei, gefolgt von einer Grupper wilder Frauen in Kali-Rot, mit weißer Asche eingeriebene Naga Sadhus, die simple Shiva-Trishuls schwenken. Shaheen Badoor Khan beobachtet, wie eine große Ganesha-Figur aus rosafarbenem Pappmaché in sein Blickfeld rumpelt, knallbunt, im zunehmenden Licht fast fluoreszierend. Sie schwankt hin und her, unbeholfen gelenkt von barbeinigen Puppenspielern. Hinter Ganesha ein noch erstaunlicherer Anblick: der wogende orange-rote Turm einer Rahta Yatra. Und Fackeln. Jeder Teilnehmer und jeder Läufer hält Feuer in der Hand. Shaheen Badoor Khan wagt es, das Fenster einen Spaltweit zu öffnen. Eine Lawine aus Lärm stürzt auf ihn ein, ein gewaltiges, unausgeformtes Grölen. Individuelle Stimmen schälen sich heraus, nehmen ein Thema auf, tauchen wieder unter. Sprechgesänge, Gebete, Parolen, Nationalhymnen, Choräle der Karsevaks. Er muss gar nicht die Worte verstehen, um zu wissen, wer sie sind. Der riesige Mahlstrom aus Demonstranten um den Sarkhand Roundabout ist ausgebrochen und strömt nun durch Varanasi. Das würden diese Menschen nur tun, wenn ihr Hass ein größeres Ziel gefunden hat. Shaheen Badoor Khan weiß, wohin sie mit den Fackeln in den Händen unterwegs sind. Die Nachricht ist an die Öffentlichkeit gelangt. Er hat gehofft, dass es etwas länger dauert.

Shaheen Badoor Khan blickt sich um. Die Straße ist immer noch frei.

»Bringen Sie mich von hier weg.«

Gohil gehorcht ohne Nachfrage. Der große Wagen setzt zurück, wendet und hupt wütend den Verkehr an, als er über den Betonmittelstreifen fährt und knirschend auf die andere Straßenseite wechselt. Bevor Shaheen Badoor Khan das Fenster verdunkelt, erkennt er im Osten eine Rauchwolke am Himmel, ölig wie brennendes Fett von einem Scheiterhaufen vor der gelben Morgendämmerung.

28 Thal

Das Phatphat hat kein Ziel, es fährt einfach nur. Thal hat dem Taxifahrer einen Strauß Rupien zugeworfen und genau das gesagt: einfach nur fahren.

Ys muss verschwinden. Den Job aufgeben, die Wohnung, alles, was ys sich in Varanasi aufgebaut hat. Irgendwohin gehen, wo niemand sys Namen kennt. Mumbai. Zurück zu Mum. Zu nahe. Zu zickig. In den tiefen Süden. Bangalore, Chennai. Dort gibt es große Medienindustrien. Ein guter Designer findet dort immer Arbeit. Aber selbst Chennai ist vielleicht nicht weit genug weg. Wenn ys sys Namen ändern könnte, noch einmal sys Gesicht ... Ys könnte sich über Patna absetzen, nach einer weiteren Behandlung durch Nanak. Setz es auf die Rechnung. Falls ys bei Nanak noch kreditwürdig ist. Ys müsste sich bald einen neuen Job besorgen. Ja, das ist es. Alles zusammenpacken, dann zum Bahnhof und nach Patna fahren, sich eine neue Identität zulegen.

Thal tippt dem Fahrer auf die Schulter. »Zum White Fort.«

»Da fahre ich nachts nicht hin.«

»Ich zahle Ihnen den doppelten Preis.«

Ys hätte das Geld annehmen sollen. Das Bargeld in sys Handtasche versickert wie Wasser in trockenem Sand. Die Karten, die noch nicht am Limit sind, stehen kurz davor. Eine Crore Rupien, unauffindbar, unaufhaltsam, eine Abhebung, damit könnte ys überall hinkommen. An jeden Ort des Planeten. Aber das würde bedeuten, dass ys sys Rolle annimmt. Wer hat geschrieben, dass ys bestraft werden muss? Was hat ys getan, um diese globale Schmach ertragen zu müssen? Thal betrachtet sys kleines Leben, dröselt die furchtbaren Schwachstellen auf, die ys in eine gedankenlose politische Waffe verwandelt haben. Fremd, allein, isoliert, neu. Man hat ys von dem Moment an beobachtet, als ys aus dem Shatabdi gestiegen ist. Tranh, die Nacht des lodernden Rausches im Flughafenhotel — der beste Sex, den ys je hatte —, die Tempelparty, die cremefarbene Einladung mit Goldrand, die ys wie ein Kultobjekt im Büro herumgezeigt hat ... Jeder einzelne der Chota Pegs, die durch sys goldene Kehle rannen ... Man hat mit ys gespielt wie mit einer Bansuri.

Thal bemerkt, dass ys die Hände zu wütenden Fäusten geballt hat. Ys staunt über die Hitze sys Zorns. Es wäre sicher, vernünftig und weise, wenn das Neut die Flucht ergreifen würde. Aber ys will mehr wissen. Ys möchte einen klaren Blick auf das Gesicht werfen, das ys all dies angetan hat.

»So, mein Freund, weiter geht es nicht.« Der Fahrer hebt sein Radio. »Diese Shivaji-Wahnsinnigen sind unterwegs. Sie sind aus dem Sarkhand Roundabout ausgebrochen.«

»Sie lassen mich hier mit diesen Leuten allein?«, brüllt Thal dem zurückfahrenden Phatphat nach. Ys hört den Zorn der Hindutva, der rhythmisch in den Straßenschluchten widerhallt. Die Straßen selbst sind auf den Beinen, alle Geschäfte, Stände, Kioske und Dhabas. Ein Pick-up wirft Bündel mit Morgenzeitungen auf den Betonmittelstreifen. Die Zeitungsjungen stürzen sich wie schwarze Milane darauf. Thal schlägt den Kragen hoch, um sys verräterische Gesichtszüge zu verbergen. Sys rasierter Schädel fühlt sich schrecklich verletzlich an, wie ein zerbrechliches braunes Ei. Zwei Wege in die Sicherheit. Ys kann die mit Satellitenschüsseln gespickten Mauern des White Fort hinter den Wassertanks und Sonnenkollektoren auf den Dächern erkennen. Thal schiebt sich an der Fahrzeugschlange vorbei, den Kopf gesenkt, einem Blickkontakt mit den Ladenbesitzern ausweichend, die die Rollläden hochziehen, den Nachtarbeitern, die von ihrer Schicht in der US-Westküstenzeitzone zurückkehren. Eher früher als später wird jemand sehen, wer ys ist. Ys blickt auf die Zeitungsbündel. Erste Seite, Hauptschlagzeile, Farbbild.

Hinter ys bewegt sich der Lärm des Mobs, von links nach rechts und dann ganz nahe. Thal verfällt in einen Dauerlauf, den Mantel trotz der zunehmenden Hitze bis zum Kinn hochgezogen. Jetzt schauen die Leute ys nach. Noch eine Kreuzung. Noch eine Kreuzung. Das stimmlose Getöse bewegt sich erneut, ist nun anscheinend vor ys, dann steigert sich schlagartig die Lautstärke und Heftigkeit. Thal blickt sich um. Sie sind hinter ys. Eine Phalanx aus rennenden Männern in weißen Hemden kommt aus einer Nebenstraße auf die Chaussee. Für einen Moment wird es still. Selbst der Verkehr verstummt. Dann wird Thal von einem gerichteten Gebrüll getroffen, das ihn fast wie ein körperlicher Schlag trifft. Ys stößt ein leises furchtsames Winseln aus, wirft sys blöden, hinderlichen Mantel ab und rennt los. Gejaule und Geheul erhebt sich hinter ys. Die Karsevaks kommen herangesprungen. Nicht mehr weit. Nicht weit. Nicht. Mehr. Weit. Nicht. Weit. Nahe. Nahe. Nahe. Thal katapultiert sich in den Wald aus Säulen, die Krypta des White Fort. Die johlenden Rufe hallen von den Betonpfeilern zurück. Wir kommen näher. Wir sind schnell. Wir sind schneller als du, unnatürliches und perverses Ding. Du bist von Unnatürlichkeit und Laster aufgedunsen. Wir werden dich zertreten, Schnecke. Wir werden hören, wie du unter unseren Füßen zerplatzt. Wurfgeschosse fallen klappernd um Thal herum zu Boden: Dosen, Flaschen, elektronische Bauteile. Und Thal versagt allmählich. Ys verblasst. Ys hat keine Kraft mehr. Die Batterien sind leer. Ladeanzeige auf null. Thal tippt Befehle in sys subdermale Zapfen. Sekunden darauf setzt der Adrenalinstoß ein. Das wird ys später teuer bezahlen müssen. Ys würde jetzt alles bezahlen. Thal entfernt sich von den Jägern. Ys sieht jetzt die Aufzüge. Einer soll da sein, bitte! Ardhanarishvara, Herr der geteilten Wesen, lass einen Lift da sein, einen, der funktioniert. Die Jäger klatschen mit den Händen gegen die öligen Betonsäulen. Wir. Kommen. Um. Dich. Zu. Töten. Wir. Kommen. Um. Dich. Zu. Töten.

Grünes Licht. Grünes Licht ist die Rettung, ist das Leben. Thal stürmt zum grünen Licht des Aufzugs, während die Türen aufgleiten. Ys schlüpft durch den dunklen Schlitz, schlägt auf den Knopf. Die Türen schließen sich. Finger zwängen sich hindurch, tasten nach den Sensoren, den Schaltern, dem Körper, irgendetwas. Zentimeter um Zentimeter drücken sie die Tür auf.

»Da ist er, der Chuutya!«

Ys! Ys!, schreit Thal lautlos, während ys auf die Finger schlägt, mit Fäusten, mit scharfen Stiefelabsätzen. Die Finger zucken zurück. Die Tür schließt sich. Der Aufstieg beginnt. Thal hält zwei Stockwerke zu tief, um sie in die Irre zu führen, wartet, bis sich die Türen geöffnet und wieder geschlossen haben, und fährt dann einen Stock zu hoch. Als ys sich über die Treppe hinunterschleicht, die von den vielen bloßen Füßen glänzt und trotz der Trockenheit nach feuchtem Ammoniak riecht, hört ys ein lauter werdendes Stimmengeplapper. Thal schiebt sich um die Ecke. Sys Nachbarn drängen sich in Mama Bharats offener Tür. Thal wagt sich geduckt einen Schritt näher heran. Alle reden und gestikulieren, einige der Frauen halten sich schockiert den Dupatta vor den Mund. Manche verbeugen sich und wippen im Trauerritual. Männerstimmen übertönen das Geschnatter und Gewimmer, ein Wort hier, ein Satz dort. Ja, die Familie kommt, hat sich sofort auf den Weg gemacht, wer würde eine alte Frau hier ganz allein zurücklassen, schändlich, schändlich, die Polizei wird sie finden.

Noch einen Schritt näher.

Die zertrümmerte Tür zu Mama Bharats Wohnung liegt auf dem Boden. Über die Köpfe der wütenden Männer hinweg kann Thal in das entweihte Zimmer blicken. Wände, Fenster, Gemälde von Göttern und Avataren sind voller Löcher. Thal starrt auf die Löcher und weigert sich, es zu verstehen. Schusslöcher. Ys starrt einen Moment zu lange. Ein Schrei.

»Da ist er!«

Nachbar Paswans missmutige Stimme. Die Menge teilt sich und gibt eine klare Verbindungslinie zwischen Thal und Paswans anklagendem Zeigefinger und den Füßen auf dem Boden frei. Alle Köpfe drehen sich. Ihre Füße stehen in einer Blutlache. Einer Lache aus erschreckendem, frischem, rotem Blut, noch voller Leben und Sauerstoff. Es lockt bereits erste Fliegen an. Die Fliegen sind im Zimmer. Die Fliegen sind in sys Kopf.

Du bist absolut entbehrlich, hat Tranh gesagt.

Die Füße im frischen, öligen Blut. Sie sind immer noch im Gebäude. Ys dreht sich um, rennt wieder.

»Da ist er, das Monster!«, brüllt Paswan. Thals Nachbarn nehmen den Ruf auf. Die Stimme der Menge hallt pulsierend im Betonschacht des Treppenhauses wider. Thal packt das Stahlgeländer mit beiden Händen, zieht sich die Stufen hinauf. Alles tut weh. Alles schreit und stöhnt und sagt ys, dass ys am Ende ist, dass nichts mehr kommt. Aber Mama Bharat ist tot. Mama Bharat wurde erschossen, und während sich das frühe Licht dieses Augustmorgens an den Wänden hinunterschiebt, konzentriert sich all der Hass und die Verachtung, all die Furcht und Wut Bharats auf ein Neut, das sich eine Betontreppe hinaufkämpft. Sys Nachbarn, die Menschen, unter denen ys in den vergangenen Monaten so ruhig gelebt hat, wollen ys nun mit bloßen Händen zerreißen.

Ys zwängt sich an zwei Männern vorbei, die auf dem Absatz des siebten Stocks stehen. Eine Erinnerung flackert auf: Thal blickt zurück. Sie sind jung und schlank und tragen ausgebeulte Hosen und weiße Hemden, die Straßenuniform des jungen männlichen Bharati, aber irgendetwas an ihnen stimmt nicht. Etwas, das nicht zum White Fort passt. Blicke treffen sich. Thal weiß jetzt wieder, wo ys sie schon einmal gesehen hat. Damals trugen sie Anzüge, gute dunkle Anzüge. Sie waren ihm unten auf dem Treppenabsatz entgegengekommen, als Mama Bharat den Müll hinausgebracht hatte und Thal vorbeigetänzelt war, ihr einen Kuss zugehaucht hatte, völlig aufgeregt und unterwegs zum Ende von allem. Sie hatten sich umgeblickt, wie ys es jetzt tut. Ein guter Designer vergisst niemals die Details.

Du bist absolut entbehrlich.

In den Sekunden, die sie brauchen, um ihren Fehler zu erkennen, ist Thal bereits anderthalb Stockwerke weiter, aber sie sind jung und männlich und fit und tragen keine HiFashion-Stiefel und sind noch nicht die halbe Nacht gerannt.

»Aus dem Weg!«, brüllt Thal, als ys auf die tägliche Prozession der Wassermädchen aus den oberen Stockwerken stößt, die die endlosen Stufen hinuntersteigen, die Plastikkanister auf dem Kopf balancierend. Ys muss ins Freie. Das White Fort ist eine Falle, eine riesige Todesmaschine. Ys muss nach draußen. In die Menge eintauchen. Die Leute werden ys mit ihren Körpern Deckung geben. Thal biegt auf dem nächsten Absatz ab, hebelt die Tür auf und stürmt auf den äußeren Laufsteg.

Die Städteplaner von Diljit Rana, allesamt gute Neo-LeCorbusianer, haben das White Fort als Dorf im Himmel angelegt und weite sonnenbeschienene Terrassen für urbane Landwirtschaft bauen lassen. Die meisten der Parzellen mit Tröpfchenbewässerung haben sich während der langen Dürre und sanitären Krise in Flächen aus Dreck und Staub verwandelt, bis auf jene, wo nun GM-Cannabis wächst, das liebevoll und mit Mineralwasser aus der Flasche gehätschelt wird. Wilde Ziegen, fünf Generationen von ihren urbanisierten Vorfahren entfernt, grasen die Müllhaufen und ausgetrockneten Gemüsegärten ab. Auf den Betonwegen und Schutzbrüstungen des White Fort sind sie genauso trittsicher wie an ihren heimatlichen Felshängen. Die Wartungsroboter bekämpfen sie energisch mit Hochspannungstasern. Die Ziegen haben einen Geschmack für Kabelisolierungen entwickelt.

Thal rennt. Die Ziegen blicken wiederkäuend auf. Mütter reißen ihre Kinder aus dem Weg des verrückten, fliehenden, perversen Wesens. Alte Männer, die Bidis rauchen und in der Morgensonne Kreuzworträtsel lösen, verfolgten ys mit ihren Blicken, begeistert, dass etwas passiert, dass irgendetwas passiert. Junge Männer, die ansonsten nichts tun, johlen und grölen.

Die chemische Stimulation lässt immer mehr nach. Thal ist nicht zum Laufen gemacht. Ys blickt sich über die Schulter um. Waffen wippen in den Händen der Männer auf und ab. Schwarze, glänzende Pistolen. Das ändert alles auf den landwirtschaftlichen Ebenen des White Fort. Frauen zerren die Kinder nach drinnen. Alte Männer ziehen sich zurück. Junge Männer weichen aus.

»Helft mir!«, ruft Thal. Ys packt Mülleimer, Papierstapel, Körbe, alles, was die Verfolger eine Sekunde lang aufhalten könnte, und wirft sie hinter sich. Saris und Dhotis und Lungis, die tägliche Wäsche auf durchhängenden Leinen, die sich über die breiten Himmelsstraßen spannen. Thal duckt sich unter einem tropfenden Dhoti hindurch und streckt den Arm aus, um die Kleidung reihenweise herunterzureißen. Ys hört feuchte Flüche, blickt sich um und sieht, wie sich die Jäger in einem grünen Sari verheddert haben. Die Zuflucht ist in Sicht, ein Aufzug am Ende der Straße, der sich mit Schulkindern füllt. Thal springt durch die sich schließende Tür, schießt an der aufgeregten Betreuerin vorbei. Der Lift ruckt und fährt nach unten. Thal hört Stimmen. Ys blickt auf und sieht die zwei Banditen, die sich über das Geländer beugen. Sie haben ihre Waffen gehoben. Aus der Mitte der dicht gedrängten schwarzäugigen Grundschülerinnen in ihren hübschen gepflegten Uniformen winkt Thal zu ihnen hinauf.

Die Sonne schüttet kochend heißes Licht in die Straßenschluchten von Varanasi, während Thal sich durch den Stoßverkehr bewegt. Ys schlüpft zwischen den Schulkindern und Beamten in weißen Hemden auf Fahrrädern hindurch, zwischen den Straßenverkäufern und dem Ladenpersonal, den Leuten, die in den Einfahrten schlafen, und den Studenten mit Markenkleidung und japanischen Schuhen, den Rollwagen, die hoch mit Pappkisten voller Unterwäsche von Lux Macroman beladen sind, und den feinen Damen unter den Baldachinen der Fahrradrikschas. Jederzeit könnte irgendjemand aus der Menge ys von der Titelseite der Zeitung wiedererkennen, die er sich unter den Arm geklemmt hat, von den Frühstücksnachrichten auf dem Palmer, von den Schlagzeilenplakaten an den Zeitungsläden oder den Werbebildschirmen an jeder Kreuzung und an jedem Chowk. Ein Ruf, eine Hand, die nach einem Jackenärmel greift, ein »He! Sie! Halt!«, und die wimmelnde Bewegung von Individuen würde zu einem Mob kristallisieren, der nur noch ein Bewusstsein, einen Willen, eine Absicht hat.

Thal tänzelt die mit Müll übersäte Treppe hinunter zum VART. Selbst wenn die Killer ys durch den morgendlichen Verkehr folgen konnten, haben sie keine Chance, ys im Metrolabyrinth von Varanasi wiederzufinden. Thal geht an der Schlange vor dem Irisscanner vorbei und reiht sich bei den Frauen ein, die dem Varanasi Area Rapid Transit nicht erlauben, ihnen so tief in die Augen zu blicken. Ys wirft fünf Rupien in den Trichter und zwängt sich durch die Barriere, bevor die Ladys von New Varanasi protestieren können.

Thal läuft über den Bahnsteig zum Frauenbereich. Ys überblickt die Menge und sucht nach Anzeichen für die Killer, nach einer Bugwelle, die sie im Gedränge der Menschen auslösen. Es ist so leicht, hier zu sterben. Eine Hand im Rücken, während der Zug aus dem Tunnel geschossen kommt. Und nun, als die Asche des künstlichen Adrenalins aus sys Blutkreislauf gespült wird, folgt der biochemische Abschwung. Thal zittert, fühlt sich allein und klein und sehr, sehr paranoid. Ein Schwall übler, heißer, elektrischer Luft, und der Zug rauscht in den Bahnhof. Thal fährt zwei Stationen im Nur-für-Frauen-Abteil mit und steigt dann aus. Ys zählt einen Zug, zwei Züge ab und steigt wieder in den weiblichen Waggon. Ys hat keine Ahnung, ob ys das Richtige tut, ob es überhaupt etwas Richtiges gibt, ob es irgendwelche Selbsthilfebücher gibt, wie man im städtischen Metronetz Verfolger abschüttelt.

Der Roboterzug jagt durch die Unterwelt von Varanasi, holpert über die Gleisverbindungen und Weichen. Thal fühlt sich nackt zwischen all den Frauenkörpern. Ys kann ihre Gedanken hören: Du gehörst nicht hierher; wir wissen nicht, was du warst, aber jetzt bist du keine oder keiner von uns mehr, Hijra. Dann erstarrt sys Herz. Eingeklemmt zwischen einer Haltestange und dem Feuerlöscher hat ein Büromädchen Platz gefunden, um die Bharat Times zu lesen. Ihre Aufmerksamkeit gilt der Rückseite, den Cricket-Nachrichten. Auf der Titelseite kreischt eine Schlagzeile in achtzig Punkt und ein halbseitiges Foto. Ys sieht sich selbst, sys blasses Gesicht im Blitzlicht, die Augen groß wie Monde.

Der Zug ruckelt auf den Gleisen. Die Passagiere schwanken wie Getreide im Wind. Thal lässt den Haltegurt los und arbeitet sich quer durch den Waggon. Dann baut ys sich vor der schreienden Titelseite auf. Das Zeitungsmädchen faltet die obere Hälfte ihrer Morgenlektüre herunter, um Thal anzustarren und sich dann wieder den Klatschnachrichten über V. J. Mazumdar, den Held des Testspiels, und seiner bevorstehenden VIP-Hochzeit zu widmen. Die Unterzeile ganz unten auf der Seite lautet: TOTE BEI FEUERÜBERFALL AUF PERVERSENCLUB.

Varanasi City Station kündigt die Kaih über dem Lärm der Radios und Gespräche an. Thal stolpert auf den Bahnsteig hinaus und läuft dem sich langsam ausbreitenden Fleck der Pendler voraus. Ys hat genug Zeit, über diese Schlagzeile zu meditieren, wenn der Shatabdi beschleunigt hat und Varanasi hundert Kilometer hinter ys liegt.

Der Aufzug wirft Thal in die Bahnhofshalle. Ys hat bereits mit sys Palmer abgefragt, welche Züge demnächst abfahren. Der Kolkata Hi-Speed. Über die schnurgerade Stahllinie direkt in die States of Bengal. Patna und Nanak können warten. Was Thal viel mehr als ein neues Gesicht braucht, ist eine neue Nation. Die Banglas sind ein zivilisiertes, kultiviertes, tolerantes Volk. Kolkata soll sys neues Zuhause werden. Aber die Online-Buchung ist sehr, sehr langsam, und das Gedränge vor dem Ticketschalter ist tödlich. Weggeworfene Zeitungen liegen verstreut zwischen den Mangoblättern mit den Resten von Aloo und Dal auf dem Betonboden. Müllsammler stochern und stöbern. Jeder von ihnen wäre bereit, ys für eine Handvoll Rupien auszuliefern.

Dreizig Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.

Wieder ist die Online-Buchung abgestürzt. Und über den Schlitzen des Ticketautomaten klebt ein Plakat, auf dem mit Filzstift AUSSER BETRIEB geschrieben steht.

Beschissenes Bharat.

»He he, mein Freund. Willst du ganz schnell Ticket kaufen?« Der Schwarzhändler, ein junger Mann mit Schnurrbartflaum und in Sportmode, rückt ganz nah heran, um sein vertrauliches Geschäft abzuwickeln. Er breitet einen Fächer aus Tickets aus. »Sicher, gefahrlos. Reservierung garantiert. Schau nach, finde deinen Namen im Waggon, keine Fragen. Wir haben gehackt das System von Bharat Rail.« Er wedelt mit einem ramponierten Palmer.

Na los na los. Ys wird es nicht schaffen. Ys wird es nicht schaffen.

»Wie viel?«

Der Sportjunge nennt einen Preis, über den Thal zu einer anderen Zeit unter anderen Voraussetzungen laut gelacht hätte.

»Hier, hier.« Ys drängt dem Tickethändler ein Bündel Rupien auf.

»He he, eins nach anderm«, erwidert der Junge und führt Thal zu den Bahnsteigen. »Welche Zug welche Zug?«

Thal sagt es ihm.

»Du kommst mit mir.« Er hetzt mit Thal durch die Menge um den Chai-Stand herum, wo die Morgenpendler ihren süßen milchigen Tee aus winzigen Plastikbechern trinken. Er schiebt ein Blankoticket in den Druckerschlitz des Palmers, gibt sys ID-Nummer ein, drückt ein paar Symbole. »Fertig. Bon Voyage.« Grinsend reicht er Thal das Ticket. Dann erstarrt das Grinsen. Der Mund öffnet sich. Ein kleiner roter Punkt bildet sich am Halsausschnitt seines Adidas-Shirts. Das Rot expandiert zu einem Erguss. Der Gesichtsausdruck wandelt sich von Selbstgefälligkeit zu Überraschung und schließlich zu Totenstarre. Der Junge sackt an Thal zusammen, eine Frau in purpurrotem Sari stößt einen Schrei aus, und der Schrei wird von der ganzen Menge aufgenommen, als Thal über die Schulter des erschossenen Schwarzhändlers den Mann im gepflegten Nehru-Anzug mit der schallgedämpften schwarzen Waffe in der Hand sieht, hin- und hergerissen zwischen den Möglichkeiten, nach einem verpatzten Job abzuhauen oder noch einmal genau zu zielen und die Sache hier und jetzt vor den Augen aller Anwesenden zu Ende zu bringen.

Dann kommt aus der Menge ein Moped angerast, hierhin und dorthin kurvend, laut hupend, mit einem Mädchen darauf. Es fährt genau auf den Schützen zu, der es hört und sieht und nur eine Millisekunde zu spät reagiert. Er reißt die Pistole im gleichen Moment herum, als das Moped ihn trifft. Schreie. Die Waffe fliegt ihm aus der Hand. Der Mann in Schwarz wird über den Bahnsteig geschleudert, knallt gegen die Seite des Zuges, rutscht in die Lücke zwischen dem Bahnsteig und dem Waggon, unter den Kolkata Unlimited, auf die Gleise.

Das Mädchen wendet das Moped und hält vor Thal an, während die Menge zum Zug eilt, um nachzusehen, was aus dem Schützen geworden ist. »Aufsteigen!«, ruft sie auf Englisch. Unter dem Waggon taucht eine Hand auf. Arme greifen nach unten, um den Mann hochzuziehen. »Wenn Sie überleben wollen, steigen Sie auf das Moped!«

Jede andere Möglichkeit wäre ein noch größerer Irrsinn. Das Mädchen zieht Thal hinter sich, ys hockt sich auf den Rücksitz, dicht an sie gepresst. Sie dreht den Gashebel und rast los, mitten durch die Menge, wütend hupend. Sie fährt vom Ende des Bahnsteigs herunter und lenkt das hüpfende Moped über die Gleise und Schwellen, biegt knapp vor einem langsamen Vorortzug ab, gibt auf dem mit Müll übersäten Gleisbettrand Gas und hupt die Fußgänger an, die den Streifen als Gehweg benutzen.

»Ich sollte mich vielleicht vorstellen«, ruft das Mädchen über die Schulter nach hinten. »Sie kennen mich nicht, aber ich habe das Gefühl, dass ich Ihnen etwas schuldig bin.«

»Was?«, schreit Thal, die Wange an ihren Rücken gedrückt.

»Mein Name ist Najia Askarzadah. Den ganzen Ärger haben Sie mir zu verdanken.«

29 Banana Club

Um elf Uhr hat die Polizei durch wiederholten Lathi-Einsatz die Straßen geräumt. Polizisten jagen einzelne Karsevaks durch die Galis, aber das sind nur die Rabauken, die Unruhestifter, die immer dabei sind, wenn in ihrem Revier etwas los ist. Die Gassen sind zu schmal für die Feuerwehrfahrzeuge, so dass der Löschtrupp lange Schläuche auf den Straßen ausrollt und zusammenschraubt. Wasser spritzt aus den Verbindungsstücken. Die Bewohner von Kashi blicken neidisch von ihren Veranden und offenen Läden auf das Geschehen. Aber sie kommen viel zu spät. Alles ist schon vorbei. Der alte Holz-Haveli ist zu einem Haufen aus glühenden, klirrenden Kohlen zusammengefallen. Die Feuerwehrleute können nur noch die Asche zusammenfegen und verhindern, dass das Feuer auf Nachbargebäude übergreift. Sie rutschen immer wieder auf Bananenschalen aus.

Der Angriff war gründlich und effektiv. Erstaunlich, wie schnell das Haus abgebrannt ist. Trocken wie Zunder. Die Dürre, diese lange Dürre. Leute mit Bahren bringen die Toten weg. Varanasi, die Stadt der Kremationen. Diejenigen, die zum Vordereingang hinausgerannt sind, liefen direkt den wütenden Shivajis in die Arme. Die Leichen sind in der ganzen Gasse verstreut. Eine trägt einen Autoreifen um den Hals, der bis auf den Stahldraht verbrannt ist. Der Körper ist intakt, der Kopf nur noch ein verkohlter Schädel. Ein anderes Opfer wurde mit einem Shiva-Dreizack erstochen. Eine Leiche wurde ausgeweidet und die klaffende Wunde mit brennendem Plastikmüll ausgefüllt. Die Polizisten treten die Flammen aus und zerren das Ding fort, wobei sie versuchen, möglichst nicht damit in Kontakt zu kommen. Sie fürchten die ansteckende Berührung der Hijra, des Nichtgeschlechts.

Hovercams und Handkameras wagen sich für Nahaufnahmen heran, und im Live-Studio sichten die Nachrichtenredakteure das Material und versuchen zu entscheiden, welche Haltung sie einnehmen wollen: die empörte liberale Ansicht oder den volksnahen Zorn über die Scheinheiligkeit der Rana-Regierung. N. K. Jivanjee wird um halb zwölf eine Erklärung abgeben. Redakteure lieben Geschichten mit kurzer Anlaufzeit. Das Cricketspiel war vor dem Höhepunkt beendet, der Krieg hat lediglich Bilder von bewaffneten Truppentransportern geliefert, die die lange Kurve des Damms von Kunda Khadar hinauf- und hinunterfahren, aber dieser Sex-Skandal der Ranas ist unglaublich schnell außer Kontrolle geraten, mit verkohlten Leichen und Straßenkämpfen. Insbesondere ein Schnappschuss schafft es in sämtliche Morgenmedien: die arme blinde Frau, die vom Zorn völlig überrascht wurde und der man mit einem Knüppel den Schädel eingeschlagen hat. Niemand hat eine Erklärung, warum sie eine Banane in der Hand hält.

30 Lisa

Hinter dem tropfenden Saum des Kokosfaserdachs erstreckt sich eine Welt, in der alles im Fluss ist. Im Regen sind die Palmen, die Kirche, die Stände entlang der Straße, die Straße selbst und die Fahrzeuge darauf verwaschene, fließende Grauschattierungen, die wie japanische Tuschemalerei ineinander übergehen. Die Scheinwerfer der Lastwagen sind blass und wässrig. Erde, Fluss und Himmel sind eine Kontinuität.

In ihrem formlosen Plastikcape kann Lisa Durnau nicht einmal das Ende des Landungsstegs sehen. Im Nebenraum hat sich Dr. Ghotse mit dem Versprechen eines Begrüßungstees vor den Gasbrenner gehockt. Lisa Durnau könnte auf den Chai verzichten. Sie hat immer wieder versucht, den Leuten zu erklären, ihn nur mit Wasser zu machen und ohne Zucker, aber er wird trotzdem gesüßt und milchig serviert. Eistee wäre die Ekstase. Unter ihrem erstickenden Regenzeug klebt ihr der Schweiß auf der Haut. Der Regen ergießt sich in Kaskaden von den Dachvorsprüngen.

Es hat bereits geregnet, als sie in Thiruvananthapuram gelandet ist. Ein Junge mit Schirm führte sie durch den strömenden Vorhang in die Ankunftshalle. Westler aus der Touristenklasse rannten und fluchten, während sie sich Jacken oder Zeitungen über die Köpfe hielten. Die Inder wurden einfach nur nass und sahen dabei glücklich aus. Lisa Durnau hat viele Arten von Regen gesehen, den stahlgrauen Regen des Frühlings im Nordosten, das alles durchdringende Nieseln, das tagelang hoch oben im Nordwesten niedergeht, die erschreckenden Wolkenbrüche der Präriestaaten, die sich wie ein Wasserfall aus dem Himmel ergießen und Sturzfluten und Erdrutsche auslösen. Glücklich machender Regen ist für sie etwas Neues. Das Taxi zum Hotel ist über Straßen gefahren, auf denen sich achsentief Flutwasser und schwimmender Müll staute. Die Kühe standen bis zu den Hachsen in der Überschwemmung. Fahrradrikschas pflügten durch die tanzende braune Flüssigkeit und hinterließen eine Spur aus Bierschaum. Sie beobachtete eine Ratte, die vor dem Taxi über die Straße schwamm, den Kopf tapfer erhoben. Als sie heute zwischen den Pfützen zum Landungssteg tapste, sah sie ein kleines Mädchen, das im Backwater schwamm und ein kleines Floß schob, das lediglich aus drei zusammengeschnürten Bambusrohren bestand, auf denen ein verbeulter Metalltopf balancierte. Das Haar des Mädchens klebte am Schädel wie bei einem glatthäutigen Meeressäuger, aber sie strahlte übers ganze Gesicht.

In den CIA-Instruktionen hatte man es versäumt, sie darauf hinzuweisen, dass in Kerala Monsunzeit war.

Lisa Durnau gefällt die Rolle des Regierungsspions ganz und gar nicht. Der Lightbody war kaum in einer Plasmalohe gelandet, als auch schon die Lektionen begonnen hatten. Ihre erste Einsatzbesprechung fand im Bus zum medizinischen Zentrum statt, während sie immer noch unter der Schwäche und den Schmerzen nach der Rückkehr in die Welt der Schwerkraft litt. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich umzuziehen, bevor man sie abholte und in das Flugzeug nach New York setzte. Am Kennedy Airport erhielt sie in der Limousine zur VIP-Suite Anweisungen über ihre Kontaktpersonen in den Botschaften und die Sicherheitspasswörter. Dort wurde sie in einer Ruhezone im Verwaltungsbereich von einem Mann und einer Frau im korrekten Gebrauch des Navigationsgeräts unterwiesen. Am Gate überreichte man ihr einen kleinen Koffer mit angemessener Kleidung in ihrer Größe. Nach einem ernsten Händedruck wünschte man ihr eine angenehme Reise und eine erfolgreiche Mission. Lisa öffnete den Koffer, während sie mit dem Taxi zum Hotel fuhr. Wie sie befürchtet hatte. Die Ärmel an den T-Shirts waren völlig falsch, und die Unterwäsche war schlicht unaussprechlich. Ganz unten lagen zwei zusammengefaltete schwarze Anzüge. Fast rechnete sie damit, dass Daley Suarez-Martin aus der Minibar stieg. Am nächsten Tag ging Lisa mit ihrer unerschöpflichen schwarzen Kreditkarte zum Basar und füllte den Koffer neu auf, für weniger als den Preis eines Schlüpfers von Abercrombie and Fitch. Einschließlich Regenzeug.

»Ja, es ist ein wunderbarer Anblick«, sagt Dr. Ghotse. Lisa Durnau zuckt zusammen. Sie hat sich von den Regenfingern am Dach hypnotisieren lassen. Er steht da, in jeder Hand eine Tasse Chai. Der Tee ist, wie sie befürchtet hat, aber er hebt tatsächlich ihre Stimmung. Das Boot riecht feucht und vernachlässigt. Die Vorstellung, dass es Thomas Lull hierher verschlagen hat, gefällt ihr nicht. Sie kann sich die Szenerie bei keinem anderen Wetter vorstellen als in diesem endlosen weißen Regen. Sie hat die tantrischen Symbole auf den Dachmatten gesehen und den Namen in Weiß auf dem Bug gelesen: Salve Vagina. Kein Zweifel, dass Thomas Lull hier gewesen ist. Aber sie hat sich vor dem gefürchtet, was sie hier vorfinden würde: Lulls Sachen, Lulls Leben nach ihr, nach Alterre, Lulls neue Welt. Nachdem sie jetzt gesehen hat, wie wenig vorhanden ist, wie ärmlich und spärlich die drei Kokosmattenkabinen eingerichtet sind, verwandelt sich ihre Besorgnis in Melancholie. Es ist, als wäre er gestorben.

Dr. Ghotse bittet sie, auf einem der gepolsterten Diwane Platz zu nehmen, die an den Wänden stehen. Lisa Durnau kämpft sich aus dem Plastikumhang, lässt ihn tropfnass auf den weichen Fasermatten liegen. Der Chai ist gut und sinnlich.

»Oben im schwarzen Norden haben sie deswegen einen Krieg angefangen. Ein unzivilisiertes Volk. Die meisten vom Kastensystem beherrscht. Nun gut, Miss Durnau, was benötigen Sie von meinem guten Freund Thomas Lull?«

Lisa Durnau wird klar, dass es zwei Möglichkeiten gibt, wie sie dieses Gespräch und alle ähnlichen Situationen durchziehen kann. Sie könnte davon ausgehen, dass Lull seinem guten Freund Dr. Ghotse erzählt hat, was er zurückgelassen hat — und wen. Oder sie könnte sich an ihre geheimdienstlichen Anweisungen halten und so tun, als wüsste niemand etwas oder als könnte niemand etwas wissen.

Du bist jetzt in Indien, L. D.

Ein Chip mit Klaviersonaten von Schubert hat sich neben das Sitzkissen verirrt.

»Ich wurde von meiner Regierung beauftragt, Lull zu finden und ihm wichtige Informationen zu geben. Nach Möglichkeit soll ich ihn überzeugen, mit mir in die USA zurückzukehren.«

»Was sind das für Informationen?«

»Es ist mir nicht erlaubt, darüber zu sprechen, Dr. Ghotse. Ich kann Ihnen nur sagen, dass sie wissenschaftlicher Natur sind und Lulls einzigartiger Verstand benötigt wird, um sie zu interpretieren.«

»Lull. Haben Sie ihn so genannt?«

»Hat er Ihnen von mir erzählt?«

»Genug, um überrascht zu sein, dass Sie im Auftrag Ihrer Regierung unterwegs sind.«

Ich vertraue darauf, dass du die Sache richtig weiterführen wirst. Tu etwas, wenn sie Scheiß-Coca-Cola-Werbung auf die Wolken kleben wollen, hatte er ihr aufgetragen. Die Erinnerung an Lull in jener Nacht in der Studentenkneipe in Oxford ist frischer und lebendiger als dieses Haus, das er erst vor Kurzem verlassen hat. Sie kann ihn hier in der Kulisse aus Regengeräuschen nicht spüren. Sie stellt sich vor, durch diesen Regen zu rennen, sich wie ein Otter durch das blutwarme Backwater zu schieben, wie das kleine Mädchen mit dem Floß und dem Blechtopf. Was haben Sie aus dir gemacht?

Lisa Durnau zieht ihren Datenblock aus der Tasche und öffnet ihn. Dr. Ghotse sitzt mit verschränkten Fußknöcheln da und hat seine Chai-Tasse auf dem niedrigen geschnitzten Kaffeetisch abgestellt.

»Sie haben recht. Das hier ist die Wahrheit. Es mag sein, dass Sie es nicht glauben wollen, aber soweit ich weiß, ist es wahr.« Sie ruft die Bilder des Tabernakels auf.

»Das ist Professor Lull«, sagt Dr. Ghotse. »Es ist keine besonders gute Aufnahme. Sehr körnig.«

»Das liegt daran, dass dieses Bild von einem außerirdischen Artefakt generiert wurde, das die NASA im Innern eines Asteroiden mit der Bezeichnung Darnley 285 entdeckt hat. Dieses Artefakt ist als Tabernakel bekannt.«

»Ah, das Tabernakel, das Heiligtum der hebräischen Bundeslade.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie verstanden haben, was ich gerade sagte. Das Tabernakel ist ein Artefakt nicht-menschlicher Herkunft. Es ist das Produkt einer außerirdischen Intelligenz.«

»Ich habe genau gehört, was Sie sagten, Miss Durnau.«

»Und es überrascht Sie nicht?«

»Das Universum ist sehr groß. Es würde mich überraschen, wenn es so etwas nicht gäbe.«

Lisa legt den Block auf den Tisch zwischen die Teetassen.

»Da ist noch etwas, das ich Ihnen erklären möchte. Dieser Asteroid Darnley 285 ist außergewöhnlich alt. Älter als unser Sonnensystem. Verstehen Sie das?«

»Miss Durnau, meine Bildung schließt sowohl die westliche als auch die hinduistische Kosmologie ein. Es ist in der Tat ein Wunder, dass ein Objekt die Vernichtung am Ende des Dwapara Yuga überstanden hat, vielleicht sogar noch viele Zeitalter mehr. Dieses Tabernakel könnte gar ein Überbleibsel des Zeitalters der Wahrheit sein.«

»Der Grund, warum ich Thomas Lull suche, ist die Frage, die ich ihm stellen möchte: Warum befindet sich sein Gesicht in einem sieben Milliarden Jahre alten Felsbrocken?«

»Eine interessante Frage«, pflichtet Dr. Ghotse ihr bei.

Der Regen hat den Weg durch das Kokosfaserdach gefunden. Ein kleiner, aber anschwellender Tropfen sammelt sich und zerplatzt auf dem niedrigen Tisch, der mit ineinander verschlungenen tantrischen Liebenden verziert ist. Der Monsun über Lisa Durnau, unter ihr, hinter ihr, vor ihr, löscht die Gewissheiten des Kennedy Airport, New Yorks und des Überschallfluges aus. Dieser Regen, dieses Indien.

Der Lärm, der Regen, der Geruch nach Abwasser und Gewürzen und Verwesung, das unablässige Verkehrschaos, der geplatzte Hund im Straßengraben, der zur Hälfte nur noch aus schwarzen Knochen besteht, die kreisenden Milane mit den Aasfresseraugen, die abblätternden, schimmelfleckigen Gebäude, der süße Gestank des Alkosprits aus Zuckerrohr und des brennenden Ghee von den Puri-Verkäufern, die Kinder, die sich um sie drängen, sauber und gut genährt, aber trotzdem um Rupien und Kugelschreiber bettelnd, die Händler und Verkäufer und Wahrsager und Massagekünstler, die sich im Regen um eine weiße Frau scharen. Die Menschen. Keine hundert Meter von ihrem Hotel entfernt hat Kerala sie zu Fall gebracht. Die Geräusche, die Gerüche, die Bilder, die Empfindungen vereinigten sich zu einem massiven Angriff auf ihre Sinnesorgane. L. Durnau, die Pastorentochter. Das waren Thomas Lulls Worte. Sie muss sich an Thomas Lulls Regeln halten.

Sie hat sich im Ganga Devi Booti Salon von einem blinden Friseur die Haare schneiden lassen, und erst nachdem sie den kurzen Bubikopf betastete, wurde ihr klar, dass ihre Frisur jetzt dem Bild des Tabernakels entsprach. Das Siegel der Prophezeiung. Sie kaufte mitten im Monsun eine Flasche Mineralwasser und die leichte, nützliche Feuchtkleidung und ließ mehrere Dutzend Fotos von Thomas Lull aus dem Datenblock — den sie für sich nur noch ihre Lade nennt — in einem Copyshop ausdrucken, der sich hinter einen mit roten und orangefarbenen Brahmanenschnüren behangenen Pipalbaum zwängte. Dann begann sie mit ihren Nachforschungen.

Der Rikschafahrer sah aus wie zwölf. Lisa glaubte nicht, dass ein so dürrer Junge in der Lage war, einen Passagier zu befördern, aber er blieb ihr drei Blocks lang auf den Fersen und rief immer wieder »Hallo, hallo Lady«, während sie sich zwischen den Regenschirmen hindurchschlängelte. Sie drehte sich zu ihm um, wo sich die Straße vor dem Tor zum Fort verengte.

»Sprichst du Englisch?«

»Indisch, Amerikanisch oder Australisch, Lady?«

»Ich brauche Jungen, die Englisch sprechen.«

»Es gibt viele solche Jungen, Lady.«

»Hier sind hundert Rupien. Komm in einer halben Stunde mit so vielen Jungen zurück, wie du auftreiben kannst, zu diesem Chai-Stand, und dann bekommst du noch einmal zweihundert. Ich brauche Jungen, die Englisch können und die alles und jeden kennen.«

Er stopfte die Banknote in eine Tasche seiner Adidas-Hose und antwortete mit dem Kopfwackeln, von dem Lisa gelernt hatte, dass es Zustimmung bedeutete.

»He! Wie heißt du?«, rief sie, als er sich mit melodischem Klingeln in den Verkehrsfluss einfädelte. Er warf ihr ein Grinsen zurück, während er durch das wirbelnde Wasser strampelte.

»Kumarmangalam.«

Lisa Durnau machte es sich im Chai-Laden bequem und surfte die halbe Stunde durch Alterre. Bei zwanzigtausend Jahren pro Stunde war eine Woche buchstäblich ein Zeitalter. Eine Algenblüte im Biom 778 im Ostpazifik hatte ein selbsterhaltendes ozeanisches Mikroklima entstehen lassen, das einen Wind erzeugte, der umgekehrt, aber ähnlich wie El Niño auf der Realerde wehte. Die Bergnebelwälder starben allmählich ab. Das vielschichtige symbiotische Ökosystem aus blühenden Bäumen, bestäubenden Kolonievögeln und komplexen Sauroiden-Gemeinschaften in den Baumwipfeln löste sich auf. Innerhalb weniger Tage würden ein Dutzend Spezies und ein System von seltener, ausbalancierter Schönheit ausgestorben sein. Lisa war klar, dass sie sich der Buddha-Natur von Alterre bewusst sein sollte. Es waren lediglich virtuelle Spezies, die um Speicherplatz und Rechnerleistung und mathematische Parameter in elf Millionen Host-Computern konkurrierten, aber sie trauerte um jede einzelne, die unterging. Sie hatte die physische Möglichkeit der Realität dieser Cybererde irgendwo im postexpansiven Polyversum bewiesen. Es war realer Tod, reale Auslöschung, für immer real.

Bis jetzt. In einem keralesischen Chai-Laden kam es ihr wie ein Spiel, wie Spielzeug vor. Eine Freakshow im Taschenformat. Auf dem großen Flachbildschirm lief eine Soap. Alle Blicke waren darauf gerichtet. Sie hatte gelesen, dass nicht nur die Figuren von Kaihs generiert wurden, sondern auch die Schauspieler, die sie darstellten. Ein gigantisches Lügengebäude drohte das Drama zu erdrücken, wie die großen überzuckerten Türme, die die Tempelarchitektur der Drawiden dominierten. Es gibt nicht nur eine Cybererde, erkannte sie. Es gibt Tausende.

Kumarmangalam war pünktlich nach einer halben Stunde wieder da. Das war etwas, das ihr allmählich über diese fremdartige Welt klar wurde. Sie war nur oberflächlich chaotisch. Dinge wurden erledigt, ordentlich erledigt. Man konnte sich darauf verlassen, dass die Leute für einen die Taschen trugen, die Kleidung wuschen oder sich auf die Suche nach einem früheren Liebhaber machten. Die Straßenjungen zwängten sich in den Chai-Laden. Der Besitzer bedachte die Frau aus dem Westen mit strengen Blicken. Die anderen Gäste rückten mit ihren Stühlen zur Seite und beklagten sich, dass sie den Fernseher nicht mehr hören konnten. Kumarmangalam stand neben Lisa und brüllte verschiedenen Jungen etwas zu, und sie schienen ihm sogar zu gehorchen. Er hatte bereits die Rolle ihres Feldwebels übernommen. Wie Lisa vermutet hatte, beherrschten die meisten höchstens ein Guten-Tag-danke-auf-Wiedersehen-Englisch, aber sie fächerte trotzdem die Fotos von Thomas Lull auf dem Tisch aus.

»Eins für jeden«, wies sie Kumarmangalam an. Hände zerrten an den Ausdrucken, als der Rikscha-Junge sie austeilte. Einige schickte er ohne Foto weg, anderen hielt er eine lange Rede auf Malayalam. »Also, ich suche nach diesem Mann. Sein Name ist Thomas Lull. Er ist Amerikaner, aus Kansas. Könnt ihr euch das merken?«

Kansas, riefen die Straßenjungen im Chor zurück.

Sie hielt ein Porträtfoto hoch. Es war die PR-Aufnahme seines Verlags, die gefühlvolle, die ihn auf einen Arm gestützt weise lächelnd zeigte. Er hatte sie gehasst.

»So hat er vor ungefähr vier Jahren ausgesehen. Er könnte noch hier sein, aber vielleicht ist er auch weitergezogen. Ihr wisst, wohin die Touristen gehen, wo die Leute wohnen, die hier bleiben wollen. Ich möchte wissen, wo er ist oder wohin er gegangen ist. Habt ihr verstanden?«

Ein ozeanisches Raunen.

»Gut. Ich werde Kumarmangalam etwas Geld geben. Jetzt gibt es einhundert Rupien. Wenn ihr mit Informationen zurückkommt, kriegt ihr weitere vierhundert. Ich werde die Informationen überprüfen, bevor ich euch bezahle.«

Kumarmangalam übersetzte. Köpfe nickten. Sie nahm ihren Feldwebel zur Seite und gab ihm das Bündel Geldscheine.

»Und hier sind deine zweihundert. Du bekommst noch einmal tausend, wenn du diese Leute im Auge behältst.«

»Lady, ich werde sie auf Linie halten, wie man im amerikanischen Englisch sagt.«

Während ihres ersten Jahres in Keble hatte Lisa Durnau den Crashkurs in Anglophilie mitgemacht und den kompletten Sherlock Holmes gelesen. Sie hatte schon immer den Eindruck gehabt, dass die Baker-Street-Spezialeinheit viel zu wenig Publicity bekam. Jetzt hatte sie ihre eigene Straßenkindertruppe. Als Kumarmangalam sie durch den Regen zum Hotel zurückfuhr, stellte sie sich vor, wie sie durch die Stadt rannten, hier in einem Geschäft verschwanden, dort in einem Café, einem Restaurant, einem Tempel, einem Reisebüro, einer Wechselstube, einer Anwaltskanzlei, einem Immobilenbüro, einem Pfandhaus. Dieser Mann dieser Mann? Sie empfand eine große Zufriedenheit. Frauen waren einfach die besten Privatdetektive.

Im Hotel schwamm sie fünfzig Bahnen im Pool, während der Regen auf sie niederprasselte und die Angestellten sich unter einer Markise zusammenkauerten und sie mit ernster Miene beobachteten. Danach zog sie sich einen Sarong und ein Top an, das mit farbenfrohen blauen Göttern bedruckt war, und nahm ein Phatphat, um die Orte zu besuchen, wo auch Thomas Lull gewesen sein musste, die Touristenbars, in denen man Mädchen treffen konnte.

Der Regen verlieh den Bars und Tanzclubs in den Obergeschossen eine neue trostlose Lasur. Die Westler, die dumm genug waren, sich in der Stadt vom großen Wolkenbruch überraschen zu lassen, waren allesamt Spione aus Wirtschaft und Politik. Die Clubbesitzer und Barbetreiber und Restaurantinhaber, die den Kopf schüttelten und die Lippen schürzten, als sie ihnen die Fotos zeigte, waren selbst Möchtegern-Lulls, übergewichtig und mit schütterem Haar, in XL-Beach-Shirts, die wie Rahsegel von ihren Bäuchen hingen. Die Bar-Boys erhoben sich von ihren Stühlen und klinkten sich ins Gespräch ein, um vielleicht eine Hand unter ihren V-String schieben zu können. Sie klapperte zwanzig Bars ab und konnte dann nicht mehr. Während sie im Phatphat heimwärts summte, saß sie hypnotisiert vom Rhythmus des Regens im Scheinwerferlicht da und wunderte sich, warum sich Wolken niemals trocken regneten. Im Hotel versuchte sie CNN zu schauen, aber das alles kam ihr so fremdartig und bedeutungslos vor wie Alterre. Ein Bild jedoch blieb hängen: wie der warme Monsunregen auf einen Eisberg im Golf von Bengalen niederging.

Kumarmangalam kreiste bereits auf seiner Rikscha, als sie sich am nächsten Morgen hinauswagte. Er fuhr mit ihr einen großen Bogen durch den Verkehr und brachte sie zu einem Internet-Shop auf der anderen Straßenseite. In diesem Land ging niemand zu Fuß. Wie zu Hause.

»Dieser Junge hat Informationen«, sagte er. Lisa war sich nicht einmal sicher, ob er zu der Horde vom Vortag gehört hatte. Der Junge wedelte mit seinem Foto.

»Vierhundert Rupien vierhundert Rupien.«

»Zuerst überprüfen wir die Sache. Dann bekommst du das Geld.«

Kumarmangalam bedachte den Jungen wegen seiner Dreistigkeit mit einem strengen Blick. Sie fuhren mit seiner Rikscha. Der Junge würde niemals hinten bei einer Frau aus dem Westen sitzen, also hing er sich vor Kumarmangalam ans Fahrrad, die Füße auf den Achsenschrauben, mit dem Rücken gegen das Lenkrad gelehnt, und steuerte den Rikscha-Wallah durch den Verkehr. Es war ein langer, schwerer Weg. Mehrere Male stieg Kumarmangalam ab und schob. Der Junge half ihm. Lisa Durnau klammerte sich an ihre Handtasche, geplagt vom schlechten Gewissen ihrer presbyterianischen Arbeitsethik. Schließlich rollten sie hügelabwärts und durch einen mit Filmi-Flyern wildplakatierten Torbogen in einen Hof, der von Holzbalkonen und Säulengängen im keralesischen Stil gesäumt wurde. Eine Kuh kaute durchnässtes Stroh. Männer blickten von einer Batterie Nähmaschinen auf. Der Junge führte sie eine Treppe hinauf an einem Versicherungsbüro und einem ayurvedischen Großhändler vorbei zu einem offenen Büro unter dem abblätternden Schriftzug Gunaratna Lotusschiff-Vermietung. Ein ergrauter Malayali und ein jüngerer Westler in Surfer-T-Shirt blickten auf.

»Sie kommen wegen des Herrn auf dem Foto?«, fragte der Einheimische namens Gunaratna. Lisa Durnau nickte. Mr. Gunaratna verscheuchte die Straßenjungs mit einem Wink aus seinem Büro. Sie hockten sich auf die Galerie und lauschten angestrengt.

»Wegen dieses Mannes.« Sie schob die Lade wie ein Pokerspieler über den Tresen. Gunaratna zeigte seinem Mitarbeiter das Bild. Der nickte.

»Es ist schon eine Weile her.« Er war Ozeanier — vielleicht aus Oz, vielleicht aus Enzed. Lisa hatte sie noch nie auseinanderhalten können, aber schließlich gab es sogar Leute, die Kanadier nicht von US-Amerikanern unterscheiden konnten.

»Mehrere Jahre«, bestätigte Gunaratna. Dann wurde Lisa klar, dass sie auf das Bakschisch warteten. Sie blätterte dreitausend Rupien auf den Tisch.

»Für die Informationsbeschaffung«, sagte sie. Gunaratna steckte es zufrieden ein.

»Wir erinnern uns nur, weil er von uns ein Boot gekauft hat«, sagte Oz-Boy.

»Wir betreiben einen Charterservice für maßgeschneiderte Wasserfahrzeuge auf den Backwaters«, warf Gunaratna ein. »Es ist höchst ungewöhnlich, dass jemand mit Kaufabsichten zu uns kommt, aber ein solches Angebot ...«

»In bar.« Oz-Boy hockte nun auf der Kante des Tresens.

»In bar, was eine Ablehnung für uns unmöglich machte. Es war ein sehr gutes Schiff. Es hatte nicht nur ein, sondern zwei Zertifikate für Seetauglichkeit von der staatlichen Aufsichtsbehörde für Schifffahrt.«

»Haben Sie Unterlagen über die Transaktion?«

»Madam, wir sind ein anständiges Unternehmen von tadellosem Ruf, und alle unsere Rechnungen werden nach den Vorschriften der Finanzbehörde in dreifacher Ausführung archiviert.«

Oz-Boy schaltete einen Rollbildschirm ein und rief eine Datenbank auf.

»Da ist Ihr Bursche.«

22. Juli 2043. Kettuvalam/Hausboot, Länge 10 Meter, umgebaut mit festem Inventar und Zubehör, Alkoholtreibstoff-Motoren, Leistung 10 PS, zuletzt gewartet 18/08/42, Liegeplatz Alumkadavu. Verkauft an J. Noble Boyd, US-Bürger, Reisepass-Nummer ... Typisch Lull, auf seinem gefälschten Ausweis den Namen des Pastors aus Kansas zu benutzen, der es als seine religiöse Pflicht betrachtet hatte, gegen die evolutionistische Häresie von Alterre zu wettern. Lisa Durnau notierte sich die Daten des Hausboots auf ihrer Lade.

»Vielen Dank, Sie waren mir eine große Hilfe.«

Oz-Boy schob eintausend Rupien über den Tresen zurück. »Wenn Sie Dr. Lull finden, könnten Sie ihn überreden, eine weitere Serie wie Lebendes Universum zu machen? Die beste Wissenschaftssendung, die ich seit Jahren gesehen habe. Hat einen zum Nachdenken gebracht. Heute läuft außer Soaps gar nichts anderes mehr.«

Auf dem Weg nach draußen gab sie dem Jungen seine vierhundert Rupien. Während Kumarmangalam die Rikscha mit ihr auf dem Rücksitz den langen und langsamen Weg hügelaufwärts in die Stadt zurückschob, nutzte Lisa Durnau zum ersten Mal die volle Kapazität der Lade. Als Kumarmangalam sich wieder auf den Sattel setzte, hatte sie ihre Antwort. Das Büro von Ray Power Electric im Distrikt Palakkad hatte einen Stromanschluss für das Kettuvallam Salve Vagina registriert, unter der Nummer 187336BG in Thekkady, Liegeplatz St. Thomas Road. Angemeldet auf den Namen J. Noble Boyd, Reverend.

Salve Vagina.

Das Tragflügelboot fuhr während der Monsun-Monate nicht, so dass Lisa Durnau vier Stunden damit verbrachte, sich gegen das Fenster eines Expressbusses mit Klimaanlage zu lehnen und die Büffel in den Dorfteichen und die unter ihrer Bürde schwankenden Frauen auf den erhöhten Pfaden zwischen den überfluteten Feldern zu beobachten. Sie versuchte, das Dsch-dsch-dsch aus den Kopfhörern des Fileplayers ihres Sitznachbarn zu ignorieren, das genauso unüberhörbar und nervtötend war wie das pfeifende Nasenloch von Captain Pilot Beth. Inzwischen kam es ihr völlig unwirklich vor, dass sie im Weltraum gewesen war. Sie zog die Lade hervor und durchstöberte die Daten vom Tabernakel. He, hätte sie gern zu ihrem Mitreisenden mit den Hindi-Hits! gesagt, schau dir das an! Hast du irgendeine Ahnung, was das bedeuten könnte?

Das war die Frage, die sie Thomas Lull stellen sollte. Ihr wurde bewusst, dass sie Angst vor dieser Begegnung hatte. Als die subtile, aber klare Grenze zwischen vorübergehender und dauerhafter Abwesenheit überschritten war, hatte Lisa Durnau sich oft vorgestellt, was sie sagen würde, falls sie Thomas Lull elvismäßig in irgendeinem Einkaufszentrum oder Airport-Dutyfreeshop über den Weg lief. Es war leicht, sich lockere Sprüche auszudenken, wenn man genau wusste, dass man sie nie sagen würde. Doch jetzt brachte sie jeder Kilometer durch den Regen und die tropfenden Palmen dieser unmöglichen Begegnung näher, und sie wusste auf einmal nicht mehr, was sie sagen würde. Sie verdrängte diese Gedanken, während sie sich im klitschnassen Menschengewimmel an einer breiten Stelle der Straße, die den Busbahnhof von Thekkady darstellte, ein Phatphat suchte. Als sie dann über die lagunengroßen Pfützen auf der langen geraden Straße neben dem Backwater ruckelte, kehrte die Angst zurück und setzte sich als furchtsame Übelkeit in ihrem Magen fest. Sie raste an einem älteren Mann vorbei, der sich auf einem riesigen roten Dreirad durch den Regen kämpfte. Der Phatphat-Fahrer setzte sie am Liegeplatz ab. Lisa Durnau stand wie gelähmt im Regen. Dann schob sich das Dreirad quietschend an ihr vorbei, bog im rechten Winkel ab und holperte über den Landungssteg auf das Hinterdeck.

»Nun, Ms. Durnau, auch wenn ich mir nicht sicher bin, wie Professor Lull Ihnen helfen kann, so waren Sie doch sehr offen zu mir, und da ist es nur angemessen, dass ich mich dafür erkenntlich zeige«, sagt Dr. Ghotse. Er schlurft in den Regen hinaus, um in der Gepäcktasche seines roten Dreirads zu kramen, dann kehrt er mit einem Blatt Papier zurück, zusammengefaltet und durchnässt. »Bitte.«

Es ist ein E-Mail-Ausdruck. Amar Mahal Hotel, Manasarovar Ghat, Varanasi. Mein lieber Dr. Darius. Es ist also doch nicht die kleine Tauchschule, die ich mir erträumt hatte. Gegen Ihren Rat halte ich mich mit Kij im schwarzen Norden auf. Das Asthma-Mädchen, Sie erinnern sich? Ein großes Mysterium — ich konnte großen Mysterien noch nie widerstehen. Hier möchte man nicht tot überm Zaun hängen. Obendrein wurde ich in ein kleines Zugunglück verwickelt, von dem Sie vielleicht gelesen haben. Wäre es möglich, dass Sie mir den Aufenthalt in der Hölle etwas erleichtern, indem Sie meine restlichen Sachen an die obige Adresse schicken? Ich werde Sie per BACS-Überweisung entschädigen.

Es folgt eine Liste von Büchern und Aufnahmen, einschließlich des Schubert, der neben dem Kissen liegt.

»Kij?«

Dr. Ghotse korrigiert ihre Aussprache. »Eine junge Dame, die Professor Lull in einem Club kennenlernte. Er brachte ihr eine Technik bei, mit der sie ihr Asthma unter Kontrolle bekommt.«

»Die Buteyko-Methode?«

»In der Tat. Äußerst bedenklich. Ich würde sie niemals professionell empfehlen. Er war höchst beunruhigt, dass diese junge Dame wusste, wer er ist.«

»Moment. Ich war nicht die Erste?«

»Ich bezweifle, dass sie eine Agentin im Auftrag irgendeiner Regierung ist.«

Lisa Durnau erzittert, obwohl es in der Schiffskabine feuchtwarm ist. Sie ruft das erste Bild vom Tabernakel auf den Bildschirm der Lade und dreht es auf dem niedrigen Tisch zu Dr. Ghotse herum.

»Auch das ist keine gute Aufnahme, aber es handelt sich um besagte junge Dame.«

»Dr. Ghotse, auch dieses Foto stammt aus dem Artefakt, das in Darnley 285 gefunden wurde.«

Dr. Ghotse lehnt sich auf dem Diwan zurück. »Nun, Miss Durnau, wie Professor Lull in seinem Brief sagte, haben wir es hier in der Tat mit einem großen Mysterium zu tun.«

Draußen scheint der Regen endlich ein wenig nachzulassen.

31 Lull

Im Büro des Anwalts Nagpal sind sämtliche Fenster und Rollläden aufgerissen. Der Lärm von der Straße ist erdrückend.

»Entschuldigung, Entschuldigung«, sagt Nagpal, als er seine Besucher zu den rissigen Lederclubsesseln führt und sich selbst hinter den kunstvoll geschnitzten Schreibtisch setzt. »Doch ansonsten wäre die Hitze ... Unsere Klimaanlage ... unser Vermieter ist verpflichtet, sie instand zu halten. Ein geharnischter Brief wäre vielleicht ... Bitte, etwas Chai. Ich persönlich finde heißen Chai das erfrischendste Getränk, wenn die Hitze am schlimmsten ist.«

Thomas Lull ist anderer Ansicht, aber der Anwalt hat bereits mit seiner kleinen Glocke nach dem Büro-Wallah geklingelt.

»Ich habe gehört, dass es in Jharkhand bereits regnet.« Der Junge serviert den heißen, übersüßten Chai auf einem Messingtablett. Nagpal nimmt seine Tasse und kippt den Inhalt hinunter. Nagpal von Nagpal, Pahelwan und Dhavan ist ein Mann, der sich älter verhält, als er ist. Thomas Lull ist seit Langem ein Anhänger der Theorie, dass jeder Mensch ein inneres spirituelles Alter hat, das er sein ganzes Leben lang beibehält. Er selbst ist bei fünfundzwanzig stehen geblieben. Dieser Advokat ist Ende fünfzig, obwohl sein Gesicht und seine Hände kaum älter als dreißig wirken. »Nun gut, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Von diesem Büro wurde ein Foto an meine Kollegin hier geschickt«, sagt Thomas Lull.

Nagpal runzelt die Stirn und schürzt die Lippen zu einem kleinen Oh? Kij schiebt ihren Palmer über den Schreibtisch. Thomas Lull schätzt die Temperatur auf etwas über vierzig Grad, aber sie wirkt völlig kühl und entspannt. Ihre Tilaka scheint im halbdunklen Büro zu leuchten.

»Es wurde mir an meinem achtzehnten Geburtstag zugestellt«, erklärt Kij.

»Ah, jetzt verstehe ich!« Nagpal öffnet seinen Palmer in einem handgefertigten Lederetui und ruft Akten auf. Thomas Lull liest das Spiel der Finger des Anwalts, die Bewegung seiner Pupillen, wie sich seine Nasenlöcher weiten. Wovor hast du Angst, Anwalt Nagpal mit deinen Diplomen, Qualifikationen und Zertifikaten an der Wand? »Ja, Ajmer Rao. Sie sind den weiten Weg aus Bangalore hergekommen, höchst ungewöhnlich, und das in diesen unruhigen Zeiten. Das Foto zeigt, wie ich glaube, Ihre biologischen Eltern.«

»Blödsinn«, sagt Thomas Lull.

»Sir, das Foto zeigt ...«

»Jean-Yves und Anjali Trudeau. Sie sind recht bekannte KL-Forscher. Ich habe jahrelang mit ihnen zusammengearbeitet. Und während der theoretischen Empfängnis von Kij hatte ich täglichen Kontakt mit Anjali und Jean-Yves in Strasbourg. Wenn jemand schwanger gewesen wäre, hätte ich es bemerkt.«

»Mit allem Respekt, Mr. Lull, aber es gibt moderne Techniken, Leihmütter ...«

»Mr. Nagpal, Anjali Trudeau hat während ihres ganzen Lebens keine einzige lebensfähige Eizelle hervorgebracht.«

Der Anwalt kaut angewidert auf der Unterlippe.

»Also lauten unsere Fragen: Wer sind Kijs natürliche Eltern, und wer hat Ihnen die Anweisung erteilt, ihr dieses Foto zu schicken? Hier treibt jemand seltsame Spielchen mit ihr.«

»So sehr ich Miss Raos Verwirrung nachempfinden kann, ist es mir nicht gestattet, diese Information preiszugeben, Mr. Lull. Hier geht es um meine anwaltliche Schweigepflicht.«

»Ich könnte jederzeit mit den beiden reden. Dass ich hier bei Ihnen bin, ist eine reine Formalität.«

»Das halte ich für ausgeschlossen. Verzeihen Sie meine Unverblümtheit, aber Mr. und Mrs. Trudeau sind verstorben.«

Thomas Lull hat das Gefühl, dass sich der dunkle, schwitzende, vollgestopfte Raum von innen nach außen stülpt.

»Was?«

»Sir, zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass Mr. und Mrs. Trudeau gestern Vormittag bei einem Wohnungsbrand ums Leben kamen. Die Ursache ist ungeklärt, die Polizei ermittelt.«

»Wollen Sie damit sagen, dass sie ermordet wurden?«

»Ich kann nur sagen, Sir, dass der Vorfall die Aufmerksamkeit der staatlichen Ermittlungsbehörde erregt hat, die inoffiziell als das ›Ministerium‹ bezeichnet wird.«

»Die Krishna Cops?«

»So ist es. Die Wohnung befindet sich angeblich im Badrinath-Sundarban.«

»Sie haben mit den Datenrajas zusammengearbeitet?«

Nagpal breitet die Hände aus. »Dazu könnte ich bestenfalls Spekulationen anstellen.«

Thomas Lull spricht langsam und deutlich, damit der Anwalt genau versteht, was er meint. »Haben Sie vom Badrinath-Sundarban den Auftrag erhalten, dieses Foto an Kij zu senden?«

»Mr. Lull, ich habe eine Mutter, mehrere Brüder, eine verheiratete Schwester mit drei Kindern, die Götter mögen sie segnen. Ich bin öffentlich bestellter Notar und befugt, Eide zu beurkunden, und das unter keineswegs gesundheitsfördernden Umständen. Hier sind Mächte am Werk, die ich gar nicht verstehen muss, um zu wissen, dass sie sehr einflussreich sind. Ich folge lediglich meinen Anweisungen und stelle meine Gebühren in Rechnung. Bitte verstehen Sie, dass ich Ihnen bei der Beantwortung Ihrer Fragen nicht weiterhelfen kann. Aber ich kann nun der letzten Verfügung meiner Klienten nachkommen.«

Mr. Nagpal lässt seine Glocke klingeln und gibt seinem Babu auf Hindi eine Anweisung, worauf dieser kurze Zeit später mit einer buchgroßen Kiste zurückkehrt, die in Varanasi-Seide eingeschlagen ist. Mr. Nagpal entfernt das handgewebte quadratische Stück Seide. In der Kiste befinden sich zwei Gegenstände: ein Foto und ein Schmuckkästchen aus geschnitztem Holz. Er überreicht Kij das Foto. Es ist ein typisches Familienfoto, Mutter, Vater, Tochter. Sie stehen lächelnd an einem Strand, und hinter ihnen erheben sich die Türme einer hell erleuchteten Stadt. Aber nun sind der Mann und die Frau tot, und das Mädchen, das im Morgenlicht blinzelt, hat einen glattrasierten Schädel, der die Narben einer kürzlich erfolgten Operation aufweist.

Kij streicht sich mit der Hand über den Kopf.

»Es tut mir leid, dass ich Ihre Hoffnungen nicht erfüllen konnte«, sagt Mr. Nagpal. »Dies ist der zweite Teil dessen, was man Ihnen zukommen lassen wollte.« Er hält Kij das Schmuckkästchen hin, damit sie es öffnen kann. Thomas Lull riecht Sandelholz, als sie den kleinen Messingverschluss aufklappt.

»Mein Pferd!«

Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie den universellen Kreis des Feuerchakras. In der Mitte tanzt ein sich aufbäumendes weißes Pferd.

Hinter den Raffinerietürmen und Tankfarmen am Ostufer hat der Himmel die Farbe von Obsidian angenommen, wie die Mauer einer zehn Kilometer hohen Festung. Von seinem Sitzplatz auf den höchsten Stufen des Dasashvamedha Ghat kann Thomas Lull den Luftdruck in seinen Nebenhöhlen spüren. Die dunstige gelbe Sonne bedeckt Stadt und Fluss. Die breiten Sandbänke des Ostufers, wo die Nagas ihren Asketizismus zur Schau stellen, zeichnen sich weiß vor dem schwarzen Himmel ab. Eine Windböe jagt Tagetesblätter über das Dasashvamedha Ghat und lässt die Boote auf dem Strom schaukeln. Selbst in Kerala hat Thomas Lull nie eine solche Luftfeuchtigkeit erlebt. Er stellt sich vor, wie die Hitze, der Wasserdampf und die Chemikalien in seinen Atemwegen verwirbelt werden und sie verstopfen.

Die Nase zum Atmen, den Mund zum Sprechen.

Die ganze Stadt scheint die Luft anzuhalten, unter Atemnot zu leiden. Hitze und Krieg. Der Zorn von Sarkhand ist auf die Straßen übergekocht. Brände. Tote. Zuerst die Neuts, dann die Muslime, wie immer. Jetzt werden amerikanische Fastfood-Restaurants in der Neustadt von Mahindra-Pick-ups gerammt, und Karsevaks schütten Alkosprit über blasphemische Rinderburger. Zum ersten Mal verspürt Thomas Lull Befangenheit wegen seines Akzents und seiner Hautfarbe.

Der Armee-Offizier hatte seinen Reisepass mitgenommen und ihn allein im fensterlosen Lagerraum der Klinik des kleinen Dorfs zurückgelassen, wo die Bharati-Streitkräfte sich um die Flüchtlinge des Zugunglücks kümmerten. Thomas Lull saß auf dem Metallstuhl unter der einzelnen lampenlosen Glühbirne und hatte plötzlich Angst, fühlte sich plötzlich nackt, während im Nachbarraum Männer laut auf Hindi telefonierten und sich über seinen Pass unterhielten. Er hatte nie bewusst an die amerikanische Gnade geglaubt, dass dieses Büchlein ihn zu einem globalen Aristokraten machte, ihm einen Mantel der Unverletzbarkeit verlieh, aber er hatte es wie ein Kruzifix hochgehalten, als er zwischen unbegreifliche verfeindete Fronten geraten war. Er hatte nicht gedacht, dass der Pass ihn zu einem Mitspieler machen könnte, bestenfalls zum Laufburschen eines Feindes, schlimmstenfalls zu einem Spion. Thomas Lull wartete drei Stunden lang in diesem Zimmer, während Tastaturen klapperten und Babus der Armee Zeugenaussagen aufnahmen und draußen auf der Straße Frauen klagten. Dann kam ein pummeliger Subalterner mit blauer Tilaka auf der Zunge vom Anlecken seines Kugelschreibers und riss Blätter heraus, stempelte Zettel und reichte Thomas Lull ein Büschel aus Papieren in Pink, Blau und Gelb sowie seinen soliden schwarzen Reisepass.

»Das ist eine Reisegenehmigung, das ist Ihr vorläufiger Ausweis, das ist Ihr Ticket«, erklärte er, während er mit dem Kugelschreiber darauf zeigte. »Die Busse fahren vor dem Durga-Tempel ab, Ihr Bus hat die Nummer 19. Ich möchte Ihnen das Bedauern der Regierung von Bharat wegen Ihrer Unannehmlichkeiten aussprechen und wünschte Ihnen eine sichere Weiterreise.« Dann zeigte er mit dem Stift auf die Frauen, die hinter ihm Schlange standen.

»Meine Reisegefährtin, eine junge Frau, mit einer Vishnu-Tilaka?«

»Alle werden zu den Bussen vor dem Tempel geschickt. Gott sei mit Ihnen, Sir.«

Der Subalterne entließ Thomas Lull mit einem Wink seines Kugelschreibers. Die Dorfstraße wurde von Fahrzeugscheinwerfern erhellt. Thomas Lull ging zwischen aufgereihten Leichen hindurch, die nah wie Liebende nebeneinanderlagen. Als er die Hälfte der Strecke zu den weißen Bussen zurückgelegt hatte, waren der Armee die Leichensäcke ausgegangen, und die Toten blieben unverhüllt. Er bemühte sich, im Gestank nach verkohltem Fleisch möglichst flach zu atmen. Sanitäter der Armee waren bereits dabei, die Hornhäute einzusammeln.

»Kij!«, rief er. Kamerablitze zuckten, Kameralichter wippten, als Nachrichtenteams nach Schnappschüssen suchten. Hinter dem Wald aus Mikrofongalgen entfalteten sich Satellitenschüsseln wie erblühte Mohnblumen auf den Übertragungswagen. »Kij!«

»Lull! Lull!« Eine blasse Hand winkte aus einem Busfenster. Die Tilaka fing das Licht auf. Lull drängte sich durch die Menge und kehrte den Kameras mit amerikanischen Logos den Rücken zu. »Du warst so lange weg«, sagte sie, als er sich neben sie fallen ließ.

»Sie wollten ganz sichergehen, dass ich kein ausländischer Agent bin. Was ist mit dir? Ich dachte schon, mit diesem Zeichen ...«

»Ach, man hat mich sofort gehen lassen. Ich glaube, sie hatten Angst.«

Der Bus fuhr durch den Rest der Nacht und den ganzen folgenden Tag. Stunden verwischten zu Hitze und flachem Land und Dörfern mit gemalten Werbeplakaten für Wasser und Unterwäsche und dem ständigen Tröten von Fahrzeughupen. Doch Thomas Lull sah nur rotäugige Leichen auf der Dorfstraße und Kij auf einem Knie, wie sie die Hand ausstreckte und die feindlichen Roboter gehorchten.

»Ich muss dich fragen ...«

»Ich habe ihre Götter gesehen und gefragt. Das habe ich auch den Soldaten gesagt. Ich hatte den Eindruck, dass sie mir nicht glaubten, aber sie hatten offenbar Angst vor mir.«

»Roboter haben Götter?«

»Alles hat einen Gott, Mr. Lull. Man muss ihn nur finden.«

Am nächsten Toilettenhalt kaufte Thomas Lull eine Zeitung, um sich zu überzeugen, dass seine zersplitterten Eindrücke und Erlebnisse reale Erinnerungen waren. Bharati-Hindutva-Extremisten hatten in bedauernswertem patriotischem Übereifer einen Shatabdi der Awadhi Rail überfallen (so hieß es im Leitartikel), aber die tapferen Jawans der Division Allahabad hatten den brutalen und ungerechtfertigten Vergeltungsangriff der Awadhis zurückgeschlagen.

Ganz gleich, wie liberal ein Westler eingestellt sein mag, es gibt immer wieder Aspekte Indiens, die ihn schockieren. Für Thomas Lull ist es der dicht unter der Oberfläche begrabene Zorn und Hass, der einen lebenslangen Nachbar dazu bringen kann, in das Haus seines Nachbarn einzudringen, ihm mit einer Axt den Schädel zu spalten, seine Frau und seine Kinder in ihren Betten zu verbrennen und anschließend, wenn alles getan und vorbei ist, sein nachbarliches Leben fortzusetzen. Selbst auf den Ghats zwischen den Gläubigen und Dhobi-Wallahs und Straßenhändlern, die den letzten Zipfel des Touristengeschäfts zu erwischen versuchen, ist der Mob immer nur einen Ruf entfernt. In seiner Philosophie gibt es dafür keine Erklärung.

»Es gab einmal eine Zeit, als ich dachte, ich könnte vielleicht mit den Sundarbans zusammenarbeiten«, sagt Thomas Lull. »Das war, nachdem ich vor dem Hamilton-Ausschuss ausgesagt habe. Ihr Misstrauen war durchaus gerechtfertigt, denn die Idee hinter Alterre bestand zur Hälfte darin, ein alternatives Ökosystem zu schaffen, in dem sich Intelligenz unter ihren eigenen Bedingungen entwickeln kann. Ich glaube nicht, dass ich in den Staaten hätte bleiben können. Ich stelle mir gern vor, dass ich den Anschuldigungen ebenso unerschütterlich und mit edler Gesinnung entgegengetreten wäre, wie es Chomsky in den Bush-Kriegen getan hat, aber ich bin ein absolutes Weichei, wenn ich es mit bewaffneter Staatsgewalt zu tun bekomme. Die meiste Angst hatte ich davor, völlig ignoriert zu werden. Dass ich schreibe und rede und spreche und keine Menschenseele mir zuhört. Eingesperrt in einem weißen Zimmer. Ins Kopfkissen schreien. Das ist schlimmer als der Tod. Das hat Chomsky am Ende fertiggemacht. Von Dummheit erstickt.

Ich wusste, was hier geleistet worden war. Jeder, der irgendwas mit Kaihs macht, hat eine gute Vorstellung davon, was sie in ihren Cyberabads verstecken. Während des Monats vor Inkrafttreten des Hamilton-Gesetzes wurden Bevabytes an Informationen aus den USA verschoben. Washington hatte alle indischen Staaten unter großen Druck gesetzt, die Internationalen Vereinbarungen zur Registrierung und Lizensierung Künstlicher Intelligenzen zu ratifizieren. Und ich dachte, dann hätten sie wenigstens irgendjemanden, der für sie spricht, eine amerikanische Stimme, die den Standpunkt der Gegenseite vertritt.

Jean-Yves und Anjali wollten, dass ich rüberkomme — ihnen war klar, wie die Sache laufen würde. Selbst wenn Awadh sich den Wünschen Washingtons fügt, konnten sie sich von den Ranas in Sachen Lizensierung nicht mehr erhoffen als eine Kompromissvereinbarung, um die Soapis bei Laune zu halten. Dann verließ mich meine Frau und nahm die Hälfte meines weltlichen Besitzes mit, und ich dachte, ich wäre bei mir und intellektuell und cool, aber ich war nichts von alledem. Ich war das Gegenteil von dem, was ich von mir selber dachte. Ich glaube, eine Zeitlang war ich verrückt, und ich glaube, dass ich immer noch nicht ganz klar bin. Mann, ich kann es einfach nicht fassen, dass sie tot sind.«

»Was glaubst du, woran sie in den Sundarbans gearbeitet haben?«

Kij hockt im Schneidersitz auf einem Holzpodest, wo die Priester die abendliche Puja für Ganga Devi zelebrieren. Immer wieder blicken die Gläubigen lange auf ihre Tilaka, eine Vishnuitin im Herzen der Verehrung Shivas.

»Ich glaube, sie hatten dort eine Generation Drei.«

Kij spielt mit einer Kette aus Tagetesblütenblättern. »Haben wir die Singularität erreicht?«

Thomas Lull zuckt zusammen, als das abstruse Wort wie eine Perle von Kijs Lippen fällt.

»Okay, Mystery-Girl, was verstehst du unter Singularität?«

»Ist damit nicht der theoretische Punkt gemeint, wenn die Kaihs erstmals so intelligent wie Menschen werden, um sie dann sehr schnell hinter sich zu lassen?«

»Meine Antwort darauf ist ja und nein. Ja, es gibt da draußen zweifellos Kaihs der Generation Drei, die genauso lebendig und bewusst und empfindsam sind wie ich. Aber sie werden uns Menschen nicht allesamt zu Sklaven oder zu Haustieren machen oder uns mit Atombomben auslöschen, weil sie glauben, dass wir mit ihnen um dieselbe ökologische Nische konkurrieren. Das ist der Gedanke von Hamilton, aber mit Denken hat das nichts zu tun. Damit kommen wir zum ›Nein‹-Teil der Antwort: Sie sind intelligent, aber auf andere Weise als Menschen. Künstliche Intelligenz ist eine fremde Intelligenz. Sie ist eine Reaktion auf bestimmte Umwelteinflüsse und Reize, und bei dieser Umwelt handelt sich um die Cybererde, wo ganz andere Regeln herrschen als auf der Realerde. Die erste Regel der Cybererde lautet: Informationen lassen sich nicht bewegen, sie müssen kopiert werden. Auf der Realerde ist die physische Bewegung von Informationen ein Kinderspiel, wir tun es jedes Mal, wenn wir aufstehen und die Bewusstseinsware in unseren Köpfen herumtragen. Kaihs können das nicht, aber sie können etwas, das wir nicht können. Sie können sich selbst kopieren. Ich habe keine Ahnung, wie sich das auf das Ich-Bewusstsein auswirkt, und streng genommen kann ich es auch gar nicht wissen. Für uns ist es eine philosophische Unmöglichkeit, gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten zu sein, aber für Kaihs gilt das nicht. Für sie ist die philosophische Tragweite der Frage, was man mit seiner zusätzlichen Kopie macht, wenn man sich in eine neue Matrix begibt, von fundamentaler Bedeutung. Stirbt ein vollständiges Ich, oder ist es nur Teil einer größeren Gestalt? Und schon haben wir es mit einer völlig fremdartigen Denkweise zu tun. Wenn die Kaihs also wirklich die Singularität erreicht haben und ihr IQ in die Millionen hochschießt, was bedeutet das eigentlich in menschlichen Begriffen? Wie wollen wir so etwas messen? Womit wollen wir es vergleichen? Intelligenz ist keine absolute Eigenschaft, sie ist immer umweltspezifisch. Kaihs müssen keine Börsenkrisen auslösen oder Atomraketen starten oder unser planetares Netz zerschlagen, um die Menschen in die Schranken zu weisen. Es gibt keine Konkurrenz, weil diese Dinge in ihrem Universum keinerlei Bedeutung oder Relevanz haben. Wir sind Nachbarn in Paralleluniversen, und solange wir als Nachbarn leben, werden wir friedlich und zu gegenseitigem Nutzen koexistieren. Aber die Hamilton-Gesetze bedeuten, dass wir den Kampf gegen unsere Nachbarn aufgenommen haben und sie vernichten wollen. Irgendwann kommt der Punkt, wo sie sich wehren, wie alles, was mit dem Rücken zur Wand steht, und dann wird es zu einem furchtbaren, erbitterten Kampf kommen. Es gibt keinen schlimmeren Kampf als den zwischen Göttern, und wir sind Götter füreinander. Für die Kaihs sind wir die Götter. Unsere Worte können das Erscheinungsbild ihrer Welt verändern. Das ist die Realität ihres Universums. Nichtmaterielle Wesen, die jeden Teil der Wirklichkeit widerrufen können, sind genauso fundamental für ihre Welt wie die Unschärferelation und die M-Stern-Theorie für unsere. Früher lebten wir in einem Universum, das genauso dachte, in dem die Geister und Vorfahren und alles andere durch die göttliche Welt zusammengehalten wurde. Wir brauchen uns gegenseitig, um unsere jeweiligen Welten aufrechtzuerhalten.«

»Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit«, sagt Kij leise. »Vielleicht muss es nicht zum Krieg kommen.«

Thomas Lull spürt einen Windhauch auf dem Gesicht, das ferne Tigerschnurren eines Donners. Es kommt.

»Das wäre doch mal was!«, sagt er. »Wenn es ausnahmsweise ganz anders laufen würde. Aber nein, wir leben im Zeitalter Kalis.« Er steht auf, klopft sich herangewehten Sand und menschliche Asche von der Kleidung. »Also komm mit.« Er streckt Kij eine Hand hin. »Ich gehe zum Computerinstitut der University of Varanasi.«

Kij legt den Kopf schief. »Professor Naresh Chandra ist heute da, aber du solltest dich beeilen. Du musst mir verzeihen, dass ich dich nicht begleiten werde, Lull.«

»Wohin gehst du?« Gesprochen wie ein gekränkter Liebhaber.

»Das Bharati National Records Office an der Raja Bazaar Road hat bis fünf Uhr geöffnet. Da alle anderen Methoden versagt haben, denke ich, das ein Mitochondrien-DNS-Profil mir verraten wird, wer meine wirklichen Eltern sind.«

Der zunehmende Wind zerzaust ihr kurzes Haar und lässt Thomas Lulls Hosenbeine wie Fahnen flattern. Unten auf dem plötzlich aufgewühlten Wasser steuern die Ruderboote dem Ufer zu.

»Bist du dir sicher, dass du das tun willst?«

Kijs Finger spielen unablässig mit dem Elfenbeinpferd. »Ja. Ich habe darüber nachgedacht, und ich will es wissen.«

»Dann viel Glück.« Ohne nachzudenken, gegen seinen Willen, umarmt Thomas Lull sie. Sie ist schlank und knochig und so leicht, dass er fürchtet, sie könnte wie etwas Gläsernes zerbrechen.

Thomas Lull bildet sich ein, die männliche Gabe zu besitzen, sich an Orten, die er ein einziges Mal besucht hat, fortan unfehlbar zurechtzufinden. Was der Grund ist, warum er sich innerhalb von zwei Minuten verlaufen hat, nachdem er aus dem Phatphat gestiegen ist, das ihn zu dem grünen Rasen der University of Bharat Varanasi gebracht hat. Das Gelände war zu achtzig Prozent Baustelle gewesen, als Thomas Lull dort seine Vorlesung vor dem im Entstehen begriffenen Computerinstitut gehalten hat.

»Entschuldigen Sie«, fragt er einen Mali, der während der schlimmsten Dürre in der kurzen Geschichte Bharats unerklärlicherweise Gummistiefel trägt. Hinter den hellen, luftigen Institutsgebäuden türmen sich die Wolken tief und dunkel, von zuckenden Blitzen gesäumt. Der heiße Wind weht jetzt stärker — der elektrische Wind. Er könnte diese zerbrechliche Universität in den Himmel emporreißen. Lass es regnen lass es regnen lass es regnen, betet Thomas Lull, als er am Chowkidar vorbei die Treppe hinaufrennt und durch die Doppeltür in das Institutsbüro stürmt, wo acht junge Männer und eine Frau mittleren Alters sich mit Soapi-Magazinen Luft zufächern. Er sucht sich die Frau aus.

»Ich möchte Professor Chandra sprechen.«

»Professor Chandra ist derzeit unabkömmlich.«

»Oh, ich weiß es von höchster Stelle, dass er hier in seinem Büro sitzt. Wenn Sie ihn bitte anrufen würden.«

»Das ist höchst regelwidrig«, sagt die Sekretärin. »Termine müssen im Voraus über sein Büro vereinbart und vor zehn Uhr früh am Montag in seinen Terminkalender eingetragen werden.«

Thomas Lull parkt seinen Hintern auf dem Schreibtisch. Sein Dickkopf macht sich bemerkbar, aber er weiß, dass man indischer Bürokratie nur mit Geduld, Bestechung oder einem hohen Rang beikommen kann. Er beugt sich vor und drückt sämtliche Knöpfe der Sprechanlage.

»Wären Sie so gut, Professor Chandra mitzuteilen, dass Professor Thomas Lull ihn dringend sprechen möchte?«

Hinten im Korridor öffnet sich eine Tür.

32 Parvati

Es hatte am Bahnhof begonnen. Die Gepäckträger waren Diebe und Gundas, die Sicherheitsüberprüfungen eine empörende Unhöflichkeit für eine ehrenhafte Witwe aus einem loyalen Dorf in einem friedfertigen Distrikt. Der Taxifahrer hatte ihren Koffer ohne jede Vorsicht in den Kofferraum geworfen, und als er endlich losgefahren war, hatte er die längste Route genommen, war gerast und zwischen den Bussen hin und her geflitzt, um einer alten Dame vom Land Angst zu machen, und nachdem er sie fast zu Tode erschreckt hatte, verlangte er weitere zehn Rupien, wenn er ihren Koffer die vielen Stufen hinauftragen sollte, und sie musste ihm das Geld geben, weil sie es selbst nie geschafft hätte, nachdem sie sich wegen der schrecklichen Abgase in dieser Stadt fast die Lungen aus dem Leib gehustet hatte. Und nun hat der Chai, den die Köchin ihr gebracht hat, einen säuerlichen Geschmack, weil es in dieser Stadt nie gutes sauberes Wasser gibt.

Parvati Nandha scheucht die missmutige Köchin fort, begrüßt ihre Mutter mit der angemessenen Leidenschaft einer Tochter und beauftragt die Putzfrau, die Koffer zum Gästezimmer zu tragen und alles vorzubereiten.

»Ich werde dir eine richtige Tasse Chai machen, und danach gehen wir hinauf aufs Dach.«

Mrs. Sadurbhai wird weich wie eine Ghee-Skulptur bei einer Mela.

Die Putzfrau gibt Bescheid, dass das Zimmer fertig ist. Während ihre Mutter losgeht, um es zu inspizieren und ihre Sachen auszupacken, beschäftigt sich Parvati mit dem Kessel und wischt und putzt alle Reste ihrer Erniedrigung beim Cricketspiel fort.

»So etwas solltest du nicht tun müssen«, sagt Mrs. Sadurbhai, als sie sich neben Parvati und den Kessel schiebt. »Das Mindeste, was man von einer Köchin erwarten kann, ist die Befähigung, eine Tasse Chai zuzubereiten. Und diese Putzfrau betrügt dich. Ein ausgesprochen faules Mädchen. Unter dem Bett habe ich Wollmäuse gefunden. Du musst strenger mit dem Personal sein. Hier.« Sie stellt eine knallbunte Packung Tee auf die Arbeitsplatte. »Etwas mit richtigem Aroma.«

Sie setzen sich in den Halbschatten der Jasminlaube. Mrs. Sadurbhai mustert die handwerkliche Ausführung und dann die Dächer der Nachbarschaft.

»Hier ist es ziemlich einsehbar«, bemerkt sie und zieht sich den Dupatta über den Kopf. Die abendliche Rushhour hat begonnen, das Gespräch konkurriert mit Autohupen. Auf einem Balkon auf der anderen Straßenseite plärrt ein Radio Chart-Hits. »Es wird netter sein, wenn alles ein wenig gewachsen ist. Dann hast du hier mehr Privatsphäre. Natürlich kann man hier nicht die Art von Privatsphäre erwarten, die man im Quartier mit ausgewachsenen Bäumen hätte, aber hier wird es abends recht angenehm sein, falls du dann noch hier bist.«

»Mutter«, sagt Parvati. »Warum bist du hier?«

»Darf eine Mutter nicht mehr ihre eigene Tochter besuchen? Oder ist so etwas in der Hauptstadt aus der Mode gekommen?«

»Selbst auf dem Land ist es üblich, eine gewisse Vorwarnzeit einzuhalten.«

»Vorwarnzeit? Was bin ich, eine Sturzflut, eine Heuschreckenplage, ein Luftangriff? Nein, ich bin gekommen, weil ich mir Sorgen um dich mache, in dieser Stadt, in der aktuellen Situation. Ja, du schickst mir jeden Tag Nachrichten, aber ich weiß, was ich im Tivi sehe, all die Soldaten und Panzer und Flugzeuge, die brennenden Züge, schrecklich, schrecklich. Und jetzt sitze ich hier und blicke empor und sehe diese Dinger.«

Kaih-Flieger patrouillieren am Rand des Monsuns, weiße Flügel fangen das westwärts wandernde Licht auf, wenn sie abdrehen und Kilometer über Varanasi kreisen. Sie können jahrelang da oben bleiben, hat Krishan zu Parvati gesagt. Sie müssen nie den Boden berühren, wie christliche Engel.

»Mutter, sie sind da, um uns vor den Awadhis zu schützen.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ach was. Man will, dass du das glaubst, aber ich weiß doch, was ich sehe.«

»Mutter, was willst du?«

Mrs. Sadurbhai zieht den Pallav ihres Sari hoch. »Ich möchte, dass du mit mir nach Hause kommst.«

Parvati wirft die Hände hoch, aber Mrs. Sadurbhai unterbricht ihren Protest.

»Parvati, warum gehst du ein unnötiges Risiko ein? Du sagst, du bist hier sicher, aber was ist, wenn all diese wunderbaren Maschinen versagen und Bomben auf deinen schönen Garten fallen? Parvati, das Risiko mag nicht größer als ein Reiskorn sein, aber warum gehst du überhaupt ein Risiko ein? Kehre mit mir nach Kotkhai zurück, dort werden die Kampfmaschinen der Awadhis dich niemals finden. Es wird nur für kurze Zeit sein, bis diese Unannehmlichkeiten vorbei sind.«

Parvati Nandha stellt ihr Chai-Glas ab. Die tief stehende Sonne strahlt ihr ins Gesicht, so dass sie die Augen mit den Händen beschatten muss, um den Ausdruck ihrer Mutter zu deuten.

»Worum geht es wirklich?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Ich meine, du warst nie gänzlich davon überzeugt, dass mein Ehemann mich angemessen würdigt.«

»Oh, ganz und gar nicht, Parvati! Du hast innerhalb der Jati geheiratet, und das ist ein unbezahlbares Glück. Es macht mich nur traurig, wenn ehrgeizige Frauen — nein, an diesem Abend wollen wir ganz offen sprechen, also werde ich sie bei ihrem wahren Namen nennen: sie sind Kastenspringer, so, jetzt ist es raus — wenn Kastenspringer mit ihrem Reichtum, ihren Ehemännern und ihrem Status protzen, auf den sie weniger Anspruch haben als du. Das schmerzt mich, Parvati ...«

»Mein Ehemann ist ein sehr angesehener und bedeutender Beamter. Ich kenne niemanden, der auch nur mit dem leisesten Mangel an Respekt über ihn spricht. Es fehlt mir an nichts. Siehst du diesen schönen Garten? Dies sind die begehrtesten Apartments für Staatsdiener.«

»Ja, aber Staatsdiener, Parvati. Staatsdiener.«

»Ich hege nicht den Wunsch, ins Quartier zu ziehen. Ich bin hier zufrieden. Ich möchte auch nicht mit dir nach Kotkhai zurückkehren, um durch irgendeine List die Aufmerksamkeit meines Ehemannes auf meine Bedürfnisse zu lenken, weil du glaubst, er würde mir zu wenig Beachtung schenken.«

»Parvati, ich habe niemals ...«

»Oh, verzeihen Sie.«

Die Frauen verstummen, als die dritte Stimme hörbar wird. Krishan steht in seinen besten Cricket-Sachen am oberen Ende der Treppe. »Ich muss, äh, die Tröpfchenbewässerung überprüfen.«

»Mutter, das ist Krishan, mein Garten-Designer. All dies ist das Werk seiner Hände.«

Krishan namastiert.

»Eine bemerkenswerte Verwandlung«, sagt Mrs. Sadurbhai widerstrebend.

»Oft wachsen die schönsten Gärten auf Böden, die am wenigsten versprechen«, sagt Krishan und geht, um sinnlos mit Rohren, Hähnen und Reglern zu hantieren.

»Ich mag ihn nicht«, flüstert Mrs. Sadurbhai ihrer Tochter zu. Parvati fängt Krishans Blick auf, als er kleine Terrakotta-Öllampen an den Rändern der Beete entzündet, während das Tageslicht am Himmel schwindet. Die winzigen Flammen flackern und tanzen im Wind, der stärker zwischen den Dächern hindurchweht. Donner grollt im dunklen Osten. »Er hat etwas sehr Vertrauliches. Und seine Blicke. Es ist nie gut, wenn sie sich so etwas erlauben.«

Er ist gekommen, um mich zu sehen, denkt Parvati. Er ist mir gefolgt, um hier mit mir zusammen zu sein, um mich vor den Zungen der kastenspringenden Frauen zu schützen, um für mich stark zu sein, wenn ich Hilfe benötige.

Der Garten hat sich in ein Sternenmeer aus Lampen verwandelt. Krishan verbeugt sich vor den Damen des Hauses.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und hoffe, Sie am Morgen wohlauf wiederzusehen.«

»Du hättest ihm sagen sollen, dass er diese Aprikosensteine aufsammelt«, wirft Mrs. Sadurbhai hinterher, als Krishan über die Treppe hinuntersteigt. »Damit lockst du nur die Affen an.«

33 Vishram

Marianna Fusco hat in der Tat die allerprächtigsten Brustwarzen, denkt Vishram, als sie sich aus dem Pool stemmt und über die Fliesen zur Sonnenliege tröpfelt. Er spürt sie durch das feuchte Lycra, sie sind rund und liegen gut in der Hand, die Poren haben sich zu kleinen Nebennippeln aufgerichtet, mit reizender Textur. Das kalte Wasser hat sie wie Champagnerkorken hervorgetrieben.

»Oh Gott, tut das gut«, erklärt Marianna Fusco, schüttelt das nasse Haar aus und knotet sich ein Seidentuch um die Hüfte. Sie lässt sich wuchtig auf die Liege neben Vishram fallen, lehnt sich zurück, setzt die Sonnenbrille auf. Vishram winkt dem Kellner, dass er Kaffee nachschenken soll.

Er hatte gar nicht beabsichtigt, ins selbe Hotel zu ziehen wie seine Rechtsberaterin. Der Krieg hat die Zimmer verteuert, auf jedem Hotelparkplatz in Varanasi drängen sich die Übertragungswagen, jede Bar ist voller Auslandskorrespondenten, die sich über die langweiligen Details zwischen den Konflikten auf dem Laufenden halten. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass es dasselbe Hotel war, an dem er sie nach der katastrophalen Autofahrt am ersten Abend abgesetzt hatte, bis er sah, wie sie in einer Aufzugskabine durch das gläserne Atrium herunterfuhr. Ihren Anzug hätte er überall wiedererkannt.

Die Suite ist untadelig komfortabel, aber Vishram kann dort nicht schlafen. Ihm fehlen die hypnagogen Rankenmuster an der bemalten Decke seines Schlafzimmers. Es fehlt ihm, mit einer Morgenlatte aufzuwachen und die erotischen Schnitzereien von Shanker Mahal zu erblicken. Ihm fehlt der Sex. Vishram beobachtet, wie sich Schweißperlen auf Mariannas Arm bilden, noch bevor sämtliche Wassertropfen getrocknet sind.

»Vish.« So hat sie ihn noch nie zuvor genannt. »Vielleicht bleibe ich nicht mehr allzu lange.«

Vishram stellt vorsichtig seine Kaffeetasse ab, um seine Bestürzung nicht durch lautes Klappern zu verraten.

»Wegen des Krieges?«

»Ich hatte einige Anrufe aus der Hauptgeschäftsstelle. Das Außenministerium rät allen Besitzern eines britischen Passes, die nicht dringend benötigt werden, zur Abreise, und auch meine Familie macht sich Sorgen, vor allem seit den Unruhen ...« Ihre Familie, diese zerstrittene Konstellation aus Partnerschaften und Neuheiraten zwischen fünf verschiedenen Ethnien, die sich über die Rotziegelterrassen im Süden von London verteilen. Die Vorderseite ihres Badeanzugs ist in der Sonne getrocknet, aber unten auf der Liege ist der Stoff noch feucht und klebt am Körper. Vishram hat schon immer eine Vorliebe für Einteiler gehabt. Verstecken, um zu necken. Die nasse Passform betont die Wölbung der Muskeln am Ansatz von Marianna Fuscos Hintern. Vishram spürt, wie sich sein Schwanz in seiner Badehose aus Varanasi-Seide regt. Er würde sie gern hier nehmen und anschließend in den Pool steigen, die Beine im schwappenden Wasser übereinandergeschlagen, während das Dröhnen der morgendlichen Rushhour von der Straße über die Mauer springt.

»Ich muss es dir sagen, Vish. Mir kommt es gar nicht so gelegen. Ich habe Projekte, an denen ich weiterarbeiten möchte.«

»Das ist auch nicht meine Vorstellung von einem tollen Auftritt«, sagt Vishram. »Ich war dabei, als Stand-up-Comedian Karriere zu machen. Ich war witzig. Ich habe die Leute zum Lachen gebracht. So etwas streift man nicht einfach so ab. Aber, Vishram, was für Dummheiten hast du dir plötzlich in den Kopf gesetzt? Du hörst jetzt sofort damit auf und kommst nach Hause, weil du wichtige Dinge zu erledigen hast. Und weißt du, was das Schlimmste daran ist, was mir wirklich den Atem raubt? Ich finde es großartig! Ich fühle mich scheißwohl damit. Ich liebe diese Firma und die Leute, die für sie arbeiten, und was sie zu erreichen versuchen und was sie in diesem Forschungszentrum erreicht haben. Das ist es, was mich wirklich ärgert, dass dieser Mistkerl keine Rücksicht auf meine Gefühle genommen und trotzdem die ganze Zeit recht gehabt hat. Ich werde darum kämpfen, dieses Unternehmen zu retten, und zwar mit dir oder ohne dich, und wenn es ohne dich sein soll, wenn du mich verlässt, möchte ich noch ein paar Dinge klarstellen. Die erste Sache ist, dass ich völlig hingerissen von dem Anblick bin, wie sich deine Brustwarzen unter dem Badeanzug abzeichnen, und die zweite, dass es bei einer Besprechung oder einem Termin oder am Schreibtisch oder am Telefon keinen Moment gibt, in dem ich nicht daran denke, wie ich mit dir im spitzen Ende einer BharatAir 375 Sex hatte.«

Marianna Fuscos Hände liegen flach auf den Armlehnen. Sie blickt geradeaus. Ihre Augen sind unter der italienischen Sonnenbrille unsichtbar.

»Mr. Ray.«

Ach du Scheiße.

»Dann komm.«

Marianna Fusco ist professionell und erregt genug, um nicht mit offenem Mund über die Größe von Vishrams Penthouse zu staunen, als sie vor Lust zitternd durch die Tür taumeln. Er erinnert sich im letzten Augenblick daran, sich auf die richtige Art auszuziehen, auf die Art des Gentlemans, von unten nach oben. Dann reißt sie sich den Seidensarong herunter und kommt quer durch das Zimmer auf ihn zu, wobei sie den durchscheinenden Stoff zu einem Strick dreht und eine Kette aus großen Knoten hineinmacht, wie ein Thuggee, der sich auf den Kampf vorbereitet. Der Stretch-Badeanzug hält einiges aus, aber genauso will sie es haben, und Vishram ist gern bereit, ihrem Wunsch zu entsprechen. Er liebt es, wie sich der Stoff in seiner Faust anfühlt, als der Anzug zerreißt, als er sie entblößt. Er versucht sich in ihre Vagina zu drängen, aber sie dreht sich weg. Nein, nein, ich werde das Ding nicht da reinlassen. Sie lässt sich von ihm drei Finger in beide Öffnungen stecken und wälzt sich unter Blasphemien auf der Matte am Fußende des Bettes. Dann hilft sie ihm, den Seidenschal Knoten für Knoten in sie hineinzustopfen, und hockt sich auf ihn, die großen Brustwarzen als Silhouetten vor dem gelben Sturmlicht. Sie bearbeitet ihn mit der Hand, bis er kommt, und danach dreht sie sich auf den Rücken und lässt sich von ihm die Klitoris mit dem Ballen des großen Zehs reiben, und als sie flucht und mit den Fäusten auf den Teppich schlägt, rollt sie sich in die Pflug-Yogaposition, und er wickelt sich das freie Ende des Schals um die Hand und zieht ihn langsam heraus. Jeder Knoten wird von einer Gotteslästerung und einer heftigen Ganzkörpererschütterung begleitet.

Als sie wieder zum Sprechen imstande sind, ist es zwanzig nach elf auf der Retro-Wanduhr aus den Nullerjahren, und sie liegen nebeneinander auf der Matte, trinken Minibar-Malt aus der Flasche und lassen sich vom Flackern und Grollen des herannahenden Gewitters mitreißen.

»Ich werde dieses Seidentuch nie, nie wieder auf normale Weise betrachten können«, sagt Vishram. »Wo hast du das gelernt?«

»Wer sagt, dass ich für so etwas Unterricht brauche?« Marianna Fusco dreht sich auf die Seite. »Ihr Inder habt immer dieses Guru-Ding.«

Das Zimmer wird in grelles blaues Blitzlicht getaucht. Vishram denkt an das Foto auf der Startseite seiner Morgenzeitung, die Gesichter weiß im Kamerablitz, der Mann mit offenem Mund, das fremdartige, geschlechtslose wunderschöne Neut mit den Geldscheinen in der Hand. Was tun sie da?, denkt er. Was glauben sie, das sie tun können? Und ganz gleich, was sie tun, lohnt es sich, dafür die Karriere und die Familie eines Mannes zu zerstören? Er hat sich Sex immer als eine vorgegebene Sache vorgestellt und auch so praktiziert, als eine bestimmte Abfolge von Aktionen und Reaktionen, die unabhängig von der sexuellen Orientierung sind. Doch hier auf dem Boden mit Marianna Fusco zwischen den Fetzen ihres Badeanzugs und der seidenen Knotenschlange, die er ihr liebevoll aus dem Rektum gezogen hat, wird ihm klar, dass Sex eine Nation mit zahlreichen Erogenien und Möglichkeiten ist, genauso vielfältig wie die Sprachen und Kulturen Indiens.

»Marianna«, sagt er, an die Decke starrend. »Geh nicht.«

»Vish.« Wieder der Kosename. »Jetzt gibt es wirklich etwas, das ich dir sagen muss.« Sie setzt sich auf. »Vish, ich habe dir erzählt, dass ich von deinem Vater engagiert wurde, den Machtwechsel zu überwachen.«

»Engagiert, ach so. Und was ist in diesem Zusammenhang das, was wir gerade getan haben?«

»Weißt du, alle echten Komiker, die ich bisher kennengelernt habe, haben nie versucht, im wahren Leben witzig zu sein. Vish, ich wurde von einer anderen Firma engagiert. Ich arbeite im Auftrag von Odeco.«

Vishram hat das Gefühl, er würde im Boden versinken. Seine Muskeln erschlaffen, seine Hände öffnen sich, er fällt in die bewusstlose Toten-Asana.

»Ach, auf einmal ergibt alles Sinn, nicht wahr? Zuerst den geilen Stecher etwas weich machen, bevor man ihm das Messer in die Brust ...«

»He!« Marianna Fusco setzt sich auf, beugt sich über ihn. Ihr Haar fällt wie ein Vorhang um ihr Gesicht, das nur noch eine dunkle Silhouette vor den Fenstern ist. »Das ist nicht richtig und nicht fair. Ich bin keine ... Firmenhure. Wir haben das nicht gemacht, weil es zu irgendeiner List oder Verschwörung gehört. Verdammt noch mal, Vishram Ray! Ich habe es dir gesagt, weil ich dir vertraue, weil ich dich mag, weil ich gern Sex mit dir habe. Du hattest deine Hand in meinem Arsch. Wie viel Vertrauen brauchst du noch?«

Vishram zählt die Sekunden zwischen den Blitzen und dem Donnergrollen. Eins Odeco, zwei Odeco, drei Odeco, vier Odeco ... Der Regen ist fast über ihnen.

»Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was zum Teufel hier gespielt wird«, sagt er zu der langweiligen Decke im internationalen Stil. »Wer hinter was steckt, wer was finanziert, wer einen Anteil woran hat und wer wofür und warum arbeitet.«

»Glaubst du, ich wüsste es besser?«, erwidert Marianna Fusco, dreht sich auf die Seite und drückt ihren langen, festen Körper gegen Vishrams. Er spürt den sanften Kuss ihres Schamhaars an seinem Oberschenkel. Er fragt sich, welche yonischen Geheimnisse sie ihm vorenthält. »Ich bin nur die Juniorpartnerin einer Londoner Firmenanwaltskanzlei. Wir kümmern uns um Fusionen, Akquisitionen und feindliche Übernahmen. Wir sind nicht besonders gut in Nacht-und-Nebel-Aktionen, Gaunereien und Verschwörungstheorien.«

»Kannst du mir also sagen, was Odeco ist?«

»Odeco ist eine internationale Gruppe von Risikokapitalisten, die in verschiedenen Steueroasen ansässig sind. Sie spezialisieren sich auf visionäre Technologie und das, was manche für graue Wirtschaft halten könnten, also Industriezweige, die streng genommen nicht illegal sind, aber einen zwielichtigen Ruf haben, wie zum Beispiel Darwinware. Sie haben in die Siliziumdschungel der Cyberabads aller Entwicklungsländer investiert, einschließlich eines Sundarban hier in Varanasi.«

»Und sie haben das Geld für den Teilchenbeschleuniger im Forschungszentrum zugeschossen. Ich habe Chakraborty getroffen, das heißt, eigentlich hat er mich getroffen.«

»Ich weiß. Mr. Chakraborty ist mein Kontaktmann hier in Varanasi. Ob du es glaubst oder nicht, aber Odeco möchte, dass das Nullpunktprojekt ein Erfolg wird.«

»Er hat mir gesagt, dass es ihn freuen würde, wenn ich eine vollmaßstäbliche Demonstration durchführe. Die einzigen Leute, denen ich davon erzählt habe, waren unsere Freunde von EnGen.«

»EnGen ist nicht Odeco.«

»Woher wusste Chakraborty dann von den Verhandlungen?«

Marianna Fusco kaut auf der Oberlippe. »Da musst du Chakraborty fragen. Ich bin nicht befugt, es dir zu sagen. Aber glaub mir, alles, was EnGen dir angeboten hat, um das Experiment abzubrechen, wird Odeco überbieten, um es fortzusetzen.«

»Gut«, sagt Vishram Ray und setzt sich auf. »Weil ich nämlich gesonnen bin, ihr Geld anzunehmen. Kannst du ein Treffen mit deinem Kontaktmann arrangieren? Vorausgesetzt, er weiß es nicht längst, durch Telepathie oder etwas in der Art. Und können wir das noch einmal machen, aber möglichst bald?«

Marianna Fusco wirft ihr immer noch feuchtes und mit Chlor parfümiertes Haar zurück. »Kann ich mir einen Bademantel von dir borgen? Ich glaube, so, wie ich bin, sollte ich nicht in den Lift steigen.«

Vierzig Minuten später ist Vishram Ray geduscht, rasiert und angekleidet und summt vor sich hin, während er durch das Glasdach ins Atrium des Hotels hinunterfährt. Die Limousine wartet zwischen den Übertragungswagen mit den Satellitenschüsseln. Der Seidenschal liegt nass im Jacuzzi, immer noch verknotet, damit sich das neugierige Hotelpersonal umso mehr darüber empören kann.

Tagetes auf schwarzem Wasser. In dem offenen Boot empfindet Vishram die Wolkenwand wie den Hammer Gottes, der über ihm erhoben ist. Der Wind vom Fuß des Monsuns wühlt den Fluss auf. Büffel drängen sich am Ufer, die Nüstern über das Wasser gestreckt, weil sie die Wetterveränderung spüren. An den Ghats bemühen sich die badenden Frauen, ihre Saris anständig zusammenzuhalten. Das ist einer der beharrlichen Widersprüche dieses Landes, dass die Kultur, die das Kamasutra verfasste und illustrierte, von derart unterkühlter Prüderie geprägt ist. Die Menschen im frostigen, kalten christlichen Glasgow entwickeln eine viel heißere Leidenschaft. Er vermutet, dass das, was er soeben mit Marianna Fusco getan hat, ihm im hinterwäldlerischen Bihar zwanzig Jahre Kittchen einbringen würde.

Der Bootskapitän ist ein fünfzehnjähriger Junge mit erstarrtem breitem Grinsen, der sich mit den Wellen und Strömungen abmüht. Vishram fühlt sich nackt und ungeschützt vor den Blitzen. Die Fabriken auf der anderen Flussseite haben bereits die Lichter eingeschaltet.

»Ich sage es nur ungern, aber EnGen hatte mir einen Senkrechtstarter zur Verfügung gestellt. Um damit zu einem Tigerschutzgebiet zu fliegen. Mit bewaffneten Wachmännern und einem wirklich guten Essen. Und das Bordpersonal sah wesentlich besser aus als er hier.«

»Hm?«, macht Chakraborty. Er steht mitten im Boot und beobachtet gedankenverloren das vorbeiziehende Flussuferpanorama. Vishram wünschte, er würde das nicht tun. Er muss an eine alte Nummer aus Guys and Dolls denken, das die Theatergruppe an seinem College aufgeführt hatte. Setz dich, du bringst das Boot zum Schwanken. Und der Teufel wird dich unter Wasser ziehen ... Vishram hat es heute mit christlicher Sünde und Verdammnis, denkt er.

»Ich sagte, wir haben heute recht kabbelige See.«

Der Ruderjunge grinst. Er hat ein sauberes blaues Hemd und sehr weiße Zähne.

»Ach ja, der Fluss ist etwas turbulent, Mr. Ray.« Chakraborty legt einen Finger an die Lippen, dann zeigt er damit auf die leuchtenden Ghats. »Finden Sie es nicht tröstlich zu wissen, wo Sie enden werden, auf diesen Stufen, an diesem Ufer, vor den Augen all dieser Menschen?«

»Kann nicht behaupten, dass ich schon oft drüber nachgedacht habe.« Vishram greift nach den Bordwänden, als das Boot schaukelt.

»Wirklich? Aber das sollten Sie tun, Mr. Ray. Ich denke jeden Tag ein wenig über den Tod nach. Es hilft sehr, sich zu konzentrieren. Es ist äußerst beruhigend, dass wir das Spezielle verlassen und uns wieder mit dem Universellen vereinen werden. Ich glaube, das ist Gangas Moskha. Wir kehren wie ein Regentropfen in den Fluss der Geschichte zurück, und unser Leben wird erzählt und in den Strom der Zeit gewoben. Sie haben doch im Westen gelebt, nicht wahr? Stimmt es, dass die Menschen dort im Geheimen ihre Toten verbrennen, verborgen vor allen anderen, als wäre es etwas, dessen sie sich schämen?«

Vishram erinnert sich an die Beerdigung in einem schmutzigen Sandsteinviertel von Glasgow. Er hatte die Frau nicht besonders gut gekannt — sie war die Mitbewohnerin eines Mädchens gewesen, mit dem er Sex hatte, weil sie sich einen Namen als vielversprechende Regisseurin der Theatergruppe gemacht hatte. Aber er erinnert sich gut an den Schock, als er erfuhr, dass sie beim Bergsteigen in Glencoe zu Tode gekommen war. Und er erinnert sich an die gruselige Atmosphäre im Krematorium, die gedämpfte Trauer, die Grabrede eines Fremden, der die Namen ihrer Freunde durcheinanderbrachte, den Bach vom Band, während der versiegelte Sarg auf dem Podest ruckelte und dann langsam in Richtung Feuerofen versank.

»Es stimmt«, sagt er zu Chakraboty. »Sie wollen es nicht sehen, weil es ihnen Angst macht. Für sie ist es das Ende von allem.«

Auf den aschebestreuten Stufen dreht sich das Rad aus Tod und Moksha weiter. Direkt am Ufer ist ein Scheiterhaufen in sich zusammengefallen, der Kopf und die Schulter des Toten hängen heraus und wirken seltsam unberührt von den Flammen. Das ist ein brennender Mensch, denkt Vishram. Der Wind wirbelt Rauch und Asche über das Verbrennungsghat. Vishram Ray beobachtet, wie der Tote auf seinem Scheiterhaufen zusammensackt und in Funken und Kohle kollabiert, und er denkt, dass Chakraboty recht hat. Es ist wesentlich besser, hier zu enden, wo der Tod mitten im Leben ist, um das Spezielle zu verlassen und wieder mit dem Universellen vereint zu werden.

»Mr. Chakraboty, ich hätte gern eine sehr große Summe Geld von Ihnen«, sagt Vishram Ray.

»Wie viel brauchen Sie?«

»Genug, um Ramesh seinen Anteil an der Firma abzukaufen.«

»Dazu wäre eine Summe im Bereich von dreihundert Milliarden Rupien nötig. Ich kann Sie Ihnen in US-Dollar geben, wenn Sie sie brauchen.«

»Ich muss nur wissen, dass für mich so viel Geld verfügbar wäre.«

Mr. Chakraboty zögert keine Sekunde lang. »Es ist verfügbar.«

»Noch etwas anderes. Marianna erzählt mir, dass es etwas gibt, das ich Sie fragen soll, weil nur Sie darauf antworten können.«

»Wie lautet diese Frage, Mr. Ray?«

»Was ist Odeco, Mr. Chakraboty?«

Der Junge hört auf zu rudern und lässt das Boot von der Strömung an den Verbrennungsplätzen vorbei zum schiefen Tempel am Scindia Ghat treiben, der sich über den rissigen Schlamm beugt.

»Odeco ist eine der Mantelgesellschaften für die Künstliche Intelligenz der Generation Drei, die inoffiziell als Brahma bezeichnet wird.«

»Ich werde Ihnen diese Frage noch einmal stellen«, sagt Vishram.

»Und Sie werden dieselbe Antwort erhalten.«

»Was soll das?« Der Bengali hätte genauso gut von Jesus oder James Bond oder Lal Darfan sprechen können.

Chakraboty dreht sich zu Vishram um. »Welchen Teil meiner Antwort wollen Sie nicht glauben?«

»Kaihs der Generation Drei — das ist doch Science Fiction!«

»Ich versichere Ihnen, dass mein Arbeitgeber sehr real ist. Odeco ist tatsächlich eine Risikokapitalgesellschaft, nur dass der Risikokapitalist zufällig eine Künstliche Intelligenz ist.«

»Die Hamilton-Gesetze, die Krishna Cops ...«

»Es gibt Regionen, in denen eine Kaih überleben kann. Vor allem im Bereich der internationalen Finanzmärkte, die freizügige Regulierungen verlangen, um ihre sogenannten marktwirtschaftlichen Freiheiten ausnutzen zu können. Diese Kaihs sind ganz anders als unsere Art von Intelligenz. Sie sind verteilt, befinden sich gleichzeitig an vielen verschiedenen Orten.«

»Wollen Sie mir damit sagen, dass dieser ... Brahma ... der zum Leben erwachte Aktienmarkt ist?«

»Die internationalen Finanzmärkte haben seit dem letzten Jahrhundert Kaihs geringerer Stufe für Käufe und Verkäufe benutzt. Diese Kaihs entwickelten sich dann genauso rasant wie die Komplexität der finanziellen Transaktionen.«

»Aber wer würde so etwas konstruieren wollen?«

»Brahma ist nicht konstruiert, nicht mehr als Sie, Mr. Ray. Er hat sich evolutionär entwickelt.«

Vishram schüttelt den Kopf. Die Hitze unmittelbar vor dem Monsun ist schrecklich, verrückt, entzieht einem jede Vernunft und Kraft.

»Brahma?«, sagt er matt.

»Ein Name. Ein Titel. Er hat nichts zu bedeuten. Identität ist auf der Cybererde viel weiter und lockerer gefasst als bei uns. Brahma ist eine geographisch verteilte Entität, über viele Knoten und Unterkomponenten, Kaihs niedrigerer Stufe, denen vielleicht gar nicht bewusst ist, dass sie Teil einer höheren Wesenheit sind.«

»Und diese ... Generation Drei ... ist gewillt, mir einhundert Millionen US-Dollar zu geben.«

»Oder mehr. Machen Sie sich klar, Mr. Ray, dass Geldverdienen für eine Entität wie Brahma die leichteste Übung ist. Nicht schwieriger als für Sie das Atmen.«

»Warum, Mr. Chakraborty?«

Jetzt setzt sich der Anwalt. Der Junge greift nach den Rudern, um das kleine Gefährt daran zu hindern, seine Passagiere in das Gangeswasser zu kippen, das jene, die es empfängt, vom Karma reinwäscht.

»Mein Arbeitgeber wünscht sich, dass das Nullpunktprojekt realisiert wird und Früchte trägt.«

»Noch einmal: Warum?«

Mr. Chakraborty zuckt in seinem gut geschnittenen schwarzen Anzug langsam und ausdrucksvoll die Schultern. »Diese Entität besitzt die Macht, komplette Ökonomien zu vernichten. Diese Art von Intelligenz kann ich nicht nachvollziehen, Mr. Ray. Sie versteht die Welt der Menschen nur teilweise. In den Finanzmärkten, die ihre ökologische Nische darstellen, übertrifft Brahma den menschlichen Intellekt im gleichen Verhältnis wie ein Mensch eine Schlange. Aber wenn Sie direkt mit ihm sprechen würden, hätten Sie den Eindruck, es mit einem naiven, neurotischen, vielleicht sogar etwas autistischen Verstand zu tun zu haben.«

»Ich muss das fragen ... Weiß mein Vater davon?«

Chakraboty wackelt mit dem Kopf. Zustimmung.

»Das Geld kann innerhalb einer Stunde auf Ihr Konto überwiesen werden.«

»Und ich muss entscheiden, wem ich vertrauen kann — einer Bande amerikanischer Heuschrecken, die meine Firma zerstückeln wollen, oder einer Kaih, die zufällig nach einem Gott benannt ist und jedes Bankkonto auf diesem Planeten auslöschen könnte.«

»Prägnant zusammengefasst, Sir.«

»Eigentlich bleibt mir gar keine Wahl, nicht wahr?«

Vishram gibt dem Jungen ein Zeichen. Er zieht das linke Ruder durch und wendet das kleine Fahrzeug auf dem schwarzen Wasser, um zum großen Dasashvamedha Ghat zurückzukehren. Vishram glaubt, einen Regentropfen auf den Lippen zu spüren.

34 Najia, Thal

Ein Flüstern: »Er kann hier nicht bleiben.«

Die Luft ist stickig und erdrückend, aber die Gestalt auf der Matratze schläft den Schlaf des Brahma.

»Ys, nicht er. Ys ist ein ys«, flüstert Najia Askarzadah zurück. Sie steht mit Bernard in der Tür zum abgedunkelten Zimmer, wie Eltern, die nach ihrem kranken Kind sehen. Das Licht lässt von Minute zu Minute nach, und die Luftfeuchtigkeit nimmt zu. Die Gazeschleier hängen gerade und schwer herab, fest im Griff der Schwerkraft.

»Das ist mir egal. Ys kann hier nicht bleiben.«

»Man hat versucht, ys zu töten, Bernard«, zischt Najia. Es war ihr kühn und genial vorgekommen, als sie mit dem Moped über den Polorasen an den schreienden Malis vorbei und über die Veranda gefahren war, zwischen den Tischen und Studienurlaubern hindurch bis zu Bernards Zimmer. Zu irgendeinem Versteck. Etwas in der Nähe, zu dem man keine Verbindung herstellen kann. Bernard hatte kein Wort gesagt, als sie durch seine Tür hereingewankt kamen. Das Neut war halb bewusstlos gewesen und faselte in sys seltsamen, schweren Akzent etwas von Adrenalin. Ys war weggetreten, als sie ys ins Bett gebracht hatten. Bernard hatte ys die Stiefel ausgezogen und war dann verängstigt zurückgewichen. Schließlich standen sie im Türrahmen und diskutierten flüsternd.

»Und jetzt machst du auch mich zur Zielscheibe«, erwidert Bernard. »Du denkst überhaupt nicht nach. Du kommst brüllend hereingestürmt und erwartest, dass alle dich bejubeln, weil du die Heldin bist.«

»Bernard, mir war schon immer klar, dass der einzige Arsch, der dich letztlich interessiert, dein eigener ist, aber damit unterbietest du alles bisher Dagewesene.« Doch der Stachel trifft und bleibt stecken. Sie liebt Action. Sie liebt die gefährliche Verlockung, die dem Ganzen eine dramatische Note verleiht, wie in einem Agententhriller. Eine Illusion. Das Leben ist kein Drama. Die Höhepunkte und Wendungen der Handlung sind zufällig oder beabsichtigt. Der Held könnte stürzen. Im letzten Akt können alle Guten plötzlich sterben. Niemand von uns würde ein Kinodrama überleben. »Ich wusste nicht, wohin ich mich sonst wenden sollte«, gesteht sie matt. Kurz danach geht er. Die schließende Tür drückt einen Schwall heißer Luft, schal von Schweiß und Räucherstäbchen, durch die Zimmer. Die hängenden Netze und Vorhänge blähen sich um die Gestalt, die in embryonaler Haltung zusammengerollt daliegt. Najia kaut auf schuppender Haut an ihrem Daumen und fragt sich, ob sie überhaupt in der Lage ist, irgendetwas richtig zu machen.

Erneut spürt sie das Knacken der Rippen des Thuggee, als sie ihn rammte, den Rückstoß, der durch den Rahmen des Mopeds und ihre Hüften geht, während der Karsevak über den Bahnsteig zurückgeschleudert wird. In dem stickigen, düsteren Raum fängt sie an zu zittern. Sie kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie sucht einen Stuhl und setzt sich, schlingt die Arme um sich, gegen die Kälte, die von innen kommt. Es ist der reine Wahnsinn, und du bist mitten hineinmarschiert. Ein Neut und eine junge schwedische Reporterin. Du könntest zwischen den zehn Millionen Menschen in Varanasi verschwinden, und niemand würde es bemerken.

Sie dreht sich mit dem Stuhl herum, damit sie gleichzeitig die Tür und das Schlafzimmerfenster im Blick hat. Sie kippt die Holzlamellen der Lüftung des Fensters, um nach draußen sehen zu können, aber so, dass es einem bösen Menschen schwerfallen wird, hereinzuschauen. Sie setzt sich und beobachtet, wie die Lichtstreifen über den Boden wandern.

Najia schreckt plötzlich aus dem Schlaf hoch. Geräusche. Bewegung. Sie erstarrt, dann stürmt sie in die Küche zu den französischen Küchenmessern. Sie reißt die Tür auf, eine Gestalt am Kühlschrank wirbelt herum, schnappt sich ein Messer. Er. Ys.

»Tut mir leid, tut mir leid«, sagt ys mit sys seltsamer Kinderstimme. »Gibt es hier etwas zu essen? Ich habe großen Hunger.«

Es gibt nur halbe Sachen, Naschzeug und eine Flasche Champagner in Bernards Kühlschrank. Natürlich. Das Neut schnuppert daran, sucht die Regale ab.

»Entschuldigung«, sagt ys. »Ich habe Hunger. Die Hormone ... ich habe mich zu sehr aufgeputscht.«

»Kann ich Ihnen einen Tee machen?«, fragt Najia. Die Heldin und Retterin braucht eine Rolle, die sie übernehmen kann.

»Chai, ja, Chai, wunderbar.«

Sie setzen sich mit den kleinen Gläsern auf die Matratze. Ys mag ihn nach europäischer Art, schwarz und ohne Zucker. Najia erschrickt über jeden Schatten auf den Rollläden.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken ...«

»Ich habe gar keinen Dank verdient. Ich habe Sie schließlich erst in die Sache reingeritten.«

»Das sagten Sie schon am Bahnhof, ja. Aber wenn nicht Sie, dann hätte es jemand anders getan. Vielleicht ohne schlechtes Gewissen. War es schlechtes Gewissen?«

Najia Askarzadah war einem Neut noch nie so nahe. Sie weiß über sie Bescheid, was sie sind, welche Entwicklung sie hinter sich haben und was sie mit sich selbst machen können. Sie hat sogar eine gewisse Vorstellung, was sie aneinander genießen, und sie steht ihnen mit angemessen kühler skandinavischer Toleranz gegenüber, aber dieses Thal riecht anders. Sie weiß, dass es an den Dingen liegt, die sie mit ihren Hormonen und ihrer Neurochemie machen können, aber sie befürchtet, Thal könnte es spüren und es für Neutrophobie halten.

»Ich habe mich erinnert«, sagt sie. »Ich habe die Fotos gesehen und mich erinnert, wo ich Sie schon einmal gesehen habe.«

Thal runzelt die Stirn. Im goldenen Dämmerlicht zwischen den Gazewedeln wirkt dieser Gesichtsausdruck zutiefst fremdartig.

»Bei Indiapendent«, hilft sie ys auf die Sprünge.

Thal hält den Kopf in den Händen, schließt die Augen. Najia findet sys lange Wimpern sehr schön.

»Das alles tut mir weh. Ich weiß nicht, was ich denken soll.«

»Ich hatte Lal Darfan interviewt. Satnam hat mich herumgeführt. Satnam hat mir die Fotos gegeben.«

»Der Trishul!«, ruft Thal. »Chuutya! Er hat uns beide hereingelegt. Ai!« Ys fängt an zu zittern, Tränen treten ys in die Augen, ys hebt die Hände wie lepröse Klauen. »Meine Mama Bharat! Sie dachten, sie hätten mich erwischt ... das falsche Apartment ...« Das Zittern steigert sich zu heftigen Schluchzern, zerrissen von Erschöpfung und Schock. Najia kriecht davon und macht frischen Chai, bis sie hört, dass das Klagen und Wimmern nachlässt. Für eine Afghanin hat sie eine typisch nordeuropäische Furcht vor großen Gefühlen.

»Noch Chai?«

Thal hat sich in das Bettlaken gehüllt. Ys nickt. Das Glas zittert in sys Hand.

»Woher wussten Sie, dass ich am Bahnhof sein würde?«

»Journalistengespür«, sagt Najia Askarzadah. Sie möchte sys Gesicht berühren, sys so glatte, zarte Kopfhaut. »Ich hätte dasselbe getan.«

»Ihr Journalistengespür ist etwas sehr Mächtiges. Ich bin ein Idiot gewesen! Lächelnd und tanzend und lachend und fest davon überzeugt, dass alle mich lieben! Das neue Neut in der Stadt, das jeder unbedingt kennenlernen will, kommt zu unserer großen Party, kommt in unseren Club ...«

Najia streckt die Hand aus, um ys zu berühren, zu beruhigen und zu wärmen. Dann liegt Thal plötzlich an ihrer Brust, und ihr Kinn streift sys glatten Kopf. Es ist, als würde sie eine Katze in den Armen halten, die nur aus Knochen und Anspannung besteht. Ihre Finger gleiten über die Pusteln auf sys Arm. Sie sehen wie Reihen symmetrischer Insektenstiche aus. Najia zuckt zurück.

»Nein, bitte da«, sagt Thal. Vorsichtig drückt sie auf die Stelle, spürt, wie es unter der Haut fließt. »Und hier, bitte?« Sys Finger führen sie zu einer Stelle knapp unter sys Handgelenk. »Und hier.« Eine Handbreit unter dem Ellbogen. Das Neut erzittert in ihren Armen. Sys Atmung beruhigt sich. Sys Muskeln straffen sich. Ys erhebt sich zittrig auf die Beine, läuft nervös im Zimmer umher. Najia kann die nervöse Spannung riechen.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie leben«, sagt Najia, »wenn Sie sich Ihre Emotionen aussuchen können.«

»Wir suchen uns die Emotionen nicht aus, nur die Reaktionen. Es ist ... sehr intensiv. Wir werden kaum älter als sechzig.« Jetzt geht Thal beunruhigt auf und ab, wie ein Mungo im Käfig, lugt durch die Lüftungslamellen, lässt sie wieder zuklappen.

»Wie konnten Sie ...?«

»Eine solche Wahl treffen? Es ist lange genug, um die Schönheit auszukosten.«

Najia schüttelt den Kopf. Eine Unglaublichkeit nach der anderen.

Thal schlägt die Fäuste gegen die Wand. »Idiot! Ich sollte sterben ich sollte sterben ich bin zu dumm zum Leben.«

»Damit stehen Sie nicht allein da. Auch ich war dumm, als ich dachte, ich hätte einen guten Draht zu N. K. Jivanjee.«

»Sie sind Jivanjee begegnet?«

»Ich habe mit ihm gesprochen, über Video, als er das Treffen arrangierte, bei dem Satnam mir die Fotos gab.«

Ein Schatten fällt auf die Jalousie vor dem Fenster. Neut und Frau erstarren. Thal lässt sich langsam sinken, bis ys unter der Höhe des Fenstersimses ist. Ys winkt Najia, sich genauso an die Wand zu drücken. Najia horcht mit dem gesamten Körper und kriecht über die Matten und durch die Gazeflächen. Dann eine Frauenstimme, die deutsch spricht. Najias Bauch entspannt sich. Einen Moment lang glaubte sie, sich vor Angst erbrechen zu müssen.

»Wir müssen aus Bharat verschwinden. Man hat Sie mit mir gesehen«, flüstert Thal. »Damit stecken wir in denselben Schwierigkeiten. Wir müssen uns ein sicheres Transportmittel besorgen.«

»Sollten wir nicht lieber zur Polizei gehen?«

»Haben Sie denn gar keine Ahnung, wie dieses Land funktioniert? Die Polizei gehört Sajida Rana, und sie will mich als Verräter schnappen, und der Teil der Polizei, der ihr nicht gehört, hält zu Jivanjee. Wir brauchen etwas, das uns wertvoll genug macht, um uns Schutz zu bieten. Sie sagten, sie hätten über Video mit Jivanjee gesprochen. Ich vermute, Sie waren intelligent genug, das zu speichern. Zeigen Sie es mir. Vielleicht finden wir etwas.«

Sie setzen sich nebeneinander an die Wand. Najia hebt ihren Palmer. Ihre Hand zittert. Thal ergreift ihr Handgelenk und beruhigt sie.

»Das ist kein sehr gutes Modell«, sagt ys.

Der Ton ist schmerzhaft laut, als Najia das Video abspielt. Draußen im Club klackern Tennisbälle. Auf dem Bildschirm wirken die wogenden Kalamkari-Tücher an N. K. Jivanjees Pavillon wie eine göttliche Umkehrung dieses düsteren, heißen Schlafzimmers voll erstickender Furcht.

»Halt! Stop! Pause!«

Najias Daumen tastet auf den Kontrollen herum.

»Was ist das?«

»Das ist N. K. Jivanjee.«

»Ich weiß, Dummerchen. Wo ist das?«

»In seinem Büro, vielleicht in seiner Privatwohnung, vielleicht sogar in seiner Rath Yatra. Ich weiß es nicht.«

»Lügen Lügen Lügen«, zischt Thal. »Ich weiß es. Das ist weder die Privatwohnung noch die Rath Yatra oder das Büro von Mr. N. K. Jivanjee. Das ist der Hochzeitssaal von Aparna Chawla und Ajay Nadiadwala für die Heirat des Jahres in Stadt und Land. Ich habe diese Kalamkaris selber designt.«

»Eine Bühnenkulisse?«

»Meine Bühnenkulisse. Für eine Szene, die noch gar nicht gedreht wurde.«

Najia Askarzadah spürt, wie sie unwillkürlich die Augen aufreißt. Sie wünscht sich, sie hätte ein subdermales Menü, das sie aufrufen könnte, um ihre lähmende Fassungslosigkeit mit einem Schuss Neurotransmittern wegzuspülen.

»Ich weiß von niemandem, der N. K. Jivanjee jemals von Angesicht zu Angesicht begegnet wäre«, sagt sie.

»Das ist unser Reisepass«, sagt Thal. »Ich muss noch einmal zu Indiapendent. Wir müssen sofort los, jetzt.«

»Sie können nicht einfach so hingehen, man würde Sie auf einen Kilometer Entfernung erkennen. Wir brauchen eine Verkleidung für Sie ...«

Dann verstummen gleichzeitig das Klackern der Tennisbälle und die Rufe der Spieler. Thal und Najia rollen quer durch den Raum, als Schatten auf die Jalousien fallen. Stimmen. Nicht deutsch. Nicht weiblich. Geduckt schiebt Najia das Moped vom Flur in die Küche. Sie hockt sich auf einer Seite daneben, Thal auf der anderen. Sie wissen, worauf sie warten müssen, aber trotzdem ist das Warten fürchterlich. Klick klick. Dann explodiert das Schlafzimmer in automatischem Feuer. Im gleichen Moment lässt Najia den kleinen Alkoholmotor aufheulen und wirft sich auf den Sitz. Thal steigt hinter ihr auf. Der Kugelhagel nimmt kein Ende. Nicht zurückblicken. Man darf nie zurückblicken. Sie weicht Bernards Klapptisch aus, öffnet die Hintertür und rast auf die mit Buschwerk bewachsene Fläche hinter der Bar hinaus. Kellner blickten auf, als sie sich zwischen den Kisten mit Kingfisher und Schweppes-Mixgetränken hindurchschlängelt.

»Aus dem Weg, verdammt!«, schreit Najia Askarzadah. Sie zerstreuen sich wie Elstern. Aus den Augenwinkeln nimmt sie zwei dunkle Gestalten wahr, die um die Ecke des Flügels mit den Zimmern kommen — Gestalten, die etwas mit den Händen machen. »Oh Gott!«, betet sie und fährt mit dem Moped drei Betonstufen hinauf in die Clubküche. »Weg da weg da weg da!«, brüllt sie, während sie um die Kühlschränke aus rostfreiem Stahl in der Größe von Kampfpanzern kurvt, um die Säcke mit Reis und Dal und Kartoffeln und um die Köche mit Tabletts und Messern und heißem Fett. Sie kommt auf einem Fleck aus verschüttetem Ghee ins Schleudern, kracht durch die Schwingtür und fährt durch den Speisesaal, an der ordentlichen Reihe der gedeckten Tische entlang, hupt ein Paar mit Surfer-T-Shirts und Sonnenbrillen im Partnerlook an und schießt in den Korridor. Im Hauptsaal ist ein Yoga-Abendkurs im Gange. Najia und Thal rollen mitten hindurch, mit wütend quäkender Hupe, während um sie herum die Sarvangasana-Kerzen wie ein gefällter Wald umstürzen. Durch die Terrassentür — die ständig geöffnet ist, um die Frauen in Baumwoll-Lycra mit Frischluft zu versorgen —, über die ausgedörrten Blumenbeete und durch das Haupttor in die sichere Anonymität des frühabendlichen Stoßverkehrs. Najia lacht. Donner antwortet ihr gleich einem Echo.

35 Mr. Nandha

Mr. Nandhas Präsentation der Ermittlungen gegen Kalki hat die Form einer Kugel, die in der Hoek-Sicht der Abteilungsleiter schwebt, gleichzeitig klein genug, um unter die Kuppe eines menschlichen Schädels zu passen, und groß genug, um den Glasturm des Ministeriums zu umschließen wie eine Faust eine Orchideenblüte. Sie rotiert vor dem geistigen Auge von Commissioner Arora und Director General Sudarshan und bringt immer neue Informationslandschaften in ihr Blickfeld. Eine kontinentgroße Stadtansicht aus Seiten und Fenstern und Bildern und Rahmen öffnet sich zu einer zweidimensionalen Datenlandkarte. Saraswati lautet der Name der kommentierenden Kaih, die Göttin der Sprache und der Kommunikation. Über einem leuchtenden Diagramm des Informationssystems von Tikka-Pasta Inc. verfolgt Saraswati die unlizensierte Kaih zurück bis zum neuralen Sprudeln Kashis, arbeitet sich dann eine fraktale Ebene nach der anderen hinauf bis zu den verwischten Dendriten des Localnet von Janpur, Malaviri-Knoten, Subadresse Jashwant der Jain (all seine kleinen Cyberköter sind geisterhafte Skelette, an denen Aktoren und Chipsets hängen, während Jashwant selbst ein schlaffer blauer Sack aus nackter Haut ist). Das nächste Informationsfenster zeigt Aufnahmen der Tatortsicherung von der ausgebrannten Hülle des Badrinath-Sundarban. Die Hovercam schwebt durch schwarz verkohlte Zimmer, hängt einen Moment lang über den halb entfleischten Toten, den wie Kerzen geschmolzenen Prozessorgehäusen und Mr. Nandha, der mit seiner Stifttaschenlampe in den Waschbeckenunterschrank blickt. Zwei zusammengekauerte Kohleklumpen entfalten sich zu lebenden, lächelnden Passbildfotos von Westlern: Jean-Yves Trudeau, Annency, Frankreich, Europäische Union, * 15.04.2022, und Anjali Trudeau, geb. Patil, Bangalore, Karnataka, * 25.11.2026.

»Jean-Yves und Anjali Trudeau waren ehemalige Forscher an der Universität von Strasbourg in der Abteilung Künstliches Leben des Instituts für Computerwissenschaft. In den vergangenen vier Jahren waren sie wissenschaftliche Mitarbeiter auf dem Campus der University of Bharat in Varanasi in der Fakultät für Computerwissenschaft unter Professor Chandra, der auf die Anwendung von darwinistischen Paradigmen auf Proteinmatrix-Schaltungen spezialisiert ist«, erklärt Saraswati. Ihre Stimme ist Kalpana Dhupia aus Stadt und Land entlehnt.

Die Trudeaus reißen sich von ihrem Quadranten der Sphäre los und schweben im stationären Orbit. In einem Videofenster erscheinen die schlecht aufgelösten, körnigen Bilder vom Innern eines Apartments. Im Vordergrund ein nackter achtzehnjähriger Mann mit einer halben Erektion in der rechten Hand. Er lehnt sich zurück und zielt auf die Mitte des Bildes. Idiotisches Grinsen im Gesicht. In mittlerer Entfernung die Shanti Rana Apartments, mittlere Höhe, mit offenem Fenster. Balkon, etwas Wäsche. Auf der anderen Seite der Straßenschlucht Apartmentfenster und die rostigen Kästen der Klimaanlagen. Ein weißer Pfeil schießt durch die Außenszene. Dann füllt sich der Fensterrahmen mit einem donnernden Feuerball. Mr. Masturbator wirbelt herum, kreischt etwas, das die digitale Kompression des Kameramikros überfordert. Standbild eines mageren Hinterns vor explodierendem Gas und Flammen, die linke Hand greift nach einem Seidentuch.

»Das Krishna-System hat sämtlichen Netzverkehr in der Umgebung eine Stunde vor und nach dem Anschlag zurückverfolgt«, erklärt Saraswati in freundlichem Tonfall. »Diese Webcam-Aufnahmen, die wir einer glücklichen Fügung verdanken, stammen aus einer Wohnung, die dem Tatort genau gegenüberliegt.« Der Film wird zum weißen Blitz zurückgespult, dann wird ein Ausschnitt des Standbilds vergrößert, bis nur noch eine Ansammlung von Pixeln zu sehen ist. Doch die Bildbearbeitung verschärft und verwischt die Graustufenquadrate zu einer Flugmaschine, einem weißen Vogel mit nach oben gerichteten Flügeln, Stabilisierungsflosse und knollenartigem Mantelpropeller im Bauch. Eine Grafikroutine zeichnet einen Umriss, stellt das Bildelement frei, rendert es und morpht es zum idealisierten Kriegsporno-Pin-up einer Ayappa-Luftabwehrdrohne, Bharati-Lizenzversion, mit Infrarotlaser bewaffnet.

Datenblätter mit wallenden Manifesten werden eingeblendet, die die unerklärliche Lücke in den militärischen Aufzeichnungen demonstrieren, während die Luftabwehrdrohne 7132 den Badrinath-Sundarban angegriffen hat. Mr. Nandha beobachtet die beeindruckenden Darstellungen, aber in Gedanken ist er bei Professor Naresh Chandra, der aufrichtig bestürzt reagierte, als er erfuhr, dass seine Forschungskollegen gestorben waren. Die meisten seiner Mitarbeiter waren als externe Berater tätig, weil die Forschung nur so finanziert werden konnte — aber für ein Sundarban? Widerstandslos hatte er ihr Büro geöffnet. Mr. Nandha hatte bereits die Spurensicherung angefordert. Er hatte an den vielen Kaffeedosen geschnuppert — eine andere Mischung für jede Gelegenheit, wie es schien —, während die Krishna Cops sich die Unterlagen ansahen. Mr. Nandha wünschte sich sehr, er könnte Kaffee trinken, ohne dabei das Gefühl zu haben, dass sich sein Magen auflöst. Nach zehn Minuten hatten sie die Verbindung gefunden.

Graphiken können überwältigend und verführerisch sein, aber jedes gute Plädoyer erreicht einen Punkt, an dem Maschinen versagen und die Anklage auf menschliche Dramatik zurückgreifen muss. Mr. Nandha zieht ein seidenes Taschentuch aus seiner Nehru-Jacke und entfaltet es. Er hält das verkohlte Bildnis eines sich aufbäumenden weißen Pferdes hoch.

»Kalki«, sagt er. »Der zehnte Avatar Vishnus, mit dem das Zeitalter Kalis endet. Ein angemessener Name, wie wir sehen werden, wegen des unheiligen Bündnisses zwischen einem Privatunternehmen — Odeco —, der Universität und dem Badrinath-Sundarban. Sogar Ray Power erhält Forschungsmittel von Odeco. Aber was ist Odeco eigentlich?«

Hinter ihm entfaltet sich der virtuelle Globus zu einer Mercator-Projektion des Planeten Erde. Städte, Nationen, Inseln erheben sich von der Oberfläche, als wären sie von der Gravitation befreit. Blaue Linien schießen zwischen ihnen hin und her, reichen in hohem Bogen bis in die Stratosphäre. Es sind die Wege des Geldes, die verschachtelten Mantelgesellschaften, die Briefkastenfirmen, die Holdinggruppen und die Trusts. Das Lichtnetz hüllt die Landkarte ein, die Projektion krümmt sich wieder zu einer Sphäre, während ein Lichtstrahl von den Seychellen aufsteigt und in einer ballistischen Kurve auf Varanasi zustürzt, ein invertiertes Jyotirlinga, das schöpferische Licht Shivas, das aus der Erde von Kashi hervorbrach und nun nach einer Reise um die Krümmung des Universums herum dorthin zurückkehrt.

»Odeco ist ein Risikokapitalfonds, der in verschiedenen Datenoasen ansässig ist«, fährt Mr. Nandha fort. »Seine Methoden sind ... unorthodox. Er besitzt eine kleine Niederlassung in Kashi, aber vorzugsweise arbeitet er mit einem Netzwerk aus dezentralisierten Kaih-Handelssystemen. Bei der Exkommunikation von Tikka-Pasta ging es um ein solches System, das unwissentlich an Jashwant weiterverkauft wurde. Es wurde in Badrinath für ein illegales Wettsystem hybridisiert, aber hauptsächlich war es die ganze Zeit für Odeco tätig und führte im Hintergrund die Transaktionen durch.«

»Zu welchem Zweck?«, fragt Arora.

»Ich glaube, um die Erschaffung von Kalki zu finanzieren, einer Künstlichen Intelligenz der Generation Drei.«

Gemurmel in der Führungsriege des Ministeriums. Mr. Nandha hebt eine Hand, und die Informationssphäre fällt in sich zusammen. Die Männer des Ministeriums blinzeln in der hellen Sonne.

»Wie immer eine beeindruckende Präsentation, Mr. Nandha«, sagt Arora und nimmt seinen Hoek ab.

»Eine stimulierende, aber klare Präsentation ist die effektivste Art und Weise, Ermittlungsergebnisse darzustellen.« Mr. Nandha legt die Elfenbeinscheibe auf den Tisch.

»Der Badrinath-Sundarban wurde zerstört«, sagt Sudarshan.

»Ja. Wie ich glaube, durch die Kalki-Kaih, um ihre Spuren zu verwischen.«

»Sie haben angedeutet, dass Odeco auch Ray Power finanziert. Wie weit geht diese Sache? Schlagen Sie vor, dass wir gegen Ranjit Ray ermitteln? Der Mann ist inzwischen so etwas wie ein Mahatma.«

»Ich schlage vor, dass wir die Ermittlungen auf seinen jüngsten Sohn Vishram Ray konzentrieren, der die Forschungs- und Entwicklungsabteilung übernommen hat.«

»Bevor Sie gegen Ray vorgehen, sollten Sie verdammt gute Beweise in der Hand haben.«

»Sir, hier geht es um eine Kaih der Generation Drei. Wir sollten sämtliche Spuren weiterverfolgen. Odeco hat außerdem eine extraterritoriale medizinische Einrichtung in der Freihandelszone von Patna finanziert, und zwar über eine Vermögensverwaltungsgesellschaft im Mittelwesten der USA. Auch das ist ein Ermittlungsansatz. Gegenwärtig schließe ich nichts aus.«

»Odeco ist unser unmittelbares Ziel«, sagt Arora. Hinter ihm bricht sich die Sturmfront wie eine schwarze Welle an den Panoramafenstern.

»Ich glaube, diese Firma stellt jetzt die einzige Verbindung zur Gen-Drei dar. Ich benötige eine flugfähige taktische Unterstützungseinheit mit polizeilicher Verstärkung, dazu eine sofortige Unterbindung jeglichen Verkehrs von und zu Odeco. Außerdem ...«

»Mr. Nandha, dieses Land steht an der Schwelle eines Krieges.«

»Dessen bin ich mir bewusst, Sir.«

»Unsere militärischen Ressourcen sind voll und ganz damit beschäftigt, Gefahren von unserer Nation abzuwenden.«

»Sir, hier geht es um eine Kaih der Generation Drei. Diese Entität ist zehntausendmal intelligenter als jeder von uns. Das schätze ich als große Gefahr für unser Land ein.«

»Das muss ich dem Verteidigungsministerium irgendwie verkaufen«, sagt Arora. »Und dann wäre da noch das Problem mit den Karsevaks — die Unruhen können jederzeit wieder ausbrechen.« Er zieht eine Miene, als hätte er eine Schlange verschluckt. »Nandha, wann haben wir das letzte Mal eine komplette taktische Unterstützungseinheit angefordert?«

»Wie Ihnen bekannt sein dürfte, Sir ...«

»Meinem Kollegen Sudarshan ist es vielleicht nicht bekannt.«

»Bei der Wiederfestnahme und sicheren Verwahrung von J. P. Anreddy.«

»Setzen Sie meinen Kollegen Sudarshan ins Bild.«

»Mr. Anreddy war ein berüchtigter Datenraja, die Pik-Acht im FBI-Kartenspiel der meistgesuchten Verbrecher. Er ist zweimal aus rechtmäßigem Gewahrsam entkommen, indem er Mikroroboter benutzte, um sein Gefängnis zu infiltrieren. Ich habe eine vollständige militärische Unterstützungseinheit angefordert, um ihn wieder dingfest zu machen und ihn in einem speziell konstruierten Panoptikum mit maximaler Überwachung zu inhaftieren.«

»Damit dürfte es kein Problem gegeben haben«, murmelt Sudarshan.

»Mr. Nandha, vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, dass J. P. Anreddy Sie wegen Belästigung angezeigt hat.«

Mr. Nandha blinzelt. »Das war mir nicht bekannt, Sir.«

»Er behauptet, Sie hätten ihn verhört, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, sich mit einem Anwalt zu beraten. Außerdem sollen Sie mit psychischer Folter gearbeitet und ihm mit Verletzung seiner physischen Unversehrtheit gedroht haben.«

»Dazu möchte ich bemerken, Sir, dass Mr. Anreddys Anschuldigungen für mich gegenwärtig die kleinste Sorge darstellen. Was mich ...«

»Nandha, ich muss Sie das fragen. Ist bei Ihnen zu Hause alles in Ordnung?«

»Sir, wird meine Professionalität in Frage gestellt?«

Aber es fühlt sich an, als hätte ein Stahlmantelgeschoss die Hälfte seiner Wirbelsäule herausgerissen, und nur noch der Schock des Todes hält ihn aufrecht.

»Ihren Kollegen ist aufgefallen, dass Sie gänzlich von Ihrer Arbeit in Anspruch genommen werden — zu sehr in Anspruch genommen werden. Es soll das Wort verbissen gefallen sein.«

»Ist es nicht gut, wenn jemand seine Arbeit ernst nimmt?«

»Ja, aber nicht um den Preis anderer Lebensaspekte.«

»Sir, meine Frau ist der größte Schatz meines Lebens. Sie ist meine Taube, mein Bülbül, mein strahlendes Licht. Wenn ich nach Hause komme, erfreut sie mich mit ...«

»Danke, Nandha«, wirft Sudarshan eilig ein. »Wir alle sind in diesen Tagen außerordentlich beschäftigt.«

»Falls ich in Anspruch genommen oder gar abgelenkt wirke, liegt es nur an meiner Überzeugung, dass diese Generation Drei die größte Gefahr darstellt, mit der das Ministerium seit der Gründung konfrontiert war. Wenn ich eine Meinung äußern dürfte ...«

»Ihre Meinungen sind hier stets willkommen, Nandha«, sagt Arora.

»Diese Behörde wurde eingerichtet, weil unsere Regierung den Wunsch hegte, sich den internationalen Vereinbarungen über die Lizensierung Künstlicher Intelligenzen zu fügen. Wenn wir es unterlassen, gegen eine Kaih der Generation Drei vorzugehen, könnte das den Amerikanern einen Vorwand geben, ihre Awadhi-Verbündeten zur Invasion unseres Landes zu drängen, weil Bharat ein Zufluchtsort für Cyberterroristen ist.«

Arora mustert die Maserung der Tischplatte. Sudarshan hat sich zurückgelehnt und die Fingerspitzen zusammengelegt, während er über Mr. Nandhas Argumentation nachdenkt. Schließlich sagt er: »Entschuldigen Sie uns für einen Moment.« Sudarshan hebt eine Hand, und um Mr. Nandha scheint die Luft zu gefrieren. Der Inspektor hat ein Stummfeld aktiviert. Die beiden Männer drehen sich auf ihren Stühlen herum und kehren ihm die Lederrücken zu. Mr. Nandha legt die Hände zu einem unbewussten Namaste zusammen und blickt auf das Flackern der Blitze am Rand des Monsuns. Es geht los. Noch heute Abend wird es losgehen.

Mein strahlendes Licht. Meine Taube, mein Bülbül. Schatz meines Lebens. Sie erfreut mich, wenn ich nach Hause komme. Wenn ich nach Hause komme. Mr. Nandha schließt die Augen, als er plötzlich den harten Griff der Panik in sich spürt. Wenn er nach Hause kommt, weiß er nicht, was er vorfinden wird.

Die stumme Luft öffnet sich wieder und wird räumlich. Die Besprechung ist beendet.

»Ihr Argument hat etwas für sich, Mr. Nandha. Was genau würden Sie benötigen?«

»Ich habe die militärischen Anweisungen vorbereitet und könnte sie jederzeit übersenden.«

»Sie haben bereits alles ausgearbeitet«, sagt Sudarshan.

»Es gibt keinen anderen Weg, Sir.«

»Daran besteht kein Zweifel. Ich werde Ihren Einsatz gegen Odeco genehmigen.«

36 Parvati, Mr. Nandha

An diesem Morgen trägt Bharti beim Frühstücksbankett ihr Ernste-Nachrichten-Gesicht. Wir danken Raj für die Analyse, was der Khan-Skandal für Sajida Rana bedeuten könnte, und nun kommt eine Nachricht für uns hier bei Frühstück mit Bharti an die tapferen Jawans in Kunda Khadar: Haltet durch, Jungs, ihr leistet großartige Arbeit, wir alle stehen hinter euch. Aber nun zum neuesten Gupshup aus Stadt und Land. Alle reden nur noch von Aparnas und Ajays baldiger Hochzeit, das Event der Saison, und hier kommt ein echter Bharti-Knüller: ein exklusiver erster Blick auf Aparnas Kleid.

Gut gelaunt segelt Parvati Nandha in die Küche, wo ihre Mutter am Herd steht und in einem Topf mit Dal rührt.

»Mutter, was machst du da?«

»Ein ordentliches Frühstück für dich. Du kümmerst dich zu wenig um dich selbst.«

»Wo ist Ashu?«

»Ach, das faule Stück. Ich habe sie entlassen. Ich bin mir sicher, dass sie dich bestohlen hat.«

Die morgendliche Beschwingtheit nach den Exklusivberichten über Stadt und Land verflüchtigt sich.

»Du hast was getan?«

»Ich habe ihr gesagt, dass sie gehen soll. Und ihr wegen der fristlosen Kündigung einen Wochenlohn gegeben. Fünfzehnhundert Rupien. Ich habe es aus eigener Tasche bezahlt.«

»Mutter, so etwas kannst du nicht entscheiden.«

»Jemand musste es tun. Sie hat dich ausgeraubt, ganz zu schweigen von ihren mangelnden Kochkünsten.«

»Mr. Nandha benötigt eine spezielle Diät. Hast du eine Vorstellung, wie schwer es heutzutage ist, eine anständige Köchin zu bekommen? Apropos, hast du irgendwo meinen Ehemann gesehen?«

»Er hat früh das Haus verlassen. Er arbeitet an einem äußerst wichtigen und schwierigen Fall, sagte er. Er wollte sich kein Frühstück von mir machen lassen. Du musst ihn an die Hand nehmen und ihm sagen, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist. Das Gehirn kann nicht funktionieren, wenn der Magen nicht gut gefüllt ist. Es erstaunt mich immer wieder, wie dumm angeblich gebildete Menschen sein können. Wenn er etwas von meinem Dal und Roti gegessen hätte ...«

»Mein Ehemann hat Magenprobleme, er kann dieses Zeug nicht essen.«

»Unsinn. Das ist eine gute, nahrhafte Mahlzeit. Dieses fade Stadtessen ist überhaupt nicht gut für ihn. Davon geht er langsam ein. Schau ihn dir an — bleich und ständig müde, keine Energie für irgendetwas anderes, du weißt schon, was ich meine. Er braucht kräftiges, redliches Essen vom Land. Als er heute früh hereinkam, dachte ich, vor mir stünde eins von diesen Hijra/Neut-Wesen, die heute früh in den Nachrichten waren.«

»Mutter!« Parvati schlägt mit den Händen auf den Tisch. »Das ist mein Ehemann!«

»Aber er verhält sich nicht so«, erklärt Mrs. Sadurbhai. »Es tut mir leid, aber das musste einmal gesagt werden. Jetzt seid ihr schon ein Jahr lang Mann und Frau, aber höre ich hier singende Ayas und helles Lachen? Parvati, ich muss dich fragen: Ist mit ihm alles in Ordnung? Man kann es überprüfen lassen, es gibt Ärzte, die auf Männer spezialisiert sind. Ich habe die Anzeigen in den Sonntagszeitungen gesehen.«

Parvati steht auf und schüttelt fassungslos den Kopf. »Mutter ... Nein. Ich gehe hinauf in meinen Garten. Ich werde dort den Vormittag verbringen.«

»Ich habe selbst noch einige Nachrichten abzuschicken. Und ich muss noch verschiedene Dinge für das Abendessen besorgen. Wo bewahrst du das Einkaufsgeld für die Köchin auf? Parvati?« Doch ihre Tochter hat die Küche bereits verlassen. »Parvati? Du solltest wirklich etwas Dal und Roti essen.«

An diesem Morgen ist Krishan damit beschäftigt, die jungen Pflanzen mit Stöcken zu sichern und die Kletterpflanzen hochzubinden und die Setzlinge gegen den kommenden Sturm abzudecken. In einer einzigen Nacht ist die Wolkenwand näher herangerückt, und Parvati Nandha hat den Eindruck, dass sie jeden Moment auf sie herabstürzen kann, um sie und ihren Garten und den gesamten staatlichen Apartmentkomplex unter Schwärze zu begraben. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit sind schrecklich, aber sie kann nicht wieder nach unten gehen, noch nicht.

»Sie sind gestern zu mir gekommen«, sagt sie.

Krishan schließt das Bewässerungssystem. »Ja. Als ich sah, wie Sie aufstanden und hinausrannten, habe ich mich gefragt ...«

»Was haben Sie sich gefragt?«

»Ob es irgendetwas war, das ich gesagt oder getan hatte, oder ob es etwas mit dem Cricket zu tun hatte.«

»Das Cricketspiel hat mir sehr gefallen. Ich würde gern noch einmal hingehen ...«

»Das Team ist nach Hause gefahren. Die britische Regierung hat sie zurückgerufen. Es war hier nicht mehr sicher für sie, wegen des Krieges.«

»Wegen des Krieges, ja.«

»Warum sind Sie so plötzlich gegangen?«

Parvati breitet einen Dhuri auf dem Boden der duftenden Gartenlaube aus. Sie arrangiert die Kissen und Polster und setzt sich dazwischen.

»Kommen Sie her und legen Sie sich zu mir.«

»Mrs. Nandha.«

»Niemand sieht uns. Und selbst wenn, würde es niemanden interessieren. Kommen Sie und legen Sie sich zu mir.« Sie klopft auf den Boden.

Krishan zieht seine Arbeitsstiefel aus und lässt sich neben ihr nieder, auf der Seite, auf einen Ellbogen gestützt. Parvati legt sich auf den Rücken und verschränkt die Hände über den Brüsten. Der Himmel ist cremefarben und nah, eine Kuppel aus Hitze. Sie hat den Eindruck, sie müsste nur eine Hand ausstrecken und könnte darin eintauchen. Es würde sich milchig und zäh anfühlen.

»Was denken Sie über diesen Garten?«

»Denken? Es steht mir eigentlich nicht zu, etwas darüber zu denken. Ich lege ihn nur an, mehr nicht.«

»Dann sagen Sie mir als der Mann, der ihn anlegt, was Sie darüber denken.«

Er dreht sich auf den Rücken. Parvati spürt einen warmen Windhauch auf dem Gesicht.

»Von all meinen Projekten ist dies das ambitionierteste, und ich glaube, es ist dasjenige, auf das ich am stolzesten bin. Ich denke, wenn andere Leute den Garten sehen könnten, wäre das sehr nützlich für meine Karriere.«

»Meine Mutter findet, er ist mir nicht angemessen«, sagt Parvati. Heute klingt der Donner näher und vertraulicher. »Sie findet, ich sollte Bäume haben, wegen der Privatsphäre. Reihen aus Ashok-Bäumen wie in den Gärten draußen im Quartier. Aber ich würde sagen, dass wir hier durchaus Privatsphäre haben. Finden Sie nicht auch?«

»Das würde ich auch sagen.«

»Es ist schon seltsam. Unsere Privatsphäre ist immer begrenzt. Draußen im Quartier hat man einen eingezäunten Garten und Ashok-Bäume und einen Charbagh, aber jeder weiß zu jeder Tages- und Nachtstunde, womit man gerade beschäftigt ist.«

»Ist beim Cricket etwas passiert?«

»Ich war dumm, mehr nicht. Sehr dumm. Ich hatte mir eingebildet, Kaste wäre dasselbe wie Klasse.«

»Was ist passiert?«

»Ich habe allen gezeigt, dass ich keine Klasse habe. Oder nicht die richtige Klasse. Krishan, meine Mutter möchte, dass ich mit ihr nach Kotkhai gehe. Sie sagt, sie macht sich Sorgen wegen des Krieges. Sie befürchtet, dass Varanasi angegriffen wird. Varanasi hat in dreitausend Jahren nie einen Angriff erlebt. Sie will mich nur als Geisel halten, damit Mr. Nandha mir eine Million Dinge verspricht, das Haus im Quartier, einen Wagen mit Chauffeur, ein Brahmanenbaby.«

Sie spürt, wie sich neben ihr Muskeln anspannen.

»Werden Sie gehen?«

»Ich kann nicht nach Kotkhai gehen, und ich kann nicht ins Quartier gehen. Aber ich kann auch nicht hier auf dem Dach bleiben, Krishan.« Parvati setzt sich auf und horcht aufmerksam. »Wie spät ist es?«

»Halb zwölf.«

»Ich muss gehen. Mutter wird bald wieder zurück sein. Sie würde Stadt und Land nicht für eine Million Rupien verpassen wollen.« Parvati klopft sich den Gartenstaub von der Kleidung, zupft ihren Sari zurecht und wirft sich das lange glatte Haar über die Schulter. »Es tut mir leid, Krishan. Ich sollte Sie nicht mit meinen Problemen belasten. Sie müssen sich um einen Garten kümmern.«

Sie huscht barfuß durch den Dachgarten. Wenige Augenblicke später hört er die plärrende Titelmelodie von Stadt und Land durch das Treppenhaus heraufhallen. Krishan geht von Beet zu Beet, um seine wachsenden Schützlinge anzubinden.

Mr. Nandha schiebt den unangetasteten Teller von sich fort.

»Das ist braune Nahrung. Ich kann keine braune Nahrung essen.«

Mrs. Sadurbhai nimmt das Thali nicht weg, sondern bleibt resolut am Herd stehen. »Das ist gute redliche Landkost. Warum können Sie nicht essen, was ich gekocht habe? Was stimmt damit nicht?«

Mr. Nandha seufzt. »Weizen, Hülsenfrüchte, Kartoffeln. Kohlehydrate Kohlehydrate Kohlehydrate. Zwiebeln, Knoblauch-Ghee. Schwere schwere Gewürze.«

»Mein Ehemann ...«, setzt Parvati an, aber Mr. Nandha lässt sie nicht aussprechen.

»Ich halte weiße Diät. Alles ist ayurvedisch kalkuliert und balanciert. Was ist mit dem Zettel passiert, auf dem meine Diätvorschriften stehen?«

»Ach der, der ist mit der Köchin verschwunden.«

Mr. Nandha greift nach der Tischkante. Es hat sich seit langem aufgestaut, wie der Monsun, der schwer auf seine Nebenhöhlen drückt. Schon bevor Mrs. Sadurbhai wie Sajida Ranas Elitetrupp die Wohnung besetzte, schon vor der Besprechung an diesem Nachmittag, als die Realität der Politik auf seinem Pflichtbewusstsein und seinem Engagement herumtrampelte, schon bevor sich dieser Kalki-Fall entwickelte, wurde er von dem Gefühl bedrängt, dass er gegen den Wahnsinn Krieg führt, dass die Ordnung einen einzigen Kämpfer gegen das sich ausbreitende Chaos ins Feld schickt, dass alle anderen unterliegen könnten, aber einer übrig bleiben muss, der das Schwert aufnimmt, mit dem das Zeitalter Kalis zu Ende geht. Jetzt setzt sich der Kampf in seinem eigenen Zuhause fort, in seiner Küche, an seinem Esstisch, und windet sich mit blinden weißen Wurzeln um seine Ehefrau.

»Sie kommen in mein Heim, Sie stellen meinen Haushalt auf den Kopf, Sie feuern meine Köchin, Sie werfen meine Diätvorschriften weg, und ich komme von einem anstrengenden und arbeitsreichen Tag nach Hause und muss mir einen Fraß vorsetzen lassen, den ich nicht essen kann!«

»Liebster, wirklich, Mutter will doch nur helfen«, sagt Parvati, aber Mr. Nandhas Fingerknöchel sind bereits weiß geworden.

»Wo ich herkomme, hat ein Sohn Respekt vor seiner Mutter«, erwidert Mrs. Sadurbhai. »Sie haben keinen Respekt vor mir, Sie halten mich für eine dumme und abergläubische Bäuerin vom Land. Sie glauben, außer Ihnen wüsste niemand etwas, es geht nur um Sie und Ihre wichtige Arbeit und Ihre Angreez-Bildung und Ihre schreckliche, melodielose westliche Musik und Ihr fades weißes Essen, das wie Babynahrung ist und nicht für einen richtigen Mann taugt, der richtige Arbeit leistet. Sie halten sich für einen Gora, Sie glauben, Sie seien etwas Besseres als ich und als Ihre Frau, meine Tochter — ich weiß es —, aber das sind Sie nicht, und Sie sind kein Firengi. Wenn die Weißen Sie sehen könnten, würden sie Sie auslachen — schaut mal, der Babu glaubt, er sei ein Westler! Ich sage Ihnen, niemand hat auch nur den geringsten Respekt vor einem indischen Gora.«

Mr. Nandha ist erstaunt, wie bleich seine Fingerknöchel sind. Er kann die Blutgefäße unter der Haut erkennen. »Mrs. Sadurbhai, Sie sind ein Gast unter meinem Dach ...«

»Ein schönes Dach, ein von der Regierung bezahltes Dach ...«

»Ja«, sagt Mr. Nandha langsam und vorsichtig, als wäre jedes Wort ein Eimer Wasser, der aus einem Brunnen heraufgeholt wird. »Ein schönes, von der Regierung bezahltes Dach, das ich mir durch Hingabe und Pflichtbewusstsein bei meiner Arbeit verdient habe. Ein Dach, unter dem ich den Frieden, die Ruhe und den geordneten Haushalt erwarte, die mein Beruf verlangen. Sie haben keine Ahnung von dem, was ich tue. Sie verstehen nichts von den Mächten, gegen die ich kämpfe, von den Feinden, die ich jage. Geschöpfe mit den Ambitionen von Göttern, Madam. Wesen, die Sie nicht einmal ansatzweise verstehen können, die unseren Glauben an diese Welt bedrohen, und ich setze mich täglich mit ihnen auseinander. Und wenn meine schreckliche, melodielose westliche Musik, meine fade weiße Firengi-Diät, meine Köchin und meine Putzfrau mir den Frieden und die Ruhe und die häusliche Ordnung geben, damit ich die Kraft für meinen nächsten Arbeitstag habe, dann sagen Sie mir, was daran unvernünftig ist!«

»Nein«, entgegnet Mrs. Sadurbhai. Sie weiß, dass sie sich in einem Rückzugsgefecht befindet, aber sie begreift auch, dass nur ein Narr mit ungezückter Waffe stirbt. »Das Unvernünftige daran ist die Tatsache, dass ich in alldem nichts über Parvati höre.«

»Parvati, meine Blume.« Die Luft in der Küche ist träge wie Sirup. Mr. Nandha spürt die Kraft und das Gewicht jedes Wortes, jede Bewegung des Kopfes. »Bist du unglücklich? Fehlt dir irgendetwas?«

Parvati will etwas sagen, aber ihre Mutter setzt sich einfach über sie hinweg.

»Was meiner Tochter fehlt, ist etwas Anerkennung, dass sie die Frau eines hingebungsvollen und professionellen Mannes ist und nicht etwas, das sich auf dem Dach eines Häuserblocks im Stadtzentrum verstecken muss.«

»Parvati, ist das wahr?«

»Nein«, sagt sie. »Ich dachte, vielleicht ...« Wieder tritt ihre Mutter sie mit Füßen.

»Sie hätte jeden haben können, jeden — Beamte, Anwälte, Geschäftsleute, sogar Politiker. Sie hätten sie genommen und ihr ein angemessenes Heim bereitet und sie wie eine schöne Blume vorgezeigt und ihr die Dinge gegeben, die sie verdient hat.«

»Parvati, meine Liebe, ich verstehe das nicht. Ich dachte, wir wären hier glücklich.«

»Dann verstehen Sie wirklich nichts, wenn Sie nicht wissen, dass meine Tochter die Reichtümer der Mughals hätte haben können. Doch sie würde auf all das verzichten, wenn sie nur ein Kind ...«

»Mutter! Nein!«, ruft Parvati.

»... ein richtiges Kind bekommen könnte. Ein Kind, das ihrer gesellschaftlichen Stellung würdig ist. Einen wahren Erben.«

Die Luft ist immer dicker geworden. Mr. Nandha schafft es kaum, den Kopf zu Mrs. Sadurbhai zu drehen.

»Ein Brahmane? Ist es das, was Sie sagen wollen? Parvati, ist das wahr?« Sie sitzt weinend am Ende des Tisches, das Gesicht unter ihrem Dupatta verborgen. Mr. Nandha spürt, wie der Tisch unter ihren Schluchzern zittert. »Ein Brahmane. Ein genetisch manipuliertes Kind. Ein menschliches Kind, das doppelt so lange lebt, aber halb so schnell altert. Ein menschliches Wesen, das niemals Krebs bekommen kann, das niemals Alzheimer bekommen kann, das niemals Arthritis oder all die anderen degenerativen Erkrankungen bekommen kann, die uns bevorstehen, Parvati. Unser Kind. Die Frucht unserer Verbindung. Ist es das, was du willst? Wir werden unsere Keimzellen zu den Ärzten bringen, und sie werden sie öffnen und auseinandernehmen und verändern, bis es nicht mehr unsere Gene sind, um alles wieder zusammenzusetzen und dir einzupflanzen, Parvati. Sie pumpen dich mit Hormonen und Fruchtbarkeitsmedikamenten voll und schieben es dir in die Gebärmutter, bis es dich übernimmt und du davon anschwillst, von diesem fremden Wesen in dir.«

»Warum wollen Sie ihr das verwehren?«, ruft Mrs. Sadurbhai. »Welche Eltern würden sich die Chance auf ein perfektes Kind entgehen lassen? Sie wollen das einer Mutter verweigern?«

»Weil diese Kinder nicht menschlich sind!«, errregt sich Mr. Nandha. »Haben Sie solche Kinder gesehen? Ich habe sie gesehen! Ich sehe sie jeden Tag in den Straßen und den Büros. Sie sehen so jung aus, aber es gibt so viel, was wir nicht wissen. Die Kaihs und die Brahmanen sind unser Untergang. Wir werden überflüssig. Wir landen in der Sackgasse. Ich kämpfe gegen unmenschliche Monster, also werde ich keines in der Gebärmutter meiner Frau dulden!« Seine Hände zittern. Seine Hände zittern. Das ist nicht richtig. Siehst du, was du dir mit diesen Frauen eingehandelt hast? Mr. Nandha rückt vom Tisch ab und steht auf. Er fühlt sich kilometergroß, riesig und diffus wie ein Avatar aus seiner Box, gebäudefüllend. »Ich gehe jetzt. Ich habe Dinge zu erledigen. Ich kehre vielleicht erst morgen zurück, aber wenn ich zurückkehre, wird sich deine Mutter nicht mehr unter diesem Dach aufhalten.«

Parvatis Stimme folgt ihm, während er die Treppe hinuntersteigt.

»Sie ist eine alte Frau, es ist spät, wohin soll sie gehen? Du kannst doch eine alte Frau nicht einfach auf die Straße werfen.«

Mr. Nandha antwortet nicht. Er muss eine Kaih exkommunizieren. Als er vom Foyer des staatlichen Apartmentkomplexes zu seinem staatlichen Dienstwagen geht, fliegen Tauben mit pfeifend und klatschend applaudierenden Flügeln auf. Er schließt die Faust um das Elfenbeinbildnis Kalkis.

37 Shaheen Badoor Khan

Von diesem Türmchen wurden einst Gäste durch Trommler begrüßt, wenn sie den Damm durch den Sumpf überquert hatten. Wasservögel flogen zu beiden Seiten auf, Reiher, Kraniche, Löffler, die Wildenten, die Moazam Ali Khan dazu verführt hatten, hier auf der winterlichen Überschwemmungsebene des Gaghara am Ramghar Lake sein Jagdhaus zu errichten. Jetzt ist der See trocken, der Sumpf ist nur noch ausgedörrter Schlamm, die Vögel sind verschwunden. Zu Shaheen Badoor Khans Lebenszeiten ertönten nie Trommeln vom Naqqar Khana. Selbst in den Tagen seines Vaters war das Haus halb verfallen gewesen — Asad Badoor Khan, nun in den Armen Allahs schlafend, unter dem einfachen Marmorrechteck im Familiengrab. Shaheen Badoor Khan erlebte, wie zuerst Zimmer, dann Suiten und schließlich Flügel aufgegeben und der Hitze und dem Staub überlassen wurden. Die Stoffe verrotteten und zerrissen, der Putz wurde fleckig und blätterte in der Feuchtigkeit des Monsuns ab. Selbst der Friedhof ist mit Gras und wucherndem Unkraut überwachsen, nun verwelkt und gelb in der Dürre. Die schattenspendenden Ashok-Bäume sind einer nach dem anderen gefällt und von den Hausmeistern zu Brennholz verarbeitet worden.

Shaheen Badoor Khan hat das alte Jagdhaus von Ramghar Kothi noch nie gemocht. Deshalb ist er hierhergekommen, um sich zu verstecken. Nur seine engsten Vertrauten wissen, dass das Gebäude noch steht.

Er musste zehn Minuten lang hupen, bis das Personal aufwachte und auf die Idee kam, dass jemand die Absicht hegen könnte, das Haus zu besuchen. Es ist ein altes Paar, arme, aber stolze Muslime, er ein pensionierter Lehrer. Für den Kampf gegen die Entropie dürfen sie mietfrei einen Flügel bewohnen und bekommen wöchentlich eine Handvoll Rupien für Reis und Dal bezahlt. Die Überraschung auf dem Gesicht des alten Musa, als er das Doppeltor aufschwang, ließ sich nicht verbergen. Vielleicht war es der unangekündigte Besuch nach vier Jahren der Vernachlässigung. Oder er wusste bereits alles aus den Nachrichten der Voice of Bharat. Shaheen Badoor Khan fuhr unter den Schutz des Säulenganges und wies seinen Hausmeister an, das Tor wieder zu verriegeln.

Vor dem östlichen Horizont, der einer schwarzen Wand gleicht, wandelte Shaheen Badoor Khan zwischen den verstaubten Gräbern seiner Sippe. Seine Mughal-Vorväter hatten den Monsun als Hammer Gottes bezeichnet. Dieser Hammer war niedergesaust, und er war immer noch am Leben. Er konnte noch Pläne schmieden. Er konnte noch träumen. Er konnte sogar noch hoffen.

Moazam Ali Khans Mausoleum steht zwischen morschen Baumstümpfen auf dem ältesten Teil des Friedhofs, der erste Khan, der hier auf der sandigen Anhöhe über dem Flussschlamm begraben wurde. Das schattige Laubdach wurde während der Jahre von den Musas zurückgeschnitten, aber der gegenwärtige Verwalter von Ramghar hat der Rodung zugestimmt. Dadurch wurde dem kleinen, aber klassisch proportionierten Grabmal ermöglicht, seine Knochen zu strecken und die Sandsteinhaut atmen zu lassen — ein unverhülltes Bauwerk.

Shaheen Badoor Khan trat geduckt durch den östlichen Torbogen unter die Kuppel. Die grazilen Jali-Fenster sind schon vor Langem zerbröckelt, und er weiß von seinen Kinheitsabenteuern, dass im Grabgewölbe darunter Fledermäuse hausen, aber selbst im Zerfall kann die Grabstätte des Begründers der politischen Linie der Khans einen Besucher beeindrucken. Moazam Ali führte ein von Urdu-Chronisten dokumentiertes Leben voller Erfolge und Intrigen als Premierminister der Nawabs von Awadh in der Zeit, als die Macht von den verblassenden Mughals in Agra zu ihren nominellen Vasallen in Lucknow abwanderte. Er beaufsichtigte die Verwandlung einer ärmlichen mittelalterlichen Handelsstadt in eine Blüte der islamischen Zivilisation, dann witterte er die Zerbrechlichkeit des Ganzen in der Pomade der Abgesandten der East India Company und zog sich schließlich aus dem öffentlichen Leben zurück, um mit seinem kleinen, aber legendären Harem persischer Poetinnen in dem Jagdanwesen, das ihm von einer dankbaren Nation gespendet wurde, Sufi-Mystik zu studieren. Der Erste und Größte der Khans. Seit der Zeit, als Moazam Ali und seine Poetinnen zwischen den rufenden Sumpfvögeln lebten und dichteten, zerfiel das Haus langsam zu Staub. Die Dunkelheit unter der Kuppel wurde noch tiefer, als der Monsun gegen Ramghar Kothi vorrückte und versprach, die Sümpfe zu erneuern, die Seen wiederaufzufüllen. Shaheen Badoor Khans Finger ertasteten den Umriss des Mihrab, der nach Mekka ausgerichteten Nische.

Zwei Generationen später lag Mushtaq Khan unter einem eleganten Chhatri, dem Wind und Staub ausgesetzt. Retter der Ehre und des Vermögens der Familie, indem er standhaft zum Raj hielt, während Nordindien meuterte. Ein Kupferstich in den Zeitungen von 1857 zeigt ihn, wie er seinen Besitz und seine Familie gegen die Belagerung durch Sepoy-Horden verteidigt, in jeder Hand eine rauchende Pistole. Die Wirklichkeit war gar nicht so dramatisch. Ein kleiner Trupp Meuterer hatte Ramghar überfallen und konnte ohne Verluste durch Handwaffen abgewehrt werden, aber es genügte, sich bei den Briten den Titel Der treu ergebene Mohammedaner zu verdienen, während die Hindus ihn Killer Khan nannten. Es war eine Verbeugung vor den Herren des Raj, die er behutsam in eine Kampagne für die besondere politische Anerkennung der Muslime umsetzte. Wie stolz er gewesen wäre, dachte Shaheen Badoor Khan, wenn er gesehen hätte, wie diese Saat zu einer muslimischen Nation gekeimt war, einem Land der Reinen. Wie es ihm das Herz gebrochen hätte, wenn er gesehen hätte, wie aus dem Land der Reinen eine mittelalterliche Theokratie wurde, die sich schließlich in Stammeskonflikten zerrieb. Das Wort Gottes wurde aus dem Lauf einer AK47 gepredigt. Zeit, Tod und Staub.

Tempelglocken hallen über den trockenen Sumpf. Aus dem Süden weht das beständig tönende Signal eines Zuges heran. Sanfter Donner lässt die Luft erzittern.

Und hier unter dieser Marmorstele auf der Anhöhe, wo der Sand gerade tief genug ist, um ein Grab aufzunehmen, liegt sein Großvater Sayid Raiz Khan, Richter und Staatsgründer, der für die Sicherheit seiner Frau und Familie sorgte, während in den Teilungskriegen eine Million Menschen starben. Er hielt unerschütterlich an seiner Überzeugung fest, dass es nur ein Indien geben kann und dass Indien, um all das zu sein, was Nehru in jener Mitternacht des Jahres 1947 verkündete, den Muslimen einen Ehrensitz zugestehen muss. Und schließlich sein Vater, Anwalt und Abgeordneter, der für zwei Parlamente in den Wahlkampf zog, einmal in Delhi, einmal in Varanasi. Er hatte in seinem eigenen Teilungskrieg gekämpft. Die treu ergebenen mohammedanischen Khans, jede Generation im Kampf gegen das, was die vorige erreicht hatte, bis zum letzten Tropfen.

Die Scheinwerfer des Autos sind kilometerweit über dem flachen, baumlosen Land zu sehen. Shaheen Badoor Khan steigt die abgenutzten Treppenstufen des Trommelturms herunter, um das Tor zu öffnen. Die Diener von Ramghar sind alt und schwach und haben ihren Schlaf verdient. Er erschrickt über einen Regentropfen auf seinen Lippen, schmeckt ihn vorsichtig mit der Zunge.

Dafür habe ich einen Krieg begonnen.

Der Lexus fährt auf den Hof. Der schlanke schwarze Insektenpanzer ist mit Regenjuwelen gespickt. Shaheen Badoor Khan öffnet die Tür. Bilquis Badoor Khan steigt aus. Sie trägt einen förmlichen Sari in Blau und Gold, den Dupatta über den Kopf gezogen. Er versteht. Das Gesicht verbergen. Sein Volk könnte eines Tages an Scham sterben.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagt er. Sie hebt eine Hand. Nicht hier. Nicht vor den Dienern. Er deutet auf die von Säulen gestützte Chhatri oben auf dem Trommelturm, tritt zur Seite, als seine Frau vorbeirauscht und den Sari anhebt, um die steilen Stufen zu erklimmen. Der Regen hat jetzt einen Rhythmus gefunden, der südöstliche Horizont ist ein Feuerwerk aus Blitzen. Wasser läuft in Stricken vom Rand des Kuppeldachs des achteckigen Mughal-Trommelturms.

»Als Allererstes«, beginnt Shaheen Badoor Khan, »muss ich dir sagen, wie sehr es mir leidtut, was geschehen ist.« Die Worte schmecken wie Staub auf seinen Lippen, der Staub seiner Vorfahren, der mit dem Regen wieder zu ihnen in den Boden zurückgespült wird. Sie schwellen in seinem Mund an. »Ich ... nein. Wir hatten eine Vereinbarung, ich habe sie gebrochen, und irgendwie kam es heraus. Der Rest wird Geschichte sein. Ich war unverzeihlich dumm, und jetzt muss ich dafür büßen.«

Er hatte nicht gewusst, wann sie das erste Mal Verdacht geschöpft hatte, aber seit Dara geboren wurde, war offensichtlich geworden, dass Bilquis nicht alles sein konnte, was er sich gewünscht hatte. Ihre Verbindung war die letzte Mughal-Hochzeit gewesen, in der es um Dynastie, Macht und Zweckmäßigkeit ging. Sie hatten nur einmal offen darüber gesprochen, nachdem Jehan zur Universität gegangen war und es im Haveli plötzlich hallte und es zu viele Diener gab. Das Gespräch war forciert, nüchtern, schmerzhaft gewesen, die Sätze vorsichtig mit verkürzten Andeutungen formuliert, weil das Hauspersonal alles mithören konnte. Nur so lange, um die Vereinbarung zu treffen, dass er niemals zulassen würde, dass es zu einer Gefahr für seine Familie und seine Regierung werden und sie die anständige, pflichtbewusste Politikerfrau bleiben würde. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr miteinander geschlafen.

Es. Sie hatten dieser Sache nie einen Namen gegeben. Shaheen Badoor Khan ist sich jetzt sicher, dass es einen gibt. Seine Neigung? Sein Laster? Seine Schwäche. Sein Stachel im Fleisch? Seine Perversion? In der Sprache zwischen zwei Menschen gibt es keine Worte für dieses es.

Der Regen ist so heftig, dass Shaheen Badoor Khan sich kaum noch verständlich machen kann.

»Ich kann noch ein paar Gefälligkeiten einfordern. Ich habe alles für die Abreise aus Bharat vorbereitet, es gibt einen Direktflug nach Kathmandu. Es wird kein Problem sein, nach Nepal einzureisen. Von dort aus können wir zu jedem Ort der Welt weiterfliegen. Ich würde Nordeuropa vorziehen, vielleicht Finnland oder Norwegen. Diese Länder sind sehr dünn besiedelt, also können wir dort anonym bleiben. Ich habe Geldmittel in transportablen Wechseln angelegt, genug, um uns ein Grundstück zu kaufen und adäquat zu leben, wenn auch nicht mit dem Komfort, den wir hier in Bharat genießen. Die Preise sind hoch, und wir dürften einige Schwierigkeiten haben, uns an das Klima zu gewöhnen, aber ich glaube, Skandinavien wäre das Beste für uns.«

Bilquis hat die Augen geschlossen. Sie hebt eine Hand. »Bitte, hör auf damit.«

»Es muss nicht Skandinavien sein. Auch Neuseeland ist ein nettes, fernes Land ...«

»Weder Skandinavien noch Neuseeland. Shaheen, ich werde nicht mit dir gehen. Ich habe genug. Außerdem bist du nicht derjenige, der sich entschuldigen muss. Sondern ich. Shaheen, ich habe unsere Vereinbarung gebrochen. Ich habe es ihnen gesagt. Du glaubst, du seist der Einzige mit einem geheimen Doppelleben? Nein! Das bist du nicht! Aber so warst du die ganze Zeit, Shaheen, so arrogant und davon überzeugt, dass du der Einzige bist, der mit Lügen und Geheimnissen lebt. Shaheen, in den vergangenen fünf Jahren habe ich für N. K. Jivanjee gearbeitet. Für die Shivaji, Shaheen. Ich, die Begum Bilquis Badoor Khan, habe dich an die Hindutva verraten.«

Shaheen Badoor Khan spürt, wie der Regen, der Donner, die Stimme seiner Frau zu einem feinen Zischen verschwimmen. Jetzt versteht er, wie jemand an Schock sterben kann.

»Was soll das?«, hört er sich erwidern. »Das ist Unsinn. Du redest völligen Unsinn, Frau.«

»Ich kann mir vorstellen, dass es wie Unsinn klingt, Shaheen, wenn eine Frau ihren Mann an seine größten Feinde verrät. Aber ich habe es getan, Shaheen. Ich habe dich an die Hindus verraten. Deine eigene Frau. Von der du dich jede Nacht abgewendet hast, als wir noch in einem gemeinsamen Bett geschlafen haben. Fünf Empfängnisse, fünf Ficks. Ich habe mitgezählt, fünf Ficks, eine Frau erinnert sich an so etwas. Und nur zweien davon wurde erlaubt, sich zu unseren guten Söhnen zu entwickeln. Fünf Ficks. Verzeihung, hat meine Derbheit dich schockiert? So sollte eine angesehene Begum nicht sprechen, nicht wahr? Du solltest hören, was diese guten Begums sagen, wenn sie unter sich sind, Shaheen. Frauen reden miteinander. Oh, deine Ohren würden vor Scham brennen. Schamlose Geschöpfe sind wir, wenn wir in unseren Kämmerchen und Kränzchen miteinander allein sind. Sie wissen es, alle Frauen wissen es. Fünf Ficks, Khan. Ich habe es ihnen gesagt, es jedoch nicht. Das habe ich ihnen nicht gesagt, Shaheen.

Ich habe es ihnen nicht gesagt, weil ich immer noch dachte, ich hätte einen großen Mann, einen Stern, der in den schwarzen Himmel emporsteigt, mit einem bedeutenden Amt und Aussichten auf mehr, auch wenn er in seinem eigenen Bett liegt und von Dingen träumt, die ich mir als Mensch nicht einmal vorstellen kann. Aber eine Frau kann sehr viel in den Hintergrund drängen, wenn sie glaubt, dass ihr Ehemann große Dinge erreichen könnte, dass du so groß wie deine Vorfahren werden könntest, die dort begraben liegen, Shaheen. Eine Frau, die sich ihren Mann frei aussuchen konnte, die ihn mit ihrem Herzen und ihrem Körper geliebt hätte, die ebenfalls in eine gehobene Position hätte aufsteigen können. Eine Frau, die ihre eigene gute Ausbildung und ihr Potenzial hat, die jedoch in die goldene Purdah gezwungen wurde, weil auf jede Anwältin fünf Anwälte kommen. Verstehst du, was ich damit sagen will, Shaheen? Eine solche Frau erwartet etwas. Und wenn dieser Stern aufsteigt und dann anhält, wenn er sich nicht weiterbewegen würde, nicht höher steigen würde, während andere Sterne an ihm vorbeiziehen und ihn überstrahlen ... Was sollte diese Frau dann tun, Shaheen? Was sollte diese Ehefrau und Begum dann tun?«

Shaheen Badoor hat vor Scham die Hände vors Gesicht geschlagen, aber er kann die Worte nicht aufhalten, die durch den Regen, den Donner und seine Finger dringen. Er hatte sich für einen guten und treuen Berater seiner Premierministerin, seiner Regierung und seines Landes gehalten, aber er erinnert sich an seine Reaktion, als Sajida Rana ihm auf dem Rückflug von Kunda Kahar einen Kabinettsposten anbot: Furcht vor der Bloßstellung, Angst, dass es aus ihm hervorquillt wie Blut aus einer durchgeschnittenen Kehle. Jetzt erkennt er, bei wie vielen Gelegenheiten im Laufe seiner Karriere er einen solchen Schritt in eine öffentliche Machtposition hätte machen können, aber jedes Mal zurückgewichen war, gelähmt von der Furcht vor dem unweigerlichen Absturz.

»Jivanjee?«, sagt er matt. Das Herz des Wahnsinns in diesem uralten Mughal-Trommelturm im Herzen eines Monsunsturms: Seine Frau ist eine Agentin von N. K. Jivanjee.

Sie lacht. Für ihn gibt es kein schlimmeres Geräusch.

»Ja, Jivanjee. All die Nachmittage, an denen ich den Juristinnenzirkel unterhalten habe, als du in der Sabha warst, was glaubst du, was wir getan haben? Uns über Grundstückspreise und Brahmanenkinder und Cricket-Ergebnisse unterhalten? Über Politik, Shaheen. Die besten Anwältinnen von Varanasi. Was glaubst du, womit wir uns sonst amüsieren könnten? Wir waren ein Schattenkabinett. Wir ließen eine Simulation auf unseren Palmern laufen. Ich sage dir, in meiner Jharoka war mehr Talent versammelt als in Sajida Ranas Kabinettsaal. Ach, Sajida Rana, die große Mutter, die es anderen Frauen unmöglich gemacht hat, ihr das Wasser zu reichen. In unserem Bharat, mein lieber Shaheen, gab es keinen Wasserkrieg. In unserem Bharat gab es keine dreijährige Dürre, keine Feindschaft mit den USA, weil die Datenrajas uns in der Tasche haben. In unserem Bharat vereinbarten wir mit Awadh und den States of Bengal einen Wasserbewirtschaftungsplan für das Gangestal. Wir haben euer Land besser geführt als ihr, Shaheen, und weißt du auch, warum? Weil wir sehen wollten, ob wir es können. Ob wir es besser können. Und wir konnten es besser.

In der ganzen Hauptstadt war es das Gesprächsthema Nummer eins. Aber solche Gespräche hörst du gar nicht. Es ist ja nur das, was Frauen reden. Worte ohne Konsequenz. Aber N. K. Jivanjee hat es gehört. Die Shivaji hörte es, und das ist etwas, dass ich dir nicht verzeihen kann. Ein Hindu-Politiker erkannte das Talent, ungeachtet des Geschlechts oder der Religion, ein Talent, das mein Ehemann nicht erkannte. Wir wurden zum politischen Arm der Shivaji, unsere kleine Nachmittagsgruppe, die sich zum Tee in unseren Gärten traf. Jetzt hat es sich gelohnt, dieses Spiel mitzumachen. Ich hatte immer wieder gehofft, du würdest nicht nach Hause kommen und mir erzählen, was du in der Sabha getan hast, damit ich versuchen kann, deine Gedanken zu lesen und mich zu fragen, was du getan haben könntest, um weiterzudenken und dich auszustechen. Jedes Mal, wenn du fluchend nach Hause kamst, weil Jivanjee dir immer einen Schritt voraus zu sein schien, war das meine Schuld.« Sie legt eine Hand auf die Brust, ohne ihren Ehemann zu sehen, ohne den Regen zu sehen, der auf Ramghar niedergeht. Sie sieht nur noch ihre Erinnerung an ein großartiges Spiel, das ihr Leben beherrscht hat.

»Jivanjee«, flüstert Shaheen Badoor Khan. »Du hast mich an Jivanjee verkauft.« Und der hohe und breite Damm, der alles so lange in ihm zurückgehalten hat, bricht mit einem Mal, und Shaheen Badoor Khan stellt fest, dass in ihm, nach all den Jahren, nach all den Lügen und Verheimlichungen, nur noch ein lautes Gebrüll ist, ein ungeformtes Geheul wie das Nichts vor der Schöpfung, das aus ihm herauskreischt. Er kann es nicht aufhalten, er kann es nicht zurückdrängen. Das Vakuum zerrt an seinen inneren Organen. Seine Beine sind eingeknickt. Auf den Knien kriecht er auf seine Frau zu, alles ist vernichtet. Er hat sich erlaubt zu hoffen, und zur Strafe für seinen Stolz wurde ihm alles genommen. Er kann nicht mehr hoffen. Das tierische Heulen verstummt, er kann nur noch japsen, würgend schluchzen.

Bilquis weicht zurück. Sie hat Angst. So etwas kam nie in ihren Spielen und Strategien vor. Shaheen Badoor Khan ist jetzt auf Händen und Knien, wie ein Hund, der Schmerzensschreie bellt.

»Hör auf, hör auf damit«, fleht Bilquis. »Bitte nicht. Bitte, bewahre dir einen Rest von Würde.«

Shaheen Badoor Khan blickt zu ihr auf. Entsetzt schlägt sie die Hand vor den Mund. Sie erkennt nichts mehr an ihm wieder. Das Spiel hat sie beide vernichtet.

Sie tritt von dem Nichts zurück, das auf dem glatten Sandsteinboden des Trommelturms kauert und den infizierten Eiter seines Lebens hervorwürgt. Sie findet den Weg zur Treppe und flüchtet in den Regenvorhang hinaus.

38 Mr. Nandha

Die strenge Polyphonie von Bachs Magnificat umschwirrt Mr. Nandha, als der Senkrechtstarter über dem Fluss abdreht. Der heiße Wind, der den Monsun ankündigt, fegt über die Ghats. Bruchstücke der Sturmfront wirbeln die geordnete Flotte der Diyas auf Mutter Ganga durcheinander. Der Senkrechtstarter wird von den Böen geschüttelt. Mr. Nandha sieht die Spiegelung der Blitze auf dem Visier der Pilotin, dann haben ihre Hände den Flug wieder stabilisiert. Vor ihm bilden die anderen drei Einheiten der Schwadron bewegliche Lichtmuster über dem größeren Leuchten der Stadt. Kashi. Stadt des Lichts.

In Mr. Nandhas erweitertem Sichtfeld ragen Götter über Varanasi auf, noch gewaltiger als der Monsun. Ihre Vahanas kriechen über den Beton und durch die Scheiße, ihre Scheitel berühren die Stratosphäre. Götter wie Gewitterwolken, mit erhobenen Attributen, von Blitzen umzuckt. Die mehrfachen Arme führen die heiligen Mudras mit meteorologischer Besonnenheit aus. Die Eindämmung setzte ein, als die Exkommunikationstruppe vom Militärflugplatz abhob. Prasad hat ein paar hundert Kaihs der Stufe eins abgefangen, die über das Kabelnetz flüchten wollten, aber ansonsten ist es im fünften Stock des Bürogebäudes still wie der Tod oder die Unschuld geblieben. Die Schwadron teilt sich auf, und ihre Navigationslichter schießen aerobatisch zwischen Ganesha, Kartikkeya, Kali und Krishna hin und her. Mr. Nandhas Lippen beten lautlos Magnificat magnificat, als der Senkrechtstarter abdreht und in einer Wolke aus handgroßen Pixeln durch Ganesha rast. Einen Speer in die Seite, denkt Mr. Nandha. Die Pilotin schwenkt die Flügelspitzentriebwerke in die Landestellung und bringt sie durch einen Schleier aus göttlichem Licht nach unten. Mr. Nandha schaltet die visuelle Darstellung aus. Die Götter verschwinden, als wären sie durch Unglauben ausgelöscht worden, aber nach jahrelanger Vertrautheit hat Mr. Nandha ein Gefühl für ihre Gegenwart entwickelt, ein elektrisches Kribbeln in seinem Hinterkopf. Seine Waffe ist ein dunkles Gewicht an seinem Herzen.

Die Firmenzentrale von Odeco ist ein billiges Mietshaus in einem Labyrinth aus Schuluniformgeschäften und Sari-Händlern. Die Pilotin dreht das Flugzeug, damit es in die schmale Straße passt. Die Flügelspitzen streifen Balkone und Strommasten, als sie ihre Maschine auf der Kreuzung landet. Der von den Triebwerken entfachte Sturm fegt Fahrräder quer über die Straße. Eine Kuh trottet behäbig aus dem Weg. Ladeninhaber halten ihre wehende und flatternde Ware fest. Räder werden ausgefahren und berühren den Beton. Mr. Nandha begibt sich in den Passagierraum zu seinem Exkommunikationsteam: Ram Lalli, Prasad, Mukul Dev, Vik — Letzterer fühlt sich sichtlich unwohl in Kampfmontur über seiner Rock-Boyz-Montur von Star-Asia.

Der Senkrechtstarter kommt auf den Stoßdämpfern zur Ruhe. Nichts bewegt sich, nichts rührt sich, nur der Wind vom Rand des Monsuns treibt Papier und Fetzen von abgerissenen Filmi-Postern durch die schmalen Straßen. Ein Hund bellt. Die Rampe wird ausgefahren, während die Triebwerke verstummen. Weitere Flugzeuge legen an den anderen beiden Zielkoordinaten punktgenaue Landungen hin. Die vierte Maschine dreht sich in der Luft vor den Neontürmen von New Varanasi, fliegt über das Dach des Bürogebäudes heran und schwenkt die Düsen auf Schwebestellung. Das Getöse in den engen Gassen ist wie der Lärm vedischer Armeen im Himmelsgefecht. Der Bauch öffnet sich, und Sowars der Bharati-Luftkavallerie werden an Kabeln abgespult. Auf dem Helmdisplay der Pilotin seilen sie sich in eine gähnende Schlucht voller Götter ab. Hohlladungen öffnen das Dach wie eine Dose Ghee. Die Sowars kommunizieren mit Handzeichen, befestigen ihre Karabinerhaken an den Solarzellen und tauchen ins Gebäude ein.

Mr. Nandha rückt durch einen Friedhof der Fahrräder vor. Eine Berührung am rechten Ohr aktiviert den Hoek, und Indra, Gott des Regens und des Blitzes, manifestiert sich wirbelnd über dem Kurzwarenviertel des alten Kashi, auf seinem Elefanten-Vahana Airavata mit den vier Stoßzähnen sitzend. In der Rechten hält er den Vajra der Gerechtigkeit erhoben. Mr. Nandha legt seine Hand an seine Waffe. Echte Blitze flackern durch Indras transparenten roten Körper. Mr. Nandha blickt auf. Regen. Auf seinem Gesicht. Er bleibt stehen, wischt sich den Tropfen von der Stirn, starrt ihn erstaunt an. Im selben Moment wirbelt Indra herum, und er spürt, wie die Waffe ihn ausrichtet.

Die Roboter kommen durch die unbeleuchtete Gali herangesprungen, ein Gewimmel aus winzigen rennenden Füßen und Greifklauen. Affenroboter, Katzenroboter, wie flügellose Vögel, wie langbeinige Insekten, eine Welle aus klickenden Bewegungen, die über die Hauptstraße heranströmt. Mr. Nandha hebt seine Waffe, zielt feuert, zielt feuert, zielt feuert. Bachs himmelhohe Kontrapunkte dröhnen ihm in den Ohren. Kein einziger Fehlschuss. Indra führt ihn sicher und zuverlässig. Die Roboter drehen sich und krachen gegeneinander, rollen gegen Wände und Eingänge, während sich die dicken, vereinzelten Tropfen zu Regen vereinigen. Mr. Nandha dringt weiter in die Gali vor, die Waffe ausgestreckt, die unablässig mit ihrem roten Laserauge Ziele sucht und sie wirbelnd und rauchend und von Pulsen aus elektromagnetischer Strahlung verbrannt zurücklässt. Affenroboter klettern die Kabel und Chati-Mag-Poster und Metall-Reklameschilder für Mineralwasser und Sprachschulen hinauf, flüchten sich auf die Dächer und Komleitungen. Indra holt sie mit seinen Blitzen herunter. Hinter Mr. Nandha bilden die Agenten des Ministeriums eine Reihe und erledigen jene, die es in die Exkommunikationszone geschafft haben. Mr. Nandha bringt Johann Sebastian zum Schweigen und hebt eine Hand.

»Feuer einstellen!«

Die Stromleitungen knistern unter der Überladung, während die letzten Flüchtlinge zu Schrott zerschossen werden. Mr. Nandha wirft einen Blick über die Schulter und liest die Abscheu in Viks Gesicht, der sich mit seinem großen Vielzweck-Sturmgewehr abmüht. Du wolltest es so, denkt Mr. Nandha. Hier hast du deine Action. In voller Montur.

Der Regen fällt leuchtend durch die Strahlen der Bauchscheinwerfer am schwebenden Flugzeug. Der Rückstoß und der zunehmende Sturmwind verwirbeln die Tropfen zu glühenden Schleiern.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagt Mr. Nandha leise. Dann bricht der Monsun über Varanasi herein. Im nächsten Moment ist Mr. Nandha bis auf die Knochen durchnässt. Sein taubengrauer Anzug klebt ihm auf der Haut. Geblendet wischt er sich den Regen aus den Augen. Ungehindert durch den Monsun ragt Indra zwischen den Blitzen und dem Wolkenbruch über dem fünftausend Jahre alten Kashi auf.

Die Sowars krachen durch das Dach auf die Schreibtische und Aktenschränke und abstürzenden Deckenventilatoren, sie werfen Bildschirme und Chai-Tassen und Wasserspender um. Mit erhobenen Waffen besetzen sie das Großraumbüro und schwenken die Nachtsichtgeräte. Es ist ein totes schwarzes Büro inmitten eines Wolkenbruchs. Regen ergießt sich durch die Löcher, die sie ins Dach gesprengt haben. Die Kommandantin, ein Subadar-Major, signalisiert ihren Sowars, dass sie nun die Beweise sichern sollen. Während sie nasse Prozessorwürfel und Stapelspeicher auflesen, ruft sie Mr. Nandha über ihr Kehlmikro an. Eine weitere Mudra, und ihre Soldaten verteilen sich, scannen die Umgebung mit Sensorstaffeln auf Kaih-Aktivitäten. Blitze erleuchten ihr Gesicht. Sie kann hören, wie die Jawans der regulären Polizei sich durch die unteren Stockwerke nach oben arbeiten. Sie gibt ihren Kriegern ein Zeichen, dass sie sich verteilen und alles sichern sollen. Aber hier ist nichts mehr. Die Geister, die hier wohnten, sind geflohen.

Mr. Nandha signalisiert seinem Team, sich zu sammeln.

»Was stimmt nicht?«, fragt Vik. Sein Haar klebt ihm in Streifen am Kopf, von seiner Nase läuft Wasser, und von den Falten seiner weiten Kleidung strömen Sturzbäche. Er blickt zu Indra empor, die hoch über der chaotischen Dächerlandschaft von Kashi aufragt.

»Das hier ist nur eine Attrappe.« Mr. Nandha tritt nach einem zur Faust eingerollten toten Wartungsroboter. »Hier gibt es keine Generation Drei, die sich in Sub-Kaihs zerlegt und die Flucht ergreift. Das hier ist Absicht. Man will, dass wir alles zerstören.« Er ruft in seinen Palmer-Handschuh: »An alle Einheiten, Feuer einstellen! Greifen Sie nicht an!«

Aber die zwei Gruppen im Norden und Westen sind zu sehr damit beschäftigt, Affenroboter über Ballen mit Sari-Seide und durch Ständer mit Schulmädchenuniformen zu jagen, während die Ladenbesitzer laut klagend die Hände hochreißen, wenn die Pulse die Speicher ihrer Kassen löschen. Die Kampfanzüge der Jawans leuchten in Sari-Farben, während sie brüllend den springenden und hüpfenden Maschinen hinterherrennen, durch Lagerräume, an Chowkidars vorbei, die mit erhobenen Händen in Hauseingängen Schutz suchen, und Betontreppen hinauf, bis die letzten Roboter von den Waffen der Sowars zusammengetrieben werden. Es ist wie eine Entenjagd während des Raj. Für kurze Zeit überstrahlt das Licht der induzierten EM-Entladungen die Blitze.

Mr. Nandha betritt das zerstörte Büro. Er betrachtet die kreisrunden Wasserfälle, die auf dem billigen Teppich Pfützen bilden. Er sieht sich die rauchenden Roboter und die zertrümmerten Bildschirme und zusammengebrochenen Schreibtische an. Mr. Nandha schürzt verärgert die Lippen.

»Wer hat hier das Kommando?«

Der Subadar-Major öffnet den Helm, der sich in die Kapuze des Kampfanzugs zurückzieht.

»Subadar-Major Kaur, Sir.«

»Wir führen hier eine Tatortsicherung durch, Subadar-Major.«

Stimmen und scharrende Füße an der Tür. Die Sowars stellen einen kleinen, aber offensichtlich kräftigen Bangla, adrett wie ein Beo in einem unerklärlicherweise trockenen schwarzen Anzug.

»Ich bestehe darauf, mit Ihrem ...«

»Lassen Sie ihn herein«, befiehlt Mr. Nandha. Die Strahlen von Suchscheinwerfern dringen durch die strömenden Löcher im Dach und erhellen das Büro. Der Bangla blickt sich schockiert um, während die Soldaten zurückweichen.

»Was hat das alles zu bedeuten?«, will der Bangla wissen.

»Ihr Name, Sir?«, fragt Mr. Nandha, der sich seines durchnässten Anzugs überdeutlich bewusst wird.

»Ich heiße Chakraborty. Ich arbeite als Anwalt für dieses Unternehmen.«

Mr. Nandha hebt die linke Hand. Das Bild in seiner Handfläche zeigt das Symbol der offenen Hand, die für das Ministerium steht. Die Hand in der Hand.

»Ich führe eine Ermittlung wegen der illegalen Haltung einer Künstlichen Intelligenz der Generation Drei durch, was einen Verstoß gegen Paragraph siebenundzwanzig der Internationalen Vereinbarungen von Lima darstellt«, sagt Mr. Nandha.

Der Bangla blickt ihn blinzelnd an. »Witzbold.«

»Sir, gehören diese Räumlichkeiten der Firma Odeco Incorporated?«

»In der Tat.«

»Bitte lesen Sie diesen Durchsuchungsbefehl.«

Die Sowars haben den Generator aufgebaut und hängen überall im Büro Klemmlampen auf.

Chakraborty dreht Mr. Nandhas Hand ins Licht der nächsten Lampe. »Eine Anweisung zur Exkommunikation, wie der Vorgang inoffiziell bezeichnet wird.«

»Ausgestellt vom Büro des Justizministers höchstpersönlich.«

»Ich werde eine offizielle Beschwerde und einen Antrag auf Schadensersatz einreichen.«

»Natürlich, Sir. Alles andere wäre unprofessionell. Nun seien Sie bitte vorsichtig. Meine Agenten müssen ihre Arbeit erledigen, und ihre Waffen sind geladen.«

Sowar-Ingenieure spannen wasserdichte Planen über die Löcher in der Decke. Jawans entrollen Kabel, die sie an die Prozessoren anschließen. Vik sitzt bereits an den Terminals und hat seine eigene Avatar-Box in die Systeme eingeklinkt.

»Hier ist nichts.«

»Zeigen Sie es mir.«

Mr. Nandha spürt Chakraborty an seiner Seite, wie er sich schmunzelnd über Vik beugt, der vor dem Rollbildschirm hockt. Vik klickt sich durch einen Speicher nach dem anderen.

»Wenn es hier jemals eine Gen-Drei gegeben hat, ist sie längst verschwunden«, sagt er. »Moment mal ... schauen Sie sich das an! Unser Freund Vishram Ray.«

»Sir.« Madhvi Prasad an einem anderen Bildschirm. Sie zieht zwei Bürostühle mit abgebrochenen Rückenlehnen heran.

Mr. Nandha setzt sich neben sie. Seine Socken quietschen in seinen Schuhen, und die Entwürdigung lässt ihn zusammenzucken. Es ist schlecht, die wichtigsten Ermittlungen seiner Karriere in quietschenden Baumwollsocken durchzuführen. Noch schlimmer ist es, von einem aalglatten Bangla-Anwalt als Witzbold bezeichnet zu werden. Doch das Allerschlimmste ist der Vorwurf, kein Mann zu sein, ein schwanzloser Hijra, in der eigenen Küche, unter dem eigenen Dach, von der Mutter der eigenen Ehefrau, von einer verhutzelten Witwe vom Lande. Mr. Nandha verdrängt das Gefühl der Demütigung. Die nackten Sadhus, die im Regen tanzen, ertragen viel mehr für viel weniger.

»Was wollen Sie mir zeigen?«, fragt Mr. Nandha.

Prasad dreht den Monitor zu ihm herum.

Ein strahlender Morgen am neuen Ghat von Patna. Fähren und Tragflügelboote drängen sich am Rand des Bildes, Geschäftsleute und Arbeiter bevölkern den Hintergrund, und ganz hinten glitzern die Türme des neuen Commercial Bund im östlichen Licht. Im Vordergrund stehen drei lächelnde Personen. Die eine ist Jean-Yves Trudeau, die andere seine Frau Anjali. Sie haben die Arme um eine dritte Person gelegt, die zwischen ihnen steht, ein Mädchen, um die achtzehn Jahre alt, mit einer hellen Bräune wie in einer idealen Heiratsannonce. Sie ist einen Kopf kleiner als die Westler, aber sie zeigt ein strahlendes Lächeln, trotz des rasierten Schädels, an dem Mr. Nandha die haarfeinen Narben einer kürzlich erfolgten Operation erkennt.

Mr. Nandha beugt sich näher heran. Der Regen hat ihn ausgekühlt, und sein Atem dampft im blauen Schein der provisorischen Beleuchtung.

»Das ist es, was wir zerstören sollten.« Er tippt mit dem Finger auf das Gesicht des Mädchens. »Sie hier ist noch am Leben.«

39 Kunda Khadar

Zehn Tage lang haben die langsamen Drohnen das flache, versengte Land im Westen Bharats überquert. Noch während die Awadhi-Garnison in Kunda Khadar vor den Bharati-Jawans floh, starteten die Artillerieeinheiten auf einer Achtzig-Kilometer-Front etwa zwei- bis dreihundert autonome Roboter aus den kurzen zylindrischen Silos. Jeder trägt eine Ladung aus zehn Kilogramm Hochleistungssprengstoff und hat die Größe und Form einer kleinen, muskulösen Katze. Tagsüber schlafen sie in Bodensenken oder Stapeln aus trocknenden halbmondförmigen Dung-Ladhus. Wenn die Nacht anbricht, fahren sie ihre Antennen aus und richten sie auf den Mond, entfalten ihre Metallbeine und schleichen sich über Felder und durch ausgetrocknete Gräben, mit katzenhafter Verstohlenheit, vom Licht des Mondes und dem leisen Zirpen ihres GPS gesteuert. Lastwagenscheinwerfer lassen sie erschrecken und erstarren — sie verlassen sich auf ihre rudimentäre Tarnexistenz. Niemand sieht oder hört sie, auch wenn sie sich nur Zentimeter entfernt an dem Traktor-Mechaniker vorbeistehlen, der auf seinem Charpoy schläft. Wenn der erste Brahmane an den Ufern des heiligen Ganges die Sonne begrüßt, haben sie sich in den Sand eingegraben oder sich im Rauch und Schatten an die Dachsparren eines Tempels geklammert oder sich auf den Boden des Wassertanks eines Dorfes sinken lassen. Es sind Kaihs der Stufe 1,4, aber ihre Brennstoffzellen arbeiten mit einer Methanreaktion auf Wolfram-Basis. Sie ziehen quer durch Bharat und navigieren sich von einem Kuhfurz zum nächsten.

In den späten Abendstunden eines Juli-Tages erreichen die langsamen Drohnen ihr Ziel. Während der vergangenen zwei Nächte haben sie sich durch Stadtstraßen bewegt, an den Mauern von Vorstadtgärten entlang, wo sie jagende Katzen erschreckten, sind von Dach zu Dach über die schmalen Gassen der Innenstadt gesprungen, von Balkon zu Balkon, lautlos und dunkel durch die Stadt huschend, um sich schließlich in Zweier- oder Dreiergruppen zusammenzufinden, dann in Zehner- und Hunderterscharen, eine Armee aus Plastikpfoten und Schnurrhaarantennen, die von den Pariahunden wütend angebellt werden. Aber keine der Katzen lässt sich vom Bellen der Hunde stören.

Um zehn Uhr dreißig infiltrieren zweihundertzwanzig langsame Drohnen sämtliche Hauptsysteme der Elektrizitätsverteilerstation von Ray Power in Allahabad und detonieren gleichzeitig. Im westlichen Bharat von Allahabad bis zur Grenze fällt der Strom aus. Komverbindungen verstummen. Kontrollzentren werden von der Umwelt abgeschnitten und mühen sich ab, ihre Notfallsysteme hochzufahren. Bodenstationen für Satelliten sind blind. Die Luftabwehr schaltet auf Reserve um. Es dauert drei Minuten, bis die Notstromaggregate laufen. Die Wiederherstellung der Kommunikationsverbindungen und Befehlsketten beansprucht weitere zwei Minuten. Und es vergehen noch einmal drei, bis in Bharat wieder volle Verteidigungsbereitschaft erreicht ist.

In diesen acht Minuten morphen einhundertfünfzig Awadhi-Truppentransporthubschrauber aus der Tarnung, unterstützt von Kaih-Bodenkampffahrzeugen, und entladen Infanterie und leicht mechanisierte Einheiten fünf Kilometer innerhalb der Bharati-Grenze. Während sich Truppentransporter durch Grenzdörfer wühlen und Mörserstellungen errichtet werden, rücken schwer bewaffnete Einheiten mit Luftunterstützung vor und nähern sich dem nördlichen Ende des Damms. Gleichzeitig überqueren zwei Panzerdivisionen die nur leicht geschützte Grenze bei Rewa und stoßen über die Straße nach Jabalpur in Richtung Allahabad vor.

Als die Reservesysteme hochgefahren und die Befehlsstruktur und die Geheimdienstkommunikation wiederhergestellt sind, starren die Artilleriestellungen im Westen von Bharat in die Läufe von Franks-Kampfpanzern, während Scharen von Rattenrobotern die defensiven Minenfelder ausschalten und die erste Mörsersalve mit unheimlichem Pfeifen auf den Kunda-Khadar-Damm niedergeht. Umzingelt, abgeschnitten von der Befehlskette und schutzlos vor der Luftübermacht, während alle Verstärkungskräfte in Allahabad gebunden sind, kapituliert General Jha. Fünftausend Soldaten legen ihre Waffen nieder. Es sind die ruhmreichsten acht Minuten in der Militärgeschichte von Awadh. Und die schmachvollsten für Bharat.

Um zehn Uhr vierzig funktionieren die Mobilfunknetze wieder. Nach zehn Minuten klingeln überall im regengeplagten Varanasi die Palmer.

40 Vishram

Unter Anleitung des alten Ram Das trägt das Außenpersonal die Gartenmöbel unter den Schutz der weiträumigen Veranden des Shanker Mahal. Vishram geht an einer Reihe aus weiß gestrichenem Gußeisen und Korbgeflecht vorbei, die den Rasen überquert. Seine Mutter sitzt allein am entgegengesetzten Ende des Gartens, eine kleine blasse Frau an einem kleinen weißen Tisch, der sich hell vor der dunklen Wand des Monsuns abzeichnet. Wie eine britische Witwe wird sie warten, bis der Sturm sie erreicht hat, bevor sie sich aus ihrer Redoute zurückzieht. Vishram erinnert sich fast nur so an sie, auf dem Rasen, an einem weißen Tisch, unter ihrer Sonnenschirmstaffel, mit ihren Ladys und dem Chai auf einem Silbertablett. Schon immer hat Vishram das Haus am meisten während des Regens geliebt, wenn es unbeschwert vor dem Grün und den schwarzen Wolken zu schweben schien. Dann wurden seine dehydrierten Geister wieder zum Leben erweckt, und in seinem Zimmer war ihr Knacken und Knarren zu hören. In dieser Saison riecht Shanker Mahal nach altem Holz und Feuchtigkeit und Wachstum, als wollten die Pflanzenmuster an der Decke seines Schlafzimmers Knospen austreiben und erblühen. Die verschlungenen Figuren an den Säulen und Balken entspannen sich im Regen.

»Vishram, mein Vogel. Dieser Anzug steht dir sehr gut.«

Er ruft den letzten Gartenstuhl mit einem gekrümmten Zeigefinger zurück. Wetterleuchten schimmert hinter den Ashokbäumen. Und hinter ihnen schneiden Scheinwerfer durch die Finsternis.

»Mamaji.« Vishram verneigt den Kopf. »Ich will dich nicht lange aufhalten. Ich muss wissen, wo er ist.«

»Wer, mein Lieber?«

»Was glaubst du, wen ich meine?«

»Dein Vater ist ein Mann, der sein spirituelles Leben sehr ernst nimmt. Wenn er den Weg des Sadhu und die Abgeschiedenheit gewählt hat, sollte das respektiert werden. Was willst du von ihm wissen?«

»Nichts«, sagt Vishram Ray. Er glaubt zu sehen, wie seine Mutter ein verstohlenes Lächeln verbirgt, als sie ihre Tasse Darjeeling an die Lippen setzt. Ein heißer, elektrisch aufgeladener Wind fährt über die Blumenbeete. Pfaue kreischen vor Angst. »Ich möchte ihm von einer Entscheidung erzählen, die ich getroffen habe.«

»Etwas Geschäftliches? Du weißt, dass ich mich nie für geschäftliche Angelegenheiten interessiert habe«, sagt Mamata Ray.

»Mutter«, erwidert Vishram. Ihr ganzes Leben lang hat sie diese kleine Lüge aufrechterhalten. Die schlichte Mamata versteht nichts von Geschäften, will nichts damit zu tun haben, weil es Männerdinge sind, alles, was mit Geschäften, Geld und Macht zu tun hat. Es wurde nie eine Entscheidung getroffen, nie eine Investition getätigt, nie eine Kaufempfehlung ausgesprochen, nie ein Forschungsprojekt genehmigt, ohne dass Mamata Ray dabei war und dazu sagte, dass sie keine Ahnung hätte, aber was würde geschehen, wenn, und wie würde es sein, und könnte auf lange Sicht vielleicht jenes. Vishram hat nie daran gezweifelt, dass ihre vorsichtigen Fragen die Grundlage der shakespearischen Aufteilung von Ray Power gebildet hatten, dass es ihre Stimme gewesen war, die Ranjit Ray den Segen gab, sich von der Welt abzuwenden.

Vishram gießt sich eine Tasse duftenden Darjeeling-Tee ein. Er findet, dass der Geschmack übermäßig verfeinert ist, aber auf diese Weise sind seine Hände mit etwas beschäftigt. Die erste Comedy-Regel: Sorge stets dafür, dass deine Hände etwas zu tun haben.

»Ich werde Rameshs Anteil aufkaufen. Ich habe eine außerordentliche Vorstandssitzung einberufen.«

»Du hast mit Mr. Chakraborty gesprochen.«

Die Augen seiner Mutter sind Linsen aus Blei, eine Spiegelung des aufgewühlten grauen Himmels.

»Ich weiß, was Odeco ist.«

»Ist es das, was du deinem Vater sagen möchtest?«

»Nein. Ich will ihm sagen, dass mir nicht viele Möglichkeiten bleiben und dass ich glaube, die beste Entscheidung getroffen zu haben.«

Mamata Ray stellt ihre Tasse auf den Tisch und dreht sie auf der Untertasse, so dass der Henkel genau nach links zeigt. Gärtner und Hausdiener halten sich in der Nähe bereit und warten auf ihren Einsatz. Der zunehmende Wind zerrt an ihren Turbanen und Quasten.

»Ich habe mich dagegen ausgesprochen, weißt du. Gegen die Entscheidung, das Unternehmen aufzuteilen. Das überrascht dich möglicherweise. Du warst der Grund, warum ich dagegen war. Ich dachte, du würdest die Firma herunterwirtschaften, alles verschleudern. Was das betrifft, habe ich die gleiche Meinung wie Govind. Nur dein Vater hatte Vertrauen in dich. Es hat ihn immer sehr interessiert, was du in diesem schrecklichen schottischen Land machst. Er hatte großen Respekt vor dir, weil du den Mut hattest, deinen eigenen Überzeugungen zu folgen — so warst du schon immer, Vishram. Ich sagte, ich verstehe nichts von Geschäften, aber vielleicht verstehe ich nichts von Menschen, von meinen eigenen Söhnen. Vielleicht bin ich zu alt, um meine Ansichten zu ändern.«

Mamata Ray blickt auf. Vishram spürt Regen auf seinem Gesicht. Er stellt seine Tasse ab — der Tee ist kalt und bitter —, und die Malis bringen zuerst das Gedeck weg, dann den Tisch. Der Regen tropft schwer auf die Bougainvilleenblätter.

»Dein Vater widmet sich der Puja im Kali-Tempel von Mirzapur«, ruft Mamata Ray vom Ende der Gartenmöbelprozession. Der Regen wird heftiger, aber er ist nicht laut genug, um die Geräusche sich nähernder Flugzeugtriebwerke zu übertönen. »Die Puja für das Ende eines Zeitalters. Shivas Fuß senkt sich herab. Der Tanz beginnt. Wir wurden der Göttin der Vernichtung überantwortet.«

Als sie die Sicherheit der östlichen Veranda erreicht haben, reißen die Wolken auf. Donner dröhnt, als der Senkrechtstarter über den Wassergarten herangeflogen kommt. Die Navigationslichter verwandeln die prasselnden Tropfen in einen Vorhang — die Triebwerke werden geschwenkt und die Räder setzen auf Ram Das’ geschorenem Rasen auf. Das Gartenpersonal hält schützend die Hände vor die Augen.

»Andererseits hattest du recht, ich war schon immer ein aufgeblasener Drecksack«, sagt Vishram zu seiner Mutter und rennt durch den Regen, den Kragen seines guten Anzugs hochgeschlagen, auf das Flugzeug zu. Marianna Fusco winkt aufgeregt vom Hecksitz.

Der alte Shastri führt Vishram und Marianna Fusco die steilen Galis von Mirzapur hinauf. Die Gässchen sind schmal und dunkel und riechen nach Pisse und alten Räucherstäbchen. Kinder folgen der kleinen Prozession, die von den Betonghats heraufstapft. Vishram blickt zum Senkrechtstarter am Flussufer zurück. Die Pilotin hat den Helm abgenommen und sich in respektvollem Abstand von den Treibstofftanks in den Sand gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen. Der Monsun, der über Varanasi hereingebrochen ist, hat Mirzapur sechzig Kilometer westlich noch nicht erreicht. Die Gassen verdichten die Hitze zu etwas, das beinahe greifbar ist. Müll wirbelt in den Djinns der stickigen, stinkenden Luft. Marianna Fusco steigt unermüdlich empor und lässt die starrenden Blicke der jungen und alten Männer von ihrem peripheren Sichtfeld abprallen.

Der Kali-Tempel ist ein Marmorsockel, an den sich auf allen Seiten Geschäfte drängen; sie verkaufen Votivgaben und Gajras und Ikonen der Göttin, die aus einer riesigen Bilderdatenbank ausgedruckt werden. Kali ist die Haupteinnahmequelle an diesem Ende von Mirzapur, einer zerfallenden ländlichen Stadt, die die Informationsrevolution verpasst hat und sich immer noch wundert, was geschehen ist. Die Fußwege stoßen an die mit Wasser gespülten Marmorstufen, auf denen sich selbst zu dieser späten Stunde die Gläubigen scharen. Ständig ertönen Glocken. Viehgitter aus Metall lenken die Verehrer zur Garbhagriha. Eine Kuh tappt die Treppe hinauf und hinunter, ihre Knochen bewegen sich lose in einem Sack aus gelber Haut. Jemand hat ihr rote und gelbe Tilaka-Paste zwischen die Hörner geschmiert.

»Ich werde hier bleiben«, sagt Marianna Fusco. »Jemand sollte auf die Schuhe aufpassen.« Vishram versteht die Besorgnis in ihrer Stimme. Dieser Ort liegt außerhalb ihrer Erfahrung. Er ist auf essenzielle und unerklärliche Weise indisch. Er nimmt keine Rücksichten auf irgendwelche Empfindlichkeiten, alle Widersprüche und Gegensätze Bharats verkörpern sich in diesem Tempel der Liebe und Verehrung für die zornerfüllte Manifestation ursprünglicher Weiblichkeit. Die schwarze Kali mit ihrem Kranz aus Köpfen und dem schrecklich flinken Schwert. Selbst Vishram spürt eine erdrückende Fremdartigkeit in den Eingeweiden, als er sich unter dem Türsturz hindurchduckt, der mit musizierenden Mahavidyas verziert ist, den zehn Weisheiten, die der Yoni der schwarzen Göttin entströmen.

Shastri bleibt bei Marianna Fusco. Vishram wird vom Strom der Pilger absorbiert, die durch das Labyrinth schlurfen. Der Tempel ist niedrig, verraucht, klaustrophobisch. Vishram grüßt die Sadhus, empfängt ihre Tilakas für eine Handvoll Rupien. Die Garbhagriha ist winzig, ein schmaler Schlitz von einem Schrein, in dem das schwarze, glotzäugige Bildnis unter den zahllosen Tagetes-Girlanden fast verschwindet. Der enge Durchgang ist beinahe unpassierbar, weil sich die Menge um das Heiligtum drängt. Die Menschen strecken die Hände durch den yonischen Schlitz, um Räucherstäbchen zu entzünden oder Trankopfer aus Milch, Blut oder rot gefärbtem Ghee darzubringen. Die durstige Kali verlangt jeden Tag sieben Liter Blut. In kultivierten urbanen Zentren wie Mirzapur stammt es heutzutage von Ziegen. Vishrams Blick trifft den der Göttin, deren Augen die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen, die jede Illusion durchschauen. Darshan. Die Brandung der Menschen treibt ihn weiter. Donner erschüttert den Tempel. Der Monsun hat den Westen erreicht. Die Hitze ist maßlos. Glocken werden geschlagen. Die Anhänger der Göttin singen Hymnen.

Vishram findet seinen Vater in einem schwarzen fensterlosen Nebentempel. In der Finsternis wäre er fast über ihn gestolpert. Vishram streckt die Hände aus, um sich abzustützen, zieht sie sofort wieder vom Sims zurück. Sie sind feucht. Blut. Der Boden ist mit einer Ascheschicht bedeckt. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, erkennt er eine rechteckige Grube mitten im Raum. Smasana-Kali ist auch die Göttin der Ghats. Dies ist ein Kremationshaus. Ranjit Ray hockt im Schneidersitz in der Asche. Er trägt den Dhoti, den Schal und die rote Kali-Tilaka des Sadhu. Seine Haut ist grau von Vibhuti, die heilige weiße Asche bedeckt sein Haar und die Bartstoppeln. Für Vishram ist dies nicht sein Vater, sondern ein Wesen, das man neben einem Straßenschrein sitzen sieht, das sich nackt in einem Tempeleingang ausstreckt, ein Alien aus einer fremden Welt.

»Vater?«

Ranjit Ray nickt. »Vishram. Setz dich, setz dich.«

Vishram blickt sich um, aber hier ist überall Asche. Wahrscheinlich ist es sehr weltlich, sich wegen seines Anzugs Sorgen zu machen. Andererseits ist er weltlich genug, um zu wissen, dass er sich einen neuen besorgen kann. Er setzt sich neben seinen Vater. Donner erschüttert den Tempel. Die Glocken tönen, die Gläubigen beten.

»Vater, was machst du hier?«

»Die Puja für das Ende eines Zeitalters.«

»Hier ist es schrecklich.«

»So soll es auch sein. Aber das Auge des Glaubens sieht anders, und mir kommt es gar nicht so schrecklich vor. Es ist richtig. Passend.«

»Zerstörung?«

»Transformation. Tod und Wiedergeburt. Das Rad dreht sich.«

»Ich kaufe Ramesh seinen Anteil ab«, verkündet Vishram, der barfuß in der Asche der Toten hockt. »Damit habe ich die Firma zu zwei Dritteln unter Kontrolle und kann Govind und seine westlichen Partner vergraulen. Ich frage dich nicht, ich sage es dir.«

Vishram sieht eine Spur der alten Weltlichkeit in den Augen seines Vaters aufflackern.

»Ich bin mir sicher, dass du dir denken kannst, woher ich das Geld habe.«

»Von meinem guten Freund Chakraborty.«

»Du weißt, wer — beziehungsweise was — hinter ihm steht?«

»Ja.«

»Wie lange weißt du es schon?«

»Von Anfang an. Odeco nahm Kontakt mit mir auf, als wir das Nullpunktprojekt starteten. Chakraborty war bewundernswert direkt.«

»Es war ein verdammt großes Risiko. Wenn die Krishna Cops es herausgefunden hätten ... Ray Power, Energie mit gutem Gewissen, Respekt vor der Erde und all das?«

»Darin sehe ich keinen Widerspruch. Es sind lebende Geschöpfe, intelligente Geschöpfe. Wir sind es ihnen schuldig, sie fürsorglich zu behandeln. Einige Vertreter der Grameen-Banken ...«

»Geschöpfe. Du hast sie als Geschöpfe bezeichnet.«

»Ja. Es scheint drei Kaihs der Generation Drei zu geben, aber ihre subjektiven Universen müssen sich nicht zwangsläufig überlappen, auch wenn sie vielleicht einige Subroutinen gemeinsam haben. Ich glaube, Odeco ist für mindestens zwei von ihnen ein Kommunikationskanal.«

»Chakraborty bezeichnete die Odeco-Kaih als Brahma.«

Ranjit Rays Gesicht zeigt ein dezentes wissendes Lächeln.

»Bist du Brahma jemals begegnet?«

»Vishram, welchem Aspekt hätte ich begegnen sollen? Ich bin Männern in Anzügen begegnet, ich habe mit Gesichtern telefoniert. Vielleicht waren die Gesichter real, vielleicht waren sie Brahma, Manifestationen dieses Wesens. Kann man auf sinnvolle Weise einer dezentralisierten Entität begegnen?«

»Haben sie dir jemals gesagt, warum sie das Nullpunktprojekt finanzieren wollen?«

»Du würdest es nicht verstehen. Ich verstehe es nicht.«

Blitze erhellen für einen Moment das Innere der Kremationskammer. Der Donner folgt hart und schwer. Seltsame Windböen wirbeln die Asche auf.

»Sag es mir.«

Vishrams Palmer klingelt. Verärgert zieht er eine Grimasse. Die Gläubigen starren ihn an, empört über die lästerliche Störung im Allerheiligsten. Ein Anruf höchster Priorität. Vishram stellt auf nur Audio. Nachdem Marianna Fusco verstummt ist, steckt er das kleine Gerät in eine Innentasche.

»Vater, wir müssen jetzt gehen.«

Ranjit Ray runzelt die Stirn. »Ich verstehe nicht, was du sagst.«

»Wir müssen sofort aufbrechen. Hier ist es nicht mehr sicher. Die Awadhis haben den Kunda-Khadar-Damm besetzt. Unsere Soldaten haben kapituliert. Zwischen ihnen und Allahabad ist der Weg frei. Sie könnten in vierundzwanzig Stunden hier sein. Vater, du musst mitkommen. Im Flugzeug ist genügend Platz. All das muss jetzt aufhören. Du bist ein bedeutender Mann von internationalem Ruf.«

Vishram steht auf und streckt seinem Vater eine Hand entgegen.

»Nein, ich werde nicht mitkommen und mich wie eine altersschwache Witwe von meinem eigenen Sohn herumkommandieren lassen. Ich habe meine Entscheidung getroffen, ich bin fortgegangen, und ich werde nicht mehr zurückkehren. Ich kann nicht mehr zurück, denn dieser Ranjit Ray existiert nicht mehr.«

Vishram schüttelt verzweifelt den Kopf. »Vater.«

»Nein. Mir wird nichts geschehen. Das Bharat, das sie besetzt haben, ist nicht mehr das, in dem ich lebe. Sie können mich nicht erreichen. Geh. Na los, geh schon.« Er stößt gegen die Knie seines Sohns. »Es gibt wichtige Dinge, die du tun musst. Also geh. Dir darf nichts geschehen. Ich werde für dich beten, du wirst in Sicherheit sein. Jetzt geh.« Ranjit Ray schließt die Augen, sein Gesicht wird blind und taub.

»Ich werde zurückkommen ...«

»Du wirst mich nicht finden. Ich will nicht gefunden werden. Du weißt, was du tun musst.« Als Vishram sich unter dem blutbeschmierten Türsturz duckt, ruft sein Vater ihm hinterher: »Ich wollte es dir sagen. Was sich Odeco, Brahma, die Kaih vom Nullpunktprojekt erhoffen. Einen Ausweg. Irgendwo dort draußen in all den Mannigfaltigkeiten der M-Stern-Theorie gibt es ein Universum, wo sie und ihresgleichen existieren können, wo sie frei und sicher leben können, wo wir sie nie finden werden. Und das ist der Grund, warum ich hier in diesem Tempel bin. Weil ich Kalis Gesicht sehen möchte, wenn ihr Zeitalter zu Ende geht.«

Der Regen fällt gleichmäßig, als Vishram den Tempel verlässt. Der Marmor ist glitschig von Wasser und Staub. Auf den schmalen Wegen rund um den Tempel drängen sich immer noch die Menschen, aber die Stimmung hat sich verändert. Es ist nicht mehr der Eifer religiöser Verehrung, aber auch nicht die gemeinsame Jubelfeier, weil es endlich über der ausgedörrten Stadt regnet. Die Nachricht über die Demütigung von Kunda Khadar hat sich verbreitet, und in den Galis wimmelt es von Brahmanen und Witwen in Weiß und Kali-Verehrern in Rot und wütenden jungen Männern in Markenjeans und sehr frischen Hemden. Sie starren auf Fernsehbildschirme oder reißen Papierstreifen aus Druckern oder sammeln sich um Rikscha-Radios oder Jungen, die mit ihren Palmern die jüngsten Neuigkeiten abrufen. Der Lärm in den Straßen steigert sich, als die Nachrichten sich zu Gerüchten und weiter zu Falschinformationen und Slogans verdünnen. Die tapferen Jawans von Bharat besiegt. Der Ruhm Bharats wurde in den Schmutz getreten. Awadhi-Divisionen fahren bereits auf der Ringstraße um Allahabad. Eine Invasion des heiligen Bodens. Wo ist die Rettung? Wer wird Rache nehmen? Jivanjee Jivanjee Jivanjee! Krieger-Karsevaks marschieren los, um die Invasoren mit einer Flutwelle aus ihrem eigenen Blut fortzuschwemmen. Die Shivaji wird die Schande der Ranas wiedergutmachen.

»Wo ist dein Vater?«

Rikscha-Fahrer schieben sich um Vishram herum, als er seine Schuhe anzieht.

»Er will nicht mitkommen.«

»Damit habe ich auch nicht gerechnet, Mr. Ray.« Seltsam, diese Worte von Shastri zu hören. Mister und Ray.

»Dann schlage ich vor, dass wir von hier verschwinden, weil ich mich plötzlich sehr weiß und sehr westlich und sehr weiblich fühle«, sagt Marianna Fusco. Über die steilen Gehwege strömen tückische Sturzbäche. »Warum muss bei euch alles in einem Volksaufstand enden?«, fragt Marianna Fusco, aber die Stimmung auf den Straßen ist hart, hässlich, ansteckend. Vishram sieht den Senkrechtstarter am Ufer zwischen den überhängenden Gebäuden. Hinter ihm ein Krachen, Stimmen in panischer Lautstärke. Er dreht sich um und sieht einen Samosa-Wagen aus Blech, der auf die Seite gekippt ist, und die würzigen Dreiecke haben sich über die Gali verteilt. Heißes Öl breitet sich über die flachen Stufen aus. Eine Berührung mit der Flamme des Gaskochers, und Feuer erfüllt die enge Gasse. Rufe, Schreie.

»Komm.« Vishram nimmt Marianna am Ellbogen und eilt mit ihr die Stufen hinunter.

Die Pilotin hat die Triebwerke bereits warmlaufen lassen, als Vishram und Marianna hinter ihr auf die Sitze springen. Shastri weicht vor den Triebwerksstrahlen zurück, die Hände segnend erhoben. Der Senkrechtstarter steigt durch den Wolkenbruch auf, während die Menschen über die Treppe herunterströmen, wie Ratten zum Wasser hetzen. Sie schwenken Lathis und heben Stöcke auf und werfen Steine auf den fremden Eindringling. Die Pilotin ist bereits viel zu hoch. Sie wendet das Flugzeug, und Vishram sieht das Feuer wie einen Teich aus Hitze, der sich von einem Gebäude zum nächsten ausbreitet, wie eine Flüssigkeit, unbeeinträchtigt durch den Regen.

»Das Zeitalter Kalis«, flüstert er. Der Tiefpunkt der Geschichte, wenn Zwietracht und Korruption unter den Menschen herrschen und der Himmel geschlossen ist, wenn die Ohren der Götter taub sind und die Entropie ihr Maximum erreicht und es keine Hoffnung mehr gibt. Wenn die Erde durch Feuer und Wasser vernichtet wird, denkt Vishram, als der Senkrechtstarter in den Horizontalflug übergeht, wenn die Zeit anhält und das Universum neu geboren wird.

41 Lisa

Draußen vor dem Bogengewölbe fällt der Regen wie ein Vorhang, und Lisa Durnau ist bei ihrem dritten Gin. Sie sitzt in einem Korbstuhl auf dem Marmorboden der Säulenhalle. Die einzigen anderen Menschen auf der Terrasse sind zwei Tee trinkende Männer in billigen Anzügen und Sandalen. Von ihrem Beobachtungsposten aus kann sie das Haupttor und die Rezeption im Auge behalten. Der Lärm des Regens auf dem ermatteten Stein ist unglaublich. Ein mächtiger Sturm, selbst im Vergleich zum Mittelwesten. Mit Blitzen und allem Drum und Dran.

Wieder leer. Sie gibt dem Kellner ein Zeichen. Sie alle sind junge, schüchterne Nepalis, die als Rajputs verkleidet sind, hier in Bharat, in Varanasi. Damit kann sie nicht umgehen. Hier im schwarzen Norden gibt es kaum etwas, womit sie umgehen kann. Sie hatte sich gerade an den schönen zivilisierten Süden und seine sanfte Anarchie gewöhnt, als sie mitten in einer Nation und einer Stadt abgesetzt wurde, wo alles genauso aussieht und die Menschen genauso gekleidet sind, aber sonst alles völlig anders ist.

Der Taxifahrer hatte die Worte »Amerikanisches Konsulat« als Einladung genommen, sie zu betrügen, sie um einen Kreisverkehr herumzufahren, auf dem eine große Statue von Ganesha unter einem komischen kleinen Pavillon und einem Plakat mit der Aufschrift Gerippt und aufregend! Kordhosen! stand.

»Sarkhand Roundabout«, rief der Fahrer. »Gefahrengeld Gefahrengeld.«

Auf jede glatte Fläche waren Hakenkreuze gemalt worden. Lisa konnte sich nicht erinnern, wie herum sie richtig und welche das faschistische Spiegelbild waren, aber der Anblick bereitete ihr so oder so Unbehagen.

Rhodes, der Konsulatsbeamte, blätterte sich durch ihre Beglaubigungen.

»Was genau sollen Sie mit all diesen Genehmigungen machen, Ms. Durnau.«

»Einen Mann finden.«

»Jetzt ist keine gute Zeit für so etwas. Die Botschaft rät allen US-Bürgern, das Land zu verlassen. Wir können keine Garantie für Ihre Sicherheit übernehmen. Amerikanische Einrichtungen wurden angegriffen. Man hat einen Burger King niedergebrannt.«

»Extra-heiß vom Flammengrill.«

Er zeigte den winzigsten Ansatz eines gepressten Lächelns. Mit hochgezogener Augenbraue blickte er auf die Lade. Lisa Durnau wünschte sich, so etwas auch zu können. Er gab ihr die Dokumente zurück. »Also gut, dann viel Erfolg bei Ihrer Mission, was auch immer Sie erreichen wollen. Wenn wir Ihnen irgendwie helfen können, werden wir es tun. Und ganz gleich, was sonst gesagt wird, dies ist eine großartige Stadt.«

Aber für Lisa Durnau ist Varanasi eine Stadt der Asche, trotz der Neonreklamen und Hochhäuser und hell erleuchteten Shikharas. Asche auf den Straßen und Schreinen und Tempeln, Asche auf der Stirn der heiligen Männer, Asche auf den stromlinienförmigen Kotflügeln und Dächern der Marutis und Phatphats. Ein Himmel aus Asche, wie eine brechende Welle aus dunklem Ruß. Selbst in der klimatisierten Luft ihres Hotelzimmers spürte sie schmierige Kohlenwasserstoffe auf ihrer Haut. Lulls Hotel war ein hübsches islamisches Stadthaus mit Marmorfußböden und unerwarteten Zwischenstockwerken und Balkonen, aber ihr Zimmer war unsauber. Die Minibar war leer. Eine Damenbinde hatte sich in der Toilettenschüssel verkeilt. Die Stockwerke und Balkone waren voller Nachrichtenreporter. Sie probierte die Dusche aus, der alten Zeiten wegen.

Eine zweite Person war unter Lulls Anmeldung registriert. Ajmer Rao. Mit der Lade rief sie einen schlecht aufgelösten Schnappschuss der Lobbycam auf. Von ihr. Vom Space-Bunny. Kleiner, als Lisa sich vorgestellt hatte. Recht breiter Arsch, aber daran war vielleicht der Kamerawinkel schuld. Was hatte sie auf der Stirn?

Ajmer Rao. Aber Lisa Durnaus erster Gedanke war, dass sie froh war, dass Lull nicht mit ihr schlief. Und Lull selbst. Magerer. Das Gesicht weicher. Absolut unmögliche Kleidung. Fortgeschrittene Halbglatze, zum Ausgleich langes Haar am Hinterkopf. In jeder Einzelheit so, wie sie ihn in den wimmelnden Pixeln des Tabernakels gesehen hatte.

Lisa Durna beobachtet den Regen und stellt fest, dass sie wütend ist. Zutiefst. Ihr ganzes Leben lang hat sie gegen die calvinistische Prädestinationsdoktrin ihres Vaters angekämpft, doch die Tatsache, dass sie nun sieht, wie der Monsun auf Varanasi niedergeht, ist das Ergebnis karmischer Mächte, die sieben Milliarden Jahre alt sind. Sie, Lull, dieses Mädchen mit dem Breitarsch, sie alle folgen einem Drehbuch, das genauso vorherbestimmt und fatalistisch ist wie irgendeine Episode von Stadt und Land. Sie ist wütend, weil sie dem nie entkommen ist. Die komplexen Verhaltensmuster des Alterre-Universums, ihrer Calabi-Yau-Geisträume, der zellularen Automaten, die über ihren Monitor wuseln — alle beruhen auf einfachen, gnadenlosen Regeln. Regeln, die so einfach sind, dass man vielleicht nie auf die Idee kommt, von ihnen beherrscht zu werden.

Sie klinkt sich in Alterre ein. Aus Spaß gibt sie ihre gegenwärtigen GPS-Koordinaten ein, an die Kontinentaldrift angeglichen, schaltet auf vollständige Tiefenwahrnehmung und tritt mitten in die Hölle. Sie steht auf einer zerklüfteten Ebene aus schwarzer Lava, die von rot glühenden Adern durchzogen ist. Der Himmel ist eine geronnene Masse aus Rauch, von zuckenden Blitzen erhellt, und um sie herum fällt Asche wie Schnee zu Boden. Sie erstickt fast am Schwefel und den Brandgasen, schaltet die Geruchswahrnehmung aus. Die Ebene erhebt sich sanft zu einer Kette niedriger Kegel, aus denen sich schnell fließende Magmaströme ergießen. Funkenkaskaden versperren den Blick zum Horizont. Sie kann in jede Richtung zwanzig Kilometer weit sehen, und nirgendwo erkennt sie auch nur ein einziges Lebewesen.

Erschrocken blinzelt sich Lisa Durnau zurück ins verregnete Varanasi. Ihr Herz rast, ihr ist schwindlig. Es ist, als würde man um eine Straßenecke gehen und ohne Vorwarnung auf Ground Zero stoßen. Sie steht unter physischem Schock. Sie hat Angst vor der Geste, mit der sie sich wieder nach Alterre wünschen kann. Sie öffnet den Fenstermodus. Der Kommentartext erklärt ihr, dass die Vulkane des Dekkan-Trapps ausgebrochen sind.

Eine halbe Million Kubikkilometer Lava strömen aus einem Magmaplume, der durch den Erdmantel hochkocht, an einer Stelle, an der sich fünfundsechzig Millionen Jahre später die Insel Réunion befindet. Der Mount St. Helens spuckte lediglich einen einzigen Kubikkilometer aus, als er den Pazifischen Nordwesten erschütterte. Eine halbe Million Mount St. Helens. Wenn man sie ensprechend verteilte, würden sie die Bundesstaaten Washington und Oregon zweitausend Meter hoch mit flüssigem Basalt überfluten. Der Dekkan-Trapp bildete eine zwei Kilometer hohe Schicht über Zentralindien, während der Subkontinent auf die asiatische Landmasse zuraste (nach geologischen Maßstäben), um schließlich in der frontalen Kollision den mächtigsten Gebirgszug der Erde aufzufalten. Das freigesetzte CO2 überforderte sämtliche Kohlenstoffspeichermechanismen und läutete das Ende der Kreidezeit ein. Das Leben auf der Erde stand bereits mehrere Male am Abgrund. Alterre hätte keine alternative Evolution erlebt, wenn es keine Ursachen für Massenaussterben wie Vulkanismus, Polsprünge und Meteoriteneinschläge gäbe. Das Spielzeug der Champions im Gottesspiel. Was Lisa Durnau so große Angst macht, ist gar nicht die Tatsache, dass der Trapp ausgebrochen ist. Es ist die Tatsache, dass die Lavaströme in der realen Welt niemals bis zur Indus-Ganges-Ebene gekommen sind. In Alterre wird Varanasi unter einer dicken Schicht aus glühendem Basalt begraben.

Lisa steigt in die Gottesperspektive empor. Ein Finger des schlechten Gewissens aus ihrer kirchlichen Kindheit zeigt anklagend auf sie, als sie hoch über dem Australo-Indischen Ozean kreist. So gut war der Blick aus dem realen Weltraum nie. Europa ist ein Bogen aus Inseln und Halbinseln an der westlichen Krümmung des Planeten, Asien eine nordwärts treibende Landmasse. Nordasien brennt. Aschewolken verdecken den halben Kontinent. Die Feuer erhellen die Nachtseite von Alterre. Lisa Durnau ruft ein Datenfenster auf. Sie stößt einen leisen, wortlosen Schrei aus. Auch der Sibirische Trapp bricht aus.

Alterre liegt im Sterben, gefangen zwischen den Bränden in der Kopf- und Hüftregion. Das in der Kruste gebundene Kohlendioxid, das durch den gashaltigen Basalt freigesetzt wird, verbindet sich mit dem Kohlenstoff der brennenden Wälder und führt zu einem dramatischen Treibhauseffekt, der die Temperatur der Atmosphäre und der Ozeane weit genug ansteigen lässt, um die Clathrate platzen zu lassen. Methan, das in Eiskammern tief unter dem Meer eingeschlossen ist, gelangt in einem gigantischen Gasausbruch ins Freie. Die Ozeane werden wie eine fallen gelassene Dose mit Sodawasser kochen. Der Sauerstoffanteil sinkt, während die Temperaturen steigen. Die Photosynthese in den Ozeanen kommt zum Erliegen. Die Meere werden zu Kloaken aus verrottendem Plankton.

Das Leben könnte einen Zusammenbruch überstehen. Die Erde hat den Chixclub-Einschlag und die resultierende Dekkan-Schmelze auf der anderen Seite überlebt, allerdings auf Kosten von fünfundzwanzig Prozent aller Spezies. Die Eruption des Sibirischen Trapps vor zweihundertfünfzig Millionen Jahren hatte das reichhaltige Leben des Perm beendet und zum Aussterben von fünfundneunzig Prozent aller Organismen geführt. Das Leben hatte sich über den Abgrund gerettet und war zurückgekehrt. Zwei Eruptionen zur gleichen Zeit bedeuten das Ende der Biologie auf der Erde.

Lisa Durnau muss zusehen, wie ihre Welt untergeht.

Das ist nicht natürlich. Das ist ein gezielter Angriff. Thomas Lull hatte Alterre mit einem robusten Immunsystem konstruiert, um es vor den unvermeidlichen Hacks zu schützen. Damit ein Angreifer an den Kaihs vorbeikommt, die die geophysikalischen, ozeanologischen und klimatologischen Systeme steuern, muss er Zugriff auf die zentralen Register haben. So etwas kann nur ein Insider.

Lisa Durnau zieht sich aus Alterre zurück auf die Terrasse des Haveli im Sommerregen. Sie zittert. In London ist Lisa Durnau einmal vor dem Eingang zur Metro ausgeraubt worden. Es war kurz und heftig, aber nicht besonders brutal abgelaufen. Einfach nur schnell und geschäftsmäßig: ihr Bargeld, ihre Karten, ihr Palmer, ihre Schuhe. Bevor es ihr richtig bewusst wurde, war es auch schon vorbei. Sie hatte das Verbrechen mit dumpfer Fügsamkeit über sich ergehen lassen, fast in der Rolle eines wissenschaftlichen Beobachters. Erst anschließend kam die Angst, das Zittern, die Wut, die Empörung über das, was man ihr angetan hatte, und über ihre völlige Passivität während des Geschehens.

Hier war eine ganze Welt überfallen und ausgeraubt worden.

Die Verbindung zum Institut steht fast schon, bevor ihr klar wird, was geschieht. Lisa Durnau wischt die Adresse weg, klappt die Lade zu und schiebt sie wieder in die Tasche. Sie darf ihre Deckung nicht verlassen. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Und sie sieht ihn, Thomas Lull, wie er sich über den Rezeptionstresen beugt, nach seinem Schlüssel fragt, mit tropfnassem Surferhemd und weiten Shorts und glatt anliegendem Haar, während sich unter ihm auf dem weißen Marmor kleine Pfützen ausbreiten. Er hat sie nicht gesehen. Für ihn ist sie einen halben Planeten entfernt auf irgendeinem Hügel in Kansas. Lisa Durnau will gerade seinen Namen rufen, als die zwei Männer in den billigen Anzügen und Sandalen aufstehen und zum Tresen hinübergehen. Einer zeigt Thomas Lull etwas, das er in der Hand hält. Der andere legt ihm eine Hand auf die Schulter. Er blickt verstört und verwirrt auf, dann öffnet der erste Mann einen großen schwarzen Regenschirm, und zu dritt hasten sie durch den nassen Garten zum Tor, wo in einer Wolke aus Spritzwasser ein Polizeiwagen vorgefahren ist.

42 Lull

Es ist das Spiel mit dem guten und dem bösen Bullen. Man befindet sich in einem Verhörzimmer. Es könnte auch eine Gefängniszelle sein, ein Beichtstuhl oder eine Folterkammer. Es kommt nur darauf an, dass man nicht hört oder sieht, was draußen vor sich geht. Man weiß nur das, was die Polizisten einem sagen. Es gibt einen Komplizen in einem identischen Zimmer. Denn man ist eines Verbrechens angeklagt.

Also schleppt man einen in dieses grüne Verhörzimmer, in dem es nach Farbe und Desinfektionsmittel riecht. Sehen Sie Ihren Kumpel/Spießgesellen/Lebenspartner da drüben? Sobald das Band lief, hat er/sie alles ausgeplaudert und Sie verraten. Diese Entscheidung muss man treffen. Sie könnten die Wahrheit sagen. Es könnte aber auch ein Trick sein, damit man seinen Partner verpfeift. Man weiß es nicht, und die Polizisten werden es einem nicht sagen. Sie sind böse. Dann lassen sie einen schmoren und gönnen einem nicht einmal eine Tasse Kaffee.

Man muss die Sache folgendermaßen sehen. Man streitet alles ab, und auch der Kumpel/Spießgeselle/Lebenspartner streitet alles ab, und dann lässt man vielleicht beide laufen. Wegen unzureichender Beweise. Wenn beide gestehen, sind die Polizisten vielleicht gar nicht so böse, weil Polizisten nichts mehr hassen als Papierkram und man ihnen soeben eine Menge davon erspart hat, so dass sie auf Haftverschonung drängen. Oder man streitet alles ab, und der/die in der anderen Zelle verrät einen. Kumpel kommt frei, und alles bleibt an einem selber hängen. Wie soll man sich entscheiden? Man ist auf die Antwort gekommen, bevor ihre Schritte das andere Ende des Korridors erreicht haben. Man hämmert gegen die Tür. He, he, kommen Sie zurück! Ich will Ihnen alles sagen!

Das Spiel heißt Gefangenendilemma. Es macht nicht so viel Spaß wie Blackjack oder Dungeons and Dragons, aber es ist ein Werkzeug, das KL-Forscher benutzen, um komplexe Systeme zu untersuchen. Wenn man es lange genug spielt, kommen alle möglichen menschlichen Wahrheiten ans Licht. Langfristig gut, kurzfristig böse. Behandle sie, wie du behandelt werden möchtest, und wenn nicht, behandle sie so, wie sie dich behandeln. Thomas Lull hat vielleicht eine Million Mal Gefangenendilemma und jede Menge ähnlicher Spiele angewendet, die auf begrenzten Informationen basieren. Doch es ist ziemlich schwierig, sie in einer realen Situation umzusetzen.

Das Zimmer ist grün und riecht nach Desinfektionsmittel. Außerdem müffelt es nach Schimmel, altem Urin, heißem Ghee und Feuchtigkeit von den Hemden der nassgeregneten Polizisten. Es sind keine guten Bullen, es sind auch keine bösen Bullen, es sind einfach nur Polizisten, die lieber Feierabend machen und nach Hause zu ihren Frauen und Kindern gehen würden. Einer schaukelt ständig auf seinem Stuhl vor und zurück und sieht Thomas Lull mit hochgezogenen Augenbrauen an, als würde er auf eine Epiphanie warten. Der andere überprüft immer wieder seine Fingernägel und macht irgendetwas Unangenehmes mit dem Mund, das Thomas Lull an alte Filme mit Tom Hanks erinnert.

Tu, was du tun musst, Lull. Sei nicht gerissen, sei nicht cool. Sieh zu, dass du hier wieder rauskommst. Er spürt eine zunehmende Enge im Brustkorb.

»Hören Sie, ich habe es schon den Soldaten gesagt. Ich bin mit ihr auf Reisen, sie hat Verwandte in Varanasi.«

Stuhlschaukler beugt sich vor und kritzelt etwas auf Hindi auf einen Notizblock. Der Stimmrecorder funktioniert nicht. Sagen sie. Tom Hanks macht wieder das mit dem Mund. Langsam geht es Thomas Lull richtig auf die Nerven. Auch das könnte ein Teil des Spiels sein.

»Damit mögen sich Jawans aus der Provinz zufriedengeben, aber wir sind hier in Varanasi, Sir.«

»Ich verstehe nicht, was zum Teufel hier los ist.«

»Es ist recht einfach, Sir. Ihre Kollegin hat eine Anfrage an die Nationale DNS-Datenbank gestellt. Ein routinemäßiger Sicherheitsscan offenbarte gewisse ... anomale Strukturen in ihrem Schädel. Sie wurde von der Sicherheit festgenommen und in unsere Obhut überstellt.«

»Sie reden ständig von diesen anomalen Strukturen. Was heißt das? Was sind das für anomale Strukturen?«

Tom Hanks betrachtet wieder seine Nägel. Sein Mund verzieht sich zu einem unglücklichen Ausdruck. »Das ist inzwischen eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, Sir.«

»Das hier ist verdammt Franz Kafka. Das ist es!«

Tom Hanks blickt sich zu Stuhlschaukler um, der den Namen notiert.

»Das ist ein tschechischer Schriftsteller«, sagt Thomas Lull. »Er ist schon seit hundert Jahren tot. Ich habe nur versucht, ironisch zu sein.«

»Sir, bitte verzichten Sie auf Ironie. Wir haben es mit einem sehr ernsten Problem zu tun.«

Stuhlschaukler streicht bedächtig den Namen durch und schaukelt zurück, um Thomas Lull aus einer weiteren Perspektive zu mustern. Die Hitze im fensterlosen Zimmer ist unglaublich. Der Geruch nach feuchten Polizisten ist überwältigend.

»Was wissen Sie über diese Frau?«

»Ich habe sie bei einer Strandparty in Thekkady in Kerala kennengelernt. Ich habe ihr bei einem Asthmaanfall geholfen. Ich mochte sie, sie wollte nach Norden reisen, ich habe sie begleitet.«

Tom Hanks blättert eine Seite im Aktenordner auf dem Schreibtisch um und gibt vor, einen Textabschnitt zu lesen.

»Sir, sie hat eine Einheit Aufstandsbekämpfungsroboter mit einer Handbewegung aufgehalten.«

»Ist das ein Verbrechen?«

Stuhlschaukler schießt nach vorn. Die Stuhlbeine scharren über den von Schuhen polierten Betonboden.

»Awadhi-Luftkampfdivisionen haben soeben den Kunda-Khadar-Damm besetzt. Die gesamte Garnison hat kapituliert. Auch wenn es vielleicht kein Verbrechen ist, müssen Sie zugeben, dass der Zufall ... außergewöhnlich ist.«

»Das ist ein verdammter Witz. Glauben Sie etwa, sie hätte irgendetwas damit zu tun?«

»Ich mache keine Witze, wenn es um die Sicherheit meines Landes geht«, sagt Tom Hanks. »Ich weiß nur, was in diesem Bericht steht und dass Ihre Reisegefährtin Alarm ausgelöst hat, als sie versuchte, auf die Nationale DNS-Datenbank zuzugreifen.«

»Ich muss mehr über diese Anomalien wissen.«

Tom Hanks wirft Stuhlschaukler einen Blick zu.

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Sie sind Professor Thomas Lull.«

»Meinen Sie nicht, dass ich viel besser geeignet wäre als Sie, eine Hypothese über diese Sache abzugeben? Wenn ich wüsste, worum es geht.«

Stuhlschaukler konferiert in kurzem, abgehacktem Hindi mit Tom Hanks. Thomas Lull kann nicht sagen, wer von beiden der Ranghöhere ist.

»Nun gut, Sir. Wie Sie wissen, befinden wir uns in erhöhter Alarmbereitschaft, weil wir ein Problem mit unserem Nachbarn Awadh haben. Also ist es nur logisch, dass wir versuchen, uns vor einem Cyberkrieg zu schützen. Deshalb haben wir an wichtigen Positionen Scanner installiert, um langsame Drohnen, Infiltratoren, Agenten und dergleichen aufzuspüren. Identitätsdiebstahl ist ein bekanntes Werkzeug für Undercover-Agenten, also wurde auch das Archiv routinemäßig mit Überwachungseinrichtungen ausgestattet. Die Scanner im DNS-Archiv registrierten im Schädel dieser Frau Strukturen, die Proteinschaltkreisen ähnlich sind.«

Inzwischen kann Thomas Lull nicht mehr unterscheiden, was Spiel ist, was real ist und was über beides hinausgeht. Er denkt an den Schock, mit dem Kij im Zug reagiert hat, als er sie mit den Lügen konfrontierte, aus denen ihr Leben bestand. Sie hat ihm diesen Schock zehnfach heimgezahlt.

Tom Hanks schiebt Thomas Lull einen Palmer über den Tisch zu. Er will es nicht sehen, er will nichts von den fremdartigen Dingen in Kijs Kopf wissen, aber er zieht das Gerät näher heran. Es zeigt ein Falschfarben-Pseudoröntgenbild, das aus Infraschall-Scans zusammengesetzt wurde. Ihr hübscher Schädel ist hellblau. Die Augenhöhlen, die verschlungenen Fasern des Sehnervs, die geisterhaften Kanäle der Nebenhöhlen und die Blutgefäße sind grau vor grauerem Hintergrund dargestellt. Kij ist ein Geist ihrer selbst, und ihr Gehirn ist am gespenstischsten. Irgendwo im Netz aus Nervenfasern spukt ihr Intellekt herum. Und es gibt einen Geist innerhalb des Geistes, Linien und Elemente aus Nanoschaltkreisen, die sich durch ihren Schädel winden. Die Tilaka ist ein schwarzes Gateway in der Stirn wie die Darwaz einer Moschee. Davon ausgehend ziehen sich Ketten und Netze aus Proteinleitungen durch den Frontallappen und die Zentralfurche bis in den Parietallappen, Verzweigungen reichen in den Balken, schmiegen sich eng um das limbische System, tauchen tief in das Rückenmark, während Wicklungen aus Proteinprozessoren den Okzipitallappen umschließen. Kijs Gehirn ist von Schaltkreisen durchdrungen.

»Kalki«, flüstert er. Dann wird das Zimmer schwarz. Völlige Lichtlosigkeit. Keine Beleuchtung, kein Notstrom, nichts. Thomas Lull tastet nach seinem Palmer und zieht ihn aus der Tasche. Im Korridor rufen Stimmen auf Hindi, immer eindringlicher.

»Professor Lull Professor Lull, nicht bewegen!« Tom Hanks’ Tonfall ist verärgert und verängstigt. »Zu Ihrer eigenen Sicherheit befehle ich Ihnen zu bleiben, wo Sie sind, während ich nachsehe, was geschehen ist.«

Die Stimmen im Korridor werden lauter. Ein Kratzen, ein Blitz, Stuhlschaukler hat ein Streichholz entzündet. Drei Gesichter in einer Blase aus Licht, dann wieder Dunkelheit. Thomas Lull bewegt sich schnell. Seine Finger spüren den Schlitz für den Speicherchip am Polizei-Palmer und schieben ihn auf. Ein Kratzen, er reißt die Hände zurück, dann wird es wieder hell. Tom Hanks ist an der Tür. Das Stimmengewirr wird zeitweise unterbrochen, Rufe und Antworten gehen hin und her. Als das Streichholz abgebrannt ist, glaubt Thomas Lull eine fluktuierende Linie aus Licht unter der Tür zu sehen, der zuckende Schein einer Taschenlampe. Er löst den Speicherchip. Ein weiteres Streichholz flammt auf. Jetzt ist die Tür offen, und Tom Hanks unterhält sich mit einem unsichtbaren Polizisten draußen im Korridor.

»Was ist los? Wird Varanasi angegriffen?«, ruft Thomas Lull. Alles, was die Verunsicherung verstärken könnte. Das Streichholz erlischt. Thomas Lull zieht den Speicherchip aus seinem Palmer. Ein paar geschickte Handbewegungen, und er hat beide ausgetauscht.

Er hat bei diesem Blick ins Innere von Kij weitere Phantome entdeckt, Phantome, die seinen Verdacht bestätigen könnten, was man mit ihr gemacht hat und warum.

»Ihre Freundin ist entkommen«, sagt Tom Hanks und richtet einen Taschenlampenstrahl auf Thomas Lulls Gesicht. Im Halbdunkel schließen seine Hände die Schlitze.

»Wie hat sie das geschafft?«, fragt Thomas Lull.

»Ich hatte gehofft, Sie könnten es mir erklären.«

»Ich war die ganze Zeit hier bei Ihnen.«

»Sämtliche Systeme sind ausgefallen«, sagt Tom Hanks. Sein Mund arbeitet in Doppelschichten. »Wir wissen nicht, wie weit der Stromausfall reicht. Es betrifft mindestens diesen Stadtteil.«

»Und sie ist einfach hinausspaziert?«

»Ja«, sagt der Polizist. »Sie werden sicher verstehen, dass wir Sie für weitere Befragungen hierbehalten müssen.« Ein Schwall Hindi in Richtung Stuhlschaukler, der aufsteht und die Tür schließt. Thomas Lull hört, wie ein Riegel alter Schule vorgeschoben wird.

»He!«, ruft er in die Finsternis. Gedanken eines Mannes mittleren Alters in einem dunklen Verhörzimmer der Polizei. Seine Vermutungen, seine Berechnungen, seine Spekulationen schwellen zu raumfüllenden Ausmaßen an, zu Riesen aus Panik und Schock, die ihn bedrängen, die ihm die Luft aus den Lungen drücken. Die Nase zum Atmen, den Mund zum Sprechen. Den Geist für düstere Vorstellungen. Kalki. Sie ist Kalki, der letzte Avatar. Alles, was er braucht, ist der Beweis, der sich in die Scanneraufnahme eingebrannt hat.

Nach einer zeitlosen Zeitspanne, die nach der Uhr an der Wand nur zehn Minuten beträgt, geht das Licht wieder an. Die Tür öffnet sich, und Tom Hanks tritt zurück, um einen Schwarzen in nassem Regenmantel eintreten zu lassen, der sofort seine Nationalität und Tätigkeit angibt.

»Professor Thomas Lull?«

Lull nickt.

»Ich bin Peter Paul Rhodes vom Konsulat der Vereinigten Staaten. Bitte kommen Sie mit.«

Er streckt eine Hand aus. Thomas Lull greift zögernd danach.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Sir, aufgrund Ihres diplomatischen Status für das Außenministerium wurden Sie auf Befehl des Justizministeriums von Bharat meiner Obhut überantwortet.«

»Außenministerium?« Thomas Lull ist sich bewusst, wie dämlich er klingt, dumm wie ein erwischter Taschendieb. »Senator Joe O’Malley weiß, dass ich mich in einer Polizeiwache in Bharat aufhalte, und wünscht, dass ich freigelassen werde?«

»Korrekt. Man wird Ihnen alles erklären. Bitte folgen Sie mir jetzt.«

Thomas Lull nimmt die Hand und schiebt gleichzeitig seinen Palmer in die Tasche. Tom Hanks führt sie durch den Korridor. In der Eingangshalle halten sich mehrere Polizisten und eine Frau auf. Sie erhebt sich von der Holzbank, auf der sie gesessen hat. Zu ihren Füßen hat sich eine Pfütze aus Regenwasser gebildet. Ihre Kleidung ist nass, ihr Haar ist nass, ihr Gesicht schimmert feucht und ist schmaler und älter, aber er erkennt sie sofort wieder, was den Wahnsinn der Situation keineswegs verringert.

»L. Durnau?«

43 Thal, Najia

Achteinhalbtausend Rupien genügen, um den Chowkidar zu bestechen. Er zählt die Scheine mit knochigen Fingern ab, während Najia Askarzadah im gläsernen und marmornen Foyer von Indiapendent tropft. Dann zieht er seine Masterkarte durch und namastiert sie durch die Hälften der Glastür.

»Ich habe nie daran geglaubt, dass du es bist, Thalji«, ruft Pande, der Wachmann, ihnen hinterher, während er Najias Geld zusammenfaltet und in die Brusttasche seiner Jacke steckt. »Heutzutage können wir mit Bildern alles machen.«

»Man hat auf mich geschossen«, ruft Thal zurück, als sie zu den Aufzügen gehen.

Es ist nie wie in den Filmen, denkt Najia Askarzadah, als der Glaslift gleich einer Perle aus Licht herunterfährt. Eigentlich hätten sie sich mit Beva-Feuerkraft und Hikicks vorkämpfen müssen, sich im Sprung drehen, mit Martial-Arts-Action in Zeitlupe. Die coole Heldin hätte nicht ihre Eltern in Schweden anrufen müssen, um sie zu bitten, ihr das Bestechungsgeld zu überweisen. Die einzige Action, die Najia gesehen hat, war der Moment, als Pande das dicke Bündel Geldscheine durchblätterte. Trotzdem ist es eine seltsame kleine Konspiration, aber eher Bolly- als Hollywood.

Über die gläsernen Wände des Metasoap-Flügels strömt der Regen. Er hat eingesetzt, als das Taxi, das sie für den ganzen Tag gemietet haben, vor Indiapendent Productions eintraf. Der Parkplatz war eine Basti aus Hütten, die man mit Ziegelsteinen und Pappe errichtet hat, und Gruppen aus unerschütterlichen Soapi-Fans, die sich unter Plastikfolie zusammenkauerten.

»Sie kommen jedes Mal zu einer Hochzeit hierher«, erklärte Thal. »Es ist wie eine Religion. Lal Darfan liefert zuverlässig. Die PR sagt, ihm würden zwanzig Wundergeburten zugeschrieben.«

Thal eilt mit Najia an den Arbeitskabinen aus dunklem Holz vorbei bis zur letzten Workstation. Ys zieht zwei Stühle heran, loggt sich ein — »Anders geht es nicht, Baba« —, öffnet den Rundumbildschirm und katapultiert sie nach Brahmpur, der titelgebenden Stadt aus Indiapendents erfolgreichster Soapi.

Thal schleudert Najia durch die Straßen und Galis, die Ghats und Einkaufszentren dieser virtuellen Stadt. Najia wird schwindlig. Die Szenerie ist detailliert ausgearbeitet, bis hin zu den Reklameschildern und den wimmelnden Phatphats. In Brahmpur ist genauso Nacht wie in Varanasi, und es regnet. Der Monsun hat auch diese imaginäre Stadt erreicht. Najia ist viel zu stolz, um sich jemals eine komplette Episode von Stadt und Land angesehen zu haben, aber selbst als Neo erkennt sie, dass es ganze Stadtviertel gibt, die nie von der aktuellen Handlung benutzt werden. Dennoch hat man die Illusion liebevoll aufgebaut und verwendet Exabytes Prozessorleistung darauf, einfach nur, um den Rest zusammenzuhalten. Thal hebt die Hände, und ihr Djinn-Flug wird schlagartig vor einem baufälligen Haveli am Flussufer gestoppt. Najia hat das Gefühl, sie könnte den zerbröckelnden Putz berühren. Eine Mudra, und sie dringen durch die Wand in den großen Hauptsaal des Nadiadwala-Haveli ein.

»Wow«, sagt Najia Askarzadah. Sie kann die Risse im Bezug der niedrigen Ledersofas sehen.

»Oh, das ist gar nicht das reale Brahmpur«, erklärt Thal. Eine weitere elegante Geste, und alles wird verschwommen in der Zeit vorgespult. »Das heißt, das Ensemble glaubt es, aber wir nennen das hier Brahmpur B. Das ist die Metastadt, in der die Metasoap stattfindet. Ich spule uns nur bis zur Chawla-Nadiadwala-Hochzeit vor. Haben Sie das Video bereit?«

Aber Najia ist völlig benommen von den huschenden Geistern der künftigen Handlung in diesem stillen Raum. Tag und Nacht wechseln sich flackernd ab. Thal öffnet die Hand wie eine Klaue, dreht sie, und die Zeit verlangsamt sich zu einem Tuckern von Hell und Dunkel. Jetzt kann sie die Personen erkennen, die durch den eleganten, kühlen Marmorsaal sausen. Thal bremst den Zeitablauf weiter ab, und plötzlich strahlt der Saal von farbigen Wandbehängen. Thal drückt die offene Handfläche gegen die Luft, und die Zeit bleibt stehen.

»Hier, hier.« Thal schnippt ungeduldig mit den Fingern. Najia reicht ys ihren Palmer. Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, transferiert ys die Daten. Ein Loch öffnet sich mitten im Raum und wird von N. K. Jivanjee ausgefüllt. Mit dosierten Fingerbewegungen holt Thal das Bild weiter nach vorn, bis es sich gut in den Hintergrund einfügt. Dann zieht ys einen Rahmen um die mit Stoffen behangene Wand, löst ihn aus N. K. Jivanjees Welt und wirft ihn ins falsche Brahmpur. Selbst Najia Askarzadah kann sehen, wie gut das Bild hineinpasst.

»Das hier befindet sich etwa sechs Monate in der Zukunft der Metasoap«, sagt Thal, während ys die Perspektive durch den Raum wandern lässt, um die erstarrten Hochzeitsgäste in ihrer Couture und die Chati-Mag-Reporter der Realwelt herum, die ihre beste fein texturierte Garderobe angelegt haben und auf die Ankunft des falschen Bräutigams auf seinem weißen Pferd warten. »Sie existieren in mehreren Zeitfenstern gleichzeitig.«

Najia erinnert sich an Lal Darfans phantastischen Pavillon, der in Form eines fliegenden Elefanten über dem Himalaya dahintrieb. Kann irgendwer von uns dem trauen, woran wir uns zu erinnern glauben?, hatte er gefragt. Sie hatte gedacht, mit einem Kaih-Schauspieler über Sophistereien zu diskutieren, aber Thals Spiel ist wesentlich ausgeklügelter — das Meta-Meta-Spiel. Najia erinnert sich an ein altes Kindermärchen, das eine Babysitterin ihr in einer Mittwinternacht erzählte, eine gefährliche Geschichte, beunruhigend, wie es nur ein wahrlich magisches Märchen sein kann. Es ging darum, dass die Märchenwelten wie Babuschka-Puppen ineinander verschachtelt sind, aber jede Welt ist größer als die, die sie umschließt, bis man sich im Mittelpunkt durch eine Tür zwängen muss, die kleiner als ein Senfkorn ist, aber ganze Universen enthält.

»Wir haben die Drehbücher bis etwa acht Monate weiter recht detailliert ausgearbeitet. Das Wetter ist noch nicht dabei. Eine Sub-Kaih sagt es für die nächsten vierundzwanzig Stunden voraus und legt es dann über die Szenen. Wenn das Skript schließlich die Realzeit erreicht, ist die Erinnerung fixiert, und sie wissen nicht mehr, dass es jemals anders war. Eine andere Kaih kümmert sich um die Nachrichten, den Gupshup und die Sportergebnisse und solche Sachen. Die Hauptfiguren sind zeitlich viel weiter als die kleineren Rollen, so dass wir in mehreren Zeitdimensionen gleichzeitig arbeiten. Genau genommen sind es Zeitvektoren, die sich immer weiter von unserem entfernen.«

»Das klingt verrückt.«

»Ich mag es verrückt. Aber der Punkt ist, dass niemand außerhalb von Indiapendent Zugriff auf das hier hat.«

»Satnam?«

Thal runzelt die Stirn.

»Ich weiß nicht, ob er das System bedienen könnte. Okay, einen Moment. Wir gehen auf vollen Prop. Ich hoeke Sie ein, hier.«

Thal legt sys eigenen Hoek aus intelligentem Kunststoff an, der sich warm an die Krümmung sys Schädels schmiegt. Dann stattet ys Najia mit dem zweiten Gerät aus. Sys Finger sind sehr geschickt und sehr zart und sehr weich. Würde sie nicht gerade ein gesichertes System zusammen mit dem meistgesuchten Neut knacken, das vielleicht soeben die Regierung gestürzt hat und das sie noch am Morgen dieses Tages vor einem Bahnhofsattentäter gerettet hat, würde sie vielleicht schnurren.

»Ich steige jetzt in die Registrierungsebene ein. Es könnte für Sie etwas verwirrend werden.«

Najia Askarzadah wäre mit ihrem Stuhl fast rückwärts umgekippt. Sie wird mitten in eine riesige Sphäre geworfen, die aus kodierten Registrierungsdaten besteht, die den dunklen Raum und die Krümmung des Flüssigkeitsbildschirms und den Regen überlagern, der am dicken blauen Glas hinunterströmt. Sie befindet sich im Zentrum einer Galaxie aus Daten. Ganz gleich, in welche Richtung sie blickt, überall wandern Kodes an ihr vorbei. Thal dreht die Hand, und die Sphäre rotiert. Adresszeilen verwischen durch die Datenverschiebung in Najias Sichtfeld. Erneut wird ihr schwindlig, und sie muss sich an ihrem Stuhl festhalten.

»Oh Mann!«

»Sie werden sich daran gewöhnen. Wenn jemand meine schöne Hochzeit besucht hat, muss er Spuren in den Registrierungsdaten hinterlassen haben. Danach suche ich jetzt. Die jüngsten Einträge befinden sich im Zentrum, die älteren werden immer weiter nach außen abgedrängt. Aha.« Thal zeigt auf etwas. Verwischte Kodes wie Sterne während einer Warpphase. Najia Askarzadah ist davon überzeugt, dass sie den Datenwind im Haar spürt. Sie fällt aus dem Cyberraumflug und hängt antriebslos vor einem grünen Kode-Fragment. Die Sphäre aus leuchtenden Dateiadressen wirkt unverändert. Überall ist Zentrum, nirgendwo Peripherie. Wie im Universum. Thal nimmt sich den Kode vor.

»Das ist wirklich verrückt.«

»Sie mögen es doch verrückt, oder?«, fragt Najia.

»In diesem Fall nicht. Jemand war in meinen Designdateien, aber es ist ein Kode, den ich nicht kenne. Es sieht nicht danach aus, als wäre er von außen gekommen.«

»Vielleicht greift ein anderes Programm auf Ihre Dateien zu.«

»Es ist wahrscheinlicher, dass die Schauspieler ihre eigenen Drehbücher umschreiben. Ich gehe jetzt rein. Wenn Ihnen schwindlig wird, schließen Sie die Augen.«

Sie tut es nicht, und ihr Magen macht Loopings, während das Universum aus langsam dahintreibenden Kodes ruckt und rotiert und zoomt und warpt. Thal vollführt Hypersprünge von einer Kodegruppe zur nächsten. »Das ist sehr, sehr seltsam. Es ist wirklich ein Inside-Job, aber es war niemand aus dem Ensemble. Sehen Sie, hier?« Thal sammelt mehrere Kodes ein und breitet sie auf einem räumlichen Gitter aus. »Diese Bits hier sind völlig normal. Um Speicherplatz zu sparen, sind viele Kaih-Schauspieler geringerer Stufe als Sub-Applikation einer Kaih höherer Stufe angelegt. Anita Mahapatra enthält außerdem Narinder Rao, Mrs. Devgan und die Begum Vora, und sie wiederum enthalten vielleicht fünfzig Redshirts.«

»Redshirts?«

»Entbehrliche Statisten. Ich glaube, das ist ein amerikanischer Begriff. Das hier ist eine Liste aller Zugriffe auf das Set-Design-System in letzter Zeit. Sehen Sie? Jemand war in den vergangenen achtzehn Monaten regelmäßig in meinen Designdateien. Aber das richtig Verrückte daran ist, dass alle diese normalen Kode-Abschnitte auf einen Schauspieler noch höherer Stufe deuten, einen, der Lal Darfan und Aparna Chawla und Ajay Nadiadwala enthält. Es ist, als würde hier drinnen noch etwas anderes ablaufen, das wir nicht sehen können, weil es zu groß ist.«

Im cremefarbenen Haus am Wasser gab es einen Atlas in der Größe eines Kleinkinds. In den Winternächten, wenn die Wasserleitungen gefroren waren, wuchtete Najia im Alter von acht Jahren das Ding vom Regal herunter, öffnete es auf dem Boden und verlor sich in anderen Klimazonen. Bei einem Spiel mit ihren Eltern ging es darum, dass man einen Begriff aus einer Landkarte heraussuchte und dann möglichst schnell den Finger darauf legte. Sie hatte früh festgestellt, dass man am leichtesten gewinnen konnte, wenn man sich auf die großen und offensichtlichen Bezeichnungen konzentrierte. Das Auge, das die Städte und Dörfer und Bahnhöfe von Mato Grosso absuchte, übersah den Namen BRASILIEN, der sich in blassgrauen Lettern von der Größe ihres Daumens über die Landkarte zog. Die Buchstaben versteckten sich ganz offen zwischen dem Kleingedruckten.

Najia blinzelt sich aus Thals Spiraltanz der Kodes und Dateiadressen zurück in die dunkle Arbeitskabine. Sie ist in einem Würfel aus Regen gefangen. Ein Masterskript, das sich selbst geschrieben hat? Eine Soap Opera wie Indiens sieben Millionen Götter, Avatare und Emanationen, die durch die Ebenen der Göttlichkeit von Brahma herabsteigen, dem Absoluten, dem Einen?

Dann sieht sie, wie sich Thal vom Computer wegschiebt, den Mund furchtsam geöffnet, eine Hand erhoben, um den bösen Blick abzuwehren. In der gleichen Perspektive sieht sie Pande mit seinem gelben Turban, der völlig aufgelöst in die Abteilung stürzt.

Thal: »Das ist unmöglich ...«

Pande: »Sir Madam, Sir Madam, kommen Sie schnell kommen Sie schnell, die Premierministerin ...«

Dann geht Najia Askarzadahs Hoek mit einem Blitz auf vollen Prop, und sie wird von Thal und Pande und von Indiapendent im Monsun fortgerissen, zu einem hellen, hohen Ort, zu einer mit Seide drapierten Aussicht zwischen den Wolken. Sie weiß, wo sie ist. Sie ist schon einmal hierhergerufen worden. Es ist der fliegende Elefantenpavillon von Lal Darfan, der parallel zu den Gipfeln des Himalaya dahintreibt. Doch der Mann auf dem mit Kissen gepolsterten Thron vor ihr ist nicht Lal Darfan. Sondern N. K. Jivanjee.

44 Shiv

Yogendra steuert das Boot hinaus in den Strom der brennenden Diyas. Monsunwinde wühlen den Ganges auf, aber die Näpfchen aus Mangoblättern tanzen weiter auf dem unruhigen Wasser. Shiv sitzt mit gekreuzten Beinen unter der Plastikplane, klammert sich an der Bordwand fest und versucht das Gleichgewicht auszuloten. Er betet, dass er nicht kotzen muss. Er blickt sich zu Yogendra um, der im Heck kauert, die Hand ruhig an der Pinne des Alkospritmotors, während seine Augen den Fluss lesen. Seine Haut ist von Regenperlen überzogen, die ihm von den Haaren ins Gesicht rinnen, seine Kleidung klebt an ihm. Shiv denkt an Ratten, die er schwimmend in offenen Kloaken am Straßenrand gesehen hat. Doch die um Yogendras Hals verknoteten Perlen leuchten.

»Pumpen, pumpen«, befiehlt Yogendra. Shiv beugt sich zur kleinen Lenzpumpe. Schneller, als die Handpumpe abpumpen kann, füllt der Regen das Boot, ein handliches, kleines amerikanisches Wildwasserboot mit Ikonographie des Pazifischen Nordwestens auf dem Bug, obwohl Shiv ein Auge des Shiva lieber gewesen wäre. Das ist keine Arithmetik, die Shiv allzu genau betrachten möchte. Er kann nicht schwimmen. Für einen Raja beschränkt sich die Erfahrung mit Wasser darauf, sich im seichten Ende eines Pools mit Mädchen und Drinks auf schwimmenden Tabletts zu räkeln.

Hauptsache, das Boot bringt sie nach Chunar.

»Du wirst irgendwo hier landen.« Anand breitete die hochaufgelösten A4-Ausdrucke der Karte von der Region Chunar auf seinem Kaffeetisch aus. Kif-Kaffee köchelte auf dem Grill. Anand tippte mit dem Finger auf die Karte. »Die Stadt Chunar liegt etwa fünf Kilometer südlich. Ich nenne sie nur deshalb Stadt, um höflich der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sie an einer Brücke über den Ganges liegt. Chunar ist ein ländliches Drecksnest voller Kuhficker und Inzest. Das einzig Interessante ist das Fort. Hier, ich habe ein paar Ausdrucke.«

Anand verteilte Hochglanzbilder. Shiv blätterte durch die Fotos. Die Geschichte des Ganges war die Geschichte von Forts wie Chunar, in historischer Unvermeidlichkeit auf Landzungen und Bergkuppen errichtet, wo sich der Fluss krümmte — Macht, Dynastie, Intrigen, Gefangenschaft, Belagerung, Angriff. Und nun ein letzter Angriff. Er verweilte bei der Innenstadt, zerfallene Raj-Moghul-Architektur, überdeckt von ausgreifenden Vordächern aus Carbonit, weiß wie Salz in der Sonne. »Ramanandacharya ist ein protziger Chuutya, aber nur er macht was los in der Stadt. Neben dem Sundarban gehört ihm ein Callcenter. Du solltest in sein System eindringen und nachsehen, was er getrieben hat; wenn du seine schwarze Kredit-Liste hacken willst, werden sie den Kode für dich knacken, während du wartest. Jeder Adivasi ist seinem Häuptling treu ergeben. Du gehst rein, erledigst deine Sache, gehst raus und wartest nicht auf Danksagungen oder Küsschen. Jetzt zu den Verteidigungseinrichtungen von Chunar Fort.«

Flugzeuge hämmern so laut und niedrig am Himmel, dass Shiv den Kopf einzieht. Yogendra steht im Bug, dreht sich, um ihren Lichtern nachzuschauen, vier Senkrechtstarter in enger Formation. Shiv sieht das Licht der Stadt auf seinen Zähnen funkeln.

»Pumpen, pumpen!«

Er arbeitet an der knarrenden Handpumpe, schaut, wie sich das Wasser um die mit Plastik versiegelten Pakete sammelt. Es wäre besser, das alberne, empfindliche Ding über Bord zu werfen und mit den Händen zu schöpfen. Amerikaner und ihre Maschinen. Für alles gibt es etwas. Begreift doch, dass Menschen besser und billiger sind! Ihr könnt sie bestrafen, und sie werden lernen.

Der Donner zieht westwärts. In seinem Gefolge verdoppelt der Regen sein Gewicht. Auf dem linken Ufer weichen die Gasfackeln der Aufbereitungsanlagen den schweren Sandsteinblöcken von Ramnagar Fort — unter der Flutlichtanlage ein beeindruckendes Täuschungswerk. Yogendra steuert das Boot unter die Pontonbrücke, die selbst während eines Wolkenbruchs ein Schwert aus Lärm ist. Shiv betrachtet Ramnagar; Terrassen und Pavillons steigen hinter dem roten Vorhang aus Wänden auf, mit den Füßen im Wasser. Bleib ruhig stehen, denkt Shiv. Warte nur, bis ich zurückkomme, bis ich deine Schwester flussaufwärts eingenommen habe, dann werden wir sehen, wie stolz und trotzig du dann mit deinen Mauern und Türmchen aussiehst. Eine wahre Aufgabe für einen Raja, die Einnahme einer Festung. Nicht durch Belagerung oder an der Spitze von tausend Elefanten, sondern durch Klugheit, durch Stil. Shiv Faraji, der Actionheld.

Nun nähert sich das schnelle, kleine Boot der neuen Brücke. Yogendra überprüft den Kanal mit stehendem Wasser und prescht hinein. Ein Lastwagen ist von der Straße abgekommen und im seichten Wasser versunken. Ein Hindernis aus dekorativem Metall, das kaum noch als Fahrzeug zu erkennen ist. Der Geruch von Alkosprit liegt über dem Fluss. Unter dem Gestank des Treibstoffs: Parfüm. Shiv reckt den Kopf, als er den ekeligen Geruch von Tagetes wahrnimmt. Geruch ist der Schlüssel der Erinnerung, ein schnelles Aufblitzen, wo er das schon mal gerochen hat: die dicken Reifen seines Mercedes, die Blütenblätter zerquetscht haben, als der Geländewagen hier das Ufer hochgefahren ist. Tagetes überdecken verwesendes Fleisch, der aufquellende Körper, den er in das Wasser des Ganges gleiten ließ, das Wasser, das er jetzt befährt. Er hat die Reise der Leiche nachverfolgt, fort vom Moksha.

»He!« Yogendra löst den Ohrhörer seines Palmers und hält ihn hoch, damit Shiv ihn sehen kann. »Radio Kashi.« Shiv dreht den Sender auf. Eilmeldung, Stimmen überschlagen sich, reden über Soldaten, Luftangriffe, Kampfmaschinen. Kunda Khadar. Die Awadhis haben Kunda Khadar eingenommen. Die Awadhis sind auf den heiligen Boden von Bharat vorgedrungen. Die Awadhis sind dabei, Allahabad einzunehmen, das heilige Allahabad der Kumbh Mela. Sajida Ranas Truppen fliehen vor ihnen wie Mäuse vor einem Stoppelbrand. Sajida Ranas gepriesene Jawans werfen ihre Waffen weg und heben die Hände. Sajida Ranas Plan hat Bharat ruiniert. Sajida Rana hat für Bharat versagt, hat Bharat beschämt, hat Bharat in die Knie gezwungen. Was wird Sajida Rana jetzt machen? Shiv schaltet das Radio aus.

»Was hat das mit uns zu tun?«, sagt er zu Yogendra. »Die Elefanten kämpfen, aber die Ratten kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten.« Der Junge wackelt mit dem Kopf und dreht den Motor auf. Das Boot hebt den Bug und schiebt sich durch die Regenmauer flussaufwärts.

»Das ist gute Ausrüstung. Nicht gerade Spitze, aber gut. Ich werd’s dir erklären. Das hier sind Plasma-Taser. Weißt du, wie die funktionieren? Das ist nicht schwer. Hier scharf machen, der gelbe Griff. Du zielst einfach und schießt. Du musst nicht einmal genau zielen, das ist das Schöne daran, und das macht sie zu deiner bevorzugten Waffe. Im Kanister ist genug Gas für zwölf Schüsse. Davon hast du fünf, das sollte reichen. Wirf sie nach Gebrauch einfach weg, dann sind sie leer. Sie können Maschinen zum Stehen bringen, aber am besten lassen sie sich gegen biologische Ziele verwenden. Unser Mann Ramanandacharya ist ein Tech-Head, und das ist seine tödliche Schwäche, aber er hat einen Sinn für fleischliche Gelüste wie Sex und Waffen. Er steht auf Frauen. Sehr. Er hat diese James-Bond-Macke, sagt Mukherjee jedenfalls. Ich meine, hast du die Burg gesehen? Ich weiß nicht, ob sie rote Catsuits tragen, aber möglicherweise musst du ein paar tasern, nur um ihnen eine Lektion zu erteilen, verstehst du? Und jeder Bauerntrampel ist sein treu ergebener Psycho-Sklave. Außerdem gibt es richtige Kerle mit Waffen und Martial Arts, behauptet Mukherjee, aber es gibt einen Weg, mit ihnen umzugehen, und zwar, indem du sie nicht zu nahe rankommen lässt. Glaubst du, dass die Frauen rote Catsuits tragen? Könntest du ein paar Fotos für mich machen? Taser für das Fleisch. Für die Maschinen brauchst du flächendeckende Waffen. Du brauchst diese süßen Dinger. EMP-Granaten. Die sind so was von cool! Als würde man Kerosin über Skorpione gießen. Pass nur auf, dass du nicht irgendwie eingehoekt bist, sonst wirst du taub, stumm, blind. Auch mit der Ware selbst vorsichtig sein. Ich muss es dir nicht sagen, aber damit werden alle Soft-Systeme gebraten. Nun zum Suddhavasa, wo sich seine Dekodierer befinden. Er hat einen alten Shiva-Tempel auf dem Gelände umgebaut — dort auf der Karte. Der Kode dürfte nicht sehr groß sein, vielleicht nur ein paar Gigs, aber ich empfehle dir, ihn nicht zu mailen. Das Ganze müsste auf einen Palmer passen. Sei nur vorsichtig mit den EMPs in der Umgebung des Tempels, klar? Du hast den Masterdateinamen und den Quanten-Schlüssel, also müsstest selbst du in der Lage sein, den Kode aus dem Suddhavasa rauszuschaffen. Ich weiß nicht, warum unser geliebter N. K. Jivanjee ihn haben will, aber wir stellen keine Fragen. Den Naths sowieso nicht.

Wieder rauszukommen — das ist immer ein bisschen heikel. Du musst es einfach nehmen, wie es gerade kommt. Das soll nicht heißen, dass es keinen Mega-Plan gibt. Das Wichtigste ist, dass du keine Zeit verlierst. Geh rein, leg sie lahm, hol dir das Ding, geh raus und lass keine Ablenkungen zu. Ablenkungen zerstören. Geh raus und halt für nichts und niemanden an, schon gar nicht wegen irgendeines Dorftrottels. Du hast genügend Ladungen in den Tasern; falls es so aussieht, als wären sie hinter dir her, leg ein zweites Minenfeld hinter dir an. Geh zum Boot, dann komm hierher zurück, und du bist ein freier Mann, Shiv Faraji, und ich werde dich preisen und dir als Gott und Freund meine Ehre erweisen. Woher ich das alles weiß? Was denkst du, was ich den ganzen Tag mache? Ballerspiele und massenhaft Filme gucken. Woher sonst kann man so etwas wissen?«

Nach anderthalb Stunden mühevoller Fahrt flussaufwärts schwächt sich der Monsun von einem Wolkenbruch zu einem steten Regen ab. Als sich das Tempo des Bootes verändert, blickt Shiv von seinem Palmer auf, mit dem er Commando Attack spielt. Es wäre eine Ironie der Ironie, wenn nach drei Jahren Dürre und einem Krieg um Wasser, der mitten in einem Wolkenbruch ausgekämpft wird, der rettende Monsun sich in einer einzigen Nacht ausregnen sollte.

Jenseits von Ramnagar ist der Fluss dunkler als die Dunkelheit. Yogendra steuert mit GPS und seinem Gefühl für Strömungen. Shiv hat knirschenden Sand unter dem Kiel des Bootes gespürt. Die Untiefen verändern sich und bilden sich schneller neu, als die Satelliten in zehntausend Kilometern Höhe es vermessen können. Das Boot schaukelt, und Yogendra reißt die Pinne scharf herum. Er stellt den Motor ab, holt ihn hoch. Das Boot läuft auf den Strand auf. Yogendra duckt sich unter dem Blätterdach hindurch und springt ans Ufer.

»Komm schon, komm schon.«

Der Ufersand ist weich, gibt nach und treibt mit der Strömung unter Shivs Füßen fort. Die Dunkelheit ist hier immens. Shiv erinnert sich daran, dass er nur ein paar Dutzend Kilometer von seinem Club und seinem Barmann entfernt ist. Ein Lichtbündel im Süden ist Chunar. In der gewaltigen Stille der ländlichen Nacht hört er den Verkehr auf dem Ponton und das stetige Tuckern der Wassergewinnungsanlagen stromabwärts. Schakale und Pariahunde jaulen in der Ferne. Shiv bewaffnet sich schnell. Er teilt sich die Taser mit Yogendra, behält aber den mit dem Notausschalter für sich. Hayman Danes Dateiname und Systemschlüssel sind auf dem Palmer, der Shiv um den Hals hängt.

In den von Dornenhecken umgebenen Dal-Feldern Chunars macht Shiv sich kampfbereit. Es ist Wahnsinn. Er wird hier zwischen diesen Feldern und Knochen sterben.

»Okay«, sagt er mit einem erschaudernden Seufzer. »Hol sie raus.«

Er und Yogendra schleppen zwei sperrige Rechtecke in Frischhaltefolie auf den Sand. Rippen und Spieren, Kurven und Ausbuchtungen zeichnen sich unter der Plastikhaut ab. Yogendra zückt ein langes Messer.

»Was ist das?«, will Shiv wissen.

Yogendra zeigt ihm das Messer, dreht es so, dass sich der Lichtglanz der fernen Stadt auf dem Stahl spiegelt. Es hat die Länge eines Unterarms, gezackt, mit einem Haken an der Spitze und Ringfassung. Er schneidet die Plastikhaut mit zwei schnellen Hieben auf. Er schiebt die Klinge zurück in das Lederholster an seinem Körper. In dem Kunststoff stehen zwei fabrikneue chromglänzende japanische Geländemotorräder, aufgetankt und fahrbereit. Sie springen sofort an. Shiv steigt auf. Yogendra geht ein paarmal um seins herum und schätzt ab, was drinsteckt. Dann nickt Shiv ihm zu. Sie drehen die in Yokohama gebauten Motoren auf und starten auf den regengetränkten Dal-Feldern durch.

45 Sarkhand Roundabout

Um elf Uhr dreißig bewegt sich das Gewirr aus Regenschirmen von der Veranda des Rana Bhavan auf den Mercedes zu, der auf dem kiesbestreuten Wendeplatz steht. Die Schirme sind weiß, ein unnatürlicher Farbton. Sie drängen sich wie eine Phalanx aneinander. Kein einziger Tropfen Wasser kommt durch. Jetzt ist der Regen sintflutartig, ein tosender Wolkenbruch, der von feuchtheißen Blitzen durchsetzt ist. Im Zentrum der Regenschirmkuppeln befindet sich Premierministerin Sajida Rana. Sie trägt einen weißen Seidensari, der mit Grün und Orange besetzt ist. An diesem Abend ist sie in einer äußerst ernsten Angelegenheit unterwegs. Es geht um die Verteidigung ihres Landes und ihrer Autorität. In ganz Varanasi fahren identische Mercedes von geschmackvollen Regierungsbungalows ab.

Die Schirme drücken sich gegen den Wagen wie Ferkel an die Zitzen einer schwarzen Sau. Sajida Rana schlüpft trocken und sicher auf den Rücksitz. Instinktiv rutscht sie auf die linke Seite. Shaheen Badoor Khan sollte rechts von ihr sitzen und ihr Analysen, Ratschläge und Einschätzungen vortragen. Sie fühlt sich allein, als die Türen verriegelt werden und der Wagen durch den Regen losfährt. Sie sieht aus wie das, was sie ist — eine Frau mittleren Alters, auf deren Schultern das Gewicht einer ganzen Nation lastet. Die Schirme lösen sich voneinander und hasten zurück in den Schutz der Veranda von Rana Bhavan.

Sajida Rana blättert die überstürzt zusammengestellten Unterlagen durch. Die Fakten sind spärlich und oberflächlich. Der Awadhi-Angriff war eine tadellose technische Leistung. Brillant. Unblutig. An Militärschulen wird man die Strategie in den nächsten Jahrzehnten unterrichten. Die Panzer und Artillerieeinheiten der Awadhis sind nur noch zwanzig Kilometer von Allahabad entfernt, die Flugabwehr und die Kommunikation wird kontinuierlich durch Kaih-Angriffe gestört, und das Verteidigungsbataillon befindet sich in Auflösung. Die Führung am Kunda-Khadar-Damm ist enthauptet, und man versucht verzweifelt, die Befehlswege zum Oberkommando der Division in Jaunpur wiederherzustellen. Und es regnet. Sajida Rana verliert einen Wasserkrieg im Regen. Aber er kommt zu spät. Ihr Volk kann während einer Sintflut verdursten.

Sie wussten es. Die Mistkerle hatten alles auf die Minute genau durchkalkuliert.

In ihrem weißen, goldenen und grünen Sari versucht Sajida Rana sich vorzustellen, welchen Geschmack die Worte einer Kapitulationserklärung auf ihrer Zunge haben werden. Fühlen sie sich aufgequollen, erstickend an? Oder trocken und säuerlich? Werden sie ihr so leicht fallen wie einem Muslim, der sich von seiner Frau scheidet? Talaaq talaaq talaaq.

Khan. Der treulose Muslim. Er hat sie betrogen, mit einem Ding. Während sie seine Worte, seine Einsichten, seine Gegenwart an ihrer Seite auf dem cremefarbenen Leder am dringendsten braucht. Wenn Jivanjee und seine Karsevaks wüssten, dass sie auf kuhfarbenem Leder sitzt ... Lassen Sie Jivanjee Ihre Arbeit machen, hatte Khan gesagt. Jetzt wird er mit seinem Streitwagen über ihre Knochen hinwegrollen. Nein. Sie ist eine Rana, die Tochter eines Staatengründers, der eine Dynastie errichtete. Sie ist Bharat. Sie wird kämpfen. Soll der Ganges vom Blut überfließen.

»Wohin fahren wir?«

»Der Verkehr, Ma’am«, sagt der Fahrer. Sajida Rana lehnt sich auf dem Polstersitz zurück und blickt durch die regenüberströmten Fenster. Neon- und Rücklichter, die bunten Diwali-Illuminationen der Laster. Sie drückt auf die Kommunikationstaste.

»Das ist nicht der übliche Weg zur Bharat Sabha.«

»Nein, Ma’am«, sagt der Fahrer und tritt das Gaspedal durch. Sajida Rana wird herumgewirbelt. Sie probiert den Türriegel, obwohl sie weiß, dass es unsinnig ist, nachdem sie das solide Klicken der Zentralverriegelung der deutschen Wertarbeit gehört hat. Sie öffnet ihren Palmer, ruft ihre Leibwache, während der Mercedes auf hundertzwanzig beschleunigt.

»Hier ist die Premierministerin, Notfallkode. Orten Sie mein GPS-Signal. Ich werde entführt, ich wiederhole, hier ist Sajida Rana, ich werde entführt.«

Himmelsrauschen. Dann meldet sich die Stimme ihres Sicherheitschefs.

»Premierministerin, das werde ich nicht tun. Niemand wird Ihnen helfen. Sie haben das heilige Bharat verraten, und Bharat wird Sie dafür bestrafen.«

Dann biegt der Mercedes auf den Sarkhand Roundabout, und das Geschrei beginnt.

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