DAS ERBE DER PHAETONEN

Die metallene Röhre

Das Raumschiff flog den Bergen entgegen. Dort mußte sich, wenn Konstantin Jewgenjewitsch Belopolski die „Zeichnungen“ der Venusbewohner richtig gedeutet hatte, der See befinden, für den sich die Expedition interessieren sollte. Die Venusianer anders zu verstehen war unmöglich. Sie hatten wiederholt eindeutig auf diesen See hingewiesen und ihre Gäste nachdrücklich „eingeladen“, ihn aufzusuchen. Was mochte es dort geben? In wenigen Stunden würde es sich herausstellen.

Endlich tauchte die Gebirgskette auf. Ihre Gipfel waren von einer dichten Wolkendecke verhüllt.

Das Raumschiff stieg bis zur unteren Grenze der Wolken empor. Von hier, aus einer Hohe von anderthalb Kilometern, war der See leichter zu entdecken, wenn er wirklich existierte.

„Da ist er!“ sagte Belopolski.

Hoch in den Bergen dehnte sich ein riesiger See, ähnlich dem Goktscha[7]. Er war fast kreisrund und hatte einen Durchmesser von etwa acht Kilometern. Und ebenso wie dem Goktscha die Sanga entströmte auch diesem See ein Fluß.

Beim Näherkommen stellten die Astronauten fest, daß die Ufer günstige Landeplätze besaßen. Im Osten und Süden war der See von Wald umgeben, davor aber lagen große Lichtungen, die, so weit man von oben sehen konnte, mit genau solchem gelbbraunen Gras bewachsen waren, wie sie es am Wehr vorgefunden hatten.

„Das ist prächtig“, sagte Belopolski. „Auf dem Wasser möchte ich nämlich nicht gern niedergehen.“ Melnikow nickte. Zum zweitenmal mußte er das schwierige und gefährliche Manöver vollführen, das riesige Raumschiff auf festem Boden zu landen. Angespannt starrte er auf den Bildschirm, ohne dabei die zahlreichen Instrumente auf dem Steuerpult außer acht zu lassen.

„Dort drüben!“ Belopolski bezeichnete die Richtung. „Da, wo der See eine kleine Bucht bildet, siehst du? Meiner Meinung nach ist das ein günstiger Landeplatz.“ Die Geschwindigkeit verringerte sich, das Raumschiff näherte sich immer mehr dem Boden.

„Eins!“ sagte Belopolski.

„Die ›Pfoten‹!“ Eine Sekunde, noch eine, und sie waren gelandet.

Wie schon beim erstenmal lief alles mit automatischer Präzision ab.

„Was mag uns hier erwarten!“ sagte Melnikow nachdenklich.

In der Bucht war es ruhig, aber draußen auf dem See riß der Wind an den Wellenkämmen und zerfetzte sie zu weißem Gischt, der im Feldstecher deutlich zu erkennen war. Etwa dreihundert Meter von ihnen entfernt begann der Wald, der aus Bäumen bestand, wie sie sie noch nicht gesehen hatten; sie waren kleiner als die an den Stromschnellen. Ungefähr einen Kilometer hinter ihnen ragten die Berge steil auf. Das Gras am Ufer war dicht und halbmannshoch.

Der sturmgepeitschte See, über dem niedrig die Wolken hingen, machte einen wilden und unfreundlichen Eindruck.

„Da unten war es irgendwie gemütlicher“, bemerkte Knjasew.

Eine von Melnikow und Korzewski durchgeführte Erkundung ergab, daß der Boden unter dem dichten Gras trocken und fest war.

„Konstantin Wassiljewitsch“, sagte Belopolski, „setzen Sie das Flugzeug zusammen. Wir müssen die Gegend von oben näher untersuchen.“

„Auch einen Hangar sollten wir wieder bauen“, antwortete Saizew. „Es ist Tag, da wird es tüchtig gewittern.“ Und wie zur Bestätigung seiner Worte zog eine mächtige Gewitterwolke über dem See herauf. Dieser Landeplatz lag höher, näher den Wolken als der erste, und infolgedessen war auch das Gewitter hier heftiger als in der Ebene.

Auf das erste Gewitter folgte ein zweites, dann ein drittes und ein viertes.

Zwei Tage lang konnten die Astronauten das Raumschiff nicht verlassen. Es war, als gäben sich sämtliche Gewitterfronten der Venus ein Stelldichein.

Endlich, am 6. August, klarte der Himmel etwas auf.

Belopolski entschloß sich, den Wald in Augenschein zu nehmen. An der Exkursion nahmen Korzewski und Wtorow teil.

Die Vermutung des Biologen, daß die Venusianer am Tage schliefen, war zwar offenbar richtig; dennoch wurde beschlossen, den größten Geländewagen zu benutzen. Nur der anscheinend dichte Wald stimmte die Männer bedenklich, da sie nicht wußten, ob es dort Schneisen gab und ob das große Fahrzeug überhaupt würde eindringen können.

Das Raupenfahrzeug wurde auf das Ufer hinabgelassen, und die drei Astronauten nahmen, gut ausgerüstet, darin Platz. Die sieben im Schiff Zurückbleibenden versammelten sich im Funkraum vor dem Bildschirm.

Die Gegend schien völlig unbewohnt zu sein, doch die Erfahrung lehrte, dem ersten Eindruck nicht zu trauen.

Das hohe gelbbraune Gras neigte sich unter dem Druck der Raupenketten. Hinter dem Fahrzeug richtete es sich jedoch gleich wieder auf, und nichts verriet, daß gerade ein Geländewagen von zweiunddreißig Tonnen darübergefahren war.

„Wieder ein Rätsel, wieder eine unbekannte Eigenschaft!“ sagte Korzewski. „Wie reich an Überraschungen doch die Natur der Venus ist.“ Die Bäume des Waldes waren bedeutend kleiner als diejenigen in der Ebene, und ihre Rinde war rauher. Aber die Stämme verwuchsen auch hier miteinander, bildeten regelrechte Bogengänge. Doch während im Tiefland kein Geländewagen in das Dickicht einzudringen vermochte, war das hier oben ziemlich leicht. Die Bäume standen nicht sehr dicht. Zwischen ihnen lagen überall Haufen gestürzter Stämme, wuchsen junge Schößlinge. Alles war von üppigem Gras überwuchert, genau solchem wie am Seeufer.

Langsam und vorsichtig drang der Geländewagen in den Wald ein; was ihm in den Weg kam, walzte er nieder, preßte es an den Boden und zerbrach es. Belopolski war bemüht, einen geraden Kurs zu halten. Das fiel nicht schwer, da die Zwischenräume zwischen den Baumstammen etwa fünfmal die Länge des Wagens betrugen.

Sie waren schon zweihundert Meter vom Ufer entfernt. Plötzlich blitzte vor ihnen etwas auf. Noch einmal! Ein Irrtum war ausgeschlossen — dieser charakteristische Glanz war ihnen zu gut bekannt.

Der Strahl des Scheinwerfers glitt über eine glatte, metallene Oberfläche.

Noch ein paar Meter, und eine halbrunde Wand versperrte ihnen den Weg. Eine riesige Röhre erstreckte sich nach beiden Seiten tief in den Wald.

Belopolski bremste.

Die drei im Geländewagen und die sieben vor dem Bildschirm im Funkraum trauten ihren Augen nicht. Die Venusianer konnten über keine metallurgische Industrie verfügen. Alles, was man von ihnen wußte, sprach dagegen. War dieses unwahrscheinliche Bild etwa nur ein Traum?

Die Röhre, deren Durchmesser annähernd vier Meter betrug, bestand aus einem unbekannten gelbgrauen Metall von mattem Glanz. Es schien noch ganz neu zu sein, denn es wies keinerlei Rostspuren auf.

Hatten sich die Zeichnungen der Venusianer auf dieses Gebilde bezogen? Hatten sie die Menschen hierher, zu dieser merkwürdigen Röhre eingeladen?

Was mochte sie darstellen?

Als die Astronauten das hölzerne Lineal in der Bucht der Koralleninsel gefunden hatten, war ihr erster Gedanke gewesen, ein Raumschiff habe der Venus einen Besuch abgestattet. Doch das Rätsel des Lineals hatte eine andere, einfachere und natürlichere Erklärung gefunden, und die erste Version war wieder fallengelassen worden.

Dann hatte Belopolski an der steinernen Schale der Venusianer Verzierungen entdeckt, die aus Körpern eines einfachen kubischen Systems bestanden und jenen im Talkessel der Arsena glichen. Und wieder tauchte der Gedanke an ein Raumschiff auf.

Und nun lag hier im Wald am Bergsee …

„Wir sind ganz an der Röhre entlanggefahren“, faßte Konstantin Jewgenjewitsch die Ergebnisse der Exkursion zusammen, „und haben uns davon überzeugt, daß sie die Form eines geschlossenen Ringes hat. Obgleich das Metall auf den ersten Blick ganz neu scheint, liegt die Ringröhre schon sehr lange hier.

Das beweisen mit aller Deutlichkeit die darüber zusammengewachsenen Bäume. Viele sind auch unter der Röhre hervorund dann um ihre Oberfläche herumgewachsen. Es läßt sich mit Sicherheit sagen, daß der ganze Wald erst nach dem Erscheinen dieser Röhre gewachsen ist. Stanislaw Kasimirowitsch meint, der Wald existiere schon tausend Jahre. Angenommen, die Venusianer hätten die Ringröhre gebaut, so würde das bedeuten, daß sie bereits vor tausend Jahren eine hochentwickelte Technik besaßen. Wäre dem wirklich so, müßte sich die Technik aber weiterentwickelt und heute einen ungeahnten Stand erreicht haben. Das ist nicht der Fall. Ergo ist die Röhre nicht von Venusianern gebaut worden. Von wem dann? Erinnern wir uns an die Steinschalen und an die Figuren auf der Arsena, die in irgendeinem Zusammenhang mit ihnen stehen. Es kann keinen Zweifel geben. Wir haben die Überreste eines Raumschiffes entdeckt, das vor undenklichen Zeiten auf der Venus gelandet ist.“

„Aber warum …?“ begann Toporkow.

„Sie haben recht, Igor Dmitrijewitsch! Es tauchen eine Reihe von Fragen auf. Warum ist das Raumschiff auf der Venus geblieben? Was ist aus seiner Besatzung geworden? Und vor allem: Woher kam es und wann?“

„Wenn aber die Röhre oder, wenn Sie wollen, das Raumschiff hier schon so lange liegt, warum sind dann keine Altersspuren daran zu sehen?’’ fragte Wtorow.

„Auch das ist noch ein Rätsel. Wahrscheinlich, weil das Raum-, schiff aus einem auf der Erde unbekannten, besonderen Metall besteht.“

„Wir müssen ins Innere eindringen“, sagte Melnikow.

„Wir haben nichts gefunden, was wie eine Tür aussah. Die Oberfläche der Röhre war überall glatt. Wir müßten allerdings noch die Innenseite des Ringes untersuchen. Damit möchte ich dich beauftragen“, fügte Belopolski hinzu.

„Wird gemacht“, antwortete Melnikow erfreut. „Wtorow und Knjasew werden mit mir fahren.“

„Sehr gut. Ich wollte sie gerade selbst vorschlagen.“

„Wann soll es losgehen?“

„Je eher, desto besser.“ Wie schon so oft wurde der Aufbruch durch ein Gewitter verzögert.

Doch die Astronauten waren schon so daran gewöhnt, daß sie sich nicht aus der Ruhe bringen ließen.

„Los geht’s!“ sagte Melnikow, sobald Toporkows Barometer wieder günstigeres Wetter anzeigte.

Knjasew steuerte, und Wtorow wies ihm die Richtung; bald hatte der Geländewagen die rätselhafte Röhre oder vielmehr das von einem unbekannten Planeten gekommene Raumschiff erreicht. Alle waren bereits überzeugt, daß es sich um ein solches handelte.

Mit einer Ausziehleiter versehen, verließen Melnikow und Wtorow den Wagen durch die Luftschleuse. Knjasew sollte im Fahrzeug auf sie warten. Sobald sich eine Gewitterfront näherte, sollte er ein Signal geben, so daß die beiden Kundschafter rechtzeitig zurückkehren konnten, bevor der Regen einsetzte.

Sich mit den Beinen im hohen Gras verheddernd, stellte Wtorow die Leiter an, und beide erklommen die Röhre.

Das Licht der aufwärts gerichteten Scheinwerfer spendete, vom Laub reflektiert, genügend Helligkeit. Auf der anderen Seite setzte sich der Wald fort. Von oben war deutlich zu sehen, daß sich die Röhre nach beiden Richtungen allmählich krümmte.

Der Durchmesser des Ringes betrug mindestens zweihundert Meter.

Wtorow entdeckte als erster einen zweiten Ring. Er lag fünf bis sechs Meter vom ersten entfernt und war genauso dick. Vielleicht gab es tiefer im Wald noch weitere Ringe. Das Raumschiff hatte offensichtlich eine ganz ungewöhnliche Form.

„Die Ringe müssen miteinander verbunden sein“, sagte Melnikow.

Vorsichtig gingen sie auf der glatten, schlüpfrigen Röhre vorwärts. Zwischen den Bäumen lavierend, folgte ihnen Knjasew mit dem Geländewagen, bemüht, sich nicht zu weit zu entfernen.

Die gesuchte Verbindung war bald entdeckt. Dem Aussehen nach schlanke Röhren aus demselben Metall, in Form eines Rhombus angeordnet, verbanden die beiden Ringe. Durch den Rhombus hindurch war ein riesiger Baum mit einem Stammumfang von drei Metern gewachsen. Das bewies aufs neue, wie lange die ungewöhnliche Konstruktion hier schon lag.

Etwa dreißig Schritt entfernt erblickten sie einen zweiten Rhombus. Und auch durch ihn ragte ein Baum auf. Im Laufe seines Wachstums hatte er das Metall beiseite gedrückt und den Rhombus verbogen.

„Solche Baumriesen sind Hunderte von Jahren alt“, sagte Melnikow nachdenklich.

„Ich bin furchtbar aufgeregt“, gestand Wtorow. „Diese Röhren … Wir marschieren so einfach auf ihnen hin und her. Wer hat diese Ringe gebaut? Wer ist damit zur Venus geflogen?

Hier, unter unseren Füßen schlummern großartige Geheimnisse.

Hoffentlich ist drinnen alles genausogut erhalten wie draußen!“

„Hauptsache, wir kommen rein!“ Vom Raumschiff wurde ein heranziehendes Gewitter gemeldet, und Melnikow und Wtorow begaben sich zum Geländewagen. Aber die Gewitterfront zog seitlich vorüber. Die Frage, ob die Waldkuppel zuverlässigen Schutz gegen den Regen gab, blieb daher nach wie vor ungeklärt.

„Wir müssen zur zweiten Röhre rüber. Hier hat’s keinen Zweck.“

„Und wenn nun ein Gewitter kommt?“

„Dann verkriechen wir uns unter der Röhre. Unsere Anzüge sind wasserdicht. Das haben Romanows Erfahrungen bewiesen.“ Belopolski, dem Melnikow seine Absicht mitteilte, genehmigte den Marsch zum Zentrum der Ringe. Das Scheinwerferlicht an den Helmen würde ausreichen, daß sich die Männer im Wald orientieren konnten. Die Leiter war transportabel.

Damit begann der ungewöhnliche Ausflug in eine ferne Vergangenheit.

Bevor sich Melnikow und Wtorow jedoch zu dem inneren Ring begaben, schritten sie die äußere Rohre noch in ihrer ganzen Länge ab. Sie zählten die Schritte und kamen zu. dem Ergebnis, daß der Durchmesser dieses Ringes tatsächlich etwa zweihundert Meter betrug. Die zweite Röhre verlief genau parallel zur ersten und war alle fünfzehn bis sechzehn Meter durch rhombusartige Konstruktionen mit ihr verbunden. An zwei Stellen, die einander offensichtlich diametral gegenüberlagen, ging von der äußeren Röhre eine dünnere rechtwinklig ab, sie kreuzte die innere und verlor sich zwischen den Bäumen.

„Dort“ — Melnikow wies mit der Hand zum Mittelpunkt der Ringe — „muß noch etwas sein. Eine Art Zentralkugel.“

„Das denke ich auch“, sagte Wtorow.

Nach Beendigung des Rundgangs kehrten sie zu der radialen Röhre zurück. Zum Zentrum gelangten sie am besten auf ihrem Rücken. Die Metallsohlen an den Schuhen machten das Gehen auf dem glatten Metall recht beschwerlich, aber noch beschwerlicher wäre es gewesen, sich einen Weg durch den Windbruch und das hohe Gras zu bahnen.

Melnikow befahl Knjasew, sich mit dem Fahrzeug nicht von dieser Stelle zu entfernen; dann stieg er die von Wtorow gehaltene Leiter hinab. Anschließend half er dem Kameraden beim Herunterklettern.

Sie drangen in die Tiefe des Waldes ein. Nachdem sie den zweiten Ring hinter sich hatten, verblaßte das Scheinwerferlicht des Geländewagens, so daß sie vor sich nichts mehr erkennen konnten. Da ließen sie die Scheinwerfer an den Helmen aufflammen.

Das Gehen auf der Röhre war doch beschwerlicher, als sie gedacht hatten. Fast bei jedem Schritt versperrten in den bizarrsten Formen gekrümmte Baumstämme ihnen den Weg. Sie mußten sie mit Hilfe der Leiter überwinden oder auf die „Erde“ hinuntersteigen und das Hindernis umgehen. Dabei überzeugten sie sich, daß sie zu ebener „Erde“ noch viel langsamer vorwärts kamen — das Gras war so elastisch, daß jeder Schritt große Anstrengungen kostete.

Die Radialröhre, deren Durchmesser etwa zweieinhalb Meter betrug, lag nicht am Boden auf wie die beiden Ringe, sondern hing in der Luft. Das Metall, aus dem sie hergestellt war, mußte außerordentlich stabil sein, da keiner der unter der Röhre hervorwachsenden Bäume sie trotz ihrer Länge hatte verbiegen können. Alle waren um sie herumgewachsen.

„Hinzu kommt“, sagte Melnikow, „daß das Raumschiff schon seit Tausenden von Jahren hier liegt. Kein irdisches Metall hätte eine solche Zeit überdauert.“ Fünfzig Meter vom zweiten Ring entfernt stießen sie auf einen dritten. Er war genauso dick wie die beiden anderen.

„Ein System konzentrischer Ringe“, bemerkte Wtorow. „Ich bin gespannt, was sich im Zentrum befindet.“ Die Bäume lichteten sich. Über ihnen war durch das Blattwerk bereits ein Fetzen Himmel zu sehen.

Plötzlich ragte etwas Großes, scheinbar Formloses vor ihnen auf. Dieses Etwas, das dicht von Bäumen umstanden war, bildete das Zentrum des Weltraumschiffs.

Die genaue Form dieses Zentrums blieb dem Auge verborgen, da der Wald es eng umschlungen hielt. Doch schien es den beiden Männern weder eine Kugel noch ein Würfel zu sein.

„Konstantin Jewgenjewitsch!“ rief Melnikow.

„Ich höre“, antwortete Belopolski sofort.

„Wir haben das Zentrum erreicht. Es ist so dicht von Bäumen umgeben, daß wir seine Form nicht erkennen können. Aber der Eingang kann sich nur hier befinden. Wir müssen die Bäume aus dem Wege räumen. Dazu müssen wir das Ultraschallgerät holen.“

„Moment mal!“ sagte Wtorow plötzlich. „Hier scheint eine Tür zu sein.“ Wirklich war an einer Stelle, die nicht von Bäumen verdeckt wurde, deutlich eine feine Linie zu erkennen, die ein regelmäßiges Fünfeck bildete.

„Tatsächlich, das sieht wie eine Tür aus“, sagte Melnikow.

„Und sie muß sich von außen öffnen lassen.“

„Es ist aber weder ein Knopf noch ein Schloß zu sehen.“

„Es muß aber so etwas da sein! Vorausgesetzt natürlich, daß es eine Tür ist und nicht etwas anderes.“

„Es sieht aber ganz nach einer Tür aus.“ Das Fünfeck befand sich in Höhe der Röhrenachse, und um es betrachten zu können, mußte man sich tief hinunterbeugen.

Melnikow und Wtorow kletterten von der Röhre herunter.

Doch nun lag die Tür oberhalb ihres Kopfes.

„Setz die Leiter an!“ Als das Scheinwerferlicht auf die Metallhaut fiel, erblickte Melnikow unmittelbar vor sich drei Vorsprünge. Der mittlere hatte die Form eines Fünfecks, die beiden anderen die von Quadraten.

„Das ist zweifellos der Öffnungsmechanismus der Tür“, sagte Wtorow erregt.

„Ja, es scheint so“, antwortete Melnikow zurückhaltend. „Versuchen wir dahinterzukommen.“

„Boris Nikolajewitsch“, ertönte Belopolskis Stimme, „seien Sie äußerst vorsichtig. Wir wissen nicht, was passiert, wenn Sie den Mechanismus auslösen. Wie sieht er aus?“ Melnikow beschrieb ihn.

„Meiner Meinung nach“, schloß er, „kann nichts weiter passieren, als daß sich die Tür öffnet — vielleicht. Bloß daß die Aussichten dafür gering sind. Wahrscheinlich funktioniert der Mechanismus schon längst nicht mehr. Aber vielleicht ist es doch besser, wenn sich einer von uns ein Stück entfernt.“

„Überlassen Sie mir die Sache“, sagte Wtorow, „ich bitte Sie vielmals darum.“ Melnikow sah, wie der junge Ingenieur vor Aufregung blaß geworden war. Eine Ablehnung hätte ihn schwer gekränkt.

„Na gut. Sieh zu, ob du damit fertig wirst. Wenn du’s geschafft hast, ruf mich.“ Er kletterte wieder auf die Röhre und verschwand, ohne sich umzusehen, hinter den Bäumen.

In der Falle

Allein geblieben, betrachtete Wtorow eingehend die Vorsprünge. Sie schienen eins zu sein mit dem Metall, doch wenn es sich um einen Mechanismus handelte, mußten sie sich drücken oder drehen lassen.

Vielleicht ist der Mechanismus längst unbrauchbar geworden, dachte er, und alle Anstrengungen sind vergebens.

Er wünschte leidenschaftlich, daß ihm Erfolg beschieden wäre, zumal er Melnikow gebeten hatte, ihm diese Aufgabe zu überlassen. Es wäre eine Schande, wenn ich nicht dahinterkäme.

Sie würden mich für einen Aufschneider halten.

Die eigenartige Form des Raumschiffes war den Erdenmenschen zwar fremd, doch es stellte das Werk von Wesen dar, deren geistige Entwicklung der ihren ähnlich verlaufen war.

Wtorow war überzeugt, daß die Ideen der Fremden für den Menschen faßlich seien.

„Tuen wir einmal so, als sei es auf der Erde gebaut“, sagte er laut.

„Richtig“, antwortete der unsichtbare Melnikow. „Behalt nur immer die Ruhe, Gennadi!“ Vorsichtig machte sich Wtorow an dem mittleren Fünfeck zu schaffen. Zuerst versuchte er, es in die Wandung zu drücken. Es gab nicht nach. Dann probierte er es mit Drehen. Der Vorsprung bewegte sich. Als Wtorow den Druck verstärkte, ertönte ein langgezogenes Knirschen.

Aha! Das Fünfeck läßt sich drehen! Bringen wir es erst mal wieder in seine alte Stellung und befassen uns mit den Quadraten!

Die quadratischen Vorsprünge waren nicht drehbar. Doch als Wtorow mit aller Kraft auf sie drückte, gaben sie nach.

„Der mittlere Vorsprung läßt sich drehen“, sagte er. „Und die beiden äußeren funktionieren nach dem Druckknopfprinzip.“

„Also Dutzende von möglichen Kombinationen“, bemerkte Melnikow.

„Sie wollten doch so tun, als sei das Raumschiff auf der Erde gebaut worden“, mischte sich Saizew ein. „Wir verschließen die Zugänge zu unserem Raumschiff doch nicht wie einen feuersicheren Safe. Auch jene werden es nicht getan haben. Suchen Sie nach einer einfachen Lösung.“ Wtorow drückte auf die beiden Quadrate, erst auf jedes einzeln, dann auf beide zugleich, und drehte das Fünfeck hin und her. Umsonst! Die Tür dachte nicht daran, sich zu öffnen. Hatte die Zeit das Ihre getan, oder lag es an der Konstruktion — jedenfalls ließen sich die Vorsprünge nur mit großer Mühe bewegen.

Wtorow mußte all seine keineswegs schwachen Kräfte dazu aufbieten.

„Es klappt nicht!“ sagte er schwer atmend.

„Ruhen Sie sich aus. Inzwischen überlegen wir“, ließ sich Belopolski vernehmen.

Wtorow hörte, wie die Besatzungsmitglieder ihre Ansichten austauschten. Auch Melnikow und Knjasew beteiligten sich an der Diskussion.

„Welche Stellung nimmt der mittlere Vorsprung ein?“ fragte Saizew.

„Er bildet ein regelmäßiges Fünfeck.“

„Ich meine, welche Stellung er zum Fünfeck der Tür einnimmt?“

„Moment mal!“ rief Wtorow. „Ja, tatsächlich!“ fuhr er fort, nachdem er die feine Linie oberhalb seines Kopfes eingehend betrachtet hatte. „Sie sind unsymmetrisch zueinander angeordnet.“

„Versuchen Sie mal, sie in symmetrische Stellung zueinander zu bringen.“ Es erwies sich, daß man den mittleren Vorsprung um einhundertachtzig Grad drehen konnte.

Kaum hatte das seltsame Fünfeck die gleiche Stellung eingenommen wie das große, ertönte ein leises Geräusch, als sei etwas Metallenes heruntergefallen. Wtorow sprang zurück.

Doch nichts weiter geschah. Die Tür blieb nach wie vor geschlossen.

Mit starkem Herzklopfen streckte der Ingenieur die Hände nach den Quadraten aus. Irgendwie war er überzeugt, daß er diesmal Erfolg haben würde. Das metallische Geräusch bewies doch, daß der Mechanismus funktionierte.

Mit aller Kraft drückte er gegen die beiden Vorsprünge.

Über ihm blitzte etwas auf. Instinktiv duckte er sich.

Stille.

Er hob den Kopf.

Die Tür war verschwunden!

An Stelle des metallenen Fünfecks erblickte er etwas Blaßblaues, das durchsichtig zu sein schien. Als habe eine Gazehaut das Metall ersetzt.

Melnikow, Knjasew und alle andren im Raumschiff hörten Wtorow schreien, voller Verzweiflung, wie es ihnen schien: „Licht! Licht!“ Jetzt sah er es! Sah es ganz deutlich!

Das Etwas war keine blaue Gazehaut! Vor ihm befand sich eine fünfeckige Öffnung, durch die von irgendwoher aus dem Innern des Raumschiffes gedämpftes Licht drang. Ein Zweifel war ausgeschlossen: es handelte sich um Licht. Sein matter Schein ruhte auf den Stämmen der Bäume und auf der metallenen Oberfläche der Röhre.

Licht! Wie war das möglich? Konnte denn eine wie auch immer geartete künstliche Lichtquelle Jahrtausende überdauern?

Wtorow stand erstarrt, ohne auf die Fragen der Kameraden zu antworten, die wie ein Hagel auf ihn niederprasselten.

Er kam erst zu sich, als sich ihm eine Hand auf die Schulter legte. Es war Melnikow, der zu ihm getreten war.

Wie fasziniert starrte auch Melnikow auf das geheimnisvolle, unbegreifliche Licht und drückte Wtorows Schulter immer stärker.

„Was ist das?“ flüsterte er. „Wo kommt das her?“

„Ich weiß nicht“, antwortete Wtorow mechanisch.

„Wissen Sie es wirklich nicht?“ ließ sich Paitschadses spöttische Stimme vernehmen. „Dann sagen Sie wenigstens, was Sie sehen.“

„Licht!“

„Na und?“ Melnikow holte tief Luft und berichtete von der rätselhaften Erscheinung. Lange kam keine Antwort. Schließlich hörten sie Belopolski sagen: „Es besteht kein Zweifel, daß…“ Und wieder Schweigen.

„Nun, die Tür ist offen“, sagte Melnikow. „Also hinein!“ Auf alles wären sie bei diesem längst ausgestorbenen Raumschiff von einem unbekannten Planeten gefaßt gewesen, selbst auf das Unwahrscheinlichste und Überraschendste, nur nicht auf Licht, den Begleiter des Lebens! Das grenzte an ein Wunder!

„Also hinein“, wiederholte Melnikow, doch fehlte seiner Stimme die gewohnte Entschlossenheit.

Schweigend setzte Wtorow die Leiter an.

Er sah, daß Melnikow — ein Urbild von Kaltblütigkeit, Mut und Willensstärke und nach allgemeiner Ansicht ein Mann ohne Nerven — unschlüssig war und es nicht über sich zu bringen schien, den Fuß auf die unterste Sprosse zu setzen. Und ganz plötzlich wurde sich der junge Ingenieur bewußt, daß keine Macht der Welt ihn selber zwingen könnte, als erster die Leiter hinaufzusteigen.

Kein lebendiges Wesen, sei es auch die scheußlichste Ausgeburt der Phantasie, hätte ihn abgeschreckt. Dieses „übernatürliche“ Licht jedoch raubte ihm die Willenskraft, unüberwindliche Furcht lähmte sein Hirn.

Eine Minute verrann.

„Also hinein!“ sagte Melnikow zum drittenmal und kletterte rasch die Leiter hinauf.

Gebeugt verschwand er in der Türöffnung. Gleich darauf ertönte seine Stimme: „Beeilen Sie sich!“ Augenblicklich war die Furcht verschwunden. Wtorow folgte seinem Vorgesetzten. Die Öffnung war für ihn entschieden zu klein, er mußte sich tief bücken.

Melnikow stand nah an der Tür.

Wtorow richtete sich auf, blickte um sich und fühlte, wie ihm schwindlig wurde.

Was war das? Wohin waren sie beide geratend Scheinbar gab es hier weder Fußboden noch Decke noch Wände. Überall nur Undefinierbares, Verschwommenes und — Lebendiges. Von allen Seiten schloß sie etwas Unfaßbares ein, das unaufhörlich die Farbe wechselte, in allen Schattierungen des Regenbogens schillerte und funkelte, als spiegele es sich in sich selbst wider, und ein wildes Farbenchaos erzeugte.

Überall — oben, unten, ringsum — bewegten sich groteske buntscheckige Gestalten von … Menschen, gebrochene und verzerrte Ebenbilder des Herren der Erde in unvorstellbaren Posen.

Melnikow hob die Hand, als wolle er sich vor dem Anblick schützen, und sofort wiederholte die ganze Geisterschar die Bewegung.

„Es sind unsere eigenen Spiegelbilder“, sagte er leise und mit sichtlicher Erleichterung.

Augenscheinlich bestanden die Wände, die Decke und der Fußboden aus einer Art von Spiegeln. Jede Bewegung Melnikows und Wtorows rief eine Antwortbewegung hervor, die sich, wohin sie auch blickten, unzählige Male wiederholte. Aber warum waren die Spiegelbilder gebrochen und verzerrt?

In der Mitte des Raums, vielleicht aber auch vor einer der Wände (sie hatten jedes Gefühl für Perspektive und Entfernung verloren) stand — worauf, blieb ein Rätsel — eine steinerne Schale, der einzige reale und unbewegliche Gegenstand in dem geisterhaften Farbchaos. Sie sah genauso aus wie jene, die Wtorow auf der Waldschneise gesehen hatte und die dann zerschellt war. Am Rande zierten sie Darstellungen von Körpern eines einfachen kubischen Systems.

Über der Schale stand eine ebenmäßige blaßblaue Flamme, in der Art, wie sie ein dünner Film brennenden Spiritus erzeugt.

Von ihr ging das unbegreifliche Licht aus.

„Konstantin Jewgenjewitsch!“ sagte Melnikow so leise, daß er kaum zu hören war.

Doch das Raumschiff verfügte über starke Empfänger.

„Ich höre“, antwortete Belopolski.

„Eine steinerne Schale!“

„Das habe ich erwartet.“

„Aber darin brennt ein Feuer!“

„Daran ist nichts Außergewöhnliches. Die Zeit hätte die künstliche Flamme aus der Erinnerung der Venusianer längst getilgt, wenn ihre Schalen nicht erst vor relativ kurzer Zeit erloschen wären. Aber berichten Sie bitte, was Sie sehen.“ Belopolskis ruhige Stimme brachte die beiden Kundschafter endgültig wieder zu sich. Sie hatten ein chemisches Rätsel vor sich, nichts weiter. Das Geheimnis des „ewigen“ Feuers würde die Wissenschaft schon lüften.

„Berichten! Das ist nicht so einfach!“ antwortete Melnikow.

„Besser nachher, wenn wir wieder zurück sind.“

„Dann können wir unseren Bericht auch mit Aufnahmen illustrieren“, fügte Wtorow hinzu, der sich wieder seines Fotoapparates erinnert hatte.

Ruhiger geworden, sahen sie sich nun gründlicher um.

Die vielfach reflektierten Spiegelbilder an den fortwährend die Farbe wechselnden Wänden, an Boden und Decke irritierten sie zwar, doch allmählich gewöhnten sie sich daran.

Der Raum war, abgesehen vom Fußboden, gewölbt und setzte sich aus spitzwinkligen Facetten von merkwürdiger Form zusammen, die zu einem ungewöhnlichen Muster verflochten waren. Der Fußboden war eben und wie aus Glas. Die Schale schien in der Mitte zu stehen.

„Gehen wir näher ran“, schlug Melnikow zögernd vor.

„Bitte“, stimmte Wtorow noch zaghafter zu.

Doch keiner von beiden rührte sich von der Stelle. Melnikow sann über etwas nach, und sein Kamerad brachte nicht den Mut auf, als erster von der Tür wegzugehen.

Wtorow hörte Melnikow etwas von Metallwänden murmeln.

„Konstantin Jewgenjewitsch“, sagte er laut. „Von hier führen keine Türen ins Innere des Raumschiffs. Aber vielleicht entdecken wir doch noch welche. Die Wände scheinen aus Metall zu sein. Die Funkverbindung kann abreißen. Wenn das geschieht, machen Sie sich keine Sorgen!“

„Wir werden es versuchen“, antwortete Paitschadse an Belopolskis Stelle.

„Seien Sie vorsichtig“, sagte Belopolski.

Melnikow und Wtorow entfernten sich von der Tür. Doch kaum hatten sie den ersten Schritt getan, als sie hinter sich ein leises Geräusch vernahmen — als sei etwas Metallenes heruntergefallen.

Erschrocken drehten sich beide um. Die Türöffnung war verschwunden! Wo sie eben noch durch das dunkle Fünfeck den Venuswald gesehen hatten, schillerten jetzt ebenfalls spitzwinklige Facetten.

Alles war in eins verflossen!

Wtorow stürzte zur Wand und stieß sich schmerzhaft an einem Vorsprung. Das brachte ihm die Wirklichkeit zum Bewußtsein.

Eingesperrt!

„Wer hat die Tür zugemacht?“

„Natürlich niemand“, antwortete Melnikow. „Sie hat sich von allein geschlossen. Jahrtausende sind vergangen, aber die Mechanismen funktionieren immer noch zuverlässig, ebenso wie das Feuer hier in der Schale.“

„Wie kommen wir nun wieder raus?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht überhaupt nicht mehr. Ich habe ja vorausgesagt, daß die Verbindung abreißen könnte.“

„Raumschiff!“ rief Wtorow.

Es kam keine Antwort.

„Diese Wände sind aus einem unbekannten Metall“, sagte Melnikow. „Man kann uns nicht hören. Einstweilen sind wir von der Außenwelt abgeschnitten.“ Wtorow mußte sich an die Kaltblütigkeit seines Gefährten gewöhnen.

„Was machen wir nun?“ fragte er.

„Das, was wir vorhatten. Das Raumschiff untersuchen. Aber es scheint keine einzige Tür…“ Er stockte mitten im Satz und starrte staunend die Wand an: Ganz nahe, wie es schien, unmittelbar neben dem verschwundenen Eingang, ging etwas Merkwürdiges und Unbegreifliches mit den bunten Facetten vor sich. Sie wurden rasch trübe und verloren ihre Konturen. Die Umrisse eines Fünfecks zeichneten sich deutlich an der Wand ab. Schon war innerhalb dieser Umrisse keine einzige spitzwinklige Facette mehr zu erkennen — sie schwanden, schmolzen zusehends, zerflossen in Nichts. Einen Augenblick später gähnte eine fünfeckige Öffnung vor ihnen.

„Da haben wir eine Tür!“ sagte Melnikow.

Zum erstenmal vernahm Wtorow ein Zittern in seiner Stimme.

„Wo ist die Wand geblieben?“

„Wer weiß. Tatsache ist, daß wir eine Tür vor uns haben, die ins Innere des Raumschiffes führt. Sie hat sich automatisch geöffnet, sobald die äußere geschlossen war.“ Gebückt blickten sie durch die Öffnung. Hinter ihr erstreckte sich die radiale Röhre. Die hellblaue Flamme spiegelte sich in langen hellen Streifen an ihren Wänden. Das andere Ende der Röhre verlor sich im Dunkeln.

„Die äußere Tür hat sich geschlossen, sobald wir uns von ihr entfernten“, sagte Wtorow.

„Ja, einer von uns hätte an der Schwelle zurückbleiben müssen. Die Automatik ist hier anders als bei uns. Sie sieht und handelt selbständig. Und was das erstaunlichste ist — sie ist völlig intakt geblieben. Von diesem Raumschiff können wir allerhand lernen.“

„Wir haben die Tür von außen geöffnet“, sagte Wtorow, „sollten wir es da nicht auch von innen können?“

„Wenn nicht, werden die Genossen sie von außen öffnen. Sie wissen, wo wir sind. Das ist unsere Chance.“

„Jetzt, wo die Verbindung abgerissen ist, müssen sie ja schnellstens zu Hilfe kommen.“

„Kaum! Wir haben vorbeugend gesagt, daß die Funkverbindung eventuell abreißt.“ Melnikow sah Wtorow aufmerksam an. „Hast du etwa Angst, Gennadi?“ Der junge Ingenieur wurde rot „Ich weiß nicht“, gestand er. „Als wir zusammen in der Kabine des zertrümmerten Flugzeugs saßen, hatte ich keine Angst.

Aber hier, scheint’s, hab ich welche.“

„Das Unbegreifliche muß Furcht hervorrufen“, sagte Melnikow nachdenklich. „Das stimmt! Aber“, fügte er im gewohnten Ton hinzu, „wir wollen keine Zeit mehr verlieren.“ Sie begaben sich zur steinernen Schale.

Selbst aus der Nähe war nicht zu erkennen, worauf sie stand.

Aber sie konnte unmöglich ohne jede Stütze frei in der Luft hängen. Wtorow versuchte mit der Hand unter die Schale zu fassen. Seine Finger berührten etwas Festes, und wie elektrisiert zuckte er zurück. Vorsichtig betastete Melnikow den Sockel.

Er hatte, die Form eines Würfels, blieb jedoch nach wie vor völlig unsichtbar. Er schien aus Luft zu bestehen, die auf rätselhafte Weise erstarrt war.

Sorgfältig untersuchten sie den ganzen Raum, der einen Durchmesser von etwa sechs Metern hatte. Nur durch Abtasten konnten sie seine Maße bestimmen. Die sich kreuzenden Spiegelbilder machten es unmöglich, Entfernungen zu sehen. Scharen phantastischer Schemen — Dutzende von Melnikows und Wtorows — in ganz unnatürlichen Posen, aufrecht, liegend und kopfstehend, verflossen bei jeder Bewegung der Menschen von allen Seiten grotesk ineinander, verrenkten sich in einem wilden Tanz. Wtorow war bemüht, nicht hinzusehen, doch von überallher drängten sie sich dem Auge auf.

„Wir müssen weg von hier“, sagte er schließlich. „Mir wird schon ganz schwindlig.“ Sie fanden nichts, was auch nur im entferntesten auf den Mechanismus der Tür hinwies.

„Wahrscheinlich befindet er sich im zentralen Steuerpult“, sagte Melnikow. „Es muß ja so etwas geben. Aber wir müssen hier weg“, ging er auf Wtorows Worte ein, „mir wird auch schon ganz schwindlig. Ich fürchte, auch diese Tür wird sich schließen, sobald wir die Röhre betreten haben. Logischerweise muß es so sein.“

„Lassen Sie mich allein hineingehen, und bleiben Sie hier.“

„Was hat das für einen Zweck? Nein, besser, wir bleiben zusammen.“ Unschlüssig standen sie vor der rätselhaften Tür. Hier, im Zentrum, war es für sie natürlich ungefährlicher. Belopolski würde nach einer gewissen Zeit merken, daß seine Kundschafter in eine Falle geraten waren, und Hilfe schicken. Wie die äußere Tür zu öffnen war, wußte man an Bord. Wenn sie sich jetzt jedoch weiter in das Innere des fremden Raumschiffs hineinwagten, riskierten sie, niemals wieder herauszukommen — es war völlig ungewiß, ob sie jemals herausfinden würden, wie die Türen geöffnet wurden.

Was ist zu tun? dachte Melnikow. Wie verhalten wir uns?

Bleiben wir hier und warten auf die Genossen? Aber irgendwann müssen wir ja doch ins Innere.

Wäre er allein gewesen, hätte er keinen Augenblick geschwankt. Aber er hatte Wtorow bei sich! Die Verantwortung für den Freund trug er.

Ach was, mag kommen, was will! Schlimmstenfalls können sie die Wand der Röhre von außen durchschweißen oder auch sprengen.

„Für alle Fälle hinterlassen wir hier eine Nachricht“, sagte er.

Kurz, aber doch ausführlich genug schilderte er alles, was ihnen, widerfahren war. Dann legte er sein Notizbuch neben die Schale auf das unsichtbare Postament. Es schien in der Luft zu schweben und war unmöglich zu übersehen.

„Und jetzt vorwärts!“ Die fünfeckige Öffnung entsprach an Größe der äußeren Tür.

Die unbekannten Kosmonauten waren anscheinend klein von Wuchs gewesen. Gebückt überschritt Melnikow die Schwelle, Wtorow folgte ihm.

Gleich hinter der Tür blieben sie stehen und schauten erregt zurück. Würde die Tür sich schließen oder nicht? Sie schloß sich.

Man sah, daß sich die Öffnung wie mit einer durchsichtigen Gazehaut überzog, die anfangs kaum zu erkennen war, sich dann jedoch rasch verdichtete. Schließlich war die Öffnung ganz verschwunden. An ihrer Stelle schimmerte eine augenscheinlich metallene, glatte Wand.

Das war so seltsam, so unerklärlich, daß die beiden Raumfahrer die Wunderwand eine Weile anstarrten und kein Wort über die Lippen brachten.

Mit eigenen Augen hatten sie soeben eine Erscheinung beobachtet, der irdischen Wissenschaft noch völlig unbekannt. Die Öffnung, durch die sie ungehindert hindurchgegangen waren, hatte sich in Metall verwandelt! Das Phänomen schien unwirklich, unbegreiflich, rätselhaft. Und doch beruhte es ohne Zweifel auf der Anwendung ihnen noch unbekannter Naturgesetze.

„Auf dieser Seite sind seltsamerweise keine spitzwinkligen Facetten“, sagte Melnikow schließlich.

„Erscheint es Ihnen nicht merkwürdig, daß wir sie sehen?“ fragte Wtorow plötzlich.

„Wen?“

„Die Wand. Hier müßte es doch eigentlich ganz dunkel sein.“ Tatsächlich, dachte Melnikow.

Die Lampen an ihren Helmen hatten sie beim Betreten des Raumschiffes ausgeschaltet. Das hellblaue Feuer der Schale war hinter der Tür zurückgeblieben. Dennoch sahen sie die Wand.

Mehr noch, sie sahen ihre eigenen Schatten sich darauf bewegen.

Also gab es hinter ihnen eine Lichtquelle!

Melnikow drehte sich um und schrie auf. Seine Stimme verriet Freude und Staunen.

Über Jahrtausende hinweg

Eben erst hatten sie durch die Tür hindurch gesehen, daß die Rohre in eine dunkle Ferne führte. Jetzt endete sie drei Schritt vor ihnen. Undeutlich waren statt ihrer die Bäume des Waldes zu erkennen. Die herrschende Helligkeit war die natürliche Helligkeit der Außenwelt. Sie schien ihnen jetzt nicht ganz so schwach wie vorhin im Wald und reichte aus, um jenen kurzen Abschnitt der Röhre zu erleuchten, der zu ihrer Verwunderung an die Stelle der ganzen Röhre getreten war. Dieses Licht erzeugte auch die Schatten.

„Der Ausgang!“ schrie Wtorow freudig.

„Nein“, sagte Melnikow. „Dies ist nicht der Ausgang. Sieh mal genauer hin.“ Wtorow tat es.

Die verschwommene Masse der Bäume war nur seitwärts und nach oben zu erkennbar, geradeaus jedoch nicht. Dunkle Leere führte hier in die Tiefe des Waldes. Die sichtbare Röhre endete drei Schritt von ihnen entfernt, dahinter erstreckte sich, unsichtbar geworden, ein Röhrenschema, dessen Existenz man nur ahnte.

Und dennoch war es dieselbe Röhre, auf deren Rücken sie hierhergekommen waren. Nur daß sie aus unbekannten Gründen völlig durchsichtig geworden war, wie der Sockel, auf dem die Schale stand.

Melnikow trat an den „Rand“ der sichtbaren Röhre. Es kostete ihn große Überwindung weiterzugehen. Unter sich sah er das Gras, und ihm schien, hier sei Schluß, und er müsse nun hinunterspringen.

Doch die Metallsohlen seiner Schuhe blieben auf glattem Fußboden, und mit der Hand fühlte er die halbrunde Wandung. Nach wie vor war die Röhre da, fest und undurchlässig.

Aber durchsichtig!

Sie wanderten anderthalb Meter über der „Erde“ und scheinbar durch die Luft, in die Tiefe der Röhre. Ihre Beine gehorchten ihnen nicht, und sie stolperten bei jedem Schritt. Zu gehen, ohne zu wissen, wohin man trat, war nicht so einfach.

„Wenn uns jemand so sehen könnte“, sagte Wtorow. „Ein komischer Anblick muß das sein! Zwei Menschen gehen durch die Luft.“

„Vorausgesetzt, daß die Röhre auch von außen durchsichtig ist.“

„Kann es denn anders sein?“

„Alles ist möglich.“ Melnikow ließ die Lampe am Helm aufflammen.

Der Lichtstrahl fiel auf die metallene Röhrenwand. Sie erblickten die typischen Glanzlichter, die auf blanker Metalloberflache entstehen. Gleichzeitig sahen sie jedoch auch das, was hinter der Röhre war.

Der Widerspruch machte einen verblüffenden Eindruck auf sie.

Gerade an dieser Stelle, ganz nahe der Röhre, wuchs ein Baum. Bevor das Licht aufflammte, war er schlecht zu erkennen gewesen — nur als dunkler Umriß. Aber er blieb auch jetzt dunkel, obgleich er nur einen Meter von ihnen entfernt stand und das Licht auf den Stamm hätte fallen müssen.

„Da haben wir den Beweis“, sagte Melnikow. „Das Metall der Röhre ist nur von einer Seite durchsichtig. Licht von außen kann ungehindert eindringen, aber von innen dringt es nicht hinaus. Draußen könnte uns niemand sehen.“

„Wenn wir erst wissen, was für Material das ist“, sagte Wtorow, „werden wir die Wände unserer Häuser damit bauen.

Stellen Sie sich vor, wie hell es in solchen Häusern sein muß, von außen aber kann man nicht hineinsehen.“

„Du fängst an zu phantasieren, Gennadi!“

„Wenn wir schon mal in ein Märchen aus ›Tausendundeiner Nacht‹ geraten sind…“

„Hier irgendwo muß doch der innere Ring sein“, sagte Melnikow.

„Ja, er kann nicht weit sein. Die Hälfte der Röhre haben wir bestimmt schon hinter uns.“ Sie wußten, welche Form dieses merkwürdige Weltraumschiff hatte. Im Zentrum befand sich eine Kugel von sechs Meter Durchmesser. Sie war von drei ringförmigen Röhren umgeben, von denen die eine in fünfzig Meter, die beiden anderen, nah beieinander liegenden in hundert Meter Entfernung verliefen.

Das Zentrum und die Ringe waren durch eine radiale Rohre miteinander verbunden. Der erste, innere Ring mußte jeden Augenblick auftauchen.

Wenn nicht plötzlich auch er weg ist, dachte Wtorow.

Doch der Ring befand sich an seinem alten Ort. Noch wenige Schritt, und sie erblickten ihn durch die Wand der Röhre.

Wie am Anfang bei der zentralen Kugel hörte die Röhre auch hier, drei Schritt vom Ring entfernt, auf, durchsichtig zu sein. Doch nichts versperrte den weiteren Weg. Voraus waren wieder durchsichtige Wände zu erkennen.

Die radiale Röhre führte durch den inneren Ring hindurch.

„Hier muß doch eine Tür sein.“ Das Licht der Scheinwerfer traf auf glatte Wände. Nichts deutete auf eine verborgene Tür hin. Keine Vorsprünge, kein Anzeichen eines Mechanismus.

Und wieder trat die unbegreifliche und in ihrer Rätselhaftigkeit unheimliche Technik des fremden Raumschiffs in Erscheinung. Als habe ein vernünftiges und zuvorkommendes Wesen sie beobachtet und jeden ihrer Schritte überwacht.

„Hier muß doch eine Tür sein“, hatte Melnikow, die Hand nach der Wand ausstreckend, gesagt. Und wie als Antwort auf seine Bewegung zeichnete sich tatsächlich in der Wand eine Öffnung ab.

Ein Teil der metallenen Wandung änderte jäh sein Aussehen.

Die Glanzlichter wurden auf einmal matt. Die Konturen eines Fünfecks kamen zum Vorschein. Das Metall „zerschmolz“ rasch, verwandelte sich in Luft. Wie wenn sie sich freuten, schnellten die Lichtkegel ihrer Helmlampen in den inneren Ring hinein.

Irgendwelche länglichen Zylinder — rote, grüne und gelbe — blitzten auf. Ein schmaler und — wie es schien — gläserner Weg führte in die Tiefe des Raumes — ein eigenartiger, fast unsichtbarer Steg.

Wohin führte er? Was befand sich dort, im dunklen Unbekannten?

Plötzlich ergriff Wtorow Melnikows Hand.

„Sehen Sie doch mal!“ rief er und wies zurück.

Jetzt entdeckten sie einen neuen Beweis für die „Vernunft“ der Automatik, die die Türen und Wände des Raumschiffs steuerte.

Die durchsichtige Röhre, durch die sie gerade erst gekommen waren, hatte wieder ihren Metallcharakter angenommen und ihre Durchsichtigkeit verloren. Der Venuswald war verschwunden. Nur das Licht der Helmlampen hellte die dichte Finsternis auf.

Auch jenseits des Ringes, vom Zentrum des Schiffes fort, hatte die Röhre ihre Durchsichtigkeit eingebüßt.

„Das grenzt an Hexerei!“ sagte Wtorow.

„Die Wandung der Röhre wird durchsichtig, sobald sich jemand in ihr befindet“, sagte Melnikow nachdenklich. „Die Türen öffnen sich, wenn man sich ihnen nähert. Eine Kombination aus Fernsehtechnik und ›denkenden‹ Automaten schafft das ohne weiteres. Vor etwa fünfzig Jahren mochte das noch als ›Hexerei‹ erscheinen, aber heute…“

„Genausogut könnten wir also auch, ohne es zu ahnen, die Triebwerke des Raumschiffs in Gang setzen.“ Melnikow zuckte zusammen.

„Du hast recht, Gennadi! Wir müssen sehr vorsichtig sein.

Versuch doch mal zum Zentrum zurückzugehen. Ich bleibe hier.

Wollen mal sehen, was passiert.“ Es geschah genau das, was Melnikow erwartete. Kaum hatte Wtorow drei Schritte in Richtung Zentrum über den Rand des Rings hinaus getan, als die Röhrenwandung wieder durchsichtig wurde. Das geschah fast augenblicklich. Soviel war klar, diese vieltausendjährige Automatik funktionierte noch mit erstaunlicher Präzision, reagierte auf jede Bewegung.

Daraus konnte ihnen ungeheure Gefahr erwachsen.

Wer waren die Herren dieses Raumschiffes gewesen? Auf welchem geistigen Niveau hatten sie gestanden? Zweifellos auf sehr hohem. Vielleicht war dieses Niveau für den Erdenmenschen sogar zu hoch, und er verstand nicht, was für sie einfach und natürlich gewesen war?

Die geringste Unvorsichtigkeit konnte zu unvorhergesehenen Folgen führen. Weder Melnikow noch Wtorow hatten die geringste Ahnung von den Prinzipien, nach denen die Automatik des Raumschiffs funktionierte, sie irrten mit „verbundenen Augen“ in ihm umher. Sie befanden sich in der Lage eines Menschen, der ohne Fachkenntnisse und ganz allein am Steuerpult eines modernen Atomkraftwerkes steht und es sich einfallen läßt, aufs Geratewohl Hebel zu betätigen und für ihn rätselhafte Knöpfe zu drücken.

Wtorow kam zurück. Wie zu erwarten, verlor die Röhre erneut ihre Durchsichtigkeit.

Sie standen vor der fünfeckigen Tür und konnten sich nicht entschließen, den so zerbrechlich wirkenden „gläsernen Steg“ zu betreten, der sich, umgeben von verschiedenfarbigen Zylindern unbekannter Funktion, in der Ferne verlor.

„Vielleicht ist es vernünftiger umzukehren?“ fragte Wtorow.

„Die Tür im Zentrum ist verschlossen.“

„Wahrscheinlich öffnet sie sich, sobald wir auf sie zugehen.“

„Schon möglich. Aber da wir uns nun einmal so weit vorgewagt haben, werden wir unseren Weg fortsetzen. Nur dürfen wir keine überflüssigen Gesten machen und auch nichts anrühren.“ Kann es nicht vielleicht so sein, daß in diesem Raumschiff alles durch eine Automatik in Gang gesetzt wird, die auf Gesten reagiert? dachte Melnikow. Die Türen, die Durchsichtigkeit der Wände, die Triebwerke. Und vielleicht auch noch anderes, von dem wir keine Ahnung haben. Wir wissen nicht, was für Gesten diese Wesen ausführen konnten, über deren Aussehen uns nichts bekannt ist. Ich habe die Hand gegen die Wand ausgestreckt — und die Tür hat sich geöffnet. Das passierte hier. Aber vielleicht setzt eine Bewegung meiner Hand an anderer Stelle die Triebwerke in Gang, und das Raumschiff startet plötzlich. All die Bäume, wie fest sie auch zusammengewachsen sein mögen, können es dann nicht zurückhalten, es wird sie zerreißen wie Papier.

Wir riskieren einen Start von der Venus und wissen nicht einmal, wie man das Raumschiff lenkt.

Doch noch während er überlegte, betrat Melnikow, äußerlich ruhig, den Steg.

Obwohl der Steg aus Glas zu sein schien, bog er sich merklich durch, als nach Melnikow auch noch Wtorow ihn betrat. Es gab kein Geländer. Der knapp dreißig Zentimeter breite durchsichtige Streifen hing etwa in der Mitte der Röhre in der Luft.

Es war nicht zu erkennen, was ihn hielt — anscheinend gar nichts.

„Geh zurück“, sagte Melnikow abgehackt; er erwartete jeden Augenblick, daß der Steg durchbrach.

„Es geht nicht mehr“, antwortete Wtorow.

Tatsächlich, die Tür hatte sich bereits hinter ihnen geschlossen. Die runde Wand erschien wie aus einem Guß, von der fünfeckigen Öffnung war keine Spur mehr zu sehen.

„Streck die Hand gegen die Wand aus!“ Wtorow gehorchte. Doch die Geste, die auf der anderen Seite die Tür hatte erscheinen lassen, zeitigte diesmal keinen Erfolg.

„Bleib stehen!“ Vorsichtig tat Melnikow einen Schritt vorwärts.

Und plötzlich wurde das Innere der Röhre von einem gedämpften, merkwürdig blauen Licht erhellt. Eine Lichtquelle war nirgends zu sehen. Es schien, als habe die Luft selbst plötzlieh die Fähigkeit erlangt, zu leuchten.

Melnikow war wie vom Donner gerührt. Wtorow wagte kaum zu atmen. Regungslos wie Statuen standen beide da.

Wie ein leichter Nebelschleier hüllte sie das hellblaue Licht von allen Seiten körperlich spürbar ein. Nicht ein einziger Schatten war zu sehen. Das Licht kam aus keiner bestimmten Richtung, es war überall. Die geheimnisvollen Zylinder hatten ihre Farbe jetzt eigenartig verändert: Die roten waren violett geworden, die gelben grün, und jene, die vorher blaßgrün gewesen waren, sahen türkisfarben aus. Der Steg war vollends unsichtbar geworden, als habe er sich in Luft aufgelöst.

Plötzlich spürten sie, kaum wahrnehmbar, einen unbekannten Geruch. Die Luft des Raumschiffs drang durch die Filter der Schutzmasken und, vermischt mit dem Sauerstoff der Erde, in ihre Lungen.

Der Gedanke, sie könnten sich mit dieser fremden Luft vergiften, jagte den beiden Raumfahrern einen Schauer über den Rücken. Dies hier war keine Venusluft — der Geruch war ganz neu —, es war die Luft eines anderen Planeten. Es war sehr wohl möglich, daß sie für Erdenbewohner tödlich war.

Weg von hier! dachte Wtorow.

Aber wohin? Der Rückweg war durch die massive Wand abgeschnitten. Wie man sie öffnen und das fünfeckige Loch wieder erscheinen lassen konnte, wußten sie nicht.

Ringsum lagen die rätselhaften, verschiedenfarbigen Zylinder. Dazwischen schwebte, fast unsichtbar, der schmale Steg.

Etwa vierzig Meter vor ihnen verschwand er mit der allmählichen Linkskrümmung der Röhre dem Blick.

Mechanisch schaltete Melnikow den Scheinwerfer am Helm aus. Vergiftungssymptome hatten sich noch nicht eingestellt.

„Egal, was kommt“, sagte er. „Vorwärts, Gennadi!“ Mit den Schultern balancierend, um das Gleichgewicht auf dem Steg nicht zu verlieren, ging Melnikow weiter. Die Arme wagte er nicht zu bewegen. Wtorow ließ den Genossen zehn Schritte vorausgehen, bevor auch er sich von der Wand löste.

Der Steg federte unter ihrem Gewicht. Das durchsichtige Material war aber offensichtlich, obwohl nicht für Erdenbewohner gedacht, recht solide.

Gleich hinter der Biegung gewahrten sie, daß die Röhre erneut durch eine runde Scheidewand unterteilt war; sie war etwa sechzig Meter von der anderen entfernt.

„Wie es scheint, besteht die Röhre aus fünf Abteilungen“, sagte Melnikow. „So muß es in Raumschiffen auch sein.“

„Wie es scheint, sind wir jetzt von zwei Seiten eingeschlossen“, entgegnete Wtorow.

„Wir werden ja sehen!“ Doch noch bevor sie die Wand erreicht hatten, erwiesen sich ihre Befürchtungen als unbegründet. Das unsichtbare Auge folgte ihnen aufmerksam. Die abwesenden Herren des Raumschiffes empfingen ihre ungeladenen Besucher — Bewohner eines anderen Planeten — gastfreundlich.

Wieder trat die rätselhafte Automatik in Funktion, und in der Wand bildete sich das bekannte Fünfeck. Dahinter eröffnete sich dem Blick ein dunkler, lichtloser Raum, die zweite Abteilung des Ringes.

Sobald Melnikow die Schwelle überschritten hatte, wiederholte sich der bekannte Vorgang: Die Luft erstrahlte in hellblauem Licht, während in dem Raum, den sie verließen, die Luft „erlosch“. Sofort hinter Wtorow schloß sich die Tür wieder. Die zweite Abteilung war eine genaue Kopie der ersten.

Auch hier schwebte der „gläserne“ Pfad in der Luft, lagen die gleichen Zylinder umher.

„Wahrscheinlich sind dies die Maschinenräume“, sagte Melnikow. „Vielleicht enthält der gesamte innere Ring Antriebsmechanismen.

„Kehren wir um?“

„Und wie bekommen wir die Türen auf! Nein, wir wandern lieber durch die ganze Röhre. Vielleicht kann man sie nur in einer Richtung begehen.“ Sechzig Meter weiter standen sie abermals vor einer geschlossenen Wand. Sie waren überzeugt, daß sich auch diesmal eine Tür öffnen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Melnikow streckte die Hand aus. Aber keine Reaktion.

„Wie ist das möglich?“ fragte er bestürzt. „Ob die Automatik versagt?“

„Kehren wir um.“

„Aber auch dort ist die Tür doch verschlossen.“ Sie standen und wußten nicht, was sie tun sollten. Die Tür zur radialen Röhre öffnete sich nicht — sie hatten es ja versucht.

Hier aber schien überhaupt keine Tür zu sein.

Tiefe Stille umgab sie. Lautlos und weich umfloß der leuchtende Nebel die farbigen Zylinder und die beiden Menschen, die ratlos auf dem schmalen „gläsernen“ Pfad standen. Unerbittlich schien etwas auf sie zuzukommen, als Vergeltung für ihr freches Eindringen.

Sie schwiegen und horchten instinktiv. Die Hörapparate ihrer Helme hätten das leiseste Rascheln wahrgenommen, doch außer dem Atem des anderen hörte keiner von ihnen etwas. Und wo sollten in einem „toten“ Raumschiff auch Laute des Lebens herkommen? Vielleicht hätte sich dort, wo die ungewöhnliche Automatik untergebracht war, die über einen „Gesichtssinn“ und einen „Verstand“ verfügte, das auf so rätselhafte Weise erhalten gebliebene Leben der Mechanismen durch irgendein Geräusch kundgetan, hier aber herrschte Totenstille.

Etwas kam auf sie zu, unabwendbar und drohend. Was konnten sie zu ihrer Rettung unternehmen?

Und da, als beide schon dachten, nur noch die Kameraden draußen könnten ihnen helfen, geschah es.

Hätten sie nicht den Fotoapparat, mit dem Wtorow eifrig Aufnahmen machte, als unbestechlichen Zeugen bei sich behabt, sie hätten hinterher selbst an dem Gesehenen gezweifelt. Aber das Objektiv hielt den unglaublichen Anblick exakt für alle Zeiten fest.

Die gelbgraue Wand, die ihnen den Weg versperrte, verschwand plötzlich. Verschwand restlos. Doch was sich dahinter befand, blieb nach wie vor unsichtbar. Wo eben noch Metall gewesen war, am Ende des „gläsernen“ Stegs, irrlichterten blaue Funken. Sie schienen ein Netz kristallener Fäden zu bilden, hinter dem sich in endloser Tiefe dunkelblaue Finsternis dehnte.

Nur zwei Schritt vor sich aber erblickten die verblüfften Erdenbewohner — einen Menschen des anderen Planeten, einen der Herren dieses merkwürdigen und unbegreiflichen Raumschiffs.

Er stand ihnen gegenüber und blickte sie an. Eine blitzende Aureole blauer Fäden umgab ihn, und er sah völlig real aus, schien ein lebendiger Mensch aus Fleisch und Blut. Klein, schlank und zart, war er in allem das Ebenbild eines Erdenmenschen. Er trug enganliegende dunkelblaue Kleidung, ähnlich dem Trikot der Tänzer. Um den Hals hing eine dünne, silberfarbene Kette.

Nur den Bruchteil einer Sekunde standen er und die Menschen regungslos. Da hörte Melnikow auch schon das Klicken des Fotoapparates — Wtorow hatte den Unbekannten aufgenommen.

Mit langsamen, gleitenden Bewegungen streckte der geheimnisvolle Hausherr die Hände gegen sie aus, als wolle er die Erdenmenschen willkommen heißen.

Da merkten die beiden Raumfahrer, daß sie keinen lebenden Menschen, sondern offenbar die wundersame Erscheinung eines längst Verstorbenen vor sich hatten. Kristallene Fäden durchdrangen seinen ganzen Körper, die Bewegungen waren kaum merklich abrupt.

Jetzt begriffen die beiden Kosmonauten den Sinn des Ganzen. Die unbekannten Herren des Raumschiffes hatten bereits vor Tausenden von Jahren die Ankunft der Erdenmenschen auf der Venus vorausgesehen und sich auf sie vorbereitet. Sie begrüßten die Gäste mit Hilfe ihrer vollendeten Technik. Vor Melnikow und Wtorow stand der wieder zum Leben erweckte Schatten einer fernen Vergangenheit.

Und der Schatten fing an zu sprechen. Sie vernahmen melodische Töne, die sich wie ein getragenes Lied anhörten.

Tief bewegt lauschten sie der Stimme des längst gestorbenen Bewohners eines anderen Planeten, den Begrüßungsworten eines älteren Bruders an sie, die er nicht kannte, an deren Kommen er aber schon vor Jahrtausenden geglaubt hatte.

Die Stimme verstummte. Als zerschmelze sie, verschwand auch die Erscheinung. In der Schnelligkeit der einander kreuzenden Fäden verdichtete sich die blaue Finsternis zu einem festen Vorhang. Wieder schimmerte die Querwand in gelbgrauem Glanz, als habe es nie eine Erscheinung gegeben.

Und wie zum Beweis, daß die Menschen an der Bedeutsamkeit des soeben Geschauten nicht zu zweifeln brauchten, öffnete sich einladend die Tür zur nächsten Abteilung.

Sie war erfüllt von dem gleichen gedämpften hellblauen Licht.

Doch gab es hier weder Zylinder noch einen „gläsernen“ Steg.

Ein ganz anderer Anblick tat sich auf.

„Über Jahrtausende hinweg“, sagte Melnikow, „haben uns die ersten Menschen, die die Venus besuchten, ihre brüderlichen Grüße entboten. Wir wissen nicht, wie und weshalb sie hier umgekommen und nicht in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Aber wir müssen und werden es erfahren. Wir sind ihre Erben.“

Der fünfte Planet

Schon hat die Wissenschaft gewaltige Gipfel erstürmt, von denen sich weite Blicke auftun. Wir „sehen“ unzählige Welten, die wie die Erde von vernünftigen Wesen bewohnt sind und auf denen sich, wie bei uns, das Leben langsam und allmählich, aber unaufhaltsam höher entwickelt.

So wie der Tod des Einzelmenschen nicht das Dasein der Menschheit beendet, kann auch der Tod der Menschheit nicht das Ende des Lebens auf anderen Welten bedeuten. Selbst wenn wir annehmen wollten, im ganzen uns sichtbaren Weltall würde das Leben ausgelöscht, bliebe es doch immer noch dort erhalten, wo der Blick des Menschen nicht (oder besser, noch nicht) hindringt.

Es gab eine Zeit, da unser Sonnensystem nicht neun, sondern zehn Planeten umfaßte. Zwischen Mars und Jupiter kreiste, von der Sonne aus gerechnet, ein fünfter Planet. Er ging zugrunde.

Wie und weshalb, weiß niemand. Doch was heute noch unbekannt ist, wird morgen bekannt sein.

Die Bewohner des fünften Planeten verschwanden aus dem Weltall. Ihr Geist jedoch, der einen langen und beschwerlichen Entwicklungsweg zurückgelegt hatte, war bereits mächtig genug, um anderen Welten, anderen vernünftigen Wesen von seiner einstigen Existenz Kunde zu hinterlassen. Die Bewohner des zum Untergang verurteilten Planeten verstanden Raumschiffe zu bauen, um mit ihnen die sterbende Heimat zu verlassen. Daß eins dieser Raumschiffe auf der Venus lag, zeugte davon, daß sie es wirklich getan hatten.

Doch war dies ihr einziges Raumschiff? Wohin hatten sich die anderen gerettet? Wo hatten die verwaisten Bewohner des Planeten Asyl gefunden? Auch das wird einmal erforscht werden.

Eines der Raumschiffe hatte jedenfalls die Venus erreicht und war nun entdeckt worden. Seine Erbauer hatten sehr wohl gewußt, daß ihr Heimatplanet nicht die einzige von vernunftbegabten Wesen bewohnte Welt war. Sie glaubten fest daran, daß früher oder später die Bewohner anderer Planeten auf der Venus erscheinen würden. Sie wußten auch, daß ihr Raumschiff Jahrtausende überdauern konnte, und glaubten, daß der Verstand der ihnen noch unbekannten Weltraumfahrer dem ihren gleichen würde. Und da sie dies alles wußten und glaubten, hatten sie sich auf die Ankunft jener vorbereitet, die das von ihnen hinterlassene Wissenserbe in der endlosen Abfolge der Entwicklung des Geistes empfangen, erweitern und weiterentwickeln sollten.

Wissen und Technik werden nicht nur in den Grenzen eines Planeten von Generation auf Generation vererbt. Sie können als Beweis der engen Verbundenheit aller denkenden Wesen auch von einem Planeten auf den anderen übergehen.

Jene, die mit dem ringförmigen Raumschiff zur Venus gefahren waren, hatten das gewußt.

Das erste, was Melnikow und Wtorow sahen, als sie die dritte Abteilung des Raumschiffes betraten, war ein Schema des Sonnensystems, das ihnen genau gegenüber an der Wand hing. Es war ein großer Bogen bläulichen Papiers, jedenfalls sah es genauso wie Papier aus.

Die beiden Raumfahrer bemerkten sofort eine Besonderheit dieses Schemas, die es von analogen Schemata der irdischen Astronomie unterschied, und sie begriffen, daß es eigens für sie aufgehängt worden war.

Hier erhielten sie den ersten Hinweis auf das — wie sich bald herausstellen sollte — gewaltige Erbe, das ihnen die Wissenschaft eines aus dem Weltall verschwundenen Planeten hinterlassen hatte.

Das Schema zeigte die Umlaufbahnen von zehn Planeten.

Zehn, nicht neun! Jeder Planet war als kleiner Kreis im richtigen Größenverhältnis und mit den Umlaufbahnen seiner Trabanten dargestellt.

Schon von der Tür aus erblickten Melnikow und Wtorow den „überzähligen“ Planeten, und sie wußten sofort Bescheid.

„Da haben wir endlich den untrüglichen Beweis, daß tatsächlich ein fünfter Planet existiert hat“, sagte Melnikow. „Und von dort sind sie gekommen.“

„In unserer Astronomie wird er ja wohl Phaeton genannt?“ fragte Wtorow.

„Ja, den Namen gibt es.“ Sie traten näher. Diese Abteilung war bedeutend kürzer als die beiden anderen, rund fünfzehn Meter lang. Vor Aufregung achteten sie nicht auf die eigenartige Ausstattung und bemerkten nicht einmal, daß sich die Tür wieder hinter ihnen schloß.

Die Entdeckung des fünften Planeten nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Das war eine Neuigkeit von ungeheurer wissenschaftlicher Bedeutung.

Aus der Nähe erkannten sie, daß die Darstellung außer den Planetenbahnen, wenn auch viel schwächer, noch die Bahnen von drei Asteroiden zeigte. Das Schema bestand nicht aus Papier, sondern aus einer Art von farbigem Plexiglas. Und es hing nicht an der Wand, sondern davor, als sei es überhaupt nicht befestigt.

Was sie jetzt erlebten, übertraf alles Bisherige an Bedeutung und Erstaunlichkeit. Aus dem Dunkel ferner Zeiten „berichteten“ die Herren des Raumschiffes von allem, was ihnen auf der Venus und zuvor widerfahren war. Das konnte als ein erneuter Beweis dafür gelten, daß sie die Vorbereitungen für die Ankunft von Bewohnern anderer Planeten bewußt getroffen hatten und daß sie bestrebt gewesen waren, ihnen soviel Wissen wie möglich zu hinterlassen. Im voraus eingestellte, programmgesteuerte Automatik hatte die Gäste bis hierher, in diesen Raum „geführt“. Nirgendwo sonsthin hätten sie gelangen können, weil die Türen verschlossen geblieben wären. Das erkannten sie, nachdem alles vorüber war. Hier aber sollten sie sich einen knappen, doch aufschlußreichen Bericht anhören, um vieles, was bis dahin unter dem Schleier des Geheimnisses verborgen gewesen war, besser zu verstehen. Was dennoch unverständlich blieb, würde sich in der Folge aufklären, denn man gab ihnen deutliche Hinweise, wo der Schlüssel zu den Geheimnissen zu rinden sei. Die Herren des Raumschiffes hatten alles vorausgesehen!

In das Schema kam „Leben“. Langsam bewegten sich die Planeten mit ihren Trabanten von der Stelle und kreisten auf ihren Bahnen. Die Sonne in der Mitte blitzte auf wie ein kleiner Brillant. Zugleich mit allen anderen setzte sich auch der Planet Phaeton in Bewegung. Ihn umkreiste ein winziger Trabant.

Plötzlich löste sich ein leuchtender kleiner Punkt vom fünften Planeten. Für einen Augenblick vergrößerten sich seine Proportionen, und die Raumfahrer erkannten drei Ringe, die miteinander verbunden waren. Das war eine Darstellung des Raumschiffes, in dem sie sich befanden. Nachdem es wieder zum Punkt geworden war, flog es auf den Mars zu, verschmolz für eine Sekunde mit ihm und bewegte sich dann weiter zur Erde.

So wurde ihnen der in sagenhafter Vorzeit unternommene Flug des Weltraumschiffes demonstriert.

Gerade als der Punkt mit der Erde verschmolz, was auf die Darstellung einer Landung schließen ließ, flammte an der Stelle, wo sich der Planet Phaeton befand, ein greller Blitz auf, als habe sich Magnesium entzündet. Der blendende Feuerschein erlosch sofort wieder, doch der Phaeton war aus dem Schema verschwunden. Auch sein Trabant war nicht mehr da. Über die Bahn des Planeten huschten winzige Funken. Dann erloschen auch sie, und gleich darauf zeichneten sich die Bahnen der Asteroiden ab.

Melnikow und Wtorow stockte buchstäblich der Atem. Soeben hatte sich vor ihren Augen noch einmal jene Katastrophe abgespielt, die den fünften Planeten vernichtete, war das Geheimnis der Asteroiden im Sonnensystem gelüftet worden. Sie waren „Zeugen“ des tragischen Schicksals der Raumschiffbesatzung geworden, die den Untergang ihres Heimatplaneten zweifellos mit angesehen hatte. Was war weiter mit ihr geschehen?

Was war die Ursache der schrecklichen Katastrophe des Phaeton?

Die Vorführung ging weiter. Der Punkt — das Raumschiff vom Phaeton — löste sich wieder von der Erde und steuerte auf eines der Bruchstücke des einstigen Planeten zu. Er umkreiste es, wandte sich dann dem zweiten und schließlich dem dritten zu. Ein stummes und doch so beredtes Bild! Die beiden Menschen glaubten die Gesichter der Raumschiffbesatzung deutlich vor sich zu sehen, wie sie mit Tränen in den Augen auf die Überreste ihres Heimatplaneten und die Trümmer all dessen starrten, was sie beim Abflug zurückgelassen hatten.

Das Raumschiff der Phaetonen schoß auf die Venus zu und verschmolz mit ihr. Das Schema erlosch, und die beiden Menschen hatten nur noch eine leere glatte „Plexiglasfläche“ vor sich.

Dann rollte das Ganze erneut in derselben Reihenfolge vor ihnen ab.

Diesmal vergaß Wtorow nicht, zu fotografieren. Er knipste Bild auf Bild und legte dann in fieberhafter Eile einen neuen Film ein. Jeden Augenblick konnte sich wieder irgend etwas ereignen.

Dieses Irgendetwas ließ nicht lange auf sich warten. Sie wußten schon, was kommen würde, als die „Plexiglasfläche“ plötzlich verschwand und in dem entstandenen leeren Raum das Gesicht eines Phaetonen auftauchte.

Es folgte ein Bericht über den Raumflug der letzten Überlebenden des untergegangenen Planeten.

Nicht nur Melnikow, auch Wtorow, Fachmann auf dem Gebiet der Fototechnik, vermochte hinterher nicht zu erklären, was technisch vor sich gegangen und wie dieser erstaunliche „Film“ aufgenommen und vorgeführt worden war.

Der „Film“ lief bei dem hellblauen Licht, das die Abteilung füllte, doch das beeinträchtigte die Erkennbarkeit des Bildes nicht. Er war plastisch und farbig. Es gab keine Leinwand. Eine Szene nach der anderen rollte, verblüffend real und wie echtes Leben wirkend, an jener Stelle ab, wo die „Plexiglasfläche“ geschwebt hatte.

Die Vorführung dauerte eine halbe Stunde. Wtorow machte so viele Aufnahmen, daß er fünfmal den Film wechseln mußte.

Der „Bericht“ war unzusammenhängend und auch nicht abgeschlossen. Am ehesten waren das ohne besonderen Plan gedrehte Filmfragmente, eine Art Reiseskizzen.

Hinterher äußerte Melnikow die Vermutung, die Phaetonen hätten wohl nicht von Anfang an beabsichtigt, diesen Film den Bewohnern anderer Planeten zu zeigen, sondern ihn zunächst für sich selbst aufgenommen. Erst später hätten sie sich entschlossen, ihn den Menschen der Zukunft als Vermächtnis zu hinterlassen.

Viele Dinge auf der Venus, aber auch auf der Arsena und dem Mars, die den Menschen rätselhaft und unbegreiflich erschienen waren, erhielten jetzt endlich eine glaubwürdige Erklärung.

Doch seltsam! In den Szenen des „Films“ tauchte kein einziges Mal die Erde auf, obschon das Raumschiff sie doch, wie im Schema gezeigt worden war, besucht hatte. Keine einzige Aufnahme von irdischer Landschaft. Und, was noch schlimmer war, keine einzige Aufnahme vom fünften Planeten selbst.

Nichts, was einen Eindruck von der Oberfläche des Phaeton und vom Leben seiner Bewohner hätte vermitteln können.

Das bewies, daß der „Film“ während des Raumflugs gedreht worden war, um nach der Rückkehr auf dem Phaeton gezeigt zu werden. Die Raumschiffbesatzung hatte also zurückzukehren beabsichtigt und nichts von der drohenden Katastrophe geahnt.

Zuerst war in Großaufnahme der Kopf eines Phaetonen zu sehen. Es war aber nicht jener, der sie am Eingang zu dieser Abteilung begrüßt hatte. Langes weißes Haar umrahmte sein eigentümlich schönes Gesicht mit blaßblauen Augen, die fast fünfmal so groß waren wie die der Erdenmenschen, mit einer kleinen Nase und schmalen Lippen. Tiefe Runzeln durchfurchten Stirn und Wangen. Er war offensichtlich hochbetagt.

Melnikow erinnerte sich, daß auch der erste Phaetone keineswegs mehr jung gewesen war. Man konnte jedoch kaum annehmen, daß die Mannschaft des Raumschiffes nur aus Greisen bestanden hatte. Am nächsten lag noch die Vermutung, daß diese Menschen, der Heimat beraubt, lange Jahre auf der Venus gelebt hatten und hier alt geworden waren. Die folgenden Szenen bestätigten die Richtigkeit dieser Vermutung.

Der Phaetone sprach einige Worte. Wieder vernahmen die beiden Männer die melodischen Laute der unbekannten Sprache.

Dann verschwand der Kopf, und zum drittenmal tauchte das Schema des Sonnensystems auf. Es schien nach der Methode der Zeichentrickfilme hergestellt. Das gelbgraue Raumschiff flog vom Phaeton zum Mars.

Und nun erblickte Melnikow wie durch ein offenes Fenster das ihm wohlbekannte Bild der Marswüste. Im Laufe der Jahrtausende hatte sie sich nicht im geringsten verändert. Die gleichen Pflanzen, die gleichen Seen, der gleiche blauviolette Himmel mit Sonne und Sternen. Am Ufer eines Sees lag das ringförmige Raumschiff. Davor bewegten sich Phaetonen, standen seltsame Apparate — halb Auto, halb Flugzeug. Ein Mitglied der Besatzung kam unmittelbar auf das „Fenster“ zu; das junge energische Gesicht des dem Aussehen nach zierlichen und kleinen Phaetonen war gut zu erkennen. Er trug einen Anzug mit durchsichtigem Helm, der den Raumanzügen der Erdenmenschen sehr ähnelte.

Jetzt bekommen wir wahrscheinlich bald die „Echsen“ und die „Kaninchen“ zu sehen, dachte Melnikow.

Tatsächlich wurden sie ihnen gezeigt, aber ganz anders als erwartet Wieder enthüllte sich ein Geheimnis.

Nach der Rückkehr des Raumschiffes „SSSR-KS 2“ waren unter den Wissenschaftlern, insbesondere den Biologen, heftige Diskussionen entbrannt. Das Vorhandensein zweier hochentwickelter Tierarten auf dem Mars bei völligem Fehlen aller — anderen und bei der Artenarmut der Flora schien rätselhaft, widersprach strikt den unumstößlichen und logischen Gesetzen der Biologie. Eine der Hauptaufgaben der Marsexpedition William Jenkins’ hatte deswegen darin bestanden, dieses Rätsel zu lösen.

Nun erfuhren Melnikow und Wtorow hier auf der Venus, worin das Geheimnis bestand. Vor ihren Augen ließen die Phaetonen mehrere „Echsen“ und einige hundert „Kaninchen“ aus dem Raumschiff. Die rätselhaften Tiere waren also gar keine „Marsbewohner“, sondern „Phaetonen“.

Weshalb hatte man sie auf den Mars gebracht? Die Antwort drängte sich von selbst auf. Es war ein wissenschaftliches Experiment gewesen. Man hatte feststellen wollen, ob sich Tiere auf dem Mars akklimatisieren könnten. Offenbar hatten sich die Wissenschaftler des Phaeton dafür interessiert. Ihnen selbst waren die Ergebnisse unbekannt geblieben, doch Melnikow wußte, daß das Experiment gelungen war. Mit eigenen Augen hatte er die Nachkommen der Tiere gesehen, die sich auf dem fremden Planeten fleißig vermehrt hatten.

Welch eine Sensation für die Biologen! dachte er.

Der Zeit nach zu urteilen, die das Vorführen der Bilder vom Marsaufenthalt beanspruchte, waren die Phaetonen nicht lange dort gewesen. Die beiden Menschen sahen nur noch, wie sie mit Hilfe merkwürdiger Maschinen ein Denkmal errichteten: einen riesigen Dodekaeder auf einem Granitsockel. Schwerlich würden sich die Mitglieder von Jenkins’ Expedition, wenn sie diesen steinernen Zeugen entdeckten, den Ursprung erklären können.

Danach erschien wieder das Schema. Das ringförmige Raumschiff flog zur Erde.

Melnikow hoffte, sie würden einen Blick in die ferne Vergangenheit ihres Heimatplaneten tun können. Doch es gab eine Enttäuschung. Die Phaetonen hielten es nicht für nötig, die Erde zu zeigen. Vielleicht hatten sie gewußt, daß es Menschen der Erde sein würden, die in der Zukunft ihr Raumschiff besuchten.

Erneut war das Schema zu sehen. Das Raumschiff verließ die Erde und steuerte auf einen der Asteroiden zu.

Melnikow und Wtorow bot sich ein ebenso wüster Anblick wie auf der Arsena: ein Chaos aus Felsen, Abgründen und Schluchten.

Auf dem zweiten Asteroiden sah es nicht anders aus. Die Phaetonen waren aber offensichtlich weder auf dem ersten noch auf dem zweiten gelandet. Sie hatten die Aufnahmen während des Fluges von Bord des Raumschiffes aus gemacht.

Doch dann erschien auf der „Leinwand“ der ihnen wohlbekannte runde Talkessel der Arsena. Diesmal landeten die Phaetonen und verließen ihr Raumschiff. Wieder tauchten eigenartige, komplizierte Maschinen auf. Sie brachen Felsen, schliffen sie glatt und stellten sie auf künstlich geebnetem Grund auf.

Die Maschinen arbeiteten augenscheinlich selbständig, denn keiner der Phaetonen hielt sich in ihrer Nähe auf. Es entstand ein merkwürdiges Bauwerk: ein riesiges Quadrat mit granitenen Darstellungen der Körper eines einfachen kubischen Systems.

Weshalb hatte man sie auf dem wüsten, unbewohnten Asteroiden aufgestellt? Auch auf diese Frage gab der „Film“ Antwort. Unter den Granitfiguren wurden Metallbehälter eingemauert.

So bestätigte sich die von Belopolski gleich nach dem Start von der Arsena ausgesprochene Hypothese vollauf. Auf dem Bruchstück des Phaeton war ein ungeheurer wissenschaftlicher Schatz für die Menschen hinterlassen worden. Unter den vorläufig noch unverständlichen symbolischen Figuren lagen seit Jahrtausenden die Dokumente des wissenschaftlichen und technischen Wissens einer untergegangenen Welt verborgen. Sie galt es zu finden, zutage zu fördern und auszuwerten. Da die Phaetonen nicht gewußt hatten, was sie auf der Venus erwartete, hatten sie ihr Archiv auf der Arsena deponiert.

Einen besseren Safe hätte man schwerlich finden können, dachte Melnikow.

Dann erblickten die beiden Männer die Landschaft der Venus.

Sie sahen acht junge Phaetonen aus dem ringförmigen Raumschiff, das am Ufer desselben Sees lag, an dem jetzt die „SSSR-KS 3“ ankerte, aussteigen — alle in Raumanzügen. Ein Beweis dafür, daß die Venusluft für sie ebenso unverträglich war wie für den Erdenmenschen.

Den Wald, der jetzt das Raumschiff umschloß, hatte es damals noch nicht gegeben. Vom See bis zu den Bergen erstreckte sich eine mit dichtem und hohem gelbbraunem Gras bedeckte Ebene.

Das Raumschiff der Phaetonen blieb sehr lange an ein und derselben Stelle der Venus liegen. Das konnte man an den Gesichtern der Besatzung erkennen, die immer älter wurden. Die Phaetonen bereisten den Planeten mit ihren merkwürdigen Fahrzeugen, die halb wie ein Auto, halb wie ein Flugzeug aussahen.

Melnikow und Wtorow erlebten mit, wie das erste Mitglied der fremden Besatzung starb, und wohnten seiner Bestattung bei. Und wieder enthüllte sich ihnen ein Geheimnis. Der Körper des Toten wurde in eine steinerne Schale gelegt, eine Flamme loderte auf und verzehrte den Leichnam restlos. Die Leichen der anderen wurden später auf die gleiche Weise bestattet.

Die Zahl der Phaetonen nahm ab. Nach jeder Bestattungszeremonie erlosch die Flamme in der Schale wieder. Sie wurde gelöscht, aber wie, zeigte man den beiden Menschen nicht. Nun war auch klar, weshalb die Flamme im Raumschiff immer noch brannte. Es war schließlich niemand mehr dagewesen, sie zu loschen. Der letzte Phaetone hatte sich selbst verbrannt.

Seine Grabesflamme hatte sie an der Schwelle des Raumschiffes als Ewiges Licht begrüßt — Symbol ewig lebendigen Geistes!

Der größere Teil des „Films“ war der Venus gewidmet. Eines ihrer Rätsel nach dem anderen wurde gelöst.

Die Phaetonen lehrten die Venusbewohner, schwach leuchtende Bäume anzupflanzen, deren Heimat offensichtlich der Phaeton war. Sie bauten an diesem und anderen Flüssen Staudämme und brachten den Venusianern das Flößen bei. Sie versahen sie mit vielen Werkzeugen, darunter auch mit Linealen, die als einzige bei den Venusbewohnern bis heute in Gebrauch geblieben waren. Alles andere hatten sie offensichtlich im Laufe der Zeit vergessen oder verloren. Die Phaetonen halfen ihnen, in einer Höhle eine Stadt zu bauen. Sie lehrten sie, die „Schildkröten“ zu fangen und abzurichten, sie zu Haustieren für schwere Arbeiten zu machen. Auch wurde deutlich, daß sich die Phaetonen mit den Venusianern in deren Sprache verständigt hatten, wofür sie besondere Apparate mit einer Art von Kopfhörern verwendeten.

Nur verschwindend wenig von dem, womit die Phaetonen sie ausgerüstet hatten, war den Venusianern erhalten geblieben — armselige Spuren der ungeheuren, geduldigen Arbeit jener, die von einem anderen Planeten zugewandert waren. Aber hätte es denn anders sein können? Zu kurz war der Auf enthalt der Phaetonen auf der Venus gewesen. Ihre Saat war nur unvollständig aufgegangen.

Am Ende des „Films“ wurde klar und einfach gezeigt, wie die Türen im Raumschiff zu öffnen waren. Melnikows Vermutung, sie reagierten auf Gesten, bestätigte sich nicht. Es existierten Knöpfe, und der „Film“ zeigte, wo sie zu finden waren.

Daß sich die fünfeckigen Öffnungen vor ihnen wie von selbst aufgetan hatten, gehörte zu den Vorbereitungen der Phaetonen auf die Ankunft der Menschen. Man hatte sie auf einem vorher festgelegten Weg durch das Schiff „geführt“.

Nachdem der „Film“ abgelaufen war, begann er wieder von vorn. Anscheinend hatten die Herren des Raumschiffes angenommen, die ihnen unbekannten Zuschauer könnten bei einer einzigen Vorführung nicht alles erfassen und sich merken.

Doch Wtorow und Melnikow sahen sich den „Film“, obschon sie es gern getan hätten, nicht noch ein zweites Mal an. Sie hatten es eilig, zum eigenen Raumschiff zurückzukehren, um dort zu berichten, was sie gesehen hatten.

Die erhaltenen Hinweise befolgend, kehrten sie auf demselben Wege wie zuvor ins Zentrum zurück, wo nach wie vor die hellblaue Flamme brannte und die spitzwinkeligen Facetten der Wände, sich gegenseitig spiegelnd, vielfarbig schimmerten.

Wie auf Verabredung verneigten sich beide vor der steinernen Schale und dem darin brennenden Feuer, dem Grab des letzten Menschen vom untergegangenen Phaeton und älteren Bruders des Erdenmenschen.

Melnikow nahm sein Notizbuch wieder vom unsichtbaren Sockel herunter. Hätte er gewußt, was diese Schale vorstellte, hätte er es niemals dorthin gelegt.

Dann streckte er die Hand nach dem unauffälligen Knopf aus, um die Außentür zu öffnen, doch sie verschwand ganz von selbst. Im ersten Augenblick glaubten sie, das sei eine liebenswürdige Abschiedsgeste der Herren des Raumschiffs, aber dann erblickten sie auf der anderen Seite der fünfeckigen Öffnung Paitschadse und Korzewski. Über das lange Schweigen der Kundschafter beunruhigt, wollten sie ihnen gerade zu Hilfe kommen.

„Was habt ihr gesehen?“ fragten beide wie aus einem Munde.

„Es würde zu lange dauern, das jetzt zu erzählen“, antwortete Melnikow. „Wartet, bis wir an Bord unseres Schiffes sind.“

„Können wir rein?“

„Besser nicht. Wir haben einen unbekannten Geruch wahrgenommen. Da drin ist keine Venusluft. Es wäre unverantwortlich, auch euch der Gefahr auszusetzen.“ Belopolski schloß sich Melnikows Argumenten an und befahl allen, zum Raumschiff zurückzukehren.

Das astronomische Rätsel

Als Professor Kasarin, Observatoriumsdirektor und Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften, wie gewöhnlich Punkt halb zehn Uhr morgens sein Arbeitszimmer betrat, war das erste, was er den Sekretär fragte: „Was macht das ›Rätsel‹?“

„Alexej Petrowitsch hat in den letzten zehn Minuten schon zweimal angerufen“, antwortete der Sekretär. „Er wollte wissen, ob Sie schon hier sind.“

„Bitten Sie ihn sofort zu mir. — Natürlich nur, wenn er frei ist“, fügte Kasarin hinzu. „Falls er zu tun hat, möchte er anrufen.“ Der Professor trat an seinen Schreibtisch, nahm den Arbeitsbericht des Observatoriums über die letzten vierundzwanzig Stunden zur Hand und studierte ihn eingehend. Unter dem Namen „Subbotin“ stand: „5.30-7.00 Bewegung des ›Rätsels‹ beobachtet. Großer Refraktor.“

„Soso“, sagte Kasarin. Es war eine Angewohnheit von ihm, laut zu denken. „Drei Nachte beobachtet er schon. Wann kommen endlich die Schlußfolgerungen? Was steckt dahinter, zum Donnerwetter noch mal!“ Das „Rätsel“, für das bisher noch keine Erklärung gefunden war, beunruhigte nicht nur Kasarin. Alle Mitarbeiter des Observatoriums und viele Menschen außerhalb seiner Mauern, die von dem Auftauchen des rätselhaften Körpers am Himmel wußten, zerbrachen sich seinetwegen den Kopf. Die anfängliche Vermutung, es sei ein neuer Komet, erwies sich sehr bald als falsch.

Auch die Ansicht, es handele sich um einen unbekannten Asteroiden, ließ sich nicht aufrechterhalten. Der vor drei Tagen entdeckte Himmelskörper verhielt sich nicht wie ein Komet oder Asteroid. Blieb nur noch die Möglichkeit… Aber das Schlimme war, daß es eine andere Möglichkeit nicht gab. Keine einzige vernünftige Erklärung! Im Sonnensystem war etwas Fremdes und bisher Unerklärliches aufgetaucht.

Phantasiebegabte Gemüter stellten sogar die Hypothese auf, es handle sich um ein Raumschiff aus einem anderen Sonnensystem, doch diese kühne Vermutung stand mit den Beobachtungen nicht in Einklang. Der Himmelskörper Verhielt sich ohneSinn und Verstand. Er raste irgendwo zwischen Venus und Sonne in den verschiedensten Richtungen hin und her. Ein von einem vernünftigen Wesen gesteuertes Raumschiff würde sich unmöglich so verhalten. Aber auch durch physikalische Gesetze ließen sich seine Bewegungen nicht erklären. Der geheimnisvolle Körper schien’den Gesetzen der Himmelsmechanik nicht unterworfen zu sein. Er ignorierte die Anziehungskraft der Sonne und der Venus, neben der er zum erstenmal gesichtet worden war, bewegte sich bald auf die Sonne zu, bald von ihr weg. Es war eine ganz unsinnige Bahn.

„Wenn es ein Raumschiff ist“, bemerkte einer der Mitarbeiter des Observatoriums, „so wird es von Wahnsinnigen gesteuert.“ Dozent Subbotin, der das „Rätsel“ zuerst ausgemacht hatte, unterbrach alle laufenden Arbeiten und beobachtete seine Entdeckung nun schon die dritte Nacht.

Im Okular des Refraktors und auf den Fotografien sah das „Rätsel“ wie ein glänzender Punkt aus. So glänzend, daß zu vermuten war, es sei aus Metall. Doch dadurch wurde die Frage nicht beantwortet, sondern nur noch erschwert.

Subbotin hatte sich vorgenommen, in dieser Nacht oder vielmehr gegen Morgen, denn das „Rätsel“ war nur vor Sonnenaufgang und kurz danach zu beobachten (dann verlor es sich in den Strahlen der Sonne), um jeden Preis die Form des geheimnisvollen Körpers festzustellen. Auf das Ergebnis dieser Bemühungen wartete Kasarin mit solcher Ungeduld.

„Darf ich?“ In Gedanken vertieft, antwortete der Professor nicht sofort.

„Ja, natürlich“, sagte er dann. „Kommen Sie rein, Alexej Petrowitsch. Ich warte schon auf Sie.“ Subbotin trat an den Schreibtisch. Er war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, hochaufgeschossen und hager, aber offensichtlich kerngesund. Obwohl er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, war ihm nicht das geringste anzumerken.

Nachdem er dem Direktor die Hand gegeben hatte, nahm er in einem Sessel Platz.

„Eine Scheibe“, sagte er, „eine ideal runde, flache Scheibe mit irgendwelchen Aussparungen in der Mitte.“

„Ihre Abmessungen?“

„Zirka zweihundertfünfzig Meter im Durchmesser, vielleicht auch dreihundert Ganz genau laßt sich das nicht bestimmen.“

„Welche Richtung verfolgt sie jetzt?“

„Sie bewegte sich von der Sonne weg auf die Erde zu, aber plötzlich, vor meinen Augen, ist sie zur Venus abgebogen. Und zwar ganz abrupt. Wenigstens kam es mir so vor.“

„Wo ist sie jetzt?“

„Zirka fünfzehn Millionen Kilometer hinter der Venus. Sie bewegt sich sehr schnell.“

„Wie schnell?“

„Fünfzig Kilometer in der Sekunde.“

„Das bedeutet“, sagte Kasarin, „in etwa dreihundert Stunden wird das ›Rätsel‹ auf die Venus stürzen.“

„Wenn es nicht wieder seinen Kurs ändert. Es hat ihn schon sechsmal geändert. Und das allein im Zeitraum der Beobachtungen, und der ist, wie Sie wissen, jeweils nur von kurzer Dauer.

Man kann mit Sicherheit behaupten, daß sich das ›Rätsel‹ auch dann, wenn wir es nicht sehen, in den verschiedensten Richtungen bewegt. Es besteht deshalb kein Grund anzunehmen, daß es auf die Venus stürzen wird. Das hätte schon mehrmals passieren können.“

„Es stürzt weder auf die Venus noch auf die Sonne“, sinnierte Kasarin. „Es bewegt sich, wohin es will. Meinen Sie nicht doch, Alexej Petrowitsch, daß dieses Biest Triebwerke besitzt?“ Subbotin zuckte mit den Achseln. „Himmelskörper“, antwortete er, „haben keine Triebwerke.

Sie bewegen sich nach den Gesetzen der Physik.“

„Und nach welchen Gesetzen bewegt sich dies Ding?“

„Nach gar keinen, das ist wahr. Aber Triebwerke… Das bedeutete Vernunft…“

„Heute nacht“, sagte Kasarin, unwillkürlich die Stimme dämpfend, „ist mir der Gedanke gekommen, es könnte Belopolskis Raumschiff sein. Aber da Sie behaupten, es habe die Form einer Scheibe, entfällt…“

„Aber erlauben Sie mal“, unterbrach ihn Subbotin. „Nehmen wir an, Sie hätten recht, und das ›Rätsel‹ sei die ›SSSR-KS 3‹.

Aus welchem Grunde sollte sie statt am siebenundzwanzigsten September schon am achten August von der Venus gestartet sein? Und nehmen wir an, ich hätte mich bei der Form geirrt.

Wie erklären Sie sich dann das Verhalten des Raumschiffs?

Warum bewegt es sich in verschiedene Richtungen?“ Kasarin stand auf und ging im Arbeitszimmer auf und ab.

„Das ist es ja“, sagte er. „Das Verhalten dieses Körpers entbehrt des Sinns. Aber wir wissen nicht, was unsere Genossen auf der Venus erlebt haben.“

„Es ist doch wohl kaum anzunehmen, daß die ganze Besatzung den Verstand verloren hat.“

„Wieso die ganze? Belopolski und Melnikow genügen. Sie allein sind in der Lage, das Raumschiff zu steuern. Aber es könnte auch etwas anderes passiert sein. Nehmen wir an, Belopolski und Melnikow sind umgekommen und Paitschadse oder Balandin steuert das Raumschiff. Meinen Sie nicht auch, daß es sich bei ungeschickter Steuerung gerade so und nicht anders verhalten müßte oder zumindest könnte?“

„Das ist zweifelhaft. Über diese Frage holen wir uns am besten bei Kamow Auskunft. Er kennt sich da am ehesten aus.

Aber ich bin ganz sicher, daß der Körper die Form einer regelmäßigen Scheibe hat. Also kann es nicht die ›KS 3‹ sein. Gleich wird man ihnen die entwickelten Negative meiner Aufnahmen und die Spektrogramme bringen. Dann können Sie selber meine Schlußfolgerungen überprüfen.“

„Ich zweifle nicht an ihrer Richtigkeit“, antwortete Kasarin.

„Ich wollte Ihnen nur meine nächtlichen Gedanken mitteilen.

Jedoch die Form des Körpers läßt keinen Zweifel. Es handelt sich nicht um Belopolskis Raumschiff. Aber was ist es dann?“ Der junge Astronom zuckte mit den Achseln.

„Wir werden weiter beobachten“, sagte er.

Der Sekretär trat ein und überreichte ein Telegramm.

„Von der Krim“, sagte er.

Kasarin überflog es und reichte es schweigend Subbotin.

Das Astrophysikalische Observatorium Bachtschissarai teilte darin mit, seine Mitarbeiter hätten in der vergangenen Nacht die Form des im Sonnensystem aufgetauchten unbekannten Himmelskörpers bestimmt. Sie waren zum gleichen Ergebnis gelangt.

„Jetzt besteht kein Zweifel mehr“, sagte Kasarin, „es ist eine flache Scheibe. Aber was stellt sie dar?“ Wieder war ein stummes Achselzucken die Antwort.

„Beobachten Sie weiter, Alexej Petrowitsch. Wir müssen das Rätsel unbedingt lösen. Jetzt ist es auch an der Zeit, der Presse Mitteilung zu machen.“

„Meiner Meinung nach ist es noch zu früh“, wandte Subbotin ein. „Warten wir noch ein wenig. Die morgigen Beobachtungen werden vielleicht neues Material liefern. Wenn Sie erlauben, fahre ich jetzt nach Hause.“

„Natürlich, Alexej Petrowitsch. Ruhen Sie sich aus. Wenn es irgend möglich ist, leiste ich Ihnen morgen früh Gesellschaft.

Dann beobachten wir zusammen.“ Kaum hatte sich die Tür hinter dem jungen Wissenschaftler geschlossen, klingelte das Telefon. Kasarin nahm den Hörer ab.

„Sind Sie’s, Sergej Wladimirowitsch?“ vernahm er eine bekannte Stimme.

„Ja, Sergej Alexandrowitsch.“

„Was gibt’s Neues?“

„Wir haben die Form dieses Körpers festgestellt. Es ist eine regelmäßige Scheibe. Nach Subbotins Ermittlungen besitzt sie in ihrer Mitte Aussparungen.“

„Also ist es keine Scheibe, sondern ein Ring?“

„Ein Ring oder etwas Ähnliches. Jedenfalls keine geschlossene Scheibe.“

„Und die Abmessungen?“

„Etwa zweihundertfünfzig Meter im Durchmesser. Und das Interessanteste: Sie hat ihre Geschwindigkeit geändert. Anfangs waren es zwanzig Kilometer pro Sekundenquadrat und heute bereits fünfzig. Außerdem bewegt sie sich von der Sonne weg.“

„Was vermuten Sie?“

„Vorläufig noch gar nichts. Wir stehen vor einem Rätsel.“

„Jedenfalls ist es nicht die ›SSSR-KS 3‹.“ Daß Kamow die gleichen Gedanken gehabt hatte wie er, verblüffte Kasarin.

„Ich habe gerade mit Subbotin darüber gesprochen“, sagte er.

„Was meinen Sie, Sergej Alexandrowitsch, wenn statt Belopolski oder Melnikow jemand anders das Raumschiff steuerte, könnte es sich dann in dieser Art bewegen?“

„Das wäre durchaus möglich. Sozusagen Unterricht während des Fluges. Aber Sie haben ja selbst gesagt, daß die Form…“

„Ja, diese Vermutung können wir mit Sicherheit als unbegründet abtun.“

„Wenn es etwas Neues gibt, rufen Sie mich bitte an.“

„Selbstverständlich, Sergej Alexandrowitsch. Umgehend.“ Kasarin legte auf.

Zwanzig Kilometer entfernt tat Kamow, Direktor des Kosmischen Instituts, in seinem Arbeitszimmer das gleiche.

„Sie sind es nicht“, sagte er. „Du kannst beruhigt sein. Der unbekannte Körper hat die Form einer Scheibe mit einem Durchmesser von über zweihundert Metern. Das ist mit Sicherheit festgestellt.“

„Ist auch kein Irrtum möglich?“ Olga sah ihren Vater beunruhigt an.

„Nein. Wenn Kasarin etwas mit Bestimmtheit sagt, ist er seiner Sache sicher.“

„Ich mache mir solche Sorgen.“

„Jetzt kannst du beruhigt sein. Sie sind auf der Venus und werden termingemäß zur Erde zurückkehren, das heißt in anderthalb Monaten.“

„Nach Orlows Tod bin ich von nichts mehr überzeugt“, sagte Olga. „Solange Boris nicht zurück ist…“

„Er kommt zurück.“ Bei diesen Worten blickte Kamow seiner Tochter gerade in die Augen. „Unter der geschlossenen Wolkendecke der Venus können sie diesen rätselhaften Körper nicht einmal sehen, sie wissen nichts von seiner Existenz. Es ist unsinnig, sich deswegen Sorgen zu machen.“

„Du hast dir ja selber Sorgen gemacht.“

„Ja, aber nur so lange, wie ich darin die ›SSSR-KS 3‹ zu erkennen vermeinte. Jetzt nicht mehr.“

„Was ist es denn aber?“

„Das wissen wir noch nicht. Doch wir werden es bald herausbekommen.“ In Kamows Stimme schwang Ungeduld mit. Olga merkte es.

So war er immer. Sie stand auf.

„Ich werde mir Mühe geben, nicht mehr an das ›Rätsel‹ zu denken“, sagte sie, gab ihrem Vater einen Kuß und wandte sich zur Tür.

Kamow blickte ihr teilnahmsvoll nach. Er verstand seine Tochter nur zu gut.

„Es ist schwer, mit einem Raumfahrer verheiratet zu sein“, erinnerte er sich der Worte, die seine eigene Frau einst gesprochen hatte. „Man mag sagen, was man will, aber kaum eine Expedition ist ohne Opfer abgegangen. Die Raumfahrt steckt eben noch in den Kinderschuhen.“ Er mußte an Hapgood denken, dessen Reste er einst selbst auf dem Mars begraben hatte, an Orlows Tod auf der Arsena und schließlich an das letzte Opfer der Astronautik, den englischen Wissenschaftler Brailey, der auf dem Mars umgekommen war. Erst unlängst war William Jenkins’ Expedition zur Erde heimgekehrt und hatte den Leichnam des jungen Wissenschaftlers mit zurückgebracht. Wie Hapgood war auch Brailey das Opfer einer „Springechse“ geworden, und zwar während einer gefährlichen nächtlichen Jagd auf die Raubtiere. Man hatte zwar zwei „Echsen“ gefangen und lebend zur Erde mitgebracht, aber der Preis dafür war allzu hoch.

Als Kamow vom Auftauchen eines rätselhaften, glänzenden Himmelskörpers in Venusnähe erfahren hatte, war ihm sofort der Gedanke gekommen, es könne die „SSSR-KS 3“ sein, die die Venus lange vor dem festgelegten Termin verlassen habe.

Und als er von dem merkwürdigen Verhalten des „Rätsels“ horte, ging ihm das gleiche wie Kasarin durch den Kopf: Belopolski und Melnikow seien umgekommen, und jemand anders steuere das Raumschiff.

Nun entfiel diese Möglichkeit Die „SSSR-KS 3“ hatte die Form einer Zigarre, nicht aber einer Scheibe.

Wenn man Belopolski doch von dem Auftauchen des „Rätsels“ Mitteilung machen konnte, dachte Kamow. Dann konnten sie starten und sich dieses merkwürdige Ding aus der Nähe ansehen. Es lohnte, seinetwegen das vorgesehene Programm umzustoßen.

Ein Klingeln riß ihn aus seinen Gedanken. Es war das Telefon, das ihn direkt mit der Funkstation von Kamowsk verband.

„Ja bitte!“

„Ein Funkspruch von Bord der ›SSSR-KS 3‹.“

„Was?!“ Kamow traute seinen Ohren nicht.

„Ein Funkspruch von Bord der ›SSSR-KS 3‹“, wiederholte der Funker gleichmütig.

„Lesen Sie bitte vor!“

„Nur ein Satz: ›Gehen Sie zur gewohnten Zeit auf Empfang. Paitschadse. ›SSSR-KS 3‹.“

„Wer hat das durchgegeben?“

„Toporkow.“

„Von wo?“

„Ich weiß nicht. Der Satz wurde dreimal wiederholt. Auf meine Nachfrage kam keine Antwort.“

„Warten Sie, ich komme.“ Kamow legte den Hörer auf. Eine tiefe Falte furchte seine Stirn; die herabhängenden buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen.

Was war geschehen? War der beobachtete Himmelskörper etwa doch Belopolskis Raumschiff? Sollten sich die Mitarbeiter, als sie die Form des „Rätsels“ bestimmten, geirrt haben? Paitschadse kommandierte offenbar das Raumschiff, der Funkspruch war von ihm und nicht von Belopolski oder Melnikow unterzeichnet. Der schreckliche Verdacht, der Expeditionsleiter und sein Stellvertreter seien umgekommen, schien sich zu bestätigen.

Eine Weile stand Kamow regungslos am Schreibtisch, und seine Hand preßte sich unwillkürlich um den Telefonhörer.

Olga! Was sage ich ihr nur, nachdem ich sie gerade überzeugt habe, daß alles in Ordnung ist und Boris zurückkehren wird?

Zwei Gesichter — das eine von tiefen Falten bedeckt, das andere noch jung, mit einer Narbe auf der Stirn und ruhig blickenden graugrünen Augen — standen so deutlich vor ihm, daß es ihn kalt überlief. Sie sind umgekommen!

Alles sprach dafür. Von der Oberfläche der Venus war kein Funkverkehr möglich. Also hatte das Raumschiff den Planeten verlassen. Welchen Grund konnte es dafür geben? Nur einen: eine Tragödie hatte sich abgespielt, die beiden Raumschiffkommandanten waren tot. Was blieb den Expeditionsmitgliedern, von denen kein einziger mit der Steuertechnik vertraut war, zu tun übrig? Nur eines: sofort zur Erde zurückzufliegen. Paitschadse kannte in groben Zügen die Konstruktion des Steuerpults und war mit dem Autopiloten vertraut. Das von den Astronomen festgestellte merkwürdige Verhalten des Raumschiffs ließ sich nur so erklären, daß sein neuer Kommandant steuern lernte.

Alles schien zusammenzupassen und den Verdacht einer Katastrophe zu bestätigen. Alles, außer einem — der Behauptung Subbotins, der unbekannte Körper sei eine Scheibe. Doch das konnte ein Irrtum sein. Die Form eines so kleinen Körpers in einer derartigen Entfernung exakt zu bestimmen war sehr schwierig.

Der Wagen raste über die Leningrader Chaussee. Kamow, der neben dem Fahrer saß, dachte angestrengt nach.

Weshalb war der Funkspruch erst heute abgegangen und nicht schon vor drei Tagen? Die „SSSR-KS 3“ war am Achten gesichtet worden, und heute war bereits der Elfte. Seit drei Tagen flog sie wieder, weshalb hatte die Besatzung bis jetzt geschwiegen?

Jetzt kamen ihm doch Zweifel an Belopolskis und Melnikows Tod, der ihm eben noch sicher erschienen war. Vielleicht waren sie nur schwerverwundet, und Paitschadse führte, ihren Ratschlägen folgend, verschiedene Manöver aus. Nun, das würde sich bald herausstellen. Der für die Funkverbindung zum Raumschiff vereinbarte Zeitpunkt war ein Uhr mittags, und jetzt war es bereits halb zwölf. Es galt, über etwas anderes nachzudenken.

Konnte ein Unerfahrener das Raumschiff mit Hilfe des Autopiloten wohlbehalten zur Erde zurückbringen?

Kamow rief sich die Konstruktion des Steuerpults der „SSSR-KS 3“ bis zu den kleinsten Details in die Erinnerung zurück und gelangte zu der Schlußfolgerung, daß Paitschadse es schaffen könne. Man brauchte dem Autopiloten nur die Ausgangsdaten zu geben — und das Raumschiff fand von allein den Weg zur Erde. Was die Landung, ein sehr schwieriges Manöver, betraf, beherrschte Paitschadse ausgezeichnet die Kunst des Steuerns von Düsenflugzeugen. Das Raumschiff brauchte ja nicht über dem Festland niederzugehen, sondern konnte auf einem der Ozeane landen. Das war viel leichter.

Im großen und ganzen bestand Grund zur Annahme, daß die Expedition auch ohne Belopolski und Melnikow wohlbehalten zurückkehren würde.

Wohlbehalten! Drei Opfer auf einem Flug, dachte Kamow bitter.

Bevor er losgefahren war, hatte er den Vorsitzenden der Regierungskommission zur Organisierung interplanetarer Flüge, Akademiemitglied Woloschin, angerufen. Er war daher nicht erstaunt, als er jetzt dessen Wagen vor dem Gebäude der Funkstation stehen sah.

Die vierzig Minuten, die sie noch warten mußten, kamen allen wie eine Ewigkeit vor.

Endlich war es soweit: ein Uhr!

„Wie lange braucht der Funkspruch bis hierher?“ erkundigte sich Woloschin.

„Vier Minuten“, antwortete Kamow.

Er saß neben dem diensthabenden Funker, bereit, dem Raumschiff zu antworten, dessen Nachricht bereits auf dem Weg zur Erde war. Dicht vor Kamow schwebte die dunkle kleine Öffnung des Mikrofons. Das feine Metallnetz zitterte kaum merklich. Unter dem Fußboden des Funkraums arbeiteten die mächtigen Generatoren, deren Energie in wenigen Minuten Kamows Stimme erfassen und in unermeßliche Fernen tragen würde. Die Richtantenne der Station war auf die Venus eingestellt, in deren Nähe sich die „SSSR-KS 3“ befinden mußte.

Die vier Minuten waren vorüber.

Kaum hatte der große Zeiger den Strich auf dem Zifferblatt erreicht, als im Lautsprecher deutlich die Stimme Toporkows ertönte:

„Hier Raumschiff! Hier Raumschiff ›SSSR-KS 3‹! Antworten Sie! Gehe auf Empfang!“

„Wir hören Sie! Sind empfangsbereit!“ antwortete der Funker.

Jetzt hieß es acht Minuten warten.

„Die Antenne ist genau eingestellt“, sagte der Funker, während er den Sender abschaltete. „Nach der Lautstärke zu urteilen, haben wir das Raumschiff richtig erwischt.“

„Und wo befindet sich jetzt das ›Rätsel‹?“ fragte unvermittelt Woloschin.

„Wie es scheint, in derselben Richtung“, antwortete Kamow. Ebenso wie Woloschin dachte er daran, daß sich gleich erweisen mußte, ob sich hinter dem „Rätsel“ das Raumschiff „SSSR-KS 3“ verbarg. „Ich werde Kasarin anrufen und die Frage klären. Aber nicht jetzt. Erst nach der Sendung.“

Woloschin nickte. Er wußte, daß Kamow wegen seiner Tochter besondere Ursache hatte, besorgt zu sein.

„Achtung!“ sagte der Funker.

Die Uhr zeigte vierzehn Minuten nach eins.

„Hier Raumschiff ›SSSR-KS 3‹. Sende eine Mitteilung des Leiters der wissenschaftlichen Gruppe der Expedition, Paitschadse…“ Kamow und Woloschin wechselten einen Blick. Was hatte das zu bedeuten? Weshalb nannte Toporkow Paitschadse Leiter der wissenschaftlichen Gruppe, nicht aber Kommandant des Raumschiffes? Wer war dann Kommandant? Wo war Professor Balandin geblieben?

„Neben einem Bergsee, zu dem die ›SSSR-KS 3‹, Hinweisen der Venusianer folgend, geflogen ist, wurde ein Raumschiff entdeckt. Allen Anhaltspunkten nach ist es vor vielen tausend Jahren von einem untergegangenen Planeten unseres Sonnensystems, dem Phaeton, gekommen…“

Die drei lauschten mit angehaltenem Atem.

Der letzte Start

„Für mich steht außer Zweifel, daß die Phaetonen mittels eines besonderen Apparates mit den Venusianern gesprochen haben“, schloß Melnikow seinen Bericht. „Leider gibt es keinerlei Hinweise, was das für ein Apparat war.“

„Da kann ich Ihnen Auskunft geben“, sagte Toporkow, „Genauso einen oder zumindest einen ähnlichen haben Konstantin Wassiljewitsch und ich nämlich konstruiert. Die Venusianer geben zweifellos Laute von sich, allerdings im Bereich der Ultraschallwellen, deshalb können wir sie nicht hören. Um mit ihnen sprechen zu können, brauchen wir einen Schalltransformator.

Wie gesagt, es ist schon einer fertig. Er transformiert den Ultraschall auf eine für unser Ohr wahrnehmbare Frequenz. Sobald die Venusbewohner in der Nacht zum Vorschein kommen, werden wir sie sprechen hören.“

„Wie sind Sie denn darauf gekommen?“ fragte Belopolski.

„Ohne Biologe zu sein?“ fragte Toporkow verschmitzt. „Ich bin eben drauf gekommen, wie Sie sehen. Ein Zufall ist mir zu Hilfe gekommen. Als Sie vom Grund des Sees zu uns zurückkehrten, beobachtete ich auf dem Bildschirm die Venusianer; dabei bemerkte ich plötzlich auf der Mattscheibe des Schalllokators ganz bestimmte Linien. Sie entstanden jedesmal, wenn die Venusianer etwas durch Gesten zu erklären versuchten. Der Lokator ›hörte‹ etwas. Sie wissen, er arbeitet mit Ultraschall. Da kam mir die Idee. An den Stromschnellen habe ich dann, während die Venusianer arbeiteten, die Probe aufs Exempel gemacht. Es gelang mir sogar festzustellen, daß die Frequenz der von ihnen ausgehenden Schallwellen an der Schwelle unseres Hörbereichs liegt. Konstantin Wassiljewitsch hat mir geholfen, und nun steht der Apparat zu Ihrer Verfügung.“

„Damit haben Sie uns einen großen Dienst erwiesen“, sagte Belopolski. „Sobald wir die Venusbewohner hören können, ist das Erlernen ihrer Sprache nur noch eine Zeitfrage. Was die Phaetonen konnten, können wir auch.“

„Wenn doch bloß bald Nacht wäre!“ rief Korzewski aus.

Aber bis zum Sonnenuntergang war es noch weit. Am nächsten Tag, dem achten August, würde gerade „Mittag“ sein. Tagsüber jedoch war auf ein Zusammentreffen mit den Venusianern nicht zu rechnen. Soviel stand bereits fest, die Planetenbewohner kamen bei Tageslicht nicht hervor.

„Wann haben denn die Phaetonen mit den Venusbewohnern verkehrt?“ fragte Belopolski.

„Nur nachts“, antwortete Melnikow. „Ihrem ›Film‹ nach zu urteilen, sind sie tagsüber nicht mit den Bewohnern dieses Planeten zusammengetroffen. Wahrscheinlich wollten sie sie nicht im Schlaf stören.“

„Wir müssen es genauso halten.“

„Um so mehr“, pflichtete Korzewski ihm bei, „als die ›Schildkröten‹ womöglich nicht schlafen. In Abwesenheit der Venusianer könnten sie über uns herfallen.“

„Warten wir die Nacht ab“, entschied Belopolski endgültig.

Unter Anleitung Saizews gingen Knjasew, Romanow und Paitschadse daran, einen Hangar für die Montage des Flugzeugs zu errichten. Belopolski beabsichtigte, eine ganze Reihe von Erkundungsflügen über den Bergen und der Umgebung des Sees in einem Umkreis von tausend Kilometern durchzuführen.

Die Bäume konnten sie zum Bauen nicht verwenden — sie waren zu groß. So errichteten sie den Hangar neben dem Raumschiff aus Stahlträgern und Reserveplatten. Saizew verdroß es, daß sie keine zerlegbaren Hangars von der Erde mitgenommen hatten.

„Um wieviel einfacher wäre jetzt die Arbeit!“ sagte er.

„Daran zu denken wäre Ihre Sache gewesen“, hielt Belopolski ihm vor.

„Man kann schließlich nicht alles vorhersehen“, sagte der Chefingenieur seufzend.

Begreiflicherweise stand das Raumschiff der Phaetonen die ganze Zeit über im Mittelpunkt des Interesses der Besatzung von „SSSR-KS 3“. Alle wollten gern mit eigenen Augen seine ungewöhnlichen Räumlichkeiten, die merkwürdigen, durchsichtig werdenden „Metallwände“ der Röhren und das wunderbare Schema des Sonnensystems mit den sich bewegenden zehn Planeten sehen. Die von Wtorow gemachten Fotografien gingen mehrmals durch alle Hände, und Melnikow mußte immer wieder vom Aufenthalt in dem geheimnisvollen Schiff berichten.

Doktor Andrejew untersuchte die beiden Kundschafter gründlich, entdeckte jedoch keinerlei Anzeichen einer Vergiftung durch die Luft im Raumschiff. Offenbar war sie für den Menschen unschädlich. Mikroorganismen aber konnten die Jahrtausende kaum überdauert haben.

„Der Aufenthalt dort ist ungefährlich“, meldete er Belopolski.

Die Mitglieder der Expedition baten, der Reihe nach das Raumschiff besuchen zu dürfen, doch nach kurzer Beratung mit Melnikow schlug Belopolski es ihnen ab. Ihm war zwar klar, daß sie eigentlich eine Untersuchung vornehmen müßten, aber ebenso wie Melnikow befürchtete er unliebsame Überraschungen.

„Das beste ist“, sagte er, „bis zur nächsten Expedition die Finger davonzulassen. Hier sind erstklassige technische Fachkräfte nötig.“

Dagegen ließ sich nichts einwenden. Das Raumschiff vom fünften Planeten gab in technischer Hinsicht Rätsel über Rätsel auf. Niemand wußte, wo die Triebwerke untergebracht und welcher Art sie waren, wie das Steuerungssystem funktionierte und vor allem, wie die Triebwerke zu betätigen waren. Daß sie noch funktionstüchtig waren, stand so gut wie außer Zweifel. Die Technik des Raumschiffs war offensichtlich noch völlig intakt.

Trotz allem kamen sie nicht umhin, das Schiff noch einmal zu untersuchen. Melnikow und Wtorow hatten zuwenig gesehen. Sie mußten Aufnahmen von all seinen Teilen zur Erde mitbringen, damit sich die Fachwissenschaftler eine genauere Vorstellung von ihm machen und sich über seine Konstruktion klarwerden konnten. Belopolski wußte, daß man ihm, falls das nicht geschah, Vorwürfe machen würde, und mit Recht.

Schweren Herzens entschloß er sich zu einem zweiten Besuch.

„Du und Gennadi Andrejewitsch, ihr wart bereits im Raumschiff, und ihr wißt, wo die Türknöpfe sind“, sagte er zu Melnikow. „Außerdem habt ihr schon die Luft dort geatmet. Sollte sie trotz allem schädlich sein, wäre es unsinnig, auch die anderen noch der Gefahr auszusetzen. Ihr beide müßt noch einmal hin und alles, jede kleinste Einzelheit, von außen und von innen fotografieren. Daß ihr vorsichtig sein müßt, brauche ich nicht zu betonen. Das weißt du selbst recht gut. Außer euch lasse ich keinen dorthin. Auch ich gehe nicht.“

„Ich verstehe“, antwortete Melnikow. „Die Entscheidung ist richtig, Konstantin Jewgenjewitsch. Wir werden sehr vorsichtig sein und außer den Türknöpfen nichts anrühren.“

Am achten August um elf Uhr vormittags brach der Geländewagen in Richtung Wald auf. Außer Melnikow und Wtorow saß niemand in dem Fahrzeug.

Es war der zweite Tag des Aufenthalts der Expedition auf der Venus. Die Besatzungsmitglieder mußten sich beeilen, um die vorgesehenen Arbeiten in vollem Umfange durchzuführen.

„Vier Mann sind mit dem Bau des Hangars beschäftigt“, hatte Belopolski gesagt. „Die anderen vier müssen ständig an Bord bleiben. Du siehst ein, daß ich dir niemand weiter mitgeben kann.“

„Ist auch nicht nötig“, hatte Melnikow erwidert. „Den Weg kennen wir, und in unserer Abwesenheit wird keiner den Wagen stehlen. In etwa fünf Stunden sind wir wieder zurück.“

Der Geländewagen verschwand im Wald.

Melnikow und Wtorow hatten einen dreifachen Sauerstoffvorrat bei sich, um das Raumschiff, in dieser Hinsicht unbesorgt, gründlich untersuchen zu können.

Der Tag war erstaunlich klar. Seit dem frühen Morgen hatte sich keine einzige Gewitterfront dem See genähert. Der Wind war abgeflaut und die Oberfläche des riesigen Bergsees spiegelglatt. Vom Wasser stieg durchsichtiger Nebel auf, der sich langsam in der Luft verflüchtigte. Das Thermometer zeigte dreiundsiebzig Grad über Null. Das war weniger als am vorhergehenden Mittag in der Ebene — die Höhenlage machte sich bemerkbar. Die Raumfahrer arbeiteten in Kühlanzügen.

Um drei Uhr nachmittags versammelten sich alle an Bord wie gewöhnlich im Speiseraum. Zu dieser Zeit war Mittagspause.

„Sie müssen bald zurückkommen“, sagte Saizew und nahm am Tisch Platz. Andrejew hatte alles Notwendige bereits hingelegt und die „Gerichte“ aufgetragen.

Belopolski sah auf die Uhr, obwohl er ganz genau wußte, wie spät es war.

„Sie sind schon vier Stunden dort.“ Alle merkten seiner Stimme an, daß er sich Sorgen machte.

„Sie werden viel Neues mitbringen“, bemerkte Korzewski.

„Die Glücklichen!“ seufzte Knjasew.

Weiter wurde kein Wort gesprochen. Nicht nur Belopolski machte sich Sorgen, auch alle anderen waren beunruhigt, bemühten sich jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen. Die Mittagspause endete früher als sonst, in völligem Schweigen.

„Auf!“ sagte Saizew, sich als erster erhebend. „Der Hangar muß heute noch fertig werden. Morgen früh geht’s gleich an die Montage des Flugzeugs.“ Als vier der Männer gerade die Luftschleuse betreten und die übrigen das Observatorium aufgesucht hatten, um dort an den Instrumenten Vorbereitungen zu treffen, erhob sich plötzlich ein durchdringendes Pfeifen. Es war so laut, daß sich alle trotz der dicken Stahlwände, die sie von der Außenwelt trennten, unwillkürlich die Ohren zuhielten. In der Tiefe beginnend, stieg das Pfeifen bis zu schmerzhafter Höhe an und brach dann unvermittelt ab.

Belopolski und Paitschadse befanden sich in diesem Augenblick gerade am Fenster des Observatoriums. Nur sie beide sahen, wie sich etwas Gelbgraues aus dem Waldesdickicht losriß, in die Luft schoß und in den Wolken verschwand.

Einen Augenblick standen sie starr und benommen da, nicht begreifend, was sich vor ihren Augen abspielte.

Dann stürzte Belopolski mit unterdrücktem Aufschrei zum Ausgang.

Gleich danach schrillten im ganzen Raumschiff die Alarmglocken, flammten über allen Türen und Luken die roten Lämpchen auf.

„An die Plätze!“ scholl es aus allen Lautsprechern.

Schon ließen die arbeitenden Triebwerke den Rumpf des Raumschiffs leise erzittern. Die „SSSR-KS 3“ erhob sich in die Lüfte und gewann rasch an Geschwindigkeit.

Der plötzliche Start kam für die Besatzung völlig überraschend. Jeder ließ sich dort fallen, wo ihn das Alarmsignal gerade erreichte. Das Gefühl erhöhter Schwere zeigte an, daß das Raumschiff nicht als Düsenflugzeug, sondern als Rakete flog. Es verließ eindeutig die Venus, aber außer Paitschadse und Belopolski kannte niemand den Grund. Vier der Männer lagen auf dem Boden der Luftschleuse oder vielmehr auf der zum Boden gewordenen Seitenwand, drei im Observatorium.

Belopolski saß am Steuerpult. Ohne die Ausführung seines eigenen Kommandos abzuwarten, war er mit hoher Beschleunigung gestartet.

Ohne sich zu rühren, lagen die Männer geduldig und warteten, daß die Triebwerke zu arbeiten aufhörten und sie sich zum Steuerpult begeben könnten, um zu erfahren, was geschehen war.

Dreiunddreißig Minuten lang schwebten sie in völliger Ungewißheit. Jeder stellte die unwahrscheinlichsten Vermutungen an und verwarf sie wieder als völlig irreal.

Sobald der Zustand der Schwerelosigkeit eingetreten war und das Raumschiff, wie sie wußten, mit voller Geschwindigkeit durch den Weltraum jagte, fragten sie einander wie aus einem Munde: „Was wird aus Melnikow und Wtorow?“ Die beiden waren, so mußte man annehmen, auf der Venus zurückgeblieben. Andrejew glaubte schon, Belopolski habe den Verstand verloren. Doch da tönte aus dem Lautsprecher die Stimme des Kommandanten: „Arsen, ans Teleskop! Toporkow, an die Radargeräte! Wir müssen das Raumschiff um jeden Preis finden!“ Jetzt war allen klar, was das Pfeifen bedeutet hatte. Das Raumschiff der Phaetonen hatte die Venus verlassen. Und mit ihm Melnikow und Wtorow.

Auch der eigene unter Verletzung aller Regeln erfolgte Blitzstart erhielt damit seine Erklärung: Die „SSSR-KS 3“ hatte die Verfolgung des Raumschiffs der Phaetonen aufgenommen. Vielleicht konnte man es einholen und so Melnikow und Wtorow retten. Aber mit welcher Geschwindigkeit flog das andere Schiff?

Niemand wußte es.

Belopolski beobachtete aufmerksam die Geräte am Steuerpult. Er schien ruhig wie immer. Doch als Saizew „zufällig“ den Kommandoraum betrat, erkannte er seinen Kommandanten nicht wieder. Vor ihm saß ein Greis, aber nicht der Mann, den er noch vor einer halben Stunde gesehen hatte.

Belopolski wandte sich um und blickte den Ingenieur an.

Tränen liefen ihm über die Wangen, und er versuchte nicht einmal, es zu verbergen.

„Was soll ich machen, Konstantin Wassiljewitsch?“ fragte er.

„Außer mir kann keiner das Raumschiff zur Erde zurückbringen. Aber ich … wage nicht zurückzukehren.“ In seiner Stimme lag eine solche Verzweiflung, daß Saizew heftiges Mitleid verspürte.

„Ihnen macht ja keiner einen Vorwurf“, sagte er so sanft wie möglich.

„Meinen Sie? O nein, ich bin schuld! Ich hätte sie nicht in dieses verdammte Raumschiff schicken dürfen!“

„Wenn hier einer schuld ist, dann nur die beiden selbst. Sie sind Opfer ihrer eigenen Unvorsichtigkeit geworden.“

„Opfer?“ Belopolski war zusammengezuckt. „Ja, Sie haben recht! Sie sind umgekommen. Wo ist das Raumschiff?“ schrie er und streckte beide Arme gegen den Bildschirm aus. „Welche Richtung hat es eingeschlagen? Wenn wir nun genau entgegengesetzt fliegen?“

„Vielleicht entdecken wir es doch. Verzweifeln Sie nicht!“ Belopolski preßte beide Hände gegen den Kopf.

„Nein! Wir werden sie nicht finden. Unmöglich! Es war zwecklos zu starten. Noch ein Fehler, und es ist unser letzter.

Vier Opfer! Vier Opfer auf einem Flug!“ Saizew bemerkte, daß der Autopilot nicht eingeschaltet war.

Aber konnte Konstantin Jewgenjewitsch in diesem Zustand denn überhaupt steuern? Der Ingenieur ging hinaus, um Andrejew zu holen.

„Belopolski sieht aus, als ob er den Verstand verloren hat“, berichtete er dem Arzt.

„Kein Wunder bei der ungeheuren nervlichen Belastung“, erwiderte Andrejew. „Ich gehe zu ihm, kommen Sie eine Weile nicht rein. Schade, daß Arsen Georgijewitsch das Observatorium nicht verlassen darf.“ Drei Stunden lang suchten sie, ohne die Hoffnung aufzugeben, in den Weiten des Kosmos das verschwundene Weltraumschiff.

Vergebens. Es war nicht aufzufinden.

Wohin flog es, steuerlos, ohne den lenkenden Verstand des Menschen? Wo und wann würde sein letzter Flug enden? Wohin würde es die Leichname der beiden von ihm entführten Menschen tragen? Vielleicht geradewegs in die Glutarme der Sonne!

Aber wenn es ihnen nun doch noch gelungen ist, aus dem Raumschiff herauszukommen? dachte unwillkürlich jeder an Bord der „SSSR-KS 3“. Wenn unser überstürzter Start sie dem Verderben ausgeliefert hat, statt sie zu retten?

Doch niemand wagte diesen schrecklichen Gedanken auszusprechen.

Belopolski verließ das Steuerpult kaum. Tage, oft auch Nächte, saß er im Sessel, allem gegenüber teilnahmslos.

„Ich bringe das Schiff noch bis zum Kosmodrom zurück“, sagte er einmal zu Arsen Georgijewitsch.

Alle waren überzeugt, daß hinter diesen einfachen und natürlichen Worten ein unheildrohender Sinn steckte.

Belopolski wußte, daß er all das, was — wie er meinte — durch seine Schuld geschehen war, nicht überleben würde. War nicht er es gewesen, der Balandin zum See mitgeschleppt hatte? Hatte nicht er auch Melnikow und Wtorow in den Tod geschickt? Einzig das Pflichtgefühl gegenüber den sieben Männern, deren Leben allein in seiner Hand lag, hielt ihn noch aufrecht.

„Wir müssen scharf auf ihn aufpassen“, sagte Paitschadse.

„Vor allem bei der Ankunft. Haben wir ihn erst einmal Kamow übergeben, ist alles gut. Sergej Alexandrowitsch staucht ihn schon wieder zurecht.“

In die Arme der Sonne

Das erste, was Melnikow und Wtorow auffiel, als sie die facettierte Kugel des Raumschiffzentrums betraten, war die Dunkelheit. Die blaue Flamme in der steinernen Schale, dem Grabmal des letzten Phaetonen, war erloschen.

„Wahrscheinlich hat die eingedrungene Außenluft die chemische Reaktion zum Stillstand gebracht“, sagte Wtorow. „Die Flamme brannte nur, solange sie sich in einem hermetisch abgeschlossenen Raum befand.“

„Wahrscheinlich“, pflichtete Melnikow ihm bei.

Sie entfernten sich vom Fünfeck des Eingangs, der sich wieder augenblicklich mit Metall überzog und verschwand. Die innere Tür blieb jedoch unsichtbar. Der Vorgang vom erstenmal wiederholte sich nicht.

„Die Automatik arbeitet nicht mehr“, sagte Melnikow. „Sie war sicher nur für einmal eingestellt. Wir müssen die Tür selbst offnen.“ Beide erinnerten sich der im „Film“ gegebenen Hinweise der Phaetonen, und beim Licht der Scheinwerfer an den Helmen war der entsprechende Knopf schnell gefunden.

Obwohl sie das „Zerschmelzen“ des Metalls schon mehrmals erlebt hatten, beobachteten sie den unbegreiflichen Vorgang doch wieder mit angehaltenem Atem. Der Zugang zur radialen Rohre wurde frei.

Aber nicht nur die Türen hatten ihr „Verhalten“ geändert.

Als die Männer durch die Röhre gingen, bemerkten sie, daß auch die Wände nicht mehr durchsichtig wurden.

„Zu dumm“, sagte Wtorow. „Ich hätte diesen Trick gern noch mal gesehen.“ Doch kaum hatte er das gesagt, ging sein Wunsch in Erfüllung: Die metallene Röhre wurde durchsichtig.

Melnikow schaute finster drein.

„Mir will das gar nicht gefallen“, sagte er. „Die Verzögerung laßt darauf schließen, daß die Mechanismen des Raumschiffs zu versagen beginnen. Sie haben nur einmal gut funktioniert. Es kann passieren, daß sie plötzlich überhaupt nicht mehr arbeiten.“

„Das könnte schlimme Folgen haben“, meinte Wtorow.

„Wenn die Türen nicht mehr funktionieren, wird es schwerhalten, hier rauszukommen.“

„Ich habe mit Konstantin Jewgenjewitsch vereinbart, daß sie uns zu Hilfe kommen, falls wir zur festgesetzten Zeit nicht zurück sind. Besondere Gefahr besteht also nicht. Aber vergiß nicht zu filmen. Du mußt buchstäblich alles aufnehmen.“

„Natürlich, Boris Nikolajewitsch! Dazu sind wir ja hergekommen.“ Melnikow entschied, zunächst jene Räume zu untersuchen, in denen sie bereits beim erstenmal gewesen waren. Er hoffte, den ungewöhnlichen „Film“ noch einmal zu sehen, den Wtorow dann von Anfang bis Ende mit seiner Kamera aufnehmen sollte.

Sie kamen an die Stelle, an der sich die Tür zum mittleren Ring befinden mußte. Melnikow suchte den Knopf und drückte darauf. Doch es vergingen etwa zwei Minuten, ohne daß das Fünfeck sich zeigte. Die Wand blieb, wie sie war. Gerade streckte er die Hand ein zweites Mal aus, da trat die Automatik in Funktion. Der Zugang wurde frei.

„Diesmal hat es noch länger gedauert“, sagte Melnikow. „Es sieht ganz so aus, als erschöpften sich die Energien, die die Mechanismen speisen, sehr rasch.“

„Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, wieviel Jahre sie untätig gewesen sind“, entgegnete Wtorow. „Unsere Akkumulatoren hätten sich schon lange selbst entladen.“ Sie betraten den „gläsernen“ Steg. Das Licht flammte auf.

„Hier ist bis jetzt alles in Ordnung“, sagte Melnikow.

Bis sich die Tür zur nächsten Abteilung öffnete, verstrich noch mehr Zeit. Mehrere Minuten standen sie wartend vor der Wand.

„Es wird immer schlimmer. Ich fürchte, wir werden doch noch auf Hilfe vom Raumschiff angewiesen sein.“

„Ja, die Automatik scheint in den letzten Zügen zu liegen.“ Von hier an wiederholte sich alles, was sie schon beim erstenmal erlebt hatten.

Die Zwischenwand, die den Weg zur nächsten Abteilung versperrte, verschwand. Am Ende des Stegs tauchte vor dunkelblauem Hintergrund inmitten der sich kreuzenden Kristallfäden die Gestalt des Phaetonen auf. Er machte mit den Händen dieselbe Begrüßungsgebärde, sprach dieselben, unverständlichen Worte. Dann verschwand er, und die Tür zum Raum mit dem Schema öffnete sich.

Wieder sahen sie den ganzen „Film“ von Anfang bis Ende.

Wieder lief er zweimal. Wtorow filmte alle beide Vorführungen.

Melnikows Wunsch war in Erfüllung gegangen.

Nachdem sie die letzten Szenen gesehen hatten und an die Stelle der „Leinwand“ wieder die „Plexiglasfläche“ getreten war, blickten Melnikow und Wtorow sich näher um. Beim erstenmal hatten sie auf die Einrichtung der Abteilung, die sich stark von der der anderen Räume unterschied, überhaupt nicht geachtet.

Hier gab es keinen einzigen Zylinder. Auch keinen Steg — die Forscher standen auf einem Fußboden aus unbekanntem blaßrosa Material. Außer dem Schema befanden sich hier noch merkwürdige flache Kästen, die senkrecht an den Wanden befestigt waren. Sie hatten weder Griffe noch Knöpfe, bestanden aus einem goldglänzenden Metall und schienen aus einem Guß zu sein. Ihr Zweck ließ sich nicht erraten.

„Gehen wir weiter“, schlug Melnikow vor.

„Vorwärts oder zurück?“

„Vorwärts.“ Melnikow ging zu der Wand, die offensichtlich diesen Raum vom nächsten trennte, und suchte nach einem Knopf.

Es war keiner vorhanden.

„Dann müssen wir zurück“, sagte er.

Aber diesmal funktionierte der Mechanismus wieder automatisch.

Das Fünfeck wurde sichtbar, „zerschmolz“, und der Durchgang war offen.

Dahinter befand sich ein Raum, wie sie ihn vorher bereits gesehen hatten. Längs der Wände lagen verschiedenfarbige Zylinder, und in der Mitte verlief ein fast unsichtbarer Steg.

Die Türen funktionierten ungewöhnlich launenhaft. Die einen öffneten sich augenblicklich von selbst, bei den anderen dauerte es geraume Weile. Vor einer dieser Türen standen sie fast zehn Minuten.

„Unser anfänglicher Eindruck, daß die Automatik sich glänzend erhalfen hat, ist offensichtlich falsch“, sagte Melnikow.

„Die Zeit ist doch nicht spurlos an ihr vorübergegangen.“ Nachdem sie drei Abteilungen durchwandert hatten, die alle ganz gleich aussahen, befanden sie sich wieder in der radialen Röhre.

„Anscheinend besteht der ganze innere Ring aus Räumen mit Zylindern“, sagte Melnikow. „Außer dem einen, in dem wir den ›Film‹ gesehen haben. Die andere Hälfte lohnt es da nicht, in Augenschein zu nehmen. Am besten gehen wir hinüber zum äußeren Ring. Da finden wir vielleicht interessantere Dinge.“

„In welchen Ring gehen wir?“ fragte Wtorow. „In den ganz außen oder in den zweiten?“

„Zuerst in den ganz außen.“ Sehr langsam (die Launen der Türen und Wtorows fortwährendes Filmen hielten sie auf) durchschritten sie die eine Hälfte des äußeren Ringes und überzeugten sich, daß es auch dort nichts Neues zu sehen gab — überall nur Zylinder.

„Ich möchte wissen, was sie darstellen“, sagte Wtorow.

„Das sind höchstwahrscheinlich die Triebwerke oder Treibstoffbehälter.“

„Und wo sind die Räume für die Besatzung?“

„Im zweiten Ring. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht mehr.“ Melnikow sollte recht behalten.

Der zweite äußere Ring, der ganz nahe beim ersten lag, hatte mit den beiden von ihnen bereits besichtigten nichts gemein.

Hier war alles anders. Es gab keinen einzigen Zylinder und nirgends einen zerbrechlichen „gläsernen“ Steg. Die in sich nochmals unterteilten Räume — für ein Raumschiff nichts Ungewöhnliches — hatten Fußböden aus einem rosa Material. Die Einrichtung bewies es, daß hier die Besatzung gewohnt hatte. Möbel fehlten, aber es lagen viele Netze umher, die wie Hängematten aussahen. Sie waren ziemlich klein, entsprechend der Größe derer, die sie benutzt hatten, und augenscheinlich nicht nur als Betten, sondern auch als Sitzgelegenheiten gedacht. Auch auf eine Art Schränke von vielkantiger Form und ohne Türen stießen sie. Wie diese „Schränke“ zu öffnen waren, blieb ein Rätsel.

„Sie müssen ihre Sachen ja irgendwo aufbewahrt haben“, sagte Melnikow. „Das sind zweifellos Schränke, aber sie lassen sich nicht wie unsere öffnen.“ Wahrscheinlich hatten noch mehr Gegenstände im Raumschiff als Möbel gedient, aber sie glichen den irdischen so wenig, hatten eine so merkwürdige Form, daß es unmöglich war, ihren Zweck auch nur annähernd zu erraten. Offensichtlich war das Alltagsleben der Phaetonen trotz der großen Ähnlichkeit ihrer Körperform mit der der Erdenmenschen vom irdischen grundverschieden gewesen. Aber vielleicht unterschied sich diese Eintichtung völlig von derjenigen in den Häusern auf dem Planeten Phaeton, war sie speziell für den Raumflug bestimmt. Wer konnte das wissen?

Auch die Einrichtung von „SSSR-KS 3“, überlegte Melnikow, hat wenig gemein mit der eines Hauses auf der Erde.

Er trat zur Wand, suchte den Knopf und drückte darauf.

Wtorow sah sich währenddessen noch etwas um.

Es vergingen zwei Minuten, doch die Tür öffnete sich nicht.

An die Launen der phaetonischen Technik bereits gewöhnt, wartete Melnikow geduldig.

Wtorow trat zu ihm.

„Wieder eine Störung“, sagte Melnikow.

Plötzlich tauchte an der Stelle, wo die fünfeckige Tür hätte erscheinen sollen, ein blauer Ring mit zwei sich x-förmig kreuzenden gelben Streifen auf. Dann verschwand er wieder, und nun öffnete sich die Tür.

Melnikow warf einen Blick in die nächste Abteilung.

Sie glich keiner der bisher gesehenen, hatte nicht die Form einer Röhre, sondern die einer regelmäßigen Kugel. Ihr Durchmesser ließ darauf schließen, daß sie ganz innerhalb der Röhre lag und daher von außen nicht zu erkennen gewesen war. In der Mitte der Kugel hing eine merkwürdige Konstruktion von blauer, gelber und lila Farbe. Ein Fußboden war nicht vorhanden. Einander kreuzend, führten in verschiedene Richtungen die bereits bekannten gläsernen „Stege“. Obschon die beiden Kosmonauten die Schwelle noch nicht überschritten hatten, war der Raum bereits von Licht durchflutet. Um die mehrfarbige Konstruktion herum standen vier kristallen funkelnde Gegenstände, die wie Sessel ohne Beine aussahen. Worauf sie standen, war nicht zu erkennen. Sie schienen aus Glas zu sein.

Melnikow blickte Wtorow unschlüssig an.

„Wir wissen nicht, was der blaue Kreis mit dem gelben Kreuz zu bedeuten hat“, sagte er. „Vielleicht besagt er: Eintritt verboten?“

„Wäre es so“, entgegnete Wtorow, „hätte sich die Tür bestimmt nicht geöffnet.“

„Auf jeden Fall stellte er ein Warnsignal dar. Nur wovor warnte er?“

„Vielleicht eine Ermahnung zur Vorsicht?“

„Das ist am wahrscheinlichsten. Am besten, wir gehen gar nicht erst hinein.“

„Es sieht aus wie das Steuerpult des Raumschiffs“, sagte Wtorow. „Vielleicht bedeutete das Signal ›Ruhe! Nicht stören!‹ Aber mag sein, was will, ich muß filmen.“

„Sei nur ja vorsichtig und mach keine plötzlichen Bewegungen.“ Nacheinander überschritten sie die Schwelle und betraten einen der Stege. Die fünfeckige Öffnung schloß sich sofort wieder hinter ihnen.

„Ist Ihnen auch schon aufgefallen“, sagte Wtorow, „daß die Türen nur beim Öffnen launisch sind? Das Schließen dagegen funktioniert ausgezeichnet.“

„Ich habe es schon lange bemerkt“, erwiderte Melnikow.

„Und es will mir gar nicht gefallen.“ Er verspürte innerlich eine dumpfe Unruhe. Der blaue Kreis ging ihm nicht aus dem Sinn. Was mochte er zu bedeuten haben?

Zu jedem der Sessel führten Stege. Vorsichtig fuhr Melnikow mit der Hand unter einen der Sessel und fühlte, daß sie an der zentralen Konstruktion befestigt waren. Die Befestigungen waren jedoch völlig unsichtbar wie jener Sockel im Zentrum des Raumschiffs, auf dem die Schale stand. Worauf und wie die Konstruktion selbst befestigt war, konnten sie nicht feststellen, da Melnikow sie nicht anzurühren wagte.

Auf den bizarr gebrochenen Facetten dieses merkwürdigen Gegenstandes unbekannter Bestimmung glitzerten eine Unzahl verschiedenfarbiger Punkte wie blaue, gelbe und lila Funken.

Jede Facette hatte ihre eigene Farbe und schien abgrundtief zu sein. Weder Schaltknöpfe oder — hebel noch Instrumente waren zu sehen.

„Wenn das ein Steuerpult ist“, sagte Melnikow, „hat es eine recht merkwürdige Form.“ Wtorow antwortete nicht. Nur das leise Surren der Filmkamera unterbrach die tiefe Stille. Die bläulich leuchtende Luft, das Glitzern des „Steuerpults“, die scheinbar in der Luft aufgehängten durchsichtigen „Sessel“ — das alles war so ungewöhnlich, daß sich der sonst nicht zum Phantasieren neigende Melnikow Träumereien hingab.

Hier in diesem Sessel, dachte er, hat einst ein kleiner Phaetone gesessen und das ungewöhnliche Raumschiff, ich weiß nicht wie, in die Leere des Weltraumes hinausgesteuert. Ahnte er, daß er niemals in die Heimat zurückkehren und seine Tage auf der Venus beschließen würde? Mit welchem Ziel haben sie damals wohl den Weltraumflug angetreten?

Das Surren der Kamera verstummte.

„Gehen wir weiter?“ fragte Wtorow.

„Ich denke gerade daran“, sagte Melnikow, „daß wir Menschen die Technik des Phaetonen vielleicht mal verstehen lernen und anwenden werden. Vielleicht sehen unsere Raumschiffe einmal genauso aus wie dieses, werden sie genauso gelenkt werden. Jetzt aber haben wir noch nicht die geringste Ahnung, wie das vor sich geht.“

„Wahrscheinlich sehr einfach wie bei allem Vollkommenen.

Aber es ist tatsächlich schwer zu begreifen. Was könnte jemand tun, der in diesem Sessel sitzt? Nur beobachten. Vielleicht ist dies gar kein Steuerpult, sondern ein astronomisches Observatorium.“ Wtorows Gedanke schien Melnikow einleuchtend. Doch was sollte man in diesen verschiedenfarbigen Facetten erblicken? Sie machten nicht den Eindruck, als seien sie durchsichtig.

„Vielleicht sieht man in ihnen nur etwas, wenn man im Sessel sitzt“, meinte Wtorow.

„Sei nicht unvorsichtig.“

„Wieso, Boris Nikolajewitsch? Ich rühre nichts an. Der Sessel ist zwar klein, paßt aber für einen Menschen noch gerade. Lassen Sie es mich versuchen. Vielleicht sehe ich tatsächlich etwas. Das würde es uns bedeutend erleichtern, den Zweck der Konstruktion verstehen zu lernen.“ Melnikow schwankte. Seine Unruhe wuchs instinktiv. Die fremdartige Einrichtung des Raumschiffs machte offenbar selbst seinen eisernen Nerven zu schaffen.

„Gut“, entschied er. „Setz dich rein, aber du darfst nur gucken und dich nicht bewegen.“

„Aber wird der Sessel unter meinem Gewicht nicht aus dem Leim gehen?“

„Der ›Steg‹ hat ja auch gehalten, und der Sessel scheint aus demselben Material zu sein“, antwortete Melnikow.

Vorsichtig nahm Wtorow auf dem halbrunden Sitz Platz.

Nichts Bedrohliches geschah. Der Sessel hielt die Last aus.

Augenblicklich aber flammte im Zentrum der vor ihm befindlichen Facette wieder der blaue Ring mit dem gelben Kreuz auf.

Er war nicht länger als eine Sekunde sichtbar.

„Rühr dich nicht!“ schrie Melnikow.

Steif und starr saß Wtorow da und wandte kein Auge von der Facette. Nichts war in ihr zu sehen, aber plötzlich kam es ihm so vor, als sei sie dunkler geworden. Die glitzernden Punkte hatten sich in bewegungslose Lichtchen verwandelt.

Eine Minute verging, und noch eine. Nichts weiter geschah, nichts veränderte sich. Allmählich beruhigte sich Melnikow wieder.

„Siehst du etwas?“ fragte er.

„Nichts.“

„Warum bewegen sich die Punkte auf einmal nicht mehr?“

„Ich weiß nicht.“

„Das muß etwas zu bedeuten haben.“

„Aber was?“ Anscheinend drohte doch keine Gefahr. Am ehesten war anzunehmen, daß der blaue Kreis vor einer Berührung des Steuerpultes warnte. Die Phaetonen hatten das Signal wohl in der Hoffnung hinterlassen, die vernünftigen Wesen von einem anderen Planeten würden seine Bedeutung verstehen.

„Steh wieder auf!“ sagte Melnikow. „Aber vorsichtig.“

„Filmen Sie mich doch bitte in diesem Sessel“, bat Wtorow.

Er hatte seinem Kameraden die Kamera übergeben, bevor er sich setzte.

Melnikow erfüllte den Wunsch. Ernste Folgen konnten daraus ja nicht entstehen.

„Aufnahme eines Phaetonen am Steuerpult“, scherzte er.

„Ich stelle mir gerade vor, daß ich das Raumschiff tatsächlich zu steuern verstehe“, sagte Wtorow. „Ich mache die erforderliche Bewegung, und das Raumschiff löst sich vom Boden der Venus…“ Donnerähnliches Getöse ließ ihn verstummen. Eine unwiderstehliche Gewalt preßte ihn in den Sitz. Er sah, wie Melnikow vom Steg purzelte und gegen die runde Wandung prallte. Ein durchdringendes Pfeifen erhob sich, steigerte sich rasch von tiefen Tönen bis zu schneidender Höhe und riß ab. Das bekannte Gefühl erhöhter Schwere ließ keinen Zweifel daran, daß das Raumschiff mit zunehmender Geschwindigkeit emporstieg.

Sie verließen die Venus!

Der Herzschlag stockte ihnen, und um die Stirn legte es sich wie ein eiserner Reif.

Warum hatten die Triebwerke zu arbeiten angefangen? Sie hatten doch beide nichts angerührt und keine gefährlichen Bewegungen gemacht!

Der Tod war ihnen sicher, baldiger, unvermeidlicher Tod! Sie wußten ja nicht, wie dieses Raumschiff zu steuern war.

Gleichsam um die letzten Zweifel zu beseitigen, daß sie wirklich flogen, wurden die Wände der Kugel plötzlich durchsichtig.

Über ihnen gleißte die Sonne, und unter ihnen dehnte sich als ununterbrochener weißer Teppich das Wolkenmeer der Venus.

Das Blau des Himmels dunkelte rasch und wurde zum Schwarz.

Schon blitzten die ersten Sterne auf.

Sie flogen schneller und schneller, ins Unbekannte.

Melnikow lag immer noch an der Wandung, bestrebt, sich nicht zu rühren. Beim Fallen war er unverletzt geblieben, der Steg befand sich nur knapp einen Meter über dem „Boden“. Er wußte sofort, was geschehen war, verspürte aber ebenso wie Wtorow keine Furcht. Vier Weltraumfahrten mit ihren ständigen Gefahren hatten ihn gelehrt, in allen Situationen Ruhe zu bewahren.

Selbst die Besorgnis wich sofort und machte angestrengter Denkarbeit Platz.

Wie lange würde die Beschleunigung dauern? War sie begrenzt? Welche Geschwindigkeit konnte das Raumschiff der Phaetonen erreichen? Dem Gefühl nach überstieg die Beschleunigung nicht die der „SSSR-KS 3“. Wahrscheinlich betrug sie etwa zwanzig Meter pro Sekundenquadrat.

Weshalb war das Raumschiff gestartet? Der blaue Kreis hatte offensichtlich vor einer Gefahr gewarnt. Doch was hatten Wtorow und er getan, daß sie die Triebwerke dadurch in Gang setzten? Nur wenn sie das herausfanden, bestand Aussicht auf Rettung. „Wahrscheinlich sehr einfach wie bei allem Vollkommenen“, erinnerte er sich der Worte Wtorows. Ja, natürlich, sehr einfach — alles sprach dafür. Dermaßen einfach, daß man nicht darauf kam.

Bis in alle Einzelheiten rief sich Melnikow ihr Verhalten während der letzten Minuten in die Erinnerung zurück. Wtorow hatte gesessen, er selbst gestanden. Beide hatten sie sich nicht bewegt, abgesehen von der Filmaufnahme. Doch der Start erfolgte, als die Aufnahme bereits fertig war. Weitere Bewegungen hatten sie nicht mehr vollführt.

Das Raumschiff war nach den Worten Wtorows gestartet. Er hatte gerade vom Start gesprochen. Ein merkwürdiger Zufall.

Die Automatik des phaetonischen Raumschiffs konnte doch unmöglich Russisch verstehen und darauf reagieren! Das war doch’ absurd. Aber warum dann der Start?

Die Wand, auf der Melnikow lag, war völlig durchsichtig.

Er hatte den Eindruck, im leeren Raum zu schweben. Über ihm, ebenfalls im leeren Raum, schwebte Wtorow und vor ihm das vielfarbige Steuerpult. Daß dies wirklich das Steuerpult war, daran bestand nun kein Zweifel mehr.

Alles andere war verschwunden. Linker Hand sahen sie die von der Sonne beleuchteten anderen Ringe sowie das Zentrum des Raumschiffs, rechter Hand ein Stück des äußeren Ringes.

Über ihnen strahlte die Sonne. Melnikow schien es, als flögen sie geradewegs auf sie zu.

Ihm wurde bewußt, daß ein ungelenktes Raumschiff gar nicht anders reagieren konnte. Unausweichlich erwartete sie also der Tod, lange bevor noch das Schiff seinen letzten Flug beendet hatte und spurlos in den Feuerarmen der Sonne verschwunden war. Es sei denn, sie kamen hinter das Geheimnis des Steuermechanismus …

Die Verfolgung

„Die Erfolgschancen sind sehr gering“, schloß Kamow. „Selbst wenn Melnikow und Wtorow mit Luft versehen sind, fehlt es ihnen doch an Nahrung. Dennoch müssen wir den Versuch unternehmen, sie zu retten. Ich schlage vor, daß Sie wieder Kurs auf die Venus nehmen. Das Raumschiff der Phaetonen befindet sich immer noch in der Nähe des Planeten. Wir bleiben von nun an in ununterbrochener Funkverbindung. So werden Sie schließlich, von der Erde aus gelenkt, das Raumschiff finden.“ Acht Minuten später kam die Antwort: „Haben alles verstanden. Gehen jetzt an Ausführung Ihres Planes. ›SSSR-KS 3‹ wird sofort wenden. Bleiben von nun an in ständiger Funkverbindung. Teilen Hoffnung auf glücklichen Ausgang. Belopolski. Gehe auf Empfang.“

„Wünsche viel Erfolg“, antwortete Kamow kurz.

Mehr war nicht zu sagen. Alles Notwendige hatte er Belopolski mitgeteilt. Nun galt es den Plan zu verwirklichen. Er war unter den gegebenen Umständen der einzig mögliche, und die Regierungskommission hatte ihn ohne Zögern angenommen.

Durch Hinweise von der Erde geleitet, mußte die„SSSR-KS3“ spätestens in drei Tagen jene Stelle erreicht haben, an der sich das Raumschiff der Phaetonen befand. Den an diesem Morgen gemachten Beobachtungen zufolge näherte es sich wieder der Venus mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Kilometern in der Sekunde. So schnell konnte nötigenfalls auch die „SSSR-KS 3“ fliegen. Falls der „Phaetone“ seine Geschwindigkeit nicht noch steigerte, würde es Belopolski also gelingen, ganz dicht heranzugehen. Dann konnten Melnikow und Wtorow oder, wenn es schon zu spät war, ihre Leichname übernommen werden.

Aber wenn der „Phaetone“ nun doch seine Geschwindigkeit steigerte?

Kamow hielt das für unwahrscheinlich. Seiner Meinung nach stand es außer Zweifel, daß das ringförmige Raumschiff gesteuert wurde. Sein ganzes Verhalten sprach dafür. Ungesteuert mußte es auf die Sonne zufliegen. Steuern aber konnten es nur die an Bord befindlichen Menschen, nämlich Melnikow und Wtorow. Ein Autopilot war nicht imstande, das Schiff ohne sichtbares Ziel „hin und her zu jagen“. Nur Menschen konnten das — sie hatten es gelernt.

„Wenn es in dem Raumschiff einen Autopiloten gibt“, hielt man Kamow entgegen, „ist er wahrscheinlich ganz anders konstruiert als unser. Es handelt sich um die Technik einer Welt, die uns weit voraus ist. Wir wissen nicht, was das für ein Mechanismus ist und was er zu leisten vermag. Es ist durchaus möglich, daß der ›Phaetone‹ zunächst auf die Sonne zugehalten hat, jedoch als er sich ihr gefährlich näherte, automatisch wieder umkehrte. Das gleiche passierte dann bei der Annäherung an die Venus. Die Automatik bewahrt das Raumschiff vor dem Sturz auf die Himmelskörper. Daraus resultiert sein merkwürdiges Verhalten.“ Kamow konnte die Logik dieser Argumente nicht bestreiten, dennoch beharrte er auf seiner Meinung. Dabei ließ er sich mehr vom Gefühl und dem leidenschaftlichen Wunsch leiten, es möge so sein, wie er glaubte, als von der Vernunft.

Obwohl also unter den Mitgliedern der Kommission über diesen Punkt unterschiedliche Ansichten bestanden, wurde der Beschluß, die „SSSR-KS 3“ zum Raumschiff der Phaetonen zu schicken, einstimmig gefaßt. Die Meinungsverschiedenheiten waren rein theoretischer Natur.

Die Nachricht von den tragischen Vorgängen auf der Venus ging um die ganze Welt. Die Bevölkerung in allen Ländern wünschte von Herzen, daß Melnikow und Wtorow, die in eine Situation geraten waren wie kein Mensch vor ihnen, gerettet würden. William Jenkins, der gerade erst vom Mars zurückgekehrt war, bot sich und sein Raumschiff zur Hilfe an, doch mußte dieses Angebot abgelehnt werden. Der Flug von der Erde bis zum „Phaetonen“ hätte zu lange gedauert. Nur die „SSSR-KS 3“ hatte Aussicht, Melnikow und Wtorow noch lebend anzutreffen. Sieben, acht, ja sogar zehn Tage konnte ein Mensch ohne Nahrung auskommen, aber auf keinen Fall anderthalb Monate.

Die Vorstellung, im Raumschiff der Phaetonen könnten sich noch Nahrungsmittel befinden, stieß auf entschiedenen Widerspruch. Ganz abgesehen davon, daß es gefährlich war, unbekannte Dinge zu essen, mußten auch die Phaetonen in der langen Zeit, die sie auf der Venus zubrachten, ihre eigenen Vorräte aufgebraucht und gelernt haben, sich auf der Venus selbst Nahrung zu beschaffen. Außerdem war kaum anzunehmen, daß sich organische Stoffe, wie gut sie auch konserviert sein mochten, Jahrtausende halten könnten.

Eile tat not.

Die astronomischen Observatorien aller Länder vereinbarten, den „Phaetonen“ ununterbrochen zu beobachten. Wie einen Stafettenstab reichten sie ihn einander weiter. Sobald am Horizont des einen Observatoriums die Sonne aufging, übernahm das nächste, weiter westlich gelegene die Beobachtung. Das Kosmische Institut in Moskau stand mit allen Observatorien der Welt in Funkverbindung.

Das ringförmige Raumschiff konnte nicht verlorengehen. Die geringste Änderung seiner Flugrichtung oder — geschwindigkeit würde man sofort der „SSSR-KS 3“ mitteilen, und Belopolsjki würde dementsprechend den Kurs ändern.

Natürlich fiel bald dieses, bald jenes Observatorium wegen Bewölkung aus, aber stets konnte ein anderes dafür einspringen, über dem der Himmel klar war. Es gab genug Observatorien auf der Erde.

Die ganze Welt lebte nur dem einen Wunsch, daß der „Phaetone“ seine Geschwindigkeit nicht erhöhte …

Die „SSSR-KS 3“ beschrieb einen großen Bogen. Um Zeit zu sparen, hatte Belopolski beschlossen, bei unverminderter Geschwindigkeit und mit kleinstmöglichem Radius zu wenden. Er wußte, daß jede verlorene Minute verhängnisvoll sein konnte.

Wenn Melnikow und Wtorow wirklich noch am Leben waren, brachte nur rasche Hilfe Rettung.

Belopolski litt schmerzlich unter dem Bewußtsein, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen zu haben. Weshalb hatte er verboten, über die Vorfälle auf der Venus zur Erde zu berichten? Früher oder später hätte es ja doch geschehen müssen.

Es wäre unverantwortlich gewesen, das Schreckliche bis zur Rückkehr zu verheimlichen. Was war mit ihm passiert? Was für komplizierte und schwer erklärbare Vorgänge hatten sich in seiner sonst stets so ausgeglichenen Psyche abgespielt? Durch seine Schuld waren zwei, und wenn man die Zeit für den Rückflug roch hinzurechnete, vier Tage verlorengegangen. Um wieviel einfacher wäre es gewesen, bereits zwei Tage zuvor umzukehren. Um wieviel größer wären da die Aussichten auf Rettung der beiden Genossen gewesen, deren mutmaßlicher Tod ihn aus dem Gleichgewicht gebracht und veranlaßt hatte, jenen verbrecherischen (jawohl, verbrecherischen, dachte Belopolski) Befehl zu geben.

Hätte sich Paitschadse nicht kurzentschlossen über die Anordnung des Kommandanten hinweggesetzt und Toporkow befohlen, mit der Erde Verbindung aufzunehmen — was wäre daraus geworden? Bei diesem Gedanken überlief es Belopolski eiskalt. Man hätte ihn für Wtorows und Melnikows Tod verantwortlich gemacht, er ganz allein wäre an ihrem Ende schuld gewesen. Aber auch jetzt… Wer weiß, vielleicht war es schon zu spät, vielleicht war schon zuviel Zeit vergeudet, waren die, die man hätte retten können, bereits umgekommen — durch sein Versagen.

Belopolski machte sich schreckliche Vorwürfe, doch keiner von der Besatzung bemerkte es. Sie sahen den gewohnten Belopolski vor sich: den „eisernen Kapitän“, den ruhigen, unbeugsamen, entschlossenen und fordernden Vorgesetzten. Die Nervenanspannung beim Start von der Venus schien bei ihm keine Spuren hinterlassen zu haben.

Aber so schien es nur. Innerlich war Belopolski nicht mehr der alte, war er ein gebrochener Mann. Für immer, das wußte er genau. Es kostete ihn große Anstrengung, sich wie gewohnt zu geben. Nur das Bewußtsein, daß außer ihm niemand das Raumschiff steuern konnte, hielt ihn aufrecht. Er würde das Steuerpult für immer verlassen, sobald die „SSSR-KS 3“ wieder auf dem Kosmodrom von Kamowsk gelandet war. Dieser Flug war sein letzter. Nie mehr würde er ein Raumschiff durchs Weltall lenken. Paitschadses Befürchtungen jedoch waren grundlos — an Selbstmord dachte Belopolski keinen einzigen Augenblick. Wie sehr ihn das Ganze auch erschüttert hatte, Kleinmut kannte er nicht. Er war nur unendlich müde.

Doch jetzt galt es, an andere Dinge zu denken. Kamows Anweisungen mußten befolgt werden, und mit gewohnter Energie ging Belopolski an ihre Ausführung.

Paitschadse versuchte vergeblich, das ringförmige Raumschiff zu entdecken. Der Refraktor im Observatorium der „SSSR-KS 3“ war zu schwach, als daß man mit seiner Hilfe bei einer derartigen Entfernung ein so kleines Objekt hätte ausmachen können.

In drei Tagen hatten sie sich über zehn Millionen Kilometer von der Venus entfernt.

Somit mußten sie sich ganz auf die Hinweise von der Erde und auf mathematische Berechnungen verlassen. Wie bereits gesagt, hatte sich Belopolski entschlossen, in kürzester Zeit zur Venus zurückzukehren. Das Raumschiff sollte einen Halbkreis nach links beschreiben, dann geradeaus fliegen und seine Geschwindigkeit auf fünfzig Kilometer in der Sekunde steigern.

Vor Erreichen der Umlaufbahn der Venus sollte es erneut eine Kurve beschreiben, diesmal nach rechts, und sich so hinter den Planeten, in die unmittelbare Nähe des Raumschiffs der Phaetonen, manövrieren. Dann begann der schwierigste Teil des Plans. Es galt, sich dem äußeren Ring ganz dicht zu nähern, sich an ihm festzuhaken, damit eine plötzliche Geschwindigkeitsbeschleunigung des „Phaetonen“ die Operation nicht zum Scheitern brachte, und in Raumanzügen ins Innere einzudringen.

Das war der Plan des Kommandanten.

Die sieben Besatzungsmitglieder der „SSSR-KS 3“ hießen ihn gut. Sie alle waren von dem Wunsch beseelt, die Freunde zu retten. Nachdem diese Aufgabe für sie plötzlich real geworden war, nahm sie ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und sie dachten nicht daran, und wollten es auch gar nicht, welch schwere Belastung ihnen bevorstand. Durch die Wendung bei voller Geschwindigkeit und in einer verhältnismäßig engen Kurve sparten sie mehrere wertvolle Stunden ein. Das war die Hauptsache.

Konnten doch gerade diese wenigen Stunden die entscheidende Rolle spielen.

Das erste Wendemanöver begann. Es war auf nahezu drei Stunden berechnet. Ebensoviel Zeit erforderte auch das zweite.

Bei einer Geschwindigkeit von vierzig Kilometern in der Sekunde ist die Zentrifugalwirkung beträchtlich. Das Gewicht aller Gegenstände und Körper im Raumschiff nahm gegenüber seinem gewöhnlichen Gewicht auf der Erde erheblich zu. Jede Bewegung kostete große Mühe. Die Besatzung lag in den Hängematten und überließ es dem Autopiloten, den festgelegten Kurs zu halten.

Aber nicht alle konnten das. Laut Anordnung von der Erde hatte die Funkstation ständig besetzt zu sein, und niemand kam auf den Gedanken, auch nur für drei Stunden gegen diesen Befehl zu verstoßen. Konnte doch gerade während dieser Zeit die Mitteilung von einer Kursänderung des „Phaetonen“ eintreffen.

Dann kam es darauf an, so schnell wie möglich den eigenen neuen Kurs zu berechnen und einzuschlagen.

Knjasew kam Toporkow zu Hilfe. Sie lösten sich gegenseitig am Empfänger ab, bereit, jeden Augenblick einen Funkspruch aufzunehmen und an das zentrale Steuerpult weiterzugeben, wo Belopolski, Paitschadse und Saizew sich ständig befanden. Aber während diese drei ihre Arbeit liegend verrichten konnten, mußte der diensthabende Funker sitzen. Neben dem Funkgerät eine Hängematte anzubringen erwies sich als unmöglich, da man nicht wußte, woran man sie befestigen sollte, denn zum Anschweißen selbst einfacher Haken an die Wand war keine Zeit.

Den Konstrukteuren und Erbauern der „SSSR-KS 3“ war nicht im entferntesten der Gedanke gekommen, es könne der Fall eintreten, daß der Funker unter den Bedingungen erhöhter Schwere und dazu noch für längere Zeit Dienst tun müsse. So mußte er aufrecht sitzen. Die Sessellehne war hart und niedrig, sie reichte knapp bis zur Taille. Bald stellten sich beim Diensthabenden Kreuzschmerzen ein, die rasch heftiger wurden. Länger als zwanzig Minuten hielt niemand diese Tortur aus. Dann kletterte die Ablösung aus der Hängematte, kroch zur Luke, arbeitete sich hindurch und fuhr mit dem Lift zum Funkraum.

Auf demselben Wege begab sich der Abgelöste an seinen Ruheplatz. Zwanzig Minuten später wiederholte sich das Ganze.

Die drei Stunden erschöpften die beiden kräftigen jungen Männer bis zum äußersten.

Andrejew, Korzewski und Romanow bereuten bitter, daß sie nicht funken gelernt hatten, wie es Belopolski allen Mitgliedern der Besatzung nachdrücklich empfohlen hatte. Sie hatten geglaubt, sie würden es niemals brauchen, und nun … Fünf Männer hätten sich nur jeweils einmal abzulösen brauchen.

Vierzig Kilometer in der Sekunde betrug die für die „SSSR-KS 3“ vorgesehene normale Fluggeschwindigkeit. Im Notfall konnte sie auf fünfzig gesteigert werden, wenn man die Energiereserve angriff. Die Reserve galt im allgemeinen als unantastbar, aber jetzt war ein Fall eingetreten, da man auf sie zurückgreifen mußte. Belopolski beabsichtigte jedoch, die Geschwindigkeit erst zu erhöhen, wenn das Raumschiff wieder geradeaus flog. In der Kurve war sie ohnehin schon allzu hoch. Hätten Melnikow und Wtorow nicht in Lebensgefahr geschwebt, hätte sich der Kommandant niemals zu diesem Manöver entschlossen, mit dem er die Gesundheit der Besatzungsmitglieder aufs Spiel setzte. Aber es blieb keine andere Wahl.

Das Triebwerk, das den Ablenkstrahl erzeugte, verbrauchte all seine Energie für das Wendemanöver und blieb ohne Einfluß auf die Geschwindigkeit des Raumschiffs im ganzen.

Am schlimmsten für die Besatzung war die Ungewißheit der Erfolgsaussichten. Alles baute auf der Voraussetzung auf, daß der „Phaetone“ noch mindestens zwei Tage mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf die Venus zuflog. Er brauchte aber nur einen anderen Kurs einzuschlagen — und das war ja wiederholt geschehen, seit Subbotin ihn entdeckt hatte —, und schon müßten auch sie ihren Kurs ändern, ohne die geringste Garantie übrigens, daß der „Phaetone“ nicht erneut die Richtung wechselte.

Die „SSSR-KS 3“ konnte derartige Manöver nicht endlos ausführen. Außerdem war die Geschwindigkeit des verfolgten Raumschiffes sehr variabel. Wer garantierte, daß fünfzig Kilometer in der Sekunde seine „Höchstgeschwindigkeit“ war? Womöglich flog es noch schneller, dann war nicht mehr daran zu denken, es einzuholen.

Voller Unruhe sah die Besatzung jeder neuen Nachricht von der Erde entgegen. Doch bisher hatte es noch keine bedrohlichen Anzeichen gegeben.

Der Abend des elften August kam heran (Abend war es natürlich nur auf der Erde, in der UdSSR, nicht aber im Raumschiff). Voller Ungeduld warteten die Männer, daß es acht Uhr wurde. Je näher die ersehnte Stunde rückte, desto unerträglicher dünkte ihnen die Belastung. Der bleischwer gewordene Körper drohte den Dienst zu versagen.

Aufhören! hätte jeder am liebsten geschrien. Ist es nicht ganz gleich, ob wir eine Minute früher oder später eintreffen? Aber sie wußten ganz genau, daß Belopolski das Triebwerk keine Sekunde früher abstellen würde.

Ein kaum merkliches Zittern ging durch das Raumschiff. Alle atmeten erleichtert auf. Der Körper empfand die Schwerelosigkeit als eine Wohltat. Wie schön war es doch, das eigene Gewicht nicht zu spüren!

Vor ihnen lagen vierzig Stunden ruhigen Geradeausflugs. Die Geschwindigkeitssteigerung auf fünfzig Kilometer in der Sekunde würde nur mit einer Beschleunigung von einem Meter pro Sekundenquadrat erfolgen. Das verlieh ihnen ein Zehntel der iidischen Schwere. Kleinigkeit!

„Mitteilung von der Erde“, ertönte Knjasews Stimme. Die in jedem Raum angebrachten Lautsprecher trugen seine Worte durchs ganze Schiff. „Dringende Meldung!“ Niemand rührte sich von der Stelle. Nur Toporkow begab sich eilig zum Funkraum, um Knjasew abzulösen. Das hatte er jedesmal getan, wenn sich die Erde meldete, und damit oft seine Erholungspause geopfert.

Dringende Meldung! Da mußte etwas passiert sein! Alle warteten in gedrückter Stimmung.

Dann leuchteten die Bildschirme auf und zeigten Belopolskis finsteres Gesicht.

„Genossen!“ sagte er. „Das Raumschiff der Phaetonen macht eine Wendung. Im Augenblick ist noch nicht abzusehen, welche Richtung es einschlagen wird. Das wird sich in zwei, drei Stunden zeigen. Ruht euch aus! Eine weitere Richtungsänderung auch unseres Schiffs wird unvermeidlich sein.“ Und wieder arbeitete das Ablenktriebwerk. Wieder quälte erhöhte Schwerkraft die Männer. Wieder kämpften Toporkow und Knjasew, einander ablösend, gegen die erdrückende Last des eigenen Gewichts. Und wieder war keine Gewähr gegeben, daß sich ihre Leiden wirklich auszahlten.

Nachdem die Kurve ausgeführt war und das Raumschiff wieder geradeaus flog, vergingen keine vier Stunden, da änderte der „Phaetone“, als wolle er sich über sie lustig machen, erneut den Kurs.

„Es besteht kein Zweifel mehr“, funkte Kamow. „Das Raumschiff wird von menschlichem Willen gelenkt. Wenn ein Autopilot steuerte, wäre diese Kurve sinnlos. Melnikow und Wtorow sind noch am Leben. Vorwärts, Genossen! Das Ziel ist nahe!“ Hartnäckig ging die Verfolgung weiter!

Die Kraft der Vorstellung

Melnikow war überzeugt, daß die Beschleunigung des Raumschiffs nicht allzu lange anhalten würde. Das widerspräche der technischen Zweckmäßigkeit, und die Technik der Phaetonen war, nach allem zu urteilen, was sie bisher davon gesehen hatten, überaus „vernünftig“. Doch daß sie von so kurzer Dauer sein würde, hatte er nicht erwartet.

Als er zu Beginn des Starts vom Steg gefallen war, hatte er nicht versäumt, auf die Uhr zu sehen. Nun, da er an der plötzlich einsetzenden Schwerelosigkeit merkte, daß die Beschleunigung aufgehört hatte und das Raumschiff, dem Gesetz der Trägheit gehorchend, mit konstanter Geschwindigkeit weiterflog, stellte er fest, daß etwa dreizehn Minuten vergangen waren.

Jenseits der unsichtbar gewordenen Wand dehnte sich die vertraute Sternenwelt. Das Schiff hatte offensichtlich die Venusatmosphäre schon ganz verlassen und flog durch den interplanetaren Raum. In welcher Richtung? War die Steuerautomatik auf einen bestimmten Kurs eingestellt oder nicht? Das würde sich erst nach einigen Stunden aufmerksamer Beobachtung der Venus erkennen lassen. Eine unvollkommene Methode, doch eine andere stand ihnen nicht zur Verfügung. Kein einziges Navigationsinstrument war vorhanden.

Der so plötzlich verlassene Planet schien ganz nahe. Den halben Himmel bedeckte seine gewaltige schneeweiße Wolkenmasse. Jetzt, da die Schwerkraft aufgehoben war, ließ sich nicht mehr feststellen, ob sich die Venus senkrecht unter ihnen oder seitlich befand. Allerdings schien die Sonne immer noch an derselben Stelle zu stehen; Melnikow erinnerte sich, daß Wtorows Schatten schon vorher auf seine Füße gefallen war. So war es auch jetzt. Folglich hatte das Raumschiff seine Flugrichtung nicht geändert. Es trug sie der Sonne entgegen. So schien es jedenfalls.

Doch das mußte noch genau festgestellt werden.

Zweimal war Melnikow schon mit einem Raumschiff zur Venus geflogen. Dreimal hatte er den Planeten aus der jetzigen Entfernung gesehen. Sollte er da nicht nach Augenmaß schätzen können, in welcher Höhe sie sich befanden? Vermutlich etwa zehntausend Kilometer. Ja, das mochte stimmen.

Er stieß sich leicht ab, schwebte auf Wtorow zu und hielt sich an dessen Schultern fest. So konnten sie sich bequemer unterhalten.

„Was meinst du, Gennadi“, fragte er, „um das Wievielfache hat die Schwerkraft beim Start zugenommen?“ Wtorow hob den Kopf, und Melnikow blickte in ein totenblasses Gesicht mit flackernden Augen. Die Lippen des jungen Ingenieurs waren fahlblau.

„Was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl?“ Wtorow lachte hysterisch auf.

„Sie sind unvergleichlich, Boris Nikolajewitsch“, sagte er und fuhr fort zu lachen. „Ob ich mich nicht wohl fühle? Ich fühle mich wie jemand, der zum Tode verurteilt ist und schon die Schlinge um den Hals hat.“ Melnikow merkte, daß sein Kamerad die Selbstbeherrschung verloren hatte. Hier half nur rigoroses Vorgehen, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen.

„Schäm dich, erbärmlicher Feigling! Jammerlappen!“ sagte er scharf. „Und so was nennt sich Kosmonaut!“ Überzeugt von der Wirkung seiner Worte, wandte er sich ab, um Wtorow Zeit zu lassen, wieder zu sich zu kommen.

Wtorow schwieg.

Als sich Melnikow ihm nach einer Weile erneut zuwandte, sah er, daß er seine Absicht erreicht hatte.

„Haben Sie doch ein bißchen Nachsicht mit mir, Boris Nikolajewitsch“, sagte Wtorow. „Nicht jeder kann so sein wie Sie.

Wir haben doch nur noch sechs Stunden zu leben.“

„Wieso denn das?“ fragte Melnikow und tat, als habe er nicht verstanden. Er wollte, daß Wtorow Überlegungen anstellte; es gab kein besseres Mittel für ihn, die Ruhe zurückzugewinnen.

„Wieso? Ja, wissen Sie denn nicht, daß wir nur für zwölf Stunden Sauerstoff mitgenommen haben?“

„Ach ja! Wieviel Zeit ist denn vergangen, seit wir die ›KS 3‹ verlassen haben?“

„Meiner Schätzung nach ungefähr sechs Stunden.“

„Das bedeutet also, daß unser Sauerstoff tatsächlich nicht mehr lange reicht. Sechs Stunden! In der Zeit kann man wahrhaftig nicht viel tun.“

„Wir sind verloren “

„Schon wieder? Das hast du auch gesagt, als wir seinerzeit an der Küste des Venusfestlands im zertrümmerten Flugzeug saßen.“

„Da habe ich das nicht gesagt.“

„Nicht gesagt, aber gedacht. Und trotzdem leben wir noch immer.“

„Aber jetzt ist keine Rettung mehr möglich.“

„Ausweglose Situationen gibt es nicht. Wir haben noch zwei Chancen.“

„Wieso?“ Wtorow sah Melnikow überrascht an. Ihm selbst schien die Situation völlig aussichtslos.

„Erstens“ — Melnikow sah mit Befriedigung, daß das Gesicht seines Kameraden allmählich wieder Farbe bekam — „müssen sie an Bord bemerkt haben, daß das Raumschiff der Phaetonen die Venus verlassen hat. Um selber zu starten, haben sie nicht viel Zeit gebraucht.“ Wtorow blickte unwillkürlich in Richtung Venus in der unbewußten Hoffnung, das eigene Raumschiff zu sehen, wie es hinter ihnen herjagte.

„Wir können es nicht sehen“, sagte Melnikow. „Zwischen ihm und uns liegen Tausende von Kilometern. Aber die Genossen können uns im Teleskop sehen. Wenn wir nicht sehr schnell fliegen — und ich glaube, es ist so —, holt uns die ›KS 3‹ ein. Das ist die erste, allerdings weniger wahrscheinliche Chance.“

„Wieso weniger wahrscheinlich?“

„Es ist schwer, einen so kleinen Körper in den Weiten des Weltalls auszumachen, um so mehr, als sich die ›KS 3‹ hinter uns befindet und wir ihr die unbeleuchtete Seite zukehren.

Außerdem wissen sie nicht, in welche Richtung wir fliegen. Aber immerhin ist es eine Chance, wenn auch keine sichere.“

„Und die zweite?“

„Die zweite ist realer. Irgendwie haben wir die Triebwerke des Raumschiffs in Gang gesetzt. Vor uns haben wir das Steuerpult. Das steht außer Zweifel. Wir müssen nur dahinterkommen, wie sich das Schiff lenken läßt. Offensichtlich ganz anders als unseres. Ich glaube, wir werden es herausbekommen. Wahrscheinlich eine ganz einfache Sache. Aber natürlich brauchen wir Zeit dazu.“

„Sie vergessen wieder, daß wir nur noch sechs Stunden zur Verfügung haben“, gab Wtorow, nun schon ganz ruhig, zu bedenken.

„Auf den ersten Blick sieht es tatsachlich so aus. Aber wenn wir uns an verschiedene Fakten erinnern.Bist du mir übrigens böse?“ unterbrach er sich plötzlich.

Wtorow wurde rot.

„Sie hatten recht“, sagte er. „Ich bin wirklich ein Feigling und habe in einem Raumschiff nichts zu suchen.“ Melnikow umarmte den Kameraden.

„Unsinn, Gennadi! Früher hat mir auch immer Kamows Kaltblütigkeit Erstaunen eingeflößt. Aber das ist alles eine Sache der Erfahrung und der Gewohnheit. Vergiß, was ich gesagt habe. Ich wollte dich damit nur kurieren.“

„Es hat gewirkt“, sagte Wtorow lächelnd, „jetzt sehe ich dem Tod mit Ruhe entgegen.“

„Aber, aber — schon wieder der Tod. Ich habe nicht die Absicht zu sterben. Wir müssen kämpfen. Und was die Luft betrifft…“ Mit einem Ruck öffnete er den hermetischen Verschluß und nahm den Helm ab.

Wtorow erstarrte vor Schreck. Er stierte den Kameraden an und erwartete, Zeichen von Atemnot bei ihm zu sehen.

Doch Melnikow atmete tief. Im ersten Augenblick kam ihm die Luft im Raumschiff ungewöhnlich dicht vor, als befinde er sich unter erhöhtem Druck. Aber dieses Gefühl ließ bald nach.

Wie er erwartet hatte, war der Sauerstoffgehalt völlig ausreichend.

„Da siehst du’s!“ sagte er.

„Wie konnten Sie sich dazu entschließen?“

„Ich war überzeugt, daß wir diese Luft atmen können. Alles, was uns von den Phaetonen bekannt ist, spricht dafür. Kannst du dir den Grund meiner Überzeugtheit nicht denken?“

„Nein. Sie konnten doch ersticken!“

„Wir hätten, wenn nicht jetzt, so spätestens in sechs Stunden den Helm abnehmen und probieren müssen, ob die Luft des Raumschiffs für uns geeignet ist oder nicht. Da war es schon besser, das auf der Stelle zu tun. Jetzt wissen wir, daß wir weit mehr als sechs Stunden zur Verfügung haben. Die Sauerstoffvorräte sind hier unbegrenzt.“

„Woraus schließen Sie das?“ fragte Wtorow verwundert.

Ebenso wie Melnikow nahm er den Helm ab und verspürte keinerlei Atembeschwerden. Die Luft war rein und unterschied sich, abgesehen von dem schwachen fremdartigen Geruch, den sie auch vorher schon durch den Filter wahrgenommen hatten, nicht von der irdischen.

„Ich bin durch einfache logische Schlußfolgerungen darauf gekommen“, antwortete Melnikow. „Erinnere dich an den Film der Phaetonen. Sowohl auf dem Mars als auch auf der Venus trugen sie ebensolche Raumanzüge wie wir. Für sie wie für uns ist also die Venusluft ungeeignet. Erinnere dich an ihr Äußeres — sie sehen aus wie wir. Also brauchten sie auch Sauerstoff. Sie haben viele Jahre auf der Venus zugebracht. In der Venusatmosphäre ist nur sehr wenig Sauerstoff vorhanden. Wo haben sie ihn also hergenommen? Zweifellos haben sie ihn auf synthetischem Wege aus Atomteilchen gewonnen. Wir können ganz sicher sein, daß uns unbekannte Apparate den Sauerstoff in der Luft auch jetzt noch erneuern und die Kohlensäure und andere schädliche Beimischungen beseitigen. Wir beide haben Venusluft ins Raumschiff eingeschleppt. Aber riechst du noch was von Formaldehyd? Es ist keines mehr da, es wurde beseitigt. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Wissenschaft der Phaetonen der irdischen weit voraus war.“

„Sie haben recht, Boris Nikolajewitsch. Aber trotzdem ist hier so ein merkwürdiger Geruch. Wir könnten uns mit einer unbekannten Krankheit infizieren. Die Mikroben und Bakterien des Phaeton können unmöglich die gleichen sein wie auf der Erde.“ Melnikow lachte laut auf.

„Noch vor fünf Minuten hast du vom unvermeidlichen Tod gesprochen. Und jetzt hast du Angst, krank zu werden. Vollkommenheit in der Technik geht zwangsläufig mit Vollkommenheit in anderen Wissenschaften einher. Bei den Phaetonen war zweifellos auch die Medizin hoch entwickelt. Ich glaube, daß es in ihrem Raumschiff überhaupt keine Bakterien gab. Sie mußten Maßnahmen gegen die Bakterien auf der Venus treffen und gleichzeitig auch die eigenen vernichten. Das ist mehr als wahrscheinlich, das steht außer Zweifel.“

„Ihrer Meinung nach sind wir also mit Luft versorgt? Aber wie steht’s mit der Ernährung? Wir haben doch nichts mitgenommen.“

„Das stimmt. Der Hunger droht uns. Aber wir werden schon durchhalten.“

„Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren“, sagte Wtorow. „Wir sprechen hier über alles mögliche, und derweil vergeht die Zeit.“

„Auch das ist richtig. Doch bevor wir auf Rettung sinnen, wollte ich dich erst einmal beruhigen. Damit du mit kühlem Kopf überlegen kannst. Wir haben einige Minuten verloren.

Aber das fällt nicht ins Gewicht. Selbst wenn wir herausfinden sollten, wie das Raumschiff zu lenken ist, wird noch eine Menge Zeit vergehen, bevor wir zur Venus zurückkehren oder gar zur Erde fliegen können. Mit dem Herausfinden allein ist es ja nicht getan, wir müssen uns auch die nötigen Fertigkeiten aneignen.“

„Nun, bis zur Erde schaffen wir’s unmöglich“, meinte Wtorow.

„Da sind wir längst verhungert.“

„Das bleibt abzuwarten. Aber ich möchte meine Frage von vorhin wiederholen: Was meinst du, um das Wievielfache war die Schwerkraft beim Start vergrößert?“

„Ich schätze, um das Dreifache.“

„Mir kam es weniger vor. Etwa um das Doppelte. Aber du kannst recht haben. Sagen wir, um das Zweieinhalbfache. Die Beschleunigung hat dreizehn Minuten angehalten, in dieser Zeit sind wir etwa zehntausend Kilometer geflogen. Mit welcher Geschwindigkeit fliegen wir also jetzt?“

„Das ist nicht schwer auszurechnen.“

„Ich weiß. Moment mal… Annähernd fünfundzwanzig Kilometer in der Sekunde. Es genau auszurechnen, hat keinen Sinn.

Wir kennen sowieso nicht die genauen Beschleunigungswerte.

Jedenfalls wissen wir jetzt, daß das Raumschiff der Phaetonen bedeutend langsamer fliegt als die ›KS 3‹. Wenn uns die Genossen erst entdeckt haben, holen sie uns mit Leichtigkeit ein.“

„Ja, wenn!“ seufzte Wtorow.

„Wir legen ja auch nicht die Hände in den Schoß“, fuhr Melnikow fort. „Beschäftigen wir uns mit dem Hauptproblem. Erinnere dich bis ins kleinste an alle deine Bewegungen vor dem Start.“

„Soll ich nicht lieber erst mal vom Pult weggehen?“ fragte Wtorow.

Jetzt erst kam es Melnikow zum Bewußtsein, daß Wtorow ja noch immer vor den geheimnisvollen Facetten saß, in deren Tiefe die verschiedenfarbigen Funken glitzerten.

Ein unverzeihlicher Leichtsinn! Wie hatte er das nur vergessen können. Wer weiß, vielleicht löste man nicht nur den Start, sondern auch die Manöver des Raumschiffs auf dieselbe rätselhafte Weise aus.

„Natürlich“, sagte er. „Das hättest du schon längst tun sollen.“ Wtorow glitt vom Sessel. Sie entfernten sich von der Konstruktion, die sie für das Steuerpult hielten. Beide bemerkten, daß sich das Glitzern der winzigen Funken sofort verstärkte.

Solange Wtorow unmittelbar vor der einen Facette gesessen hatte, waren die Funken darin fast unbeweglich gewesen. Wir werden kaum jemals darauf kommen, wie das Pult arbeitet, dachte der junge Ingenieur. Das Ganze hat mit irdischen Dingen zu wenig gemein.

„Meiner Meinung nach habe ich überhaupt keine Bewegungen gemacht“, antwortete er auf Melnikows Frage. „Sie haben sie mir doch selbst verboten. Ich habe regungslos dagesessen.“

„Es kann aber keinen Zweifel daran geben, daß du die Triebwerke in Gang gesetzt hast. Weißt du noch, bevor wir hier hereinkamen, haben wir doch den blauen Ring mit dem gelben Kreuz gesehen? Der gleiche Ring war auch vor dir zu sehen, als du dich in den Sessel setztest. Er bedeutete ein Warnsignal. Im ersten Fall galt es uns beiden, im zweiten nur dir.“

„Ja, so muß es sein“, pflichtete Wtorow ihm bei. „Aber ich erinnere mich ganz genau, daß ich keine Bewegungen gemacht habe.“

„Also müßte das Raumschiff gestartet sein, weil du vom Start gesprochen hast. Doch das ist unmöglich. Ich gebe zu, daß eine Automatik so konstruiert sein kann, daß sie auf Laute reagiert, aber die Phaetonen konnten doch unmöglich die russische Sprache kennen. Außerdem sind die Laute ihrer Sprache den unseren ganz und gar nicht ähnlich.“

„Natürlich. Ich habe vorhin gesagt — dessen erinnere ich mich ganz genau —: ›Ich mache die erforderliche Bewegung, und das Raumschiff…‹ Das Raumschiff! Boris Nikolajewitsch, mir kommt eben ein ganz verrückter Gedanke! Die Türen! Verstehen Sie, die Türen!“

„Was für Türen?“

„Die Türen hier im Schiff! Die fünfeckigen Konturen!“

„Ich verstehe gar nichts.“

„Gehen wir raus“, sagte Wtorow. „Ich glaube, ich hab’s. Wir dürfen hier drinnen nicht weitersprechen.“

„Ich habe auch schon gedacht, daß es besser wäre, von hier zu verschwinden“, erwiderte Melnikow, vergeblich darüber nachsinnend, was sein Kamerad meinen könnte. „Aber es sind ja keine Knöpfe da.“

„Um so besser.“ Mit diesen seltsamen Worten wandte sich Wtorow der Stelle zu, an der sich die Tür befinden mußte.

Augenblicklich zeichneten sich die Konturen des Fünfecks ab.

Gleich darauf war der Durchgang frei.

„Sehen Sie“, sagte Wtorow mit vor Erregung zitternder Stimme. „Ich habe recht. Die Automatik funktioniert einwandfrei. Und wir haben gedacht, sie sei hinüber.“ Melnikow begriff nichts. Hatte Gennadi etwa den Verstand verloren? Wovon redete er?

Sie krochen durch die Öffnung. Sofort schloß sie sich wieder hinter ihnen.

„Schließen tun sie sich von allein“, sagte Wtorow. „Ach, ihr prächtigen, klugen Phaetonen!“

„Sei endlich so gut und erklär mir, was das zu bedeuten hat.“

„Das hat zu bedeuten, daß wir gerettet sind. Wir können das Raumschiff lenken, und sogar sehr einfach.“

„Nun schieß schon los!“

„Erst mache ich noch einen Versuch“, sagte Wtorow. „Dann haben wir den endgültigen Beweis. Passen Sie auf!“ Er verharrte regungslos.

Gleich darauf flammte unmittelbar vor ihnen der blaue Ring mit dem gelben Kreuz auf, und anschließend öffnete sich die Tür zu dem Raum mit dem Steuerpult.

„Und jetzt schließt sie sich wieder“, sagte Wtorow.

Die Tür schloß sich tatsächlich wieder.

„So!“ Wtorow fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er sich den Schweiß abwischen. „Alles ist klar!“

„Es sind doch nicht etwa die Gedanken, die alles bewirken?“

„Nein, nicht die Gedanken. Der Mensch denkt vorwiegend in Worten. Es ist was anderes. Dies hier hängt wohl mit den Bioströmen des Organismus zusammen. Jetzt weiß ich jedenfalls, warum wir gestartet sind. Als ich die verhängnisvollen Worte sagte, stellte ich mir ganz deutlich vor, daß das Raumschiff startet. Die Vorstellung war real, sichtbar. So als ob ich selbst… Verstehen Sie? Es ist schwer zu erklären. Nehmen wir ein Beispiel: Können Sie, auf irgendeinen Gegenstand, sagen wir einen Stuhl, blickend, ihn in Gedanken hochheben? Nein, nicht in Gedanken, sondern mit der Empfindung des Hochhebens? Ich weiß wirklich nicht, wie ich es Ihnen erklären soll.“

„Nicht nötig. Du hast zweifellos recht. Die Automatik des Raumschiffs wird durch Bioströme gelenkt. Offensichtlich war die Disziplin des Denkens bei den Phaetonen hoch entwickelt.

Und nicht nur die des Denkens, sondern auch die der Vorstellungskraft. Jetzt begreife ich auch, warum sich die Türen nicht immer sofort öffneten. Sie warteten, bis du sie unbewußt, kraft deines Wunsches, sie möchten sich öffnen, öffnetest. Ich erinnere mich, wie ich einmal allein vor eine Tür trat — du warst zurückgeblieben — und sie sich partout nicht öffnen wollte. Sie tat es erst, nachdem du hinzugekommen warst. Ich habe nicht so eine starke Vorstellungskraft wie du. Du bist nervöser, deine Vorstellungen erzeugen daher leicht Bioströme. Die Mechanismen der Phaetonen aber sind außergewöhnlich empfindlich.“

„Wer konnte das aber auch ahnen!“

„Wir hätten es uns denken können. Auch auf der Erde gibt es bereits eine Bionik. Sie hat jedoch noch nicht den Stand wie bei den Phaetonen erreicht.“

„Es läuft also darauf hinaus, daß ich an allem schuld bin“, sagte Wtorow bekümmert. „Hätte Sie jemand anders begleitet…“

„… wäre das Raumschiff nicht gestartet“, beendete Melnikow den Satz. „Nein, Gennadi, so können wir nicht argumentieren. Wenn und falls! Du hast das Raumschiff gestartet, und du wirst es auch wieder auf die Venus zurückbringen. Jetzt ist es gerade unser Glück, daß deine Vorstellungskraft und deine Nervenimpulse stark genug sind, um auf die Mechanismen des Raumschiffs einzuwirken. Aber du mußt außerordentlich vorsichtig sein. Eine steile Kurve des Raumschiffs zum Beispiel wäre unser Verderben.“

„Die Phaetonen werden sich kaum ganz und gar auf die eigene Vorstellungskraft verlassen haben“, meinte Wtorow.

„Das wäre zu gefährlich gewesen. Höchstwahrscheinlich kann man mit den Bioströmen nur die Triebwerke in Gang setzen sowie Kurs und Geschwindigkeit allgemein verändern. Die detaillierte Technik all dieser Manöver aber ist anscheinend automatisiert, damit die kritischen Punkte nicht überschritten werden. Wir haben ja ein Beispiel dafür. Die Beschleunigung hörte ohne mein Dazutun auf.“

„Bist du davon überzeugt? Vielleicht…“ Wtorow senkte den Kopf.

„Ich bin überzeugt“, sagte er kaum vernehmlich. „Es ist beschämend für mich, aber mein ganzes Denken und Fühlen war damals durch Furcht gelähmt.“

„Eine rettende Furcht“, scherzte Melnikow. „Du hättest sonst vielleicht die Triebwerke abgestellt, und das Raumschiff wäre auf die Venus gestürzt. In dem Falle wäre von uns herzlich wenig übriggeblieben. So hat sich alles zum besten gewendet.

Aber jetzt empfehle ich dir, dich auszuruhen und dann an die Arbeit zu gehen.“

„Ausruhen?“ staunte Wtorow. „Haben wir denn dazu genügend Zeit?“

„Mehr als genug. Du stehst vor einer harten Belastungsprobe.

Du sollst dieses Raumschiff lenken lernen. Dazu mußt du vollkommen frisch sein. In deinem jetzigen Zustand darfst du nichts unternehmen. Nur eine Katastrophe könnte dabei herauskommen. Unsere Rettung hängt von deiner Kaltblütigkeit ab. jetzt heißt es schlafen, und zwar mindestens acht Stunden.“

„Und die ›KS 3‹? Sie kann uns jeden Augenblick einholen.“ Melnikow seufzte.

„Sie holen uns nicht ein“, sagte er. „Schon deshalb nicht, weil sie uns nicht ausmachen können. Von der ›KS 3‹ aus gesehen, befinden wir uns genau vor der Sonne, hoffnungslos in ihren Strahlen verloren. Sie können uns nicht sehen.“

„Aber Sie haben doch selber gesagt…“

„Das tat ich deinetwegen. Jetzt, da du dich wieder beruhigt hast, kann ich’s dir offen sagen: Auf die ›KS 3‹ brauchen wir nicht zu hoffen. Ich zweifle nicht, daß die Genossen aufgebrochen sind, um uns einzuholen, aber sobald sie sich von der Undurchführbarkeit ihrer Absicht überzeugt haben, werden sie bestimmt zur Venus zurückkehren. Dort werden wir sie wiedersehen.“

„Sie glauben, daß sie umkehren?“

„Keinen Augenblick zweifle ich daran. Die Arbeit muß zu Ende geführt werden.“ Wtorow gab keine Antwort. Wirklich, dachte er, warum sollte die Expedition die Arbeit abbrechen? Es sind noch zwei Männer umgekommen, aber das ist kein Grund. Es wird Zeit, daß ich mich an die Geduld und Selbstbeherrschung der Kosmonauten gewöhne. Laut aber sagte er: „Wir fliegen auf die Sonne zu. Wäre es da nicht besser, bevor wir uns ausruhen, zu versuchen, das Raumschiff auf einen anderen Kurs zu bringen?“

„Die Sonne ist noch sehr weit. Selbst wenn wir auf sie zustürzen, haben wir noch mehrere Wochen zur Verfügung. Bevor du dich nicht richtig ausgeruht hast, lasse ich dich nicht ans Pult.“

„Also ruhen wir uns aus“, stimmte Wtorow gehorsam zu.

In einer schwerelosen Welt sind keine Betten notwendig. Der Mensch kann in jeder beliebigen Lage in der Luft schlafen. Die Macht der Gewohnheit jedoch veranlaßte Melnikow und Wtorow, jenen Raum aufzusuchen, in dem sie die Hängematten de£ Phaetonen gesehen hatten. Diese Hängematten bestanden aus einer Art Seidenfaser. Sie waren für Menschen zu kurz, aber das spielte keine Rolle. Die beiden Männer wollten ja nicht darin liegen, sondern sich nur an ihnen festhalten. So waren sie es von ihrem Raumschiff her gewohnt.

Jeder hüllte sich in eine Hängematte ein.

„Es stört mich, daß die Wände durchsichtig sind“, sagte Wtorow.

„Das hängt ja von dir ab“, sagte Melnikow schmunzelnd.

„Und wie steht’s mit Ihnen?“

„O weh! Ich habe mich nie durch reiche Phantasie ausgezeichnet. Ich kann nur denken, hier aber ist etwas anderes nötig. Versuch du’s, Gennadi.“ Wtorow schloß die Augen. Zunächst trachtete er, sich die Sternenwelt rings um das Raumschiff so real wie möglich vorzustellen. Dann malte er sich aus, die Wände hörten auf, durchsichtig zu sein, die Sterne verschwänden, und ringsum gäbe es nur noch Metallwände.

„Bravo!“ hörte er Melnikow ausrufen.

Wtorow öffnete die Augen. Im ersten Augenblick wollte er es gar nicht glauben — sein Wunsch war in Erfüllung gegangen. Er ertappte sich bei einem selbstzufriedenen Lächeln. Glich sie nicht einem Wunder, diese Zaubertechnik, die auf einen Befehl der Vorstellungskraft reagierte?

„Lösch das Licht“, sagte Melnikow in einem Ton, als brauche man nur die Hand auszustrecken und einen Schalter herumzudrehen.

Eine Stunde vor dem Tode

Durch den menschlichen Organismus fließen ununterbrochen nach Spannung, Frequenz und Stärke unterschiedliche elektrische Ströme. Bei jeder Tätigkeit des lebenden Gewebes kommt es zu einer Veränderung des elektrischen Potentials. Jeden Befehl des Gehirns, der durch das Zentralnervensystem an die Muskeln weitergegeben wird, kann man durch einen Spezialapparat in Form eines Elektrogramms aufzeichnen.

In der Wissenschaft werden diese Ströme des Organismus als „Bioströme“ bezeichnet.

Unsere Technik hat längst gelernt, die in den Muskeln entstehenden Bioströme für das Funktionieren künstlicher Gliedmaßen — Arme oder Beine — auszunutzen. Heute steht die Herstellung von Maschinen, die unmittelbar durch Hirnströme gelenkt werden, auf der Tagesordnung von Wissenschaft und Technik. Schwierigkeiten ergeben sich jedoch daraus, daß die zahllosen Impulse, die gleichzeitig von den Milliarden Nervenzellen des Gehirns ausgehen, voneinander getrennt werden müssen.

Im Jahre 19…, als die „SSSR-KS 3“ zur Venus flog, gingen in der UdSSR, in den USA und anderen Ländern die ersten Muster hirngesteuerter Maschinen in Produktion. Sie waren noch sehr einfach, aber die Entwicklung komplizierterer und vollkommenerer zeichnete sich bereits ab. Selbstbewußt stattete der Mensch die Technik mit der Kraft seines Denkens aus.

Der Ausdruck „mit Gedankenschnelle“ ist allgemein bekannt.

Und in der Tat entsteht der Gedanke praktisch in einem Augenblick. Die durch den Gedanken ausgelöste Handlung aber erfolgt unvermeidlich mit Verzögerung. Um einen Befehl des Gehirns in Bewegung umzusetzen, benötigen die Muskeln Zeit.

Eine gut konstruierte Maschine jedoch kann ebensoschnell arbeiten, wie der Mensch denkt. Daraus erhellt, welche Vorteile die unmittelbare Übertragung eines Befehls vom Gehirn zur Maschine bietet. Das Zwischenglied, die Handbewegung des Menschen, entfällt. Durch diese Steuermethode werden Schnelligkeit und Genauigkeit erheblich gesteigert. Das Denken wird unmittelbar in Handlung umgesetzt, ohne Entstellungen, wie sie die Organe unseres Körpers — Gelenke, Muskeln und schließlich die Finger, die nicht biegsam und gehorsam genug sind — ständig hervorrufen.

Den Kommandanten von Weltraumschiffen eröffnen sich angesichts der ungeheuren Fluggeschwindigkeit und der häufigen Notwendigkeit, blitzschnelle Entschlüsse fassen und sie ebenso blitzschnell in die Tat umsetzen zu müssen, durch die gedankliche Steuerung ungeahnte Möglichkeiten. Es verwundert daher nicht, daß sich die Phaetonen, deren wissenschaftliche und technische Entwicklung der irdischen weit voraus war, für dieses, das vollkommenste Prinzip der Raumschifflenkung entschieden hatten.

Die auf Bioströmen beruhende Technik war auch auf der Erde bereits bekannt. Deshalb kamen Melnikow und Wtorow verhältnismäßig leicht hinter das Rätsel der fremden Steuerungstechnik, das ihnen anfangs unlösbar erschienen war.

Die entscheidende Rolle spielte dabei die Ähnlichkeit zwischen den Menschen des Phaeton und denen der Erde. Sie waren gleich gebaut, die Natur hatte sie nach ein und demselben Muster geschaffen. Das Gehirn der Phaetonen — das ließ sich mit Sicherheit sagen — war dem des Menschen analog, ein Unterschied bestand lediglich im Entwicklungsstand. Die Denkweisen unterschieden sich nicht voneinander. Was die Phaetonen konnten, konnten auch die Menschen. Natürlich dachten die Phaetonen konkreter, genauer, war ihre Phantasie reicher und mannigfaltiger, ihre Vorstellungskraft deutlicher und plastischer.

Dennoch handelte es sich um das gleiche Denken, die gleiche Phantasie, die gleichen Vorstellungen. Das bewies die Tatsache, daß die Mechanismen Wtorows Gedanken gehorcht hatten.

Durch seine Vorstellungskraft hatte er das Raumschiff veranlaßt, von der Venus fortzufliegen, hatte er die fünfeckigen Türen geöffnet, die Wände durchsichtig und dann wieder undurchsichtig gemacht, hatte er schließlich das Licht wunschgemäß zum Aufflammen und zum Erlöschen gebracht. Das bedeutete, daß die Bioströme seines Gehirns genau denen des Phaetonengehirns entsprachen.

War das ein glücklicher Zufall? Konnte man sagen, daß Melnikow und Wtorow nur dank diesem Zufall Aussicht auf Rettung hatten? Natürlich nicht! Hätten sich Wtorows Bioströme von denen der Phaetonen unterschieden, wäre eine Rettung überhaupt nicht notwendig geworden. Dann läge das Raumschiff noch immer auf der Venus. Was geschehen war, hatte dieselbe Kraft hervorgerufen, die sie jetzt retten sollte.

Die Aufgabe war einfach, aber nicht leicht. Praxis in der gedanklichen Steuerung hatte Wtorow natürlich nicht. Diese Kunst mußte er sozusagen im Fluge, während des Steuerns selbst erlernen. Angesichts der ungeheuren Geschwindigkeit, mit der das Raumschiff flog, barg das große Gefahren in sich. Eine scharfe Kurve zum Beispiel konnte ihnen durch Überlastung den Tod bringen. Wtorows Vermutung, die Phaetonen hätten sich unmöglich ganz und gar auf ihre eigene Vorstellungskraft verlassen und die Automatik ihres Raumschiffs würde solch scharfe Kurven nicht zulassen, bedurfte noch der Überprüfung.

Die „Qualität“ des Denkens der Phaetonen, seine Diszipliniertheit waren vorläufig unbekannt.

Um diese Überprüfung kamen Melnikow und Wtorow nicht herum. Ohne zu zögern, entschlossen sie sich daher zu einem gefährlichen Experiment.

„Unsere Rettung hängt von dir ab“, sagte Melnikow. „Aber übereil nichts, sei äußerst vorsichtig. Übereilung wäre unser sicheres Verderben.“

„Das weiß ich“, erwiderte Wtorow.

„Wir müssen den Stier bei den Hörnern packen. Versuchen wir, eine Wendung von hundertachtzig Grad auszuführen. Wenn du recht hast und die Automatik läßt keine scharfe Kurve zu, sind wir gerettet. Vollführt das Raumschiff aber diese knappe Wendung, ist alles aus.“

„Ich weiß“, wiederholte Wtorow. „Ich bin bereit.“

„Es kann auch passieren, daß das Raumschiff deinem ›Befehl‹ überhaupt nicht gehorcht. Dann…“

„Dann ist ebenfalls alles aus“, unterbrach ihn Wtorow. „Nur daß der Tod dann nicht sofort eintritt. Ich weiß das alles, Boris Nikolajewitsch, und ich bin ganz ruhig. Gehen wir zum Pult.

Verlieren wir keine Zeit mehr.“ Mit Verwunderung registrierte Melnikow die feste Stimme seines Kameraden. Keine Spur von Aufregung war auf Wtorows Gesicht festzustellen. Er war nach den wenigen Stunden der Ruhe wie umgewandelt, glich in nichts mehr jenem Menschen, der noch wenige Stunden zuvor beinahe in Hysterie verfallen wäre. Eine erstaunliche Veränderung!

„Ja, gehen wir!“ Sie hatten volle acht Stunden fest und traumlos geschlafen.

Zu gleicher Zeit waren sie wieder aufgewacht, und Wtorow hatte sofort für Licht gesorgt; es war gehorsam aufgeflammt, sobald er es wünschte. Ebenfalls waren die Wände sofort wieder durchsichtig geworden.

Wo mochten sich die erstaunlichen Mechanismen der Phaetonen befinden? Höchstwahrscheinlich waren es jene langgestreckten, flachen Kästen, die in allen Räumen standen. Sie mußten über eine wahrhaft märchenhafte Empfindlichkeit verfügen, wenn sie die schwachen Bioströme des Gehirns noch über eine Entfernung von mehreren Metern empfingen. Welch einen Riesensprung vorwärts würde die Wissenschaft der Erde machen, wenn sie hinter das Geheimnis von Konstruktion und Arbeitsweise dieser Mechanismen kam. Das Raumschiff der Phaetonen, eine Gipfelleistung wissenschaftlichen und technischen Denkens, war eine wahre Schatzkammer des Wissens der älteren Brüder des Menschen. Und dieser Schatz war durch den Willen des Schicksals zwei Menschen anvertraut. Von ihnen hing es ab, ob er erhalten blieb oder verlorenging. Nachdem sie sich hierüber klargeworden waren, erschien ihnen ihr eigenes Schicksal bedeutungslos. Der anfängliche Wunsch, nur sich selbst zu retten, wurde allmählich durch einen anderen verdrängt: das Raumschiff zu retten, koste es, was es wolle — für die Wissenschaft, für die Menschheit, für die Heimat.

„Sei äußerst vorsichtig“, wiederholte Melnikow, als sie vor der Wand standen, hinter der sich das geheimnisvolle Steuerpult befand.

Erneut flammte der blaue Ring mit dem gelben Kreuz auf.

„Jetzt ist seine Bedeutung ganz klar“, sagte Wtorow. „Achte auf deine Gedanken, mahnte er.“

„Wenn es wirklich so ist, steigen unsere Erfolgsaussichten beachtlich. Das Signal gilt ja nicht nur uns. Es hat auch den Phaetonen gegolten. Folglich wäre ihr Denken gar nicht so diszipliniert gewesen, wie wir angenommen haben. Ich fange an zu glauben, daß das Raumschiff durch eine Art Autopiloten gesteuert wird. Nur daß diesem Autopiloten gedankliche Befehle erteilt werden. Das ist der einzige Unterschied, ansonsten durfte er genauso funktionieren wie unserer.“

„So wird’s sein“, pflichtete Wtorow ihm bei.

Ebenso plötzlich wie die fünfeckige Öffnung aufgetaucht war, überzog sie sich wieder mit Metall und verschwand. Melnikow sah Wtorow fragend an.

„Ja, ich habe sie wieder geschlossen“, sagte der junge Ingenieur. „Solche Versuche festigen mein Selbstvertrauen.“

„Da tust du ganz recht. Üb dich nur sooft wie möglich.“

„Warum verlassen Sie sich nur auf mich? Vielleicht könnten Sie selbst…“, fragte Wtorow.

„Ich hab’s schon probiert. Aber ergebnislos. Entweder habe ich nicht begriffen, worauf es ankommt, oder die Mechanismen sprechen auf die Bioströme meines Gehirns nicht an. Wie dem auch sei, nur du kannst auf sie einwirken.“ Erneut öffnete sich die Tür, nachdem zuvor der blaue Ring mit dem gelben Kreuz erschienen war.

Sie begaben sich in den Steuerraum.

„In welchen Sessel soll ich mich setzen?“

„In denselben wie gestern. Ich nehme an, die Phaetonen hatten vier Piloten, jeder mit seinem eigenen Platz. Die Bioströme sind bei den einzelnen Menschen unterschiedlich. Dieses Ding da besteht wahrscheinlich aus vier gleichartigen Steuerpulten, die aber auf verschiedene Ströme ansprechen!“

„Wahrscheinlich. Also los, Boris Nikolajewitsch, machen wir den ersten Versuch. Halten Sie sich irgendwo fest.“

„Hier ist nichts zum Festhalten“, erwiderte Melnikow. „Ich lege mich auf den Steg.“ Bei dem Wort „legen“ lächelten beide unwillkürlich. Keiner von der Besatzung der „SSSR-KS 3“ konnte sich Worte wie „gehen“, „sich setzen“ und „sich legen“ abgewöhnen, obgleich die entsprechenden Handlungen in der Welt der Schwerelosigkeit unmöglich waren.

Wtorow stieß sich leicht von der Wand ab und schwebte durch die Luft auf den Sessel zu. Er hielt sich an ihm fest und nahm darauf eine sitzende Stellung ein. Sofort erstarrten die flimmernden Punkte auf der Facette vor ihm, und der blaue Ring mit dem gelben Kreuz flammte auf. Sobald er wieder verschwunden war, wurden die Wände der Kugel durchsichtig.

„Das habe nicht ich veranlaßt“, sagte Wtorow. „Das ist automatisch erfolgt.“

„Versuch die Wände zu zwingen, wieder undurchsichtig zu werden“, forderte Melnikow ihn auf.

Wtorow konzentrierte sich. Aber was in den anderen Räumen so leicht gegangen war, gelang hier nicht. Die Wände blieben durchsichtig.

„Irgend etwas stimmt nicht.“

„Das ist ganz in Ordnung“, beeilte sich Melnikow zu versichern, da er befürchtete, der Mißerfolg könne Wtorow das notwendige Selbstvertrauen rauben. „Hier am Pult ist alles anders als in den übrigen Räumen. Der Pilot soll sich auf die Manöver des Raumschiffs konzentrieren. Alles andere ist vollkommen automatisiert, um seine Aufmerksamkeit nicht abzulenken.“

„Ja, wahrscheinlich ist es so. Jedenfalls leuchtet die Erklärung ein. Legen Sie sich hin, Boris Nikolajewitsch!“ In einem Abstand von wenigen Millimetern streckte sich Melnikow längs des Steges aus. Sollte es einen Stoß geben, würde der Steg gut federn; das hatten sie wiederholt festgestellt.

Der entscheidende Moment kam. In wenigen Augenblicken würden sie Bescheid wissen. Gespannt starrte Melnikow zur Venus. Während sie geschlafen hatten, war der Planet noch weiter in die Ferne gerückt. Er sah jetzt wie eine riesige weiße Kugel aus, etwa achtmal so groß wie der Vollmond am irdischen Himmel. Also beträgt der Abstand etwas mehr als eine halbe Million Kilometer, dachte Melnikow mechanisch.

Sobald Wtorow den Sesselsitz berührte, begann er in Gedanken Verse zu deklamieren, um nicht versehentlich etwas zu denken, was auf das Pult einwirken könnte. Als er sah, daß Melnikow bereit war, brach er mitten in einer Verszeile ab und schloß die Augen.

Flüchtig tauchte der Gedanke bei ihm auf, sie könnten im nächsten Moment sterben, wenn das Raumschiff seinem Befehl sofort gehorchte. Eine blitzschnelle Wendung des Schiffs, durch die Trägheit bedingt ein entsetzlicher Ruck, ein ungeheuer heftiger Aufprall an der Wandung, und aus! Da spürte er, daß ihn eine sanfte Gewalt in den Sessel drückte. Im Raumschiff machte sich Fliehkraft bemerkbar! Sie konnte nur bei einer Wendung auftreten.

Was war geschehen? Er hatte doch noch gar nicht Befehl gegeben, war noch gar nicht dazu gekommen, an eine Wendung zu denken! Er wollte es gerade erst tun.

„Das Raumschiff wendet!“ sagte Melnikow. „Der Versuch ist geglückt. Der Richtung der Fliehkraft nach zu urteilen, erfolgt die Wendung in der vertikalen Ebene. Noch besser merkt man das an der Stellung von Venus und Sonne. Gratuliere, Gennadij Ich rate dir, das Pult sofort wieder zu verlassen.“ Wtorow gehorchte mechanisch. Er begriff nichts mehr. Mellukow glaubte, die Wendung habe er, Wtorow, bewirkt, dabei war das gar nicht der Fall. Oder vielleicht doch? Er hatte sich gerade ihr Ende, die Folgen einer scharfen Wendung, ausgemalt. Augenscheinlich genügte das, um die Automatik in Gang zu setzen. Aber während er sich eine plötzliche Wendung vorgestellt hatte, wendete das Raumschiff ganz allmählich. Das bedeutete, daß sich ihre Hoffnungen erfüllt hatten. Die geheimnisvollen Mechanismen nahmen wohl den Sinn eines Befehls auf, seine Ausführung aber erfolgte auf eine Weise, die nicht vom Willen des Menschen abhing. Ganz unbewußt hatte Wtorow den Versuch in der krassesten Form durchgeführt. Und es war ein voller Erfolg geworden. Dieses Raumschiff ist wirklich bis ins Feinste ausgeklügelt, dachte Wtorow.

„Jetzt besteht kein Zweifel mehr, wir werden uns und das Schiff retten“, sagte Melnikow, den Kameraden umarmend.

Bist ein Prachtjunge!“ Wtorow erzählte ausführlich, wie es sich wirklich zugetragen hatte.

„Also tauge ich noch nicht zum Steuermann“, schloß er.

„Ich habe auch nicht damit gerechnet, daß es auf Anhieb klappen würde“, entgegnete Melnikow. „Du wirst es lernen.

Aber das braucht Zeit. Wir haben nicht das Recht, nach einem so erfolgreichen Beginn alles aufs Spiel zu setzen.“

„Ich fürchte, wir müssen uns beeilen. Bald werden wir vom Hunger geschwächt sein.“ Melnikow sah den Freund prüfend an.

„Verspürst du Hunger?“ fragte er.

„Bis jetzt nicht.“

„Ich auch nicht. Im Gegenteil, es kommt mir vor, als hätten meine Kräfte zugenommen.“

„Merkwürdig“, sagte Wtorow. „Mir geht es genauso. Wahrscheinlich liegt das am Zustand unserer Nerven. Denn wir haben doch das letztemal vor fünfzehn Stunden an Bord unseres Raumschiffs gegessen.“ Melnikow schwieg. Einen Augenblick lang kam ihm der vage Verdacht, auch hierbei hätten die Phaetonen ihre Hand im Spiel; er ließ ihn jedoch gleich wieder fallen. Die Phaetonen konnten sich schließlich nicht von Luft ernährt haben. Wenn aber doch, vermochten es die Erdenmenschen noch lange nicht.

Das Gefühl eines vollen Magens blieb indessen.

„Wir müssen darauf achten, wie lange die Wendung dauert“, sagte Melnikow. „Vielleicht mußt du eingreifen und das Manöver stoppen.“

„Ich glaube nicht. Ich erinnere mich sehr genau, daß ich mir eine Wendung von hundertachtzig Grad vorgestellt habe. Zweifellos wird die auch vollführt werden.“

„Schon möglich, trotzdem werden wir aufpassen.“ Die durch die allmähliche Wendung erzeugte Fliehkraft war etwas stärker als die Schwerkraft auf der Erde. Melnikow und Wtorow hatten das Gefühl, ein wenig an Gewicht zugenommen zu haben, jedoch nicht so viel, daß sie Schwierigkeiten gehabt hätten, sich zu bewegen. Man durfte annehmen, daß dies die für die Phaetonen normale Schwerkraft war. Also hatte der Planet Phaeton die Erde an Größe übertroffen. Das erklärte den kleinen Wuchs der Phaetonen. Melnikow registrierte in Gedanken diese überaus wichtige Tatsache.

Da das Raumschiff die Kurve in der vertikalen Ebene beschrieb, war die Fliehkraft im Verhältnis zum Fußboden, zu den Stegen und allen Gegenständen an Bord während der ganzen Zeit nach unten gerichtet. Man konnte sich frei bewegen, wie seinerzeit, als das Raumschiff noch auf der Venus gelegen hatte.

Das war bequem und bewies, mit wieviel Überlegung die einstweilen noch unbegreifliche Steuerungsautomatik eingestellt worden war.

Langsam und gleichmäßig veränderten Sonne und Venus ihre Stellung. Nicht das Raumschiff, sondern die Gestirne schienen sich zu drehen. Nach drei Stunden stand die Sonne unter und die Venus über ihnen.

Das Wendemanöver war beendet. Die Fliehkraft verschwand.

Das Raumschiff flog geradeaus, bewegte sich wieder auf den erst unlängst verlassenen Planeten zu. Aber während Wtorows Befürchtungen vor ein paar Stunden verfrüht gewesen waren, wurden sie jetzt ganz real. Die Venus war nahe. Mit ungeheurer Geschwindigkeit stürzten sie auf den Planeten zu. Es galt, Gegenmaßnahmen zu treffen.

„Laß uns noch einmal wenden“, sagte Melnikow. „Wir müssen weiter weg von der Venus. In ihrer Nähe Manöver auszuführen ist gefährlich.“

„In welche Richtung?“ fragte Wtorow sachlich.

Melnikow schmunzelte.

„Nun, sagen wir nach links. Um neunzig Grad.“ Wtorow nahm selbstsicher im Sessel Platz.

Sich eine Wendung von neunzig Grad vorzustellen, war nicht ganz einfach. Es genügte nicht, den Winkel zu nennen, man mußte ihn sich real vorstellen. Und zwar absolut genau. Melnikow legte sich für alle Falle auf einen der Stege.

Ein Ruck ging durch das Schiff. Melnikow spürte deutlich, wie Fliehkraft entstand und sofort wieder verschwand. Dann noch einmal, aber in anderer Richtung. Der „Phaetone“ warf sich hin und her, kam ins Taumeln. Die empfindliche Automatik Wtorows führte ungenaue Befehle gehorsam aus.

„Ruhig, Gennadi!“ schrie Melnikow.

Ein heftiger Ruck warf ihn vom Steg. Diesmal prallte er spürbar mit dem Kopf gegen die unsichtbare Wand. Aber der gleiche Ruck schleuderte auch Wtorow aus dem Sessel. Das Raumschiff beruhigte sich wieder.

„Weiß der Teufel, was los ist“, sagte Wtorow. „Es klappt einfach nicht.“

„Ruh dich aus. Bevor du wieder ans Pult gehst, üb dich ein bißchen.“

„Dann laß uns lieber in einen anderen Raum gehen.“

„Ja, ganz recht.“ Melnikow spürte, daß die Schwerelosigkeit aufgehört hatte.

Im Raumschiff wirkte eine kaum merkliche Schwerkraft. Wo mochte sie herkommen?

„Hast du vielleicht an Beschleunigung gedacht?“

„Nein. Ganz sicher nicht.“

„Dann stürzen wir auf die Venus zu.“ Die Anziehungskraft des Planeten wirkte sich allmählich aus.

Das beunruhigte Melnikow. Er sah, daß die Sonne, wenn auch nur sehr langsam, ihre Stellung veränderte. Die Schatten wanderten. Das Raumschiff raste geradewegs auf die Venus zu. Wenn es Wtorow nicht gelang, seine Gedanken ganz fest zu konzentrieren, war eine Katastrophe unvermeidlich. Das Schiff würde in der Atmosphäre verglühen und der Wissenschaft verlorengehen.

Was war zu tun? Wie konnte er Wtorow beruhigen, ihm sein früheres Selbstvertrauen wiedergeben? Melnikow sah seinem Kameraden am Gesicht an, daß er völlig verstört war. Man durfte ihm keineswegs sagen, daß nur noch wenig Zeit blieb.

„Ruh dich aus“, wiederholte er. „Wir können uns Zeit lassen!“ Jetzt bewährte sich an Melnikow die bei vier Raumfahrten erworbene starke Selbstbeherrschung. Sein Gesicht war ganz ruhig. Weder Wtorow noch sonst jemand hätte auch nur die’ geringste Spur von Unruhe und Besorgnis darauf entdecken können, obwohl sie in Wahrheit rasch zunahmen.

Wtorow ahnte nichts von der schrecklichen Gefahr, die ihnen drohte.

„Ich werde mich jetzt üben“, sagte er. „Ich gehe erst dann wieder ans Pult, wenn ich mir den Winkel mit Sicherheit vorstellen kann. Haben wir noch Zeit?“

„Jede Menge“, antwortete Melnikow gleichmütig. „Beeil dich nicht. Wir müssen ganz sichergehen.“ Er selbst pflegte ebenso zu handeln. Noch ein mißglückter Versuch — und nichts konnte sie mehr retten. Die einmal eingeschlagene Taktik mußte, koste es, was es wolle, bis zum Schluß befolgt werden. Darin lag ihre einzige Chance.

„Bleib du hier“, sagte Melnikow. „Ich mache jetzt einen Rundgang durchs Schiff.“ Er trägt mir nichts nach, dachte Wtorow.

Möglichst unauffällig beobachtete er den Kameraden.

Melnikow trat an die Wand und drückte auf den Knopf, aber die Tür öffnete sich nicht. Die Mechanismen der Phaetonen hatten sich ganz auf „gedankliche Befehle“ umgestellt. Nun versuchte er, sich eine Öffnung vorzustellen. Aber ohne Erfolg.

Alles wäre viel einfacher, dachte Melnikow, wenn die Mechanismen auf die Bioströme meines Gehirns ansprächen.

„Soll ich die Tür offnen?“ fragte Wtorow.

„Nein, es hat doch keinen Zweck. Ich kann ja sowieso nirgendwo allein hingehen. Nur mit dir zusammen. Ich werd mich bemühen, dich nicht zu stören.“ Trotzdem öffnete sich die Tür.

Wtorow fluchte.

„Es ist eine Strafe“, sagte er. „Wieder habe ich gegen meinen Willen gedacht.“

„Ja, das ist eine schwierige Kunst. Aber denk an die Wendung.“ Wer kennt nicht die Geschichte von dem Mann, dem aufgegeben war, nicht an einen Affen zu denken, und der nun gerade fortwährend an ihn dachte. Das gleiche widerfuhr Wtorow.

Der Raum, in dem sie sich befanden, hatte zwei Türen. Bald öffnete und schloß sich die eine, bald die andere, und manchmal geschah es sogar bei beiden gleichzeitig. Unablässig flammte der blaue Ring mit dem gelben Kreuz auf und erlosch wieder.

Die Wände wurden abwechselnd durchsichtig und undurchsichtig. Licht und Dunkelheit folgten einander. Wirr sprangen Wtorows Gedanken von einem zum anderen, nur auf das eigentlich Notwendige konnten sie sich offensichtlich nicht konzentrieren.

Weder mit Worten noch mit Gesten gab Melnikow seine Ungeduld zu erkennen. Es wäre zwecklos und sogar schädlich gewesen. Alles hing allein von Wtorow ab.

Melnikow zückte sein Notizbuch und tat, als trage er Beobachtungen ein. Auf den häufigen Wechsel von Licht und Dunkelheit reagierte er nicht. Mochte Wtorow glauben, er, Melnikow, halte dieses Chaos für ganz natürlich und verständlich.

Die Sekunden verrannen, wurden zu unwiederbringlich verlorenen Minuten. Immer schneller näherte sich das Raumschiff der Venus. Melnikow begann unwillkürlich, Berechnungen anzustellen. Sie ergaben, daß ihnen nur noch etwa zweieinhalb Stunden zur Verfügung standen. Gelang es ihnen in dieser Zeit nicht, seitwärts abzubiegen, würden sie mit einer Geschwindigkeit von hundert Kilometern in der Sekunde in die Atmosphäre des Planeten eindringen, und nur eine feurige Spur am Himmel der Venus würde den letzten Weg des „Phaetonen“ bezeichnen.

Zweieinhalb Stunden! Das war sehr wenig.

Melnikow blickte verstohlen zu Wtorow hinüber. Der junge Ingenieur hing an der gegenüberliegenden Wand, von der bereits deutlich spurbaren Schwerkraft dagegengepreßt. Sein Gesicht verriet Konzentration, die Augen waren geschlossen. Aber das regellose Öffnen und Schließen der Türen und das Aufflammen und Erlöschen des Lichts dauerte immer noch an.

Allerdings erfolgte es nicht mehr so häufig wie zu Anfang. Anscheinend kam doch allmählich Ordnung in Wtorows Gedanken.

So verging etwa eine Stunde.

Nach Melnikows ’Berechnungen betrug die Geschwindigkeit des Raumschiffes bereits fünfzig Kilometer in der Sekunde oder sogar noch mehr. Genau konnte er es nicht ausrechnen, da er nicht wußte, mit welcher Geschwindigkeit der Sturz auf die Venus begonnen hatte. Er war jedoch überzeugt, daß sie fünfundzwanzig Kilometer in der Sekunde nicht überstiegen hatte.

Die Entfernung bis zur Venus war ebenfalls nur annähernd bekannt.

Beeil dich! hätte er seinem Kameraden am liebsten zugerufen, aber er schwieg.

Jetzt wurden die Wände nicht mehr undurchsichtig. Licht und Dunkelheit wechselten nicht mehr miteinander ab. Nur die eine Tür öffnete sich noch hin und wieder. Wahrscheinlich stellte Wtorow sich vor, wie er den Raum betrat, im Sessel Platz nahm und dem Schiff Befehl gab, um neunzig Grad zu wenden. Melnikow staunte immer wieder über die verblüffende Empfindlichkeit der Apparate. Eine ans Wunderbare grenzende Technik!

Wie schade, wenn sie, die als Modell für künftige Konstruktionen dienen könnte, verlorenginge.

Wahrscheinlich ist auf der Arsena Material über gedankengesteuerte Apparate zu finden, dachte Melnikow. Die Phaetonen haben ganz bestimmt Aufzeichnungen darüber hinterlassen.

Trotzdem, die in diesem Raumschiff konzentrierten Apparate sind ganz etwas anderes. Kann man sie doch auseinandernehmen und genau untersuchen, feststellen, wie sie zusammengesetzt sind.

Melnikows Ungeduld wuchs ständig. Wtorow rührte sich nicht. Auch die letzte Tür öffnete sich nun nicht mehr. War er etwa eingeschlafen?

„Versuchen wir’s, Boris Nikolajewitsch.“

„Ja, natürlich!“ Melnikow hätte nicht so hastig antworten sollen, doch er hielt es nicht mehr aus. „Gehen wir.“ Das Gehen fiel nicht schwer, da das Raumschiff ganz allmählich seinen „Boden“ der Venus zugekehrt hatte. Die Automatik der Phaetonen arbeitete nach wie vor höchst vernünftig.

Aber auch der zweite Versuch Wtorows endete mit einem volligen Fiasko. Kaum hatte er auf dem Sessel Platz genommen, schleuderte ihn ein heftiger Stoß wieder herunter. Melnikow fiel vom Steg. Infolge der inzwischen gesteigerten Geschwindigkeit waren die Stürze diesmal bedeutend schmerzhafter. Sie trugen erhebliche Prellungen davon.

Wtorow war mit seinen Nerven am Ende. Er saß auf der durchsichtigen Wand, als schwebe er im luftleeren Raum, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte.

Jetzt ist alles aus! dachte Melnikow. Früher als in einer halben Stunde hat er sich bestimmt nicht wieder beruhigt. Und dann ist es schon zu spät.

Er versuchte nicht, den Freund zu trösten. Mochte er sich ausweinen, wenn die Tränen die nervöse Spannung der letzten Stunden lösten. Manchem halfen Tränen.

Melnikow blickte nach unten, wie weit war es noch bis zur Venus? Eine Stunde? Aber welche Bedeutung hatte das noch?

Je eher sie in die Atmosphäre gelangten, desto besser! Das Unheil war nicht mehr abzuwenden.

Noch eine Stunde bis zum Tode!

Melnikow versetzte sich in Gedanken auf die Erde. Olga, der einzige Mensch, der ihm nahestand, tauchte wie leibhaftig vor ihm auf. Er sah ihr liebes, vertrautes Lächeln.

Verzeih mir, Olga!

Es ist unsere Pflicht!

Die Minuten verrannen.

Immer schneller raste der „Phaetone“ auf die Venus zu.

Die beiden Männer schwiegen. Der eine wußte, was sie erwartete, der andere ahnte die Wahrheit noch nicht.

Allmählich beruhigte sich Wtorow.

„Entschuldigen Sie, Boris Nikolajewitsch“, sagte er. „Ich werde mir Mühe geben, daß das nicht noch mal passiert.“

„Es mußte so kommen, Gennadi. Die nervliche Anspannung sucht nach Entladung. Ich verstehe dich und verurteile dich nicht.“

„Ich ruhe mich jetzt ein bißchen aus und versuche es dann noch einmal. Es muß doch klappen. Schließlich bin ich mit den Türen und Wänden auch fertig geworden.“ Er blickte nach unten. „Wir haben uns der Venus schon ganz schön genähert!

Wieviel Zeit haben wir noch zur Verfügung?“

„Noch genug“, erwiderte Melnikow ruhig. „Der Schein trügt.

Ruh dich ein, zwei Stunden aus. Gehen wir in die benachbarte Abteilung. Und laß die Wände wieder undurchsichtig werden.

Der Ausblick aufs All hat mich müde gemacht.“ Er braucht nicht zu sehen, daß die Venus schon ganz nahe ist, fügte er in Gedanken hinzu. Ein plötzlicher Tod ist nicht schrecklich. So bleibt wenigstens einem von uns das Warten erspart.

Hinter ihnen „überzog“ sich die fünfeckige Öffnung wieder mit Metall. Das vielfarbige Pult der Phaetonen, das einzige, was sie noch retten konnte, blieb zurück.

Melnikow ermunterte Wtorow zu keinem neuen Versuch. Es war zwecklos. Der Ingenieur hatte wohl das Zeug zu einem echten Kosmonauten, aber im Augenblick… im Augenblick war er eben doch noch keiner.

Die gelbgrauen Wände trennten sie nun von der Außenwelt.

Weder Sonne noch Venus war mehr zu sehen.

Melnikow lag mit geschlossenen Augen in der Hängematte.

Jetzt… in wenigen Sekunden … Schneller doch, schneller!

Jeder Nerv an ihm war zum Zerreißen gespannt Was dann geschah, hielt er zunächst für den Anfang vom Ende. Bis zu seinem Tode, einem natürlichen Tode auf der Erde, erinnerte sich dieser Mann, den so leicht nichts erschüttern konnte, nur mit Grauen an den schrecklichen Augenblick.

Plötzlich riß die Hängematte unter Melnikows Last, und er flog zu Boden. Wtoraw erging es genauso. Beide kollerten zur Wand.

War das der Aufprall auf die Atmosphäre der Venus?

Oder…

Gleich darauf entrang sich ein tiefer Seufzer der Erleichterung Melnikows Brust. Er hatte begriffen, was geschehen war.

Sie waren dem Leben wiedergegeben.

„Gerettet, Gennadi! Das Raumschiff wendet. Die Automatik hat selbsttätig gehandelt. Hörst du, Gennadi?“ Wtorow schwieg.

Das Raumschiff bog steil zur Seite ab. Die Schwerkraft stieg auf über das Doppelte an.

Gerettet? Eine Erkenntnis dämmerte Wtorow. Das bedeutete doch…

Er sah seinen Kameraden an. Ja, so war es.

„Ich danke Ihnen, Boris Nikolajewitsch! Bis an mein Lebensende werde ich Ihre Großmut nicht vergessen. Sie wollten, daß ich nichts ahnte.“

„Nehmen wir’s an“, erwiderte Melnikow. „Was hätte ich schon davon gehabt, wenn wir uns zu zweit gequält hätten?

Dein ruhiges Gesicht hat auch mir geholfen. Ich habe es nur meinetwegen getan.“

„Das ist nicht wahr.“

„Nehmen wir auch das an. Aber ist es nicht ganz egal? Irgendwann wirst du genauso handeln, und wir sind quitt. Mach doch die Wand wieder durchsichtig.“ Die überstandene Aufregung hinderte Wtorow, sich zu konzentrieren. Es verging eine ganze Weile, bevor es ihm gelang, die Bitte zu erfüllen.

Die Venus befand sich nach wie vor unter ihnen, aber nicht senkrecht, sondern etwas seitlich. Das Raumschiff war noch nicht ganz auf den neuen Kurs eingeschwenkt. Doch die Männer sahen, daß sie sich vom Planeten entfernten, und das war die Hauptsache.

„Wenn niemand am Pult sitzt“, sagte Melnikow, „steuert der Autopilot das Raumschiff. Da die Venus in gefährliche Nahe gerückt war, hat er selbständig abgedreht. Der Apparat ist sehr klug konstruiert.“

„Die Energievorräte an Bord scheinen hier unbegrenzt zu sein“, bemerkte Wtorow. „Ein so großes Schiff braucht für ein derartiges Manöver doch eine kolossale Energiemenge.“

„Zweifellos.“

„Was mag das für Energie sein?“

„Das werden wir schon noch rausbekommen.“ Sie schwiegen. Das Reden fiel ihnen schwer. Die lastende Schwere hatte noch nicht nachgelassen.

Zehn Minuten später aber wurde sie spürbar schwächer. Der neue Kurs war erreicht, Melnikow und Wtorow lagen nicht.

mehr auf der Wand, sondern auf dem Fußboden. Wenig später konnten sie auch wieder aufstehen.

Eine gute Stunde darauf war die Schwerkraft ganz geschwunden. Sie flogen erneut geradeaus, von der Venus fort.

„Wieder zur Sonne“, sagte Melnikow.

„Gehen wir ans Pult.“

„Es ist noch zu früh. Komm erst endgültig zu dir. Es wäre gut, wenn du dich etwas stärken könntest. Aber es ist ja nichts da.“ Er sagte das ganz mechanisch. Gleich darauf kam ihm zum Bewußtsein, daß er nach wie vor keinen Hunger verspürte. Er hatte das Gefühl, gerade erst gegessen zu haben, zwar nicht ausgiebig, aber doch genügend, um nicht von Hunger gequält zu werden.

Wie kam das? Was war die Ursache für diese merkwürdige Sinnestäuschung? Seit dem morgendlichen Frühstück an Bord der „SSSR-KS 3“ waren fast volle vierundzwanzig Stunden vergangen.

„Was meinst du, was steckt dahinter?“ fragte Melnikow.

„Es ist mir unbegreiflich, Boris Nikolajewitsch.“

„Auch die Luft hat ihre Frische und Reinheit bewahrt. Dabei befinden wir uns in einem verhältnismäßig kleinen Raum, hermetisch abgeschlossen von den Nebenräumen.“

„Also wird die Luft durch irgendwelche Apparate erneuert und gereinigt, die hier installiert sind“, sagte Wtorow. „Möglicherweise werden ihr Nährstoffe in gasförmigem Zustand beigefügt. Daran wäre nichts Ungewöhnliches. Stepan Arkadjewitsch hat einmal erklärt, unsere Ernährungsweise bei Raumflügen sei noch unvollkommen. Ein voller Magen wirke sich im Zustand der Schwerelosigkeit nachteilig aus. Wahrscheinlich haben sich die Phaetonen während ihrer Flüge anders ernährt.“

„Eine bessere Erklärung weiß ich auch nicht.“

„Eine großartige Wissenschaft! Und uns Menschen der Erde fällt sie als Erbe zu.“

„Aber erst einmal müssen wir das Raumschiff retten. Koste es, was es wolle. Das ist unsere Pflicht. Deine Pflicht“, fügte Melnikow lächelnd hinzu.

„Sie sind also endgültig der Meinung, daß nur ich…“

„Es sieht ganz so aus.“

„Ich werde tun, was in meinen Kräften steht. Bestimmt werde ich nicht mehr in Panik verfallen.“

„Von Panik konnte nicht die Rede…“ Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als ihn ein ohrenbetäubender Knall, wie wenn ein Kanonenschuß aus nächster Nähe abgefeuert worden wäre, unterbrach. Unmittelbar vor ihnen zuckte auf der unsichtbaren Wandung eine grelle Flamme auf und erlosch wieder — und gleichsam in der Luft hängend erschien als Brandmal ein dunkler Fleck.

„Ein Meteorit!“

„Aber er hat die Wandung nicht durchschlagen!“

„Er ist aufgeprallt und explodiert. Dieses Metall ist zehnmal fester als Stahl.“

„Ist es überhaupt ein Metall?“

„Du hast recht“, erwiderte Melnikow. „Als Metall kann man es wohl kaum bezeichnen. Aber wie dann? Vielleicht als Legierung? Jedenfalls schützt uns diese Wand zuverlässig vor Meteoriten. In der Nähe der Sonne haben sie eine große Geschwindigkeit.“

„Ich habe gerade vorhin darüber nachgedacht“, sagte Wtorow, „warum die Bäume auf der Venus das Raumschiff wohl nicht am Start gehindert haben. Oder vielmehr, warum sie seinen Rumpf nicht zerquetschten. Die zusammengewachsenen Stämme von zwei, drei Meter Umfang waren doch ein mächtiges Hindernis.“

„Mich wundert etwas anderes. Die Triebwerke des Raumschiffes sind stärker als die Bäume, das ist klar. Aber warum haben wir keinen einzigen Baum mitgerissen? Das ist erstaunlich.“

„Wahrscheinlich, weil sie sehr fest im Boden verwurzelt sind.“

„Ja, und das ist sehr wichtig für unsere Kenntnis von diesen Bäumen. Die zusammengewachsenen Stämme lassen sich leichter auseinanderreißen, als daß sich ein ganzer Baum aus dem Boden ziehen läßt.“

„Ich möchte schlafen“, sagte Wtorow plötzlich.

„Sehr gut“, antwortete Melnikow. „Das ist auch das beste.“ Merkwürdig, dachte er, Gennadi hat das im selben Moment gesagt, als auch ich das Bedürfnis zu schlafen verspürte. Ob die Wissenschaft der Phaetonen auch hierbei ihre Hand im Spiel hat?

In diesem Raumschiff, erbaut von Geschöpfen mit einem Verstand, viel weiter entwickelt als der des heutigen Menschen, war alles möglich. Sie befanden sich inmitten einer künftigen Technik, inmitten einer künftigen Wissenschaft und deren künftiger Anwendungsmethoden zum Nutzen des Menschen. Dies war die Welt des Phaeton und nicht die der Erde. Aber Mutmaßungen anzustellen hatte keinen Zweck. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als sich den Lebensgesetzen der Phaetonen zu unterwerfen.

Jetzt ist auch klar, wieso wir gleich nach der Katastrophe schlafen konnten. Unter gewöhnlichen Umständen wäre uns das kaum gelungen, sann Melnikow weiter.

Wtorow hatte indessen die Wände „verdunkelt“. Das Schlafbedürfnis war unüberwindlich geworden. Die Augen fielen ihnen von selbst zu. Kaum lagen sie in den Hängematten, schliefen sie auch schon.

Das Raumschiff der Phaetonen flog von der Venus fort auf die Sonne zu, aber seine „klugen“ Mechanismen behüteten es sorgsam vor Gefahr. Sie lenkten präziser und zuverlässiger als jeder Mensch. Die beiden Männer konnten ruhig schlafen, sie hatten nichts zu befürchten. Sobald ein Hindernis auftauchte, zum Beispiel ein großer Meteorit, wich das Raumschiff rechtzeitig aus. Es manövrierte genau, fehlerlos und behutsam, damit jene, die es beherbergte, nicht Schaden erlitten.

Ein Mensch kann müde werden, aus irgendwelchen Gründen die Klarheit des Denkens einbüßen und einen Fehler begehen.

Eine Maschine aber wird nicht müde, sie begeht keine Fehler.

Sie ist immer „aufmerksam“ und „begreift“ weit schneller als der Mensch.

Wie beim erstenmal schliefen sie volle acht Stunden und erwachten zur gleichen Zeit.

„Jetzt aber an die Arbeit“, sagte Melnikow.

Beide waren im Vollbesitz ihrer Kräfte. Ihre Körper schienen von unerschöpflicher Energie überzuquellen. Noch nie hatten sie sich so frisch gefühlt. Nach wie vor verspürten sie auch kein Zeichen von Hunger. Ja selbst Durst quälte sie nicht, obgleich sie doch schon lange nichts mehr getrunken hatten.

Womit mochten die Phaetonen ihre unfreiwilligen Gäste speisen und tränken?

„An die Arbeit!“ sagte auch Wtorow.

Die Stunden reihten sich aneinander und wurden unmerklich zu Tagen. Zwei Menschen, zwei ganz gewöhnliche Vertreter des Menschengeschlechts, lebten ein phantastisches Leben in einem phantastischen Raumschiff. Sie schliefen zu bestimmten Zeiten, unabhängig von ihrem Wunsch und Willen. Sie aßen und tranken nichts und verspürten doch weder Hunger noch Durst. Statt zu schwinden, nahmen ihre Kräfte beständig zu.

Das Raumschiff jagte zwischen Venus und Sonne hin und her.

Allmählich lernte Wtorow, es immer sicherer zu steuern, zwang er es, Geschwindigkeit und Richtung nach Wunsch zu ändern.

Immer seltener weigerte sich die Automatik, seinen gedanklichen Befehlen zu gehorchen. Der Mensch der Erde begann die phaetonische Technik zu meistern.

Die beiden Freunde trennten sich niemals; entweder hielten sie sich am Steuerpult oder im Raum daneben auf. In andere Abteilungen zu gehen und den restlichen Teil des Schiris zu untersuchen, konnte sich Melnikow nicht entschließen. Er wollte nichts riskieren. In der Nähe des Pultes waren sie sozusagen schon heimisch geworden. Wer wußte, was sie in den anderen Räumen erwartete. Der „Phaetone“ konnte dort mit allerhand unangenehmen Überraschungen aufwarten.

„Es wird Zeit, einen Entschluß zu fassen“, sagte Melnikow, nachdem mehrere Tage mit pausenlosen „Übungsmanövern“ vergangen waren. „Welche Richtung schlagen wir ein?“

„Sie wollten doch zur Venus zurückkehren?“

„Gewiß, aber jetzt halte ich das für unklug. Seinerzeit nahm ich noch an, uns drohe der Hunger. Zur Erde zu fliegen erschien unmöglich. Jetzt wissen wir, daß wir Hunger nicht zu befürchten brauchen. Ist es da nicht besser, die Erde anzusteuern?“ Bei diesen Worten überlegte Melnikow mit einer gewissen Sorge, wie sie den Flugweg berechnen sollten, da sie doch weder Rechenmaschinen noch sonstige Geräte zur Verfugung hatten.

Auch ein Teleskop für visuelle Beobachtungen besaßen sie nicht.

Optische Geräte oder etwas Ähnliches waren zwar bestimmt an Bord, doch wie sollten sie sie finden?

„Aber unsere Kameraden auf der Venus…“, begann Wtorow zögernd.

„Die haben uns längst abgeschrieben“, unterbrach ihn Melnikow. „Wir dürfen jetzt nur auf die Sicherheit des Raumschiffs bedacht sein. Das Schiff wiegt schwerer als Gefühle. Im leeren Weltraum Manöver auszuführen ist eines, aber etwas ganz anderes ist es, auf einem Planeten zu landen. Uns steht ein äußerst kompliziertes und gefährliches Manöver bevor. Wenn jedoch das Raumschiff bei der Landung auf der Erde beschädigt wird oder gar zerschellt, ist das nicht so tragisch, als wenn es auf der Venus zerschellt.“

„Wenn das so ist, fliegen wir zur Erde.“

„Du stellst dir das recht einfach vor! Aber wie finden wir die Erde? Wie halten wir den richtigen Kurs ein? Ohne Geräte und ohne Beobachtungsmöglichkeiten? Ich schwanke noch, weil ich mir nicht sicher bin. Wäre Konstantin Jewgenjewitsch an meiner Stelle…“

„Was tun wir also?“

„Wir fliegen unbedingt zur Erde“, sagte Melnikow völlig inkonsequent, aber ganz im Einklang mit dem Denkprozeß, der in seinem Innern vor sich gegangen war. Es wird schwer werden, dachte er, sehr schwer. Aber es ist notwendig. Wir müssen schier Unmögliches vollbringen, doch das Raumschiff der Phaetonen muß für die Wissenschaft gerettet werden. Koste es, was es wolle.

„Zur Erde fliegen“, wiederholte er. „Nur zur Erde.“

„Die sehen wir aber doch“, sagte Wtorow, „da können wir das Raumschiff doch auf den richtigen Kurs bringen.“

„Nur auf dem Meer ist es ganz einfach, mit einem Schiff die Küste anzusteuern, Gennadi. Die Küste läuft dir nicht davon, aber die Erde tut es, und zwar sehr schnell. Zwischen ihr und uns liegen fast fünfzig Millionen Kilometer. Mit neunzigprozentiger Sicherheit müssen wir gewärtigen, irgendwo in weitem Abstand an ihr vorbeizusausen.“

„Natürlich können wir“, fuhr er fort, als wolle er sich selbst von etwas überzeugen, „die Flugrichtung dann ändern und wieder vorbeisausen. Das läßt sich endlos wiederholen. Doch wer gibt uns die Gewähr, daß auch die Triebwerke endlos lange arbeiten? Und wer garantiert uns, daß wir unbegrenzte Zeit von der Luft satt werden? Indes, wir haben keine andere Wahl.

Also fliegen wir zur Erde!“ In diesem Augenblick dachte Melnikow nicht an ihr persönliches Schicksal. Eine intakte Landung des schweren Raumschiffs auf der Erde hielt er für unmöglich. Natürlich würde das Schiff zerschellen. Aber während seine Bruchstücke auf der Venus völlig nutzlos waren, konnte man sie auf der Erde auswerten.

Es ist unsere Pflicht, dachte er. Entweder wir erreichen wie durch ein Wunder die Heimat, oder wir verschwinden für immer im All. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

„Zur Erde!“

„Also fliegen wir zur Erde“, stimmte Wtorow zu. Er wurde nicht von Zweifeln geplagt. Sein Glaube an Melnikow war unerschütterlich: Boris Nikolajewitsch konnte alles. „Wenn wir uns der Erde nähern, wird man uns schon bemerken.“ Was hatte Wtorow da eben gesagt? Melnikow durchzuckte es wie ein elektrischer Schlag. „Sie werden uns bemerken.“ Natürlich werden sie uns bemerken! Sie haben es sicher schon längst getan. Mit Hilfe der mächtigen Teleskope in den Observatorien mußten die Astronomen den unbekannten Himmelskörper in der Nähe der Venus entdeckt haben. Und wenn Belopolski mit der „SSSR-KS 3“ aufgestiegen war und der Erde das Vorgefallene mitgeteilt hatte, wußte man dort auch bereits, was für ein Körper das war. Daß ich nicht von selbst darauf gekommen bin.

Das ändert die Situation von Grund auf.

„Es heißt nicht umsonst, vier Augen sehen mehr als zwei“, sagte Melnikow. „Ich habe mich geirrt, als ich unsere Aussichten gering nannte. Nein, sie sind gut, Gennadi! Du hast meine letzten Bedenken zerstreut. Auf zur Erde! Unseren Freunden entgegen! Ich bin ein Esel und nichts weiter.“

„Das müssen Sie mir erklären!“ sagte Wtorow verständnislos.

„Die Sache ist ganz einfach. Wir sind im All nicht verlassen.

Hunderte von Augen verfolgen uns. Sergej Alexandrowitsch Kamow ist über alles unterrichtet. Die Rettung des Raumschiffes Legt in seiner Hand. Du sagtest, man werde uns bemerken.

Nein, Gennadi, man hat uns schon bemerkt. Und ich zweifle nicht, daß auch die notwendigen Maßnahmen eingeleitet sind.

Fliegen wir zur Erde. Man wird uns Hilfe entgegenschicken.“ Wtorow begriff.

„Aber warum hat uns dann die ›KS 3‹ bis jetzt nicht eingeholt?“

„Weil die Genossen zwar gleich nach uns aufstiegen, dann aber unseren Untergang meldeten und auf die Venus zurückgekehrt sind. Die Verbindung mit der Heimat ist wieder unterbrochen. Doch die Observatorien auf der Erde haben die Suche aufgenommen und uns entdeckt. Aus den Manövern, die du ausführtest, müssen sie geschlossen haben, daß wir beide noch am Leben sind. Das übrige kann man sich an fünf Fingern abzählen. Sie schicken von der Erde ein Raumschiff, wenn sie es nicht schon getan haben. Fliegen wir ihm also entgegen.“ Der „Phaetone“ nahm Kurs auf die Erde.

Sie ahnten nicht, in welche Verzweiflung ihre Freunde an Bord der „SSSR-KS 3“ durch diese neue Kursänderung gestürzt wurden und wie nahe ihnen die Hilfe bereits gewesen war. Hätten sie ihre bisherige Flugrichtung noch einige Stunden beibehalten, wären sich beide Raumschiffe begegnet, und die Odyssee hätte ein Ende gefunden. So aber änderten sie leichten Herzens den Kurs und entfernten sich wieder von jenen, die sie herbeigesehnt hatten.

Zu diesem Zeitpunkt empfing Belopolski im Kommandoraum der „SSSR-KS 3“ einen Befehl Kamows: Die Erde hielt eine weitere Verfolgung für zwecklos. Sieben gefährliche Kurvenmanöver hatten der Besatzung übel mitgespielt. Kamow forderte sofortige Rückkehr „nach Hause“.

„Ich weiß“, schloß er seinen Funkspruch, „wie schwer es Ihnen fallen wird, diesem Befehl nachzukommen. Glauben Sie mir, auch uns wird es nicht leicht. Es ist aber notwendig. Wir dürfen nicht die ganze Besatzung aufs Spiel setzen. Der ›Phaetone‹ scheint auf die Erde zuzusteuern. Das hat er freilich schon wiederholt getan. Die Regierungskommission neigt jetzt zu der Ansicht, das Raumschiff sei führerlos. Es fliege hin und her unter der Einwirkung der Automatik, die im Laufe der Jahrtausende ihre Funktionstüchtigkeit eingebüßt hat und nur noch ungenau arbeitet. Wären Melnikow und Wtorow noch am Leben, müßten sie wissen, daß wir sie von der Erde aus unbedingt bemerkt haben, und auf unsere Hilfe warten, statt hin und her zu jagen und die Rettungsarbeit zu erschweren. Ich persönlich vertrete nach wie vor eine andere Meinung, aber die Mehrheit ist zu diesem Schluß gelangt. Nehmen Sie also Kurs auf die Erde, Konstantin Jewgenjewitsch. Ich gehe auf Empfang.“

„Ihr Befehl wird ausgeführt“, antwortete Belopolski kurz.

Endlich konnte sich die Besatzung der „SSSR-KS 3“ von den Strapazen erholen, wenn auch mit Schmerz und Verzweiflung im Herzen.

Währenddessen beendete Melnikow ruhig und guter Dinge die Berechnung des neuen Kurses für den „Phaetonen“. Sie fiel allerdings sehr ungenau aus, da er die exakten Daten nicht kannte.

Mit welcher Geschwindigkeit flog beispielsweise ihr Raumschiff? Er wußte es nicht. Alle Orientierungspunkte waren so weit entfernt, daß er sie nicht einmal annähernd mit dem Auge bestimmen konnte. Sie hatten den Eindruck, unbeweglich im All zu hängen, und die Erde flimmerte als ein ferner Punkt.

Immerhin waren sie jetzt überzeugt, daß ihnen von diesem Punkt aus ein anderes Raumschiff entgegenflog, dessen Kommandant über alles Bescheid wußte.

„Wir müssen geradeaus fliegen“, sagte Melnikow. „Genau auf die Erde zu. Wenn die eingeschlagene Richtung auch falsch ist, macht das nichts. Das Raumschiff von der Erde kann dann frei manövrieren, bis es mit uns zusammentrifft. Wir erleichtern ihnen ihre Aufgabe, wenn wir immer geradeaus fliegen.“

„Und die Geschwindigkeit?“ fragte Wtorow.

„Wir wollen hoffen, daß unsere Geschwindigkeit nicht allzugroß und auch für ein irdisches Raumschiff erreichbar ist.“

„Wann können wir mit ihnen zusammentreffen?“

„Das ist schwer zu sagen. Jedenfalls nicht früher als in acht bis neun Tagen.“

„So lange können wir durchhalten, selbst wenn uns die Phaetonen nicht mehr ernähren sollten.“ Wtorow starrte angestrengt durch die durchsichtige Wandung, als hoffe er über Dutzende von Millionen Kilometer hinweg das ersehnte Raumschiff zu erblicken, das ihnen Rettung brächte.

Nicht allzuweit von ihnen entfernt vollführte die „SSSR-KS 3“ gerade befehlsgemäß ihre letzte Wendung. Allerdings hätte Wtorow sie auch dann nicht ausmachen können, wenn er den starren Blick ein wenig nach rechts gerichtet hätte.

Auf der Erde aber wußte niemand, daß der „Phaetone“ seine Flugrichtung nicht mehr ändern würde!

Das Gesetz der Leere

Offenbar konnte man sich auf längere Zeit doch nicht von der „Luft“ ernähren. Melnikow und Wtorow verspürten zwar nach wie vor keinen Hunger, aber sie merkten, daß die gesteigerte Kraftfülle allmählich von einem Kräfteverfall abgelöst wurde.

Sie spürten ein unangenehmes Gefühl im Magen, das rasch zunahm und schließlich in Schmerzen überging. Ihre Energie verwandelte sich in Schlaffheit. Oft schliefen sie ganz plötzlich ein und erwachten nur mit Mühe wieder. Dieser Schlaf glich mehr einer krankhaften Bewußtlosigkeit als der normalen Ruhepause eines gesunden Menschen. Die Nahrung der Phaetonen wirkte nicht mehr.

„Vielleicht sind die Vorräte erschöpft“, vermutete Wtorow.

Das war möglich, aber es konnte auch etwas anderes sein.

Sie waren Menschen und keine Phaetonen. Ihr Magen wollte gefüllt sein, so hatte es die Natur nun einmal eingerichtet. Sie konnten nicht von gegenstandsloser Nahrung leben, wie gehaltvoll sie auch sein mochte. Es war überhaupt ein Wunder, daß die „Luft“ so viele Tage lang die Bedürfnisse ihres Organismus befriedigt hatte.

Auch Durst begann sie jetzt zu quälen. Er würde mit jeder Stunde zunehmen. Die Entfernung bis zur Erde aber war noch riesengroß. Sie wußten nicht einmal, mit welcher Geschwindigkeit sie flogen.

„Es steht schlecht um uns“, sagte Melnikow, „und um zur Venus zurückzukehren, ist es schon zu spät.“ Wtorow gab keine Antwort.

Die Wände der Abteilung waren geschlossen. Ringsum gab es sowieso nichts, was das Auge gefesselt hätte. Nur Sterne!

„Im leeren Raum zu hängen“ ermüdete unendlich.

Die beiden lagen regungslos in den Hängematten. Sie hatten keinen Gesprächsstoff mehr, verfielen zusehends in Apathie, in völlige Gleichgültigkeit allem gegenüber. Jedes Gefühl für die Zeit war verlorengegangen.

Nur einmal schreckte sie eine unerwartete Wendung des Raumschiffes aus ihrem Dämmerzustand. Die Wendung erfolgte gleitend und vorsichtig, aber für kurze Zeit trat Fliehkraft auf.

„Wahrscheinlich ist uns ein großer Meteorit entgegengekommen“, meinte Melnikow.

Schade, daß wir der Begegnung ausgewichen sind, dachte Wtorow. Unsere Qualen hätten wenigstens gleich ein Ende gehabt.

Und wieder herrschte Schweigen, verfielen sie in den seltsamen Zustand zwischen Schlafen und Wachen.

Selbst der Gedanke, daß sich durch die Wendung die Fluglichtung geändert haben könnte, kam ihnen nicht.

Der Zustand, in dem sie sich befanden, hätte zweifellos Melnikows Interesse erregt, wenn er noch eines klaren Gedankens fähig gewesen wäre. Der Hunger allein konnte ihr Gehirn unmöglich derart umnebelt haben. Doch auch Melnikow war alles gleichgültig.

Sie standen unter dem Einfluß einer unbegreiflichen und unerklärlichen Macht, die ihr Denken und Fühlen allmählich auslöschte. Langsam, aber sicher verfielen sie in einen Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr zu geben schien.

Mit einer gewaltigen Willensanstrengung befreite sich Melnikow plötzlich aus der Erstarrung und horchte.

Nein, es war keine Sinnestäuschung! Irgendwo klopfte hartnäckig etwas. Laut, leise und wieder lauter.

„Gennadi, hörst du?“ Wtorow öffnete die trüben Augen: „Alles verschwimmt.“

„Komm zu dir, Gennadi! Hör doch! Jetzt wieder.“ Nun klopfte es deutlich an einer anderen Stelle. Wie es schien, kam das Klopfen näher.

„Was ist das?“ Beide waren nun hellwach.

Das Klopfen horte auf. Dann ertonte es erneut und wieder an einer anderen Stelle.

Darin lag System. Die einzelnen Geräusche waren verschieden stark.

Lang, lang, kurz. Pause. Lang, kurz, kurz. Wieder eine Pause, lang. Eine längere Pause. Und wieder von vorn: Lang, lang, kurz…

„Das hört sich wie Morsezeichen an“, sagte Melnikow.

Wtorow schoß ein Gedanke durch den Kopf, der ihn förmlich elektrisierte.

„Vielleicht ist es das Raumschiff der Erde“, sagte er unsicher.

Und Melnikow blickte sich suchend um. Aber er fand nichts, womit er gegen die Wandung hätte klopfen können. Und wozu auch klopfen? Wenn das ein Mensch war, so befand er sich im luftleeren Raum, und dort gab es keine Schallübertragung.

„Die Wände!“ befahl er abgehackt.

Wtorow versuchte sich zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Zu verschlafen war er. Geradezu quälend wünschte er, sein Kopf möge wenigstens für einen Augenblick klar sein.

Und wieder offenbarte sich deutlich der ungeheure Vorsprung, den die Wissenschaft des Phaeton vor der irdischen besaß. Das ging schon über die Grenzen vorstellbarer Technik hinaus. Reiner Sauerstoff strömte plötzlich in ihre Lungen. Ein unbekannter Geruch, der entfernt an Salmiakgeist erinnerte, machte sich kurz bemerkbar. Und wie durch Zauberei wurden ihre Gedanken wieder klar. Keine Spur mehr des Zustandes halber Bewußtlosigkeit. Sie fühlten sich wie neugeboren.

Wtorow sah Melnikow fassungslos an. Er war frappiert. Sein Wunsch, den er so quälend geäußert hatte, war sofort und präzise in Erfüllung gegangen.

„Die Wände“, wiederholte Melnikow.

Wie Wtorow fühlte auch er sich plötzlich neu belebt, achtete jedoch nicht darauf. Er wurde von Ungeduld verzehrt. Er wollte sehen! So schnell wie möglich sehen, was draußen vorging!

Das Klopfen hatte wieder aufgehört.

Plötzlich aber ertönte es ganz nahe. Lang, kurz, lang.

Jemand schlug mit einem metallenen Gegenstand gegen die Wandung des Raumes, in dem sie sich befanden.

Lang, kurz, lang. Die Schläge waren deutlich und abgehackt.

Sie wiederholten sich stets in derselben Reihenfolge.

Jetzt bestand kein Zweifel mehr! Dort, ganz nahe, hinter der Wand, war ein Mensch!

„Die Wände, Gennadij“ Wtorow schien nicht zu hören. Er lauschte gespannt, und seine blaß gewordenen Lippen flüsterten: „Wo — seid — ihr. Wo — seid — ihr. Wo — seid — ihr. Das sind Morsezeichen. ›Wo seid ihr?‹ heißt das.“ Melnikow schlug mit der Faust gegen die Wand. Sofort hörte das Klopfen auf. Dann ertönte es wieder, fieberhaft schnell.

„Seid ihr noch am Leben?“ übersetzte Wtorow. „Antwortet!“

„Die Wände, Gennadi!“ wiederholte Melnikow flehentlich zum viertenmal.

Gleich darauf verschwand die gelbgraue Wand. Vor ihren Augen tat sich wieder die unendliche Sternenwelt auf, und einen Meter vor sich erblickten sie, hell angestrahlt, einen Menschen im Raumanzug. Unter dem durchsichtigen Helm erkannten sie Knjasews Gesicht.

„Sascha!“ Wtorow stürzte vorwärts, als wollte er den Freund umarmen.

„Er sieht uns nicht“, sagte Melnikow. „Du vergißt, daß die Wände des Raumschiffs nur einseitig durchsichtig sind.“ Tatsächlich zeigte das Gesicht des jungen Mechanikers keine Spur von Freude. Er schien sie zwar anzusehen, klopfte aber immer wieder dieselbe Frage: „Seid ihr am Leben? Antwortet!“ Nicht ein eigens ihretwegen von der Erde ausgeschicktes Raumschiff, sondern die „SSSR-KS 3“ hatte ihnen also Hilfe gebracht. Wie war das möglich?

Melnikow und Wtorow wandten den Kopf fast gleichzeitig in jene Richtung, aus der das grelle Scheinwerferlicht herüberstrahlte.

Ganz nahe, gleichsam eng an den äußersten Ring des „Phaetonen“ gepreßt, erblickten sie den riesenhaften Rumpf der „SSSR-KS 3“ als dunklen, die Sterne verdeckenden Schatten.

Hinter den Fenstern des erleuchteten Observatoriums erkannte man die Gesichter mehrerer Männer, die Knjasew augenscheinlich beobachteten.

Die ungestüme Aufregung, die sich der beiden Gefangenen der Phaetonen bemächtigt hatte, wich ruhiger Freude — jetzt hatten alle Qualen ein Ende.

Das Raumschiff der Phaetonen ist gerettet, dachte Melnikow.

„Antworte!“ befahl er Wtorow mit gewohntem Gleichmut.

„Antworte, sonst wechselt er zu einer anderen Stelle.“ Antworten! Knjasew war ganz nahe. Zwischen ihm und der Wandung des Raumschiffs lagen nur wenige Zentimeter, aber das waren Zentimeter luftleeren Raums. Selbst wenn man mit Kanonen schösse, würde er nichts hören.

Melnikow schien Wtorows Gedanken zu erraten.

„Siehst du denn nicht, daß Sascha die Hand an der Wand hat?“ sagte er. „Er wird die Geräusche spüren. Das genügt vollauf.“

„Womit soll ich denn klopfen?“ Melnikow holte seine Pistole hervor.

„Hiermit.“ Wtorow kannte die Morsezeichen recht gut.

„Wir leben“, klopfte er. Schon beim ersten Schlag sahen sie Knjasew zusammenzucken — er „hörte“. „Wir leben und sind gesund. Wir sehen dich. Habt Dank, liebe Freunde.“ Knjasew wandte den Kopf ein wenig. Seine Lippen bewegten ’| sich, er sprach mit der „SSSR-KS 3“.

„Kann man zu euch reinkommen?“ Die schnelle Folge der Klopfzeichen verriet die Aufregung des jungen Kosmonauten.

Melnikow überlegte.

Die Tür der zentralen Kugel ließ sich von außen öffnen.

Natürlich würde dabei alle Luft aus ihr entweichen. Ob sie sich erneuerte, wenn der Eingang wieder geschlossen war? Auf jeden Fall jedoch würde sich die Kugel mit Luft aus dem Innern des Raumschiffs füllen, sobald man die Tür zur radialen Röhre öffnete. Es schien also keine Gefahr zu bestehen.

Er selbst morste: „Ja.“

„Paitschadse und Andrejew kommen gerade“, erfolgte rasch die Antwort. „Habt noch ein wenig Geduld. Andrejew bringt Wasser mit.“ Wasser!

Ganz plötzlich verspürten sie heftigen Durst. Ihre Kehlen schienen wie ausgedörrt, und die wenigen Minuten, die sie warten mußten, dünkten ihnen unerträglich lang.

Weshalb hatten sie bisher den Durst nicht so quälend empfunden?

Wasser! Welch herrliches Getränk!

Sie sahen, wie durch die rechteckige Tür der Luftschleuse trübes Licht aus dem dunklen Leib der „SSSR-KS 3“ fiel. Zwei Gestalten kamen heraus und näherten sich rasch im Licht des Scheinwerfers. Ein grünlicher Gasstrahl bezeichnete ihren Weg.

Im luftleeren Raum pflegten sich die Kosmonauten mit Hilfe des Ruckstoßes von Gaspistolen vorwärts zu bewegen.

Wtorow sah das phantastische Schauspiel zum erstenmal in seinem Leben. Die beiden Raumschiffe rasten nach wie vor mit kaum vorstellbarer Geschwindigkeit dahin. Zwischen ihnen aber bewegten sich frei und ungesichert, ohne zurückzubleiben, drei Menschen in großen, unförmigen Raumanzügen.

Wtorow kannte natürlich das eiserne Gesetz der Trägheit. Er hätte jedem erschöpfend darüber Auskunft geben können, wie es sich auswirkt und weshalb Menschen, die sich von ihrem Raumschiff gelöst haben, dennoch mit ihm weiterfliegen.

Aber es ist ein großer Unterschied, ob man etwas weiß oder ob man mit eigenen Augen sieht, wie sich ein wohlbekanntes physikalisches Prinzip in der Realität auswirkt. Kann man das Gesetz der Trägheit doch auf der Erde nie in so reiner Form beobachten.

So verfolgte der junge Ingenieur denn mit angehaltenem Atem die Bewegungen seiner Kameraden. Nicht daß er befürchtete, sie könnten plötzlich zurückbleiben und im All verschwinden.

Er wußte, daß das im absolut luftleeren Raum unmöglich war.

Dennoch hatte er ein wenig Angst. Es war eben sehr schwer, sich von den gewohnten Vorstellungen zu lösen.

Melnikow und Wtorow begaben sich zur inneren Wandung des Ringes. Von hier aus war das Zentrum des Phaetonenraumschiffs gut sichtbar. Die „SSSR-KS 3“ leuchtete mit ihren grellen Scheinwerfern den Kosmonauten Paitschadse, Andrejew und Knjasew, die sich an der Kugel eingefunden hatten. Sie sahen aus wie Falter, die um eine brennende Lampe herumflattern.

„Gehen wir ihnen entgegen“, schlug Wtorow vor.

„Ja, natürlich“, erwiderte Melnikow. „Ohne deine Hilfe bekommen sie ja die Tür zur radialen Röhre nicht auf. Ich nehme an, daß sich die Luft in der Röhre beim Öffnen nicht allzusehr verdünnt, weil ihr Rauminhalt bedeutend größer ist als der des Zentrums.“

„Aber vielleicht öffnet sich die Tür überhaupt nicht, sobald das Zentrum luftleer ist.“

„Das glaube ich nicht. Die Phaetonen müssen ein Verlassen des Schiffs im luftleeren Raum vorgesehen haben. Die zentrale Kugel spielt hier wahrscheinlich die Rolle unserer Luftschleuse.

Ich nehme an, daß sie sich nach Schließung der Außentür sofort wieder mit Luft füllt.“

„Gehen wir.“ Zum erstenmal seit dem Start entfernten sich Wtorow und Melnikow vom Steuerraum. Die Kameraden waren in der Nähe, jetzt brauchten sie nichts mehr zu befürchten.

Gehorsam und präzise öffneten sich auf Wtorows nun schon erfahrenen und sicheren Befehl die Türen. Die Wandung der ladialen Röhre wurde durchsichtig, sobald sie sie betraten.

Vor der letzten Zwischenwand machten die Freunde halt. Dahinter lag nun das Zentrum. Es ohne Raumanzug zu betreten, hätte Selbstmord bedeutet. Bei geöffneter Außentür herrschte in der Kugel Luftleere, und ein ungeschützter menschlicher Körper mußte kraft seines inneren Druckes sogleich explodieren.

Durch die Außenwand sahen sie die drei Kameraden, die ihnen zu Hilfe kamen, ganz nahe vor sich. Knjasew legte gerade die Hände auf die Quadrate. Das Fünfeck in der Mitte war anscheinend schon in die richtige Stellung gebracht worden.

„Sie werden die Tür nicht aufkriegen“, sagte Wtorow.

„Warum nicht?“ Melnikow verstand ihn nicht sofort.

„Weil sich die Quadrate nur sehr schwer reindrücken lassen.“

„Stimmt, Gennadi! Das haben sie nicht vorausgesehen.“ Auch die drei Kosmonauten draußen hatten offenbar gemerkt, daß sie die Quadrate auf diese Weise nicht hineindrücken konnten. Man sah sie lebhaft miteinander, vielleicht auch mit der „SSSR-KS 3“ beratschlagen. Die Aufgabe schien tatsächlich unlösbar zu sein.

Im Weltraum ist der Mensch bei gleichmäßiger und geradliniger Vorwärtsbewegung gewichtlos. Die Muskelkraft seiner Arme ist zwar geblieben, aber wie kann er sie anwenden, wenn nichts da ist, um sich dagegenzustemmen, wenn er keinen festen Stützpunkt hat? Die glatten Wände der zentralen Kugel wiesen außer den Quadraten keinen einzigen Vorsprung auf. Dabei mußten gerade die Quadrate kräftig hineingedrückt werden.

„Vielleicht läßt sich die Außentür auch durch gedanklichen Befehl von innen öffnen?“ meinte Wtorow.

„Kaum! Aber probier’s!“

Wie zu erwarten, mißlang der Versuch. So diszipliniert auch das Denken der Phaetonen gewesen sein mochte, sie hatten es unmöglich darauf ankommen lassen können, daß der unwillkürliche Gedanke eines einzelnen das Leben der ganzen Mannschaft in Gefahr brachte. Die Außentür ließ sich nur mechanisch öffnen. Sollte das von innen erfolgen, mußte man sich in die Kugel selbst begeben; das aber konnten Melnikow und Wtorow nicht, da sie keine Raumanzüge trugen.

„Eine dumme Geschichte!“ sagte Melnikow.

Wtorow klopfte an die Wandung, aber die drei Kameradan draußen bemerkten es nicht, da keiner von ihnen die Hand direkt am Raumschiff hatte.

„Was werden sie machen?“

„Ich weiß es nicht. Aber irgend etwas wird ihnen bestimmt einfallen. Sie gehören nicht zu denen, die vor Schwierigkeiten kapitulieren.“

Die drei Kosmonauten schienen sich noch immer zu beraten.

Paitschadse sagte offenbar gerade etwas zu Belopolski, denn er hatte den Kopf der „SSSR-KS 3“ zugewandt. Er vernahm die Antwort und nickte.

„Gut!“ Melnikow und Wtorow errieten das Wort aus seiner Mundbewegung.

Eine Pause trat ein. Die drei draußen und die beiden drinnen schwiegen.

So vergingen etwa zwanzig Minuten.

Dann flog, eine grüne Spur hinter sich lassend, eine vierte Gestalt zum Zentrum. Melnikow und Wtorow erkannten Romanow. Er hatte eine Rolle dünner Stahltrosse in der Hand.

„Na klar!“ sagte Melnikow. „Das Einfachste und Selbstverständlichste!“ Wie sich hinterher herausstellte, waren alle Kosmonauten soqleich auf diesen Ausweg verfallen, mit Ausnahme von Melnikow und Wtorow.

Die Trosse wurde um die radiale Röhre geworfen, besser gesagt, das eine Ende wurde um die Röhre herumgelegt. Das deiche geschah mit dem anderen Ende jenseits der zentralen Kugel. Die Karabinerhaken schnappten ein, und fertig war die Doppelschlaufe — ein ausgezeichneter Stützpunkt.

Knjasew stemmte sich mit den Füßen gegen die Wandung und mit dem Rücken gegen die Trosse. So konnte er mit aller Kraft auf die Quadrate drücken.

Menschlicher Geist hatte über ein Gesetz des leeren Raumes gesiegt.

Die fünfeckige Tür wurde trübe, „schmolz“ und verschwand.

Ihr hartes Metall wandelte sich zu Leere. Leere aber mußte unvermeidlich auch im Innern der facettierten Kugel, dem Raumschiffzentrum, entstehen.

Mußte — doch war das wirklich der Fall?

Was nach dem Öffnen der Tür geschah, ließ die Kosmonauten cti dieser scheinbar unanfechtbaren Wahrheit zweifeln.

Melnikow und Wtorow sahen, wie Paitschadse sich von der Trosse abstieß und, in der offenkundigen Absicht, hineinzugelangen, auf die Öffnung zuflog. Gleich darauf aber schnellte er, als ob er auf ein unsichtbares elastisches Hindernis getroffen sei, heftig zurück.

Knjasew erging es nicht anders.

Der Eingang zum „Phaetonen“ schien offen. Das Licht der Scheinwerfer an den Helmen drang ungehindert durch die Öffnung. Man sah die steinerne Schale und die spitzwinkligen Facetten an den Wänden. Aber etwas Unbegreifliches, Unsichtbares hinderte die Männer, ins Innere zu gelangen.

Was war das? Auf der Venus hatte es doch kein Hindernis gegeben.

Die Antwort drängte sich von selbst auf. Diesmal waren, wie sich dann herausstellte, alle gleichzeitig darauf gekommen.

„Liebe, kluge Phaetonen“, hatte Wtorow einmal gesagt. Wirklich, sie waren sehr klug gewesen. Die Wissenschaft der untergegangenen Welt hatte auf einem unvergleichlich hohen Niveau gestanden und ihre Technik die schwierigsten Aufgaben mit Leichtigkeit gelöst.

So verhielt es sich auch mit dem Schutz des Raumschiffs vor der Luftleere. Weder Ausgangsschleusen mit doppelten Türen noch Filterkammern hatten die Phaetonen benötigt. Selbst bei geöffneter Tür konnte man sich ohne Raumanzug in der zentralen Kugel aufhalten. Die Luft des Raumschiffs entwich nicht.

Auch nicht im luftleeren All.

Paitschadse und Knjasew versuchten es erneut; Knjasew stemmte sich mit den Füßen gegen die Trosse, mit den Händen hielt er sich an der Türschwelle fest. Über diese lebende Brücke näherte sich Paitschadse der fünfeckigen Öffnung. Mit sichtlicher Anstrengung überwand er die „Leere“ und befand sich nun im Innern. Ihm folgte auf die gleiche Weise Andrejew.

Romanow und Knjasew blieben draußen. Offenbar auf Befehl Belopolskis, der nicht allzuviel Männer gleichzeitig in Gefahr bringen wollte.

Die fünfeckige Öffnung überzog sich wieder mit Metall und verschwand.

Es gab keinen Zweifel: An Stelle der Tür hatte sich ein dichter Vorhang aus einer Substanz gebildet, die unsichtbar war wie die Luft, gleichzeitig aber auch undurchdringbar für die Luft. Durch diesen Vorhang schützten die Phaetonen ihr Raumschiff vor dem Vakuum. Ein Mensch konnte, wenn auch mit Mühe, durch den Vorhang dringen, die Luft konnte es nicht.

Das war einfach und bequem.

Was füllte die scheinbare Leere der Öffnung? Wie alle Rätsel der Phaetonen würde auch diese Frage sich erst auf der Erde beantworten lassen, und auch dann noch nicht mit Sicherheit.

Der Unterschied zwischen der Wissenschaft der Erde und der des Phaeton war zu groß. Der Rückstand zur viel älteren Welt der Phaetonen ließ sich nicht mit einem Male aufholen.

Wtorow öffnete die Tür von der radialen Röhre zum Zentrum.

Er und Melnikow erstickten fast in den buchstäblich eisernen Umarmungen der Genossen.

Ohne ein Wort zu sagen, nahmen die „Hausherren“ ihren Gästen die durchsichtigen Helme ab.

„Keine Angst!“ beruhigte sie Melnikow. „Wir Menschen können die Luft hier unbedenklich atmen.“

„Das sehe ich selbst“, entgegnete Andrejew, die „Phaetonen“ erstaunt betrachtend. „Ich sehe es — und begreife nichts. Wir erwarteten, euch hier halb verhungert vorzufinden. Aber wenn man euch so sieht, kann man das nicht gerade behaupten.“

„Aber wir sind halb verdurstet. Gib uns Wasser.“

„Bitte sehr!“ Andrejew öffnete einen Metallbehälter, den er über der Schulter hängen hatte und der alles enthielt, was für die Erste Hilfe benötigt wurde. Eine große Flasche kam zum Vorschein.

„Trinkt, soviel ihr mögt. Aber ich muß sagen, man sieht euch zehn Tage Durst nicht an.“

„Das ist auch nicht gut möglich.“ Wahrend Wtorow seinen Durst stillte, berichtete Melnikow kurz, wovon sie sich während der ganzen Zeit „ernährt“ hatten.

„Erklären kann ich dieses ›Wunder‹ nicht“, schloß er.

„Ja, das ist wirklich toll.“ Paitschadse lächelte.

„Verdammt“, sagte Wtorow, „ich habe gar nicht gemerkt, wie ich das ganze Wasser ausgetrunken habe.“ Er machte ein todunglückliches Gesicht.

„Schadet nichts“, meinte Andrejew. „Ich sagte ja: Trinkt, soviel ihr mögt.“ Er holte eine zweite Flasche hervor und reichte sie Melnikow. Der setzte sie gierig an die Lippen und leerte sie ebenfalls in einem Zuge.

„Wollt ihr noch mehr?“

„Nein, danke. Aber es wäre schön, wenn wir auch was zu essen bekämen.“

„Zu essen kriegt ihr aber nicht soviel, wie ihr wollt.“ Andrejew reichte ihnen zwei dünne Scheiben Schinken. „Das muß erst mal genügen. Und nun einer nach dem andern rüber zum Raumschiff. In die Krankenstation.“

„Daraus wird nichts!“ sagte Melnikow. „Hier sind wir, und hier bleiben wir bis zur Ankunft auf der Erde. Außer Wtorow kann keiner dieses Schiff steuern. Ihr gebt uns Lebensmittel und Navigationsgeräte…“

„Red keinen Unsinn“, mischte sich Paitschadse ein. „Konstantin Jewgenjewitsch hat befohlen, euch rüberzuschaffen. Soll dies Schiff doch zum Teufel gehen!“

„Nimm’s mir nicht übel, Arsen“, Melnikow wurde ernst, „aber wenn hier jemand Unsinn redet, dann bist du’s. Dieses Raumschiff ist wertvoller als alles, was wir auf der Venus gefunden haben, eine unschätzbare Kostbarkeit, die uns nicht verlorengehen darf. Wir müssen es zur Erde bringen, um jeden Preis.“

„Geh rüber und sprich mit Belopolski. Er kann es sowieso kaum noch erwarten, dich zu sehen.“

„Ziehen Sie meinen Raumanzug an“, sagte Andrejew. „Wir bleiben solange hier.“ Der Arzt hatte die gleiche Größe wie Melnikow. Für Wtorow gab es keinen passenden Anzug.

Der Verzicht

Melnikow befand sich nicht zum erstenmal im luftleeren Raum.

Das Gefühl des freien Fluges außerhalb eines Raumschiffes war ihm wohlvertraut. Aber diese Rückkehr an Bord der „SSSR-KS3“ nach allem, was er erlebt hatte, versetzte ihn in tiefe Erregung, zumal er kaum noch gehofft hatte, sie wiederzusehen. Zu ungewöhnlich war, was im Augenblick geschah.

Romanow begleitete ihn. Knjasew blieb allein am Eingang des „Phaetonen“ zurück.

Melnikows Hand zitterte, während er auf den vertrauten „irdischen“ Knopf drückte. Ein Seufzer der Erleichterung entrang sich seiner Brust, als ihn und Romanow die Wände der Luftschleuse umgaben. Gleich würde er die teuren Gesichter seiner Kameraden erblicken!

Wie langsam sich die Schleuse doch mit Luft füllte!

Soeben, als er sich der „SSSR-KS 3“ näherte, war ihm aufgefallen, daß sie unmittelbar am äußersten Ring des „Phaetonen“ lag und sogar mit einer Trosse daran festgezurrt war. Wie schade, daß Wtorow und er dieses Manöver nicht gesehen hatten. In ihrem dämmrigen Halbschlaf war ihnen völlig entgangen, was draußen passierte. Schade, wirklich sehr schade! Es wäre nützlich und lehrreich gewesen, die unerhört schwierige und komplizierte kosmonautische Aktion zu beobachten.

Das ist wahre Meisterschaft! dachte Melnikow. Belopolski kann ich noch lange nicht das Wasser reichen.

Nicht daß er den Kommandanten der „SSSR-KS 3“ beneidete, er bewunderte ihn, fast ebensosehr wie Kamow. Das waren Kerle! Von denen konnte man etwas lernen!

Das grüne Lämpchen flammte auf, und die Innentür öffnete sich.

„Endlich wieder daheim!“ Lediglich Korzewski empfing sie. Wie Melnikow sich denken konnte, war niemand sonst abkömmlich. Belopolski stand natürlich am Steuerpult, Saizew ebenfalls, und Toporkow saß in der Funkstation. An Bord waren ja nur noch vier Mann.

Der Biologe zeigte bei Melnikows Anblick keinerlei Erstaunen. Nur eine kaum wahrnehmbare Blässe verriet seine innere Erregung. Er half ihm beim Ausziehen des Raumanzugs.

„Sie leben!“ sagte er, nachdem er Melnikow umarmt hatte.

„Ich hoffe, alle beide? Sehr schön!“

„Ist Konstantin Jewgenjewitsch am Steuerpult?“

„Ja, schon seit zehn Stunden. Vor drei Stunden haben wir Sie eingeholt. Das Annäherungsmanover war sehr schwer.“

„Das kann ich mir vorstellen!“ sagte Melnikow.

Er befand sich in einem für ihn ungewöhnlichen Zustand der Verwirrung und bemerkte nicht einmal, daß er sich statt von der Wand von Korzewski abstieß. Der Biologe flog bis zur Tür der Luftschleuse, aber auch das bemerkte Melnikow nicht. Er hatte es eilig, zu Belopolski zu gelangen.

Da war auch schon die runde Tür zum Steuerraum. Er hatte sich nicht träumen lassen, so bald wieder hierherzukommen!

Über der Tür brannte das grüne Lämpchen — er konnte ein treten.

Kaum war er über die Schwelle geschwebt, wurde er auch schon kräftig umarmt. Belopolski hatte offensichtlich schon an der Tür auf ihn gewartet.

Aber war das überhaupt Belopolski? Was war geschehen?

Weshalb war das Gesicht des Lehrers und Freundes so eingefallen? Warum wies es so viele neue Falten auf? Steuerte er das Raumschiff etwa als kranker Mann? Und auch die Tränen in seinem strengen Gesicht waren ein merkwürdiger und ungewohnter Anblick.

„Was haben Sie, Konstantin Jewgenjewitsch?“

„Boris, verzeih mir!“ sagte Belopolski. „Verzeih mir alle Qualen, die ich dir und Gennadi zugefügt habe.“

„Ich verstehe Sie nicht, Konstantin Jewgenjewitsch. Wieso verzeihen? Im Gegenteil, ich muß Ihnen dankbar sein. Sie sind uns gerade in dem Moment zu Hilfe gekommen, als wir sie am nötigsten hatten.“ Mit gewohnter Willensanstrengung beruhigte sich Belopolski wieder.

„Wenn du erst alles erfahren hast, wirst du verstehen“, sagte er. „Aber erzähl! Wo ist Wtorow?“

„Er ist drüben geblieben. Paitschadses Raumanzug paßt ihm nicht. Aber ich hätte sowieso nicht erlaubt, daß er das Raumschiff verläßt.“

„Ja, richtig. Ich vergaß ganz, daß Wtorow ja viel größer als Paitschadse ist.“ Seinen Ohren nicht trauend, sah Melnikow Saizew fragend an. Der stand am Steuerpult und wartete darauf, den geretteten Freund ebenfalls in die Arme zu schließen.

Wie konnte Konstantin Jewgenjewitsch so etwas vergessen?!

Was mögen sie bloß erlebt haben, dachte Melnikow beunruhigt.

Saizew legte den Finger an die Lippen.

„Darf ich jetzt Konstantin Wassiljewitsch begrüßen?“

„Ja natürlich. Entschuldige!“ Belopolski war einfach nicht wiederzuerkennen.

Am liebsten hätte Melnikow Saizew gefragt, was passiert sei, aber er wußte genau, daß Belopolski ein sehr feines Gehör hatte. Selbst Flüstern hätte nichts genutzt. Das warnende Zeichen des Ingenieurs war deutlich genug.

„Sie sehen überhaupt nicht mitgenommen aus“, bemerkte Saizew. „Das ist erstaunlich.“

„Ich erzähle Ihnen gleich alles. Haben wir Zeit dazu, Konstantin Jewgenjewitsch?“

„Reichlich. Aber wie geht es Wtorow?“

„Er ist ebenso wie ich in ausgezeichneter Verfassung. Er zeigt inzwischen Paitschadse und Andrejew unseren ›Phaetonen‹. Das kann sowieso nur er.“ Belopolski schien die Worte, die ihn doch eigentlich verwundern mußten, nicht zu beachten. Mit zusammengezogenen Brauen starrte er angespannt auf den Bildschirm, auf dem sich deutlich das Zentrum des Phaetonenraumschiffs und daneben die winzige Gestalt Knjasews abzeichneten.

„Euer Schiff manövriert selbständig?“

„Nur wenn eine Begegnung mit einem großen Körper droht.

Zum Beispiel mit Meteoriten.“

„Eben das befürchte ich“, sagte Belopolski. „Konstantin Wassiljewitsch“, wandte er sich an Saizew, „setzen Sie sich mit dem Funkraum in “Verbindung. Wir müssen Knjasew einschärfen, daß er die Trosse nicht losläßt. Er soll sie kräftig festhalten.

Eine plötzliche Wendung ist jederzeit möglich.“

„Ist es nicht besser, Sascha zurückkommen zu lassen? Am ›Phaetonen‹ wird er nicht gebraucht“, sagte Melnikow.

„Wirklich nicht? Du mußt es ja wissen. Dann soll er zurückkommen.“ Saizew schaltete den Innenbildschirm ein, auf dem sich sofort Toporkows Gesicht zeigte. Er begrüßte Melnikow mit einem Lächeln. Saizew übermittelte Belopolskis Anweisung.

Romanow und Korzewski kamen in den Steuerraum.

Mit banger Unruhe beobachteten die fünf Männer Knjasew, der sich nur im Schneckentempo zu nähern schien.

Wenn nun gerade in diesem Augenblick ein großer Meteorit auf die beiden Raumschiffe zuraste und der „Phaetone“ ein Ausweichmanöver vollführte? Die „SSSR-KS 3“ —würde die Bewegung mitmachen, aber ein einzelner, von den Raumschiffen losgelöst dahinfliegender Mensch müßte zurückbleiben. Genauer gesagt, er würde seinen Weg in der alten Richtung fortsetzen und im Nu in den Weiten des Alls verschwunden sein. Ihn wiederzufinden wäre völlig hoffnungslos.

Während sie den Kameraden beobachteten, dachte Melnikow daran, daß der „frühere“ Belopolski diese Möglichkeit von vornherein einkalkuliert hätte. Wie hatten Paitschadse, Andrejew, Romanow und Knjasew zum „Phaetonen“ hinüberfliegen können, ohne wenigstens durch eine Leine mit der „SSSR-KS 3“ verbunden zu bleiben? Gewiß, es war ihnen nicht bekannt gewesen, daß der „Phaetone“ selbständig manövrierte, aber trotzdem …

Plötzlich fiel Melnikow ein, daß er ja genauso gehandelt hatte.

Dabei wußte er alles, wußte es aus eigener Erfahrung. Er wurde rot vor Scham. Anderen vorzuwerfen, was man selbst nicht besser gemacht hatte! Wie gut, daß er stumm geblieben war.

„Die beiden Raumschiffe fliegen mit einer Geschwindigkeit von zweiunddreißig Kilometern in der Sekunde. Genauer gesagt: zweiunddreißig Komma vier eins.“ Das war der alte Belopolski! Knapp und präzise.

Was mochte nur mit ihm sein?

Und zum erstenmal kam Melnikow der Gedanke: Ob es unseretwegen ist? Ob unser vermeintlicher Tod das alles bewirkte?

„Bei Richtungsänderung wird ein frei schwebender Mensch mit großer Gewalt weggeschleudert. Mit einer einfachen Leine ist es da nicht getan. Leider kannten wir vorher nicht die Besonderheiten des ›Phaetonen‹. Wir waren also sehr leichtsinnig.“

„Das Radargerät zeigt voraus nichts Gefährliches“, sagte Saizew beruhigend.

„Die Gefahr kann urplötzlich auftauchen. Wer weiß, auf welche Entfernung die Automaten des ›Phaetonen‹ reagieren.“ Aber da war Knjasew auch schon vor der Luftschleuse. Einen Augenblick später zeigte ein grünes Lämpchen am Steuerpult an, daß sich die Außentür hinter ihm geschlossen hatte.

„Jetzt erzähl, und zwar so ausführlich wie möglich“, sagte Belopolski mit seiner gewohnten Ruhe.

„Warten wir noch auf Knjasew.“

„Gut, dann erzählen wir als erste.“

„Warum habt ihr euch denn nochmals zur Verfolgungsjagd auf uns entschlossen?“ fragte Melnikow, nachdem Saizew kurz, aber eingehend von allen Vorfällen seit dem plötzlichen Start auf der Venus berichtet hatte.

Der Ingenieur hatte den Zustand Belopolskis mit keinem Wort erwähnt, aber Melnikow erriet vieles schon selber. Zu offensichtlich waren die Widersprüche in der Erzählung. Es kam so heraus, als ob die „SSSR-KS 3“, nachdem sie von der Erde alles über den „Phaetonen“ erfahren hatte, nicht sofort kehrtgemacht habe, sondern erst nach zwei Tagen. Das konnte nicht sein. Es gab keine Gründe, die eine derartige Verzögerung unter solchen Umständen gerechtfertigt hätten.

Die Absonderlichkeiten, die er an Belopolski bemerkt hatte, bestätigten nur Melnikows Vermutungen.

Melnikow sah Belopolski an und begegnete einem ungewöhnlich verlegenen, ja sogar zaghaften Blick. Da erfaßte ihn unendliches Mitleid mit diesem Menschen, der seinetwegen soviel durchgemacht hatte. Am liebsten hätte er seinen Lehrer auf der Stelle umarmt.

„Sie waren unter ständiger Beobachtung von der Erde aus“, antwortete Saizew. „Als sich herausstellte, daß der ›Phaetone‹ tagelang weder Flugrichtung noch Geschwindigkeit änderte, forderte Kamow uns auf, einen letzten Versuch zu unternehmen, uns ihm zu nähern. Diesmal gelang es. Aber warum haben Sie so oft den Kurs geändert?“

„Ende gut, alles gut, heißt es im Volksmund. Hätte uns die ›KS 3‹ sogleich eingeholt, hätten wir das Raumschiff der Phaetonen vielleicht wirklich seinem Schicksal überlassen, und das wäre ein großer Verlust für die Wissenschaft gewesen. Da wußten wir nämlich noch nicht, wie der ›Phaetone‹ gesteuert wird. Es hat alles sein Gutes.“ Belopolski ließ den Kopf sinken. Er begriff, das sollte Melnikows Antwort auf seine Bitte um Verzeihung sein.

„Jetzt sind wir auf Ihren Bericht gespannt“, sagte Saizew.

Er schaltete den Bildschirm ein, damit Toporkow im Funkraum ebenfalls zuhören konnte.

„Schießen Sie losl“ Unwillkürlich warfen die Besatzungsmitglieder der „SSSR-KS 3“ immer wieder Blicke auf den Bildschirm, als sei erst die Tatsache, daß das Raumschiff der Phaetonen unmittelbar neben ihnen lag, ein Beweis für die Realität dessen, was sie da hörten.

Aber alles, was Melnikow erzählte, war reine Wahrheit, war ebensowenig zu bezweifeln wie seine Anwesenheit im Steuerraum. Es war die Wahrheit über den Aufenthalt zweier Menschen in einer Welt der fernen Zukunft, eine ganz unwahrscheinliche Wahrheit, die jeder vernünftige Mensch zunächst für ein reines Produkt der Phantasie hielt.

Er erzählte von der Ernährung durch Luft, von der Steuerung mit Hilfe der Vorstellungskraft, von dem Metall, das sich in Nichts auflöste, von den unbekannten Apparaten, die „nach ihrem Willen“ Schlafen und Wachen des Menschen steuerten, vom selbständigen Manövrieren des Raumschiffes, von seiner Automatik, die es in den Weiten des Alls sorgsam schützte. Er erzählte von den Wänden, die auf Wunsch durchsichtig und wieder undurchsichtig wurden, von den „gläsernen“ Stegen, die ohne Stützen in der Luft schwebten, und von dem Steuerpult, in dessen verschiedenfarbigen Facetten rätselhafte Funken flimmerten, die erstarrten, sobald der Pilot im Sessel Platz nahm, als sähen sie ihn und gäben ihre Bereitschaft zu erkennen, seinem Willen zu gehorchen.

Nachdem Melnikows gedämpfte Stimme verstummt war, herrschte lange Schweigen.

Belopolski brach es.

„Du hast recht“, sagte er. „Das Raumschiff der Phaetonen muß um jeden Preis gerettet werden.“

„Befehlen Sie also, Konstantin Jewgenjewitsch!“ Wie ein Schatten legte es sich über das Gesicht des Akademiemitglieds. Melnikow hatte das Gefühl, Belopolski wolle etwas sagen, bringe es jedoch nicht über sich. Eine unbestimmte Ahnung beschlich ihn. Saizew biß sich auf die Lippen und wandte sich ab. Auch er ahnte, was jetzt kam.

Der Bildschirm erlosch. Wie wenn er das Weitere nicht hören wollte, hatte Toporkow ihn ausgeschaltet.

„Befehlen?“ sagte Belopolski kaum vernehmlich. „Dazu habe ich kein Recht mehr.“ Er gab sich innerlich einen Ruck. Nun sprach er laut und fest: „Ein neuer Kommandant ist an Bord gekommen. Einem Kommandanten aber befiehlt man nicht, von ihm nimmt man Befehle entgegen. Ich stehe zur Verfügung!“

„Konstantin Jewgenjewitsch!“ sagte Melnikow beschwörend.

„Wenn du willst, schick einen Funkspruch zur Erde. Kamow wird nur eine Antwort darauf haben.“ Er schwieg eine Weile.

„Um eines bitte ich dich. Überlaß mir die Ehre, den ›Phaetonen‹ zur Erde zu steuern. Vertrau Wtorow, Korzewski und mir diese Aufgabe an. Nur so kann ich mich rehabilitieren, wennschon nicht in den Augen der Menschheit, so doch in meinen eigenen.

Ich habe zu viele Fehler gemacht. Verbrecherische Fehler.“ Melnikow begriff, daß es sinnlos war, ihn umstimmen zu wollen. Er sah den Gesichtern der Kameraden an, daß ihnen Belopolskis Entschluß nicht überraschend kam. Aber so ohne weiteres brachte er es nicht fertig, den Befehl über das Raumschiff zu übernehmen.

„Schön! Ich werde bei Kamow anfragen. Soll er entscheiden.“

„Gehen Sie, bitte!“ sagte Belopolski.

Alle verstanden, daß das nicht nur Melnikow galt. Belopolski wollte, daß man ihn allein ließe.

„Ich mache mir große Sorgen um ihn“, sagte Saizew, nachdem sich die runde Tür zum Steuerraum hinter ihnen geschlossen hatte. „Womöglich…“

„Wer? Belopolski? Da können Sie beruhigt sein. Das ist ganz unmöglich. Ausgeschlossen! Aber erzählen Sie mir ausführlicher, was los war.“ Und während der Funkspruch durch das All zur Erde eilte, erzählten Saizew und Toporkow Melnikow alles.

Danach erwies sich Belopolskis Entschluß als natürlich und folgerichtig. Aber was würde Kamow antworten?

Sie mußten lange warten. Kamow mußte erst telefonisch verständigt und zur Funkstation geholt werden. In Moskau war es jetzt fünf Uhr morgens.

Endlich übermittelte die deutliche Stimme des Funkers die Antwort des Direktors des Kosmischen Instituts und des Vorsitzenden der Regierungskommission: „Hier ist Kamowsk. An Melnikow. Gratulieren zur glücklichen Befreiung aus phaetonischer Gefangenschaft. Übermitteln Sie der Besatzung der ›SSSR-KS 3‹ unseren Dank für ihre selbstlosen Bemühungen zur Rettung des Kommandanten und seines Begleiters. Die Entscheidung, daß Belopolski an Bord des ›Phaetonen‹ geht, halten wir für richtig. Überdenken Sie noch einmal die Frage, ob das phaetonische Raumschiff auf der Erde landen soll. Vielleicht ist es besser, zunächst eine Probelandung auf einem Himmelskörper mit geringerer Anziehungskraft auszufuhren. Zum Beispiel auf dem Mond. Die endgültige Entscheidung überlassen wir Ihnen. ›SSSR-KS 3‹ hat unmittelbar Kurs auf die Erde zu nehmen. Glückliche Heimkehr. Kamow. Woloschin. Achtung! Auf persönliche Bitte von Frau Melnikow übermittle ich folgenden Funkspruch: ›Bin glücklich. Küsse dich. Olga.‹ Ende.“

„Habe verstanden“, antwortete Toporkow wie gewöhnlich.

„Es ist entschieden!“ sagte Melnikow nachdenklich. Er seufzte. „Na schön, vielleicht ist es besser so. Ich habe zwar davon geträumt, den ›Phaetonen‹ selber zur Erde zu bringen. Aber es soll nicht sein!“

„Belopolski schafft es schon“, meinte Saizew.

„In welchem Ton Sie das sagen, Konstantin Wassiljewitsch.

Natürlich schafft er es, und weit besser als ich. Belopolski bleibt Belopolski, was auch geschehen sein mag. Das Ganze war das Ergebnis einer zweifellos vorübergehenden, wenn auch unbegreiflichen seelischen Depression bei ihm. Wir werden doch wieder unter seinem Kommando fliegen.“ Saizew und Toporkow wechselten einen stummen Blick. Melnikow begriff also noch immer nicht, daß Belopolski als Kommandant eines Raumschiffs nicht mehr tragbar war. Selbst Kamows Antwort hatte ihn nicht davon überzeugt.

„Hoffen wir, daß es so ist“, sagte Toporkow ausweichend.

„Zweifellos ist es so!“ Melnikow verließ den Funkraum. Es lag ihm schwer auf der Seele, wie er Belopolski die Antwort von der Erde beibringen sollte. Den schroffen Ton dieser Antwort zu mildern war unmöglich. Belopolski hatte jederzeit die Möglichkeit, den automatisch auf Tonband aufgenommenen Funkspruch abzuhören. Er mußte die Wahrheit sagen, wie schwer es ihm auch fiel.

Aber Belopolski machte es ihm leicht. Er stellte keine Fragen.

Offensichtlich war er sich über Kamows Antwort schon vorher im klaren gewesen.

„Siehst du!“ sagte er, als Melnikow wieder im Steuerraum erschien. „Der Funkspruch war unnötig. An Tatsachen läßt sich nun mal nicht rütteln. Und wie hast du hinsichtlich des ›Phaetonen‹ entschieden?“

„Sergej Alexandrowitsch hat Ihrer Bitte entsprochen. Es ist ja auch bedeutend schwerer, den ›Phaetonen‹ zur Erde zu bringen als die ›KS 3‹“, fügte Melnikow hinzu, um den Urteilsspruch über den ehemaligen Kommandanten möglichst zu mildern. „Sie sind dieser Aufgabe besser gewachsen.“

„Danke für die gute Absicht“, erwiderte Belopolski mit einem bitteren Lächeln. „Aber ich brauche keinen Trost. An Kamows Stelle hätte ich genauso gehandelt. Doch kommen wir zur Sache.

Hältst du es für möglich, daß der ›Phaetone‹ direkt zur Erde fliegt?“

„In dem Funkspruch empfehlen Sergej Alexandrowitsch und Woloschin…“

„… ein wenig zu trainieren“, unterbrach ihn Belopolski. „Ich habe gerade darüber nachgedacht. Wtorow muß unbedingt Erfahrungen im Landen sammeln.“

„Ob der Mond geeignet ist?“

„Ich fürchte, nein. Die Gravitationskraft auf seiner Oberfläche ist nur sechsmal geringer als auf der Erde. Das ist noch zu gefährlich. Wir brauchen einen kleineren Himmelskörper.“

„Einen Asteroiden?“

„Ja, das wäre das beste.“

„Welchen?“

„Die Ceres. Sie befindet sich gerade in einer günstigen Stellung. Bis zu ihr ist es verhältnismäßig nahe. Der ›Phaetone‹ hätte etwa dreihundert Millionen Kilometer zu fliegen, ebensoviel auf dem Rückweg. Wir wissen, daß er eine Geschwindigkeit von fünfzig Kilometern in der Sekunde entwickeln kann, vielleicht auch noch mehr. Er brauchte also schlimmstenfalls zwei Monate und für den Flug von der Ceres zur Erde noch einmal genausolange. Die Gravitationskraft des Asteroiden beträgt nur ein Neunundzwanzigstel der irdischen. Das geht schon eher für den ersten Versuch. Nach der Ceres landen wir dann auf dem Mond. Und erst dann auf der Erde. Ich glaube, diesen Weg müssen wir einschlagen, wenn wir den ›Phaetonen‹ erhalten wollen. Was meinst du?“

„Ich muß noch mal bei Kamow anfragen.“

„Du bist der Expeditionsleiter und kannst selbständig Entscheidungen treffen. Du mußt lernen, nach eigenem Gutdünken zu handeln.“ Außerstande, sich länger zurückzuhalten, umarmte Melnikow den alten Wissenschaftler.

„Wenn Sie wüßten“, sagte er, „welchen Kummer Sie mir mit Ihrem Entschluß bereitet haben.“

„Ich weiß, Boris. Aber ich kann dich trösten, indem ich dir ein kleines Geheimnis verrate. Noch auf der Erde ist entschieden worden, daß dieser Flug zur Venus deine letzte Prüfung sein sollte. Danach erwartet dich sowieso die offizielle Ernennung zu einem Ersten Kapitän der sowjetischen Raumflotte.

Nun ist das nur etwas früher passiert. Kamow und ich sind alt.

Die Prüfung hast du bestanden. Glänzend sogar. Du erinnerst dich, daß ich dir auf dem Weg zur Venus zeitweilig das Kommando überließ. Das geschah mit Absicht.“ Belopolski wandte sich ab und starrte eine Zeitlang auf den Bildschirm, als müsse er Kräfte sammeln für ein Letztes, das er seinem Schüler sagen hatte. „Denk stets daran, Bons: Der Kommandant eines Raumschiffes muß in allen Situationen Ruhe bewahren. Nichts darf ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Diese wichtigste Eigenschaff eines Kosmonauten entwickle unermüdlich in dir. Es fällt dir ja nicht schwer. Und nimm niemand mit an Bord, der dir besonders teuer ist. Sonst ergeht es dir so wie mir. Schlimm, sehr schlimm. Und nun leb wohl. Ich gehe gleich an Bord des ›Phaetonen‹.“ Bald war die Arbeit in vollem Gange.

Das phaetonische Raumschiff für einen längeren Flug unter Leitung von Nichtphaetonen auszurüsten, stellte keine einfache Aufgabe dar. Seine Räume waren für die Aufnahme von irdischen Apparaten und Instrumenten schlecht geeignet. Saizew, Romanow, Knjasew und auch Belopolski selbst mußten viel Findigkeit und Einfallsreichtum beweisen, um die notwendigsten Navigationsinstrumente unterzubringen, ohne die sie den sechs-.

monatigen Flug unmöglich wagen konnten. Nur gut, daß sie kein Radargerat brauchten — das Raumschiff besaß ja Automaten, die für Flugsicherheit sorgten. Aber mit dem Teleskop gab es viel Schwierigkeiten. In den Ersatzteilkammern der „SSSR-KS 3“ fand sich ein kleineres Reserveteleskop, das in langer, muhseliger Arbeit in einem der Räume neben dem phaetonischen Steuerraum installiert wurde. Das Raumschiff selbst verfügte zweifellos auch über optische Geräte, aber niemand wußte, wo sie sich befanden, wie sie aussahen und vor allem, wie man damit arbeiten mußte. Und ohne optische Hilfsmittel zur Ceres zu fliegen war unmöglich. Auch wurde so etwas wie ein Befehlspult eingebaut, mit dessen Hilfe Belopolski Wtorow genaue Instruktionen geben konnte.

Die Kosmonauten ließen sich Zeit bei der Arbeit, da sie wußten, daß ein Fehler nicht wiedergutzumachende Folgen haben und zu einer Katastrophe fuhren konnte. Ein Zeitverlust war nicht zu befurchten, da beide Raumschiffe in der erforderlichen Richtung flogen.

Weder Korzewski noch Wtorow sagten etwas, als sie von dem überraschenden Auftrag horten, mit dem „Phaetonen“ zur Ceres zu fliegen. Er stimmte sie nur ein wenig traurig, da sie nun erheblich später zur Erde zurückkehren wurden. Doch sie wußten, daß es notwendig war. Und für Kosmonauten besaß das Wort „notwendig“ große Überzeugungskraft.

Im Bewußtsein der Verantwortung, die auf seinen Schultern lag, kontrollierte Melnikow die Arbeiten selbst, nachdem er Belopolski gebeten hatte, für diese Zeit in den Steuerraum der „SSSR-KS 3“ zurückzukehren.

Dann war es soweit. Die Trosse wurde gelost. Die eine Besatzung versammelte sich im Observatorium, die andere im Unterkunftsraum des „Phaetonen“. Belopolski, Wtorow und Korzewski konnten ihre Kameraden erkennen, wahrend sie selbst nicht zu sehen waren. Aber die an Bord der „SSSR-KS 3“ Gebliebenen wandten kein Auge von dem anderen Raumschiff.

Allein Melnikow befand sich am Steuerpult.

Als wären sie zusammengeklebt, flogen die beiden Raumschiffe noch weiter nebeneinanderher.

Dann stellte Melnikow das eine Gasruder und schaltete eines der Triebwerke auf geringste Leistung.

Langsam entfernte sich die „SSSR-KS 3“ vom „Phaetonen“.

Der Zwischenraum wurde unaufhaltsam größer. Die Wege der Schiffe trennten sich.

Bald zerfloß die Silhouette des Ringes im All.

Glückliche Fahrt, Freunde!

Die Katastrophe

Ja, Melnikow hatte recht gehabt! Das phaetonische Raumschiff war weitaus schwerer zu steuern als die „SSSR-KS 3“. Das kleine Teleskop und das selbstgebaute Kommandopult bildeten Belopolskis einzige Hilfsmittel, sie waren völlig unzureichend. Vor allem fehlte eine elektronische Rechenmaschine, Belopolski mußte sich allein auf seine mathematischen Kenntnisse und keine Erfahrungen verlassen. Dabei barg die Aufgabe, die Ceres zu erreichen, große Schwierigkeiten in sich.

Belopolski wußte recht gut, von welchen Überlegungen sich Kamow hatte leiten lassen, als er seine Zustimmung dazu gab, daß er, Belopolski, auf den „Phaetonen“ überwechselte.

Einmal hatte ihn Belopolskis Verhalten nach dem Start von der Venus aufgebracht. Es war für einen Raumschiffkommandanten — wirklich unverzeihlich und hatte nur dank der hochentwickelten Technik der Phaetonen nicht tragisch geendet. Seine Absetzung als Expeditionsleiter und Melnikows Ernennung waren vollauf gerechtfertigt. Das Alter konnte kein Entschuldigungsgrund sein.

Zum anderen hatte Kamow offensichtlich gewußt, wie schwer sich der „Phaetone“ lenken ließ. Ohne Einzelheiten zu kennen, hatte er gespürt, worin die Schwierigkeiten bestanden, und Belopolskis profunde Kenntnisse und seine mathematischen Fähigkeiten dabei in Rechnung gestellt. Melnikow konnte es in dieser Hinsicht nicht mit ihm aufnehmen. Er hatte ja selbst gesagt, daß Belopolski der schwierigen Aufgabe „besser gewachsen“ sei.

Alles war also in Kamows Sinne wohlbegründet, logisch und durchdacht.

Belopolski nahm die „Bestrafung“ mit gewisser Erleichterung hin. Er war froh, daß seine Rückkehr zur Erde dadurch aufgeschoben wurde und er die Möglichkeit erhielt, seine Fehler wenigstens teilweise wiedergutzumachen.

So richtete er alle seine Kenntnisse und Verstandeskräfte darauf, das gesteckte Ziel zu erreichen.

Die Geschwindigkeit und den Kurs des Raumschiffes vermochte nach wie vor nur Wtorow zu verändern. Weder dem Willen Belopolskis noch Korzewskis, den sie als Arzt mitgenommen hatten, wollte die phaetonische Technik gehorchen. Nur auf die Biostrome des jungen Ingenieurs sprachen die Mechanismen an. Wenn ihm etwas zustieß, waren Belopolski und Korzewski völlig hilflos.

Gleich nachdem die „SSSR-KS 3“ im All verschwunden war, bat Belopolski Wtorow, er möge den „Phaetonen“ auf Höchstgeschwindigkeit bringen.

Der Versuch gelang, und das Ergebnis überstieg selbst die kühnsten Erwartungen.

Gehorsam flog das Raumschiff mit einer Beschleunigung, die Belopolski auf vierundzwanzig Meter pro Sekundenquadrat berechnete. Sie dauerte eine Stunde und neunundvierzig Komma vierzehn Sekunden. Dann trat wieder Schwerelosigkeit ein. Die Geschwindigkeit des Raumschiffs hatte sich also auf einhundertzwanzig Kilometer in der Sekunde gesteigert.

Offenbar war das die Höchstgeschwindigkeit. Sie betrug mehr als das Doppelte derjenigen des irdischen Raumschiffes. Jetzt würden sie die Ceres, wenn nichts dazwischenkam, in weniger als einem Monat erreichen. Das bedeutete eine enorme Zeiteinsparung.

Belopolski zweifelte nicht daran, daß alle Observatorien der Erde den „Phaetonen“ weiterhin beobachteten. Auch Kamow verfolgte bestimmt ihren Weg. Er würde somit bald erfahren, daß das ringförmige Raumschiff seine Geschwindigkeit erhöht hatte, und daraus die notwendigen Schlußfolgerungen ziehen.

Mehrere Tage brachte Belopolski mit der Berechnung des Kurses zu. Er konnte die Ceres mit seinem verhältnismäßig schwachen Instrument zwar nicht sehen, wußte aber genau, wo sie sich befunden hatte, als sie sich von der „SSSR-KS 3“ trennten. Er kannte alle Daten ihrer Umlaufbahn sowie seine eigene Position im Kosmos. Das genügte vollauf.

Am vierten Tag forderte er Wtorow auf, die Flugrichtung geringfügig zu ändern, und der nun schon geübte Ingenieur führte seinen Befehl sicher aus.

Der „Phaetone“ gehorchte Wtorow „widerspruchslos“.

„Ich glaube, wir könnten auch gleich auf dem Mond landen, statt erst auf der Ceres“, meinte Wtorow. „Das Raumschiff gehorcht mir aufs Wort.“

„Lassen Sie sich nicht täuschen“, erwiderte Belopolski. „Im leeren Raum zu manövrieren ist etwas ganz anderes als eine Landung. Hier kann man ruhig einen Fehler machen, aber dort fuhrt er zur Vernichtung des Schiffs.“ Das gleiche hatte Melnikow gesagt. Die fast wörtliche Übereinstimmung verblüffte Wtorow.

Unter den Dingen, die auf den „Phaetonen“ geschafft worden waren, entdeckten sie mehrere Bücher. Die Freude war groß.

Wer hatte dafür gesorgt?

Der Flug verlief ermüdend einförmig. Da waren Bücher hochwillkommen. Um nicht zu schnell mit ihnen fertig zu werden, lasen Wtorow und Korzewski abwechselnd laut daraus vor.

Belopolski brauchte keinen Zeitvertreib. Stunden- und tagelang hing er am Teleskop und führte Beobachtungen durch oder stellte Berechnungen an. In der Welt der Astronomie und der Mathematik führte er sich wohl.

So vergingen die Tage.

Schon hatten sie die Umlaufbahn des Mars hinter sich gelassen. Der Gürtel der Asteroiden war nahe. Dreimal innerhalb von zwei Tagen änderte das Raumschiff seine Flugrichtung, um kleinen Asteroiden, die jedoch groß genug waren, um ihnen gefährlich werden zu können, auszuweichen. Offenbar raste eine ganze Menge dieser Planetentrümmer auf den Astronomen unbekannten Bahnen dahin. Von der Erde aus waren ja hinter der Umlaufbahn des Mars Körper mit einem Durchmesser von wenigen Dutzend Metern nicht mehr zu erkennen.

Für Belopolski begann jetzt eine anstrengende Zeit. Wie sehr vermißte er eine Rechenmaschine. Aber sein mathematischer Verstand ersetzte sie. Ununterbrochen errechnete er den Kurs und korrigierte mit Hilfe Wtorows die Flugbahn.

Ja, man konnte mit vollem Recht sagen, daß von der ganzen Besatzung der „SSSR-KS 3“ er allein imstande war, den „Phaetonen“ unter solchen Umständen zu führen.

Die Ceres war schon gut zu sehen. Selbst mit unbewaffnetem Auge war der winzige Stern wahrzunehmen, dessen Schein buchstäblich mit jeder Stunde zunahm.

Das Raumschiff näherte sich seinem Ziel.

Eine Neujahrsüberraschung besonderer Art hatte einst der sizilianische Astronom Piazzi der Wissenschaft bereitet. In der Nacht zum ersten Januar achtzehnhundertundeins entdeckte er den ersten Kleinplaneten, die Ceres, die sich später als der größte der Asteroiden erwies. Ihr Durchmesser beträgt siebenhundertsiebzig Kilometer und ihre Masse ein Achttausendstel der Erdmasse. Der Planet leuchtet sehr hell, was darauf schließen läßt, daß er aus Mineralien, die das Licht gut reflektieren, oder vielleicht auch aus Metallen besteht. Die Ceres bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von etwa zwanzig Kilometern in der Sekunde auf einer fast kreisrunden Bahn.

Belopolski entschloß sich, der Landung auf der Ceres den-, selben Plan zugrunde zu legen wie der Landung der „SSSR-KS 3“ auf der Venus: er wollte dem Planeten auf seiner Umlaufbahn folgen und ihn einholen. Bei diesem Manöver konnten sie endgültig feststellen, wie weit der „Phaetone“ Wtorow gehorchte und wie genau er seine Gedankenbefehle ausführte.

Wenn es ihnen gelang, an die Ceres heranzukommen, konnten sie auch hoffen, wohlbehalten auf ihr zu landen.

Selbst mit dem ausgezeichneten Steuerpult der „SSSR-KS 3“ erforderte solch ein Manöver viel Arbeit und höchste Präzision.

Hier aber steuerte Belopolski nicht selbst. Er mußte jedesmal durch Wtorow handeln, mußte ihm die gewünschte Kurve so erklären, daß der junge Ingenieur sie sich deutlich vorstellen und in Gedanken, ohne den geringsten Fehler, vom Raumschiff vollführen lassen konnte.

Belopolski kamen unwillkürlich Bedenken. Daß die Mechanismen exakt arbeiteten, bezweifelte er nicht; er hatte ja schon wiederholt erlebt, wie sie auf „Befehle“ reagierten. Aber wie stand es um die Exaktheit von Wtorows Denken?

Wenn ich meine Entscheidungen doch unmittelbar selbst in die Tat umsetzen könnte! dachte er.

Aber das war unmöglich.

Ihm war klar, daß sie ihr Leben aufs Spiel setzten. Sollte der Rumpf des Raumschiffes beim Aufprall auf der Ceres Risse bekommen, würde bei ihnen augenblicklich der Tod eintreten, da es auf der Ceres keine Atmosphäre gab.

Indessen, das Los war bereits einen Monat zuvor an Bord der „SSSR-KS 3“ gefallen, jetzt blieb ihnen nichts weiter übrig, als in der Praxis zu erproben, ob „Adler“ oder „Bild“ oben lag.

„Bild“ — das waren Leben und Rettung des Raumschiffes, „Adler“ — Tod und Zerstörung des „Phaetonen“.

Belopolski teilte Korzewski seine Gedanken mit. „Das weiß ich“, entgegnete der Biologe kurz. Mit Wtorow unterhielten sie sich über derartige Themen nicht — seine Ruhe und sein Selbstvertrauen waren jetzt das all erwichtigste. Belopolski glaubte, Wtorow sei sich der Größe der Gefahr nicht bewußt, aber er täuschte sich.

Wtorow hatte die ganze Schwere der ersten Tage des gemeinsamen Fluges mit Melnikow im „Phaetonen“ miterlebt. Er wußte auch längst, daß hinter der scheinbar spielerischen Leichtigkeit, mit der die „SSSR-KS 3“ auf der Arsena und dann auf der Venus gelandet war, harte Arbeit, große Geschicklichkeit und tödliche Gefahr gesteckt hatten. Die Lektion des Sturzes in Richtung Venus war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Er hatte begriffen, daß der Kosmos nicht mit sich spaßen ließ. Und er wußte ganz genau, worauf sie sich jetzt einließen und was sie riskierten. Auf der Venus war er noch ein Neuling gewesen, der vieles nicht verstand und manches auf die leichte Schulter nahm; inzwischen aber war er ein echter Kosmonaut geworden. Zehn unvergeßliche Tage — und von dem früheren Wtorow war nichts mehr geblieben. Er hatte die Schule des Weltraums absolviert.

Und da sich Wtorow vollauf bewußt war, daß das Leben seiner Kameraden und die Rettung des Raumschiffs einzig und allein von ihm abhingen, zwang er sich zu äußerster Konzentration, war er entschlossen, alles, was Belopolski ihm befehlen würde, wie ein Automat auszuführen. Für ihn gab es weder Furcht noch Zweifel. Er sagte sich: Ich muß!

Er und Korzewski waren von Wissen und Erfahrung ihres Kommandanten überzeugt.

So schien alles für einen günstigen Ausgang des schwierigen Manövers zu sprechen.

Alles, nur nicht das Wichtigste, Entscheidendste. Die Männer ahnten nicht einmal, wie nahe die Gefahr war.

Der verhängnisvolle Fehler war einen Monat zuvor begangen worden, und zwar von Melnikow und Belopolski gemeinsam.

Konnte man ihnen einen Vorwurf daraus machen? Ein Mensch ist eben nur ein Mensch und keine Maschine; er ist Irrtümern unterworfen, seine Entscheidungen werden von vorgegebenen Tatsachen und Eindrücken beeinflußt. Die scheinbare Allmacht der phaetonischen Technik hatte Melnikow und Belopolski „hypnotisiert“. Dabei ließen sie außer acht, daß auch die Phaetonen nichts weiter als Menschen gewesen waren. Ihre Technik war eine Technik von Menschen, denn es gibt keine andere in der Natur, und ihre Macht ist daher nicht grenzenlos.

Das hatten sie vergessen.

Auf der Erde wirkte die „phaetonische Hypnose“ nicht so stark, weil man um die Einzelheiten der zehntägigen Odyssee Melnikows und Wtorows nicht wußte. Daher erkannte man dort auch sofort die Gefahr.

Aber da war es bereits zu spät und nichts mehr zu ändern.

Auf Melnikows Mitteilung vom Flug des „Phaetonen“ zur Ceres antwortete Kamow mit einem kurzen Funkspruch, der Belopolski, hätte er seinen Inhalt gekannt, zur sofortigen Umkehr bewogen hätte. Er lautete: „Woher wollen Sie wissen, daß die Energievorräte des ›Phaetonen‹ für einen solchen Flug ausreichen? Kamow.“ Tatsächlich, woher? Wie hatten sie diesen entscheidenden Umstand außer acht lassen können?

Melnikow raufte sich vor Verzweiflung die Haare. Das ringförmige Raumschiff jagte mit einer Geschwindigkeit von einhundertzwanzig Kilometern in der Sekunde dahin. Es gab kein irdisches, das es hätte einholen können. Und durch Funk war es auch nicht zu erreichen.

Man konnte es nicht mehr zurückholen. Der Fehler war nicht wiedergutzumachen! Es blieb nur noch zu hoffen, daß die Befürchtungen grundlos waren und alles gut ausgehen würde.

Ein sehr schwacher Trost, aber einen anderen gab es nicht.

Die Besatzung des ringförmigen Raumschiffs steuerte währenddessen nichtsahnend, ohne auch nur im geringsten daran zu zweifeln, daß ihre Energievorräte ausreichen würden, auf die Ceres zu.

Belopolskis Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet.

Sicher dirigierte Wtorow das Raumschiff. Die Phaetonen hätten es nicht besser machen können. Der junge Ingenieur beherrschte die Kunst der Vorstellung vollkommen, seine Gedankenbilder waren exakt wie nie zuvor.

Gehorsam schwenkte der „Phaetone“ hinter dem Planeten auf dessen Umlaufbahn ein. Die Ceres einzuholen war nicht mehr schwer. Das Raumschiff verringerte seine Geschwindigkeit.

Schon erblickten sie durch die Wandung das Panorama des größten der Asteroiden.

Eine von Rissen durchzogene, unfruchtbare, kahle Ebene mit spärlichen Ketten spitzer Hügel. Aus der Höhe erschien der Horizont noch sehr weit. Beim Niedergehen aber würde er sich stark verengen.

„Ich hatte befürchtet, die Oberfläche sei genauso beschaffen wie die der Arsena“, sagte Belopolski. „Gut, daß das nicht der Fall ist. Nun ans Werk, Gennadi Andrejewitsch. Bringen Sie uns heil zur ›Erde‹.“ Wtorow kehrte in den Steuerraum zurück. Das fortwährende Abbremsen schuf eine Schwerkraft im Schiff, und er konnte bequem im Sessel Platz nehmen.

Er erinnerte sich, daß der „Phaetone“ beim Sturz auf die Venus von selbst wieder abgedreht hatte. Jetzt tat er das nicht. Dabei war die Ceres ganz nahe. Komisch: Die Mechanismen des Raumschiffs ›merkten‹ also, daß dies kein Sturz war, sondern ein absichtliches Manöver, und warteten auf Kommandos.

Wtorow ließ das Schiff sich dem Planeten immer langsamer nähern. Von Zeit zu Zeit bremste er stärker. Ob es dieses Bremsen war, was den Automaten anzeigte, daß die Nähe des großen Himmelskörpers diesmal nicht gefährlich war, daß alles demWillen des Menschen gemäß erfolgte?

Wtorow schloß die Augen — so konnte er sich leichter konzentrieren — und stellte sich vor, wie das ringförmige Raumschiff langsam und vorsichtig auf der Ceres niederging.

Er war überzeugt, alles sei in Ordnung, und der „Phaetone“ werde wie immer seinen Befehl genau ausführen.

Zunächst geschah es auch so. Als er die Augen wieder öffnete und durch die Wand blickte, sah er, daß das Raumschiff niederging. Bis zur Oberfläche des Planeten waren es nur noch zwei Kilometer.

Plötzlich aber flammte unmittelbar vor ihm auf der einen Facette des Pultes ein grellgrünes Dreieck auf. Verschwand, flammte nochmals auf und erlosch. Zugleich erloschen auch die Funken in der Tiefe der Facette, und diese selbst wurde trüb, als überziehe sie sich mit einem grauen Belag.

Das Raumschiff sank merklich schneller, die Ceres kam unaufhaltsam auf sie zu. Stürzten sie etwa ab?

Noch einmal glommen die Funken am Pult auf, wurde das grüne Dreieck sichtbar. Ein heftiger Ruck schleuderte Wtorow vom Sessel und gegen die Wand.

Er begriff, daß die Triebwerke den Sturz auffingen.

Das wiederholte sich noch einmal.

Was war geschehen? Weshalb verhielt sich das Raumschiff so merkwürdig? Wtorow war es ein Rätsel; er glaubte, er selbst sei schuld, weil er den Befehl nicht richtig gegeben habe.

Auch Korzewski und Belopolski, die im Nebenraum gespannt das Näherkommen der Ceres beobachteten, begriffen nicht, daß sie Zeugen der letzten Zuckungen des aus dem Raumschiff weichenden Lebens wurden. Die von den Menschen bedenkenlos verbrauchte Energie war erschöpft. Die sterbenden Mechanismen versuchten noch ein letztes Mal, den verhängnisvollen Sturz abzuwenden.

Es gelang ihnen nur zum Teil. Ein neuer Ruck ging durch das Raumschiff, es bremste noch einmal kurz, dann stürzte es aus einer Höhe von hundert Metern ab.

Die Ceres ist nicht die Erde, ihre Anziehungskraft neunundzwanzigmal geringer. Das rettete die drei Männer.

Ein heftiger Stoß! Ganz in Wtorows Nähe ging etwas in Trümmer — es hörte sich an, als schütte jemand einen Korb voll Schraubenmuttern auf eine Metallplatte aus. Er sah, wie quer über die glatte Fläche des Steuerpults ein breiter Riß aufklaffte, wie alle vier Sessel losgerissen wurden und Glassplittern gleich durch die Luft flogen.

Er begriff, daß das Steuerpult zerstört war, und erschrak; aber immer noch ahnte er nicht, daß selbst ein völlig intaktes Pult ihnen jetzt nichts mehr nützen konnte.

Wir sind verloren, durch meine Schuld! Aber was habe ich denn falsch gemacht? Boris Nikolajewitsch hatte recht: Eine Landung ist die schwerste Prüfung. Ich habe sie nicht bestanden.

Jetzt ist uns der Tod sicher. Gedankenfetzen schossen Wtorow durch den Sinn.

Das Raumschiff war tief in den silbrigen Staub eingedrungen, der die Ebene der Ceres bedeckte. Ganz in der Nähe ragte ein 2ackiger Felsen auf, wie die Spitze eines in der Erde versunkenen Kirchturms. Ringsum erhoben sich in verschiedener Entfernung regellos ebensolche Felsen. Nacktes Gestein und silbriger Staub. Nichts weiter. Eine fremde “Welt.

Wtorow stand auf. Er fühlte sich fast schwerelos. Ein Schritt, und er war an der Tür. Ob sie sich öffnete?

Im Raumschiff war noch Leben. Es konnte zwar nicht mehr fliegen, aber die inneren Mechanismen hatten nicht gelitten — sie waren nicht so empfindlich wie das Steuerpult. Die Tür öffnete sich wie immer.

„Was ist los, Gennadi Andrejewitsch?“ fragte Belopolski sofort.

Er hatte den gleichen Gedanken wie Wtorow. Ein Fehler!

„Ich weiß es beim besten Willen nicht, Konstantin Jewgenjewitsch. Ich gab den Befehl. Alles ging gut, aber plötzlich flammte ein grünes Dreieck auf…“

„Was für ein Dreieck?“ unterbrach Belopolski ihn hastig.

Wtorow erzählte ausführlich.

Da war Belopolski alles klar. Noch ein Fehler! Diesmal unwiderruflich der letzte.

„Sie trifft keine Schuld, Gennadi Andrejewitsch“, sagte er.

„Die Energievorräte für die Triebwerke sind erschöpft. Zu sorglos haben erst Melnikow und Sie und nun wir drei sie verbraucht. Sie waren natürlich begrenzt. Wir Wahnwitzigen! Wie kleine Kinder haben wir uns benommen, die mit dem Feuer spielen. Und wir haben uns verbrannt. Ich bin schuld. Ich habe Sie beide ins Verderben geführt Verzeihen Sie mir, wenn Sie können. Übrigens ist es auch dazu schon zu spät.“ Er wandte sich ab, und zum drittenmal während dieses unseligen Fluges liefen ihm die Tränen über die Wangen.

Korzewski lehnte mit geschlossenen Augen gegen die Wand.

Wtorows Gedanken waren klar geblieben. Er spürte weder Angst noch Verzweiflung. Das, wovon er immer geträumt hatte — so zu sein wie Melnikow —, schien sich erfüllt zu haben. Selbst Melnikow hätte nicht kaltblütiger sein können.

„Keiner ist schuld“, sagte er. „Wer konnte das ahnen? Ich halte unsere Lage auch für gar nicht so hoffnungslos. Von der Erde aus hat man uns beobachtet. Dort wissen sie bereits von unserer Landung auf der Ceres. Sie werden darauf warten, daß“ wir wieder im Raum auftauchen. Geschieht das nicht, werden sie merken, daß etwas passiert ist, und Hilfe schicken. Lebensmittel haben wir genug, auch Sauerstoffmangel brauchen wir nicht zu befürchten. Also können wir beruhigt abwarten.“ Belopolski drehte sich wieder um.

„Immer der gleiche Fehler“, sagte er. „Erst dachten wir, wir brauchten keinen Energiemangel zu befürchten, und jetzt sagen Sie das gleiche vom Sauerstoff. Wer weiß, vielleicht liegen auch die Automaten, die den Sauerstoff erneuern, in den letzten Zügen. Die von der ›KS 3‹ übernommenen Sauerstoffbehälter aber sind nur für die Raumanzüge bestimmt; bei ununterbrochener Benutzung reichen sie knapp zwei Tage. Und was das schlimmste ist, unsere Raumschiffe benötigen von der Erde bis zur Ceres mindestens drei Monate. Sie sind nicht so schnell wie der ›Phaetone‹. Außerdem stehen Erde und Ceres jetzt nicht so günstig zueinander wie bei unserm Flug hierher. Für drei Monate langen unsere Lebensmittelvorräte nicht, selbst wenn der Sauerstoff reichen sollte.“

„Sie reichen.“ Korzewski erwachte aus seiner Erstarrung. „Ich habe sie selbst eingeladen. Bei herabgesetzter Ration können wir sie auf über drei Monate strecken.“

„Ich verstehe nicht, warum wir uns streiten“, sagte Wtorow.

„Ob sie reichen oder nicht — wir können ja doch nichts weiter tun, als auf Hilfe warten. Oder schlagen Sie Selbstmord vor?“

„Davon kann nicht die Rede sein“, entgegnete Belopolski.

„Natürlich werden wir warten. Unser Schicksal liegt in der Hand der Phaetonen oder vielmehr ihrer Technik. Hoffen wir, daß sie uns nicht ein zweites Mal im Stich läßt.“ Wtorow und Korzewski schien es, als sage Belopolski das mit einem bedauernden Unterton. Offensichtlich hätte er den Tod der Rückkehr auf die Erde vorgezogen. Sie aber hatten keinen Grund, sich den Tod zu wünschen.

„Im Laufe von drei Monaten können wir hier nützliche Arbeit leisten“, sagte Wtorow. „Wir müssen ein großes Stück der Ceresoberfläche gründlich erforschen. Der ›Phaetone‹ bleibt ja sowieso für immer hier. Jetzt kann man ihn untersuchen, ohne befürchten zu müssen, etwas zu verderben.“

„Gerade das dürfen wir auf keinen Fall“, entgegnete Belopolski. „Wir könnten die Luftautomaten beschädigen. Wir wissen ja nicht, wo sie sich befinden. Und was noch schlimmer wäre: wir könnten die Türautomaten außer Betrieb setzen. Nein, wir dürfen nichts anrühren.“ Die Türautomaten! Bei diesen Worten hatten alle drei ein und denselben Gedanken: Ginge die Energie, die die inneren Mechanismen des Raumschiffs antrieb, plötzlich ebenso zu Ende wie die der Triebwerke, waren sie in diesem Raum eingeschlossen ohne die geringste Möglichkeit hinauszugelangen.

„Ich denke“, sagte Korzewski, „wir sollten das Schiff überhaupt nicht verlassen. Was wollen wir machen, wenn wir draußen sind und kommen plötzlich nicht mehr rein?“

„Nein, das hieße, drei Monate eingeschlossen und in völliger Untätigkeit dasitzen“, sagte Belopolski. „Da nehme ich lieber die Gefahr auf mich, auf der Stelle umzukommen. Ich bin für Exkursionen.“

„Ich auch“, pflichtete Wtorow ihm bei. „Wenn die Türen versagen, müssen wir damit rechnen, daß auch die Luftautomaten versagen. Ist es dann nicht gleich, ob wir draußen oder drinnen sind? Das Ergebnis ist dasselbe.“

„Stellen wir also einen Aktionsplan auf. Wie wollen wir das Schiff verlassen: gemeinsam oder einzeln, der Reihe nach?“ fragte Korzewski gleichmütig.

„Prince of Wales“

Die Ceres drehte sich ziemlich schnell um ihre Achse. Tag und Nacht dauerten nur neun Stunden und achtzehneinhalb Minuten. Recht unterschiedlich aber war die Länge des Tages im Verhältnis zur Nacht. Der Teil des Planeten, auf dem das Raumschiff niedergegangen war, wurde zwei Stunden und neunundfünfzig Minuten von der Sonne beschienen. Die ganze übrige Zeit herrschte Nacht.

Belopolskis Berechnungen ergaben, daß sie sich am Äquator befanden. Mittags stand die Sonne fast im Zenit. Die unterschiedliche Dauer von Tag und Nacht ließ sich nur damit erklären, daß die Ceres eine unregelmäßige Form hatte. Daran war nichts Erstaunliches, wenn man bedachte, daß der Planet kein selbständig entstandener Himmelskörper war, sondern ein Bruchstück des untergegangenen Phaeton.

In dieser Welt, die auch nicht eine Spur von Atmosphäre hatte, gab es natürlich weder Morgen noch Abend. Kaum hatte die Sonne den Horizont erreicht, brach die Nacht an.

Die Nacht, aber keine Dunkelheit.

Der Jupiter befand sich jetzt auf derselben Seite der Sonne wie die Ceres. Die Entfernung zu ihm betrug nicht mehr als dreihundert Millionen Kilometer. Der Riesenplanet schien so hell, daß die spitzen Felsen und die Ringe des Raumschiffs deutliche Schatten warfen.

Sobald sich der Jupiter dem Horizont zuneigte, ging die Sonne auf, und dann warfen alle Gegenstände zwei Schatten, einen dunkleren von der Sonne nach der einen und einen helleren vom Jupiter nach der anderen Seite. Das gleiche wiederholte sich abends.

In dieser merkwürdigen Welt, in der die Sterne Tag und Nacht gleich hell leuchteten, gab es also zwei „Sonnen“.

Alle zwölf Trabanten des Jupiter waren mit unbewaffnetem Auge zu erkennen. Hätte sich auch der Saturn auf dieser Seite der Sonne befunden, wäre den Kosmonauten der ergötzliche Anblick seiner Ringe beschieden gewesen.

Sie waren die ersten Menschen, die so weit in die Tiefen des Sonnensystems vorgedrungen waren. Trotz aller Tragik ihrer Situation empfanden sie bei diesem Gedanken einen gewissen Stolz.

Die Staubschicht, die die Ceres bedeckte, war ziemlich dick.

Sie versanken darin bis zu den Knien, und obgleich sie so gut wie nichts wogen, fiel ihnen das Gehen sehr schwer.

Aber wohin sollten sie auch gehen? Rings um das Raumschiff gab es nichts weiter als diesen Staub unbekannten Ursprungs und die Felsen, die, wie sich herausstellte, aus Granit bestanden. Daß sie sich weiter vom Schiri entfernten, erlaubte Belopolski nicht.

War doch jeder Ausflug mit Lebensgefahr verbunden. Sie befanden sich mitten im Asteroidengürtel. Die vergleichsweise große Masse der Ceres zog zahlreiche kleine Bruchstücke an. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden fielen in der Nahe des Raumschiffs nicht weniger als hundert Steine vom Himmel, die kosmischen „Staubteilchen“ nicht mitgerechnet.

Dennoch gingen die Männer im Interesse der Wissenschaft immer wieder hinaus. Zwei Säcke mit Staub und mehrere Dutzend Meteoriten lagen bereits am Boden ihres Wohnraums.

Korzewski kletterte auf einen der nächsten Felsen und schlug ein großes Stück Granit ab.

Außerdem bestand noch die Gefahr, in eine der Spalten zu stürzen, die die Ceres kreuz und quer durchzogen. Beim ersten Ausflug, an dem alle drei teilnahmen, wäre Korzewski beinahe in eine solche Spalte gefallen. Die Staubschicht verdeckte sie völlig, so daß»man sie gar nicht bemerkte. Wie gut, daß sie sich nach Art der Bergsteiger mit einem kräftigen Seil aneinander festgebunden hatten. Ohne diese Vorsichtsmaßnahme hätte die Sache leicht schlimm ausgehen können. Wußten sie doch nicht, wie tief diese Spalten waren.

Nachdem Korzewski, an einem langen Seil vom Raumschiff aus gesichert, den Granitbrocken geborgen hatte, beschloß Belopolski, keine weiteren Exkursionen mehr zu unternehmen.

„Jetzt müssen wir alle drei auf Hilfe warten“, sagte er. „Oder alle drei zugrunde gehen. Wir dürfen ohne ernsthaften Grund nichts mehr riskieren.“ Die beiden anderen stimmten ihm zu.

So waren die drei Kosmonauten denn auf viele Wochen, vielleicht auch für immer im Innern des Raumschiffs eingeschlossen.

Sie langweilten sich sehr. Ein Tag glich dem anderen. Belopolski stellte noch Beobachtungen an, Wtorow und Korzewski aber litten unter der Untätigkeit.

Auf die Minute genau versenkten alle zwölf Stunden die Automaten die Raumfahrer in einen achtstündigen Schlaf. Das entsprach offenbar dem Tagesrhythmus der Phaetonen, der auch jetzt von ihrem Raumschiff eingehalten wurde, ungeachtet der Bedürfnisse seiner neuen Herren. Sich gegen diesen aufgezwungenen Schlaf zu wehren war ganz unmöglich. Unüberwindliche Müdigkeit befiel die Männer, und sie schliefen ein, ob sie wollten oder nicht.

Belopolski zog daraus die Schlußfolgerung, Tag und Nacht hätten auf dem untergegangenen Phaeton zwanzig Stunden gedauert, die Bewohner aber hätten länger geschlafen als die Erdenmenschen, oder richtiger, sie seien kürzere Zeit wach gewesen.

Korzewski war anderer Meinung.

„Wenn dieser Tagesrhythmus für die Phaetonen normal war“, meinte er, „wieso brauchten sie da den künstlichen Schlaf? Ich glaube vielmehr, dies war nur bei Raumflügen ihr Rhythmus.

Sie hielten ihn dann für den zweckmäßigsten. Bei sich zu Hause aber konnten sie durchaus eine andere Tageseinteilung haben.“ Wtorow interessierten diese theoretischen Streitfragen wenig.

Mit Schrecken dachte er an die vor ihnen liegenden drei Monate Wartezeit. Drei Monate — das waren neunzig Erdentage! Womit sollte er die ausfüllen?

Die Aufgabe, die Cereslandschaft zu filmen, hatte er bereits in den ersten Tagen erfüllt. Weiter gab es nun nichts mehr aufzunehmen. Die Bücher hatten sie schon zweimal gelesen. Und schlafen? Sie schliefen ohnehin mehr als je zuvor, dank den Phaetonen.

Der trostlos-eintönige Anblick, der sich ihrem Auge hinter der durchsichtigen Wandung bot, langweilte sie zu Tode. Doch selbst nachts wagte Wtorow die Wände nicht zu „schließen“.

Belopolski hatte es kategorisch untersagt. Er befürchtete, die unbekannte Energie, die die rätselhaften Mechanismen zur Steuerung der Durchsichtigkeit speiste, könnte sich erschöpfen.

Eingeschlossen zu sein aber, ohne eine Möglichkeit, nach draußen zu blicken, das wäre zu schrecklich. Aus demselben Grunde beanspruchten sie auch die Türautomatik so wenig wie möglich.

„Wir sitzen in einem Gefängnis“, sagte Korzewski. „Verurteilt zu drei Monaten Haft.“ Drei Monate! Sie sprachen nur von dieser Frist und verschlossen bewußt die Augen davor, daß sie eine Mindestfrist darstellte. Hilfe konnte nur dann in drei Monaten eintreffen, wenn das betreffende Raumschiff noch am selben Tag, da sich die Katastrophe mit dem „Phaetonen“ ereignet hatte, von der Erde gestartet war.

Wenn man nun aber in der Heimat noch abgewartet hatte?

Vielleicht mehrere Tage oder gar eine ganze Woche?

Doch im Grunde blieb es für sie ja ganz gleich, ob eine Woche oder ein Jahr. Länger als zwölf Wochen konnten sie sowieso nicht durchhalten.

Als er am ersten Tag ihres Ceresaufenthalts von den Lebensmitteln sprach, hatte Korzewski nicht an das Wasser gedacht.

Der Mensch aber geht bekanntlich eher an Durst als an Hunger zugrunde.

Schon bei der Ausrüstung des „Phaetonen“ für den Flug zur Ceres hatte gerade das Wasser ihnen die größten Schwierigkeiten bereitet. In der „SSSR-KS 3“ wurde es in mächtigen Behältern aufbewahrt, von denen jedoch kein einziger durch die fünfeckigen Türöffnungen des ringförmigen Raumschiffes gegangen war. So hatte man es in leere Sauerstoffflaschen füllen müssen, die nicht in genügender Anzahl zur Verfügung standen. Ihr Wasservorrat war auf knapp vier Monate berechnet gewesen, so würde er jetzt selbst bei strengster Sparsamkeit in zwölf Wochen erschöpft sein.

Von dieser Seite drohte ihnen also die größte Gefahr, und sie waren machtlos dagegen. Jene phaetonischen Automaten, die Melnikow und Wtorow viele Tage lang auf wunderbare Weise „gespeist“ und „getränkt“ hatten, funktionierten nicht mehr.

Wahrscheinlich teilten sie das Schicksal der Triebwerke.

Die Luft war bis jetzt noch frisch und rein. In dieser Hinsicht hatten die Phaetonen besser vorgesorgt. Aber welche Garantie gab es, daß es bis zum Schluß so bleiben würde? Auch der Sauerstoff konnte sich erschöpfen.

„Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben“, sagte Belopolski mit unerbittlicher Logik, als seine Kameraden ihn deswegen befragten. „Können wir denn mit Sicherheit sagen, daß Hilfe innerhalb von drei Monaten hier eintrifft? Es ist doch viel eher anzunehmen, daß man auf der Erde abwarten wird, in der Annahme, wir verweilten absichtlich länger auf der Ceres. Dafür könnte es viele Gründe geben. Erst wenn alle erdenklichen Fristen verstrichen sein werden, wenn offensichtlich geworden ist, daß wir in Not gerieten, erst dann wird ein Raumschiff ausgerüstet werden, um uns zu retten. Das dauert seine Zeit.

Dabei entfernen sich Erde und Ceres immer weiter voneinander.

Jeder Tag bedeutet Hunderttausende von Kilometern, Dutzende von Stunden mehr.“ Wtorow und Korzewski hatten den Eindruck, Belopolskis Gesicht werde um so heiterer und ruhiger, je hoffnungsloser seine Schlußfolgerungen waren.

„Er möchte sterben“, sagte Wtorow einmal, als er mit Korzewski allein war. „Er hat Angst vor der Rückkehr zur Erde.“

„Vielleicht“, erwiderte der Biologe. „Aber er hat auch recht.“ Es schien, sie hätten nichts mehr zu erhoffen, dennoch hofften sie weiter. Der Mensch findet immer noch einen Strohhalm, an den er sich klammert. Selbst ein zum Tode Verurteilter, der bereits auf dem Schafott steht, hofft weiter. Der Selbsterhaltungstrieb ist übermächtig.

Die Kosmonauten berechneten die Zeit nach irdischen Stunden. Um die Sonnenauf- und — Untergänge der Ceres kümmerten sie sich nicht. Sie lebten ihren eigenen Rhythmus.

Am elften Tag ihrer Gefangenschaft verrieten erste Anzeichen, daß die Sauerstoffvorräte zur Neige gingen.

Wtorow stellte beim Erwachen fest, daß ihm das Atmen schwerfiel. Ihm schwindelte, und er verspürte leichte Übelkeit.

Die Luft war offensichtlich mit Kohlensäure, dem Produkt der Atmung, übersättigt. Mit der automatischen Zufuhr frischer Luft klappte etwas nicht.

Wtorow erschrak nicht. Mit einer Unbewegtheit, die ihn selbst in Erstaunen setzte, konstatierte er, daß wahrscheinlich das Ende gekommen sei. Unbewußt jedoch — es war ihm während der fast zwei Monate im Raumschiff der Phaetonen schon zur Gewohnheit geworden — gab er den gedanklichen Befehl, die Luft zu reinigen.

Die geheimnisvollen Empfänger nahmen seinen Wunsch entgegen und erfüllten ihn. Mit unfaßbarer Geschwindigkeit wurde die Luft erneuert. Das ging so blitzschnell, daß Belopolski und Korzewski, die kurze Zeit nach Wtorow erwachten, von allem nichts gemerkt hätten, wenn Wtorow es ihnen nicht sofort erzählt hätte.

Dennoch war das Ganze ein alarmierendes Zeichen.

Die für die Luft verantwortlichen Automaten konnten nicht ohne Energie arbeiten. Ihre Energie aber ging zur Neige. Sie funktionierten nicht mehr ununterbrochen. Während die Menschen schliefen, hatten sie ihre Arbeit eingestellt. Erst Wtorows „Befehl“ hatte sie wieder zum Leben erweckt. Aber für wie lange?

„Das ist das Ende!“ war alles, was Belopolski auf Wtorows Mitteilung sagte.

Drei Stunden später wiederholte sich der Vorgang. Jetzt konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der Tod früher kam, als sie gedacht hatten. Die sorgsam und streng durchgeführte Rationierung der Lebensmittel war sinnlos geworden.

Sie konnten wieder soviel essen und trinken, wie sie wollten.

Das Ende nahte von einer ganz anderen Seite — sie würden ersticken.

„Eine Zeitlang können wir noch von dem Sauerstoff in den Flaschen leben“, erklarte Belopolski ruhig.

„Jetzt ist es Zeit, sich an die Pistolen zu erinnern“, sagte Korzewski.

Belopolski zuckte zusammen.

„Geben Sie die Pistole her!“ befahl er.

„Nein.“ Korzewski verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. „Die gebe ich nicht her! Sie können mir nicht die Freiheit nehmen, mich von meinen Qualen selbst zu befreien.“ Belopolski trat auf den Biologen zu.

„Ich befehle es Ihnen“, sagte er kalt. „Die Pistole!“ Und so stark war die Gewohnheit, sich diesem Mann widerspruchslos unterzuordnen, daß Korzewski seine Waffe abgab.

Dann warf er sich zu Boden und blieb reglos liegen.

„Auch Ihre!“ wandte sich Belopolski an Wtorow.

Der junge Ingenieur zuckte mit den Schultern.

„Nehmen Sie sie, wenn Sie wollen“, sagte er und holte die Pistole aus der Tasche. „Ich brauche sie nicht. Aber was mich betrifft, da können Sie beruhigt sein. Ich bin ein Kosmonaut und kein hysterisches Weib.“ Die letzten Worte galten Korzewski. Wtorow bediente sich der Methode, die Melnikow ihm gegenüber mehrfach angewandt hatte.

„Schön!“ sagte Belopolski. „Behalten Sie sie.“ Er schwieg, als hänge er seinen Gedanken nach; dann fügte er hinzu: „Unser Tod ist nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Raumfahrt.

Auch in Zukunft werden noch viele Kosmonauten in schwierige Situationen geraten. Was für ein Beispiel wollen wir ihnen da geben? Wie uns verhalten? Früher oder später wird man uns auffinden. Dann wird auch die Ursache unsere Todes bekanntwerden. Selbstmord! Das ist das Allereinfachste! Wir dürfen nicht nur an uns denken — mit uns ist es sowieso aus —, an die anderen müssen wir denken. Wir dürfen keinen Präzedenzfall schaffen.“ Korzewski setzte sich auf. Zu Wtorows Verwunderung war sein Gesicht ganz ruhig.

„Daran habe ich nicht gedacht“, sagte er. „Sie haben recht, Konstantin Jewgenjewitsch.“

„Sie hätten aber daran denken müssen.“ Wtorow mußte unwillkürlich lachen. Belopolski hatte das in einem gutmütig-brummigen Ton gesagt, der ganz und gar nicht dem Gewicht ihrer Unterhaltung entsprach. Als sei nicht von Leben und Tod die Rede gewesen, sondern von etwas Belanglosem.

Im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden arbeiteten die phaetonischen Automaten wieder einwandfrei. Während dieser Zeit schliefen die Kosmonauten erneut acht Stunden, ungeachtet der Gefahr, vielleicht nicht wiederaufzuwachen.

Der zwölfte Tag ihres Aufenthaltes auf der Ceres brach an.

Gegen Abend dieses Tages nahmen die Unterbrechungen in der Sauerstoffzufuhr einen bedrohlichen Charakter an. Zum erstenmal mußten sie zum irdischen Sauerstoff ihre Zuflucht nehmen.

„Ob wir’s mal mit einem anderen Raum probieren?“ schlug Wtorow vor.

Wirklich. Vielleicht funktionierten die Luftautomaten nur in dieser Abteilung nicht mehr, während die anderen ihre „Lebensfähigkeit“ noch bewahrt hatten. Die phaetonischen Mechanismen handelten vernünftig und hatten dort, wo sich niemand aufhielt, bestimmt nicht gearbeitet.

Doch wohin sie auch kamen, überall war es dasselbe. Offenbar wurde die gesamte Luftregelung des Raumschiffes von ein und derselben Quelle gespeist.

So zerschlug sich auch diese letzte Hoffnung.

Sie kehrten „nach Hause“ zurück.

Die Zeit blieb für sie stehen. Jeder versank in Gedanken und bereitete sich auf seine Art auf den nahen Tod vor. Sie sprachen sehr selten, und wenn, dann nur wenige Worte. Worüber sollten sie sich auch noch unterhalten!

Wenn Schlafenszeit war, legten sie sich in der stillen Hoffnung nieder, im Schlaf zu ersticken, nicht wiederaufzuwachen.

Sie hatten noch zwei volle Sauerstoffflaschen zu ihrer Verfügung. Wenn die phaetonischen Automaten nicht vollends versagten, reichten sie damit noch einige Tage.

Korzewski sprach das Wort Selbstmord nicht mehr aus. Obwohl Belopolski die abgenommene Pistole nicht wegschließen konnte und sie ganz offen in einer Ecke lag, schenkte der Biologe ihr keinen Blick. Er hatte eingesehen, daß es ihre Pflicht war, bis zum Ende auszuharren. Um derer willen, die ihre Arbeit, aus der sie Zufall und menschlicher Irrtum herausgerissen hatten, fortsetzen würden.

Mit einer für ihn selbst erstaunlichen Beharrlichkeit beobachtete Belopolski weiterhin die Sterne und machte Aufzeichnungen darüber.

So vergingen zwei weitere Erdentage.

Anzeichen für ein endgültiges Versagen der Automaten stellten sich nicht ein. Sie arbeiteten, wenn auch mit häufigen Unterbrechungen, nach wie vor. Allmählich schöpften die drei wieder Hoffnung.

Wer weiß! dachte ein jeder von ihnen, vielleicht arbeiten sie noch die ganzen drei Monate so weiter.

Die beiden Sauerstoffflaschen blieben unangetastet.

Die drei Männer erwachten zu neuem Leben. Wie vorher führten sie häufige und lange Gespräche, aßen sie mit Appetit.

Und wie vorher rationierten sie das Wasser.

Die Eigenschaft des Menschen, sich beliebigen Bedingungen anzupassen und sich sogar an den Todesgedanken zu gewöhnen, ist erstaunlich. Erstaunlich und schwer zu erklären.

Der (irdische) Morgen des fünfzehnten Tages fiel mit dem Morgen auf der Ceres zusammen. Über dem Raumschiff und dem fernen Moskau ging die Sonne zu gleicher Zeit auf. Zufällig erwachten die Kosmonauten auch gerade in diesem Augenblick.

Belopolski, dem das Zusammentreffen nicht entgangen war, machte seine Kameraden darauf aufmerksam.

„Moskau!“ seufzte Wtorow. „Sonnenaufgang auf der Erde!

Morgen und blauer Himmel mit rosa Wolken!“ Er hob das Gesicht zum sternenübersäten schwarzen Cereshimmel und sprang plötzlich, wie von der Tarantel gestochen, auf.

Auch Belopolski und Korzewski sprangen aus ihren Hängematten.

Mit atemberaubender Schnelligkeit war etwas über sie hinweggejagt. Sie sahen nur noch eine feurige Linie am nahen Horizont — als sei in der sie umgebenden Leere ein langer Blitz aufgeflammt.

„Ein Meteor!“ schrie Korzewski.

Belopolski wurde blaß.

„Ein Meteor?“ fragte er mit gepreßter Stimme. „Meteore hinterlassen eine feurige Spur, wenn sie in der Atmosphäre verglühen, sie verbrennen durch die Reibung mit der Luft. Aber hier gibt es keine Luft, keine Atmosphäre.“

„Was ist es dann?“ Belopolski gab keine Antwort. Er starrte in die Richtung, in der der unbekannte Gegenstand verschwunden war. Langsam kehrte wieder Farbe in sein Gesicht zurück.

„Das ist doch nicht möglich!“ flüsterten seine Lippen lautlos.

Eine törichte Hoffnung bemächtigte sich der dem Untergang geweihten Männer. Sie keuchten vor Erregung; die Spannung schien unerträglich.

Alle drei standen regungslos da und wandten kein Auge vom Horizont, als hofften sie, der unbekannte Körper, dessen mögliche Bezeichnung sie nicht einmal in Gedanken auszusprechen wagten, kehrte zurück.

Er kehrte nicht zurück.

Etwa drei Minuten vergingen. Da huschte wieder etwas in derselben Richtung über sie hinweg. An derselben Stelle tauchte ein Feuerschweif auf und verschwand wieder — zum zweitenmal war es wie das Aufflammen eines Blitzes

„Es besteht kein Zweifel“, sagte Belopolski. „Aber wieso?

Woher?“

„Ein Raumschiff, ein Raumschiff!“ schrie Wtorow.

Der Körper huschte zum drittenmal über sie hinweg. In den Strahlen der Sonne sahen sie einen länglichen Rumpf aufblitzen.

Diese Form war ihnen nur zu gut bekannt.

Das Raumschiff überflog sie ein viertes, fünftes und sechstes Mal.

Wo mochte es herkommen? In fünfzehn Tagen konnte es unmöglich von der Erde zur Ceres gelangt sein.

Sein Flug wurde immer langsamer. Es schien landen zu wollen.

Wußte der Kommandant, daß auf diesem Planeten drei Menschen der Hilfe bedurften? Oder war er zufällig hier aufgetaucht, ohne etwas vom Schicksal des „Phaetonen“ zu ahnen?

Belopolski war bekannt, daß seinerzeit auf der Erde für die nächsten Monate kein einziger Raumschiffstart geplant gewesen war. Nur die „SSSR-KS 3“ sollte unterwegs sein, aber die war ja zurückgekehrt.

Was für ein Schiff war dies also? Vielleicht war die „SSSR-KS 3“ ihnen doch gefolgt? Die Rumpfform schien im großen und ganzen die gleiche, aber Belopolski kam es so vor, als sei sie ein wenig länger und schmaler.

Nein, das war nicht die „SSSR-KS 3“!

Das fremde Schiff kreiste weiter um die Ceres. Es flog jetzt mit der Geschwindigkeit eines Düsenflugzeuges, immer noch zu schnell, um es deutlich erkennen zu können. Von einem Horizont der Ceres bis zum anderen war es nicht weit.

Wo würde es niedergehen? Sah sein Kommandant auf der silbrigen Ebene die gelbgrauen Ringe des „Phaetonen“? Zwar flog es jedesmal unmittelbar über sie hinweg, doch auch das konnte Zufall sein.

Aber vielleicht dachte der Kommandant des Raumschiffs gar nicht daran, zu landen? Vielleicht würde er, nachdem er den Planeten mit verringerter Geschwindigkeit umkreist und betrachtet hatte, seinen Flug fortsetzen. Weshalb sollte ’er auch landen, wenn er nichts von der Anwesenheit des „Phaetonen“ ahnte?

„Vielleicht ist das gar kein Raumschiff von der Erde“, sagte Wtorow plötzlich.

„Es könnte natürlich sein“, sagte Belopolski, ohne seine Worte zu beachten, „daß in irgendeinem Lande ein Raumflug ohne Wissen des Kosmischen Instituts beschlossen wurde. Dann ist das Schiri jedoch schon lange unterwegs, und sein Kommandant weiß nichts vom ›Phaetonen‹. Jedenfalls ist er nicht unseretwegen hierhergeflogen. Die Entfernung konnte er unmöglich in so kurzer Zeit zurücklegen.“ Wieder tauchte das Raumschiff am Horizont auf. Jetzt flog es schon ganz langsam und blieb ununterbrochen sichtbar. Es zog weite Kreise über dem „Phaetonen“, als wolle es damit zeigen, daß es ihn sah.

Der Metallrumpf glänzte matt in der Sonne. Bei dem Fehlen einer Atmosphäre war die unbeleuchtete Seite jedoch nicht zu sehen, und es schien, als fliege über der Ceres nur eine groteske Raumschiffhälfte.

Die Form ließ keine Zweifel, daß es sich um ein irdisches Raumschiff handelte. Belopolski hatte sich nicht geirrt: es war länger und schmaler als die „SSSR-KS 3“.

„Ich kann mich nicht erinnern, in welchem Lande sie solche Schiffe bauen“, sagte Belopolski. „Einen Rumpf von solcher Länge habe ich noch nicht gesehen.“

„Worauf warten wir noch!“ meinte Wtorow. „Sie landen gleich. Wir müssen ihnen entgegengehen.“ Rasch zogen sie die Raumanzüge an.

Als sie die zentrale Kugel verließen, setzte das rätselhafte Schiff gerade mit ebensolchen „Pfoten“, wie sie die „SSSR-KS 3“ hatte, auf.

Sein mächtiger Rumpf überragte die niedrigen Ringe des „Phaetonen“ beträchtlich. An der Spitze leuchtete in goldenen Lettern der Name.

Er lautete „Prince of Wales“.

Darunter stand: „Großbritannien.“

Am Ziel

Sobald Melnikows und Belopolskis Entschluß, den „Phaetonen“ zur Ceres zu steuern, auf der Erde bekannt wurde, erfaßte alle Mitarbeiter der Raumfahrt Unruhe und Besorgnis.

Bald folgte die Meldung, daß der „Phaetone“ seine Geschwindigkeit auf einhundertzwanzig Kilometer in der Sekunde gesteigert habe.

Allen war klar, daß keine Veranlassung bestand, in die gänzlich unbekannte phaetonische Technik so große Erwartungen zu setzen und sie für unbegrenzt leistungsfähig zu halten. Alle sahen auch die drohende Gefahr, in der die drei Männer schwebten.

Es drängte sich die Frage auf, wie es hatte geschehen können, daß Melnikow und Belopolski einen derart entscheidenden Umstand nicht bedachten. Wie konnte die an und für sich verständliche Sorge um die Erhaltung des Phaetonen sie gegenüber elementarer Logik so blind machen?

Man erinnerte sich der Behauptungen verschiedener Wissenschaftler, die noch während der Vorbereitungsperiode kosmischer Flüge über den Einfluß des Kosmos auf die Psyche des Menschen geschrieben hatten.

Die Bedingungen des interplanetaren Fluges seien ungewöhnlich, die Verhältnisse außerhalb des Bereichs der Erde fremd, hatten sie behauptet. Generation um Generation habe der Mensch Zehn-, ja Hunderttausende von Jahren auf der Erde gelebt, und das Bewußtsein ihrer ständigen Gegenwart sei tief in ihm verwurzelt. Das in Jahrtausenden Gewachsene lasse sich schwer ausmerzen. Es sei nicht leicht, auf der Erde zu gehen. Aber sobald der Mensch den Schritt ins Weltall gewagt habe, müsse er auch dort „gehen“ lernen.

Auf der Erde sei der Boden fest, die Atmosphäre dicht und der Gesichtskreis durch den Horizont begrenzt. Seit eh und je.

Im Weltraum aber verschwinde die Schwerkraft, ringsum sei absolute Leere und Grenzenlosigkeit. Man brauche Zeit, um sich daran zu gewöhnen.

Die Gesetze des Lebens im All seien von den Menschen noch nicht erforscht. Aber sie unterschieden sich von denen auf der Erde.

Nur dadurch ließ sich offenbar das merkwürdige und unbegreifliche Verhalten Belopolskis erklären, der für seinen streng logischen, mathematischen Verstand bekannt war.

Auch Melnikow, der „eiserne Kosmonaut“, wie er oft unter Raumfahrern genannt wurde, war offensichtlich den Einflüssen des Kosmos erlegen.

Man darf sich nicht zu lange von der Erde entfernen! folgerte man.

„In den letzten Jahren hat der Mensch einen Sieg nach dem anderen über den Kosmos davongetragen“, sagte zu dieser Frage Professor Collins, ein bekannter Wissenschaftler. „Und er hat sich daran gewöhnt. Das ist gefährlich. Er vergißt leicht, daß das Weltall noch nicht bezwungen ist. Mit dem Kosmos muß man vorsichtig umgehen, sonst zeigt er uns noch mehr als einmal die Zähne.“ In Äußerungen dieser Art steckte eine Menge Wahrheit.

Die Warnung vor dem „Erfolgstaumel“ war keine leere Phrase. Er war tückisch und befiel den Menschen unmerklich.

Die Männer der „SSSR-KS 3“ hatten einen an Triumphen reichen Weg zurückgelegt. Sie besuchten die Arsena, wurden mit der ihnen feindlichen Natur der Venus fertig, und selbst das Raumschiff der Phaetonen, die Schöpfung einer anderen Welt, machten sie sich Untertan. Da war es schwer für sie, die eigene Macht nicht zu überschätzen. Daraus entstanden die Fehler.

Noch am selben Tage, an dem Kamow gemeldet wurde, daß Belopolski die Geschwindigkeit seines Raumschiffes gesteigert habe, fand eine Sondersitzung des wissenschaftlichen Rates des Kosmischen Institutes statt.

Kamow hielt ein kurzes Referat.

„Nach allem, was wir bis jetzt von den Phaetonen wissen“, sagte er, „müssen wir annehmen, daß sie seinerzeit zu ihrem Weltraumflug gestartet sind, ohne etwas vom nahen Untergang ihres Planeten zu ahnen. Ihre Ziele waren der Mars, die Erde und die Venus. Nehmen wir an, auch noch der Merkur. Bei der Berechnung der für die Triebwerke benötigten Treibstoffmenge mußten sie also von dieser Flugroute ausgehen. Fünf Starts und fünf Landungen. Über welche Energiequellen sie auch auf dem Phaeton verfügt haben mögen, ich kann mir nicht vorstellen, daß es ihnen gelungen sein soll, in dem verhältnismäßig kleinen Raumschiff eine noch größere Menge potentieller Energie unterzubringen, als für die genannte Flugroute benötigt wurde.

Ziolkowskis Formel ist unumstößlich. In meinen Prognosen muß ich von ihr ausgehen. Bekanntlich haben die Phaetonen den Mars, die Erde und die Venus besucht. Außerdem sind sie auf der Arsena gelandet und zur Umlaufbahn des Phaeton zurückgekehrt. Das ist viel für einen Flug. Unsere Technik wäre dazu noch nicht imstande. Halten wir uns jetzt eine andere Tatsache vor Augen. Die Phaetonen blieben für immer auf der Venus.

Dabei wären die klimatischen Bedingungen auf unserer Erde für sie viel günstiger gewesen. Diesen Flug unternahmen sie jedoch nicht mehr. Warum? Weil ihre Treibstoffvorräte dazu nicht ausgereicht hätten. Sie wußten, daß sie nicht von der Venus starten und auf der Erde landen konnten. Das ist mehr als wahrscheinlich, das ist offensichtlich. Was aber ist jetzt geschehen? Melnikow und Wtorow sind von der Venus gestartet.

Sie haben zahlreiche Manöver ausgeführt und dabei viel Energie verbraucht, und die hatte so nicht gereicht, um zur Erde zu fliegen und auf ihr zu landen. Dann hat Belopolski das Raumschiff über eine Stunde lang mit Beschleunigung fliegen lassen.

Mich wundert sogar, daß ihm das noch gelungen ist. Wer will behaupten, daß nach all dem der Treibstoffvorrat im phaetonischen Raumschiff nicht zur Neige ginge? Wir hatten ihnen empfohlen, den ›Phaetonen‹ zum Mond zu steuern. Hätte er von dort nicht mehr weiter gekonnt, wäre er auf jeden Fall erreichbar gewesen. Man hätte das Raumschiff leicht auseinandermontieren und stückweise zur Erde schaffen können.

Jetzt wissen wir, daß wir diesen Flug nicht hätten empfehlen, sondern befehlen müssen. Aber kehren wir zu den Tatsachen zurück. Sie besagen, daß außer dem Raumschiff der Phaetonen drei Menschenleben auf dem Spiel stehen. Ich lege dem Rat hiermit zwei Fragen vor. Besteht Hoffnung, daß es Belopolski gelingt, den Flug seinem Plan entsprechend glücklich auszuführen? Und wenn nicht, was unternehmen wir zur Rettung der Männer?“ Auf die erste Frage erfolgte die Antwort einstimmig: „Nein, auf die Treibstoffvorräte des ›Phaetonen‹ können wir unsere Hoffnung nicht setzen!“

„Was ist dann zu tun?“ fragte der Vorsitzende.

Ingenieur Semjonow, einer der leitenden Mitarbeiter des Kosmischen Instituts, erhob sich.

„Die ›KS 3‹ kehrt in zwölf Tagen zur Erde zurück“, sagte er.

„Wir müssen sie sofort für einen Flug zur Ceres ausrüsten. Sobald wir sehen, daß der ›Phaetone‹ nicht wiederauftaucht, startet sie.“

„Das bedeutet, daß wir einen ganzen Monat verlieren.“

„Aber was können wir sonst tun? Die ›KS 3‹ ist in Generalüberholung. Andere Raumschiffe, die einen so langen Flug unternehmen könnten, haben wir nicht.“

„Und wenn dem ›Phaetonen‹ nun nicht einmal mehr die normale Landung auf der Ceres glückt und er abstürzt?“ fragte Woloschin. „Wie klein der Asteroid auch ist, seine Anziehungskraft reicht aus, das Raumschiff zu Bruch gehen zu lassen. Dabei können die Männer durchaus am Leben bleiben. Aber sind sie in der Lage, drei Monate zu warten?“

„Nicht einen einzigen. Früher als in zweiundsiebzig Tagen aber ist die Ceres nicht zu erreichen.“ Wieder stand Kamow auf und sagte: „Genossen! Ich habe einen Funkspruch von William Jenkins erhalten. Er kann sofort mit seinem in England neuerbauten Raumschiff, dem ›Prince of Wales‹, losfliegen. Es ist startbereit, da beabsichtigt war, ihn zur Venus zu schicken. Jenkins erklärt, daß er und seine Mannschaft unserem Institut zur Verfügung stehen.“

„Aber seine Geschwindigkeit beträgt, soviel ich weiß, nur fünfzig Kilometer in der Sekunde“, wandte Woloschin ein.

„Falls die drei mit dem ›Phaetonen‹ wirklich Bruch gebaut haben, ist das zuwenig.“

„Hören Sie, was er uns noch mitteilt“ Kamow holte das Telegrammformular hervor. „›Ich und meine Kameraden schlagen eine Beschleunigung von fünfunddreißig Meter pro Sekundenquadrat vor. Dadurch könnten wir eine Geschwindigkeit von vierundachtzig Kilometern erreichen. Die Entfernung zur Ceres würde in eintausend Stunden bewältigt werden.‹ Ich brauche Ihnen nicht zu erläutern, was die Engländer damit auf sich nehmen, um unsere Kameraden zu retten. Der ›Prince of Wales‹ ist ein mächtiges Raumschiff. In mancher Beziehung übertrifft er noch die ›KS 3‹. Wir müssen den Engländern dankbar sein, da unsere ›SSSR-KS 4‹ das Werk noch nicht verlassen hat. Aber haben wir das Recht, das angebotene Opfer anzunehmen? Vierzig Minuten einer derart hohen Beschleunigung gefährden die Gesundheit.“

„Auf die Frage gibt es nur eine Antwort“, sagte Woloschin.

„Wir können Jenkins’ Angebot nicht ablehnen. Ich schlage vor, daß wir uns mit ihm in Verbindung setzen und ihn noch einmal auf die Gefahr hinweisen, die er womöglich unterschätzt. Das Weitere ist dann ihre Sache.“ So kam es, daß die dem Untergang auf der Ceres geweihten Kosmonauten von der „Prince of Wales“ gerettet wurden.

Ohne Zögern vollbrachten William Jenkins und seine sieben Kameraden diese große Tat. Und sie kamen nicht eine Minute zu spät!

Fast gleichzeitig mit ihrem ersten Aufkommen hatte die Raumfahrt der Erde bereits die engen nationalen Grenzen gesprengt, war sie zu einer Sache der gesamten Menschheit, zu einer internationalen Kollektivaufgabe geworden. Und es ist allgemein bekannt, wie stark ein Kollektiv ist.

Mit Recht konnten die Engländer auf ihre Helden stolz sein, aber hätten die Kosmonauten in anderen Ländern nicht genauso gehandelt? Menschen, die an ein und derselben Aufgabe arbeiten, kennen keine nationalen Unterschiede, wenn es zu helfen gilt.

Roald Amundsen fand bei dem Versuch den Tod, seinen persönlichen Feind, den Italiener Nobile, zu retten. Beide waren Polarforscher. Dahinter hatten persönliche oder nationale Belange zurückzutreten.

William Jenkins, der Engländer, rettete Konstantin Belopolski, den Russen. Ebensogut hätte es umgekehrt sein können.

Angesichts des Kosmos sind die Menschen aller Länder gleich — eine einzige Familie!

Schon der Charakter ihrer Arbeit hält aus ihrem Denken den ganzen Kehricht nationaler Gegensätze fern.

Das Ziel ist der Kosmos.

Heimat ist die Erde!

Die einander kreuzenden Arme der von allen Seiten auf das Flugfeld des Kosmodroms gerichteten Scheinwerfer verwandelten die Nacht in Tag. Vier lange, gleich hellen Säulen steil emporragende Scheinwerferkegel zeigten dem sich nähernden Raumschiff den Landeplatz.

Wie immer bei solchem Ereignis war die Einzäunung mit unzähligen Fahnen geschmückt.

Endlose Autokolonnen füllten die Straßen von Kamowsk, und trotz der späten Stunde hatte sich rings um das Feld eine große Menschenmenge eingefunden.

Auf dem Empfangsgebäude wehten die Nationalflaggen Großbritanniens und der UdSSR auf halbmast. Vertreter aller Völker der Erde erwarteten schweigend den „Prince of Wales“.

Auf dem Dach des Gebäudes hatten sich Kosmonauten aller Länder versammelt. Sie waren nach Moskau gekommen, um jenen Mann zu empfangen, der viele Jahre der Stolz ihrer großen Familie gewesen war, ihn, dessen Name mit allen Erfolgen des menschlichen Geistes über die Gewalten des Kosmos untrennbar verknüpft war.

Jetzt kehrte er von seinem letzten Flug zurück.

Für immer!

Regungslos hielt die Mannschaft der „SSSR-KS 3“ an seinem mit Trauerflor umwundenen Bild Ehrenwache.

Belopolskis geheimer Wunsch war in Erfüllung gegangen.

Das Raumschiff brachte ihn als Toten zur Erde zurück.

Unweit der Heimat, an Bord der „Prince of Wales“, hatte das Herz des zweiten „Sternenkapitäns“ der Erde zu schlagen aufgehört.

Am Teleskop, auf Posten hatte ihn der Tod überrascht. Die pausenlosen Schicksalsschläge waren selbst für sein stählernes Herz zuviel gewesen.

Gewiß, er hatte Fehler gemacht! Aber wer macht keine?

Nun, da er nicht mehr war, hatte man sie vergessen. Zu der Stunde, da sich Jenkins’ Raumschiff Moskau näherte, gingen in allen Hauptstädten der Welt die Flaggen auf halbmast.

Die Erde bezeigte ihrem großen Sohn Achtung und Dankbarkeit.

Die Trauermusik der Orchester ging in dem mächtigen Getöse der Triebwerke unter. In Flammenwirbel gehüllt, setzte die riesige Rakete auf dem Boden auf.

Kaum waren die „Pfoten“ eingezogen, trat Stille ein.

Fanfarenklänge stiegen über dem Feld empor. Den Menschen schien es, als kündeten sie nicht vom Tod, sondern vom triumphierenden Leben.

Salutschüsse erschütterten die Luft.

Ein kosmischer Geländewagen, ohne Verdeck, fuhr auf das Raumschiff zu. Er sollte den stählernen Sarg mit dem Leichnam des Kosmonauten übernehmen.

Dieser Sarg war während des Rückfluges unter den liebevollen Händen der Kosmonauten aus Ersatzteilen entstanden.

Noch zwei weitere Opfer hatte der Flug der „SSSR-KS 3“ zur Venus gekostet. Sie ruhten fern der Heimat. Aber die Zeit würde kommen, da man sie mit den gleichen Ehren und mit der gleichen Achtung und Dankbarkeit heimholte.

Die Menschheit vergißt diejenigen nicht, die ihr Leben für sie hingegeben haben. Sie sind unsterblich!

Schon arbeiteten in ihren Ateliers berühmte Bildhauer und Architekten daran, den drei Toten ein würdiges Denkmal zu schaffen. Für ewige Zeiten würde es hier auf dem Flugfeld stehen.

Es gibt merkwürdige Zufälle.

Nach einer Beratung mit Belopolski hatte William Jenkins beschlossen, die gesamte Ausrüstung des „Phaetonen“, soweit sie sich, und sei es auch nur teilweise, demontieren ließ, mit zur Erde zu nehmen. Jetzt brauchten sie keine Rücksicht mehr auf die Mechanismen und Anlagen zu nehmen, da diese ohnehin für immer auf der Ceres bleiben mußten. Die irdische Wissenschaft aber konnte auch an Hand der Einzelteile vieles erkennen.

Der „Phaetone“ widersetzte sich jedoch der menschlichen Absicht. Nachdem die drei Männer ihn verlassen hatten, ließ sich die Tür zum Zentrum nicht wieder öffnen. Da halfen alle Versuche nichts, die quadratischen Vorsprünge hineinzudrücken, und auch Wtorows „Befehle“ blieben ohne Wirkung. Der Weg ins ringförmige Raumschiff war durch die feste, glatte Wand versperrt.

Weder die heiße Flamme eines Schneidbrenners noch Thermit richteten gegen die Härte des gelbgrauen Metalls etwas aus, das nicht einmal die mit kosmischer Geschwindigkeit auftreffenden Meteoriten hatten durchschlagen können.

Alles war vergebens.

Die Geheimnisse des „Phaetonen“ mußten unangetastet und rätselhaft wie zuvor auf der Ceres zurückbleiben.

„Wie gut, daß wir das Schiff vor dem Eintreffen der ›Prince of Wales‹ nicht mehr verlassen haben“, bemerkte Wtorow.

Nun hatten die Türautomaten zum letztenmal ihre Pflicht getan. Das Raumschiff war „gestorben“. Und die „Prince of Wales“ brachte nichts zur Erde mit, was sein vieltausendjähriges Geheimnis hätte aufklären können.

Alle Hoffnungen richteten sich jetzt nur noch auf die Arsena.

Dort, in dem runden Talkessel lagen unter Granitfiguren, die Körper eines einfachen kubischen Systems darstellten, Behälter verborgen, die es herauszuholen und zur Erde zu schaffen galt.

Niemand zweifelte daran, daß sie Material enthielten, das die gesamte Technik der Erde revolutionieren und endlich auch Licht in den rätselhaften Untergang des fünften Planeten bringen würde.

Waren die Phaetonen des ringförmigen Raumschiffes, das man auf der Venus gefunden hatte, die einzigen, die die Katastrophe überlebt hatten? Was war aus den anderen geworden? Hatten sie bei dem außergewöhnlich hohen Entwicklungsstand ihrer Wissenschaft wirklich nichts von der ihnen drohenden Gefahr gewußt und keine Maßnahmen zur eigenen Rettung getroffen?

Das war doch kaum anzunehmen.

Auf zur Arsena! forderte einmütig und unüberhörbar die Weltöffentlichkeit.

Auf zur Arsena! verlangten die Kosmonauten.

Aber die Technik der Erde konnte dem weltweiten Wunsch noch nicht entsprechen.

Die Arsena entfernte sich immer mehr, die Sonne umrundend, von der Erde. Das Apogäum ihrer Umlaufbahn befand sich hinter der Bahn des Jupiter. In einem Jahr würde der Asteroid diesen Punkt erreicht haben und sich danach wieder in Richtung Sonne zurückbewegen. Erst dann konnte man ihm entgegenfliegen.

Es galt also, fast zwei Jahre zu warten.

Ungeduldige Gemüter entwarfen alle möglichen Projekte, um das Raumschiff der Phaetonen zur Erde zu schaffen. Aber selbst wenn es sich als möglich erweisen sollte, den Ring von zweihundert Meter Durchmesser „abzuschleppen“, man mußte warten, lange warten.

So gewaltig sind die Ausmaße des Weltalls, daß der Mensch selbst innerhalb seines Sonnensystems, „bei sich zu Hause“, nicht immer fliegen kann, wohin er will. Die Entfernung, auf der Erdoberfläche bereits überwunden, stellt sich den Kosmonauten oft als unüberwindliches Hindernis in den Weg. Als einstweilen noch unüberwindliches. Erst wenn die Technik gelernt hat, annähernde Lichtgeschwindigkeit zu erzielen, wird diese Schranke fallen.

Belopolskis Expedition hatte nicht nur die Phaetonen entdeckt. Da waren auch noch die Venusianer. Die Rätsel der Schwester der Erde wollten ebenfalls gelöst sein.

Viel harte Arbeit stand bevor. Eifrig bereiteten sich die Kosmonauten darauf vor.

Die Engländer hatten ihr Raumschiff für einen Flug zur Venus gebaut. Aber statt zur Venus war es zur Ceres geflogen.

Jetzt hieß es warten, denn auch die Venus entfernte sich von der Erde. Der Sturm auf den Kosmos kam vorübergehend zum Stillstand.

Gleich nach Belopolskis Beisetzung nahm Melnikow einen sechswöchigen Urlaub und verreiste mit seiner Frau.

In einem stillen Städtchen in der Ukraine ließ er sich nieder, um ein Buch über den Flug der „SSSR-KS 3“ zu schreiben.

Niemand hatte ihm auch nur ein einziges vorwurfsvolles Wort gesagt, dennoch war er überzeugt, daß man ihm nie wieder ein Raumschiff anvertrauen würde. War es nicht seine Schuld, daß der „Phaetone“ jetzt auf der Ceres lag und für die Wissenschaft verloren war? Wennschon nicht für immer, so doch für lange Zeit. Und Belopolskis Tod? War nicht der nämliche verhängnisvolle Entschluß die mittelbare Ursache auch dafür gewesen?

Melnikow bereute tief, daß er sich nicht pflichtgemäß mit Kamow beraten hatte. Und weshalb nicht? Nur weil Belopolski gesagt hatte: „Entscheide selbst!“ Die Entscheidung, den „Phaetonen“ zur Ceres zu schicken, erschien ihm hier, auf der Erde, als der Gipfel der Dummheit.

Was war er schon für ein „Sternenkapitän“, wenn er es fertigbrachte, so falsche Entschlüsse zu fassen!

Die Weiten des Alls lockten ihn nach wie vor. Er wußte, daß ihm keine Tätigkeit auf der Erde den Kosmos mit seinen Geheimnissen ersetzen konnte, daß für ihn nichts dem fesselnden Kampf mit der Natur auf dem für den Menschen schwierigsten Gebiet gleichkam.

Und allmählich reifte in ihm ein Entschluß.

Er schrieb Kamow einen Brief. Darin bat er, man möge ihm als höchste Gunst erlauben, an der nächsten Expedition als einfaches Mitglied teilzunehmen. „Ich habe meinen früheren Beruf nicht verlernt“, schrieb er, „ich bitte, mir die Filmaufnahmen zu übertragen. Ich weiß, daß ich der Bezeichnung Kosmonaut nicht mehr würdig bin, aber ich verspreche, alles daranzusetzen, wieder einer zu werden.“ Er erhielt keine Antwort darauf.

„Wenn wir wieder in Moskau sind“, sagte er zu seiner Frau, „reiche ich meine Kündigung ein und gehe für immer vom Kosmischen Institut fort. Ich kehre zur Journalistik zurück.“ Olga sagte kein Wort und lächelte nur. Melnikow meinte, auch sie habe den Glauben an ihn verloren.

Die Lust, weiter an seinem Buch zu schreiben, war ihm vergangen, immer mehr verfiel er in Trübsinn. In den Zeitungen las er von den Vorbereitungen zu einer großen Expedition zweier Raumschiffe zur Venus und beneidete seine ehemaligen Kameraden glühend.

Seine ehemaligen! Er war überzeugt, daß sie auch von ihm als von einem „Ehemaligen“ sprachen.

Olga beobachtete ihren Mann aufmerksam. Auf Anweisung ihres Vaters tröstete sie ihn nicht und machte ihm auch keine Hoffnungen. Kamow hatte eine „moralische Quarantäne“ verordnet. Sie schrieb dem Vater regelmäßig und hielt ihn über alles, was Melnikow sagte und tat, auf dem laufenden.

Der Urlaub neigte sich seinem Ende zu.

Eines Tages traf ein Brief vom Kosmischen Institut ein.

„Wahrscheinlich kommen sie meiner Absicht zuvor“, sagte Melnikow, während er den Umschlag in den Händen hin und her drehte. „Das ist bestimmt meine Entlassung.“

„Wozu herumraten?“ meinte Olga. „Lies doch lieber.“ Bereits nach den ersten Zeilen sprang Melnikow vom Stuhl auf. „Das ist doch nicht möglich!“

„… sagte ein Mann, als er im Zoo eine Giraffe sah.“ Olga schmunzelte.

Melnikow blickte sie erstaunt an.

„Weißt du denn, was drinsteht?“ fragte er.

„Gewiß“, antwortete Olga, immer noch schmunzelnd. „So lies doch!“

„Das ist häßlich von dir. Warum hast du mir nichts davon gesagt?“

„Dein Lehrer, das ist mein Vater, er hat es so angeordnet.

Frag ihn selbst. Ich weiß nicht, was er damit bezweckte.“ Zum erstenmal in diesen sechs Wochen lächelte Melnikow.

„Sergej Alexandrowitsch hat wie immer recht. Seine Medizin hat angeschlagen.“ Dann las er laut vor: „In der Anlage übersenden wir Ihnen eine Kopie des Schreibens, mit dem das Kosmische Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Sie zum Leiter einer englisch-russischen Expedition zum Planeten Venus ernennt, und bringen hiermit unsere Freude und Genugtuung über diese dem allgemeinen Wunsch entsprechende Ernennung zum Ausdruck.

Wir sind stolz darauf, daß Sie, der erprobte Kapitän und erfahrenste Kosmonaut, bei dieser schwierigen, verantwortungsvollen Arbeit an unserer Spitze stehen werden. Wir erwarten Sie!

Im Namen der Besatzung des Raumschiffs ›SSSR-KS 4‹ — Paitschadse.

Im Namen der Besatzung des Raumschiffs ›Prince of Wales‹ — Jenkins.“ Darunter war mit der Hand geschrieben: „Gratuliere! Freue mich und bin stolz auf Dich. Sergej Kamow.“ Und wieder glänzten in den Weiten des Alls, silbernen Punkten gleich, die metallenen Körper von Raumschiffen in den Strahlen der Sonne. Wieder traten Verstand und Wille des Menschen zum Kampf mit dem Kosmos an, wenn auch vorerst noch in den Grenzen unseres Sonnensystems!

Aber die Zeit war nicht mehr fern, da selbst die Sonne für die Besatzungen der Raumschiffe zu einem kleinen Stern werden würde, da sich dem Menschen die Weiten des großen Universums öffneten.

Unsere Erde ist klein. Nur wenig erblickt man durch den dichten Vorhang ihrer Atmosphäre, und dem Menschen wurde es zu eng auf ihr.

Schwach sind die Körperkräfte des Menschen. Aber seinem mächtigen Verstand ist alles erreichbar.

Wissenschaft und Technik ersetzen, was die Natur versagt hat.

Das Unmögliche wird selbstverständlich. Die Natur gibt eine Position nach der anderen auf.

Der Vormarsch des Geistes dauert an. Er wird weiter andauern, solange der Geist existiert. Und der ist ewig!

Epilog

Das Wort „Epilog“ bedeutet „Schlußwort“. Seinem Sinn nach hat es kurz zu sein.

Der Verfasser bittet den Leser daher um Entschuldigung, daß er von dieser Regel abweicht. Sein Epilog ist lang. Genaugenommen ist er fast ein Buch für sich. Aber die innere Logik des Stoffes hat den Autor bewogen, so regelwidrig zu verfahren.

Diejenigen Leser, die sich für die Geheimnisse des Phaeton nicht interessieren, brauchen den Epilog nicht zu lesen.

Melnikows Geschichte aber ist zu Ende. Der Verfasser hat erzählt, wie sein Held zur Raumfahrt kam und wohin ihn dieser Weg geführt hat.

Er wollte damit sagen: „Widmet euch mit ganzem Herzen eurer Aufgabe! Und ihr werdet Erfolg haben!“ Einen Menschen wie Melnikow gibt es noch nicht auf der Erde. Aber es wird ihn geben! Denn alles, wovon in diesem Buch die Rede war, steht schon nahe bevor.

Natürlich wird alles ganz anders sein. Andere Bilder werden sich dem Auge der Kosmonauten auf dem Mars, der Venus sowie den anderen Planeten und Asteroiden darbieten. Aber das Wesentliche, die Eroberung des kosmischen Raumes, wird Wirklichkeit werden!

Ohne Teilnahme von Menschen aber ist diese künftige Wirklichkeit nicht möglich. Also wird es Kamows, Belopolskis und Melnikows geben. Natürlich werden sie andere Namen tragen.

Sie werden sich anders verhalten. Ihr Schicksal wird anders sein.

Aber das edle Streben, dem Menschen der Erde die Weiten des Weltalls zu erobern, wird ihnen ebenso eigen sein wie den Helden dieses Buches. Denn ohne leidenschaftliches Wollen, selbstlose Hingabe und Mut kann man nicht zum Kampf gegen den Kosmos antreten!

Im Eis der Antarktis

Vier völlig gleiche Behälter!

Sie enthielten, wenn man dem Film der Phaetonen glauben durfte, den Melnikow und Wtorow zweimal gesehen hatten, etwas außerordentlich Wichtiges. Wichtig für wen? Für die Menschen oder für die Phaetonen selbst? Es war anzunehmen, für die Menschen. Davon zeugte die sorgfältige Vorbereitung.

Alles war getan worden, um den Menschen zu berichten, wieso das Raumschiff auf die Venus gekommen war, und zum Schluß war genau die Stelle bezeichnet worden, an der die Behälter versteckt lagen.

Mehr noch. Die Phaetonen hatten viele Jahre auf der Venus gelebt. Neben dem Raumschiff aber hatte man nichts Ähnliches gefunden, wie es von ihnen auf der Arsena zurückgelassen worden war. Dabei schien es doch natürlicher und logischer, sie hätten die Granitfiguren auf der Venus errichtet und ihren „Schatz“ dort vergraben. Oder auf der Erde.

Warum gerade auf der Arsena? Sie mußten doch damit rechnen, daß die Menschen der Erde oder irgendeines anderen Planeten eher die Venus als den kleinen Asteroiden besuchen würden.

Die Handlungsweise der Phaetonen entbehrte scheinbar der Logik. Die Annahme, daß sie die Arsena nur deshalb gewählt hatten, weil sie ein Bruchstück ihres eigenen untergegangenen Planeten war, entfiel. Bei einer so ernsten und schwerwiegenden Angelegenheit wie diesem Appell an künftige Generationen vernunftbegabter Wesen war kein Platz für Sentimentalität.

Antwort auf all diese Fragen erbrachte Melnikows Expedition zur Venus.

Tatsächlich befand sich auch auf der Schwester der Erde ein „Schatz“. Nahe der Stelle, an der seit undenklichen Zeiten das ringförmige Raumschiff gelegen hatte, entdeckte man eine steinerne Figur in Form eines Pyramidenwürfels. Genauer gesagt, die Überreste dieser Figur. Die Venusnatur war schonungslos mit ihr verfahren. Hätten die Kosmonauten nichts von der Existenz solcher Figuren gewußt, hätten sie dem regellosen Steinhaufen im Urwald niemals Beachtung geschenkt. Aber sie hatten ja genau so etwas gesucht.

Unter dem Fundament der Figur befand sich ein Betongewölbe. Die Anwendung von Beton auf der Venus war vollauf berechtigt. Bekanntlich wird Beton durch Feuchtigkeit nur noch fester.

Nachdem das Gewölbe mit großer Mühe durchstoßen war, kam eine kleine Nische mit einer Metallplatte darin zita Vorschein. Es handelte sich um das gleiche graugelbe Metall, aus dem das Raumschiff der Phaetonen bestand.

Mit einem scharfen Instrument war eine Zeichnung in die Platte eingeritzt worden. Sie stellte einen Teil unseres Sonnensystems dar, einschließlich der Umlaufbahn des Jupiter. Deutlich bildete eine tief eingeritzte Linie in Form einer Ellipse den Mittelpunkt. Es war die Umlaufbahn der Arsena.

Von zwei winzigen Kreisen, die Venus und Erde bezeichneten, wiesen Pfeile auf sie. Neben dem Kreis der Arsena schimmerte matt ein buntes Mosaik, das einen blauen Ring mit einem x-förmigen Kreuz darin darstellte.

Nichts weiter. Wieder deuteten die Phaetonen auf etwas hin, was sie auf der Arsena hinterlassen hatten. Der blaue Ring, das wußte man bereits, mahnte zur Vorsicht.

Vielleicht lagen auch auf der Erde noch irgendwo die Überreste einer solchen steinernen Figur? Gab es doch auf unserem Planeten nicht wenige Orte, die noch keines Menschen Fuß betreten hatte.

Die „SSSR-KS 3“ war daraufhin zur Arsena geflogen und hatte die vier Behälter geborgen.

Nun standen sie im Laboratorium der Akademie der Wissenschaften, einem Spezialgebäude, weitab von bewohnten Orten.

Es galt vorsichtig zu sein — die Phaetonen selbst hatten es verlangt. Niemand wußte, was geschah, wenn die Behälter geöffnet würden.

Aber wie sollte man sie öffnen?

Sie besaßen eine ungewöhnliche Form. Es waren facettierte Kugeln, deren zwölf fünfeckige Facetten nicht erkennen ließen, daß sie irgendwo zusammengesetzt waren. Die Behälter schienen aus einem einzigen Stück eines unbekannten Metalls zu sein. Die Farbe war schwer zu bestimmen, sie wechselte bei der geringsten Änderung der Lichtverhältnisse. Betrachtete man solch eine Facette aufmerksam, kam es einem so vor, als sei unter einer dünnen Haut eine bodenlose Tiefe verborgen.

Solch ein Behälter hatte einen Durchmesser von einem Meter, wog jedoch über zwei Tonnen. Dabei konnte er keineswegs massiv sein, mußte er doch etwas enthalten.

Die Beförderung dieser Kugeln war gar nicht so einfach gewesen. Die Männer hatten sie wie zerbrechliches Porzellan behandelt. Ins Raumschiff wurden sie mit bloßen Händen verladen. Zwei irdische Tonnen wogen auf der Arsena ja nur wenig. Auf der Erde aber wog eine Tonne wirklich eine Tonne.

Mit dem Ausleger eines Krans reichte man nicht ins Raumschiff hinein. So mußte ein Loch durch die Wandung gebrochen werden. Danach brauchte man sechs Tage, um die Geschenke der Phaetonen vom Kosmodrom zum Laboratorium zu schaffen.

Mit einer Geschwindigkeit von zwei Kilometern in der Stunde beförderte man sie einzeln auf Lastkraftwagen. Vor der Kolonne fuhr eine mächtige Walze, die den Weg ebnete. Es wurde alles getan, damit kein Stoß den Inhalt der Kugeln erschütterte.

Alles ließ sich ersetzen, die Facettenkugeln der Phaetonen aber waren einmalig.

Endlich war es soweit. Im zentralen Saal des Laboratoriums stand auf einer weichen Unterlage eine der Kugeln, die man aufs Geratewohl ausgewählt hatte.

Aber wie kam man an den Inhalt heran? Von welcher Seite?

Womöglich ließ sie sich überhaupt nicht öffnen? Vielleicht war sie doch massiv?

Gründlich untersuchten drei Ingenieure, die es unternommen hatten, das Rätsel zu lösen, mit optischen Hilfsmitteln alle zwölf Facetten.

Aber die Facetten waren ganz glatt, nichts war an ihnen zu erkennen. Die Lösung des Rätsels mußte im Innern verborgen sein.

Die Ingenieure übereilten nichts. Grobe Eingriffe mit Schneidwerkzeugen waren hier nicht angebracht. Das konnte nur das letzte Mittel sein. Vorerst galt es, nach einer einfachen und logischen Methode zu suchen, zu überlegen und sich an die Stelle der Phaetonen zu versetzen.

Aber sie fanden die Lösung nicht.

Da sahen sie sich die anderen Kugeln an. Vielleicht gab es bei ihnen Anhaltspunkte. Wieder entdeckte man nichts. Alle vier glichen sich wie ein Ei dem anderen.

Die Ingenieure waren Angehörige des Kosmischen Instituts, das die besten Kräfte zu seinen Mitarbeitern zählte. Alle drei — Wladimir Sergejewitsch Semjonow, Nikolai Alexandrowitsch Gotowzew und Wsewolod Andrejewitsch Mazkewitsch — galten als Männer mit enormem technischem Wissen. Sie kannten sich auf allen Gebieten aus. Sollte es ihren gemeinsamen Anstrengungen wirklich nicht gelingen, hinter das Konstruktionsprinzip der Phaetonen zu kommen?

Sie stellten sich die Frage, wie sie selbst vorgehen würden, ständen sie vor der Aufgabe, den Inhalt der Behälter über Jahrzehntausende zu erhalten.

Sie gingen alle erdenklichen Methoden durch, solche Facettenkugeln hermetisch abzuschließen. Alle! Selbst jene, die die Möglichkeiten der irdischen Technik überstiegen.

Aber sie verwarfen eine nach der anderen. Sie fühlten, daß die Lösung sehr einfach war. Sie lag in der Luft, aber.

„Nur die Logik kann uns helfen“, meinte Mazkewitsch.

„Nichts weiter!“ Wer war zuerst auf den richtigen Gedanken gekommen?

Wahrscheinlich Semjonow. Jedenfalls war er der erste, der ihn aussprach. Einen ganz einfachen Gedanken. Kein Wunder, daß sie solange nicht darauf gekommen waren. Auf das Einfache kommt man immer am schwersten.

„Der blaue Ring mit dem gelben Kreuz“, sagte er, „ist kein Warnsignal. Er bedeutet dasselbe wie das entsprechende Zeichen im Raumschiff der Phaetonen.“ Nun wurde Wtorow in das einsame Laboratorium geholt, das inmitten dichten Waldes stand.

Zweifellos gab es auf der Erde noch viele Menschen, deren Bioströme denen der Phaetonen entsprachen. Aber man kannte sie vorläufig noch nicht. Nur von Wtorow wußte man es zuverlässig.

„Lassen Sie die Kugel sich öffnen“, forderte Semjonow ihn auf.

Voller Spannung wartete die ganze Welt auf das Ergebnis des Versuchs.

Aber auch Wtorow erlebte ein Fiasko. Die Facettenkugel veränderte ihre Form nicht. Keine Öffnung kam zum Vorschein.

Ein Anzeichen jedoch gab es, daß die geäußerte Vermutung richtig war.

Sobald Wtorow seine Gedanken konzentrierte, glommen in der Tiefe der Facetten die ihm wohlbekannten Funken auf. Es bestand kein Zweifel, die Kugel war „empfangsbereit“. In das tote Stück Metall war Leben gekommen.

Was erwartete die Kugel von dem Menschen? Was für einen „Befehl“?

Das Suchen begann. Tag für Tag saß Wtorow stundenlang vor der Kugel und erteilte ihr alle möglichen Befehle. Er strengte seine Einbildungskraft bis zum äußersten an. Alles vergebens. Ihm schien, die flimmernden Funken machten sich über seine Anstrengungen lustig. Die widerspenstige Kugel gehorchte nicht.

Dann kam der fünfundzwanzigste Oktober 19..

Den vier Männern blieb dieses Datum für immer im Gedächtnis haften. Und nicht nur ihnen.

Das Geheimnis offenbarte sich.

Nachdem Wtorow alle Möglichkeiten erschöpft zu haben glaubte, stellte er sich, über seine fruchtlosen Bemühungen verzweifelt, beinahe unbewußt vor, die Kugel … fange an zu sprechen.

Im selben Augenblick vernahmen die vier eine Stimme. Ringsum herrschte vollige Stille. Kein Laut drang von außen ins Laboratorium. Aber jeder einzelne von ihnen vernahm deutlich eine bekannte Stimme. Und sie sprach russisch.

Das schien phantastisch! Aber natürlich war alles sehr einfach. Einfach vom Standpunkt der Phaetonen aus. Ihre Biotechnik hatte ein hohes Niveau besessen. Dabei war sie ihnen so zur Gewohnheit geworden, daß sie meinten, auch für andere müsse sie ohne weiteres zugänglich sein.

Hinter jedem Wort steht ein Gegenstand oder ein Begriff.

Wenn wir einen Satz hören, stellen wir uns, ohne daß wir es merken, den entsprechenden Gegenstand oder die entsprechende Handlung vor. Das Wort an und für sich, ohne diese Umsetzung, ist nur leerer Schall.

Aber Worte können nicht nur eine Vorstellung erzeugen, auch das Umgekehrte ist möglich: eine Vorstellung kann sich in Worte umsetzen und somit wahrgenommen werden. Jeder „hört“ dann diese Worte in seiner gewohnten Sprache, als ob er das Wahrgenommene selbst ausspräche.

Die Phaetonen hatten alles, was sie übermitteln wollten, in Form von Vorstellungen, Begriffen und Bildern in die Facettenkugeln eingeschlossen. In welcher Sprache der künftige Hörer auch dachte, er mußte die chiffrierte Sprache der Phaetonen in seiner Muttersprache wahrnehmen.

In den einzelnen Sprachen klingen die Wörter verschieden, aber sie bedeuten ein und dasselbe. Einen Stuhl kann man mit Hilfe von Lautgruppen bezeichnen, die einander überhaupt nicht ähnlich sind, aber letzten Endes bezeichnen sie alle ein und denselben Begriff: Stuhl, den Gegenstand, auf dem man sitzt. Genauso ist es mit allem anderen.

Eine andere Frage ist, wie die Phaetonen ihre Mitteilungen fixierten. Wir haben uns daran gewöhnt, daß man Sprache auf Schallplatten und Tonbändern aufzeichnen kann. Wir wundern uns nicht, wenn sie lebendig aus einem toten Apparat ertönt.

Aber Vorstellungen verstehen wir noch nicht aufzuzeichnen.

Schon gar nicht so, daß sie auf gedanklichen Befehl zu „ertönen“ beginnen. Das ist eine Technik der Zukunft. Für uns. Für die Phaetonen aber war das eine Technik der Gegenwart, und sie bedienten sich ihrer. Das war einfach, logisch und rationell.

Die „Aufzeichnung“ war sehr kurz. Sie bestand aus knapp zwei Dutzend Sätzen, mitunter auch nur einzelnen Wörtern.

Gelegentlich kam es vor, daß sich die Gedanken plötzlich verwirrten und die Männer ihren Sinn nicht erfaßten. Offenbar hatte sich der Phaetone, der dem Apparat „diktierte“, in solchen Augenblicken Bilder und Begriffe vorgestellt, die das Hirn des Erdenmenschen nicht zu fassen vermochte. Das „Wesentliche“ der Botschaft aber verstanden alle vier ausgezeichnet.

Die Menschen der Erde bekamen neue Hinweise. Nicht diese Kugeln enthielten das Erbe der Phaetonen. Sie waren nur dazu bestimmt, den Weg zum Lagerplatz des tatsächlichen „Schatzes“ anzugeben.

Auch als die Männer die drei anderen Kugeln befragten, vernahmen sie immer dasselbe — die Phaetonen hatten ihre Worte viermal aufgezeichnet.

Vieles wurde nun verständlich. Der „Schatz“ war zwar auf der Erde verborgen, aber wegen seines Wertes hatten die Phaetonen nicht gewagt, ihn den Menschen anzuvertrauen, bevor deren Entwicklungsstand hoch genug war, um ihn vernünftig verwenden zu können. Deshalb hatten sie einen zuverlässigen und unzugänglichen Aufbewahrungsort gefunden. Die näheren Angaben darüber verbargen sie auf der Arsena in der berechtigten Annahme, daß nur die mit einer leistungsfähigen Wissenschaft und Technik ausgerüstete Menschheit dorthin gelangen würde.

Auch zum irdischen Lagerplatz selbst konnte der Mensch unmöglich ohne die Hilfe einer solchen Technik gelangen.

Der Aufbewahrungsort befand sich nämlich in der Tiefe des antarktischen Festlandes, unmittelbar am Pol.

Dabei war interessant, daß die Botschaft der Phaetonen nicht ausdrücklich den Südpol nannte. Offenbar kannten sie diesen Begriff nicht. Im Gehirn der Menschen entstand lediglich der generelle Begriff Pol. Doch nur der Südpol liegt bekanntlich auf dem Festland, der-Nordpol dagegen im Meer.

Auch darüber, was die Menschen am Pol erwartete, ob es sich um neue „Behälter“ oder um etwas anderes handelte, wurde nichts ausgesagt. Die Phaetonen ließen die Menschen lediglich wissen, wie wertvoll das Versteckte sei. Das war alles.

Im übrigen sollte sich dort im Versteck, noch genauso eine Facettenkugel wie die von der Arsena befinden. Offenbar würden die Menschen durch sie erfahren, was mit dem „Schatz“ zu geschehen hatte; daß jedoch nicht diese Kugel die Hauptsache war, wurde deutlich zu verstehen gegeben.

Was mochte in der Tiefe des antarktischen Festlandes verborgen sein?

Die gesamte Erdbevölkerung rätselte herum. Die Zeitungen waren voll von allen möglichen Prophezeiungen.

Als erster hatte der berühmte Roald Amundsen den Südpol erreicht. Das war im Jahre 1911. 1912 gelangte der Engländer Scott zum Pol. Im November 1929 überflog der Amerikaner Byrd ihn mit dem Flugzeug. Danach setzte die planmäßige Erforschung der Antarktis ein, die von der Sowjetunion eingeleitet wurde. Nach der Siedlung „Mirny“ entstand eine weitere unmittelbar am Pol. Zu der Zeit, als die Menschen zum erstenmal von den Phaetonen horten, existierte hier bereits eine ziemlich große Wissenschaftlerstadt.

Auf einem kleinen Platz im Zentrum der Stadt erhob sich ein Obelisk. Er stand genau auf dem Pol. Seine schlanke Spitze bildete gleichsam das sichtbare Ende der gedachten Erdachse.

Man bohrte auf dem antarktischen Festland schon lange nach wertvollen Bodenschätzen. Wie leicht hätte man dabei auf das Versteck der Phaetonen stoßen können. Was wäre dann geschehen? Vielleicht hatten die Menschen in ihrer Unkenntnis den kostbaren Schatz unwiederbringlich zerstört. Nie hätte die Menschheit dann erfahren, weshalb der Phaeton untergegangen war.

Im November 19.. begaben sich Flugzeuge der UdSSR, Englands und der USA zum Südpol. Sie schafften Wissenschaftler und Ingenieure dorthin sowie alles, was notwendig war, um in den Schoß der Hochebene eindringen zu können.

Selbstverständlich war auch Wtorow unter den Ankömmlingen.

Man hütete ihn wie eine große Kostbarkeit. Konnte man doch nur mit seiner Hilfe die hier irgendwo verborgenen Kugeln „befragen“. Die Antwort dagegen — das wußte man nun bereits aus Erfahrung — konnten auch andere vernehmen.

Die Frage drängte sich auf, weshalb sich die Phaetonen darauf verlassen hatten, daß vielleicht nur ein einziger Mensch ihrer Technik befehlen könnte. Weshalb hatten sie sich nicht Methoden ausgedacht, die allen denkenden Wesen zugänglich waren? Sie hatten dach auch dafür gesorgt, daß alle die-Antworten verstehen konnten. Das war unbegreiflich.

Aber wie dem auch sei, helfen konnte nur Wtorow.

Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen. Am zwanzigsten November senkte der erste Bohrer seinen spitzen Stachel in den gefrorenen Boden.

Das Denkmal beschloß man nicht anzurühren. Das Versteck der Phaetonen nahm wahrscheinlich einen ziemlich großen Raum ein. So bohrte man an vier Punkten rings um den Obelisken.

Die Bohrer drangen immer tiefer in den Boden der Hochfläche ein. Sie hatten bereits fünfzig Meter Tiefe erreicht.

Alles wartete auf den Augenblick, wo sie auf ein unüberwindliches Hindernis stoßen würden. Das hieße, daß das Gesuchte gefunden war. Wenn der Aufbewahrungsort aber eine Betondecke hatte wie auf der Venus, würden sich die Bohrer hindurcharbeiten und ins Leere stoßen. Die empfindlichen Geräte würden das sofort melden.

Bis zu einer Tiefe von sechzig Metern fraßen sich die Bohrer.

Alle vier.

„Wie tief sie ihren Schatz vergraben haben!“ sagte Semjonow, der die Arbeiten leitete. „Und wie positionsgenau!“ Die Bohrer wurden hochgeholt und eingehend untersucht. Die diamantene Krone war stumpf geworden. An einem der Diamanten entdeckte man winzige Spuren eines gelbgrauen Metalls.

Die Erfolgsnachricht ging mit Windeseile um die ganze Erde.

Eine von Kamow geführte wissenschaftliche Kommission traf am Südpol ein. Zu ihr gehörten unter anderen Woloschin, Melnikow und Paitschadse. Wer anders als die Kosmonauten war würdig, das Erbe der Phaetonen in Empfang zu nehmen!

Nun begann das zweite Stadium der Arbeiten. Ein Schacht mußte in den Boden getrieben werden.

Mit Radiosonden bestimmte man die Form des metallenen Hindernisses, auf das die Bohrer gestoßen waren. Es stellte sich als seitenrund heraus. Aber alle Bohrer waren in ein und derselben Tiefe stehengeblieben. Das bedeutete, daß es sich nicht um eine Kugel, sondern um einen zylinderförmigen Gegenstand handelte. Der Durchmesser betrug zwölf Meter.

Semjonow hatte recht: Der Zylinder befand sich geometrisch exakt unter dem Pol. Die Erdachse ging durch seinen Mittelpunkt.

Auch die Voraussicht der Phaetonen erwies sich als richtig.

Es wäre unmöglich gewesen, einen Schacht von sechzig Metern in den Boden zu treiben, wenn man nicht über leistungsfähige Maschinen am Pol verfügte. Der geistige Entwicklungsstand der Menschheit war also offensichtlich hoch genug, daß sie das „Erbe“ antreten konnte.

Man beschloß, den Schacht unmittelbar neben dem Obelisken anzulegen, um auf den Mittelpunkt des Zylinderdaches zu stoßen. War ein Einstieg vorhanden, mußte er sich logischerweise dort befinden.

Generatoren begannen zu arbeiten. Eine Grabmaschine, „Maulwurf“ genannt, wühlte sich in den Boden. Automatische Förderbänder brachten in ununterbrochenem Strom die losgebrochenen Schollen — Gneis, Diorit und Sandstein — an die Oberfläche.

Der Schacht wurde zusehends tiefer. Die Arbeit ging ohne Menschenkraft, allein mit Maschinen vonstatten.

Schließlich schimmerte tief unten im Licht der Scheinwerfer das gelbgraue Dach des phaetonischen Verstecks. Das Ziel war erreicht.

An einer Strickleiter kletterte Semjonow hinab. Bevor man Wtorow hinunterschickte, mußte geklärt werden, ob ein Einstieg vorhanden war oder nicht.

Semjonow entdeckte ihn auf den ersten Blick. Von dem gelbgrauen Dach hob sich deutlich ein blaues Fünfeck ab. Der Schacht war jedoch nicht genau auf den Mittelpunkt gestoßen, so daß noch nicht einmal die Hälfte des Fünfecks freilag.

Den „Maulwurf“ nochmals anzusetzen war sinnlos. Mit Vibratoren ausgerüstete Ingenieure machten sich ans Werk.

Einst war der Boden des Pols von den Phaetonen aufgelockert worden. Aber im Laufe der Jahrtausende (wer weiß, vielleicht waren sogar Jahrzehntausende darüber vergangen, manche Wissenschaftler vertraten auch die Meinung, es handele sich um Jahrmillionen) hatte sich der ursprüngliche Zustand wieder herausgebildet. Alles war erneut fest „zusammengewachsen“. Die Elektrovibratoren hatten Mühe, in die harten Schichten einzudringen. Sie kamen buchstäblich nur millimeterwetse vorwärts.

Dann war das Fünfeck ganz freigelegt.

Hätten die Menschen nichts von der Existenz der Phaetonen gewußt und hatten sie nicht ihre Erfahrungen mit dem ringförmigen Raumschiff gehabt, wären sie sicher nie darauf gekommen, wie der Einstieg zu öffnen war. So aber trafen sie auf Altvertrautes. Die Tür erwartete den gedanklichen Befehl der Menschen.

Wtorows Stunde war gekommen. In Begleitung Kamows, Melnikows und Semjonows kletterte er in den Schacht.

Der entscheidende Moment nahte.

Es war ein langer Weg gewesen bis zu diesem Augenblick.

Vor Wtorows innerem Auge tauchten noch einmal die Felsen der Arsena auf, der runde Talkessel, die steinernen Schalen der Venusianer, das ringförmige Raumschiff der Phaetonen und schließlich seine und Melnikows lange qualvolle Odyssee. Dann die vier Kugeln im Laboratorium, die geheimnisvolle Stimme — und nun standen sie hier, am Südpol, sechzig Meter unter der Erdoberfläche, und sahen die schmale Linie vor sich, die den Eingang bezeichnete.

Was befand sich dahinter?

Die Zeitungen und Zeitschriften der ganzen Welt hatten in diesen Tagen Tausende von Vermutungen und Spekulationen geäußert. In dem sorgfältig verborgenen Aufbewahrungsort der Phaetonen, am unzugänglichsten Punkt des Erdballs, erwartete man alles mögliche zu finden. Die überwiegende Mehrheit aber meinte, man werde dort „sprechende Maschinen“ und „Filme“ entdecken. Wahrscheinlich ebensolche Apparate, wie man sie von der Arsena mitgebracht hatte, nur noch größer, die alles enthielten, was die Phaetonen für notwendig erachtet hatten, den Menschen als Erbe zu hinterlassen. Und „Filme“ in der Art desjenigen, den Melnikow und Wtorow in dem fremden Raumschiff gesehen hatten.

Durch die Kombination von Film und Sprechapparat ließ sich sehr viel erklären und vermitteln.

Dabei vergaßen die Menschen freilich den gewaltigen Unterschied zwischen der Wissenschaft des Phaeton und derjenigen der Erde, besser gesagt, sie kannten ihn überhaupt noch nicht.

Alle wußten zwar, daß die Phaetonen den Menschen weit voraus gewesen waren, aber niemand hatte auch nur einen annähernden Begriff davon, wie groß die Kluft in Wahrheit war, die sie voneinander trennte.

Wtorow öffnete nicht zum erstenmal durch gedanklichen Befehl phaetonische Türen. Jetzt war er besonders aufgeregt.

Von oben strahlte ein Scheinwerfer in den Schacht. Das blaue Fünfeck war deutlich zu erkennen. Wtorow starrte es an — er wollte abwarten, bis sich sein Herz beruhigt hatte.

Semjonow, Kamow und Melnikow erschien die Zeit endlos.

Wurde Wtorow mit der Aufgabe nicht fertig?

Er schloß die Augen, beschwor das Fünfeck in seiner Vorstellung.

Und gehorsam vollzog sich das Wunder der phaetonischen Technik.

Das Metall innerhalb des Fünfecks trübte sich, verschwand zusehends, als löse es sich in einer unsichtbaren Säure auf. Schon erglänzten die gelbgrauen Stufen einer schmalen Treppe im Scheinwerferlicht. Sie führten in eine dunkle Tiefe.

Das Erbe der Phaetonen

Die vier konnten sich nicht gleich entschließen, die Treppe hinunterzusteigen, obwohl sie zweifellos eigens für sie geschaffen worden war.

Kamow kletterte wieder an die Oberfläche, um den ungeduldig wartenden Wissenschaftlern von dem bisherigen Erfolg zu berichten.

Er kehrte mit vier Gasmasken zurück.

„Man empfiehlt uns, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen“, teilte er mit. „Dort unten könnten sich schädliche Gase angesammelt haben.“

„Woher denn? Der Aufbewahrungsort war doch hermetisch abgeschlossen“, wandte Wtorow ein. „Und in ihm befindet sich die gleiche Luft wie oben auf der Erde.“

„Eben. Es ist zwar die Luft der Erde, aber die von vor etlichen hunderttausend Jahren.“

„Die atmen wir doch aber jetzt auch schon.“

„Keineswegs“, entgegnete Melnikow. „Erinnere dich, daß keine Luft nach außen drang, wenn sich die Türen des phaetonischen Raumschiffs im leeren Raum öffneten.“ Bei diesen Worten blickten alle auf die Öffnung zu ihren Füßen. Nichts schien die Männer zu hindern, sie zu passieren.

Aber der Schein konnte trügen.

Melnikow blickte sich und steckte die Hand durch die Öffnung. Sie ging hindurch, aber er fühlte deutlich einen Widerstand. Der unsichtbare Vorhang glich einem elastischen Gewebe.

Er „zerriß““ unter dem Druck seiner Hand, umschloß das Gelenk jedoch stramm und fest.

Der Eingang zum Aufbewahrungsraum war für die Luft also immer noch abgeschlossen.

Selbst daran hatten die Phaetonen gedacht! Sie waren um die Gesundheit der ihnen unbekannten Menschen besorgt gewesen, hatten damit gerechnet, daß sich die Luft der Erde in der langen Zelt verändern könnte, und warnten davor, ohne Sicherheitsmaßnahmen einzutreten.

„Ja“, sagte Melnikow. „Wir müssen Gasmasken aufsetzen.“ Als erster passierte er, gefolgt von den andern, die Öffnung und stieg die Treppe hinab. ’ Die Treppe hatte sechzehn Stufen. An ihrem Fuße angelangt, blickten Melnikow und Wtorow noch einmal nach oben. Sie waren gewohnt, daß sich die phaetonischen Türen wieder hinter ihnen schlossen.

Doch Minuten vergingen, ohne daß sich die fünfeckige Öffnung mit Metall überzogen hätte. Sie blieb offen. Das Scheinwerferlicht drang ungehindert ein, und auf dem Metallfußboden zeichnete sich deutlich das Fünfeck ab. Der übrige Raum lag in trübem Halbdunkel. Der Fußboden reflektierte das Lieht nicht.

Wtorow „ordnete an“, es solle Licht werden. Gleich darauf leuchtete der ihnen bereits bekannte bläuliche Nebel auf.

Es wurde hell.

Der Raum hatte die Form eines Würfels, die Seitenlänge betrug etwa fünf Meter. Wände, Fußboden und Decke bestanden aus Metall, wenigstens schien es so.

Der Raum war ganz leer. Keine Gegenstände, nichts, was an verborgene Türen erinnerte — kahle Wände und nackter Fußboden. Absolut nichts!

Die vier blickten einander verblüfft an. Die Phaetonen hatten die Menschen doch wohl kaum auf so komplizierte und verwirrende Weise hierhergeführt, um ihnen dann diese leere „Metallkammer“ zu zeigen.

„Der Durchmesser des Gesamtbaus beträgt zwölf Meter“, sagte Semjonow (seine Stimme klang unter der Maske dumpf).

„Der dieser Kammer aber höchstens fünf.“ Wie gelangte man jedoch in die anderen Räume?

Wtorow stellte sich der Reihe nach, zunächst an allen vier Wänden, dann am Fußhoden eine offene Tür vor. Doch vergeblich. Er rief sich in die Erinnerung zurück, was die Facettenkugeln ihnen im fernen Laboratorium erklärt hatten. Sie hatten „gesagt“, an dieser Stelle befinde sich das Wesentliche, um derentwillen die Menschen den Pol aufsuchen sollten. Und sie hatten hinzugefügt, nähere Angaben werde man ebenhier erhalten. Dabei hatten sie von genauso einem Apparat gesprochen, wie man ihn von der Arsena geborgen hatte. Er und seine Kameraden erwarteten daraufhin, eine Facettenkugel zu finden. Doch dieser Gedanke brauchte nicht unbedingt von den Phaetonen zu stammen, es konnte auch ihr eigener gewesen sein. Warum sollte der Apparat unbedingt die Form einer Kugel haben? Womöglich steckte die Aufzeichnung in den Wänden?

Plötzlich kam es Wtorow so vor, als finge die Wand an zu sprechen. Nein, es kam ihm nicht nur so vor! Er „hörte“ es wirklich.

In seinem Kopf setzte sich hartnäckig der Gedanke an Wissenschaftler fest.

„Sie verlangen, daß eine wissenschaftliche Kommission zugezogen wird“, sagte Kamow.

„Augenscheinlich“, bestätigten Melnikow und Semjonow.

„Und das ist auch ganz logisch.“ Die vier kehrten an die Erdoberfläche zurück. Der Eingang zum Aufbewahrungsort blieb auch diesmal offen.

Am Südpol hatten sich zahlreiche Wissenschaftler aus den verschiedensten Ländern eingefunden. Sie konnten unmöglich alle auf einmal zum Aufbewahrungsort hinunterklettern. Man legte fest, daß die von den Phaetonen geforderte Kommission, die offenbar außerordentlich wichtige Dinge zu „hören“ bekommen würde, aus zwölf Mann, einschließlich Melnikow und Wtorow, bestehen sollte.

Kamow oblag die nicht leichte Aufgabe, eine Auswahl zu treffen, ohne jemand zu kränken. Die von ihm vorgeschlagene Liste, die die Namen von Vertretern aus sechs Ländern enthielt, stieß auf keinen Widerspruch.

Und nun standen die zwölf Menschen im Licht des bläulichen Nebels auf dem metallenen Fußboden.

Was hatte weiter zu geschehen?

Alle blickten Wtorow an und warteten, daß er das Notwendige veranlasse. Dabei wußte er sich selbst keinen Rat.

Wie sollte er den längst gestorbenen Phaetonen sagen, daß ihre Forderung erfüllt sei und irdische Wissenschaftler sich versammelt hätten, um ihnen zuzuhören?

Vielleicht könnten die Phaetonen selbst… Wtorow dachte den Gedanken nicht zu Ende. Er „verlangte“, daß die Wand spreche.

Die zwölf vernahmen eine Stimme. Sie sagte in sechs Sprachen dasselbe, was die vier schon vorher gehört hatten.

Die Männer waren versucht zu antworten: „Wir sind hier, sprecht!“ Aber wie drückte man so etwas nicht mit Worten, sondern durch Vorstellungen aus?

„Helfen Sie mir!“ bat Wtorow.

„Kehren wir nach oben zurück und überlegen wir dort“, schlug Kamow vor.

Die Aufgabe war klar, aber sie wurde dadurch nicht leichter.

Der phaetonische Automat sprach offensichtlich nur auf eine ganz bestimmte einzige Vorstellung an. Sobald er diese Vorstellung oder dieses Bild wahrnahm, würde er es an einen anderen Mechanismus weiterleiten, der seinerseits den Aufzeichnungsmechanismus in Gang setzte. Erst dann würden die Menschen zu „hören“ bekommen, was weiter zu geschehen hatte. Eine andere Prozedur war nicht denkbar.

Welches Bild, welche Vorstellung aber mußte vor dem inneren Auge Wtorows erstehen? Welche Tätigkeit war für Wissenschaftler typisch? Es gab ihrer doch Tausende.

Das Ganze glich der Suche nach einer unbekannten Zahl, die man zu finden hoffte, indem man alle möglichen Zahlenkombinationen durchging.

Hoffnungslos!

„Aber darüber müßten sich die Phaetonen doch im klaren gewesen sein“, war die einhellige Meinung. „Es gilt, eine einfachere Lösung zu suchen.“ Wie oft vergessen die Menschen die weisen Lehren der Anekdote vom Ei des Kolumbus oder der Krylowschen Fabel von der Schatulle. So merkwürdig es klingt, aber es ist gar nicht so leicht, einfach zu denken. Oft vermuten die Menschen Kompliziertheit dort, wo sie gar nicht vorhanden ist!

So war es auch in diesem Falle.

Wieder wies, wie seinerzeit im Laboratorium, Semjonow den richtigen Weg.

„Sie suchen ein Bild, das mit dem Wort ›Wissenschaftler‹ im Zusammenhang steht“, sagte er. „Aber schafft nicht schon das Wort selbst die notwendige Vorstellung? Wenn wir das Wort ›Wissenschaftler‹ hören oder aussprechen, stellen wir uns doch nicht einen Fußballspieler oder Opernsänger vor.“

„Ihrer Meinung nach brauchte ich also nur zu sagen: ›Die Wissenschaftler sind hier‹?“ fragte Wtorow skeptisch. „Und das Wort ›hier‹ erweckt ebenfalls eine ganz bestimmte Vorstellung?“

„Ja, meiner Meinung nach ist es so“, erwiderte Semjonow.

„Warum genügt es dann bei den fünfeckigen Türen nicht, wenn ich sage: ›Öffnet euch‹?“

„Haben Sie es denn überhaupt schon versucht? Vielleicht sind die Automaten der Phaetonen viel empfindlicher, als wir glauben. Das hier ist doch etwas völlig anderes als ein Raumschiff.“

„Auf jeden Fall scheint Ihre Hypothese recht einleuchtend“, meinte Kamow. „Ganz mechanisch sind wir bisher genauso vorgegangen wie im phaetonischen Raumschiff. Machen wir also einen Versuch.“

„Und wenn es wirklich so ist“, fügte Melnikow hinzu, „müßten außer Gennadi Andrejewitsch auch noch andere den Automaten in Gang setzen können.“

„Das hieße, daß jeder von uns…“

„Ja, jeder“, erwiderte Melnikow überzeugt.

Die zwölf stiegen wieder in den Schacht.

In ganz normalem Ton, als spreche er mit einem unsichtbaren Gesprächspartner, sagte Wtorow: „Die Wissenschaftler sind hier.“ Bei diesen Worten achtete jeder der Anwesenden darauf, daß auch in seinem Gehirn die bestimmte, notwendige Vorstellung entstand: Hier, in diesem Raum, befinden sich Menschen, die mit der Wissenschaft zu tun haben.

Da alle im voraus gewußt hatten, was gesagt werden würde, konnten auch die des Russischen nicht Mächtigen mitwirken. So entstanden zwölf, der Frequenz nach unterschiedliche, aber dem Sinn nach gleiche Bioströme.

Vielleicht hatten die Phaetonen gerade das beabsichtigt? Vielleicht hatten sie auf einen kollektiven Gedanken gerechnet, der es ihnen ermöglichte, die Konstruktion und die Einstellung, ihres Apparates zu vereinfachen?

Tatsächlich! Die Lösung erwies sich als richtig.

Hinter der Wand klickte es, als falle etwas Metallenes zu Boden. Melnikow und Wtorow erkannten das Geräusch sofort wieder. Genauso hatte es im Raumschiff der Phaetonen geklungen.

Und was seinerzeit mit den Türfünfecken geschehen war, wiederholte sich nun mit einer der Wände. Sie „schmolz“ und verschwand.

Eine dunkle Ferne tat sich auf, vor der ein dichter blauer Nebel wogte. Nichts war zu erkennen. Dann tauchten glitzernde kristallartige Fäden auf, die das blaue Halbdunkel nach allen Richtungen durchdrangen.

Es wurden ihrer immer mehr, und bald füllten sie den ganzen sichtbaren Raum.

Jetzt sahen die Menschen auch deutlich, daß die „verschwundene“ Wand nach wie vor da war. Die Kristallfäden prallten heftig gegen ihre unsichtbare Oberfläche und knickten jäh um.

Die Fäden, die wie Lichtstrahlen aussahen, waren offenbar Ströme unbekannter Teilchen.

Das dauerte eine ganze Weile. Dann verschwanden Fäden und Nebel urplötzlich.

Die Außenwand des Baues jedoch, die höchstens sechs Meter entfernt sein konnte, blieb immer noch unsichtbar.

Statt durch blauen Nebel war sie nun durch milchig-weißes Licht verdeckt.

Ganz dicht vor den Menschen, wie es schien, an derselben Stelle, wo noch unlängst die Wand gewesen war, wurde die Gestalt eines Phaetonen sichtbar.

Er sah genauso aus wie jene, die Melnikow und Wtorow im ringförmigen Raumschiff gesehen hatten. Das dunkle Trikot lag eng an seinem Körper an. Um den Hals hatte er eine silbrig schimmernde Kette hängen.

Der Phaetone glich in allem den Menschen der Erde, nur daß er kleiner war, knapp eineinviertel Meter groß.

Seine untere Gesichtspartie schien im Vergleich zu dem großen Oval der Augen und der mächtigen Stirn unverhältnismäßig klein’. Die Brauen waren lang und buschig, zu den Schläfen hin scharf gebogen. Ebenso dicht und lang waren die Wimpern.

Man spürte, daß hinter der gewölbten Stirn ein Gehirn lag, das um ein vielfaches entwickelter war als daß des Erdenmenschen.

So verging eine Weile.

Die Menschen betrachteten den ungewöhnlichen „Gast“, der ein wirkliches Wesen aus Fleisch und Blut zu sein schien.

Der Phaetone streckte beide Arme vor (es entstand der Eindruck, als reichten sie über die Grenze der unsichtbaren Wand hinaus) und lächelte.

In den Köpfen der zwölf Menschen bildeten sich die Worte: „Mein Name ist…“ Dann hörten sie schon nicht mehr nur in Gedanken, sondern auch mit den Ohren die melodischen Laute der phaetonischen Sprache: „… Iaja.“ Wo sich der Apparat befand, der mit den „Schemen“ verbunden war und für ihn sprach, blieb ungewiß.

„Ich bin gekommen, um Ihnen vom Untergang unseres Planeten und vom Schicksal seiner Bewohner zu erzählen, damit Sie mit unseren fernen Nachkommen in ihrer neuen Heimat Kontakt aufnehmen können…“ Jeder der zwölf Männer „hörte“ deutlich jedes Wort. Vier machten sich Notizen. Man wußte ja nicht, ob die Phaetonen noch eine zweite Vorstellung geben würden, und allein aufs Gedächtnis durfte man sich nicht verlassen.

Iajas Rede erklang in sechs Sprachen. Über wieviel Phantasie und Exaktheit des Denkens mußten die Phaetonen verfügt haben, damit sich die Sätze ihrer Sprache in Bilder und Begriffe verwandelten, die vom menschlichen Gehirn leicht erfaßt wurden!

Iajas letzte Worte versetzten alle in Erstaunen. „Neue Heimat … Ferne Nachkommen…“ Das bedeutete, daß die Bewohner des fünften Planeten nicht, wie man geglaubt hatte, umgekommen waren. Sie hatten sich retten können und waren auf einen andern Planeten übergesiedelt, der offenbar nicht zu unserem Sonnensystem gehörte.

„Jetzt dürfen Sie mir Fragen stellen“, fuhr Iaja fort. „Ich werde sie beantworten. Natürlich nur die, die wir vorhersehen konnten. In dem Apparat, aus dem Sie meine Stimme hören, sind mehrere Dutzend Antworten aufgezeichnet.“ Der Phaetone schwieg. Er stand vor den Menschen und sah sie aus seinen auf einen Punkt gerichteten großen Augen an.

Seine Arme waren immer noch ausgestreckt, er schien in dieser Pose erstarrt zu sein. Und so lebendig wirkte er, daß man unwillkürlich dachte, er müsse ermüden, wenn er die Arme nicht herunternehme.

„Kehren Sie an die Oberfläche des Planeten zurück“, sagte Iaja. „Überlegen Sie sich die Fragen. Kommen Sie in einem Zweitausendstel der Zeit wieder, die Ihr Planet braucht, um einmal um die Sonne zu kreisen. Und schützen Sie sich vor der Ermüdung. Unser Gespräch wird sehr lange dauern.“ Natürlich hatten die Phaetonen die Zeitberechnung der Erdbewohner nicht voraussehen können und daher eine Form der Zeitangabe gefunden, die unabhängig von der Einheit der Zeitmessung alle verstanden.

Das Bild Iajas verschwand, und die Menschen sahen wieder die gelbgraue Wand vor sich.

„Das heißt in vier Stunden und dreiundzwanzig Minuten“, teilte Paitschadse nach kurzem Rechnen mit.

„An die Arbeit, Freunde!“ sagte Kamow auf englisch, damit ihn alle verstanden. „Die Phaetonen haben uns nicht viel Zeit zur Vorbereitung gelassen!“ Wahrend die Wissenschaftler eine Liste der Fragen zusammenstellten, die sie Iaja vorlegen wollten, wurden zwölf Sessel in den unterirdischen Raum geschafft und im Halbkreis vor der Wand aufgestellt, hinter der der Phaetone wieder erscheinen mußte.

Melnikow erzählte unterdessen allen, die nicht unten gewesen waren, ausführlich, was sie gesehen hatten. Es drängte sich die Frage auf: Wozu brauchten die Phaetonen diesen Theatereffekt?

Warum beschränkten sie sich nicht auf die „sprechende“ Maschine, sondern hielten es für nötig, den Menschen einen „lebendigen“ Phaetonen zu zeigen?

Darauf gab es nur eine Antwort. Sie waren nicht davon überzeugt gewesen, daß die Menschen jemals den Film im ringförmigen Raumschiff finden würden, wollten aber auf jeden Fall zeigen, wie diejenigen aussahen, mit denen es die Menschen später einmal zu tun haben würden. Hatte Iaja doch verkündet, daß er die Verbindung zu den fernen Nachkommen der Phaetonen herstellen werde.

Genau zur festgesetzten Zeit, nach vier Stunden und dreiundzwanzig Minuten, waren die zwölf Männer wieder vor der Metallwand versammelt. Sie hatten es sich in den Sesseln bequem gemacht und waren auf eine längere Unterhaltung vorbereitet.

Ohne Übertreibung ließ sich sagen, daß auf der Erde noch nie ein merkwürdigeres Gespräch stattgefunden hatte.

Melnikow und Wtorow trugen Filmkameras bei sich.

Augenscheinlich brauchte diesmal weder Wtorow noch jemand anderes einzugreifen. Die Phaetonen hatten selbst den Zeitpunkt bestimmt, und es war anzunehmen, daß ihre Automatik selbsttätig zu arbeiten anfangen würde. So war es auch, allerdings begann das Gespräch mit sieben Minuten Verspätung.

Weshalb diese Verzögerung? Viele Ursachen waren möglich.

Erstens konnten die Phaetonen den zweitausendsten Teil eines Jahres einfach deswegen als Frist angegeben haben, weil eine runde ’Zahl gedanklich bequemer wiederzugeben war und sie die sieben Minuten Verspätung für unwesentlich hielten. Zweitens konnte das Uhrwerk — etwas Derartiges mußte ja vorhanden sein — nach so langer Zeit ein wenig gelitten haben. Drittens war eine Verschiebung der Umlaufzeit der Erde um die Sonne in den verflossenen Jahrtausenden, wenn nicht Jahrmillionen, durchaus möglich.

Aber die Menschen wunderten sich dennoch sehr. Unwillkürlich fiel ihnen ein merkwürdiger Umstand in die Augen: Dreiundzwanzig Minuten plus sieben ergeben dreißig. Damit hätte die von den Phaetonen vorgesehene „Pause“ mit verblüffender Genauigkeit viereinhalb Stunden gedauert.

Andererseits konnten die Phaetonen doch aber nicht die gleiche Zeitrechnung gehabt haben wie die heutigen Menschen.

Ein Zufall? Vielleicht, aber es fiel schwer, an einen so präzisen Zufall zu glauben.

Blaue Nebel und Kristallfäden gab es diesmal nicht. An Stelle der „zerschmolzenen“ Wand erschien sofort Iaja.

„Ich höre“, sagte er.

Die erste Frage lautete, weshalb der Phaeton untergegangen sei.

Der Bericht begann. Den zwölf Zuhörern war, als spreche wirklich jemand zu ihnen. Die Aufzeichnung der gedanklichen Bilder war erstaunlich genau. Jedoch nicht immer.

Alle bemerkten die Pausen in Iajas Bericht Es entstand der Eindruck, als „schweige“ der Phaetone zeitweilig, aber dieses Schweigen war nicht durch die Logik der Worte gerechtfertigt.

Erst zum Schluß gab Iaja eine Erklärung dafür.

Den Menschen hatte in den Sprechpausen ein „Film“ gezeigt werden sollen, der den Bericht illustrierte. Sie sahen jedoch keinen Film.

Die Tragödie einer Welt

Ein geübter Stenograph notiert eine Rede leicht und exakt, ohne Auslassungen und Entstellungen, so daß man sie hinterher in derselben Form, in der sie gehalten wurde, reproduzieren kann.

Ganz anders verhielt es sich mit Iajas Bericht. Er wurde von vier Mann notiert, doch jeder von ihnen hatte am Schluß eine andere Aufzeichnung.

Daran war nichts Verwunderliches. Die Menschen hatten eben noch keine Erfahrung mit dem Aufzeichnen fremder Gedanken.

In jedem Kopf hatte der Bericht des Phaetonen anders geklungen, je nach dem Grad der Empfänglichkeit. Außerdem war auch der Bericht selbst nicht überall klar und verständlich gewesen.

So standen nach dem „Gespräch“ vier verschiedene Aufzeichnungen und die unterschiedliche Erinnerung von acht Personen zur Verfügung. Es kostete große Mühe, daraus eine Mitteilung für die Presse zusammenzustellen.

Ein langer Bericht über ein fremdes und unbekanntes Leben war eben doch etwas ganz anderes als kurze Hinweise von der Art, wie sie die Facettenkugeln der Arsena enthalten hatten. Er ließ sich viel schwerer mitteilen und viel schwerer „vernehmen“.

Die Phaetonen hatten im übrigen auch diese Schwierigkeit vorausgesehen. Sie machten nicht einmal den Versuch, von ihrer Wissenschaft und Technik zu berichten, da sie ganz genau wußten, daß das unmöglich war. Iaja „erzählte“ nur vom Leben auf dem Phaeton, von der Ursache des Unterganges und dem Schicksal der Phaetonen. Er war dabei offenkundig bemüht, so einfach wie möglich zu denken. Aber manches blieb doch ungeklärt, zumal der angekündigte „Film“ fehlte.

Dennoch wurde das Wesentliche, das, was die Wissenschaftler der Erde am meisten interessierte, hinreichend vollständig übermittelt und aufgenommen. Die Tragödie des fünften Planeten, einer dichtbesiedelten Welt, die über eine hochentwickelte Wissenschaft und eine leistungsfähige Technik verfügt hatte, offenbarte sich.

Iajas Antwort auf die erste Frage ergab folgendes: Lange bevor es auf dem Phaeton ein vernünftiges Wesen gegeben hatte, war er bereits dem Untergang geweiht. Die unerbittlichen Gesetze der Massenanziehung und der Himmelsmechanik verurteilten ihn dazu.

Im Weltall geht alles sehr langsam vor sich. Die Natur hat es niemals eilig. Millionen und aber Millionen Jahre lebten die Phaetonen auf ihrem Planeten, ohne etwas von der Gefahr zu ahnen.

Erst ganz allmählich entwickelte sich ihre Wissenschaft. Ebenso wie auf der Erde war die Astronomie die Stammutter. Die Phaetonen machten sich die zahllosen Kräfte der Natur dienstbar, zunächst aufs Geratewohl, dann planmäßiger und schneller.

Schließlich kam der Tag, da die Wissenschaft enthüllte, daß ihr Planet unvermeidlich untergehen würde. Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit.

Die Fliehkraft des Phaeton war etwas größer als die Anziehungskraft der Sonne auf ihn. Mit jedem Umlauf, mit jedem „Jahr“ entfernte er sich daher vom Zentralgestirn und näherte sich der Bahn des Jupiter, des Giganten unseres Planetensystems.

Die verhängnisvolle Annäherung erfolgte außerordentlich langsam, aber unaufhörlich und unerbittlich. Schließlich mußte der Augenblick kommen, da bei einer Opposition des Phaeton und des Jupiter die Störkraft des letzteren die Kohäsionskraft der Moleküle des ersteren übersteigen und zur Explosion des Phaeton führen würde.

Die Wissenschaftler hatten den Augenblick der Katastrophe genau vorausberechnet. Nun standen die Phaetonen vor dem Problem, ihre Nachkommen zu retten.

Was nach den zeitlichen Maßstäben des Kosmos nahe bevorsteht, ist nach denen des Menschen noch weit entfernt. Keiner der zu jener Zeit lebenden Phaetonen war unmittelbar von der Katastrophe bedroht. Erst spätere Generationen erwartete der Untergang.

Aber arbeitet nicht jede Menschheit für die Zukunft? Auch jene, die auf der Erde angefangen haben, den Kommunismus aufzubauen, denken an ihre Nachkommen, sorgen für sie.

Die Phaetonen zogen zwei Möglichkeiten in Erwägung, die gestellte Aufgabe zu lösen. Entweder mußten sie die Umlaufgeschwindigkeit ihres Planeten ändern, so daß er sich wieder der Sonne näherte und aus der gefährlichen Nähe des Jupiter fortkam. Oder wenn das nicht gelang, mußten sie die gesamte Bevölkerung des Phaeton rechtzeitig auf einen anderen Planeten umsiedeln. Fortan konzentrierte die phaetonische Wissenschaft alle Kräfte auf die Lösung dieser Aufgaben, von denen jede ungeheure Schwierigkeiten bot.

Es war klar, daß eine Umsiedlung von Milliarden Menschen praktisch unmöglich war. So gingen die Phaetonen bewußt dazu über, die Geburten zu beschränken. Allein das schon zeugte anschaulich davon, daß die Rettungsaktion eine Sache der gesamten Bevölkerung geworden war.

Astronautik und Atomtechnik der Phaetonen entwickelten sich stürmisch. Die grausame Notwendigkeit spornte die Wissenschaftler zur Eile an.

Iaja dachte so deutlich und konkret, daß sein Bericht den Menschen wenigstens eine allgemeine Vorstellung von der Entwicklung der Kosmonautik auf dem Phaeton vermittelte. Es wurde deutlich, daß die Phaetonen den Weg von der Flüssigkeitsrakete zur Atom- und schließlich zur Photonenrakete sehr rasch zurückgelegt hatten. Aber auch dann waren sie nicht stehengeblieben. Kamow, Woloschin, Melnikow und andere Fachleute auf dem Gebiet der Astronautik begriffen (allerdings nur sehr vage), daß die Photonenraketen von Gravitationsraketen abgelöst worden waren. Die Phaetonen hatten das Geheimnis der Schwerkraft ergründet und sie sich für ihre interplanetaren Flüge nutzbar gemacht.

Eine kosmische Expedition nach der anderen startete vom Phaeton, um eine neue Heimat zu suchen.

Zunächst richtete man das Augenmerk natürlich auf Mars und Erde, die nächsten Nachbarn, die möglicherweise günstige Lebensbedingungen boten. Doch der Mars entsprach den Erwartungen nicht, er war bereits damals in jenem Zustand, in dem ihn später die erste irdische Expedition vorfand. Auf der Erde trafen die Phaetonen dagegen bereits den künftigen Herren an — vernunftbegabte Wesen, die zwar noch auf einer primitiven Stufe standen, sich aber zweifellos weiterentwickeln würden.

Vielleicht hätte dieser Umstand allein sie nicht abgehalten, sich hier anzusiedeln. Doch die Wissenschaftler stellten fest, daß die Erde ein zu warmer Planet für die sei, die in ihrer Heimat ein kälteres Klima gewohnt waren.

Die Venus erwies sich sogar als noch ungünstiger.

Nachdem sich die Phaetonen überzeugt hatten, daß es in unserem Sonnensystem keinen für sie geeigneten Planeten gab, machten sie sich auf den Weg zu den Nachbarn der Sonne, zu anderen Sternen.

Viele Jahrzehnte verwandten sie auf die Suche. Die Katastrophe rückte unaufhaltsam näher.

Eine Methode, die Umlaufgeschwindigkeit des Phaeton zu beeinflussen, wurde nicht gefunden. Von Jahr zu Jahr wuchs die Unruhe.

Schließlich entdeckte man eine neue Heimat, die in jeder Beziehung dem Phaeton glich und noch unbewohnt war.

Iaja konnte den Menschen nicht angeben, wo sich dieser Planet befand. Aber er teilte mit, daß er achtundvierzig Lichtjahre von der Sonne entfernt sei. Das ließ darauf schließen, daß es sich um einen der Planeten handelte, die um die Wega kreisen.

Natürlich verwendete Iaja nicht den Ausdruck „Lichtjahr“. Er „sprach“ von der Zeit, die ein Lichtstrahl brauche, um von der Sonne zur Erde zu gelangen. Die Mitglieder der Wissenschaftlerkommission rechneten diese Angaben mit Hilfe von Rechenautomaten in Lichtjahre oder Parsec um.

Unterdessen hatte sich die Bevölkerung des Phaeton auf ein Fünftel ihrer ursprünglichen Zahl verringert. Aber auch das war noch sehr viel. Eine ungeheure Arbeit stand bevor.

Allmählich erstarb das Leben auf dem Phaeton. Tausende von Fabriken stellten sich auf den Bau von interstellaren Raumschiffen um. Eine Raumschiffflottille nach der anderen verließ unser Sonnensystem. Mit annähernder Lichtgeschwindigkeit trugen sie ihre Herren der neuen Heimat entgegen. Eine gigantische Arbeit wartete dort auf Generationen von Phaetonen.

Nach Iajas Worten waren in der ganzen Zeit dieser beispiellosen „kosmischen Evakuierung“ nur sieben Raumschiffe verlorengegangen oder vielmehr verschollen. Das zeugte von hervorragender Organisation und ausgezeichneter Technik. Wenn man bedenkt, daß es zu der Zeit noch eine halbe Milliarde Phaetonen gab, waren, selbst wenn jedes Raumschiff tausend Personen faßte, immer noch mindestens fünfhunderttausend Raumschiffe zu ihrem Transport nötig gewesen. Aber außer den Menschen mußten unbedingt auch noch die Minimalausrüstung für die künftigen Fabriken und vieles andere zur Wega gebracht werden, ohne die die bisherige Kultur und Zivilisation in der neuen Heimat nicht wiederaufgebaut werden konnte.

Iaja erzählte, die Evakuierung sei innerhalb von siebzig Phaetonenjahren erfolgt, das heißt siebzig Umläufe des Phaeton um die Sonne. Da seine Bahn jenseits der Marsbahn gelegen hatte, mußte ein Umlauf mindestens drei Erdenjahre gedauert haben (nach den Kleinplaneten, den Bruchstücken des Phaeton, zu urteilen, sogar noch länger). Also hatte die Bevölkerung des Planeten über zweihundert Erdenjahre lang unter den Bedingungen der pausenlosen Evakuierung gelebt. Jene, die als letzte die Wega erreichten, trafen die ersten schon nicht mehr lebend an.

Es war schwer, sich alle Einzelheiten dieser unwahrscheinlich schwierigen Operation vorzustellen. Mit angehaltenem Atem lauschten die zwölf Männer der leidenschaftslosen Stimme Iajas.

Stolz auf den Menschen, seinen Geist, seine Energie und seinen Willen erfüllte die Versammelten.

Je länger Iaja in seinem Bericht fortfuhr, um so deutlicher erstand vor den Zuhörern das ideale Bild der Phaetonen. Sie waren Menschen einer fernen Vergangenheit, aber zweifellos auch der Zukunft. Wie sie würden auch die Menschen der Erde einmal werden.

Der Zeitpunkt der Katastrophe war bereits sehr nahe gerückt.

Die Bahnen des Phaeton und des Jupiter lagen so dicht nebeneinander, daß bei der nächsten Opposition, bis zu der die Tage zu zählen waren, der Untergang drohte. Zu dieser Zeit befanden sich nur noch wenige Menschen auf dem Planeten. Lediglich die Besatzung der letzten Flottillen.

Was sahen sie um sich herum? Nichts als verödete Städte und Fabriken — leer und verlassen, sinn- und zwecklos geworden.

Die Stille des Todes herrschte überall.

Jahrtausendelang hatten Generationen von Phaetonen gewirkt. Und nun lag alles, was sie geschaffen hatten, die mannigfaltigen Früchte der Kultur und der Zivilisation, alles, was man nicht hatte mitnehmen können, stumm und zum Untergang verurteilt da.

Selbst Tiere gab es auf dem Phaeton nicht mehr. Einen Teil, die nützlichsten, hatte man in die neue Heimat mitgenommen, andere, die an Hochgebirgsklima gewöhnt waren, hatte man auf den Mars umgesiedelt und den Rest aus Mitleid getötet.

Es muß noch erwähnt werden, daß die vorläufig in der alten Heimat Gebliebenen fast nichts von dem wußten, was auf dem neuen Phaeton vor sich ging. Nur einmal während der ganzen Evakuierungszeit kehrte ein Raumschiff zurück. Hundert Erdenjahre dauerte die Reise in beiden Richtungen, und das, obwohl das Raumschiff mit annähernder Lichtgeschwindigkeit flog. Für die Besatzungsmitglieder eines solchen Raumschiffs verkürzte sich die Zeit nach dem Gesetz der Relativitätstheorie zwar stark, so daß sie nur einen unbedeutenden Teil ihres Lebens unterwegs waren, für jene auf dem neuen und alten Phaeton aber war die Zeit ihren gewohnten Gang gegangen. Daher unternahm man solch einen Flug auch nicht ohne zwingende Notwendigkeit.

Die Phaetonen flogen zur Wega, ohne zu wissen, was sie dort erwartete; sie verließen sich ganz auf jene, die vor ihnen dort eingetroffen waren.

Schließlich war die letzte Flottille gestartet und hatte unser Sonnensystem verlassen. Nur ein kleines Raumschiff mit acht Wissenschaftlern blieb auf dem Phaeton zurück. Sie hatten den Auftrag, die Katastrophe zu filmen und die Arbeiten am Aufbewahrungsort auf der Erde abzuschließen.

Die Phaetonen kannten das Leben auf unserem Planeten gut.

Sie wußten, daß die Menschheit der Erde ihnen in ferner Zukunft in allem ähnlich werden würde. Da war es ganz natürlich, daß sie auf den Gedanken kamen, den künftigen Generationen der Erdenmenschen Kunde von ihrer Existenz zu hinterlassen.

Es lockte sie der Gedanke, einmal, wenn auch erst in ferner Zukunft, Verbindung mit den Brüdern in der früheren Heimat zu bekommen. Denn im weiteren Sinne war für alle Phaetonen unser Sonnensystem die Heimat. Die Sonne blieb für sie stets die unfreiwillig verlassene Mutter.

Iaja war der Kommandant dieses letzten Raumschiffes gewesen. Nach Erfüllung seines Auftrags sollte er ebenfalls Kurs auf die Wega nehmen.

Doch das Schicksal hatte es anders gewollt.

Die letzten acht Phaetonen konnten unser Sonnensystem nicht mehr verlassen. Ihnen war es bestimmt, hier zu sterben.

Das Unglück geschah, als die Phaetonen auf der Erde weilten.

Mit Hilfe leistungsstarker optischer Geräte beobachteten die acht Wissenschaftler den Untergang ihres Planeten. Sie sahen, wie die mächtige Anziehungskraft des Jupiter den Phaeton auseinanderriß.

Es war die Geburtsstunde des Asteroidengürtels.

Ein Teil der Bruchstücke raste auf die Sonne zu. Auf ihrem Wege kreuzten sie auch die Bahn unseres Planeten. Ein Hagel von Meteoriten stürzte auf die Erde und ihren Trabanten. Ein riesiges Trümmerstück bohrte sich unmittelbar neben dem Raumschiff der Phaetonen in den Boden. Eine heftige Detonation erschütterte die Luft.

Als die betäubten Phaetonen wieder zu sich kamen, sahen sie, daß eine der Abteilungen ihres Schiffs zerstört war. Gerade jene, in der sich die „Treibstoffvorräte“ zur Erzielung annähernder Lichtgeschwindigkeit befunden hatten.

Nun waren sie also dazu verurteilt, für immer in Sonnennähe zu bleiben. Mit dem gewöhnlichen, für interplanetare Flüge bestimmten „Treibstoff“ zur Wega zu fliegen war völlig sinnlos.

Solch ein Flug hätte Jahrtausende gedauert.

Auf die Hilfe anderer Phaetonen konnten Iaja und seine Gefährten nicht rechnen — sie waren nicht das erste Raumschiff, das im Laufe der Evakuierung verschollen war.

Der Schlußakt ihrer Tragödie begann.

Die acht Phaetonen ertrugen den unerwarteten Schlag offenbar mannhaft. Ihren Auftrag, den Erdenmenschen Kunde von sich zu hinterlassen, erfüllten sie exakt, so gut, wie es in ihren Kräften stand.

Das Bruchstück des Phaeton hatte ihnen nämlich nicht nur die Möglichkeit geraubt, die neue Heimat zu erreichen, es vernichtete auch vieles von dem, was für die Menschen bestimmt gewesen war. Darunter alle „Filme“.

So blieb den Phaetonen nur eine Möglichkeit: Sie „filmten“ Iaja, legten seine Darstellung in einen vereinfachten Apparat ein, montierten eine „sprechende“ Maschine und flogen, nachdem sie den Aufbewahrungsort fest verschlossen hatten, zur Arsena und schließlich zur Venus.

Darüber, wie die Phaetonen es fertiggebracht hatten, ihr Raumschiff zu reparieren, sagte Iaja nichts.

Nachdem der Phaetone verstummt war und regungslos vor den Menschen stand, als warte er auf weitere Fragen, schwiegen die versammelten Menschen lange. Der Bericht hatte sie erschüttert. Jeder von ihnen dachte unwillkürlich, was wäre, wenn der Erde das Schicksal des Phaeton drohte. Wären auch die Menschen imstande, die notwendigen Rettungsmaßnahmen diszipliniert und einträchtig durchzuführen? Aus Iajas Bericht war ersichtlich, daß die Phaetonen wie eine große Familie gelebt hatten, daß sie gemeinschaftlich und nach einem einheitlichen Plan vorgegangen waren. Deswegen hatten sie auch über die Kräfte der Natur gesiegt. Was würde in gleicher Situation auf der Erde geschehen?

Die nächste Frage stellte Kamow: „Wie ist Ihrer Meinung nach die Verbindung zwischen uns und Ihren Nachkommen herzustellen?“ Iaja antwortete. Die Phaetonen hatten die Frage vorausgesehen.

„Drehen Sie sich um!“ sagte er.

Die zwölf wandten sich der gegenüberliegenden Wand zu.

Sie verschwand und gab das, was hinter ihr lag, den Blicken preis. Etwas, das aus Kristall und Stahl zu bestehen schien, wurde sichtbar.

„Zu meiner Zeit“, sagte Iaja, „kannten wir noch kein Verfahren, eine Nachrichtenverbindung zwischen so weit voneinander entfernten Planeten herzustellen. Aber unsere Wissenschaft war der Lösung dieses Problems schon ziemlich nahegekommen. Das, was Sie vor sich sehen, ist nicht von uns aufgestellt. Wir wußten noch nicht, was es sein wird. Wir waren jedoch fest überzeugt, daß es einmal Wirklichkeit würde. Ich bin sicher, daß Sie den Apparat sehen. Mit seiner Hilfe werden Sie erfahren, was ich nicht weiß.“ Der Apparat aus Kristall und Stahl war später aufgestellt worden, lange nach dem Bau des Aufbewahrungsortes. Die Phaetonen hatten sich zu diesem Zweck eigens von der Wega zur Erde begeben. Wer weiß, vielleicht lag das noch gar nicht so lange zurück!

Die zwölf stellten Iaja noch viele Fragen.

Manchmal beantwortete er sie, manchmal auch nicht. Fragen wissenschaftlicher oder technischer Art beantwortete er grundsätzlich nicht.

Die Unterhaltung dauerte vier Stunden. Die Menschen verstanden Iaja immer besser. Ihr Gehirn gewöhnte sich allmählich daran, fremde Gedanken aufzunehmen.

Zum Schluß sagte Iaja: „Bald werden Sie Besuch von unseren Wissenschaftlern bekommen. Sie werden mehr wissen, als ich wußte, und werden die Fragen, die Sie mir gestellt und auf die Sie keine Antwort erhalten haben, besser beantworten. Für Sie beginnt jetzt eine neue Epoche. Seien Sie bereit, den Wissensschatz einer alten Welt zu übernehmen. Und nun leben Sie wohl! Bewahren Sie“ uns, die wir Sie nicht gekannt, aber geliebt haben, im Gedächtnis.“ Iaja verschwand. Wieder tauchte vor den Menschen die matte, in gelbgrauem Glanz schimmernde Metallwand auf. Keine „Befehle“ würden sie mehr dazu bringen, abermals zu verschwinden und Iajas Erscheinung noch einmal zu zeigen. Diesmal war alles endgültig vorbei.

Wie seine sieben Gefährten war Iaja in grauer Vorzeit auf der fernen Venus gestorben und sein Leichnam in der blauen Flamme der steinernen Schale verbrannt.

Doch die ihm und seinen Gefährten gestellte Aufgabe war erfüllt.

Die Menschen der Erde hatten erfahren, daß irgendwo in der Nähte der Wega menschliche Brüder existierten und wie sie sie herbeirufen konnten.

Zweiter und letzter Epilog

An einer der Kristallfacetten des geheimnisvollen Apparates sprang ein blauer Knopf in die Augen. Er war durch einen Splint gesichert, damit der Mechanismus nur durch den ausdrücklichen Willen der Menschen, nicht aber versehentlich ausgelöst werden konnte.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen.

Kamow zog den Splint vorsichtig heraus. Das ging ganz leicht, als sei der Metallstift nicht vor undenklichen Zeiten, sondern erst tags zuvor angebracht worden.

Was würde weiter geschehen?

Die Menschen vertrauten den Phaetonen. Ohne einen Augenblick zu zögern, drückte Kamow auf den Knopf.

Alle erwarteten, eine Stimme zu vernehmen. Doch etwas ganz anderes geschah.

Die Nachfahren der Erbauer des Aufbewahrungsortes verfügten offensichtlich bereits über neue Methoden.

Sie „sagten“ den Menschen nicht, was sie zu tun hatten und was passieren würde, sondern „zeigten“ es ihnen.

Die vor den Menschen stehende Maschine umgab sich mit einem milchig-weißen Dunstschleier, der sie fast den Blicken entzog, und auf diesem „Bildschirm“ erschienen nacheinander Bilder, Schemata und bewegliche Zeichnungen, die an einen mit künstlerischer Meisterschaft gedrehten Zeichentrickfilm erinnerten.

Mit Hilfe dieser Schemata und Zeichnungen wurde erklärt — allerdings ohne technische Einzelheiten —, was die Phaetonen vorbereitet hatten, damit die Menschen sie herbeirufen konnten, sobald der geeignete Zeitpunkt gekommen war. Dieser Zeitpunkt war nach Meinung der Phaetonen dann gegeben, wenn sie Iaja gefunden und mit ihm gesprochen hatten.

Die Maschine berichtete, daß jenseits der Bahn des Pluto, des äußersten Planeten in unserem Sonnensystem, noch ein winziger Himmelskörper, etwa zweihundertmal kleiner als der Mond, um die Sonne kreise. Auf ihm hätten die Phaetonen einen Apparat aufgestellt, der in Tätigkeit trete, sobald jemand zum zweitenmal auf den blauen Knopf drücke. Dadurch werde ein Signal zur neuen Heimat der Phaetonen geschickt, auf das hin ein phaetonisches Raumschiff zur Erde fliegen würde. So sollte die Begegnung der Bewohner der beiden Welten zustande kommen.

Da die Phaetonen die erstaunte Frage, weshalb der Apparat so weit entfernt installiert worden sei, vorausgesehen hatten, erklärten sie, daß das Signal mit einer Lichtflamme verbunden sein werde, deren Temperatur Millionen Grade erreiche. In der Annahme, das könnte für die Erde und ihre Bewohner gefährlich werden, hätten sie davon abgesehen, den Mond zu nehmen.

Aber nicht etwa diese Lichtflamme diene als Signal. Das Licht breite sich zu langsam aus. Sie, die Phaetonen, hätten etwas anderes gefunden. Was, erklärten sie nicht. Sie gaben lediglich an, daß sie das Signal im selben Augenblick, da es gegeben werde, auf ihrem Planeten empfangen würden. Es lege die unvorstellbare Entfernung von der Sonne bis zur Wega in einem Augenblick zurück.

Das war alles.

Weiteres den Menschen mitzuteilen, hielten sie nicht für nötig.

Ebenso wie bei dem „Film“ im ringförmigen Raumschiff, den Melnikow und Wtorow gesehen hatten, wurde die „Vorführung“ noch zweimal wiederholt.

Dann verschwand der milchige Dunst.

Die Menschen sahen wieder die von Kristall und Stahl blitzende unbekannte Maschine vor sich. Nun brauchten sie nur noch der Aufforderung nachzukommen und ein zweites Mal auf den Knopf zu drücken.

Dann würde ein Raumschiff Kurs auf die Erde nehmen, das zweifellos vollkommener war als jenes, das man auf der Venus gefunden hatte — im Laufe der Jahrtausende mußten die Phaetonen sich weiterentwickelt, vieles neu erkannt und hinzugelernt haben. Die älteren Brüder der Menschen würden herbeifliegen, um sie einzuweihen in das, was sie noch nicht wußten. Iaja hatte recht gehabt: Für die Menschheit brach eine neue Epoche an, die durch eine noch vollkommenere Kenntnis der Natur und ihrer Gesetze gekennzeichnet war.

Dutzende von Teleskopen wurden auf den Himmel gerichtet.

Die Menschen wollten das Signallicht sehen. Nach den Hinweisen der Phaetonen würde es so hell sein, daß es von der Erde aus sichtbar sein mußte.

Aber niemand wußte, an welcher Stelle es aufflammen würde.

Die Astronomen hatten den zehnten, den Zwergplaneten, noch nicht entdeckt und auch seine Bahn noch nicht berechnet.

Zum festgesetzten Zeitpunkt drückte Kamow auf den Knopf.

Was geschah?

Er selbst hörte und sah nichts. Der Apparat veränderte weder sein Aussehen, noch deutete sonst etwas darauf hin, daß er funktionierte. Aber auch die Astronomen beobachteten nichts.

Nirgends wurde das Aufflammen von Licht festgestellt.

War das Signal gegeben worden?

Es war natürlich möglich, daß Wolken die Beobachtung verhindert hatten, oder das Licht war auf der Tagseite unseres Planeten aufgeflammt und die Sonnenstrahlen hatten es den Blicken der Astronomen entzogen.

Auf diese Fragen gab es keine Antwort.

Doch die Menschen glaubten an die Vollkommenheit der Technik der Phaetonen. Alle waren überzeugt, daß das Signal gegeben und empfangen worden war. Nur mußte man mindestens ein halbes Jahrhundert warten.

Würden die Phaetonen kommen?

Oder würde die Freundschaft der beiden Welten erst Wirklichkeit werden, wenn die Phaetonen wieder einmal von sich aus die Erde besuchten, ohne zu wissen, daß das Signal längst gegeben war, womöglich erst in tausend Jahren?

Oder mußten die Menschen der Erde selber herausfinden, wo die neue Heimat der Sonnenkinder lag, mußten sie sich selbst auf den Weg dorthin machen?

Auf jeden Fall würde man sich kennenlernen, früher oder später.

Die Vernunft kapituliert nicht, sie findet den Weg zur anderen Vernunft, denn sie weiß, daß diese nahe ist.

Nahe nach den Maßstäben des Weltalls.

Voll Selbstvertrauen und sicher nähert sich die Technik dem Punkt, da diese Maßstäbe auch für den Menschen kein Hindernis mehr sind. Denn der Geist des Menschen kennt keine Schranken!

1959

Inhalt

Die Schwester der Erde


Boris Melnikow

„SSSR-KS 3“

Start in die Ferne

Raumflugalltag

Die Arsena

Eine sensationelle Entdeckung

Tod und Leben

Die Schwester der Erde

Ein rätselhafter Fund

Die Koralleninsel

Luftaufklärung

Zu Hilfe!

Ein zweites Rätsel

Die Welt unter Wasser

Der Flug zum Festland

In den Klauen des Gewitters

Am Ufer des Sees

Eine Minute zu spät

Die unterirdische Stadt

Nacht

Die Herren des Planeten

Die Venusianer

Unterhaltung ohne Worte

Das Geheimnis der Steinschale

Der Gefangenschaft Ende

Zu den Ufern des Bergsees


Das Erbe der Phaetonen


Die metallene Röhre

In der Falle

Über Jahrtausende hinweg

Der fünfte Planet

Das astronomische Rätsel

Der letzte Start

In die Arme der Sonne!

Die Verfolgung

Die Kraft der Vorstellung

Eine Stunde vor dem Tode

Es ist unsere Pflicht!

Das Gesetz der Leere

Der Verzicht

Die Katastrophe

„Prince of Wales“

Am Ziel

Epilog

Im Eis der Antarktis

Das Erbe der Phaetonen

Die Tragödie einer Welt

Zweiter und letzter Epilog

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