DIE SCHWESTER DER ERDE

Boris Melnikow

Der junge Mann, der das Abzeichen „Meister des Sports“ trug, blieb vor der geschlossenen Tür stehen.

Als wüßte er nicht, was er tun sollte, fuhr er sich mit der Hand über das kurzgeschnittene Haar. In sein sonnverbranntes Gesicht stieg die Röte der Erregung. Er holte tief Luft wie ein Mensch, der zum Sprung ins kalte Wasser ansetzt, und klopfte behutsam an.

„Herein!“ Der junge Mann öffnete die Tür.

In dem kleinen Zimmer standen Polstersessel. Die zwei Bücherschränke, die Bilder an den Wänden und der flauschige Teppich, der den ganzen Fußboden bedeckte, erinnerten weniger an ein Dienstzimmer als an das Arbeitszimmer einer Privatwohnung.

Am Fenster stand ein breitschultriger Mann mit blondem, nach hinten gekämmtem Haar. Als er hörte, daß die Tür aufging, drehte er sich um.

Der junge Mann neigte ehrerbietig den Kopf und stellte sich vor.

„Filmingenieur Gennadi Wtorow.“

„Setzen Sie sich, Genosse Wtorow!“ Der breitschultrige Mann wies auf einen Sessel am Tisch. „Ich habe einen Brief von Professor Balandin erhalten. Er äußert sich sehr lobend über Sie und empfiehlt Sie als Kameramann für die Expedition. Da Sie nun zu mir gekommen sind, darf ich annehmen, daß Sie bereit sind, mitzufliegen.“

„Das ist nicht ganz richtig ausgedrückt, Boris Nikolajewitsch“, antwortete Wtorow. „Ich träume davon, daß ich an der Expedition teilnehmen darf.“

„Dieser Traum kann Wirklichkeit werden. Für Sie bürgt Professor Balandin. Das will schon etwas heißen! Aber außer Kenntnissen und Wünschen wird noch eine einwandfreie Gesundheit verlangt. Sie sind Meister des Sports? In welcher Sparte?“

„Bergsteiger.“

„Das kommt uns zustatten. Die endgültige Entscheidung trifft der Expeditionsleiter, Akademiemitglied Belopolski, aber ich glaube nicht, daß er etwas einwenden wird. Dazu liegt meiner Meinung nach keine Veranlassung vor.“

„Vielen Dank, Boris Nikolajewitsch!“ sagte Wtorow erregt.

„Bedanken Sie sich nicht zu früh! Sind Sie Komsomolze?“

„Ich bin vor kurzem Kandidat der Partei geworden.“

„Sie sind sehr jung.“ Melnikow musterte prüfend Wtorows Gesichtszüge. „Ich war vor acht Jahren ebenso jung und wollte damals — wie Sie heute — als Kameramann meine erste Reise in den Kosmos antreten. Nicht wahr, da hat unser Schicksal etwas Gemeinsames? Aber Sie haben mir etwas voraus. Sie sind Ingenieur, ich aber war einfacher Journalist. Tut es Ihnen nicht leid, vom Ingenieur zum Fotografen umzusatteln?“

„Als Kameramann zu einem Stern zu fliegen ist bedeutend ehrenvoller, als auf der Erde Ingenieur zu sein.“ Melnikow lachte.

„Ich sehe, Sie sind ein Enthusiast“, sagte er. „Das ist gut. In unserer Tätigkeit läßt sich ohne Enthusiasmus die lange Trennung von der Erde schwer ertragen.“ Er zog einen Brief aus der Tasche und warf einen Blick darauf. „Also, Gennadi Andrejewitsch, wir dürfen annehmen, daß alles in Ordnung geht. Erzählen Sie mir von sich. Als Stellvertretender Expeditionsleiter muß ich von den Besatzungsmitgliedern alles wissen.“

„Und was interessiert Sie?“

„Alles! Ihr ganzes Leben vom Augenblick Ihrer Geburt an.“

„Mein Leben ist sehr einfach“, begann Wtorow unschlüssig.

„Das tut nichts zur Sache, erzählen Sie!“ Melnikow lächelte, um sein Gegenüber zu ermuntern. Dieses offenherzige Lächeln stand in seltsamem Widerspruch zu dem strengen Ausdruck seiner ungewöhnlich ruhigen Augen.

Was für wunderschöne Augen er hat! dachte Wtorow.

Er fing an zu erzählen. Mit jedem Wort wurde seine Stimme ruhiger.

Wtorow war sehr erregt gewesen, als er dieses Gebäude, das Kosmische Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, betreten hatte. Sollte, doch darin über sein ganzes weiteres Leben entschieden werden. Mit klopfendem Herzen hatte er die Schwelle dieses Arbeitszimmers überschritten. Die Nähe des berühmten Kosmonauten lähmte im ersten Augenblick sein Denken, und es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden.

Jedoch allmählich beruhigten ihn Melnikows freundlicher Ton und seine kollegiale Haltung.

Er sprach, und Melnikow, der die Arme auf den Tisch und das Kinn auf die Hände gestützt hatte, hörte aufmerksam zu.

Wtorows Schilderung nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Schule, Komsomol, Institut, drei Jahre Arbeit in einem Projektierungsbüro und der Entschluß, sein ganzes Leben der Raumfahrt zu weihen — das war alles, was er von sich zu berichten wußte.

„Sie sagen, daß Sie vor kurzem geheiratet haben?“ fragte Melnikow. „Wie steht denn Ihre Frau zu Ihrem Vorhaben?“

„Sie ist voll und ganz damit einverstanden.“

„Gut. Ich werde dem Expeditionsleiter alles vortragen. Kommen Sie übermorgen früh wieder. Damit wir keine Zeit verlieren, gebe ich Ihnen aber schon ein paar Zeilen mit für den Expeditionsarzt, Stepan Arkadjewitsch Andrejew. Fahren Sie zu ihm. Sie sehen zwar sehr gesund aus, aber ob Sie es sind, das muß geprüft werden.“ Nachdem Wtorow gegangen war, blieb Melnikow eine Weile tief in Gedanken versunken sitzen. Der Besuch des jungen Ingenieurs und die Unterhaltung mit ihm riefen jenen weit zurückliegenden Abend ins Gedächtnis zurück, an dem er selber mit den gleichen Absichten wie Wtorow zu Kamow gegangen war.

In den acht Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte Melnikow sich’ sehr verändert. Er war als Siebenundzwanzigjähriger gegangen, den man jedoch seinem Aussehen nach für zwanzig hätte halten können. Inzwischen war aus ihm ein Fünfunddreißigjähriger geworden, der älter aussah, als es seinen Jahren entsprach. Die jugendliche Rundung seiner Wangen und der fröhliche Glanz seiner Augen waren verschwunden. Was er auf dem Mars erlebt hatte, die Teilnahme an den beiden schwierigen Mondexpeditionen und die angestrengte geistige Arbeit — all das hatte ihm seinen Stempel aufgedrückt. Um die Mundwinkel zeichneten sich erste Falten ab, und der Ausdruck seiner Augen wurde von jener unerschütterlichen Ruhe geprägt, die ihn seinerzeit bei Kamow beeindruckt hatte. Über die linke Stirnhälfte zog sich eine tiefe Narbe, als Erinnerung an einen tragischen Unfall — ein Meteorit hatte den Tank ihres Geländewagens durchschlagen und eine Explosion verursacht. Er und Paitschadse waren damals nur wie durch ein Wunder gerettet worden. An seiner linken Hand fehlte ein Finger — er hatte ihn beim Sturz in einen Mondspalt verloren, der zum Glück nicht tief gewesen war.

Viele andere Zwischenfälle hafteten ihm noch im Gedächtnis.

Jeden Schritt eines Sternfahrers umlauern tödliche Gefahren.

Die Natur gibt ihre Geheimnisse nicht gern preis. Jedes muß man ihr mit Gewalt entreißen. Der Erforscher des kosmischen Raumes muß umfangreiche Kenntnisse und grenzenlosen Mut besitzen, muß fest mit seiner Arbeit verbunden und jeden Augenblick bereit sein, für sie sein Leben zu lassen. Kamows Verhalten beim tragischen Start von „SSSR-KS 2“ auf dem Mars war zum ewigen Vorbild für alle Raumfahrer geworden.

Melnikow, der sich nüchtern einschätzte, wußte, daß er heute alle notwendigen Eigenschaften besaß.

Acht Jahre beharrliche Arbeit…

Drei Jahre lang hatte Melnikow an der physikalisch-mathematischen Fakultät studiert, vier Jahre hatte er sich mit Astronomie und Astronautik beschäftigt, zweimal war er — als Mitglied einer sowjetischen und englischen Expeditionsgruppe — zum Mond geflogen. Er hatte Wissen und Erfahrung erworben.

Melnikow erinnerte sich der energischen Gesichtszüge Wtorows, seiner hellblauen Augen, in denen Verstand aufleuchtete, und gelangte zu dem Schluß, daß Professor Balandin sich in dem jungen Mann wohl nicht getäuscht habe.

Ingenieur Wtorow hatte auf Melnikow einen sehr guten Eindruck gemacht. Die Übereinstimmung ihrer Ansichten trug dazu in nicht geringem Maße bei. Ebenso wie Melnikow vor acht Jahren drängte Wtorow nach seiner ersten Fahrt in den Kosmos, und er würde im Raumschiff die gleichen Pflichten zu erfüllen haben. Und auch er würde auf der Erde eine junge Frau zurücklassen.

Melnikow schloß die Augen. Wie leibhaftig stand ihm die Frau, die er liebte, vor Augen — und er fühlte, wie sein Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

Die Liebe versetzt alles in Bewegung!

Die Liebe zu den Menschen, die Liebe zur Familie, die Liebe zur Arbeit und schließlich die Liebe zum Wissen, die den Menschen zum Herrn der Erde gemacht hat.

Boris Melnikow liebte die Arbeit.

Das war die Stimme des Blutes. Sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater waren Arbeiter gewesen. Er selbst hatte zwar einen anderen Weg eingeschlagen, er war Journalist geworden. Aber auch hier dehnte sich vor ihm ein weites Schaffensfeld. Er hatte seinen Beruf leidenschaftlich geliebt und geglaubt, ihm nie untreu werden zu können. Aber da begegnete er Kamow.

Eine märchenhafte Wendung des Schicksals — er wurde an Bord eines Raumschiffes verschlagen, und alles änderte sich von Grund auf. Ihm wurde klar, daß es für ihn ein Leben ohne Fahrten in den Kosmos nicht mehr geben könne, und er war überzeugt, für alle Zeit die Erfüllung gefunden zu haben.

Doch auch seine Stunde kam. Die Liebe zu einer Frau, das älteste und mächtigste Gefühl des Menschen, packte ihn, als er zweiunddreißig Jahre alt war.

Anfangs erschrak er vor diesem neuen Gefühl, weil er dachte, die Liebe würde ihn hindern, das Ziel, das er sich gesteckt hatte, zu erreichen. Inzwischen hatte er eingesehen, daß die Gewißheit, auf der Erde einen liebenden Menschen zu haben, der auf deine Rückkehr wartet, die Kräfte verdreifacht, statt sie, wie er befürchtet hatte, zu schwächen.

Nie würde er Kamows Worte vergessen. Als Sergej Alexandrowitsch erfuhr, daß Melnikow seine Tochter liebte, aber besorgt war, die Liebe könne sich zum Schaden seiner Arbeit auswirken, hatte er gesagt: „Die richtige Frau schadet nie, im Gegenteil — sie hilft dem Mann bei all seinem Tun.“ Jetzt nach drei Jahren war Melnikow überzeugt, daß er die richtige Frau gewählt hatte. Olga billigte leidenschaftlich all seine Pläne, und die unvermeidlichen langen Trennungen schienen sie nicht im geringsten zu schrecken.

Sie hatten sich zufällig in einem Kurort kennengelernt, und Melnikow hatte sich zu ihr hingezogen gefühlt, ohne zu wissen, daß sie Kamows Tochter war. Olga schloß damals gerade ihr Studium am medizinischen Institut ab, und auch er hatte die Universität erst kurz zuvor verlassen. Sie fanden gemeinsamen Gesprächsstoff und stellten fest, daß sie einen ähnlichen Geschmack besaßen.

Olga wußte von Anfang an, mit wem sie das Schicksal hier zusammengeführt hatte, erwähnte aber mit keinem Wort, daß sie Kamows Tochter war. Sie wollte hören, wie Melnikow über ihren Vater sprach, auf den sie unsagbar stolz war. Sie überzeugte sich sehr bald davon, daß Kamow in dem Herzen des jungen Mannes Alleinherrscher war.

Olga zögerte lange, ehe sie ihm ihren Familiennamen nannte.

Als er ihn endlich erfuhr, war er betroffen von dem seltsamen Spiel des Schicksals, das ihn die Tochter jenes Mannes lieben ließ, den er im stillen seit langem Vater nannte.

Boris Melnikow stand nun in der Blüte seiner Jahre. Sein Weg war klar und bis zum Ende seines Lebens vorausbestimmt.

Wo und wann dieses Ende eintreten würde, wußte er nicht, aber er war stets darauf gefaßt. Die Weite des Alls hatte ihm soviel ruhige Weisheit eingegeben, wie man sie auf der Erde nicht zu erlangen vermag. Er hatte vieles gesehen und vieles erlebt, was andere nicht gesehen und erlebt hatten. Er hatte die Erde aus einer Entfernung von vielen Millionen Kilometern betrachtet, und ihm war zutiefst bewußt geworden, wie verschwindend klein sie ist — etwas, was ein Mensch, der die Erde nie verlassen hat, schwerlich zu fassen vermag. Irdischer Ruhm erschien ihm nichtig. Seine Weltauffassung war umfassender als die der anderen. Das war gut, aber es barg eine Gefahr in sich.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der er überhaupt nicht mehr an die Erde und ihre Belange dachte. Er war der Ansicht, das wahre Leben und die wahren Interessen lägen einzig im Weltenraum.

Die Liebe zu Olga half ihm diese Denkweise, die ganz allmählich entstanden war, wieder zu überwinden. Er fühlte sich aufs neue als ein Sohn der Erde und sah ein, daß ihm sein Ansehen bei ihren Bewohnern nicht gleichgültig sein durfte. Erst jetzt konnte er zum echten Wissenschaftler werden.

Das irrige Gefühl, er sei von der Erde losgelöst, verschwand spurlos. Es blieb die durch eigene Erfahrung gefestigte, reale Erkenntnis, daß nicht nur das Weltall, sondern auch der Platz, den die Erde in seinen Weiten einnimmt, etwas Grandioses sind. Das war es gewesen, was ihm nottat. Der Sternfahrer braucht ein solches Bewußtsein. Es verleiht den richtigen Maßstab und das Gefühl für die Perspektive der Arbeit.

Melnikows Freunde beruhigten sich, als sie sahen, daß er den richtigen Weg gefunden hatte. „Ihm hat die Familie gefehlt“, sagte Paitschadse. „Nun hat sich sein Leben geregelt. Jetzt hat alles seine Ordnung.“ Das stimmte. Melnikow hatte früh seine Eltern verloren.

Seine Kindheit verbrachte er im Hause eines Onkels, eines kinderlosen Witwers. Während seines Studiums am Literaturinstitut wohnte er im Studentenwohnheim. Im Grunde hatte er, bevor er Olga heiratete, nie ein Zuhause und die Wärme, die es ausstrahlt, kennengelernt.

Die Uhr schlug und schreckte ihn aus seinen Erinnerungen.

Es war zwölf. In einer halben Stunde wollte Olga kommen. Er hatte ihr seit langem versprochen, sie auf den Raketenflugplatz mitzunehmen und ihr das startbereite Raumschiff zu zeigen. Bis zum Start war es nicht mehr lange hin, jeder Tag war buchstäblich bis zur letzten Stunde eingeteilt. Die freie Zeit, die er jetzt gerade hatte, wollte er nutzen, um sein Versprechen zu erfüllen.

Melnikow kam nie zu spät und konnte es nicht leiden, wenn andere sich verspäteten. Für ihn stand fest, daß Olga pünktlich um halb eins sein Arbeitszimmer betreten würde. Sie hatte in den drei Jahren, die sie einander kannten, den Charakter ihres Mannes gründlich studiert.

Um sich bis zum Eintreffen seiner Frau mit etwas zu beschäftigen, nahm er ein dickes Heft aus dem Tischkasten und schlug dessen letzte Seite auf. Es war das Tagebuch, das ihn bei seinem ersten Raumflug, dem Flug zum Mars, begleitet hatte.

Da — er stieß auf die denkwürdige Eintragung vom 12. Februar des Jahres 19…

„10 Uhr Moskauer Zeit…“

Endlich kann ich mit vollem Recht schreiben: ›Moskauer Zeit‹!

Ich bin in Moskau!

Heute empfinde ich besonders tief das Glück, heimzukehren.

Der gestrige Tag ist wie im Nebel vergangen, aber nie, werde ich auch nur eine Kleinigkeit vergessen!

Noch ganz unter dem frischen Eindruck will ich den letzten Tag unseres Raumfluges schildern. Es wird die letzte Eintragung in meinem Tagebuch sein. Viele Ereignisse habe ich darin eingetragen. In Moskau, an Bord des Raumschiffes und auf dem Mars. Und nun beende ich es in meinem Zimmer, an demselben Schreibtisch, an dem ich es in jener denkwürdigen Nacht zum 2. Juli begonnen habe.

Vor meinen Augen zieht alles vorüber, was ich gesehen habe.

Alle Erlebnisse kommen mir wieder in Erinnerung.

Der Start auf der Erde …

Herrlich ist der Planet mit dem poetischen Namen Venus!“ Melnikow ließ das Heft in den Schoß sinken. Zum soundsovielten Mal in diesen Jahren tauchte vor seinem geistigen Auge das Bild auf, das er acht Jahre zuvor gesehen hatte.

Bleierne Wasser des Ozeans mit blendend weißen Wellenkämmen … Zu Häupten bleierner Himmel… Schwarze Wände ungeheurer Wolkenbrüche … Grelle Blitze durchzucken das trübe Halbdunkel… Endlose Fluren orangefarbener und roter Vegetation … Undurchdringlicher jungfräulicher Wald eines jungen Planeten… Ein hoher Bergkamm, dessen Gipfel sich in dicht geballten Wolkenmassen verbergen.

Sie erblickten die Landschaft der Venus damals von oben.

Bei einem kurzen Flug. Nun aber würden sie sie aus der Nähe kennenlernen, all den Gefahren und Tücken begegnen, die sich hinter der äußeren Schönheit des unerforschten Planeten verbergen mochten.

Aber es muß sein! Der Mensch muß alles wissen!

Melnikow blätterte einige Seiten weiter und las: „Wir bereiten uns auf künftige Raumfahrten vor. Viel werden wir unternehmen. Dutzende Flugbahnen werden die sowjetischen Raumfahrer durch den interplanetaren Raum ziehen. Sie werden alle Geheimnisse lüften, die die Natur eifersüchtig zu wahren trachtet. Der Forscherblick des Menschen wird in die entlegensten Bereiche des Alls, in die Sonnensysteme eindringen…“ So und nicht anders wird es kommen!

Der planmäßige Angriff auf die Geheimnisse des Sonnensystems hat bereits begonnen. Der Mond ist kreuz und quer erforscht. Nahezu ein Jahr schon hält sich eine englische Expedition auf dem Mars auf, die von William Jenkins geleitet wird und der drei russische Wissenschaftler angehören. England hat als erstes Land auf den Aufruf der Akademie der Wissenschaften reagiert, gemeinsam Raumfahrten durchzuführen. Dieses Land, das jahrhundertealte Traditionen auf dem Gebiet der Wissenschaft besitzt und die Heimat vieler unsterblicher Gelehrter ist, hat auch gar nicht anders handeln können. Englands Beispiel sind andere gefolgt: Frankreich, Deutschland und die Schweiz. Es wird auf breiter Front angegriffen.

Vieles ist schon erreicht. Aufgabe Nummer eins, die Erforschung des Mondes, ist fast gelöst. An der Lösung von Aufgabe Nummer zwei, der Erforschung des Mars, wird gearbeitet. Als drittes steht nun die Aufgabe, die Venus zu erforschen. Auf dem Wege zu ihr gilt es, auch einen Teil der vierten Aufgabe zu lösen: die Erforschung der Asteroiden. Das Raumschiff wird auf jenem Asteroiden zwischenlanden, mit dem „SSSR-KS 2“ während der Fahrt zum Mars Bekanntschaft machte. Der Asteroid ist mit Hilfe von Teleskopen schon gründlich studiert worden und hat zu Ehren Paitschadses, der ihn als erster entdeckte, den Namen „Arsena“ erhalten. Nach der Venus werden sich neue kosmische Aufgaben stellen, und so wird es weitergehen, bis ans Lebensende oder doch, solange die Gesundheit und die Kräfte reichen.

„Wovon träumst du?“ Melnikow zuckte zusammen. Er war so in Gedanken versunken, daß er nicht gehört hatte, wie sich die Tür öffnete.

Olga stand zwei Schritte entfernt vor ihm. Ihr blauschwarzes Haar, das glatt gekämmt war, warf einen Schatten auf ihren weißen Teint, in dem ihre tiefschwarzen, die „Kamowschen“ Augen saßen. Vorteilhaft umschloß ein grauwollenes Kostüm ihre kräftige, sportliche Gestalt.

„Na, endlich!“ sagte Melnikow. Er stand auf und trat zu ihr.

„Da bist du ja!“

„SSSR-KS 3“

Boris Melnikow kannte den gigantischen Raketenflughafen am Kljasma-Ufer sehr gut. Es war ein Fleckchen Erde, das er nie vergessen würde. Von hier aus hatte er an Bord des Raumschiffes „SSSR-KS 2“, das von Sergej Alexandrowitsch Kamow geleitet wurde, zum ersten Mal diese Welt verlassen. Hierhin war das Schiff unter dem Kommando Belopolskis zurückgekehrt.

Ohne seinen Kommandanten. Man hatte ihn für tot gehalten und auf dem Mars zurückgelassen. Hier hatte dann das unvergessene Wiedersehen mit Kamow stattgefunden, der wie durch ein Wunder vom Tode errettet worden war. Von hier aus war Paitschadse mit der Expedition Belopolskis an Bord des gleichen „SSSR-KS2“ zum Mond geflogen und, nach einem dreiwöchigen Aufenthalt, zurückgekehrt. Schließlich hatte sich eine englische Expedition unter William Jenkins, der Melnikow als einziger Russe angehörte, von hier aus zu einem Sputnik der Erde begeben.

Einstmals waren auf diesem Feld Versuche mit Atomraketen durchgeführt worden. Das war zu der Zeit, da die Raumfahrten erst vorbereitet wurden. Nach dem Flug von „SSSR-KS 2“ zum Mars war der Raketenflughafen dann völlig den Raumfahrern zur Verfügung gestellt worden. Nun wurden dort die sowjetischen Raumschiffe erprobt, gestartet und gelandet Der Holzzaun war durch ein Eisengitter ersetzt worden. Das Flugfeld hatte eine Betondecke erhalten. Nirgends auf der Welt gab es einen Platz wie diesen, zwölfeinhalb Quadratkilometer groß, eben und glatt wie ein Tisch. Das Gebäude des interplanetaren Bahnhofs war noch das gleiche wie früher, weiß, mit einem flachen Dach, das eine Marmorbalustrade säumte. Aber ringsum war inzwischen eine ganze Stadt emporgewachsen. Zwei Werke, die Teile von Raumschiffen, Mechanismen und Ausrüstungsstücke herstellten, ein astronomisches Observatorium, ein Institut für Kosmogonie, zahlreiche Laboratorien und Wohnhäuser standen zu konzentrischen Halbkreisen geordnet, deren Enden sich an die Einfriedung des Raketenflughafens lehnten. Die peinlich genauen Fluchten der halbrunden, baumbesetzten Straßen und die einheitliche Architektur verliehen der Stadt, die den Namen „Kamowsk“ trug, einen geometrischen Charakter.

Etwa im Zentrum, neben dem Bahnhof, erhob sich ein stählerner Obelisk, der zu Ehren des ersten Fluges zum Mars errichtet worden war. Ihn schmückten Basreliefs der vier Männer, die an diesem historischen Flug teilgenommen hatten.

Dieses Denkmal machte Melnikow immer verlegen, und er versuchte Olga abzulenken, damit sie sein Abbild nicht sähe, das ausgerechnet an der dem Bahnhof zugekehrten Seite angebracht war.

„Weißt du noch“, sagte er und wies auf ein Dach, „wie vor acht Jahren Sergej Alexandrowitsch, den wir für tot gehalten hatten, dort stand und die Landung des ›SSSR-KS 2‹ beobachtete? Wie traurig war unsere Heimkehr gewesen, aber was für eine riesige Freude erwartete uns! Den Augenblick, in dem wir ihn sahen, werde ich nie vergessen.“ Olga drückte dankbar die Hand ihres Mannes.

Sie stiegen aus dem Wagen und gingen die breite Treppe hinauf. Der Wachtposten trat auf sie zu, um nach dem Passierschein zu fragen, doch als er Melnikow erkannte, zog er sich schweigend zurück und legte die Hand an den Mützenschirm.

Die riesige Vorhalle war mit rotem Marmor getäfelt. Durch das Glasdach fiel das Sonnenlicht ein und füllte die ganze Halle, die wie immer menschenleer war. Eine breite Glastür führte auf das Flugfeld hinaus, doch Melnikow geleitete seine Frau durch einen Seitenausgang.

Der Stille nach zu schließen, die weit und breit herrschte, schien niemand in dem ganzen Gebäude zu sein, aber gleich hinter ihnen trat hastig ein mittelgroßer Mann heraus, der eine blaue Arbeitskombination trug.

Olga erkannte ihn sofort, obwohl sie ihn nie persönlich gesehen hatte. Die Zeitungen hatten sein Porträt gebracht. Der Name dieses Mannes war untrennbar mit den Raumfahrten verbunden, obwohl er an keiner einzigen teilgenommen hatte. Er hatte alle Raumschiffe, die von diesem Flughafen aus ihre Fahrt begannen, startklar gemacht, angefangen von jenem ersten, mit dem Sergej Alexandrowitsch Kamow seinerzeit zum Mond startete. Er war der Direktor des Flughafens, Ingenieur Larin.

„Ich habe schon gehört, daß Sie da sind“, sagte er, wahrend er auf die beiden zuging. „Guten Tag, Boris Nikolajewitsch!“ Melnikow druckte seinem alten Freund fest die Hand.

„Und Sie, Olga Sergejewna“, Larin küßte ihr galant die Hand, „sind natürlich gekommen, um sich das Raumschiff anzusehen.“ Woher kennt er mich? dachte Olga.

„Leider kann ich Sie nicht begleiten. Ich habe wenig Zeit, und es ist noch viel zu tun. Konstantin Jewgenjewitsch hat zum dritten Male angeordnet, alle Gerate und Apparaturen zu überprüfen. Und heute ist schon der Achte!“ Melnikow lächelte. Er wußte genau, daß Belopolski Larin vertraute und niemals Anweisungen erteilte; der Ingenieur prüfte von sich aus, und zwar nicht dreimal, sondern fünfmal und noch häufiger.

„Wir finden uns schon allein zurecht“, sagte er. „Lassen Sie sich durch uns nicht stören, lieber Semjon Pawlowitsch.“ Der Ingenieur verabschiedete sich und ging.

Das Betonfeld, das sich vor ihnen breitete, war völlig leer.

Nur ganz in der Ferne, beinahe am Horizont, zeichneten sich Erhebungen ab und rollten winzige Fahrzeuge. Dort, in zwei Kilometer Entfernung, befand sich das Raumschiff „SSSR-KS 3“.

„Womit werden wir fahren?“ fragte Olga. Sie sah weit und breit kein Auto.

Melnikow gab keine Antwort, er hing seinen Gedanken nach.

Olga wiederholte ihre Frage.

„Acht Jahre sind erst vergangen“, sagte er, „und wie hat sich alles verändert! Das Flugfeld gleicht sich ebensowenig wie ›KS 3‹ und ›KS 2‹. Alles in allem nur acht Jahre! Aber ›KS 2‹ ist schon eine veraltete Konstruktion… Kein Mensch wird heute mehr mit solch einem Schiff fliegen, und doch war es ein Wunderwerk der Technik. Als wir zum Mars flogen, war diese Fläche hier mit Gras bewachsen, das Raumschiff lag acht Kilometer entfernt, war nicht zu sehen, und unser Wagen fuhr auf einer Straße, die sich in nichts von einem Feldweg unterschied.

Du fragtest, womit wir fahren werden? Wir laufen! Du wirst gleich sehen!“ Er führte sie in den Bahnhof zurück. Als Olga die Halle betrat, erblickte sie einen jungen Mann, der sogleich auf sie zukam und ihren Mann begrüßte.

„Darf ich vorstellen“, sagte Melnikow, „meine Frau, Olga Sergejewna, und das, Olga, ist Leonid Nikolajewitsch Orlow; er wird mit uns fliegen.“ Der junge Mann verbeugte sich und gab Olga die Hand. Dies tat er so behutsam, daß sie sogleich spürte, welch gewaltige Körperkraft Orlow besaß. Da er sehr hager war, wirkte er größer, und Olga zweifelte nicht an seinen eisernen Muskeln.

Er hatte ein stark sonnverbranntes Gesicht, einen schmalen Mund und ungewöhnlich schöne Augen, deren Blau ins Grünliche spielte. Von langen schwarzen Wimpern eingefaßt, wirkten sie wie zwei makellos klare Aquamarine.

Olga wußte, wer Orlow war. Er hatte sich trotz seiner Jugend bereits als Astronom einen Namen gemacht. Belopolski, der mit seinem Urteil stets sehr vorsichtig war, nannte ihn seinen talentiertesten Schüler.

„Was führt Sie hierher?“ fragte Melnikow.

„Ich möchte mir endlich einmal unser Raumschiff ansehen.“

„Was?“ rief Olga erstaunt. „Sie haben es noch nicht gesehen?“ Orlow lachte. Sein Lachen war rein und glockenhell wie das eines jungen Mädchens. Das Weiß seiner Zähne schien sein Gesicht aufzuhellen.

„Ich bin kein enthusiastischer Kosmonaut“, sagte er. „Ich fliege nur deswegen mit, weil diese Expedition auch auf einem Asteroiden landen will. Asteroiden sind nämlich meine Spezialität.“

„Interessiert Sie etwa das Schiff nicht?“

„Wie Sie sehen, interessiert es mich. Aber ich hatte bisher keine Zeit, es mir anzusehen. Außerdem…“ Er beugte sich vor und flüsterte Olga ins Ohr: „Ich habe Angst vorm Fliegen. Ich fürchte, nach dem Anblick des Raumschiffes mein seelisches Gleichgewicht zu verlieren. Sagen Sie bloß Boris Nikolajewitsch nichts davon!“

„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.“

„Aber gewiß doch! Ich habe Angst, und ich finde das gar nicht beschämend.“

„Warum haben Sie sich denn bereit erklärt, zu fliegen?“

„Es muß sein“, erwiderte er schlicht.

Aus dem Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, schloß Olga, daß Orlow vor nichts zurückschrecken würde, was immer die Wissenschaft von ihm auch verlangen mochte.

Melnikow öffnete eine hohe zweiflügelige Tür. Olga hatte erwartet, in einen weiteren Raum zu treten, aber es war ein Irrtum.

Hinter der Tür führte eine schmale Marmortreppe nach unten.

Sie gelangten auf einen Bahnsteig, der so sehr einem Bahnsteig der Metro glich, daß Olga verdutzt auf der untersten Stufe stehen blieb.

Alles war hier unten wie auf einer U-Bahn-Station. Blanker Steinfußboden, Marmorwände mit Bronzeverzierungen, eine schwarze Tunnelöffnung, Schienen und figurative Beleuchtungskörper an der halbrunden Decke. Aber alles war so klein gehalten, daß es eher wie das Modell einer Station wirkte. Am Bahnsteig stand ein winziger hellblauer Wagen, der ebenso wie die Metrozüge Schiebetüren besaß. Im Innern befanden sich Polstersitze. Den Abmessungen und der Anzahl der Sitze nach war der Wagen offenbar für zehn Personen berechnet. Stehen konnte man darin nicht, sondern nur sitzen wie in einem Auto.

„Was ihr hier seht“, sagte Melnikow, „ist das Verkehrsmittel unseres modernen Raketenflughafens. Na, wie gefällt es euch?“

„Ich finde es interessant“, antwortete Orlow.

„Und wer steuert den Wagen?“ fragte Olga.

„Niemand. Unsere Metro ist voll automatisiert. Seht einmal, auf der Tafel brennt ein grünes Lämpchen. Das heißt: Die Strecke ist frei, Sie können fahren. Ich bitte, Platz zu nehmen!“

„Also ist dies nicht der einzige Wagen?“

„Setzt euch! Ihr werdet es gleich sehen.“ Olga bückte sich, stieg ein und setzte sich. Ihre Begleiter folgten ihr. Vorn, hinten und an den Seiten des Wagens befanden sich Fenster, und wenn man voraus in den Tunnel blickte, der sich ins Ungewisse verlor, konnte man eine lange Reihe von grünen Lichtern erkennen. Auch hinter sich sah man eine Lichterkette. Allerdings war der Tunnel nach vorne zu gerade und lief in der Ferne zu einem Punkt zusammen, während er nach hinten seitwärts abbog.

Melnikow setzte sich neben Olga.

„Drück auf den Knopf mit der Aufschrift ›Zentrale‹“, sagte er.

„Das ist ja ganz wie im Fahrstuhl.“

„Es ist dasselbe Prinzip.“ An jedem Sitz war eine kleine Tafel mit zwei Knöpfen angebracht. Auf dem einen stand „Zentrale“, auf dem anderen „Hafen“. Olga drückte auf den ersten.

Die Türen schlossen sich, der Wagen fuhr weich an.

„Schaut einmal nach hinten“, sagte Melnikow.

Als sie sich umdrehten, sahen sie, daß ein Triebwagen, der wie der ihre aussah, auf dem frei gewordenen Platz hielt.

„Wieviel solcher Wagen gibt es hier?“ fragte Olga.

„Vier. Zwei am einen Ende der Linie und zwei am anderen.“

„Aber dann können sich doch manchmal alle vier an einem Ende stauen“, sagte Orlow.

„Nein. Wenn niemand von der Zentrale zum Flughafen fahren will, rollt, sobald unser Wagen auf halber Strecke ist, automatisch ein Wagen von dort ans andere Ende des Gleisnetzes.

Unsere Metro ist mit Verstand gebaut“, setzte Melnikow hinzu.

„Und wo verläuft der Gegenverkehr?“

„Nebenan. In einem parallel angelegten Tunnel.“ Während dieses kurzen Gesprächs hatte der Wagen seine volle Geschwindigkeit erreicht. Die grünen Lichter huschten an den Fenstern vorüber. In der Ferne war schon der helle Fleck einer Station zu erkennen.

„Drei Minuten“, sagte Melnikow, „es sind zwei Kilometer.“

„Kann uns der Wagen, der hinter uns fährt, einholen?“

„Er rührt sich nicht von der Stelle, bis wir angekommen sind und unser Wagen den Bahnsteig geräumt hat. Ich habe ja schon gesagt — hier ist alles automatisiert.“

Der Wagen verlangsamte seine Geschwindigkeit, erreichte den Bahnsteig und hielt. Die Türen öffneten sich. Kaum waren sie ausgestiegen, setzte sich der Wagen wieder in Bewegung und verschwand, um dem nachfolgenden Platz zu machen.

„Aber wenn wir uns nun nicht so beeilt hätten?“ fragte Olga.

„Bevor nicht alle ausgestiegen sind, fährt der Wagen nicht ab“, antwortete Melnikow.

„Das verstehe ich nun gar nicht mehr.“

„Aber es ist doch ganz einfach. Die Automatik wird durch Belastung des Fußbodens in Gang gesetzt. Sobald sich jemand oder etwas im Wagen befindet, das mehr als zehn Kilo wiegt, bleiben die Türen geöffnet, und dann kann der Wagen nicht abfahren.“

„Das ist wirklich einfach. Und wohin ist der Wagen gefahren?“

„Er rollt aufs Gegengleis und wird warten, bis der Wagen vor ihm abfährt.“

„Interessant!“ rief Orlow abermals.

„Schon allein dieser Bahn wegen hat es sich gelohnt, hierherzufahren“, sagte Olga.

An die Oberfläche führte ebenso eine Treppe wie im Bahnhof.

Die „Metro“ lag dicht unter der Erdoberfläche, und sie brauchten nur dreißig Stufen zu steigen. Der Ausgang befand sich auf gleicher Höhe mit dem betonierten Flugfeld. Er war von einem niedrigen Gitter umgeben und nach oben mit einer Art Schirm gegen Regen abgedeckt.

Als die drei hinaufkamen, standen sie mitten in der Zentrale des Raketenflughafens. Der Bahnhof und die ihn umgebenden Gebäude wirkten nun im Hintergrund ganz klein. In alle Richtungen breitete sich das ebene, gelblichgraue Feld.

Hier vom Zentrum aus war es in seiner ganzen Ausdehnung zu überschauen und wirkte dadurch noch grandioser als vom Bahnhof.

Vier Lastkraftwagen mit Plandächern standen in der Nähe des Metroeingangs. Etwa hundert Meter von ihnen entfernt, trugen mehrere Männer in blauen Arbeitsanzügen eine lange metallene Stange, die in der Sonne matt glänzte, auf ihren Schultern. Sie gingen auf eine eigenartige Erhebung zu, die sich auf dem ebenen Feld abzeichnete.

„Was ist das?“ fragte Olga.

„Wo?“ Melnikow sah in die Richtung, in die ihre Hand wies.

„Das ist unser Raumschiff ›SSSR-KS 3‹.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich hatte Sie gerade fragen wollen, wo denn nun das Schiff sei“, sagte Orlow.

„Kommt, wir werden näher herangehen, dann werdet ihr es verstehen“, antwortete Melnikow.

Sie folgten den Arbeitern, die die Stange trugen. Als Olga näher kam, wurde ihr alles klar. „SSSR-KS 3“ lag in einem tiefen Betongraben, aus dem nur sein oberer Teil herausragte. Vor dem Raumschiff stieg der Boden des Grabens allmählich an und verschmolz in der Ferne, etwa einen Kilometer von ihnen entfernt, mit der Oberfläche des Feldes.

Die Männer, die die Stange trugen, verschwanden, anscheinend mit einem Fahrstuhl, im Innern des Schiffes. Ein Mann, der ebenfalls eine Arbeitskombination trug, aber anscheinend die Arbeiten leitete, trat zu Melnikow.

„Guten Tag, Boris Nikolajewitsch!“ sagte er. „Sie kommen wohl, um sich am Anblick Ihres Raumschiffes zu weiden?“ Er war einer von Larins Gehilfen.

„Ja, wir wollen uns das Schiff ansehen.“

„Bitte schön!“ Der Ingenieur wies mit der Geste des Hausherrn nach unten. „Die Eingangsschleusen sind zur Zeit gerade alle geöffnet.“

„Was tragen die Leute dort?“ fragte Melnikow.

„Semjon Pawlowitsch hat angeordnet, daß beim Gasruder sieben die eine Stützwand ausgewechselt wird. Das Defektoskop hat im Metall einen Hohlraum entdeckt.“

„Einen großen?“

„Mit einem großen Hohlraum wäre die Wand gar nicht vom Werk geliefert worden. Ein fünftel Millimeter. Der Fehler ist nach der vierten Prüfung entdeckt worden.“ Als der Ingenieur zurücktrat, fragte Olga ihren Mann: „Kann denn ein Hohlraum von einem fünftel Millimeter eine Rolle spielen? Er ist doch so klein, daß man ihn mit dem bloßen Auge gar nicht sehen kann.“

„Ein Weltraumschiff darf nicht den geringsten Defekt aufweisen“, erwiderte Melnikow. „Auch wenn er bedeutungslos scheint. Unterwegs ist es schwierig und nahezu unmöglich, eine Reparatur auszuführen.“

„Ein fünftel Millimeter“, sagte Orlow, „und das ist unzulässig? Tja, was will man noch mehr? Sie beruhigen mich. Bei einer derart gründlichen Vorbereitung liegt für uns keine Veranlassung zur Beunruhigung vor.“ Melnikow lachte.

„Immerhin wollten Sie meiner Frau weismachen, daß Sie vor dem Flug Angst haben. Sie wird Ihnen ebensowenig glauben wie ich.“

„Ach, Sie haben es also gehört?“ sagte Orlow vergnügt. „Aber ob Sie mir nun glauben oder nicht, ich habe jedenfalls Angst.

Wenn das dem vorschriftsmäßigen Verhalten eines Raumfahrers widerspricht, bleibt noch Zeit genug, mich durch jemand anderes zu ersetzen.“

„Beim ersten Mal haben alle Angst“, erklärte Melnikow. „Es kommt nicht darauf an, frei von Furcht zu sein, sondern die Furcht zu überwinden.“ Sie standen am Rand der senkrechten Betonmauer und konnten das ganze Raumschiff überschauen. Seine gigantischen Ausmaße versetzten Orlow und Olga in Erstaunen.

„SSSR-KS 3“ war über hundertfünfzig Meter lang und wies an der breitesten Stelle einen Durchmesser von dreißig Metern auf. Es hatte die Form einer metallischen Zigarre mit einem spitzen Bug und einem wuchtigen Heck. Das Heck machte ein Drittel des Schiffes aus und wirkte auf das ungeübte Auge wie ein Chaos aus Leitungen und Trichtern verschiedener Stärke und Farbe, deren Öffnungen sich nach allen Seiten richteten. Die ideal glatte Oberfläche des Schiffes wies keine einzige Naht auf, und man vermochte sich nicht vorzustellen, wie seine einzelnen Teile miteinander verbunden worden waren. Nur längs der Mittellinie konnte man zwei anderthalb Meter auseinander liegende, parallel verlaufende schmale Schlitze entdecken, die fast vom Bug bis zum Heck reichten.

„Das sind die Tragflächen“, gab Melnikow zur Antwort, als seine Frau ihn danach fragte. „Sie sind zur Zeit eingezogen. Wenn wir die Venus erreichen und in ihre Atmosphäre eintauchen, werden die Tragflächen ausgefahren, und das Schiff verwandelt sich in ein Düsenflugzeug. Übrigens ist jeder Flügel an seiner Basis fünfzig Meter breit. Die Flügel ragen am Bug aus dem Schiffskörper und bilden zwei gewaltige Dreiecke.“

„Jede Tragfläche ist kompliziert konstruiert, so daß sie im Rumpf des Schiffes untergebracht werden kann und nicht viel Platz beansprucht. Die Teile der Tragfläche schieben sich ähnlich einem verstellbaren Fernrohr ineinander, das Endstück ist noch komplizierter konstruiert. Wie du siehst, ist jede Tragfläche länger als der ganze Schiffsrumpf, sie muß aber kürzer werden, damit man sie in die Aussparungen einziehen kann. Außerdem ist die Bordwand ja nicht gerade geformt, sondern gewölbt. Das kompliziert die Konstruktion noch mehr.“

„Warum sind diese Rohre am Heck so regellos angebracht?“ fragte Olga.

„Es scheint nur so, daß hier keine Regel waltet. Das sind die Öffnungen der Düsen und das Kühlsystem. Der Raumfahrer muß die Möglichkeit haben, zu manövrieren. Deswegen richten sich die Düsen nach allen Seiten. Der Teilchenstrom, der den reaktiven Sog erzeugt, kann so gesteuert werden, wie der Kommandant des Schiffes es will. Wenn der Strom nach hinten gerichtet wird, fliegt das Schiff geradeaus, arbeitet aber die linke Düse, weicht das Heck nach rechts ab, und das Schiff verändert den Kurs nach links. Außerdem kann auch mit den Gasrudern gesteuert werden, die im Innern der Düsen angebracht sind. Der Gasstrom, der die Ruderfläche umströmt, weicht, wenn das Ruder gedreht wird, zur Seite aus und verändert so die Flugrichtung des Schiffes. Bloß ist der Winkel, in dem sich die Fahrtrichtung ändert, in diesem Fall kleiner als bei der Düsensteuerung.“

„Die Steuerung eines Weltraumschiffes ist wohl außerordentlich schwierig“, sagte Orlow nachdenklich.

„Gewiß, sie ist schwierig, aber die Automatik hilft dem Menschen. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Steuerung selbst, sondern in der Berechnung, die vor jedem Manöver erfolgen muß. Es gilt, beinahe mit Augenblickes Schnelle, denjenigen Winkel für die Kursänderung zu ermitteln, der für Schiff und Besatzung ungefährlich ist. Das Schiff fliegt ja mit ungeheurer Geschwindigkeit. Dabei helfen uns die elektronischen Rechenmaschinen, mit denen ›SSSR-KS 3‹ ausgerüstet ist. Die Kursänderung selbst wird automatisch ausgeführt. Der Kommandant braucht beispielsweise bloß den Hebel für eine Linkswendung auf den entsprechenden Winkel einzustellen, und die Automaten schalten selbständig die entsprechenden Düsen ein oder drehen die Ruder entsprechend. Sobald das Schiff die Kursänderung vollzogen hat, fliegt es von selber wieder geradeaus. Ebenso automatisch können auch kompliziertere Manöver ausgeführt werden. Außerdem gibt es einen Autopiloten, einen selbsttätigen Piloten also, der das Schiff ohne Mitwirkung des Menschen steuert und bei der Begegnung mit einem sehr großen Meteoriten automatisch ausweicht.“

„Und wenn man einem kleinen begegnet?“

„Die Radioprojektoren des Schiffes sind in der Lage, einen Meteoriten auf fünftausend Kilometer Entfernung zu orten, auch wenn er nur ein paar Zentimeter groß ist. Das genügt vollkommen. Nimmt der Projektor einen Meteoriten wahr, benachrichtigt er unverzüglich eine besondere Berechnungsvorrichtung, die binnen Hundertstelsekunden die Flugbahn des Meteoriten ermittelt und feststellt, ob er mit dem Raumschiff zusammenstoßen könnte oder nicht. Die Information wird dem Autopiloten übermittelt, damit der die notwendigen Maßnahmen ergreift. Wenn das Schiff trotzdem von einem kleineren Stein getroffen wird, geschieht noch kein Unglück. Das Schiff hat eine doppelte Bordwand, und der Hohlraum ist mit Kosmonit gefüllt.“

„Entschuldigen Sie“, bat Orlow, „mit Kosmonit? Ich habe den Namen schon einmal gehört. Das scheint ein neuer Stoff zu sein, der eigens für Raumschiffe entwickelt worden ist.“

„Stimmt genau, Kosmonit ist speziell für Raumschiffe vorgesehen. Professor Balandin hat es entwickelt; er nimmt an unserer Expedition teil. Es ist ein außergewöhnlich zähes und festes, dabei sehr leichtes Harz. Ein Meteorit, der die äußere Bordwand durchschlagen hat, bleibt darin stecken. Außerdem spielt Kosmonit an Bord in gewisser Beziehung die Rolle der Atmosphäre, es läßt die für den Menschen schädlichen Ausstrahlungen des Weltalls, zum Beispiel die kosmischen Strahlen, nicht ins Innere dringen.“

„Na, ich bin der Auffassung“, sagte Orlow, „daß all diese Maßnahmen wirklich ausreichen. Ihrer sind eher sogar zu viele.

Die Begegnung mit einem Meteoriten dürfte praktisch doch kaum vorkommen.“ Diese Worte waren an Olga gerichtet, und Melnikow verstand. Er blickte den Astronomen dankbar an.

„Warum liegt das Schiff in dieser Mulde?“ fragte Olga. „Wie wird es starten?“

„Das ist die Startbahn. Im Vorschiff befinden sich ausfahrbare ›Pfoten‹. Sie richten den Bug im entsprechenden Winkel auf.

Dieselben ›Pfoten‹ dienen bei der Landung als Stoßdämpfer.

Übrigens wurde diese Konstruktion von Sergej Alexandrowitsch entwickelt, als er allein auf dem Mars zurückgeblieben war und sich für verloren hielt. Die früher verwendeten Fahrwerke besitzen viele Unzulänglichkeiten.“

„Ich habe keine Fragen mehr“, sagte Olga spitzbübisch.

„Dann fahren wir hinunter.“ Ein automatischer Fahrstuhl brachte sie in einigen Sekunden auf den Grund des fünfundzwanzig Meter tiefen Grabens.

Von dort unten wirkte das Schiff noch grandioser als von oben. Die glatten, gewölbten Bordwände schienen sich in den Himmel zu erheben. Etwa dreißig Meter hoch befand sich der obere Teil, der von unten nicht zu sehen war. Bug und Heck endeten in weiter Ferne. Das Auge vermochte das Schiff nicht mit einem Blick zu umfangen, es sah nur jenen unbedeutenden Teil, der unmittelbar vor ihm lag.

„Was für ein Koloß!“ Olga legte den Kopf in den Nacken.

Wie ein Dach hing die Schiffswand über ihnen. „Man kann sich kaum vorstellen, daß dieses Ungeheuer es fertigbringt, zu fliegen.“ Melnikow mußte lachen.

„Und ob es fliegt!“ sagte er. „Die Höchstgeschwindigkeit des Raumschiffs beträgt vierzig Kilometer in der Sekunde.“

„Ich weiß, kann es aber kaum glauben.“ Sie war ein wenig fassungslos. Die stumme und scheinbar drohende Metallmasse, die ihr zu Häupten hing, wirkte unwillkürlich auf ihre Nerven.

„Gehen wir hinein!“ Ganz in der Nähe war ein Eingang. Er stand offen, und eine Aluminiumtreppe führte ins Innere. Sie war steil und hatte kein Geländer.

Wie ein Artist vom Zirkus erklomm Orlow sie. Olga war das enge Kleid hinderlich. Melnikow faßte seine Frau unter und geleitete sie geschickt hinauf. Kaum konnte sie noch sagen: „Du wirst abrutschen!“ — als sie auch schon im Innern des Schiffes angelangt waren.

Sie standen in einem kleinen, völlig kahlen Raum. Nur an der einen Wand hing ein Armaturenbrett mit verschiedenen Knöpfen. Die Öffnung im Boden, durch die sie eingestiegen waren, konnte durch eine Schiebetür verschlossen werden.

„Das ist eine Ausgangsschleuse“, erklärte Melnikow. „Zur Zeit stehen beide Türen offen, aber auf der Venus werden sie sich nur nacheinander öffnen, damit die Luft des Planeten nicht in das Schiff eindringen kann.“ Die nach innen führende Tür befand sich an der Decke, und zu ihr stiegen sie eine weitere Treppe hinauf. Olga lehnte kategorisch jede Hilfe ab und kletterte allein.

Oben öffnete sich vor ihnen ein langer Korridor, der rund wie eine Röhre aussah; seine Wände waren durchgehend mit weichen „Lederkissen“ gepolstert. Darüber führte ein provisorischer Brettersteg.

„Es gibt sechs solcher Korridore, die vom Heck bis zum Bug durch das ganze Schiff führen“, sagte Melnikow. „Und jeder besitzt eine Ausgangsschleuse. Zwischen ihnen liegen die Räume für die Besatzung, die Werkstätten, die Laboratorien und sonstigen Arbeitsplätze. Das Achterschiff beherbergt die Triebwerke. Dieser Teil ist von den übrigen Räumen durch eine sehr dicke Dreifachwand aus einer festen Legierung abgeteilt. Die Hohlräume zwischen den Einzelwänden sind mit hitzebeständigem und geräuschundurchlässigem Material gefüllt. Demzufolge ist das Raumschiff eigentlich nur neunzig Meter lang. Jeder der siebzig Meter langen Korridore endet in dem größten Raum, in dem astronomischen Observatorium, das im Vorschiff eingebaut ist.“

„In jenem Reich also, in dem Belopolski, Paitschadse und ich regieren“, ergänzte Orlow.

„Das Schiff ist so groß, daß man müde wird, darin umherzulaufen“, bemerkte Olga.

„Man braucht übrigens gar nicht zu laufen. Wenn man schnell durch einen Korridor muß, kann man sich hier dieser Einrichtung bedienen.“ Melnikow trat an die Wand und drückte auf einen unauffälligen Knopf. Eine kleine schmale, horizontal gelagerte Tür öffnete sich und gab den Blick auf einen langen Gegenstand frei, der einem Torpedo glich.

„Das ist einer der zahlreichen Fahrstühle des Schiffes“, sagte Melnikow. „Er befördert dich binnen Sekunden ans entgegengesetzte Ende des Korridors, beziehungsweise zu der Tür, zu der du willst. Es gibt Fahrstühle, die alle sechs Korridore miteinander verbinden und dir helfen, von dem einen in den anderen zu gelangen. Willst du es ausprobieren?“

„Nein, nicht nötig! Gehen wir weiter! Aber in diesem ›Torpedo‹ kann man doch nur liegen?“

„Im Bereich der Schwerelosigkeit verlieren die Begriffe ›liegen‹ oder ›stehen› ihren Sinn. Der Mensch kann sich in beliebiger Richtung bewegen und fühlt sich in jeder Lage wohl.“

„Wie merkwürdig!“ sagte Olga.

„Daran gewöhnt man sich schnell.“ Hintereinander gingen sie auf dem Brettersteg, der so schmal war, daß sie nicht nebeneinander laufen konnten. Den Korridor beleuchteten elektrische Lampen hinter dickem, bauchigem Glas.

Sie gruppierten sich in gleichmäßigen Abständen an der Wandung, und wenn man nach vorn sah, wirkten sie wie eine eigenartige leuchtende Spirale.

Es mutete seltsam an, auch zu Füßen Lampen zu entdecken, die von unten her Licht spendeten, aber Olga fiel ein, was ihr Mann soeben erklärt hatte, und sie verstand, warum dies so eingerichtet war. Während des Fluges würden natürlich in diesem Gang keine Bretter liegen. Sobald die Anziehungskraft der Erde geschwunden war, würden die Menschen ohne weiteres auch an der „Decke“ entlanggehen können.

Übrigens würden sie ja gar nicht gehen können, sann sie. — Wie soll man denn gehen können, wenn die Schwerkraft fehlt?

Sie hatte sich oft Gedanken über die Bedingungen eines Raumfluges gemacht, aber nie eine so klare Vorstellung von ihnen gehabt wie in diesem Augenblick. An Bord des Raumschiffes war alles ungewöhnlich und nicht mit den Verhältnissen auf der Erde zu vergleichen. Der Mensch, der diese Planken betrat, löste sich gleichsam von der Erde und ihrem Leben und wurde in eine andere, fremdartige Welt versetzt, die nach ihren besonderen Gesetzen lebte.

Und so war es wirklich. Das Raumschiff gehörte seinem Wesen nach nicht der Erde an. Es war auf ihr nur ein vorübergehender Gast. Sein wahres Leben verlief in den Weiten des Kosmos, für die der Mensch es geschaffen hatte. Im Gegensatz zu ausnahmslos allen anderen Werken von Menschenhand wurde es auf Erden nicht gebraucht.

Alle zehn Meter wurde der Korridor durch ein Schott abgeteilt. Im Augenblick standen die Türen offen. Aber den Türrahmen bildete jeweils eine hohe Schwelle, über die man hinwegsteigen mußte. Es war ermüdend.

„Wie unbequem“, äußerte Olga.

„Dafür ist es beim Flug sehr bequem“, entgegnete Melnikow.

„Hier ist meine Kajüte“, setzte er hinzu. „Hineingehen können wir jetzt nicht, aber wir können sie uns ansehen.“ Die Tür war ebenso rund wie die Schotte im Korridor, aber sie war als Schiebetür gebaut. Der untere Rand des Türrahmens befand sich in Brusthöhe Olgas, und sie spähte wie durch ein Fenster in die Kajüte hinein.

Die Kajüte hatte Kugelgestalt und maß fünf Meter im Durchmesser. Ihre Wände waren ebenso gepolstert wie die des Korridors. Bloß waren die „Lederkissen“ hier nicht braun, sondern hellgrau. Die Einrichtung konnte nur mit Vorbehalt als solche bezeichnet werden. Gewöhnliche Gegenstände wie Stühle, Sessel oder eine Couch fehlten. Weder Bett noch Tisch standen in diesem Raum. Der Tür gegenüber befand sich eine große Schalttafel mit zahlreichen Vorrichtungen, drei Hähnen und mindestens dreißig Knöpfen und Hebeln. Dicht daneben hing ein großes Netz mit Metallspangen. Etwas, was entfernt an einen Schrank erinnerte, befand sich an der einen Seite der Schalttafel.

Der Gegenstand hatte ellipsoide Form und besaß eine Flügeltür, die ihn einem Schrank ähnlich machte. Ein fast gleicher Gegenstand stand auf der anderen Seite der Kajüte. Neben der Tür entdeckte Olga ein lackiertes Holzbrett, das in Lederschlaufen hing. Die Kajüte wurde von sechs Lampen erhellt, wie sie auch im Korridor hingen. Vom „irdischen“ Standpunkt aus waren sie völlig unsinnig installiert. Sie bedeckten in gleichen Abständen die ganze Oberfläche dieser Kugel, die sich Kajüte nannte, aber in nichts dem glich, was man sonst unter diesem Wort verstand. Hineingehen konnte man nicht, es sei denn, man hätte sich an der weichen Wand hinabgleiten lassen.

„Karg und ungemütlich.“ Olga warf ihrem Mann einen spöttischen Blick zu. „Erkläre mir doch bitte einmal, was das hier alles ist.“

„Wahrhaftig“, sagte Orlow, „vom Standpunkt eines Uneingeweihten wirkt dieser Raum ziemlich wunderlich.“ Melnikow lachte.

„Trotzdem gibt es darin nichts Wunderliches“, sagte er. „Es ist eine schöne und bequeme Kajüte. Freilich nur beim Flug, wenn die Schwerkraft entfällt. Man hat alles, was man braucht.

Verstehen Sie — in der Schwerelosigkeit gibt es weder unten noch oben. Man kann sich ganz bequem mitten in der Luft niederlassen, kann nirgendwohin fallen. Dieses Netz dort ist mein Bett, und darin werde ich bequemer als in einem Daunenbett ruhen. Denn wieviel Federn und Daunen man auch unter sich betten mag, der Körper wird dennoch auf ihnen lasten, im Bereich der Schwerelosigkeit aber drückt der Körper auf nichts.

Man kann sich auf spitze Nägel legen und wird nichts spüren.

Wir könnten auch einfach in der Luft schlafen, doch wenn sich das Schiff um die eigene Achse dreht, was in regelmäßigen Zeitabständen geschieht, damit der Schiffsrumpf von den Strahlen der Sonne gleichmäßig erwärmt wird, ließe die Zentrifugalkraft den Menschen durch die ganze Kajüte ›wandern’. Deshalb empfiehlt es sich, in den Netzen zu schlafen, die an der Wand befestigt sind. Die Möbelstücke, die ihr so verdutzt betrachtet, sind tatsächlich Schränke, und sie dienen zur Aufbewahrung von Kleidungsstücken. Die ungewöhnliche Form rührt daher, daß sie nicht Fächer, sondern weiche, mit Stoßdämpfern versehene Zellen besitzen. In diesen Zellen werden während des Starts, wenn die Schwerkraft das normale Maß weit übersteigt, die zerbrechlichen Gegenstände aufbewahrt. Ja, hier hat man alles wohl überlegt. Dieses Brett dort ist mein Tisch. Ich kann ihn Während des Fluges in jede beliebige Lage bringen, und er fällt nicht um. Gewöhnliche Tische, Stühle und dergleichen wären im Bereich der Schwerelosigkeit nutzlos. Allerdings haben wir einige dennoch an Bord.“

„Zu welchem Zweck?“

„Wir werden sie auf der Venus brauchen. Wenn das Raumschiff auf dem Planeten landet und eine bestimmte Lage einnimmt, werden in den Kajüten provisorische Regale angebracht und Möbel aufgestellt. Wir werden auf der Venus immerhin ziemlich lange Zeit bleiben — da müssen wir für eine gewisse Bequemlichkeit sorgen.“

„Und wozu dient diese Schalttafel in deiner Kajüte?“ fragte Olga.

„Es gibt an Bord eine Kommandozentrale“, antwortete Melnikow, „eine Kommandobrücke, wie wir das nennen. Dort befindet sich das Hauptsteuerpult. Ebensolche Pulte sind noch an drei anderen Stellen eingebaut: auf der Reservekommandobrücke, in der Kajüte des Kommandanten, das heißt Belopolskis, und in meiner. Wie du siehst, liegt meine Kajüte unten und Belopolskis oben. Die Hauptkommandobrücke liegt weiter vorn, die Reservebrücke im Achterschiff.“ Melnikow ereiferte sich bei seinen Erklärungen und vergaß alle Vorsicht seiner Frau gegenüber. „Das ist deswegen so eingerichtet, weil es bei einer Raumfahrt zu unvorhergesehenen Zwischenfällen kommen kann. Man muß das Schiff von verschiedenen Stellen aus steuern können.“ Olga sah ihren Mann unverwandt an. „Und du willst mir wie mein Vater immer einreden, die Fahrten in den Kosmos seien völlig ungefährlich. Das paßt schlecht zu dem, was du zuletzt gesagt hast.“ Orlow eilte seinem Kollegen, der sich verplappert hatte, zu Hilfe und entgegnete: „Darin liegt doch keinerlei Widerspruch!

Vernünftige Vorsicht ist nicht mit dem Vorhandensein von Gefahren gleichzusetzen. Meiner Meinung nach ist der Flug mit einem Raumschiff nicht gefährlicher als der Flug mit einem Flugzeug, in dem es immerhin auch Fallschirme gibt. Übrigens habe ich sogar Angst, mit einem Flugzeug zu fliegen“, schloß er lächelnd.

Aber Olga ging nicht auf den scherzhaften Ton ein. Schweigend wandte sie sich ab und setzte den Rundgang fort, Orlow und der über seinen Fehler untröstliche Melnikow folgten ihr.

Olga ärgerte sich über sich selbst. Was sie soeben gesagt hatte, war ihr gleichsam versehentlich, gegen ihren Willen, entschlüpft, und sie bedauerte es, weil sie wußte, daß ihr Mann nicht gern über die Gefahren seiner Arbeit sprach. Wozu auch darüber sprechen? Wußte sie etwa nicht, wen sie geheiratet hatte? Obwohl voller Erregung und Unruhe, war sie doch stolz auf seine Arbeit und liebte ihn wegen seiner ruhigen Unerschrockenheit und seiner Liebe zu seinem Beruf.

Die Besichtigung des Raumschiffes dauerte über zwei Stunden.

Sie gingen in das Observatorium, in die Messe und auf die Kommandobrücke. Sogar eine Rote Ecke gab es an Bord dieses Giganten.

An der Expedition auf die Venus sollten zwölf Personen teilnehmen, und jeder von ihnen hatte seine eigene Kajüte; sie waren nicht alle so groß wie die Belopolskis oder Melnikows, aber doch ziemlich geräumig. Außer den Wohnkajüten gab es Laboratorien, Lagerräume und verschiedenes Nebengelaß. Das Fassungsvermögen des Schiffes schien unermeßlich zu sein.

Melnikow zeigte ihnen „Hangars“, in denen zwei Düsenflugzeuge mit eingezogenen Tragflächen, mehrere geländegängige Kraftwagen verschiedener Größe und sogar ein kleines Unterseeboot standen.

Das Ausmaß der Expedition machte auf Olga einen großen Eindruck.

„Ich hätte nie gedacht, daß euer Raumschiff so reich ausgestattet ist“, sagte sie. „Wozu braucht ihr das U-Boot?“

„Zu unserem Plan gehört die Erforschung des Ozeans auf der Venus“, antwortete Melnikow. „Wir führen auch Taucheranzüge einer besonderen Konstruktion mit. Sie sind die neueste Erfindung und werden uns sehr nützen. Wenn du Lust hast, zeige ich sie dir.“

„Die Taucheranzüge sind für die Professoren Balandin, Korzewski und Romanow bestimmt“, erklärte Orlow. „Boris Nikolajewitsch und ich werden sie nicht benützen.“ Er sagte dies wie nebenbei, aber Melnikow merkte, daß der Astronom ein zweites Mal einen Fehler gutmachen wollte, der ihm unterlaufen war, und er schalt sich in Gedanken. Wie hatte er außer acht lassen können, daß diese für ihn interessanten Einzelheiten Olga in Aufregung versetzen mußten.

„Als stellvertretender Kommandant“, sagte er, „muß ich fast die ganze Zeit an Bord bleiben…“

„Ich weiß“ — Olga fiel ihm ins Wort —, „eure Expedition ist von Gefahren umlauert. Mit diesem Gedanken habe ich mich schon abgefunden und mache mir deswegen keine Sorgen mehr.“ Ihr bleiches Gesicht sprach von etwas anderem.

Peinliches Schweigen trat ein.

„Ich glaube, für heute genügt es“, meinte Orlow. „Olga Sergejewna ist sicherlich müde.“

„Nirgends hat man hier Gelegenheit, sich zu setzen!“ sagte Melnikow ärgerlich. „Auf dem Fußboden könnten wir ausruhen.

Er ist weich.“

„Wir werden lieber hinausgehen.“ Olga sah ihren Mann mit sanftem Vorwurf an. „Ihm macht es nichts aus, Tage und Nächte auf seinem Schiff zu verbringen“, setzte sie, an Orlow gewandt, hinzu.

Nachdem sie lange von einem Korridor in den anderen gegangen waren, gelangten sie endlich zu einer Ausgangsschleuse.

„Auf eurem Schiff kann man sich verlaufen wie in einer fremden Stadt“, sagte Olga, als sie wieder auf dem Boden der Startbahn stand.

Mit einem Gefühl der Erleichterung blickte sie zum blauen Himmel hinauf, der zwischen der steilen Wand des Grabens und der Bordwand des Weltraumschiffes hindurchlugte, und dachte, daß es auf der Erde immerhin besser sei als in der düsteren Unendlichkeit des Weltalls.

Wann werden diese gefahrvollen Flüge aufhören? Wann wird er für immer bei mir bleiben? sann Olga. — Ach, wenn er doch krank würde und immer auf der Erde bleiben müßte!

Aber sie kannte die eiserne Gesundheit ihres Mannes sehr gut. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust.

Start in die Ferne

Der 20. Juni zeigte sich als ein ausgesucht schöner Tag. Keine einzige Wolke stand am Himmel, und ein lauer Wind spielte mit den bunten Fahnen auf dem eisernen Zaun des Raketenstartplatzes. Das Flugfeld, das über Nacht von Sprengwagen gründlich besprengt worden war, erglänzte feucht in makelloser Sauberkeit. Der interplanetare Bahnhof, ebenfalls mit Fahnen geschmückt und innen und außen gründlich in Ordnung gebracht, sah festlich aus, wie es sich für den feierlichen Tag gehörte.

Schon am frühen Morgen wimmelten die Straßen von Autos.

Die meisten allerdings blieben im Weichbild der Stadt und umlagerten den Raketenstartplatz. Ein Omnibus nach dem anderen kam an, und immer mehr Moskauer strömten herbei, um den Start von „SSSR-KS 3“ mitzuerleben.

Nach Kamowsk konnte man nur mit Sonderausweisen hinein.

Den Bahnhof selbst durften noch weniger Menschen betreten.

Die meisten mußten mit einem Platz in der Umgebung der Stadt vorliebnehmen, und bereits gegen zehn Uhr sah man hier überall Menschenmengen, und die Luft hallte wider von Stimmengewirr. Noch die abgelegensten und schlechtesten Straßen standen voller Autos und Omnibusse. Die Fernverkehrsstraße blieb denen vorbehalten, die in die Stadt hineinfahren durften.

Tausende Neugierige, die die Kosmonauten sehen wollten, säumten sie und drängten fast bis zur Mitte der Fahrbahn vor, so daß die Autos kaum weiter konnten. Sie mußten abbremsen und wanden sich buchstäblich zwischen den lebenden Mauern hindurch.

Wenn ein Expeditionsteilnehmer vorüberfuhr, wurde er stürmisch begrüßt. Die meisten Menschen erkannten die Sternfahrer wieder, weil sie deren Bilder in den Zeitungen gesehen hatten.

Einige erkannten sie auch an der braunen Lederkombination.

Gegen elf Uhr lichtete sich der Strom der Kraftfahrzeuge, aber niemand wich von der Chaussee. Alle warteten auf Kamow.

Bis auf ihn waren alle Besatzungsmitglieder von „SSSR-KS 3“ vorübergefahren. Jetzt wollten die Menschen den berühmten Konstrukteur und ersten Sternfahrer der Welt sehen, der schon zu Lebzeiten ein legendärer Held geworden war.

In der Bahnhofshalle hatten sich alle versammelt, die zum Start eingeladen worden waren. Regierungsmitglieder, Mitarbeiter des Kosmischen Instituts, Wissenschaftler, Verwandte und Freunde umringten die kühnen Männer, die an diesem Tage die Erde verlassen und mutig eine lange Fahrt, die voll unbekannter Gefahren war, antreten wollten.

Belopolski und Melnikow standen an der Glastür, die auf das Flugfeld hinausführte. Neben ihnen standen Olga, Serafima Petrowna Kamowa und Belopolskis Schwester, eine grauhaarige alte Frau, seine einzige Verwandte. In ihrer Nähe saß Paitschadse mit Frau und Tochter auf einer Polsterbank.

Melnikow und Olga waren äußerlich ruhig. Nur die Blässe ihrer Gesichter und die Schatten unter ihren Augen verrieten, daß sie die Nacht nicht geschlafen hatten und ihnen die Trennung schwerfiel — sie hatten schon zu Hause voneinander Abschied genommen, weil sie vor anderen nicht gern ihre Gefühle zeigten.

Belopolski und Paitschadse waren wie immer. Nina Artschillowna lachte sogar. Es war für sie nichts Neues mehr, daß sie ihren Mann zu einer Fahrt in den Kosmos verabschiedete. Sie begleitete Arsen Georgijewitsch das fünfte Mal zum Start. Marinas hübsches kleines Gesicht war verzerrt, und Tränen hatten ihre Augen gerötet. Doch vor den anderen weinte sie nicht. Sie hielt die Hand ihres Vaters in der ihren und sah ihn unverwandt an.

Dem Beispiel ihrer Vorgesetzten nacheifernd, gaben sich alle Expeditionsmitglieder Mühe, ruhig zu wirken, aber manch einem gelang es nicht recht.

Ein untersetzter Mann mit rosigem Gesicht und langem grauem Haar schritt hastig und nervös von einer Gruppe in der Halle zur anderen. Trat er an jemand heran, warf er ein paar nichtssagende Worte hin und ging, ohne auf Antwort zu warten, zum nächsten weiter. In seinen jähen Bewegungen und dem erstarrten Lächeln auf seinem Gesicht spürte man mühsam unterdrückte Erregung. Er war der Leiter des wissenschaftlichen Teils der Expedition, Akademiemitglied Balandin, und obwohl er zum zweiten Male an einer Weltraumfahrt teilnahm, konnte und konnte er seiner Nerven nicht Herr werden.

Paitschadse gegenüber, zwischen seiner Frau und seinem Sohn, saß gelassen Konstantin Wassiljewitsch Saizew, der Chefingenieur des Raumschiffs. Er wirkte völlig ruhig.

In den äußersten Winkel zurückgezogen, stand Gennadi Andrejewitsch Wtorow an der Wand. Eine hübsche Blondine klammerte sich bald lachend, bald weinend mit beiden Händen an seinen linken Arm. Wtorows energisches Gesicht war zu einem gequälten Ausdruck erstarrt.

Dicht beieinander standen die unverheirateten Kosmonauten Orlow, Romanow und Knjasew, von ihren Verwandten umgeben. Um gelassen zu wirken, lachten sie oft, aber ihr Lachen klang unecht.

Ganz natürlich lächelnd schlenderte dagegen, seine Frau am Arm, der erfahrene Kosmonaut Funkingenieur Toporkow durch die Halle. Sein Gesicht, das mit den großen dunklen Augen ein wenig zigeunerisch wirkte, zeigte einen so unerschütterlichen Ausdruck, als beabsichtige er, nur für kurze Zeit in eine nahegelegene Stadt zu reisen.

Friedlich plauderten der Schiffsarzt Stepan Arkadjewitsch Andrejew und der polnische Biologe Korzewski, der erst drei Tage zuvor mit dem Flugzeug nach Moskau gekommen war, über belanglose Dinge. Den beiden gab niemand das Geleit.

Nicht nur diejenigen, die binnen kurzem die Erde verlassen wollten, sondern auch ihre Angehörigen warteten voller Spannung auf den Start. Viele der Zurückbleibenden konnten ihre Gemütsverfassung nicht verhehlen. Das Stimmengewirr schwoll bald an, bald brach es jäh ab, und in der Bahnhofshalle trat dann gespanntes Schweigen ein.

„Es wird Zeit“, sagte Melnikow leise, zu Belopolski gewandt.

„Vielen wird das Warten zur Qual.“ Die Zeiger der Wanduhr in der Halle zeigten auf viertel zwölf.

„Wann kommt er denn endlich?“ fragte Konstantin Jewgenjewitsch.

„Auf der Chaussee wird der Teufel los sein“, sagte jemand in der Nähe. „Gut möglich, daß Sergej Alexandrowitschs Wagen aufgehalten wurde.“

„Mich sollte es nicht wundern, wenn die Menschen ihn samt seinem Wagen auf Händen hertrügen!“ Melnikow brach in ein schallendes Gelächter aus.

In diesem Augenblick schwoll das Stimmengewirr, das man die ganze Zeit durch die offenen Fenster gehört hatte, heftig an und ging in ein ohrenbetäubendes Getöse über, das sich schnell dem Bahnhof näherte. Der Mann, auf den alle warteten, schien nicht mehr fern zu sein.

Alle machten Platz und gaben einen breiten Gang von der Tür bis zu der Stelle, an der Belopolski stand, frei. Die Reporter hielten ihre Apparate über den Kopf und drängten näher zur Tür.

Die Bahnhofshalle betrat der Direktor des Kosmischen Instituts, der mit vier goldenen Ziolkowski-Medaillen ausgezeichnete Held der sozialistischen Arbeit Sergej Alexandrowitsch Kamow in Begleitung des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und des schlohweißen Akademiemitglieds Woloschin.

Er blieb einen Augenblick stehen, dankte mit einer Handbewegung für den lebhaften Beifall der Versammelten und ging mit raschen Schritten quer durch die Halle auf Belopolski zu.

Melnikow beobachtete, wie Kamow mit einem flüchtigen Blick Olga streifte, und nahm das anerkennende Lächeln wahr, das in seinem Gesicht aufleuchtete, als er sah, wie ruhig seine Tochter sich hielt.

„Langer Abschied — unnütze Tränen!“ sagte Kamow so laut, daß es alle hören konnten. „Gehen wir an Bord, Konstantin Jewgenjewitsch!“

„Wir haben bloß auf Sie gewartet“, erwiderte Belopolski schlagfertig wie immer.

„Ich bitte die Expeditionsteilnehmer, sich um mich zu sammeln!“ rief Melnikow.

Paitschadse trat als erster zu ihm, nachdem er Frau und Tochter geküßt hatte. Die Tochter an der Hand, ging Nina Artschillowna zur Treppe.

Dem Beispiel der Familie Paitschadse folgten auch die anderen. Die Halle leerte sich. Nur die Raumfahrer und die Mitglieder der Regierungskommission blieben zurück.

„Abschiedsreden sind bei unseren Starts nicht üblich“, sagte Kamow. „Also kurz und gut: Glückliche Reise!“ Er küßte Belopolski dreimal und gab allen übrigen die Hand.

Olga war noch nicht hinaufgegangen. Sie stand neben Melnikow und hielt ganz fest seine Hand. Selbst in diesem letzten Augenblick wahrte sie nach außen hin Ruhe. Der Charakter Kamows, der sich in jeder Lage zu beherrschen wußte, äußerte sich auch in seiner Tochter.

„Olga!“ rief Kamow.

Wortlos küßte sie ihren Mann — ihm kamen ihre Lippen so kalt vor, als wären sie gefroren — und ging zu ihrem Vater.

Mit schier unwiderstehlicher Gewalt trieb es Melnikow, ihr nachzueilen. Er wollte sie noch einmal an sich drücken. Aber er wußte, daß dies unmöglich war. Seine Kameraden sahen ihn an.

Er hatte nicht das Recht, ihnen ein Beispiel von Schwäche zu geben.

„Also fahren wir!“ rief Paitschadse ausgelassen. „Wer steigt mit mir in den ersten Wagen?“ Er faßte Stanislaw Korzewski unter und ging mit ihm auf die Tür der Metro zu. Er sah sich nicht einmal mehr um — wie gern hätte er Kamow noch einmal in die Augen gesehen — und ging die Treppe hinunter.

„Werden Sie uns zur Startbahn begleiten?“ fragte Belopolski zögernd Kamow.

„Nein.“ Sergej Alexandrowitsch wies mit einem Blick auf Olga, die er mit dem linken Arm fest an sich gezogen hatte.

„Wir werden uns euren Start vom Dachgarten aus ansehen.“ Er drückte Belopolski noch einmal die Hand und ging, nachdem er Melnikow zugenickt hatte, die Treppe hinauf. Ihm folgten alle, die noch in der Halle geblieben waren.

Die Expeditionsteilnehmer stiegen, einer nach dem anderen, zur Untergrundbahn hinunter. Melnikow folgte als letzter. Der Wagen, in den Paitschadse und fünf andere gestiegen waren, hatte den Bahnsteig schon verlassen. Aus dem Tunnel rollte der nächste.

Erst als sich der Wagen endlich in Bewegung gesetzt hatte und immer schneller dahinjagte, fühlte Melnikow, daß er sein Gleichgewicht wiederfand. Die Ruhe, die ihm längst zur Gewohnheit geworden war, ergriff wieder von ihm Besitz. Olga und alles, was mit ihr verbunden war, ließ er nun hinter sich.

Vor ihm lag wieder ein Start, wie er ihn nicht zum erstenmal erlebte, ein Flug. Ihn erwartete die Weite des Alls, eine Raumfahrt, wie sie seinem Herzen gefiel.

Er warf einen Blick auf die Kameraden.

Belopolski schien ganz in Gedanken vertieft zu sein. Der Ausdruck seines runzligen Gesichts war wie immer, und Melnikow schloß daraus, daß Konstantin Jewgenjewitsch sich auf den bevorstehenden Start konzentrierte. Igor Dmitrijewitsch Toporkow blickte gedankenverloren zum Fenster hinaus und sah den vorüberhuschenden grünen Lichtern nach. In den markanten, scharfen Zügen seines Gesichts war nicht ein Schatten von Aufregung zu entdecken.

Die drei anderen erweckten Melnikows Mitleid, so aufgeregt waren sie. Aber er wußte genau, daß man ihnen nur durch das persönliche Beispiel helfen konnte.

Der Geologe Wassili Romanow, der Maschinist der Atomtriebwerke Alexander Knjasew und Wtorow waren darauf bedacht, an Melnikows Seite zu bleiben, und setzten sich neben ihn. Instinktiv suchten sie in seiner Ruhe, die sie erstaunlich und unbegreiflich fanden, eine Stütze. Als Melnikow dem Blick ihrer unsteten und fieberhaft glänzenden Augen begegnete, lächelte er ermunternd.

Sie blickten ihn, den stellvertretenden Expeditionsleiter, wie einen älteren und erfahreneren Genossen an, und doch war es gar nicht so lange her, daß er selber als Anfänger der Raumfahrt, von Erregung gepeinigt, auf den ersten Start seines Lebens gewartet und Ermunterung bei Kamow und Paitschadse gesucht hatte. Seitdem war so wenig Zeit vergangen, und nun sollte er schon anderen am Beginn ihrer kosmischen Laufbahn Beispiel sein und den Stafettenstab der Erfahrung, den er von den Älteren erhalten hatte, weitergeben.

Paitschadse empfing sie mit seinen Begleitern auf dem Bahnsteig der Station „Zentrale“. Gemeinsam gingen sie hinauf.

Das Flugfeld lag völlig verödet da. Ein einziger Mann schlenderte langsam, als ginge er spazieren, am Rand der steilen Wand der Startbahn entlang, auf deren Grund wie ein riesiger Wal „SSSR-KS 3“ lag.

Es war Ingenieur Larin. Wie immer verabschiedete er sich als letzter von den Raumfahrern, ehe sie in das All starteten.

Melnikow erspähte ganz am Horizont eine Wolke, die unversehens aufgetaucht war, und machte Arsen Georgijewitsch auf sie aufmerksam.

„Sie wird uns nicht aufhalten“, sagte Paitschadse scherzend.

Wenn es regnet, wird Olga auf dem Dachgarten naß werden, lachte Melnikow.

Aber der Gedanke blieb seltsam blaß und verschwand im selben Augenblick wieder. Das Gefühl, der Erde mit ihren Sorten enthoben zu sein, von dem er angenommen hatte, es würde nie wiederkehren, ergriff ihn aufs neue. Ihm war zumute, als sei er kein irdischer Mensch mehr und es ginge ihn nichts an, was auf der Erde geschehe. Er liebte Olga über alles in der Welt, doch auch sie rückte in eine weite nebelhafte Ferne, blieb in einem anderen Leben, das sich von dem seiner Zukunft unterschied. Obwohl er noch auf der Erde stand, eilten all seine Sinne und Gedanken schon in den Kosmos voraus. Im Gegensatz zu den anderen drehte er sich, als sie das Flugfeld betraten, dann auch nicht sofort nach dem Interplanetarischen Bahnhof um, in dem sich die Angehörigen aufhielten. Er ging sofort auf Larin m und unterhielt sich mit ihm.

Die jungen Raumfahrer waren begeistert von der Selbstbeherrschung Melnikows und gaben sich Mühe, wie er aufzutreten. Nur Paitschadse, der dem Freund nachgesehen hatte, schüttelte den Kopf und sagte leise zu Belopolski: „Die alte Art ist immer noch nicht verflogen.“

„Ich glaube nicht, daß das richtig gesehen ist“, entgegnete Konstantin Jewgenjewitsch. „Übrigens — wir werden ja sehen.“ Er wandte sich an die übrigen: „Freunde! Es wird Zeit!“ Am Eingang zum Fahrstuhl gaben alle der Reihe nach Larin die Hand. Melnikow sah, mit welcher Erregung viele seiner Kameraden sich von dem Ingenieur verabschiedeten, und ihm fiel ein, wie er selber einst, hoch am Eingangsluk von „SSSR-KS 2“ stehend, dem Auto dieses Mannes nachgesehen hatte.

Dieses Auto hatte auch er damals als das letzte Bindeglied zwischen der Besatzung des Raumschiffes und der irdischen Menschheit empfunden.

„Auf Wiedersehen, Boris Nikolajewitsch!“ sagte Larin zu ihm.

„Auf Wiedersehen, Semjon Pawlowitsch! Bleiben Sie nicht hier stehen! Fahren Sie sofort ab!“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Glückliche Reise!“ Die Türen der Ausgangsschleusen waren bereits bis auf eine geschlossen, bis auf jene, durch die zwei Wochen zuvor Melnikow, Orlow und Olga gegangen waren.

Melnikow stand das Bild seiner Frau vor Augen, aber kraft seines Willens vertrieb er es. In dieser Stunde hatte er nicht an sich, sondern an die anderen zu denken.

„Arsen Georgijewitsch“, sagte Belopolski, „kümmern Sie sich um alle, die zum erstenmal fliegen. Boris Nikolajewitsch bleibt bei mir am Steuerpult.“

„Gut, Konstantin Jewgenjewitsch!“ Alle Expeditionsmitglieder waren schon mehrmals an Bord des Schiffes gewesen, aber so wie auf Olga hatte das dräuende, massige Schiffsungeheuer auch auf viele von ihnen einen unangenehmen Eindruck gemacht. Paitschadse eilte hinauf zur Ausgangsschleuse. Alle folgten ihm. Nur Belopolski und Melnikow blieben noch unten.

„Also los, Boris Nikolajewitsch, nun sind Sie an der Reihe!“ Melnikow setzte den Fuß auf die unterste Stufe. Belopolski, der ihn forschend beobachtete, nahm eine kaum erkennbare Unentschlossenheit seines jüngeren Kollegen wahr und lächelte zufrieden. Um ihn zu prüfen, hatte er gerade an dieser Stelle gezögert. Er konnte sich darauf besinnen, mit welcher Begeisterung Melnikow bei den beiden letzten Flügen an Bord gegangen war.

Nein, Paitschadse hatte unrecht! Melnikows Benehmen war nichts als eine besondere Form von Startfieber gewesen, das keiner völlig abzuschütteln vermag. Es fällt ihm schwer, die Erde zu verlassen, obwohl er sich selbst dessen vielleicht gar nicht bewußt ist.

In der Ausgangsschleuse standen noch beide Türen offen. Sie konnten nur vom Steuerpult aus mit Hilfe einer speziellen Automatik geschlossen werden, die es später unmöglich machte, daß beide Türen zu gleicher Zeit geöffnet würden. Auf fremden Planeten, die eine anders zusammengesetzte Atmosphäre als die Erde besaßen, war eine solche Vorkehrung von lebenswichtiger Bedeutung.

„Ich werde zum Pult gehen“, sagte Belopolski, „bleiben Sie bitte hier und überwachen Sie das Schließen der Türen. Semjon Pawlowitsch hat natürlich alles schon kontrolliert, aber — trotzdem. Dann kommen Sie zu mir. Lassen Sie mich nicht so lange warten!“

„Geht klar, Konstantin Jewgenjewitsch!“ Belopolski entfernte sich.

Nach ein paar Minuten schlossen sich leise brummend beide Türen. Melnikow verfolgte aufmerksam, wie der Mechanismus funktionierte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß alles in Ordnung war, drückte er auf einen Knopf. Die Innentür öffnete sich, die Außentür blieb verschlossen. Also arbeitete der Mechanismus fehlerfrei. Er drückte auf einen zweiten Knopf. Daraufhin schloß sich die Innentür und öffnete sich binnen weniger Sekunden automatisch die Außentür. Alles funktionierte wie vorgesehen.

Er zog die Treppe ein und schloß die Außentür, und als sich ebenso automatisch die Innentür geöffnet hatte, stieg er in den runden Korridor hinauf.

Das erste Schott, zehn Schritt von ihm entfernt, war blockiert.

Also hatte Belopolski schon alles startklar gemacht, alle Türen und Luken des Raumschiffes geschlossen.

Melnikow trat an die Wand und schritt vorsichtig über das weiche Polster. Der hölzerne Steg war schon entfernt worden.

Er öffnete die kleine Tür des Fahrstuhls und zwängte sich in die enge Kabine. Sie wurde von einer kleinen Lampe erhellt, die aber genug Licht spendete, daß man die Knöpfe auf der Schalttafel unterscheiden konnte. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die kleine Tür fest geschlossen war, drückte er auf einen der Knöpfe — die Fahrkabine fuhr an und raste durch den stählernen Gang. Nach einigen Sekunden flammte an der Schalttafel eine grüne, dann eine gelbe Lampe auf. Melnikow unternahm nichts. Der Fahrstuhl blieb stehen. Er merkte, daß die Kabine sich vorn hob, beinahe senkrecht stand und zu klettern begann. Abermals leuchtete eine grüne, dann eine gelbe Lampe auf. Er drückte auf einen der Knöpfe. Wenn er dies nicht getan hätte, wäre er vom Lift in den dritten Korridor befördert worden, während er in den zweiten wollte. Die Kabine nahm wieder eine waagerechte Lage ein, fuhr ein Stück und hielt. Er öffnete die Tür und stieg aus.

Melnikow befand sich nun auf der Kommandobrücke, die im Vorschiff lag. Vor ihr, im Bug, gab es nur noch das Observatorium.

Belopolski saß vor einem riesigen Schaltpult in einem Polstersessel. Auf drei Bildschirmen, die in der Mitte angebracht waren, sah man die Wände der Startbahn. Zwei Bildschirme an der Seite waren dunkel.

Melnikow ließ seinen Blick über die lange Reihe der Lämpchen gleiten. Sie leuchteten alle grün. Das bedeutete, daß die Räume des Schiffes startklar waren.

Er nahm neben Belopolski Platz und schnallte sich fest im Sessel an.

Die in das Pult eingebaute große Uhr mit einem Sekundenzeiger, der über das ganze Zifferblatt lief, zeigte auf fünf Minuten vor zwölf.

Bei „SSSR-KS 2“ hatte man der geringeren Geschwindigkeit wegen eine genaue Startzeit einhalten müssen. „SSSR-KS 3“ konnte innerhalb weniger Stunden starten, wann immer es ihm beliebte. Die Geschwindigkeit des Schiffes war so groß, daß die Startzeit keine Rolle spielte. Es gab im Sonnensystem außer dem Merkur keinen Planeten, der schneller als das Raumschiff auf seiner Bahn zog — das war die letzte Errungenschaft des von Kamow geleiteten Konstruktionsbüros. Melnikow wußte, daß der Start etwa um zwölf Uhr erfolgen sollte.

„Sehen Sie nach, ob bei der Besatzung alles klar ist!“ befahl Belopolski.

Er drückte rasch auf einige Knöpfe, und verschiedenfarbige kleine Lampen gaben durch kurzes Aufleuchten Antwort auf seine stummen Fragen an Schiffswände, Antriebsaggregate und Automatiken.

Melnikow schaltete den Bildschirm an der rechten Seite ein.

Ein helles Rechteck wurde sichtbar. Dann erblickte man das Innere einer der Gemeinschaftskajüten. In ihr befanden sich sechs Personen. Sie lagen in weichen „Lederwiegen“, die mit Gummistoßdämpfern an den Wänden befestigt waren. Paitschadse stand neben seiner „Wiege“ und sah zum Bildschirm.

„Seid ihr fertig?“ fragte Melnikow.

„Alles klar, Genosse Stellvertretender Expeditionsleiter“, antwortete Paitschadse knapp und unterstrich durch seinen offiziellen Ton die Feierlichkeit des Augenblicks.

„Legt euch hin! Wir werden jetzt starten!“ Die übrigen vier Besatzungsmitglieder hielten sich in der anderen Gemeinschaftskajüte auf, die, nachdem Melnikow auf einen Knopf gedrückt hatte, ebenfalls auf dem Bildschirm sichtbar wurde. Professor Balandin antwortete genauso dienstlich wie Paitschadse.

„Die Besatzung ist startklar“, meldete Melnikow.

„Starten Sie!“ Melnikow drückte seinen blauen Hebel herunter. Im selben Augenblick spürte er, wie der Bug des Raumschiffes sich zu heben begann. Es war auch auf den Bildschirmen zu erkennen, und man merkte es an der Richtungsänderung der Schwerkraft.

Auf den mittleren Bildschirmen glitten die Betonwände vorüber, dann schob sich der Himmel und schließlich der ganze Raketenstartplatz auf die Mattscheibe. Man konnte die winzigen Gebäude von Kamowsk, die Kuppel des Observatoriums und sogar den Interplanetarischen Bahnhof erkennen.

Melnikow stellte sich vor, mit welcher Erregung die dort versammelten Angehörigen wohl verfolgten, wie das Schiff langsam „aus der Erde“ hervorkam. Bedeutete dies doch, daß das Raumschiff sich binnen weniger Minuten vom Startplatz lösen, unter dem furchteinflößenden Getöse seiner Triebwerke und mit ständig zunehmender Geschwindigkeit eine flammende Bahn beschreiben und dann in weniger als einer Minute für die Augen und Ferngläser der Zurückbleibenden in die lichtblaue Unendlichkeit entschwinden würde.

Melnikow legte die Hand auf den Steuerungshebel der „Pfoten“. Er mußte sie auf Kommando schnell ins Innere des Schiffes einziehen. Mit der anderen Hand drückte er auf einen Signalknopf.

In allen Räumen des Raumschiffes schrillte die Klingel, die den Start ankündigte.

Belopolski stellte gelassen und ruhig die Zeiger auf zwei runden Zifferblättern — den einen auf die Zahl 2000, den anderen auf 20. Dann betätigte er einen roten Hebel und schaltete den Autopiloten ein.

Er brauchte nur noch auf den Auslöseknopf zu drücken — und das Schiff wurde mit einer Beschleunigung von zwanzig Metern, das heißt entsprechend dem Beharrungsvermögen, nach Ablauf von zweitausend Sekunden oder dreiunddreißig Minuten und zwanzig Sekunden mit einer Geschwindigkeit von vierzig Kilometern pro Sekunde fliegen.

„Fertig?“ fragte Belopolski knapp.

„Fertig!“ antwortete Melnikow.

Ein Blick auf die Uhr: zwölf Uhr und drei Minuten.

Belopolski drückte auf den roten Auslöseknopf.

Melnikow spürte, wie sich seinen Händen über die Steuerungsapparatur ein kaum wahrnehmbares Schüttern des Schiffskörpers mitteilte.

Nach wie vor herrschte in der Kommandozentrale völlige Stille, aber er wußte sehr gut, daß in diesem Augenblick die ganze Umgebung in einem Umkreis von mehreren Kilometern durch ungeheures Getöse erfüllt wurde. In dem engen Raum zwischen dem Heck des Schiffes und den Wänden der Startbahn wütete ein Feuerorkan, und in dichten Schwaden stieg schwarzer Rauch auf. Der Beton schmolz und verwandelte sich in eine weißglühende flüssige Masse. Die sechzehn mächtigen Antriebsaggregate arbeiteten gleichzeitig und bezwangen das Gewicht des Schiffes, das sich auf mehrere hundert Tonnen belief.

Eine Sekunde … eine zweite …, und das Gefühl erhöhter Schwerkraft zeigte an, daß „SSSR-KS 3“ den Startplatz verlassen hatte und mit zunehmender Geschwindigkeit seine Fahrt antrat.

Schneller, immer schneller.

Der Zeiger des Tachometers glitt unaufhaltbar über das Zifferblatt. 20, 40, 60, 80, 100,120 …

„SSSR-KS 3“ stieg unaufhörlich.

Dann hörte der Schiffsleib auf zu zittern. Ein Teil der Antriebsaggregate schaltete sich ab, die übrigen arbeiteten ruhig und gleichmäßig. Für die Menschen, die auf der Erde geblieben waren, verhallte das Getöse allmählich und verlor sich in der Unendlichkeit des Alls. Im Innern des Schiffes herrschte völlige Stille.

Fast auf der Lehne seines Sessels liegend und bemüht, keine Bewegung zu machen, dachte Melnikow zurück an alle Starts, die er schon erlebt hatte. Früher hatte die Besatzung dabei Spezialhelme aufgesetzt zum Schutz des Trommelfells gegen den mörderischen Lärm der Aggregate. An Bord dieses Schiffes brauchte man keine solchen Helme. Die vollkommene Geräuschisolierung ließ nicht den geringsten Lärm ins Innere dringen.

Zwölf Uhr acht Minuten …

Von der Erde aus waren sie schon nicht mehr zu sehen. Das Raumschiff stieg in die obersten, verdünnten Schichten der Atmosphäre.

Dort unten verließen die Schaulustigen nun die Gegend von Kamowsk. In drei Monaten würden sie sich aufs neue dort einfinden, um das Schiff bei seiner Rückkehr zu begrüßen. Olga stand sicherlich immer noch auf dem Dachgarten des Interplanetarischen Bahnhofs und blickte nach oben, dorthin, wo das von ihrem Vater erbaute Weltraumschiff verschwunden war und ihren Mann einem ungewissen Schicksal entgegentrug.

Ob er sie wiedersehen wird? Wird er zurückkehren?

Auf den Bildschirmen verdüsterte sich der lichtblaue Himmel allmählich, wurde dunkelblau und schließlich violett. Vereinzelt gingen Sterne auf. Der rechte Bildschirm zeigte am unteren Rand ein Stück Erde, eine dunstüberlagerte Masse, deren Oberflache, wie man deutlich sah, gekrümmt war.

Immer mehr Sterne funkelten. Das Violett des Himmels verwandelte sich in Schwarz.

Vor „SSSR-KS 3“ tat sich die unermeßliche Weite des Weltalls auf, und in der Ferne, inmitten der zahllosen glitzernden kleinen Punkte, schwebte die Venus, die Schwester der Erde, das Ziel ihrer langen Fahrt.

Immer schneller bohrte sich der stählerne Leib in die Einöde.

Im luftleeren Raum spürte man nicht mehr das Arbeiten der Triebwerke. Ungestüm verflüchtigte sich der Feuerschweif achteraus. Die unsichtbaren feinfühligen Strahlen der Radioprojektoren eilten dem Schiff voraus und sorgten für die Sicherheit seiner Besatzung.

Das Lokalisierungsgerät zeichnete aus den Koordinaten eine Gerade. Die Bahn war frei!

Raumflugalltag

„Am Ende des 18. Jahrhunderts haben die Astronomen Bode und Titius[1] eine interessante Entdeckung gemacht. Sie haben auf rein empirischem Wege eine Zahlenreihe gefunden, die ziemlich genau die tatsächlichen Entfernungen der ersten sieben Planeten — Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn und Uranus — von der Sonne angibt, und zwar in Halbmessern des Orbitus der Erde oder sogenannten astronomischen Einheiten. Die Planeten Neptun und Pluto waren damals noch gar nicht bekannt.

Die beiden Astronomen nahmen die Zahlenreihe 0; 0,3; 0,6 und so weiter. Sie verdoppelten also jedes Mal die vorhergehende Zahl. Dann zählten sie zu jeder 0,4 hinzu. So erhielten sie folgende Reihe…“ Leonid Nikolajewitsch Orlow wandte sich zur Tafel und schrieb groß und deutlich: „0,4; 0,7; 1,0; 1,6; 2,8; 5,2; 10,0; 19,6.“ Er hielt sich mit der Hand krampfhaft an einer Lederschlaufe fest, die an der Wand angebracht war. Aber jedesmal, wenn er die Kreide an die Tafel drückte, wankte sein Körper zur Seite, und er mußte sich zurückziehen. Es fiel schwer, im Zustand der Schwerelosigkeit zu schreiben, aber Orlow hatte im Laufe der letzten zehn Tage schon Erfahrung darin gesammelt. Er hielt den Expeditionsmitgliedern in Paitschadses Auftrag zum dritten Male einen kleinen Vortrag.

Diesmal behandelte er den Asteroiden Arsena, dem sich „SSSR-KS 3“ näherte.

„In der Bode-Titiusschen Reihe“, fuhr der Astronom fort, „fällt ein eigentümlicher Umstand besonders auf. Wenn die ersten vier Zahlen den Entfernungen der Planeten Merkur, Venus, Erde und Mars von der Sonne entsprechen, so gerät Jupiter aus irgendeinem Grunde nicht auf den fünften, sondern erst auf den sechsten Platz, Saturn auf den siebenten und Uranus auf den achten. Die Gesetzmäßigkeit, die nicht zufällig sein kann, wird also zerstört. Für die fünfte Zahl der Reihe,2,8’, gibt es keinen Planeten, der diese Entfernung hat. Zwischen Mars und Jupiter besteht sozusagen eine Kluft. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, befindet sich an dieser Stelle des Sonnensystems aber ein Asteroidengürtel, ein Schwarm von winzigen Planeten mit einem Durchmesser von 770 (Asteroid Cerera) bis zu einem Kilometer und weniger. Heutzutage sind uns einige tausend Asteroiden bekannt. Die meisten haben eine exzentrische Form. Natürlich tauchte die Vermutung auf, daß zwischen Mars und Jupiter in ferner Vorzeit noch ein Planet gekreist habe, der aus unbekannten Gründen zerfallen ist, und daß die Asteroiden Trümmer eben dieses Planeten seien. Den endgültigen Beweis dafür wird die Wissenschaft vielleicht erhalten, wenn wir auf der Arsena landen und sie erforschen. Nun muß ich Ihnen erklären, was die Arsena darstellt. Ihr größter Durchmesser beträgt 48 Kilometer, und der Asteroid besteht allem Anschein nach aus Eisen und Granit. Die Arsena entspricht in ihrer Größe dem Asteroiden Ganymed, der 1924 von dem Astronomen Baade[2] entdeckt wurde. Ihre Masse beträgt fast nur ein Zweiunddreißigmillionstel der Erde, und demzufolge erreicht die Schwerkraft auf ihr nur ein Zweihundertachtundachtzigstel der Schwerkraft der Erde. Ein Mensch, der auf der Erde 70 Kilogramm wiegt, wird auf der Arsena nur annähernd 245 Gramm wiegen. Bei solch einem geringen Gewicht bedarf es keines großen Kraftaufwandes, um sich in bedeutende Höhen zu erheben. Es wird sehr schwierig sein, auf der Arsena zu gehen.“

„Uns werden dabei die magnetischen Sohlen helfen“, warf Ingenieur Saizew ein.

„Aber auch mit diesen Sohlen heißt es vorsichtig sein. Die Muskelkraft des Menschen ist für solche Umweltbedingungen bei weitem zu groß.“

„Wir werden schnell umlernen“, sagte Knjasew.

Mit dem Optimismus der Jugend hielt er alles für sehr einfach und leicht ausführbar.

In der Roten Ecke des Raumschiffes hatten sich fast alle Expeditionsteilnehmer versammelt. Der kugelförmige Raum war unmöbliert. Außer dem Fernsehbildschirm, dem unerläßlichen Zubehör aller Kajüten, befand sich nichts darin. Die weichen Wände waren mit hellblauem Leder gepolstert.

Für den Vortrag war eine kleine schwarze Tafel in die Rote Ecke gebracht worden. Sie „hing“ unbefestigt an der Wand. Der Lektor und seine Hörer schwebten vor dieser Tafel in verschiedenen Posen senkrecht in der Luft. Die Sternfahrer hatten sich schon daran gewöhnt, daß es keine Schwerkraft gab, und fühlten sich völlig sicher. Einige von ihnen hielten sich trotzdem an den Lederschlaufen fest.

Diese Gruppe von Menschen bot einen seltsamen Anblick, wie sie sich ohne jeden Halt inmitten einer hohlen Kugel hielt.

Elektrisches Licht beleuchtete sie von allen Seiten zugleich. Die Gesichter und die Gestalten wirkten flach. Da sie keine Schatten aufwiesen, fehlte ihnen jede plastische Formung.

Das Raumschiff schien sich nicht von der Stelle zu rühren.

Nichts deutete auf die sinnbetörende Geschwindigkeit, mit der es durch den luftleeren Raum raste.

„Wann werden wir auf der Arsena landen?“ fragte Andrejew.

„In fünfzig Stunden. Nach dem Erdkalender am 2. Juli, zwischen elf und zwölf Uhr.“

„Und werden wir eine Weile dort bleiben?“

„Annähernd zwanzig Stunden. Diese Zeit muß zur Ausführung der vorgesehenen Arbeiten genügen. Aber es könnte sein, daß wir etwas Interessantes finden. Dann würden wir länger bleiben.“

„Und die Venus?“ fragte Knjasew. „Wird sie sich inzwischen nicht von uns entfernen?“ Orlow lächelte sein angenehmes Lächeln, das sein Gesichtgleichsam aufhellte.

„Erstens ist die Geschwindigkeit der Venus auf ihrer Bahn um fünf Kilometer geringer als die von ›SSSR-KS 3‹“, sagte er.

„Und zweitens hängt die Gestaltung unserer Flugkurve von uns selbst ab. Wir können sie ändern und an einem anderen, vorteilhafteren Punkt mit dem Planeten zusammentreffen. So oder so werden wir am 10. Juli auf der Venus sein.“ Ein leises Geräusch. Der Bildschirm leuchtete auf, und Igor Toporkow, der Radiotechniker des Schiffes, wurde sichtbar.

„Ist Konstantin Wassiljewitsch dort?“ fragte er.

Saizew zog sich mit Hilfe der Lederschlaufe näher an den Bildschirm heran.

„Kommen Sie zur Funkstation“, bat Toporkow. „Sie werden von der Erde aus verlangt.“ Saizew stieß sich sacht von der Wand ab und schwebte durch die Luft zur Tür. Nachdem er auf einen Knopf gedrückt hatte, schob er die gewölbte Luke beiseite und „ging“ in den Korridor.

Wie ein phantastischer Riesenfisch schwamm er schnell zum Vorschiff.

Die Funkstation befand sich neben der Kommandobrücke. Es war eine kleine Kajüte, rund wie alle Räume des Schiffes, aber nicht mit Leder, sondern mit Samt ausgeschlagen. Empfangsgerät und Sender füllten mehr als die Hälfte der Kajüte.

Im Grunde genommen war die Funkstation nicht groß. Sie arbeitete nicht auf Röhren-, sondern auf Halbleiterbasis. Viel Raum nahmen aber mächtige Verstärker ein, die Sendung und Empfang von Funksprüchen über viele Millionen Kilometer hinweg erst ermöglichten. Die Verbindung mit der Erde wurde über Ultra-Hochfrequenzwellen hergestellt und lief über Verstärkerrelaisstationen, die auf künstlichen Erdtrabanten stationiert waren. Solche Stationen waren notwendig, weil die Heaviside-Schicht[3] der Erde die Funksignale so sehr schwächte, daß sie ohne Verstärkung trotz haargenau ausgerichteten Antennen ihren Bestimmungsort nie erreichen würden.

Kosmische Funkverbindung war zum erstenmal während eines Fluges zum Mond angewandt worden, den eine Expedition Belopolskis unternahm. Zur Zeit führte Paitschadse die letzten Erprobungen dieser Methode durch. Alle Stationen — sowohl auf der Erde wie an Bord und auf den Sputniks — waren unter unmittelbarer Beteiligung Toporkows konstruiert worden.

Auf zwei Raumfahrten hatte er bereits Versuche damit gemacht.

Die Expeditionsmitglieder hatten täglich die Möglichkeit, sich mit ihren Angehörigen zu unterhalten.

Bisher war die Funkverbindung nicht unterbrochen worden, und nach Toporkows Berechnungen dürfte sie auch bis zur Venus nicht abreißen. Ob sie von der Oberfläche des Planeten durch dessen Atmosphäre hindurch möglich sein würde, wußte natürlich keiner zu sagen. Die Venus ist der Sonne näher als die Erde, und die Intensität der Sonnenstrahlung muß in den oberen Schichten ihrer Atmosphäre um ein vielfaches stärker sein. Ob Radiowellen die auf der Venus zweifellos existierende ionisierende Schicht würden durchstoßen können, wie dies bei der entsprechenden Schicht der Erde gelungen war, mußte die Zukunft lehren.

Nachdem Saizew sich überzeugt hatte, daß über der Tür das grüne Lämpchen brannte, „trat“ er in die Kajüte. Am Apparat befanden sich Toporkow und Melnikow. Boris Nikolajewitsch sprach gerade mit Olga.

Toporkow hielt Saizew das Mikrofon hin. „Ihre Frau und Ihr Sohn warten auf Sie.“

„Ja, hier Konstantin Saizew am Telefon“, sagte der Ingenieur und brachte mit dieser irdischen Redewendung seine beiden Kameraden zum Lachen. Ruhig legte er das Mikrofon in eine besondere Aufhängevorrichtung. Die Antwort konnte erst nach sieben Minuten erfolgen. In zehn Tagen hatte das Raumschiff über 35 Millionen Kilometer zurückgelegt, und in diesem Augenblick trennten es von der Erde sechzig Millionen Kilometer.

Denn auch die Erde stand nicht still, sondern entfernte sich in entgegengesetzter Richtung. „SSSR-KS 3“ flog unter Ausnutzung der Anziehungskraft der Sonne in einer Richtung zur Venus, die der Umlaufbewegung der Erde entgegengesetzt war.

„Die Lautstärke hat bedeutend nachgelassen“, sagte Toporkow besorgt.

Saizew und Melnikow sahen einander an und lachten.

Jeden Tag hörten sie diesen stereotypen Satz. Igor Dmitrijewitsch war durch das Nachlassen der Lautstärke, das sich bei zunehmender Entfernung nicht vermeiden ließ, ganz verstört.

Er befürchtete stets, die Station arbeite schlechter, als dies in Wirklichkeit der Fall war. Stundenlang machte er sich an den Apparaten zu schaffen und war mit ihrem Funktionieren stets unzufrieden.

„Wir werden zusätzliche Generatoren aufstellen müssen.“

„Vorläufig ist das nicht nötig“, widersprach Melnikow. „Die Funkverbindung arbeitet ohne Unterbrechungen und ist gut genug. Warten wir ab.“ Er wußte, wenn er Toporkow freie Hand ließe, würde die Funkstation lange vor der Landung auf der Venus sämtliche Energiereserven erschöpft haben. Doch es galt, diese Reserven zu erhalten.

„Wenigstens einen Generator!“

„Nein!“ Melnikow versuchte, so streng wie möglich zu sprechen. „Ich verbiete es Ihnen … Wie kommen Sie auf solche Gedanken, Igor Dmitrijewitsch?“ setzte er sanft hinzu. „Ich habe soeben mit der Erde gesprochen und alles tadellos verstanden.“ Die sieben Minuten waren endlich vergangen, Saizew setzte sich die Kopfhörer auf und vernahm alles, was ihm seine Frau und sein Sohn gesagt hatten. Er antwortete und verließ gemeinsam mit Melnikow die Kajüte. Die Sprechzeit war begrenzt, und die Expeditionsmitglieder durften mit ihren Angehörigen nur einen einmaligen Dialogwechsel führen. Den Platz am Mikrofon hatte bereits Professor Balandin eingenommen.

Die Funkverbindung bereitete den Sternfahrern viel Freude.

Das Bewußtsein, von der Erde getrennt zu sein, bedrückte sie weniger, da sie die Stimme ihrer Lieben hören konnten. Die beunruhigende Ungewißheit, unter der auf früheren Fahrten alle sehr gelitten hatten, war gewichen. Alles, was auf der Erde und im Raumschiff vor sich ging, wurde sofort bekannt. Ein kurzer Bericht über die Ereignisse in der UdSSR und in den anderen Ländern wurde automatisch, ohne die Sprechverbindung zu stören, jeweils durchgegeben. Jeden Tag hängte Toporkow in der Roten Ecke eine „Kosmoszeitung“ aus.

„Boris Nikolajewitsch!“ sagte Saizew, nachdem sich die Tür der Funkstation hinter ihnen geschlossen hatte. „Erlauben Sie mir und Knjasew, außenbords die Düsen nachzusehen.“

„Wozu denn das?“

„Für alle Fälle. Wenn wir uns der Arsena nähern, werden wir doch das Schiff abbremsen müssen.“

„Und Sie machen sich noch über Igor Dmitrijewitsch lustig!“ Melnikow lächelte. „Dabei sind Sie selber … An den Düsen ist nichts. Nehmen Sie die Überprüfung vor, wenn das Schiff auf der Arsena gelandet ist.“

„Zu Befehl!“ antwortete Saizew finster.

Im Fahrstuhl, der ihn in einen anderen Korridor beförderte, dachte Melnikow über dieses Gespräch nach. Was für Menschen hatten sie doch an Bord! Jeder von ihnen war bereit, ohne Atempause zu arbeiten, damit alles wie am Schnürchen verliefe, damit „SSSR-KS 3“ die Venus erreichen und zurückkehren könnte. Es war ein Vergnügen, mit solchen Menschen zusammenzuarbeiten, aber man mußte sie auch die ganze Zeit vor unnützer Kräftevergeudung zurückhalten, die durch keine Notwendigkeit gerechtfertigt war.

Während der ersten Tage der Fahrt hatte sich das nicht so bemerkbar gemacht. Die Menschen waren mit den neuen Bedingungen, die mit dem gewohnten Leben nichts gemein hatten, noch nicht vertraut gewesen. Ihre Gedanken waren noch rück- 52 wärts, auf die Erde, gerichtet, die sie verlassen hatten. Aber dieses eigenartige Trägheitsmoment begann allmählich nachzulassen, und alle stürzten sich nun mit Feuereifer auf die Arbeit.

Es war jedoch nicht so einfach, immer eine Beschäftigung zu finden. Gut die Hälfte der Besatzung schien für die ganze, verhältnismäßig kurze Zeit des Fluges zur Venus zur Untätigkeit verdammt. Was blieb beispielsweise für den Expeditionsarzt Andrejew zu tun, wenn alle völlig gesund waren und seiner Hilfe nicht bedurften? Was für eine Beschäftigung hätten sich der Geologe Romanow, der Biologe Korzewski oder der Ozeanograph Balandin ausdenken können? Saizew und Knjasew befanden sich in keiner besseren Lage. Sie alle beneideten aufs äußerste die Astronomen, die sich keine Aufgabe zu suchen brauchten — ihnen fiel sie von selbst zu. Vor dem Schiff breitete sich ein unendliches, unerschöpfliches Betätigungsfeld. Wahrhaftig, die Astronomen waren glückliche Menschen!

Aber es fand sich Arbeit für alle. Belopolski war sich darüber im klaren, welche Gefahren die Beschäftigungslosigkeit während des Fluges in sich barg, und er befahl deshalb Saizew, mit Hilfe aller freien Expeditionsteilnehmer die Bordflugzeuge, die Geländewagen und das Unterseeboot für den Einsatz auf der Venus klarzumachen, die Maschinen nachzusehen sowie alle Geräte und Apparaturen zu überprüfen. Außerdem stellte er dem Chefingenieur des Schiffes die Aufgabe, die Männer in der Ausführung kleinerer Reparaturen zu unterweisen, damit jeder von ihnen unbedeutende Störungen selbst beheben könnte. Toporkow wurde beauftragt, Andrejew und Korzewski in der Arbeit mit den transportablen Funkgeräten zu unterweisen, mit denen alle Fahrzeuge ausgerüstet waren. Nur die beiden konnten mit den Funkanlagen noch nicht umgehen.

In der Roten Ecke wurden regelmäßig nach einem anspruchsvollen Lehrplan Übungsstunden in Astronomie, kosmischer Navigation, Mechanik und Theorie der Weltraumfahrt durchgeführt.

„Auf einem Raumschiff muß jeder in der Lage sein, jeden zu vertreten“, sagte Konstantin Jewgenjewitsch. „Für viele von uns ist dies der erste Flug, für keinen aber der letzte. Es tut not, daß wir jede Stunde zum Lernen nützen.“ Ungeachtet solcher Beanspruchung, blieb dennoch viel freie Zeit, die mancher mit nichts auszufüllen wußte, und das waren die schwersten Stunden. Es galt, jeden aufzumuntern, den die Gedanken an die Erde und die nächsten Angehörigen unmerklich traurig stimmten. In solchen Augenblicken eilten die Besatzungsmitglieder zur Funkstation, um Toporkows Bordjournal zu „lesen“. Es gab natürlich gar kein solches Journal. Aber die Gespräche mit der Erde waren auf ein Magnettonband mitgeschnitten worden, und wenn die Männer ihre letzte Unterhaltung mit der Frau oder einem anderen Verwandten wieder gehört hatten, beruhigten sie sich.

Melnikow stieg aus dem Fahrstuhl und begab sich zur Kommandozentrale. Die hell erleuchteten Korridore lagen stumm und menschenleer. Die Stille, die im Raumschiff herrschte, wurde durch nichts gestört. Die zwölf Menschen konnten den Riesenleib des Schiffes nicht füllen, und so wirkte er, als hielte sich niemand darin auf. In den ersten Tagen berührte dies die Raumfahrer unangenehm, aber allmählich gewöhnten sie sich daran.

Das Raumschiff wurde vom Autopiloten gesteuert. Melnikow trat in die Zentrale und studierte forschend die Aufzeichnungen aller Geräte. Das Band des Lokators zeigte an, daß einige Minuten zuvor in einer Entfernung von dreitausend Kilometern ein mittelgroßer Meteorit vorübergeflogen war. Bis das Raumschiff dort anlangte, hatte er diesen Punkt längst wieder verlassen, der Kurs brauchte nicht geändert zu werden.

Gewohnheitsmäßig drückte Melnikow auf die entsprechenden Knöpfe und prüfte den Zustand aller Teile des Schiffes. Die verschiedenfarbigen Lämpchen gaben ihm beruhigende Antworten.

Alles war in Ordnung. Er bemerkte, daß sich in Kajüte acht die Tür geöffnet hatte — das entsprechende Lämpchen leuchtete rot auf —, und wartete, daß sie geschlossen würde. Aber eine Minute verging, und das rote Lämpchen wurde nicht von dem grünen abgelöst. Da schaltete Melnikow den Bildschirm ein und verband sich mit Kajüte acht. Auf dem Bildschirm tauchte das Innere der Kajüte auf.

Melnikow sah den Geologen Wassili Romanow. Als dieser das Klingelzeichen hörte, wandte er den Kopf.

„Warum haben Sie die Tür nicht geschlossen?“ fragte Melnikow.

„Ich war in Gedanken, Genosse Leiter!“

„Ich muß Ihnen einen Verweis erteilen. Zerstreutheit ist bei einer Raumfahrt unzulässig.“ Der Geologe stürzte so ungestüm zur Tür, daß er sich wahrscheinlich am Türrahmen schmerzhaft stoßen würde. Melnikow schmunzelte und schaltete den Bildschirm aus.

Obwohl für „SSSR-KS 3“ durch Meteoriten fast keine Gefahr drohte, wurden die Raumfahrtvorschriften streng eingehalten — alle Türen und Schotte mußten stets hermetisch geschlossen sein.

Von der Zentrale begab sich Melnikow ins Observatorium.

Es nahm den ganzen Bug des Raumschiffes ein. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, die keine Außenfenster besaßen, waren hier große Bullaugen eingebaut. Plasteschilde verschlossen sie von außen. Zahlreiche astronomische Instrumente, Rechenmaschinen neuester Konstruktion und ein fotochemisches Labor ließen wenig freien Raum.

Paitschadse und Wtorow arbeiteten am Spektroskop, Orlow blickte, das rechte Auge dicht am Okular, durch einen Refraktor. Belopolski war nicht im Raum.

„Wo ist Konstantin Jewgenjewitsch?“ fragte Melnikow.

„Er kommt gleich“, antwortete Paitschadse, ohne sich umzudrehen.

Im Observatorium herrschte die Atmosphäre angestrengter Arbeit. Um die Astronomen nicht zu stören, trat Melnikow an die Wand und schob durch Druck auf einen Knopf den Schild beiseite, der das eine Bullauge verdeckte.

Vor ihm breitete sich das vertraute Bild der Sternenwelt, das er viele Male gesehen hatte. Wie reglose kleine Punkte leuchteten die ewigen Lichte des Weltalls. Der Nebelschleier der Milchstraße zeichnete sich undeutlich „unmittelbar am Horizont“ ab.

Nah vor sich erblickte Melnikow die gleißende Kugel der Sonne, die zottig und von den Flammenzungen der Protuberanzen bekränzt im Raum stand. Das Raumschiff kehrte ihr die rechte Bordwand zu.

Von allen Schauspielen, mit denen das All die Sternfahrer reich beschenkte, war der Anblick der im Nichts hängenden Sonne das eindrucksvollste. Der Mensch ist gewohnt, sie als Scheibe zu seinen Häupten oder vor sich am Horizont zu erblicken. Von Bord des Schiffes aus bot sie aber ein ganz anderes Bild. Es sah aus, als schiene die Sonne von unten her. Obwohl man im Raumschiff kein genaues Gefühl für oben und unten besitzt, konnten die Kosmonauten sich nicht von dem Gefühl frei machen, daß das Schiff höher als die Sonne flöge. Warum das so war, vermochte keiner von ihnen zu begreifen, aber einer wie der andere erlag dieser sonderbaren Sinnestäuschung.

Melnikow blickte nach hinten und versuchte die Erde zu erkennen. Es dauerte nicht lange, und er hatte sie gefunden. Der mächtige hellblaue Stern sandte ein ruhiges Licht aus. Neben ihm war mit seinem gelben Schein der Mond zu erkennen. Sehr schön sah dieses Sternpaar aus.

Dort auf diesem schimmernden Punkt, der sich in den Weiten des Alls verlor, war alles, was für die Besatzung von „SSSR-KS 3“ den Sinn des Lebens bedeutete. Und dort war Olga …

Melnikow wandte sich vom Fenster ab. Er wollte nicht an Olga denken, aber es gelang ihm nicht recht. Immer wieder kehrten die Gedanken zu seiner Frau zurück. Ihr Bild stand ihm die ganze Zeit vor Augen. Während der drei vorhergehenden Fahrten hatte er selten an die Erde gedacht, er hatte ihr den Rücken gekehrt, diesmal aber ging sie ihm nicht aus dem Sinn.

Zehn Tage waren erst vergangen, aber er verspürte schon Sehnsucht und litt unter der Trennung. Vor ihm lagen schier endlose lange drei Monate. Aber nicht ein einziges Mal bereute er seinen Entschluß. Könnte man die Zeit zurückdrehen — er würde sich wieder bereit erklären, zu fliegen. Ein Leben ohne Raumflüge schien ihm undenkbar. Ihn beseelte der Wunsch, auf die Erde zurückzukehren, aber zugleich trieb es ihn vorwärts. Vorwärts zum Ziel! Über dieses zwiespältige Gefühl konnte und wollte er sich keine Rechenschaft ablegen. Der Drang zur Erde und der Drang zur Venus beeinträchtigten einander merkwürdigerweise nicht.

Die Arsena

Am 2. Juli 19 … näherte sich „SSSR-KS 3“ der Stelle, an der es mit dem Asteroiden zusammentreffen sollte. Paitschadse war es am Abend zuvor gelungen, die Arsena ausfindig zu machen und ihre Bewegung zu beobachten. Die elektronischen Rechenmaschinen berechneten innerhalb von Minuten die höchst komplizierte Flugbahn des kleinen Planeten und informierten, daß die Begegnung am 2. Juli gegen zwölf Uhr Moskauer Zeit stattfinden würde. Ohne diese Maschinen hätte eine derartige Berechnung die monatelange Arbeit eines guten Dutzends Mathematiker verlangt.

Schon seit dem frühen Morgen wachten Belopolski und Melnikow am Steuerpult und bereiteten alles für das höchst schwierige Manöver vor. Bislang war noch nie ein Raumschiff auf einem Asteroiden gelandet.

Um zehn war die ganze Besatzung auf ihren Plätzen. Saizew, Toporkow und Knjasew bereiteten unter Professor Balandins Leitung alles vor, um im gegebenen Augenblick die elektromagnetischen Anker auf der Arsena auszuwerfen. Paitschadse, Orlow und Wtorow beobachteten den Planeten im Observatorium und meldeten seinen Standort an die Zentrale. Die übrigen versammelten sich in der Reservezentrale, um die „Landung“ am Bildschirm zu verfolgen.

„SSSR-KS 3“ war noch 156 000 Kilometer von dem vorgesehenen Punkt des Zusammentreffens entfernt, als die Abbremsaggregate, die eine negative Beschleunigung von fünf Metern bewirkten, eingeschaltet wurden. Eine Stunde und vierzig Minuten später würde sich die Fluggeschwindigkeit auf zehn Kilometer in der Sekunde verringert haben und dadurch um ein weniges geringer sein als die der Arsena. So lautete der Plan der Landung, der noch auf der Erde ausgearbeitet worden war. Sobald der Planet das Raumschiff einholte, würde dieses die Geschwindigkeit erhöhen, mit ihm Schritt zu halten versuchen und dann auf ihm landen.

Unhörbar für die Besatzung arbeiteten die mächtigen Triebwerke und verringerten ganz allmählich die kosmische Geschwindigkeit. Nur die Zeiget der Geräte und das auftauchende Gefühl der Schwerkraft zeigten an, daß die Fluggeschwindigkeit sank. In den Räumen, in denen sich die Menschen aufhielten, fiel kein Wort. Alle schwiegen zutiefst erregt. Es war keine Angst, die Besatzung vertraute auf das Wissen und die Erfahrung des Schiffskommandanten. Es war ein anderes, stärkeres Gefühl — die edle Erregung des Forschers. Noch nie hatte der Fuß eines Menschen einen Asteroiden betreten, mit dem das Geheimnis des „fünften Planeten“ und seines Untergangs verbunden war. Sie konnten den Schleier lüften.

Langsam vergingen die Minuten in erwartungsvollem Schweigen. Das Raumschiff, das unablässig die Geschwindigkeit verlangsamte, näherte sich seinem Ziel.

Ihm entgegen flog mit gleichmäßiger, jahrhundertelang unveränderter Geschwindigkeit ein gewaltiger Brocken aus Stein und Eisen, der einstmals Teil eines ebensolchen Planeten wie die Erde oder der Mars gewesen war. Wer weiß — vielleicht hatte es auf diesem Planeten auch Leben gegeben, Pflanzen und Tiere oder gar verständige Wesen? Vielleicht waren sie durch eine entsetzliche kosmische Katastrophe, deren Ursache ewig unbekannt bleiben mochte, vernichtet worden?

Vor Belopolskis und Melnikows Augen breitete sich auf dem Bildschirm am Schaltpult die dunkle Unendlichkeit mit den zahllosen starr leuchtenden Sternen. Irgendwo zwischen ihnen befand sich, hell von der Sonne beschienen, die Arsena, die mit bloßem Auge noch nicht zu erkennen war. Alle drei Minuten wurde vom Observatorium die Entfernung bis zum Asteroiden gemeldet. Vorläufig verlief alles normal. Das Raumschiff und der Asteroid kamen einander wie vorgesehen näher.

Da streckte Belopolski die Hand aus und wies auf ein winziges Sternchen, das auf dem Bildschirm erschien. Melnikow beobachtete es minutenlang und überzeugte sich, daß sein Leuchten stärker wurde. Es war die Arsena. Sie glitt allmählich zum Rand des Bildschirms. Um sie weiter verfolgen zu können, mußte der Seitenschirm eingeschaltet werden. Aber bald verschwand der Asteroid auch von hier.

Das Raumschiff flog nun vor der Arsena. Durch eine Drehung der Gasruder hatte Belopolski allmählich die Flugrichtung geändert, und „SSSR-KS 3“ war in die Bahn des kleinen Planeten eingebogen. Die Triebwerke verstummten, und dem Trägheitsmoment gehorchend, flog das Schiff mit einer Geschwindigkeit von zehn Sekundenkilometern. Die Sonne tauchte unmittelbar vor dem Bug auf, der mittlere Bildschirm mußte ausgeschaltet werden.

Nun würde die Arsena das Schiff allmählich einholen und in drei Minuten ganz in seiner Nähe sein. Der entscheidende Augenblick war gekommen.

Melnikow verständigte die Besatzung durch ein langes Klingelzeichen.

Als auf dem Bildschirm der unebene, zerfranste Rand des Asteroiden aufgetaucht war, wurde das eine Triebwerk auf halbe Kraft geschaltet. Das Raumschiff flog nun ein wenig schneller und näherte sich zusehends der Oberfläche der Arsena.

Die Ansteuerung des Planeten war mit Hilfe der mathematischen Präzision Belopolskis glänzend gelungen. Nun galt es, ebenso präzise zu landen.

Melnikow und Belopolski blickten auf die Steinwüste hinab und dachten acht Jahre zurück, als sie dem Asteroiden zum ersten Male zufällig begegnet waren. Damals war die Arsena beinahe in der gleichen Entfernung an den Fenstern von „SSSR-KS 2“ vorübergehuscht.

Immer näher kam der Koloß, schon füllte er den ganzen Bildschirm. Melnikow entdeckte auf einem der Felsen eine ebene Fläche, die für die Landung des Schiffes groß genug war. Auch Belopolski schien sie gesehen zu haben. Er tippte auf die Steuerknöpfe der Triebwerke und drehte die Hebel der Gasruder herum.

Jede Sekunde konnten sie auf einen der zahlreichen spitzen Berggipfel prallen …

Die Zähne zusammengebissen, daß es schmerzte, blickte Belopolski unverwandt auf den Bildschirm.

Professor Balandin beobachtete durch optische Geräte das langsam unter ihnen dahingleitende Panorama aus Felsen, Schluchten und tiefen Abgründen. Er sah nicht eine einzige Stelle, auf der „SSSR-KS 3“ mit seinen hundertfünfzig Metern Länge hätte landen können, merkte aber zugleich an der Bewegung des Schiffes, daß der Kommandant einen solchen Platz gefunden hatte. Die Flughöhe verringerte sich unaufhaltsam.

Ein paar Schritte abseits warteten Toporkow, Saizew und Knjasew voller Spannung darauf, die Anker auszuwerfen und sie unter Strom zu setzen.

Daß das Raumschiff jetzt, in unmittelbarer Bodennahe, nicht tiefer sank, mochte befremdlich wirken. Aber es flog mit großer Geschwindigkeit, und solange es den Planeten nicht berührt hatte, blieb diese Geschwindigkeit von der des Planeten unabhängig. Zwischen der Arsena und dem Raumschiff wirkte zwar eine Schwerkraft, doch sie war schwach und wirkte sich nicht auf das Landemanöver aus.

Da entdeckte Balandin inmitten steiler Felsen das Plateau.

Heftig schrillte die Signalklingel.

Drei Knöpfe wurden zugleich gedrückt, und Preßluft schleuderte mit großer Wucht drei Anker aus dem Schiffsleib hinaus, die dicke Trossen hinter sich herzogen.

Auf ein Kommando Balandins wurde der Strom eingeschaltet, und im selben Augenblick hafteten die elektromagnetischen Anker an der Oberfläche des Asteroiden. Langsam sank das Schiff durch sein eigenes Gewicht herab.

Kaum lag es unbeweglich auf dem Plateau, das durch eine Laune der Natur auf einem der Felsen entstanden war, machte sich eine Gruppe von sechs Mann fertig zum Aussteigen. Sie bestand aus Melnikow, Balandin und Romanow sowie Wtorow mit der unvermeidlichen Kamera, Toporkow mit Funkgeräten für die geologische Forschung und Korzewski. Die übrigen blieben einstweilen an Bord.

Der kleine Planet bestand aus einem Felschaos. Es war unmöglich, einen Geländewagen zu benutzen. Unter schwarzem, sternbesätem Himmel breiteten sich, so weit das Auge reichte, scharfgratige, zerbrochene Klippen, gähnten tiefe schwarze Abgründe, erhoben sich stahlgraue, rissige Steilhänge. Wo sie von der Sonne beschienen wurde, wirkte die Landschaft weiß, alles, was im Schatten lag, war dagegen tief schwarz. Wie zu erwarten, gab es in dieser Welt, der jede Spur einer Atmosphäre, einer Lufthülle, fehlte, keine Halbschatten. Der scharfe SchwarzWeiß-Kontrast tat den Augen weh. Doch die Landschaft strahlte mit einer Totenstille eine herbe Schönheit aus.

„Mit der Arsena verglichen, kann sogar der Mond lustig wirken“, bemerkte Balandin.

Die Expeditionsteilnehmer zogen mit Hilfe der Genossen ihre Planetenlaufanzüge an. Sie bestanden aus festem, elastischem Material, das mit Metallplättchen besetzt war, und schienen bis auf den Helm, der wie bei den Tauchern gesondert aufgesetzt wurde, aus einem Stück gearbeitet. Die sehr dicken Sohlen bargen Elektromagneten, die durch Leitungen im Innern der Anzüge mit einem Halbleiterakkumulator verbunden waren.

Dieser befand sich, zusammen mit Sauerstoffflaschen und einem Funkgerät, in einem zugehörigen Tornister. Auf der Brust war eine kleine Schalttafel angebracht und in den Helm ein kleiner Scheinwerfer eingebaut.

Unter diese Anzüge zogen die Männer ihre Astronautenhaut.

So nannten sie das elastische Trikot, das direkt auf dem Leib getragen wurde und auch den Kopf bedeckte. Nur das Gesicht blieb frei. Das Trikot war aus einem besonderen, stark elastischen und luftdurchlässigen Gewebe hergestellt, das den ganzen Körper gleichmäßig umspannte und den gewohnten atmosphärischen Druck ersetzte, den der Mensch zum Leben braucht. Bei einer Beschädigung des Planetenanzugs sollte die Astronautenhaut verhindern, daß der Körper durch Druck von innen platzte.

Die einzige ungeschützte Stelle blieb das Gesicht, aber das war nicht zu ändern. Man mußte sich hier auf die außerordentliche Festigkeit der Schaugläser in den Helmen verlassen.

Auf der Erde wog ein solcher Planetenanzug sehr schwer, aber auf dem Asteroiden fast gar nichts. Die Schwerkraft auf der Arsena war unbedeutend.

Ein Miniaturmikrofon und ein ebensolcher Lautsprecher im Innern des Helmes gaben den Planetenforschern die Möglichkeit, miteinander und selbst auf große Entfernung mit dem Schiff zu sprechen.

Belopolski prüfte persönlich den Planetenanzug jedes einzelnen und gab die Erlaubnis zum Verlassen des Schiffs. Einer nach dem anderen betraten die sechs die Ausgangsschleuse. Die Innentür schloß sich, und Pumpen sogen schnell die Luft aus dem Raum. Jeder meldete Melnikow, daß die Sauerstoffzufuhr im Helm normal funktioniere. Dann drückte dieser auf einen Knopf.

Vier Meter unter ihnen breitete sich jungfräulicher Boden, den noch nie eines Menschen Fuß betreten hatte.

„Boris Nikolajewitsch!“ sagte Balandin zu Melnikow. „Sie sollten als erster den Planeten betreten. Sie sind der älteste Sternfahrer unter uns.“ Melnikow trat an die Schwelle der Tür. Wassili Romanowitsch erwartete, daß die Treppe ausgefahren würde, aber zu seiner Verwunderung tat der stellvertretende Expeditionsleiter einfach einen Schritt ins Leere. Seine Gestalt, die in dem Anzug riesenhaft wirkte, glitt langsam zu Boden. Nicht weniger als vierzehn Sekunden dauerte dieses seltsame Fallen.

Dem jungen Geologen fiel Orlows Vortrag über die Arsena ein, und ihm wurde das, was er gesehen hatte, verständlich. Die Anziehungskraft des Planetoiden war so gering, daß Melnikow nur mit einer Beschleunigung von 36 Millimeter in der Sekunde fiel.

Als zweiter sprang Wtorow. Er hatte es eilig, weil er die Ankunft auf der Arsena filmen wollte. Dann betraten auch die übrigen den unerforschten Boden.

Das Stehen fiel sehr schwer. Bei der geringsten Bewegung verloren die Männer das Gleichgewicht und wankten, wie von einem heftigen Wirbelsturm hin und her geschüttelt. Schleunigst schalteten sie die Sohlenmagneten ein. Der eisenhaltige Boden der Arsena haftete gut, und die Männer konnten nun sicher stehen. Um einen Schritt zu tun, mußten sie sogar ihre Beinmuskeln anspannen. Jedenfalls war die Gefahr gebannt, bei einer unvorsichtigen Bewegung in die Luft zu fliegen.

Wie vorher vereinbart, teilte man sich in zwei Gruppen. Professor Balandin, Romanow und Toporkow stellten die Geräte für die Radiobodenforschung auf. Mit ihnen sollte die Zusammensetzung der inneren Gesteinsschichten des Planeten ermittelt werden. Melnikow, Korzewski und Wtorow hatten die Aufgabe, das Gelände zu erkunden.

Kaum hatten sie sich ein wenig vom Schiff entfernt, da schlug drei Schritt vor ihnen geräuschlos ein Meteorit auf den Felsen auf. Sprühende Funken machten die Stelle kenntlich, an der er zu Boden gefallen war. Die drei Männer blieben unwillkürlich stehen. Ein einziger Gedanke durchfuhr sie: Wenn der Meteorit nun jemand von ihnen getroffen hätte?

Die Radioprojektoren waren jetzt ausgeschaltet. Sie konnten dem Schiff, solange es manövrierunfähig vor Anker lag, ja sowieso nichts nützen.

„Gehen wir weiter!“ sagte Melnikow.

Am Rand des Plateaus fiel der Boden steil ab. Ein annähernd hundert Meter breiter Abgrund gähnte. Er ließ sich nirgends umgehen. So weit das Auge reichte, zog er sich durch das zerklüftete Gebirge und verlor sich in der Ferne zwischen übereinandergetürmten Felsen.

„Wir müssen die entgegengesetzte Richtung einschlagen“, sagte Korzewski.

„Magneten ausschalten!“ befahl Melnikow. „Springt, als wolltet ihr einen Meter weit springen. Auf der anderen Seite des Abgrunds sofort die Magneten wieder einschalten. Ich springe als erster.“

„Eine Sekunde!“ bat Wtorow. „Ihr Sprung muß gefilmt werden.“


Melnikow stellte durch einen Hebeldruck auf seiner Schalttafel den Strom ab, duckte sich und sprang vor. Sein Körper schwang sich hoch empor und flog behende über den Abgrund.

Korzewski und Wtorow hielten den Atem an, als sie Melnikow auf dem gegenüberliegenden Felsen aufsetzen und langsam auf der glatten Fläche abrutschen sahen. Deutlich hörten sie ihn stoßweise atmen.

„Haben Sie sich weh getan?“ fragte Wtorow.

„Ja, sehr“, antwortete Melnikow. „Mir brummt sogar der Schädel. Ich bin zu kräftig abgesprungen. Springt ganz behutsam. Als wolltet ihr auf der Erde nur einen Schritt tun.“

„Vorsichtiger sein!“ In den Helmen erklang Belopolskis Stimme. „Boris Nikolajewitsch, Sie werden wohl am besten an Bord zurückkehren, wie?“

„Nein“, antwortete Melnikow. „Ich bin nicht verletzt. Beim nächsten Mal werde ich mich mehr vorsehen. Na, worauf wartet ihr noch?“ fragte er seine Begleiter, als er sah, daß sie sich nicht vom Fleck rührten.

„Mir ist nicht ganz geheuer zumute!“ sagte Korzewski.

Sich zu einem solchen Sprung zu entschließen war keine Kleinigkeit. Die gigantische Schlucht war so tief, daß keiner bis auf den Grund sehen konnte. Es schien unvorstellbar, daß ein Mensch ohne Anstrengung hundert Meter weit springen könnte.

Der an irdische Maßstäbe gewöhnte Verstand sträubte sich, das soeben Gesehene zu glauben.

„Nur Mut!“ hörte Korzewski Paitschadse ermunternd sagen.

Der Biologe schämte sich. Die Kameraden an Bord würden sagen, daß er Angst habe. Er trat einen Schritt zurück und sprang mit aller Kraft.

„Was tun Sie?“ rief Wtorow.

Aber es war schon zu spät. Wie ein Stein, der von einer Schleuder emporgeschnellt wird, flog Korzewski aufwärts über den Abgrund.

Zu langen Überlegungen blieb keine Zeit. Melnikow tat das erste beste, was ihm einfiel — er sprang empor und fing den Genossen im Fluge ab.

Die beiden prallten heftig aneinander, fielen zu Boden und rollten noch ein Stück weiter.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten sich nur abfedern, als wollten Sie einen einzigen Schritt tun“, rief Melnikow aufstehend, „und Sie…“ Er besann sich auf seinen eigenen Sprung und schloß in verändertem Ton: „Man muß doch beherzigen, was einem gesagt wird.“

„Entschuldigen Sie“, sagte Korzewski betreten. „Ich werde mir Mühe geben, daß so was nicht noch einmal passiert. Sind Sie meinetwegen arg gestürzt?“

„Springen Sie, Wtorow!“ raunzte Melnikow.

In der Aufregung über das soeben Überstandene war ihm entfallen, daß das Schreien nichts nützte. Die Sprechanlage in ihren Helmen arbeitete auch so gut genug.

Dem Ingenieur gelang der Sprung bedeutend besser als seinen Genossen. Weich federnd landete er neben Melnikow.

„Ein Prachtkerl!“ hörten sie Paitschadse sagen.

„Mir ist fast das Herz stehengeblieben, als Sie sprangen“, sagte Wtorow zu Korzewski. „Gut, das Boris Nikolajewitsch Sie rechtzeitig abgefangen hat. Sie hätten sich das Schauglas an Ihrem Helm zerschlagen können.“

„Diese Gefahr bestand auch bei mir“, sagte Melnikow friedfertig. „Gehen wir weiter!“ Doch eigentlich konnten sie nirgendwohin gehen. Ringsum erhoben sich steile Felsen. Melnikow schätzte sie ab.

„Sechzig Meter“, sagte er. „Auf dem Mond hatte ich es schnell heraus, wieviel Kraft man für eine bestimmte Entfernung jeweils brauchte. Hier müssen wir noch unsere Phantasie spielen lassen.

Jeder sollte sich vor Augen halten, daß eine Höhe um soviel geringer einzuschätzen ist, wie die Schwerkraft hinter der irdischen zurückbleibt. Sechzig Meter auf der Arsena entsprechen einem Viertelmeter auf der Erde. Für alle Fälle werden wir ein bißchen mehr veranschlagen.“ Er duckte sich und sprang empor.

Die Wirkung war verblüffend. Melnikow flog doppelt so hoch, wie es nötig gewesen wäre. Einen Augenblick hing er in hundert Meter Höhe, dann sank er langsam auf den Gipfel zu.

Unter sich erblickte er das breite Panorama der Felsen, das von einem befremdlich nahen Horizont begrenzt wurde, und die winzigen Gestalten seiner Genossen. Dicht neben ihnen erglänzte im Schein der Sonne das Dach des Raumschiffes.

Die Fallgeschwindigkeit nahm allmählich zu. Melnikow überlegte fieberhaft, ob er wohl auf dem Gipfel landen würde.

Auf der Erde wäre er längst zu Boden gestürzt und zerschellt.

Hier aber fiel er schon zehn Sekunden lang und befand sich immer noch in großer Höhe. Im Helmlautsprecher hörte er die Kameraden sich aufgeregt unterhalten.

„Meiner Meinung nach wird er ganz oben auf dem Gipfel landen“, hörte Melnikow Professor Balandin sagen.

„Ich denke auch“, antwortete Belopolski. „Dem Bildschirm nach zu urteilen, wird Boris Nikolajewitsch fünfzig, sechzig Meter fallen. Das dauert etwa eine Minute.“

„Und er wird nicht zerschmettert werden?“ fragte Wtorow.

„Nein. Die Fallgeschwindigkeit beträgt am Ende des Falls nicht mehr als zwei Meter in der Sekunde.“

„Aber wenn er nun nicht auf den Gipfel trifft, wenn er vorbeifällt?“

„Das wäre auch nicht schlimm“, antwortete Melnikow selber.

„Aber — ich bin schon gelandet.“ Tatsächlich war er gerade in diesem Augenblick auf dem obersten Gipfel angelangt und schaltete sogleich die Sohlenmagneten ein, um Halt zu finden.

Oben befand sich eine verhältnismäßig ebene Fläche, an die sich ein sanft abfallender Hang anschloß. Ein Stück weiter tat sich wieder ein breiter Abgrund auf.

„Die Arsena eignet sich wenig zum Spazierengehen“, sagte Melnikow, nachdem er den Gefährten seine Beobachtungen mitgeteilt hatte.

Korzewski und Wtorow gesellten sich zu ihm. Sie nutzten Melnikows Erfahrungen und berechneten für ihren Sprung nur einige Meter.

„Einfach phantastisch!“ stellte Korzewski fest.

Die zweite Schlucht überwanden sie leicht und sicher. Ihre Muskeln paßten sich den ungewöhnlichen Bedingungen an.

Eine sensationelle Entdeckung

Die Landschaft zeigte überall einen gleichförmig ungebärdigen Charakter. Es gab nur Felsen, Schluchten und Spalten. Gehen konnten die Männer in den seltensten Fällen. Meist mußten sie springen. Vorwärts, nach oben oder nach unten. Nach einer Stunde hatten sie sich bereits so daran gewöhnt, daß sie ohne jede Vorbereitung alle drei zugleich über die Hindernisse sprangen.

Wenn sie mal ein verhältnismäßig ebenes Gelände durch- 65 querten, sprang einer von ihnen mit aller Kraft empor und schilderte seinen Kameraden aus luftiger Höhe, von der aus sich ein weiter Rundblick bot, was er sah. Dann fiel er so langsam wieder herunter, daß er obendrein noch eine Geländeskizze anfertigen konnte. Das half ihnen beim Vorwärtskommen.

Selbstverständlich fotografierten sie bei solchen Sprüngen die Arsena aus der Vogelperspektive: Wtorow — mit der Kamera, seine Genossen — mit Fotoapparaten.

„SSSR-KS 3“ war längst den Blicken der Sternfahrer entschwunden. Sie zogen allein durch das chaotische Felsengewirr.

Wie nicht anders zu erwarten, fanden sie nirgends eine Spur von Vegetation. Überall nur nackter Fels vorwiegend grauer Farbe.

Manchmal gingen sie unter überhängenden Felsen hindurch, und es bot sich ein interessantes Bild. Kaum hatte der Schatten einen Menschen umfangen, war dieser sogleich den Blicken entschwunden, als hätte er sich im Dunkel aufgelöst. Die Ursache für diese Erscheinung war das Fehlen einer Atmosphäre, die auf der Erde die Strahlen der Sonne zerstreut und sogar im dichtesten Schatten völlige Finsternis verhindert. Der Helmscheinwerfer flammte dann auf, und durch die finstere Leere geisterte eine geheimnisvolle weiße Scheibe.

An freien Stellen war es beinahe heiß, aber wenn sie in den Schatten kamen, umfing den Körper sogleich bittere Kälte; sie mußten schleunigst die elektrische Heizung einschalten.

Oft stießen sie auf tiefe Felsspalten. Eine von ihnen zog sich so weit ins Innere eines Berges, daß die Kundschafter kehrtmachten, ehe sie ans Ende gelangt waren.

Sie gingen an keiner Felsspalte vorüber, ohne sie gründlich zu untersuchen. Die Spalten erreichten selten zwei Meter Breite, sie waren schmal und sehr tief. Ein Sternfahrer sicherte sich mit einer Schnur, die so dünn war, daß sie auf der Erde nicht einmal einen Säugling gehalten hätte, und die Kameraden ließen ihn hinunter. Bei einem solchen Abstieg entdeckte Wtorow rötliches Gestein. Er schlug ein ordentliches Stück ab und stieg wieder hinauf.

Aufmerksam betrachtete Korzewski den Fund.

„Das ist nickelhaltiges Eisen“, sagte er. „Seine Farbe beweist, daß es viel Sauerstoff enthält. Sie haben einen außerordentlich wertvollen Fund gemacht. Er bringt Licht in die Entstehung der Arsena.“ Sie legten die Beute in einen Sack. Darin lagen schon viele Gesteinsproben, und auf der Erde hätte er gewiß eine Vierteltonne gewogen. Aber die Sternfahrer hatten das Leben in einer Welt der Schwerkraft schon vergessen.

Hingerissen von ihren Untersuchungen, war ihnen entgangen, wie sich die Sonne immer mehr den Bergen zuneigte. Plötzlich überraschte sie die hereinbrechende Dunkelheit.

„Damit hätten wir rechnen müssen“, sagte Melnikow. „Die Arsena dreht sich aber ziemlich schnell um ihre Achse. Die Nacht dauert nicht lange.“ Das Gelände, durch das man sich schon bei Tage kaum vorwärts bewegen konnte, wurde bei Nacht vollends unzugänglich.

„Wir müssen die Funkstation des Schiffes verständigen“, riet Korzewski.

„Ich höre euch“, antwortete von Bord aus Paitschadse.

„Die Finsternis hat uns in eine Falle gelockt.“ Melnikow lächelte, als er sich vorstellte, mit welcher Miene der stets zu Scherzen aufgelegte Arsen Georgijewitsch ihn anhören mochte.

„Wird die Nacht lange dauern?“

„Die alten Hasen sagen, zwei Stunden. Wir liegen fast genau auf dem Pol. Die Arsena dreht sich liegend. Der Tag dauert sechs Stunden, die Nacht zwei. Ist Ihnen nicht kalt?“

„Nein. Die Anzugheizung arbeitet gut. Mir ist sogar heiß.“

„Also dann schlafen Sie gut. Raubtiere gibt es hier nicht.“

„Essen wir etwas!“ schlug Wtorow vor.

Die drei Männer drückten auf einen Knopf ihrer Schalttafeln.

Im selben Augenblick schob sich ein biegsames Röhrchen, das aus einem Thermos mit heißer Schokolade kam, zwischen ihre Lippen.

Nachdem sie ihren Hunger gestillt hatten, richteten sie sich darauf ein, geduldig den Morgen abzuwarten.

Im Lautsprecher meldete sich Belopolski. Melnikow berichtete ihm ausführlich, was sie gesehen hatten. Als er das Eisen erwähnte, das Wtorow gefunden hatte, rief Konstantin Jewgenjewitsch aufgeregt: „Sauerstoff! Wenn das stimmt, entfallen die letzten Zweifel.

Das Eisen hat sich an der Luft mit Sauerstoff gesättigt. Auf einem so kleinen Asteroiden kann es aber keine Luft geben.

Also ist die Arsena ein Planetentrümmer.“

„Das denke ich auch.“ Die Nacht kam ihnen lang vor. Niemand setzte sich. Da sie fast gewichtslos waren, hatten sie gar nicht das Bedürfnis, sich zu setzen.

Schweigend standen die drei Männer auf der Spitze eines Felsens. Im Licht der Sterne zeichneten sich verschwommen ihre Schatten ab. Tiefe Stille umgab sie.

Melnikow merkte, daß Korzewski, der neben ihm stand, ihn berührte. Im kristallenen Dunkel sah er, wie der Biologe die Hand ausgestreckt hielt. Sich umdrehend, gewahrte er auf dem schwarzsamtenen Himmel, der mit unzähligen Sternen bestickt war, einen hellblauen Punkt. Daneben ein anderer, gelber Punkt.

Die Erde!

Über Dutzende Millionen Kilometer hinweg sandte der heimatliche Planet den Männern, die inmitten einer Wüstenei einsam und im Finstern auf einem Felsen standen, einen stillen Gruß.

Und plötzlich hörte Melnikow in seinem metallenen Helm Verse sprechen. Es geschah so überraschend, daß er im ersten Augenblick seinen eigenen Ohren nicht traute.

„Nie vergess’ ich — ob’s ihn gab oder nicht — diesen Abend:

Verbrannt von der scheidenden Sonne

Glut und zerteilt war das Brachfeld des Himmels,

und es standen vorm gelblichen Brande — Laternen.“

Wtorow rezitierte. Wahrscheinlich dachte er gar nicht daran, daß andere ihn hören könnten, und sprach nur für sich. Es wirkte wie eine Fieberphantasie.

„Ich saß am Fenster im überfüllten Saale.

Irgendwo sangen Geigenbogen von Liebe…“

Man konnte sich kaum Worte vorstellen, die weniger zu ihrer Lage gepaßt hätten. Die Verse Alexander Blocks klangen hier linkisch und töricht.

„Du rissest dich los von mir, aufgeschreckt wie ein Vogel,

du eiltest davon, warst so leicht wie mein Traum…

Und es seufzte Parfüm, und es zuckten die Lider,

und erregend flüsterten Seiden.“

Plötzlich lachte Korzewski gereizt auf und verstummte im selben Augenblick wieder. Sein Gelächter klang noch merkwürdiger als Wtorows Rezitation. Ohne hinzusehen, spürte Melnikow, wie der junge Ingenieur zusammenzuckte.

„Doch aus der Tiefe der Spiegel warfst du mir Blicke zu,

und die Blicke riefen: So fang mich!“

„Fahren Sie fort!“ bat Melnikow leise.

Grenzenlose Einöde breitete sich ringsum. Als hellblauer Punkt, der nicht einmal einen Durchmesser hatte, schimmerte die unendliche ferne Erde. Fremd und unbegreiflich wie eine märchenhafte Erscheinung war das Leben vorübergehuscht.

Wie jung er noch ist! dachte Melnikow.

„Ist Ihnen nichts anderes eingefallen?“ fragte Toporkow.

„Wenn es Sie nach Kunst verlangt, kann ich für Sie das Tonband laufen lassen.“ Und plötzlich erklangen inmitten der schweigenden Nacht des Asteroiden die sanften, bezaubernden Klänge der Ouvertüre zu „Schwanensee“.

„Wo zaubern Sie das her?“ stieß Melnikow nach Minuten erschütterten Schweigens hervor. „Da haben Sie sich ja die richtige Zeit und den richtigen Ort für ein Konzert ausgesucht!“

„Ist es etwa verwerflich?“ warf Paitschadse ein.

Die drei Männer auf dem Felsen hörten, wie in der Funkstation an Bord gelacht wurde. Anscheinend hatten sich dort alle Expeditionsmitglieder versammelt. Die Sorge um die Genossen draußen im Ungewissen hatte sie ans Funkgerät getrieben, über das sie mit ihnen verbunden waren.

Melnikow, Korzewski und Wtorow empfanden warmherzige Dankbarkeit. Die Kameraden waren bei ihnen, an ihrer Seite.

In der finsteren Nacht waren sie auf dem kahlen Felsen des Planetoiden nicht allein.

Die Musik Tschaikowskis verklang.

„Möchtet ihr noch etwas hören?“ fragte Toporkow.

„Laß es gut sein!“ sagte Melnikow. „Es wird bald Morgen. Vielen Dank!“ Nicht mehr als eine Viertelstunde war vergangen, da flammte links von ihnen am unsichtbaren Horizont überraschend ein grellweißer, gebrochener Streif auf. Es sah aus, als male ein Riese auf einem gigantischen Band eine Kurve von unbekannter Bedeutung.

Die Sonne ging auf. Selber noch unsichtbar, beschien sie schon die Gipfel der Berge und die zerklüftete Felskette.

Dann stieg sie über die Gipfel hinweg, und der neue Tag der Arsena trat in seine Rechte. Die bizarre, düstere Landschaft wirkte nach der unheimlichen Finsternis der Nacht förmlich heiter.

Korzewski sah Wtorow an.

„Wie sind Sie vorhin auf diese Idee gekommen?“

„Woran haben Sie gedacht, Gennadi Andrejewitsch?“ fragte er. Im Ton seiner Frage lag kein Spott.

Durch das Schauglas hindurch war zu erkennen, daß Wtorow tief errötete.

„Ich weiß es wahrhaftig nicht“, antwortete er sichtlich verlegen. „Es hat sich einfach ohne mein Zutun ergeben, zufällig.

Es ist natürlich töricht“, setzte er hinzu.

„Nein. Wieso ist es töricht? Ein bißchen sonderbar, ja, das stimmt, aber nicht töricht.“ Korzewski legte Wtorow flüchtig die Hand auf die Schulter.

Der Ton seiner Worte war ungewöhnlich herzlich. Melnikow blickte ihn erstaunt an.

Korzewski lächelte sonst ebenso selten wie Belopolski, er sah immer streng und zugeknöpft aus. Fast nie suchte er eine Unterhaltung, und wenn sich jemand an ihn wandte, antwortete er kurz und knapp. Sogar beim Mittag- oder beim Abendessen in der Messe schien er seinen Gedanken nachzuhängen. Unterhaltungen über die Erde, wie sie sich zwischen den Expeditionsmitgliedern immer wieder entspannen, schienen ihn gar nicht zu berühren, und er äußerte für sie keinerlei Aufgeschlossenheit.

Viele, auch Melnikow, glaubten, der polnische Gelehrte sehne sich nicht im geringsten nach der Erde und denke gar nicht an sie. Jedoch die vergangene Nacht hatte alle eines Besseren belehrt. Empfände der Biologe keine Sehnsucht nach der Erde, hätte ihn die überraschend vorgetragene Lyrik wohl nicht so tief beeindruckt.

Um einen Menschen kennenzulernen, braucht man Zeit, dachte Melnikow. Früher habe ich über Belopolski auch ganz anders gedacht als jetzt.

Er fühlte, daß Korzewski und Wtorow ihm nähergekommen, verständlicher geworden waren nach dieser im Grunde unbedeutenden Episode.

Sobald die Sonnenstrahlen die drei Männer auf dem Felsen erreicht hatten, stellten diese die nun überflüssige künstliche Heizung ab und gingen weiter.

Wieder hieß es springen, in Felsenspalten hinabsteigen und alles gründlich untersuchen, was ihnen in den Weg kam.

Nach anderthalb Stunden langten sie am Rande einer steilen Schlucht an. Auf ihrem Grunde, in einer Tiefe von fünfhundert Metern, breitete sich eine runde Talsohle, die größer war als alle bisher entdeckten. Aus der furchteinflößenden Höhe wirkte sie eben und glatt.

„Dort werden wir wohl nicht hinunterspringen können“, sagte Wtorow.

„Warum nicht?“ widersprach Melnikow. „Ohne weiteres können wir auch hier springen. Diese Tiefe entspricht etwa zwei Metern auf der Erde. Die Fallgeschwindigkeit wird am Ende des Sprunges sechs Meter pro Sekunde nicht übersteigen. Die Frage ist bloß, wie wir wieder heraufkommen. Seht einmal genau hin: Der Talkessel ist rings von Steilwänden eingefaßt.

Nicht wahr, er gleicht einem gigantischen künstlichen Brunnen.“

„Ja, wirklich“, pflichtete Korzewski ihm bei. „Eine bemerkenswerte Laune der Natur. Aber wenn wir auch, wie Sie sagen, zwei Meter in die Tiefe springen können, so wird es doch niemand von uns fertigbringen, ebenso hoch zu springen.“

„Sollen wir etwa hier abziehen, ohne diesen seltsamen Brunnen untersucht zu haben?“ Wtorow beugte sich vor und spähte auf den Grund der Schlucht hinab. Da es auf dem Asteroiden keine Luft gab, konnte man auch in der Ferne ideal sehen. „Dort sind so eigentümliche Vorsprünge. Merkwürdige Formen.“ Melnikow sah genauer hin. Er hatte gute Augen und erkannte deutlich Umrisse, die an Ruinen erinnerten.

„Schade, daß wir keine Ferngläser haben“, sagte er. „Dort ist tatsächlich etwas Besonderes.“

„Die Schnur reicht nicht“, stellte Korzewski fest.

Als sie zu ihrer Erkundung aufgebrochen waren, hatten sie vier Knäuel Schnur mitgenommen, jedes etwa achtzig Meter lang.

„Geben Sie mir Ihre Hand“, bat Wtorow.

Er beugte sich weit über den Rand des Steilhangs vor. Ohne große Anstrengung konnte Melnikow seinen fast gewichtlosen Körper halten.

Ganz in der Tiefe erblickte Wtorow, was er suchte. Die Wand war nicht ganz glatt, in halber Höhe zog sich ein steinernes Gesims entlang.

„Genau das, was wir brauchen“, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. „Auf der Erde konnte ich mit Anlauf ohne weiteres anderthalb Meter hoch springen. In diesem Anzug hier bin ich zwar schwerer, aber ich denke, einen Meter werde ich trotzdem schaffen. Das entspräche einer Höhe von zweihundertfünfzig Metern. Das genügt.“

„Sehr gewagt“, sagte Melnikow.

„Wieso, Boris Nikolajewitsch? Nehmen wir an, es gelingt mir nicht, wieder herauszukommen. Dann gehen Sie beide zum Schiff zurück und holen ein langes Seil. Wenn Sie sich beeilen, brauchen Sie dazu nicht mehr als zwei Stunden.“

„Was wollt ihr machen?“ fragte Belopolski vom Schiff aus.

Melnikow berichtete, wobei er besonders auf die seltsame Form der Steine hinwies, die sie Ruinen ähnlich machte.

„Was sagtet ihr, wie tief ist es dort?“

„Nicht mehr als fünfhundert Meter.“

„Gut!“ entschied Belopolski. „Versuchen Sie es!“ Sie banden den Sack mit den Gesteinsproben an das Ende der Schnur des ersten Knäuels. Hielte sie diese Last, würde sie auch einen Menschen, zumal einen so schlanken wie Wtorow, halten. Er wog mit Planetenanzug nicht mehr als siebenhundert Gramm.

Der Sack sank in die Tiefe. Als das erste Knäuel abgewickelt war, verknüpften sie es mit dem Ende des zweiten. Auch noch das vierte wurde zur Hälfte benötigt, dann legte sich der Sack auf das Sims.

„Annähernd dreihundert Meter“, sagte Melnikow. „Selbst wenn die Schnur reißen sollte, bestünde keine Gefahr, daß Sie zerschmettert würden.“

„Wird schon klargehen, Boris Nikolajewitsch.“ Sie hievten den Sack empor, und an seiner Statt wurde nun Wtorow angebunden. Die Filmkamera ließ er oben, den Fotoapparat nahm er mit.

Obwohl Melnikow wußte, daß es gar nicht besonders gefährlich war, aus der Höhe von einem halben Kilometer abzustür- 72 zen, verfolgte er aufgeregt, wie Korzewski Wtorow vorsichtig hinabließ. Ein Mensch konnte sich bei einem solchen Sturz zwar nicht die Knochen brechen, doch das Schauglas in seinem Helm konnte splittern. Das aber würde für ihn den sofortigen Tod bedeuten. Zwar war es kein Glas, trotzdem… Außerdem gähnte der Abgrund so schauerlich vor ihnen, daß den Menschen keinerlei vernünftige Erwägungen über den Unterschied zwischen der Arsena und der Erde halfen — ihnen wurde schwindlig, wenn sie tief, ganz tief hinab bis zum Fuß des Felsens blickten.

Der metallene Helm Wtorows versank in der Tiefe, wurde immer kleiner.

Als der Ingenieur unter sich das Steinsims fühlte, schaltete er die Sohlenmagneten ein, suchte festen Halt und band die Schnur los. Er spähte nach oben und erblickte seine Kameraden. Die dreihundert Meter hohe Wand über ihm schien bis zu den Sternen zu reichen. Die Sonne stand ihm unmittelbar zu Häupten, und er sah den Feuerkranz ihrer Protuberanzen. Durch den Anzug hindurch spürte er ihre sengenden Strahlen.

Wtorow hatte das Gefühl, um ihn herrsche eine besondere Stille, eine andere als oben. Ihn überfiel ein Gefühl beklemmender Einsamkeit. An die Wand geschmiegt, stand er minutenlang und versuchte, Herr seiner selbst zu werden. Die düstere, schwarzweiße Landschaft wirkte feindselig.

Warum sagen die anderen nichts? überlegte er.

Plötzlich hörte er von weit her Stimmen. Deutlich erkannte er Professor Balandin und hörte, wie Belopolski ihm antwortete.

Dann fragte Paitschadse bei Melnikow an, wie es vorwärts ginge. Boris Nikolajewitsch antwortete: „Wir seilen Wtorow immer noch ab.“ Deshalb also redeten Melnikow und Korzewski nicht miteinander. Sie waren fest davon überzeugt, daß er das Sims noch nicht erreicht hätte.

Wtorow betrachtete die Schnur. Sie glitt immer noch von oben herab und kringelte sich zu seinen Füßen. Korzewski hatte nicht bemerkt, daß sie keine Last mehr trug.

„Das dürfte wohl nicht ganz stimmen!“ sagte Wtorow, und mit dem lauten Worte streifte er sogleich die unbegreifliche Erstarrung von sich ab.

„Was sagten Sie, Gennadi Andrejewitsch?“ fragte Melnikow, der offenbar nicht verstanden hatte.

„Ich sagte, Sie fieren das Seil ohne Last. Merkt Stanislaw Kasimirowitsch denn nicht, daß ich schon auf dem Sims stehe?“

„Ist es von dort noch weit bis zum Grund?“

„An die hundertachtzig Meter. Ich springe!“ Das Gefühl beklemmender Einsamkeit war von ihm abgefallen. Die Landschaft der Arsena wirkte nicht mehr feindselig.

Die Stimmen der Kameraden hatten ihm Ruhe und Entschlossenheit wiedergegeben.

Das Sims war nicht so schmal, wie es von oben ausgesehen hatte. Es maß etwa zwei Meter. Wtorow trat vor und tat, ohne sich zu besinnen, einen Schritt ins Leere.

Er fiel länger als anderthalb Minuten. Immer schneller glitt die Wand des Abgrunds, die jetzt nicht mehr glatt, sondern mit Spalten durchzogen war, an ihm vorüber. Manchmal mußte er sich mit dem Bein von Felsgraten abstoßen, die ihm den Weg versperrten.

Er konnte den Talgrund deutlich erkennen. Sonderbar glatt wirkte er, wie mit Asphalt ausgegossen, und erinnerte an einen riesigen Stadtplatz. Allerdings umgaben ihn keine Häuser, sondern steile Felsen. In seiner Mitte türmten sich Steine, die immer stärker den Ruinen eines gigantischen Gebäudes glichen.

Sobald Wtorow den Boden berührte, schaltete er die Magneten ein und fand schnell sein Gleichgewicht wieder. Er meldete den Genossen, daß er gut gelandet sei, und wandte sich der Mitte des merkwürdigen Platzes zu, die etwa sechshundert Meter von ihm entfernt war.

Seit die Männer das Raumschiff verlassen hatten, waren etwa sieben Stunden vergangen, aber Wtorow verspürte keine Müdigkeit. Er hatte in dieser Zeit fast nichts gegessen und war doch nicht hungrig. Der Energieverbrauch auf der Arsena war verschwindend gering. Die Luft würde noch vier Stunden reichen.

Allerdings mußte er bis dahin den Abgrund wieder verlassen haben und an Bord zurückgekehrt sein. Sonderliche Eile war jedoch nicht geboten. Wtorow beschloß, den eigenartigen Talkessel gründlich zu untersuchen.

Durch die elektromagnetischen Haftsohlen fiel ihm das Gehen nicht schwerer als auf der Erde. Des öfteren stieß er auf lange gewundene Spalte. Er sprang behende über sie hinweg und schaltete dabei nicht einmal den Strom aus. Aber sonst war die Oberfläche des Talgrundes erstaunlich eben. Wenn es kein Asphalt war, was sie bedeckte, so glich es diesem doch außerordentlich.

Der Talkessel unterschied sich von allem, was sie auf der Arsena bisher gesehen hatten, und Wtorows Verwunderung wuchs immer mehr. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, daß dies keine Laune der Natur, sondern ein künstlicher Platz mit den Trümmern eines Bauwerkes sei, das beim Untergang des Planeten zerstört worden war.

Er ging schneller.

Die Ruinen, die von weitem klein ausgesehen hatten, wurden zusehends größer. Riesige Gesteinsbrocken lagen dort aufgetürmt.

Wtorow fiel auf, daß die Steine in geraden Linien und rechten Winkeln lagen. Die Fläche, die sie bedeckten, schien ein Quadrat von mindestens hundert Meter Seitenlänge zu sein.

Zutiefst erregt hielt er ein. Stand er tatsächlich vor den eingestürzten Bauten der unbekannten Bewohner jenes untergegangenen Planeten, dessen Splitter die Arsena war?

In der Anordnung der steinernen Vorsprünge nahm er bereits deutlich eine gewisse Ordnung wahr, deren Sinn ihm vorerst allerdings noch verschlossen blieb. Auch war der eine Eckstein des Quadrats, der nun dicht vor ihm lag, bedeutend höher als die anderen. Das konnte kein Zufall sein.

„Endlich!“ flüsterte er.

Aber so leise er dieses Wort auch ausgesprochen hatte, es war gehört worden.

„Wiederholen Sie!“ sagte Melnikow. „Ich verstehe Sie nicht!

Was ist geschehen?“ Wtorow schöpfte Atem und antwortete so ruhig wie möglich: „Nichts. Mit mir ist alles in Ordnung. Aber vor mir…“

„Was haben Sie vor sich?“ Wtorow antwortete nicht. Mit unwiderstehlicher Gewalt zog ihn der Stein an, der sich vor ihm erhob. Um den fünf Meter hohen Riesen besser betrachten zu können, trat er ein wenig zurück.

Kein Zweifel! Vor ihm lag ein aus Granit gehauener gigantischer Kubus. Die Zeit hatte die ursprüngliche Form stark verändert, die einst scharfen Kanten waren zerbröckelt und zermahlen. Vieles fehlte, aber jeder Zweifel blieb ausgeschlossen.

Diese geometrisch ebenmäßige Figur konnte nicht von der Natur geschaffen worden sein, sie war das Werk vernunftbegabter Wesen!

Wtorow schilderte ausführlich, was er sah. Er wußte, daß ihm die ganze Besatzung zuhörte, aber kein Ausruf der Verwunderung wurde laut. Augenscheinlich erregte die sensationelle Neuigkeit alle genauso wie ihn.

Als er geendet hatte, trat langes Schweigen ein.

„Kehren Sie an Bord zurück“, befahl schließlich Belopolski.

„Merken Sie sich den Weg. Wir werden eine größere Gruppe dorthin schicken.“

„Kommen Sie herauf!“ setzte Melnikow hinzu.

Ehe Wtorow der Weisung folgte, fotografierte er den Würfel mehrere Male. Er wußte, daß man ihn oben ungeduldig erwartete, konnte es sich aber nicht versagen, noch zu einem weiteren riesigen Stein zu gehen, der vierzig, fünfzig Meter entfernt lag und etwa sechs Meter Durchmesser hatte.

Als er ihn aus der Nähe betrachtete, blieb er starr vor Staunen stehen.

Gut erhalten erhob sich vor ihm ein granitenes Ikosaeder[4].

Ein steinerner Brillant, an dem die Spuren emsiger Bearbeitung deutlich zu erkennen waren. Wtorow nahm mühelos das elegante Zusammenfließen der einzelnen Flächen wahr, das auch die Juweliere auf der Erde den Edelsteinen so häufig verleihen.

Eine Titanenarbeit! Eine Arbeit von Riesen!

Welche Widerstandskraft mußten diese granitenen Körper besitzen, wenn selbst eine kosmische Katastrophe sie nicht zu vernichten vermocht hatte?

Ach — dort hinten stand gar ein Oktaeder! Und ein Stück weiter — ein Dodekaeder[5]!

Es kostete Wtorow Mühe, sich von dem zauberhaften Anblick loszureißen. Die Genossen warteten auf ihn. Diese Arbeit unbekannter Erbauer mußten die Wissenschaftler untersuchen.

Den Blick zurückgewandt, ging er zum Fuß der Steilwand.

Dreihundert, vierhundert Schritte — die steinernen Brillanten schwanden allmählich, verschmolzen mit der Masse der übrigen Steine, verwandelten sich wieder in etwas Ruinenähnliches, schienen nie dagewesen zu sein.

Als Wtorow wieder vor der Wand stand, schätzte er die Höhe des Simses, schaltete die Sohlenmagneten aus, nahm einen Anlauf und sprang.

Die Erfahrung der letzten Stunden erwies sich als vorteilhaft — Wtorow hatte gut geschätzt. Seine Füße setzten genau auf dem Rand des Simses auf. Er ergriff das Seil, beugte sich energisch vor und ließ sich ein wenig fallen.

Korzewski, der das Seil anscheinend die ganze Zeit gehalten hatte, spürte den Ruck.

„Sollen wir hieven?“ fragte er.

„Ja“, antwortete Wtorow.

Er schlang sich das Seil nicht um den Leib. Die Kraft einer Hand genügte völlig zum Festhalten. Minuten später stand er schon neben seinen Kameraden.

„Ich habe eine tolle Entdeckung gemacht!“ platzte er heraus.

„An Bord kommen!“ ordnete Melnikow kurz an.

Der Rückmarsch dauerte eine Stunde. Sie hatten sich den Weg gut gemerkt und schritten sicher von Fels zu Fels. Toporkow hatte vor dem Mikrofon der Bordsprechanlage ein Metronom aufgestellt, und sein immer lauter und deutlicher werdendes Ticken zeigte ihnen an, welche Richtung sie einschlagen mußten.

Im Raumschiff wurden sie mit Ungeduld erwartet. Alle Arbeiten waren liegengeblieben. Wtorows außerordentlich bedeutsame Mitteilung hatte die Gelehrten in helle Aufregung versetzt, und sie konnten an nichts anderes mehr denken.

Endlich waren Spuren vernunftgelenkten Schaffens gefunden worden! Auf dem Mond und auf dem Mars hatten sie vergebens danach gesucht. Erst auf dem winzigen Asteroiden war das Glück ihnen hold! Das konnte einen Wissenschaftler schon in Erregung versetzen!

Die heraufziehende Nacht zwang alle, an Bord zu bleiben. Es wurde beschlossen, in fünf Stunden wieder zu dem geheimnisvollen Talkessel aufzubrechen. Bis dahin wurde ausgeruht.

Die Besatzung hatte lange kein Auge zugetan, und Müdigkeit machte sich bemerkbar. Nachdem sie Wtorows ausführlichen Bericht gehört hatten, gingen alle in ihre Kajüten.

Melnikow übernahm die Wache. Belopolski sollte mit zu den Ruinen aufbrechen, während er an Bord bleiben würde. Das Schiff keinen Augenblick ohne Kommandanten zu lassen war auf Weltraumfahrten Gesetz.

Zwei Stunden später versank die Sonne hinter einem hohen Felsen, und im selben Augenblick trat völlige Finsternis ein. Die Arsena entzog sich den Blicken, und das Schiff schien wieder im Raum zu fliegen. Daß es noch auf dem Asteroiden ankerte, konnte man nur ahnen, wenn man aus dem Fenster sah und unten keine Sterne erblickte.

Die Arsena stellte einen Splitter von sehr unregelmäßiger Form da. Tag und Nacht waren nicht an all ihren Punkten gleich lang. Am Landeplatz von „SSSR-KS 3“ dauerte der Tag sechs, die Nacht aber nur zwei Stunden. Der Asteroid zog seine Bahn um die Sonne mit dem Pol voran und drehte sich, wie Paitschadse es nannte, im Liegen. Wenn er die Sonne passierte, versank die Kehrseite, auf der das Raumschiff ankerte, in endlose lange Nacht. Aber das würde erst in drei Monaten sein, und so lange wollte die Expedition nicht auf der Arsena verweilen.

Mit Sonnenaufgang wurde es an Bord lebendig. Acht Mann der Besatzung rüsteten sich, um unter Führung Wtorows und Korzewskis die Trümmerstätte zu besichtigen. Außer Melnikow blieben Toporkow sowie Saizew und Knjasew, die an den Triebwerken beschäftigt waren, an Bord zurück. Die Gruppe nahm lange Seile, Spitzhacken und Spaten, doppelten Sauerstoffvorrat, Sprengpatronen und eine neuartige Radioapparatur zur Bodenforschung mit.

Nach einem ausgiebigen Frühstück verließ die Expedition das Schiff und verschwand, nachdem sie die erste Schlucht überwunden hatte, inmitten der Felsen. Die vier Zurückbleibenden blickten den Genossen nach, wünschten ihnen durch den Sprechfunk viel Glück und wandten sich wieder ihrer Tätigkeit zu. Melnikow trat ans Steuerpult, Toporkow übernahm die Funkwache, und die beiden Mechaniker begaben sich ins Achterschiff, um die Arbeiten fortzusetzen, bei denen sie durch Wtorows Bericht gestört worden waren.

Tod und Leben

Etwa eine Stunde verwandte Melnikow darauf, sein Tagebuch weiterzuführen. Seit dem Flug zum Mars hatte er die Gewohnheit beibehalten, ihm täglich seine Gedanken und Beobachtungen anzuvertrauen. Während der zwölf Flugtage hatte er von dieser Regel abweichen müssen. Ihm fehlte die Zeit. Nun beschloß er, das Versäumte nachzuholen, obwohl er müde war und sich am liebsten schlafen gelegt hätte. Er wußte genau, daß er nicht würde einschlafen können, solange die Genossen nicht wieder an Bord waren.

Das Tagebuch versetzte ihn zurück auf die Erde. Die letzten Seiten waren mit Olgas Namen übersät, und mit quälender Deutlichkeit erstand vor seinem geistigen Auge die Gestalt seiner Frau. Drei lange Monate trennten ihn noch vom Wiedersehen …

Er bezwang die Sehnsucht, die ihn überwältigen wollte, und schrieb über den Flug zu dem Asteroiden. Doch kaum war er bis zur Schilderung von Wtorows Entdeckung im Talkessel gelangt, da unterbrach das Klingelzeichen des Sprechfunks seine Arbeit. Toporkow verlangte ihn.

„Sehen Sie nur, was dort unten geschieht“, sagte er.

Melnikow spähte zum Bildschirm.

Zuerst bemerkte er keine Veränderungen. Die Landschaft der Arsena sah aus wie immer. Aber dann fielen ihm sonderbare kleine Feuer auf, die auf dem Landeplatz, auf den steilen Felsen, an den Berghängen, ja überall emporzüngelten. Es sah aus, als schlügen unsichtbare Steinmetzen mit unsichtbaren Hämmern Funken aus dem Gestein.

Sekundenlang starrte Melnikow verständnislos dieses Bild an.

Dann durchfuhr ihn ein schrecklicher Gedanke: Meteoriten! …

Die Arsena ist einem Meteoritenzug begegnet … Und die Genossen sind ihm unter freiem Himmel schutzlos preisgegeben …

Werden sie einen rettenden Unterschlupf finden?

In unmittelbarer Nähe des Schiffes schlug ein mächtiger Stein mit fürchterlicher Gewalt auf den Fels. Eine grelle Stichflamme schoß empor. Im selben Augenblick hörte Melnikow deutlich, wie nacheinander zwei Steine gegen die Bordwand prallten.

Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, drückte er auf mehrere Knöpfe und schloß alle Fenster des Observatoriums mit den Schutzschilden. An den Kontrollgeräten war abzulesen, daß noch keins beschädigt worden war. Der Schiffsrumpf wies ebenfalls bislang noch kein Leck auf.

Melnikow schaltete einen Seitenbildschirm ein, verband sich mit der Funkkabine und fragte, ob Meldungen von Belopolski eingegangen seien. Aber Toporkow hielt sich nicht in seiner Kabine auf.

Da öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle stand der Ingenieur. Melnikow warf einen Blick auf sein Gesicht, das eine Grimasse des Schmerzes verzerrte, da wußte er, daß etwas Furchtbares geschehen war. Ihm stockte der Herzschlag.

„Wer…?“ Er brachte kaum einen Laut über die Lippen.

„Leonid Nikolajewitsch.“ Toporkows Lippen zitterten.

Melnikow bedeckte die Augen mit der Rechten. Wie lebend sah er den gefallenen Kameraden vor sich.

„Ich fliege nur deswegen mit, weil wir auch auf einem Asteroiden landen werden“, hatte Orlow damals gesagt, ohne zu ahnen, daß diese Landung ihm zum Verhängnis werden würde, und ein gewinnendes Lächeln hatte wie immer, wenn er sich von Herzen freute, sein schönes Gesicht gleichsam überstrahlt.

„Und die anderen?“

„Haben sich in einen Felsspalt flüchten können. Leonid Nikolajewitsch ist unmittelbar vor dem Spalt getötet worden, ein Meteorit hat ihn genau ins Gesicht getroffen.“ Was mußten die Expeditionsteilnehmer durchgemacht haben, vor deren Augen ein Kamerad solch ein Ende fand!

Genau ins Gesicht! dachte Melnikow.

Einen Augenblick sah er deutlich Orlows Augen. Reiner Aquamarin, von langen schwarzen Wimpern eingefaßt. Melnikow bebte am ganzen Leibe.

„Wo sind Saizew und Knjasew?“

„Ich habe ihnen gesagt, sie sollen nicht ins Freie gehen.“ Melnikow strich sich mit der Hand über die Stirn.

„Lieber möchte man selber sterben als dergleichen erleben“, sagte er. „Gehen Sie in Ihre Funkkabine, Igor Dmltrijewitsch.

Ich komme gleich. Der Steinregen wird bald aufhören.“ Toporkow ging hinaus.

Es gibt in unserem Sonnensystem unzählige meteoritenhafte Körper. Sie fliegen sehr häufig in dichten Schwärmen. Neben den Kometen sind es die Meteorsteine, die den interplanetaren Raum verunreinigen. Beim Flug eines Raumschiffes ist ein Zusammenstoß mit ihnen kaum zu befürchten. Anders verhält es sich mit den Asteroiden. Im Vergleich mit den Raumschiffen sind sie ungeheuer groß. Sie besitzen keine Atmosphäre, die die großen Planeten vor dem himmlischen Bombardement schützt.

Begegnet ein Meteoritenzug auf seinem Weg einem Asteroiden, ergießt sich auf ihn ein Steinregen, dessen „Tropfen“ kosmische Geschwindigkeit besitzen, das heißt, die Fluggeschwindigkeit eines Gewehrgeschosses oder einer Granate um ein vielfaches übertreffen. Die Energie des ungestümen Fluges verwandelt sich beim Aufprall in Wärmeenergie. Es tritt eine Explosion ein.

Deshalb ist die Oberfläche kleiner Planeten mit dem feinen Staub zerschellter Meteoriten bedeckt. Kein Schutzanzug rettet den Menschen, wenn ihn eine Sprenggranate dieser Art im luftleeren Raum trifft. Sie bedeutet für ihn den sicheren Tod.

Daß solch ein kleines Ziel wie der Mensch getroffen wird, kann nur außerordentlich selten geschehen. Trotzdem droht den Sternfahrern durch die Meteoriten die größte Gefahr. Raumschiffe schützen sich vor ihnen durch Radioprojektoren, hochempfindliche Lokalisierungsgeräte, die mit dem Autopiloten gekoppelt sind. Aber während einer Zwischenlandung auf einem Asteroiden nützen einem Schiff diese eigenartigen Augen nichts.

Sie reichen zwar bis zu fünftausend Kilometer weit, doch selbst diese Reichweite ist bei einem Meteoriten, der mit kosmischer Geschwindigkeit fliegt, verschwindend gering. Ehe die Besatzung Maßnahmen zum Schutz des Schiffes treffen könnte, hat der angekündigte Meteorit die Entfernung bereits zurückgelegt.

Die Weltraumforscher nehmen dieses Risiko kühn auf sich.

All das wußte Melnikow genau, aber es linderte nicht im geringsten seinen Schmerz um den Verlust des Genossen. Er trauerte um Orlow. Außerdem war ihm klar, was für einen erschütternden Eindruck die Nachricht vom Tod eines Expeditionsmitgliedes auf der Erde hervorrufen würde. Den tragischen Zwischenfall bis zur Rückkehr des Raumschiffes zu verschweigen war unmöglich.

Nach anderthalb Stunden hatte der Meteoritenzug die Bahn der Arsena gekreuzt. Der „Regen“ hörte unversehens auf. Während dieser ganzen Zeit waren nur fünfmal kleinere Steine gegen den Schiffsrumpf geprallt, ohne die Bordwand zu durchschlagen.

Als klar wurde, daß die Gefahr überstanden war, ging Melnikow in die Funkkabine.

Dort erwarteten ihn schon Saizew und Knjasew. Der Mechaniker hatte rotgeweinte Augen. Als jüngstes Besatzungsmitglied schämte er sich der Tränen.

„Andrejew und Wtorow bringen ihn hierher“, meldete Toporkow.

„Und was machen die anderen?“

„Sie gehen weiter…“ Toporkow sagte es betroffen, aber Melnikow verstand die Handlungsweise Belopolskis. Die Trauer um einen Gefallenen darf nicht den Erfolg der ganzen Expedition gefährden. Das Raumschiff konnte sich nicht lange auf der Arsena aufhalten, und die Arbeit mußte unter allen Umstanden zu Ende geführt werden. Hatte Konstantin Jewgenjewitsch in jenen schrecklichen Augenblicken, als „SSSR-KS 2“ vom Mars starten sollte, nicht ebenso gehandelt?

„Wie werden sie den Leichnam über die Schlucht befördern?“ fragte Saizew.

„Es wird Wtorow keine Schwierigkeiten bereiten, mit ihm zusammen hinüberzuspringen.“

„Werden wir ihn etwa hier zurücklassen?“ flüsterte Knjasew.

Melnikow runzelte die Stirn und gab keine Antwort. Die Frage beschäftigte auch ihn. Es schien keinen anderen Ausweg zu geben.

Aus dem Lautsprecher drangen vereinzelte Worte. Man merkte, daß die Männer aus Belopolskis Gruppe nur das Notwendigste miteinander besprachen.

Auf dem Bildschirm war die felsige Bergkette jenseits der Schlucht zu erkennen. Melnikow und seine Gefährten ließen sie nicht aus den Augen. Gleich würden sie dort zwei Besatzungsmitglieder erblicken, die einen Dritten, einen Toten, trugen.

Keine drei Stunden waren vergangen, seit sie zusammen mit Leonid Orlow das Schiff verlassen hatten, der energiegeladen, das hagere Gesicht von den Augen verschönt, voller Lebensfreude ernst an ihrer Seite gegangen war. Wer hätte gedacht, daß dieser lebensprühende Mann eine Stunde später bereits tot sein würde… Vielleicht war ihnen die drohende Gewalt der Natur, in deren Geheimnis sie eindringen wollten, noch nie zuvor so deutlich zum Bewußtsein gekommen.

„Da sind sie“, sagte Saizew.

Auf dem Kamm des Höhenzuges erschienen zwei winzige Gestalten. Leicht konnte man den langen Wtorow von dem kleineren Andrejew unterscheiden. Der Ingenieur trug Orlow auf den Armen. Er sprang als erster mit seiner Last in die Tiefe.

Andrejew folgte ihm. In der gleichen Reihenfolge überwanden sie auch die Schlucht.

Melnikow, Saizew und Knjasew gingen zur Luftschleuse, Toporkow blieb zurück. Er durfte die Funkstation nicht verlassen.

Nach einigen Minuten hörten sie, wie sich die Außentür schloß und die fauchende Pumpe die Schleuse mit Luft füllte. Das grüne Lämpchen leuchtete auf, und die Innentür öffnete sich.

Bemüht, das verunstaltete Gesicht Orlows, das durch die zertrümmerte Helmscheibe zu erkennen war, nicht anzusehen, halfen Saizew und Knjasew den Ankömmlingen aus ihren Anzügen.

„Wir werden ihn in der Roten Ecke aufbahren“, schlug Melnikow vor.

„Dort ist die Türschwelle sehr hoch“, gab Andrejew zu bedenken. „Es wird schwierig sein, ihn hinabzulassen.“

„Dann — ins Observatorium.“ Melnikow bedeckte Orlows Helm mit einem sauberen Tuch.

Sie nahmen dem Erschlagenen den Tornister und die Sauerstoffballons ab. Dann trugen sie ihn mit dem Schutzanzug ins Observatorium und legten ihn auf denselben Tisch, an dem er selber wenige Stunden zuvor alles für die Sichtung des auf der Arsena gesammelten Materials vorbereitet hatte.

„Holt eine Fahne“, sagte Melnikow. „Aus Belopolskis Kajüte.“ Wtorow ging hinaus und kehrte bald mit dem purpurnen Tuch zurück.

„Ich übernehme als erster die Ehrenwache“, erklärte Melnikow. „Löst mich in einer halben Stunde ab.“ Die Männer merkten, daß er mit dem Gefallenen allein sein wollte, und verließen den Raum.

Die dritte Nacht. Und abermals ging die Sonne auf. Das gewaltige Schiff lag da wie ausgestorben. Die Männer lösten einander bei der Ehrenwache ab und trennten sich, ohne ein Wort zu wechseln. In der Funkstation wurden in großen Abständen vereinzelte Sätze aufgefangen, die aus dem Talkessel kamen.

Ein unsichtbarer Trauerflor schien über die Arsena gebreitet.

Neun Stunden nach dem Aufbruch der Expedition waren fünf Mann wieder an Bord zurück. Schweigend wurden sie empfangen, schweigend half man ihnen beim Ausziehen. Wären alle sechs Ausgezogenen wiedergekehrt, hätte man sie mit Fragen überschüttet.

„Wo ist er?“ fragte Paitschadse halblaut, sobald er den Helm abgesetzt hatte.

„Im Observatorium“, antwortete Melnikow ebenso leise.

Die Ankömmlinge hatten finstere, eingefallene Gesichter.

Nachdem sie die Raumanzüge abgelegt hatten, begaben sie sich geschlossen zum Observatorium. Ihnen folgten die an Bord gebliebenen Genossen.

Lange standen die elf Männer vor dem Toten und nahmen schweigend Abschied. Belopolski zog das Fahnentuch beiseite, bückte sich und betrachtete angestrengt das, was noch unlängst das Gesicht seines Schülers gewesen war.

„Er war ein begabter Wissenschaftler“, sagte er wie im Selbstgespräch. „Ich habe große Hoffnungen auf ihn gesetzt. Die Familie der Sternfahrer hat einen schweren Verlust erlitten. Er hat sein Leben für die Wissenschaft geopfert.“ Belopolski richtete sich auf. „Wir müssen Leonid Nikolajewitsch Orlow auf der Arsena zurücklassen. Er wird hier ruhen, bis die nächste Expedition ihn auf die Erde bringt. Die Beisetzung findet in zwei Stunden statt. Ich bitte Boris Nikolajewitsch und Konstantin Wassiljewitsch, eine geeignete Stätte zu suchen.“

„Kommen Sie, Boris“, sagte Saizew.

Sie wählten für das Grab eine Stelle unter einem überhängenden Felsen aus. Dorthin würde nie ein Sonnenstrahl dringen, und der froststarre Leichnam konnte unbeschadet der Stunde harren, da er in einem Bleisarg ins Vaterland übergeführt werden würde.

„Wir werden hier für alle Zeiten ein Denkmal errichten“, sagte Melnikow und wies auf den Felsen.

Geräuschlos sprang die Stichflamme einer Detonation empor.

Am Fuße des Felsens war eine Grube entstanden. Saizew brachte aus dem Ersatzteillager eine zwei Meter lange Stahlplatte, auf die er mit einem Schweißbrenner den Namen des Verstorbenen und das Datum schrieb.

Die Grabstätte war bereit.

Zur festgesetzten Stunde fand die Beisetzung statt. Orlow lag in seinem Raumanzug aufgebahrt. Der zertrümmerte Helm war durch einen neuen ersetzt worden.

Außer Melnikow, Saizew, Balandin und Andrejew nahmen alle an der Trauerfeier teil. Sogar in diesem Falle wurde nicht gegen das Raumfahrergesetz verstoßen; ein Teil der Besatzung blieb an Bord.

Als die Stahlplatte das Grab verschloß, wurde Salut geschossen. Drei Salven. Sie waren nicht zu hören. Man sah aus den Pistolen nur das Mündungsfeuer züngeln.

Am nächsten Morgen brachen Belopolski, Balandin, Romanow und Wtorow abermals zu dem Talkessel auf. Sie nahmen diesmal eine Elektrowinde nebst Akkumulatorenbatterien sowie zwei Preßlufthämmer und Preßluftflaschen mit. Alles zusammen war sogar auf der Arsena eine schwere Last.

„Das könnt ihr zu viert nicht tragen“, sagte Melnikow.

„Nehmt noch einen Mann mit.“

„Wir schaffen es schon“, entgegnete Belopolski. „Wir werden die Sachen zunächst stückweise über die Schlucht befördern und dann mit einem Seil auf den Felskamm hinaufziehen. Schließlich wiegt alles zusammen hier nicht mehr als dreißig Kilogramm. Mit dem kräftigen Wtorow wird es schon gehen.“

„Warum wollt ihr nicht mehr Leute mitnehmen?“

„Weil die Erfahrung von gestern lehrt, daß man nicht in großen Gruppen ausziehen darf. Das ist gefährlich.“ Die vier Mann gingen von Bord und kehrten erst nach zehn Stunden zurück. Drei von ihnen sahen zu Tode erschöpft aus.

„Machen Sie das Schiff startklar“, sagte Belopolski zu Melnikow, und ohne noch ein Wort hinzuzusetzen, suchte er seine Kajüte auf.

„Ich bin so ausgepumpt, als hätte ich auf der Erde Fünfpudsäcke geschleppt“, sagte Romanow.

„Was habt ihr denn bloß gemacht?“ wurde er gefragt.

„Wir haben die Steine auseinandergeschoben.“

„Also sind die Granitfiguren jetzt zerstört?“

„Nein, die haben wir nicht angerührt.“ Wtorow sah aus wie immer. Der eiserne Organismus dieses Sportlers ließ sich von der Müdigkeit nicht unterkriegen.

Abermals verging ein Tag und eine Nacht.

Saizew und Knjasew beendeten die Überprüfung der Triebwerke, und nichts hielt das Raumschiff nun mehr auf der Arsena.

Es hatte sechsunddreißig Stunden auf dem Asteroiden verbracht, eine ausreichende Zeit für alle vorgesehenen Arbeiten und auch für die unvorhergesehenen, die zur Hauptaufgabe geworden waren. Nun lag es bereit, die Fahrt fortzusetzen. Nur ein Mann der Besatzung fehlte.

Am 4. Juli, ein Uhr nachts Moskauer Zeit, sprang das eine Triebwerk des Raumschiffes an, und behutsam löste sich das Schiff von der Arsena.

Mit tiefer Trauer beobachteten die Sternfahrer, wie der Asteroid sich von ihnen entfernte. Bald hatte er sich in einen kleinen Stern verwandelt, der rasch seinen Glanz verlor. Dann verschwand er ganz. Noch lange blickten alle auf den Bildschirm.

Die Kosmonauten wußten, daß Opfer an Menschenleben bei der langwierigen Eroberung des Kosmos nicht zu vermeiden waren. Die Natur ergibt sich nur in hartem Kampf. Die Geschichte der Expeditionen nennt unzählige Namen Gefallener.

So war es auf der Erde, so würde es auch im interplanetaren Raum sein. Der Weg zum Wissen ist dornenreich. Aber niemals, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, vermag der Tod die Forscher aufzuhalten. Die siegreiche Wissenschaft bewahrt den Namen jedes Gefallenen, aber sie schreitet unaufhaltsam voran zum vollen Sieg über die elementaren Kräfte der Natur, die sich ihr blindlings widersetzen. Schon allein durch ihr Sterben beweisen die Opfer der Wissenschaft die erhabene Kraft des Lebens. Wer weiß — vielleicht wird eines Tages auch der Tod demütig den Nacken vor dem Willen des Menschen beugen. Dann wird niemand mehr fallen und kein Sieg mehr so teuer bezahlt zu werden brauchen. Von keiner Trauer getrübt, wird die Straße der Wissenschaft licht und froh sein wie sie selbst, die schönste Offenbarung der wundervollen Gabe der Natur, des menschlichen Geistes.

Dies wußten sie. Aber das Herz gehorcht nicht immer der Vernunft.

Zwei Tage herrschte im Schiff schweigende Trauer. Die Besatzungsmitglieder blieben in ihren Kajüten, trafen sich nur zu den Mahlzeiten, sprachen aber auch dann kaum miteinander.

Toporkow nahm jeden Tag Radiogramme auf, in denen der Besatzung das Beileid ausgesprochen wurde; sie kamen buchstäblich aus aller Welt. Auch auf der Erde waren alle durch den tragischen Zwischenfall auf der Arsena zutiefst erschüttert.

Aber wie stark auch ihre Trauer sein mochte, das Leben stellte gebieterisch seine Forderungen.

Der Flug ging weiter. Es galt zu leben und zu arbeiten. Sechs Tagereisen lagen zwischen Arsena und Venus, aber das Programm der wissenschaftlichen Arbeiten für diese Zeit war noch nicht erfüllt. Als erste besannen sich die Astronomen auf ihre Pflicht und gaben den übrigen ein Beispiel.

Am 8. Juli bat Belopolski die Besatzung in die Funkkabine, um den Bericht über die Forschungsergebnisse von der Arsena zu hören. Die Zeit war so gewählt, daß die Radiowellen des Raumschiffes gerade auf der Erde empfangen werden konnten, und die Wissenschaftler, die sich im Kosmischen Institut eingefunden hatten, nahmen sozusagen an dieser Versammlung teil.

Den Bericht gab Professor Balandin. Als enzyklopädisch gebildeter Mensch vereinigte er in seiner Person drei wissenschaftliche Fachgebiete — er war ein hervorragender Ozeanograph und Zoologe sowie ein bedeutender Theoretiker der Raumfahrt.

Obwohl der Gegenstand seiner Darstellung so umfangreich war, daß er für eine ganze wissenschaftliche Monographie gereicht hätte, verstand der Professor es, ihn in zwanzig Minuten zu behandeln. Äußerste Knappheit und präzise Formulierung der Fakten sowie klare, geschliffene Schlußfolgerungen — das war der Stil seines Berichtes.

Der Professor begann mit einer Charakterisierung der Arsena.

Er teilte mit, was die geologische Untersuchung ihres Inneren ergeben hatte: Der Asteroid bestand zu drei Vierteln aus gediegenem Eisen.

„Eine gleichartige Zusammensetzung zeigen auch die Meteoriten, die auf die Erde fallen. Das beweist, daß Asteroiden und Meteoriten gemeinsamen Ursprungs sind. Ob sie nun als Trümmer eines ›fünften Planeten‹ anzusprechen sind oder nicht, läßt sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Das Vorhandensein von Sauerstoff im Eisen spricht allerdings für die Planetenhypothese.“ Nachdem Balandin über Ausmaße, Masse, Umdrehungsgeschwindigkeit und Zusammensetzung des Gesteins im Innern des Asteroiden gesprochen hatte, berichtete er über die Ruinen, auf die sie gestoßen waren.

„Die Vermutung, wir hätten die Reste eines Bauwerkes gefunden, das einst auf dem zerstörten Planeten stand, erweist sich als nicht zutreffend. Das war zu erwarten. Nichts künstlich Geschaffenes hätte die kosmische Katastrophe überdauert. Wir haben unter den Steinen eine ebensolche Asphaltdecke gefunden wie im ganzen Talkessel. Die geometrischen Figuren wurden also nicht im Boden verankert, sondern einfach darauf gestellt.

Somit ergeben sich drei Fragen: Wer hat die Figuren aufgestellt?

Warum wurden sie aufgestellt? Und wodurch sind sie zerstört worden? Glaubwürdig kann man nur auf die dritte Frage antworten. Das Gebäude ist durch einen gewaltigen Meteoriten zerstört worden. Die Spuren der Detonation, die bei seinem Aufprall eintrat, sind deutlich zu erkennen. Die ersten beiden Fragen können wir nur mit Mutmaßungen beantworten. Interessant finde ich Konstantin Jewgenjewitschs Gedanken darüber.

Ich gebe ihm das Wort.“ Belopolski rückte näher ans Mikrofon.

„Meine Hypothese ist zweifelhaft“, begann er. „Aber vorläufig gibt es keine andere Erklärung. Die Granitfiguren sind von Menschen oder ihnen ähnlichen Geschöpfen gemeißelt worden. Sie befinden sich auf einem Asteroiden, auf dem keine Lebewesen existieren können. Folglich gelangten die vernunftbegabten Lebewesen dorthin wie auch wir.“ Ausrufe des Erstaunens wurden laut. Belopolskis Gedanke verblüffte alle, obwohl er streng logisch war.

„Auch nur annähernd läßt sich nicht sagen, wann dies geschehen ist“, fuhr Konstantin Jewgenjewitsch fort, „aber zweifellos wurde unser Sonnensystem von einem Raumschiff aufgesucht.

Woher es kam? Das läßt sich erst klären, wenn die entfernten Nachkommen jener Sternfahrer noch einmal zu uns starten sollten. Oder — wenn wir zu ihnen fliegen.“ Melnikow glaubte, Belopolski habe sich versprochen.

„Sie betonten doch selber, es sei ungewiß, woher jenes Schiff gekommen ist“, sagte er.

„Unterbrechen Sie mich nicht!“ Belopolski runzelte unmutig die Stirn. „Ich werde auf diese Frage antworten. Was können die unbekannten Kosmonauten damals im Bereich unseres Sonnensystems gesehen haben? Von den Planeten zeigten nur die Erde, die Venus und der Mars organisches Leben. Auf der Erde werden sie Menschen gesehen haben, aber die standen noch auf einem niedrigen Entwicklungsniveau. Die fernen Gäste zweifelten nicht, daß der Mensch dereinst auf der Stufenleiter der Evolution hoch emporsteigen würde. Ich habe mich in ihre Lage versetzt und mir Gedanken darüber gemacht, was sie also hätten tun sollen. Es galt, den künftigen Gelehrten der Erde mitzuteilen, daß unser Planet von einem Schiff aus einer anderen Welt angesteuert worden war. Aber was für ein Denkmal überdauert ungezählte Jahrtausende? Auf der Erde, dem Mars und der Venus hält sich nichts so lange. Klimawechsel, Regen, Winde und so weiter vernichten auf so große Zeiträume jedes Bauwerk und machen es dem Boden gleich.“

„Das überzeugt mich nicht ganz!“ warf Balandin ein. „Man kann Denkmäler nahezu für die Ewigkeit bauen.“

„Ganz recht — ›nahezu‹. Jene haben es nicht getan. Zumindest ist auf der Erde kein solches Denkmal gefunden worden. Mir scheint, die Gäste entschieden sich für ein anderes Vorgehen.

Auf der Arsena gibt es keine Atmosphäre, keine klimatischen Erscheinungen. Dieser Asteroid nähert sich aber stark den Bahnen der Erde und der Venus. Würden die Menschen einst ›heranwachsen‹ und zu Weltraumflügen starten, würden sie bestimmt diesen Asteroiden aufsuchen und ein hinterlassenes Denkmal finden — so und nicht anders glaube ich, haben jene unbekannten Kosmonauten geurteilt. Tatsächlich haben wir das Denkmal gefunden. Sie hätten natürlich klarere Kunde von sich hinterlassen können. Wir haben nichts dergleichen entdeckt, was aber nicht heißt, daß es nicht existiert. Wir haben die Ruinen in der kurzen Zeit nicht völlig abtragen und zu jenen Stellen vordringen können, die durch die Detonation des Meteoriten verschüttet wurden. Das wird die nächste Expedition tun. So also lautet meine Hypothese. Es ergibt sich die Frage, ob diesen vernunftbegabten und höchst verständigen Wesen die Systeme des Quadrats, des Hexagons und des Rhombus unbekannt waren. Kannten sie etwa nur das kubische System? Wir haben Oktaeder, Dodekaeder, Tetraeder und Kuben gesehen. Keine einzige Pyramide, kein einziges Prisma, kein einziges Brachidoma! Ist das Zufall? Ich glaube nicht. Darin liegt ein bestimmter Sinn.

Das Rätsel der Granitfiguren muß von uns gelöst werden. Dann werden wir auch erfahren, woher das Raumschiff gekommen ist.

Damit möchte ich Boris Nikolajewitschs Frage beantworten“, schloß Belopolski.

Die Beratung endete gegen drei Uhr nachmittags. Die Expeditionsmitglieder zogen sich in ihre Kajüten zurück.

Am nächsten Tag nahm Toporkow ein langes Radiogramm auf, das die Reaktion der Wissenschaftler der Erde auf Belopolskis Hypothese darstellte. Die meisten erklärten sich mit seinen Folgerungen einverstanden.

Die Schwester der Erde

Durchschnittlich einhundertundacht Millionen Kilometer von der Sonne entfernt, das sind zweiundvierzig Millionen Kilometer weniger als die Erde, zieht majestätisch der zweite Planet des Sonnensystems seine Bahn. Von unseren Vorfahren wurde er nach der Göttin der Schönheit und der Liebe Venus genannt.

In Ausdehnung und Masse der Erde fast gleich und ihr am nächsten gelegen, trägt dieser Planet seinen poetischen Namen mit Recht. Keiner funkelt schöner am irdischen Himmel, wenn ihn der Morgen rosig überhaucht, als er.

Die Städter sehen die Venus allerdings meist des Abends, und da wirkt sie nicht ganz so schön. Bemerkenswert erscheint, daß der Planet in einigen arabischen Ländern den ganz anderen Namen Luzifer erhielt. Was die Araber bewog, die strahlende Schöne so zu nennen, ist schwer zu verstehen.

Den Astronomen gab die Venus wohl ein noch größeres Rätsel auf als der Mars. Ihre Oberfläche konnte von der Erde aus nicht beobachtet und untersucht werden, weil Wolken sie ständig verhüllten. Die einen Wissenschaftler nahmen daher an, daß Weltraumfahrer auf der Venus weder Meere noch Wälder, sondern nur von vulkanischem Staub bedeckte Steinwüsten vorfinden würden; andere vermuteten dort ausgedehnte Moore. Die Anhänger Gawriil Adrian Tichows schließlich, der die Idee des Vorhandenseins von Leben im Weltall verfocht, behaupteten: Auf der Venus gibt es Leben, wenn natürlich auch nicht in derselben Form wie auf der Erde. Sie erklärten, die Forscher würden dort keine grünen Wälder erblicken; die Pflanzenwelt auf der Schwester der Erde müßte infolge des heißen Klimas vielmehr orangefarben und rot sein, sind doch auch auf der Erde, in den Tropen, viele Pflanzen rot. Und nicht nur in den Tropen. An den heißen Quellen Kamtschatkas, wo die Temperatur achtzig Grad erreicht, wuchern purpurrote und grellrote Algen, und der Rand dieser Quellen ist mit orangefarbenen und gelben Moosen bedeckt.

Das Leben paßt sich allen Umweltbedingungen an. Es behauptet sich ebenso im hypertropischen Klima der Venus wie im äußerst rauhen Klima des Mars.

Mit Hilfe der Radioastronomie war festgestellt worden, daß die Temperatur der Oberfläche des Planeten nahezu hundert Grad betrage, aber das mußte geprüft werden. Es galt auch, die Dauer eines Tages und vieles andere genauer festzustellen.

Der Umfang der bevorstehenden Arbeit war groß, das Raumschiff aber durfte sich laut Plan nicht länger als achtundvierzig Tage — natürlich Erdentage — auf der Venus aufhalten.

All das hatte Belopolski auf einer Versammlung der Schiffsbesatzung dargelegt.

Nun näherte sich „SSSR-KS 3“ seinem Ziel. Bis zur Bahn der Venus waren noch ungefähr dreiundeinehalbe Million Kilometer zurückzulegen. Das kam etwas mehr als vierundzwanzig Fahrstunden gleich.

Das Raumschiff flog bereits nicht mehr geradeaus, mit gezogenen Gasrudern beschrieb es im Weltenraum eine gigantische Kurve und bog in die Bahn des Planeten ein. Die Triebwerke waren etwas gedrosselt. Dadurch entstand sogleich wieder eine schwache Schwerkraft. Nichts konnte mehr frei in der Luft schweben, die Backbordseite zog alle Gegenstände innerhalb des Schiffes gleichsam an sich.

Belopolski und Melnikow wachten abwechselnd am Steuerpult. Die automatischen Steuervorrichtungen führten das Schiff auf den vorgeschriebenen Kurs, aber trotzdem mußte alles überprüft und stündlich der Standort ermittelt werden.

Die übrigen Mitglieder der Besatzung legten in den Kajüten und Korridoren bereits die provisorischen Fußböden aus, erwarteten die Sternfahrer doch auf der Venus die gewohnten Bedingungen der Schwerkraft. Die Räume sollten so eingerichtet sein, daß sie während des anderthalbmonatigen Aufenthaltes auf der Schwester der Erde möglichst viel Bequemlichkeit boten.

Neunzehn Tage und Nächte waren schon seit dem denkwürdigen Morgen vergangen, an dem „SSSR-KS 3“ den Raketenflugplatz verlassen und die schwere und gefährliche Fahrt angetreten hatte. In dieser verhältnismäßig kurzen Zeit hatten die Expeditionsmitglieder viel erlebt und erlitten. Die sechsund- 91 dreißig Stunden auf der Arsena und besonders der tragische Tod Orlows waren an keinem spurlos vorübergegangen. Die Männer hatten sich verändert. Vor allem war das bei jenen zu spüren, die zum ersten Mal an einem interplanetaren Flug teilnahmen.

Einige, zum Beispiel Romanow, Knjasew und Wtorow, hatten beim Start von der Erde noch keine klaren Vorstellungen dessen besessen, was sie erwartete. Die Raumfahrt, der Besuch des Asteroiden und die Erforschung der Venus waren in ihrer Vorstellung romantisch verklärt gewesen. Inzwischen hatten sie die Kehrseite gesehen und die rauhe Wirklichkeit kennengelernt.

Der Sieg über die Natur fällt dem Menschen nicht in den Schoß, er wird in zähem, verderbendrohendem Kampf errungen. Diesem und jenem hatten die ersten Tage des Fluges viele schwere Minuten gebracht. Die Unendlichkeit des leeren Raumes, in dessen Mitte unbeweglich das winzige Raumschiff zu hängen schien, das Fehlen eines sichtbaren Haltes, die Verwirrung der Begriffe „oben“ und „unten“ sowie die Schwerelosigkeit selbst — all das hatte stark auf das Gemüt gewirkt, und gut die Hälfte der Besatzung war von der „Kosmonautenkrankheit“ befallen worden.

Mit Beginn der zweiten Hälfte der Fahrt änderte sich das. Die Raumschiffbesatzung reifte zu einem Forscherkollektiv, das vom gleichen Denken, Fühlen und Streben beseelt war, und jeder einzelne verstand bis ins Letzte, was der von ihm gewählte Beruf verlangte und welche Gefahren er mit sich brachte. Alle hatten Orlows schreckliches Ende miterlebt, aber keiner bedauerte, daß er sein Leben dem hohen Ziel geweiht hatte.

Am 9. Juli, genau zweiundzwanzig Uhr dreißig, stimmte die Flugkurve von „SSSR-KS 3“ genau mit der Bahn der Venus überein, das Raumschiff nahm sozusagen die Verfolgung des Planeten auf, der hunderttausend Kilometer vor ihm mit einer Geschwindigkeit von rund fünfunddreißig Sekundenkilometern flog. In fünf Stunden und dreiunddreißig Minuten würde das Schiff die Schwester der Erde eingeholt haben.

Durch die runden Fenster des Observatoriums und auf den Bildschirmen war die Venus als ungewöhnlich großer Halbmond zu sehen. Beinahe elfmal größer als der Mond am Himmel der Erde. Die von der Sonne beschienene Hälfte des Planeten leuchtete grell mit ihrem schneeweißen Wolkenschleier. Deutlich zeichnete sich auch die Nachtseite vor den Sternen ab; sie verdeckte diese und sandte einen schwachen Lichtschimmer aus, der dem Schimmern der oberen Schichten der Erdatmosphäre ähnelte, aber bedeutend stärker war. Zwischen Licht und Schatten lag ein Dämmerstreifen. Dort züngelten von Zeit zu Zeit grelle Flammen und zuckten Blitze.

„Was wir dort sehen, ist das Polarlicht der Venusatmosphäre“, erklärte Belopolski. „Dank der Nähe zur Sonne muß diese Erscheinung hier bedeutend eindrucksvoller sein als auf der Erde.“

„Von der Venus aus betrachtet, muß das Polarlicht ja zauberhaft aussehen“, sagte Melnikow.

Das waren die einzigen Sätze, die die Kommandanten des Schiffes während der Stunden, in denen sie der Venus nachjagten, austauschten. Beide beobachteten angestrengt die Kontrollgeräte. Der Abstand zwischen dem Planeten und dem Raumschiff verringerte sich ständig. Die Landung rückte näher, ein schwieriges Manöver — sowohl auf der Venus als auch auf der Erde —, das höchste Konzentration und in jeder Bewegung Präzision erforderte.

Der Planet wurde größer und größer und verdrängte bald mit seinem Riesenleib alle anderen Sterne aus dem Blickfeld.

Voraus und zu beiden Seiten wälzte sich ein Meer von Wolken, unerträglich weiß auf der der Sonne zugewandten Seite — allmählich dunkler werdend und in Schwarz übergehend auf der anderen.

Am 10. Juli, vier Uhr morgens nach Moskauer Zeit, befand sich „SSSR-KS 3“ auf gleicher Höhe mit dem Planeten und drosselte die Geschwindigkeit, paßte sich seiner Bewegung an. Das Schiff flog in diesem Augenblick in den obersten, dünnen Schichten der Venusatmosphäre und setzte von dieser Höhe aus, abbremsend, zur Landung an.

Die Triebwerke arbeiteten mit voller Kraft, um eine Bruchlandung zu verhüten. Das Wolkenmeer kam näher.

Belopolski, Paitschadse und Melnikow wußten, welches Bild sich ihnen in einigen Minuten zeigen würde. Sie würden die Landschaft der Venus nie vergessen. Den übrigen Expeditionsmitgliedern war diese Landschaft durch einen Film vertraut, den Melnikow während des Fluges von „SSSR-KS 2“ gedreht hatte.

„Die Tragflächen!“ befahl Belopolski kurz, als die Wolkenmassen den Bildschirm mit weißem Nebel überzogen.

Melnikow drückte die notwendigen Kontaktknöpfe. Nach einigen Sekunden flammten blaue Lämpchen auf — die Tragflächen waren ausgefahren. Nachdem sich „SSSR-KS 3“ auf diese Weise in ein Düsenflugzeug verwandelt hatte, verringerte es abermals die Flughöhe und stieß durch die dicke Wolkendecke, an deren unterem Saum bereits aufflackernde Blitze matt zu erkennen waren.

Das Raumschiff flog nicht mehr im luftleeren Raum und mußte jetzt völlig anders gesteuert werden.

Vier Triebwerke, die an den Tragflächen angebracht waren, trugen es vorwärts. Manövriert wurde wie bei einem Flugzeug mit gewöhnlichem Leitwerk.

Vom Kommandanten eines Raumschiffes wurde verlangt, daß er auch in der Steuerung von Düsenflugzeugen erfahren war.

Belopolski hatte die Füße auf die Pedale gestellt und den Steuerknüppel ergriffen.

Es mochte befremden, daß ein Akademiker so sicher die schwere Arbeit eines Piloten verrichtete. Noch dazu in solch einem gigantischen Raumschiff. Aber das war nichts Besonderes.

Alle Besatzungsmitglieder von „SSSR-KS 3“, außer Professor Balandin, Andrejew und Wtorow, hatten eine Luftfahrtschule besucht, sich im Fliegen schwerer Maschinen gründlich geübt und besaßen das Pilotendiplom für Düsenflugzeuge.

Genau acht Minuten nach Beginn des Landemanövers tauchte „SSSR-KS 3“ aus den Wolken in eine unaufhörlich von Blitzen erhellte dichte Regenwand, die höchst bedrohlich aussah.

Der Bildschirm wurde dunkel. Jede Sicht verlor sich im Regen. Das Raumschiff schien in einem Ozean zu versinken.

Aber der Höhenmesser zeigte an, daß „SSSR-KS 3“ noch anderthalb Kilometer über der Venusoberfläche flog.

Belopolski vergrößerte die Geschwindigkeit, er wollte die Gewitterfront so schnell wie möglich durchqueren. Er hatte nicht vergessen, daß „SSSR-KS 2“ in einem ähnlichen Wolkenbruch binnen Sekunden siebenhundert Meter zur Seite geschleudert worden war und beinahe in den Ozean gestürzt wäre. Die Vorsicht gebot, das Raumschiff nicht unnötig lange dem Einwirken dieser ungeheuren Regengüsse auszusetzen.

Der Höhenmesser zeigte an, daß es, wenn auch langsam, abwärts ging.

Plötzlich schien es, als habe jemand den Bildschirm mit einem Schwamm abgewischt, die Wassermassen verschwanden. Vor den Augen der Besatzung breitete sich das Panorama eines endlosen Ozeans.

Melnikow beugte sich vor und betrachtete mit tiefer Bewegung das vertraute Bild, das so oft in seiner Erinnerung aufgetaucht war.

Bleigraue Wellen mit langen weißen Schaumkronen, darüber dunkle, zerfetzte Wolken, schwarze Gewitterwände, vom Zickzack der Blitze zerrissen, und alles grau in grau im trüben Dämmerschein.

Nichts hatte sich in diesen acht Jahren verändert. Im Leben eines Planeten ist ein Jahrhundert kürzer als eine Sekunde im Leben des Menschen. Die Natur braucht sich nicht zu beeilen — vor ihr liegt die Ewigkeit.

Einen Augenblick fühlte Melnikow sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Er wähnte, nicht „SSSR-KS 3“, sondern „SSSR-KS 2“ fliege über den finsteren Ozean der Venus. Wenn er sich umdrehte, würde er das konzentrierte Gesicht Kamows erblikken, der sich über das Steuerpult beugt, würde die sicheren Bewegungen seiner Hände verfolgen können, die die zahlreichen Kontaktknöpfe und Hebel der Steuerung bedienen …

Wie kompliziert und schwierig war es damals, ein Raumschiff durch die unbekannte Atmosphäre eines fremden Planeten zu führen! Wieviel Mut und Entschlossenheit wurden damals vom Kommandanten verlangt! Auf Schritt und Tritt lauerte Unbekanntes. Sogar der kaltblütige Belopolski, dem Angst fremd war, hatte damals vorgeschlagen, den Planeten, der die Menschen so ungastlich empfing, zu verlassen. Diesmal aber …

Melnikow blickte zu Konstantin Jewgenjewitsch hinüber. Der Kommandant des Raumschiffes saß ruhig zurückgelehnt in seinem Sessel und beobachtete gespannt, aber ohne Bangen den Bildschirm. Er brauchte nichts zu befürchten. Die Venus war keine rätselhafte Unbekannte mehr. Er führte das Raumschiff zu einem im voraus bestimmten Punkt, den es nur noch zu finden galt. Unbekannte Hindernisse existierten nicht. Die Gewitterfronten, die für „SSSR-KS 2“ noch gefährlich gewesen waren, bedrohten das neue Raumschiff nicht mehr. „SSSR-KS 3“ flog durch sie hindurch, ohne vom Kurs abzuweichen. Vervollkommnete Geräte zeichneten ein vollständiges Bild des Fluges und alles dessen, was sich vor ihnen befand.

Mit märchenhafter Schnelligkeit war die Technik des Raumschiffbaus in kurzer Zeit weit vorangeschritten. Zwischen dem Erstling „SSSR-KS 1“, mit dem Sergej Alexandrowitsch als erster Mensch einen Flug über die Grenzen der Erde hinaus unternommen hatte, und „SSSR-KS 3“ bestand bereits ein Unterschied wie zwischen dem Aeroplan Bleriots und den modernen Düsenflugzeugen. Damals war das Hauptproblem noch die Treibstoffversorgung während der Fahrt, von ihr hing alles ab.

Inzwischen war das kein Problem mehr. Die stürmische Entwicklung der Atomtechnik hatte den Erforschern des Kosmos Energievorräte in die Hand gegeben, die zehn Jahre zuvor noch völlig unbekannt gewesen waren und deren Vorhandensein in der Natur viele für unmöglich gehalten hatten. Vor gar nicht langer Zeit hatte man noch geglaubt, man könne nicht ohne große künstliche Erdtrabanten auskommen, auf denen die Weltraumschiffe vor dem weiteren Flug tanken müßten. Aber niemand dachte jetzt mehr daran. So schwer die Raumschiffe auch sein mochten, sie flogen ohne Zwischenlandung von den Raketenflugplätzen der Erde in den Raum, konnten auf jedem beliebigen Planeten landen und erneut von dort starten, ohne Treibstoffmangel befürchten zu müssen.

Schon drei Stunden lang flog „SSSR-KS 3“ über dem Venusozean, aber nirgends kam Land in Sicht. Vielleicht befand sich das Festland, das von der ersten Expedition entdeckt worden war, zur Zeit auf der Nachtseite des Planeten? Das schien möglich, und ob es auf der Venus weitere Kontinente gab, wußte keiner. Unbekannt war auch, wie lange die Venus für eine Drehung um die eigene Achse brauchte und wieviel Stunden demnach ein Venustag und eine Venusnacht dauerten. Womöglich währte die Nacht über den orangeroten Wäldern des Kontinents noch Wochen. In diesem Fall mußte ein anderer Landeplatz gesucht werden. Aber gab es einen andern? Vielleicht war das seinerzeit von „SSSR-KS 2“ gesichtete Festland das einzige auf der Venus? …

Melnikow und Belopolski lösten sich ab. Jetzt führte Boris Nikolajewitsch das Schiff, und Belopolski ruhte sich aus, bereit, zu jeder beliebigen Sekunde dem Piloten beizustehen. Wie lange sie noch fliegen mußten, wußten sie nicht. Sich auf die Wellen inmitten des Ozeans herabzulassen, ohne das Ufer zu sehen, war unsinnig. Um jeden Preis mußte festes Land gefunden werden.

Das Raumschiff flog die ganze Zeit geradlinig nach Westen, um die Sonne zu überholen. Zwar war das Gestirn durch die dicke Wolkendecke nicht zu erkennen, aber die empfindlichen Photometer, die außen am Rumpf angebracht waren, meldeten dem Kommandanten, daß die Kraft des Tageslichtes sich nicht verringerte und das Schiff demzufolge den Dämmerungsgürtel voraus noch nicht erreicht hatte.

Paitschadse und Balandin kamen in die Kabine. Die Expeditionsleitung beriet.

„Wenn sich kein Festland zeigt, können wir ja noch ein Stück in den Dämmerungsgürtel hineinfliegen“, sagte Belopolski.

„Zu wenden und zurückzufliegen wäre auf jeden Fall zwecklos“, pflichtete ihm Balandin bei. „Selbst wenn es hinter uns Festland gibt, würde es uns wenig nützen. Das, was man den östlichen Teil des Planeten nennen könnte, taucht ja allmählich in Nacht.“

„Vielleicht sollten wir am besten nach Norden oder Süden abdrehen?“ schlug Melnikow vor.

„Das können wir immer noch machen“, erwiderte Belopolski.

„Wir befinden uns auf derselben Breite, auf der wir vergangenes Mal geflogen sind. Unsere Aufgabe ist es, die Mündung eines bestimmten Flusses zu finden. Erst wenn das unmöglich sein sollte, werden wir den Kurs ändern.“

„Im äußersten Fall“, sagte Paitschadse, „bleiben wir in der Luft, bis das Festland die Nachtseite verläßt.“

„Sie vergessen, daß die Atmosphärentriebwerke nicht allzu lange arbeiten können.“

„Was sollen wir aber tun?“

„Auf dem Ozean können wir jedenfalls nicht landen“, stellte Balandin fest. „Soweit man urteilen kann, ist der Wind sehr stark; unter uns tobt ein Sturm.“

„Auch wenn man den pausenlosen Regen berücksichtigt, muß man zu dem Schluß kommen, daß unser Schiff auf dem Ozean die denkbar schlechtesten Bedingungen erwarten“, pflichtete ihm Melnikow bei.

Abermals verstrichen zwei Stunden, aber nichts änderte sich.

Nach wie vor breitete sich unter dem Schiff die unendliche See. Oft mußten Gewitterfronten durchflogen werden, dann wallte undurchdringlicher Nebel vor dem Bildschirm, und nur die Apparate zeigten an, daß voraus immer noch kein Land war.

Doktor Andrejew schlug vor, die Kräfte durch ein Frühstück zu stärken. Während der ganzen Fahrt gehörte die Verpflegung der Expeditionsmitglieder zu seinen Obliegenheiten. Das war weder anstrengend, noch kostete es viel Zeit. Die Vorratskammern des Raumschiffes bargen, sortiert, numeriert und in Spezialpakete verpackt, alle notwendigen Lebensmittel. Man brauchte nur eins nach dem andern herauszunehmen und, falls notwendig, den Inhalt im Thermostat zu erwärmen. Zehn Minuten — und Frühstück, Mittagessen oder Abendbrot waren fertig. Auch Abwasch belastete die Sternfahrer nicht, weil es kein Geschirr gab; unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit erübrigte sich die Benutzung von Tassen und Tellern. Die Metall- und Plastebehälter, Schachteln und Büchsen wurden zusammen mit den Essenresten im Elektroofen beseitigt und die Asche hinausgeschüttet.

Auch jetzt wieder bereitete Andrejew schnell alles vor, doch seine Mühe war vergebens. Nur Toporkow, Saizew und Korzewski folgten der Einladung. Den übrigen hatte die Aufregung den Appetit verdorben. Belopolski und Melnikow gaben dem hartnäckigen Drängen des Arztes schließlich nach und tranken etwas Schokolade. Dann nahmen auch sie wieder ihren Platz am Steuerpult ein.

Ein und derselbe Gedanke beunruhigte die Expeditionsmitglieder. Wenn sich auf jener Seite der Venus, die zur Zeit der Sonne zugekehrt war, kein festes Land fand, konnte eine sehr unangenehme Lage eintreten. Den Berechnungen der Astronomie zufolge waren Tag und Nacht auf der Venus äußerst lang, keinesfalls kürzer als zwei, drei Wochen. Wieviel Zeit würde da vergehen, bis die Umdrehung des Planeten das Festland zutage förderte! Vielleicht war es auf dem Kontinent gar erst vor kurzem Nacht geworden?

So stark die atmosphärischen Triebwerke des Raumschiffes auch waren, sie konnten nicht mehr als vierzig Stunden ohne Unterbrechung laufen. Wenn in dieser Zeit keine Landung möglich war, blieb nur ein Ausweg: Das Schiff müßte die Atmosphäre der Venus wieder verlassen und sich nach Erreichen des interplanetaren Raumes vorübergehend in einen Sputnik der Venus verwandeln. Diese Aussicht fand niemand verlockend, da kostbare Zeit verlorenging, die für die Forschungsarbeiten vorgesehen war. Ganz zu schweigen davon, daß ein abermaliger Durchbruch durch die Atmosphäre große Gefahren mit sich brachte.

Für die Männer an Bord verstrich die Zeit in quälender Eintönigkeit. Stunde um Stunde flog das Schiff, tausend Meter unter sich das tosende Meer und über sich den gleichbleibend düsteren Himmel, aus dem sich immer wieder heftige Regengüsse auf das Meer ergossen. Bisweilen stießen sie auf große Flächen dichten Nebels, daß es der Besatzung vorkam, als flöge das Schiff abermals in den Wolken. Mehrmals ließen grelle Blitze Himmel und Meer in unmittelbarer Nähe des Schiffes miteinander verschmelzen, und durch die stählernen Wände des Schiffsleibes war das schreckliche Gepolter der elektrischen Entladungen zu hören.

Das erhabene Bild der Elementargewalten, die hier in der größeren Sonnennähe um ein vielfaches stärker waren als auf der Erde, drängte jedem Kosmonauten unwillkürlich die Frage auf: Wie wird es uns ergehen, wenn wir nach der Landung aussteigen? Werden die Erdenmenschen in den Händen der feindlichen Venusnatur nicht wie Spielzeug sein? Werden sie nicht vom Blitz verbrannt, von Regengüssen hinweggespült und von der giftigen Atmosphäre dahingerafft werden, sobald sie das schützende Schiff verlassen? Vielleicht wartete die Venus noch mit Dutzenden unbekannter Gefahren auf, um mit den fremden Eindringlingen abzurechnen, die ihr der Schwesterplanet geschickt hatte?

All das ging den Expeditionsteilnehmern durch den Kopf, während sie auf dem Bildschirm die entfesselten Elemente beobachteten.

„Ich hätte nie gedacht, daß die Natur der Venus so ungastlich ist, obwohl ich es durch den Film hätte wissen sollen“, gestand Romanow, der mit Toporkow zusammen in der Funkkabine wachte. „Könnten wir bei solch einem Unwetter überhaupt von Bord gehen?“ Igor Dmitrijewitsch sah ihn an und schmunzelte.

„Wir müssen, also werden wir gehen!“ sagte er. „Wenn Ihnen klar gewesen wäre, was Sie auf dieser Fahrt erwartet, hätten Sie sich wohl nicht gemeldet, was?“

„Ich habe keine Angst“, entgegnete der junge Geologe gekränkt.

„Aber ich bin sicher, daß Sie Angst haben. Und ich habe auch Angst. Wissen Sie, was Boris Nikolajewitsch immer wieder sagt?Es kommt nicht darauf an, daß man keine Angst hat, sondern darauf, daß man mit ihr fertig wird.’“

„Na ja, Boris Nikolajewitsch…“

„Wieso?“ unterbrach ihn Toporkow. „Ist er aus einem anderen Holz geschnitzt? Er ist ein Mensch wie Sie und ich. Grübeln Sie nicht über die Gefahren, dann haben Sie auch keine Angst.

Hier geht es zu wie im Krieg. Alle gruselt’s, aber jeder handelt.“

„Ich habe wirklich keine Angst, Igor Dmitrijewitsch“, begann Romanow, aber ausgerechnet in diesem Augenblick flammte ein gigantischer Blitz auf und schien direkt in den Schiffsrumpf einzuschlagen. Ohrenbetäubendes Krachen drang aus dem Lautsprecher, und das Schiff zitterte merklich.

Romanow wich unwillkürlich vom Bildschirm zurück.

„Entschuldigen Sie!“ sagte Toporkow. „Aber versuchen Sie nicht, mir einzureden, daß Ihnen dabei nicht bange wird. O nein!

Kosmische Flüge sind schrecklich!“

„Wenn es etwas zu tun gilt…“

„Das ist etwas anderes. Wir wissen, wozu wir uns verpflichtet haben. Wenn man an Ihnen gezweifelt hätte, wären Sie nicht in die Besatzung eingereiht worden.“ Zu Beginn der achten Stunde, die das Schiff über dem Meer flog, zeigten die Photometer an, daß das Licht allmählich schwächer wurde. Das Schiff hatte den Dämmerungsstreifen erreicht.

Achteraus im Osten neigte sich die Sonne dem Horizont zu.

Dank der geringen Geschwindigkeit, mit der sich der Planet um seine eigene Achse drehte, hatte „SSSR-KS 3“ die Sonne mühelos überholt.

Nach wie vor wurden nirgends Ufer eines Kontinents gesichtet. Belopolski beschloß, noch eine Stunde Kurs West zu halten.

Sollte sich dann immer noch kein festes Land zeigen, würde das Schiff den Dämmerungsstreif auf entgegengesetztem Kurs verlassen und im Norden oder Süden weitersuchen.

Es wurde allmählich immer dunkler.

Die Geräte des Steuerpultes boten die Möglichkeit, blind zu fliegen, aber es wäre sinnlos gewesen, in den Bereich der finsteren Nacht einzudringen. Das Schiff konnte bei Dunkelheit ohne vorschriftsmäßig ausgerüstete Raketenflughäfen nicht landen.

Als Melnikow, der gerade das Schiff führte, schon auf Gegenkurs drehen wollte, ertasteten die Radiowellen des Lokators im letzten Augenblick festes Land. Die gerade Linie auf dem Kontrollstreifen, die acht Stunden lang angezeigt hatte, daß weit und breit nur Ozean war, sprang steil in die Höhe und hüpfte dann, die Unebenheiten des noch fernen Landes wiedergebend, ungefähr auf gleicher Höhe weiter.

Es war noch einigermaßen hell. Das Festland mußte in wenigen Minuten zu erkennen sein — vorausgesetzt natürlich, daß es nicht bloß eine Insel war. Aber auch eine Insel konnte sich zum Landen eignen.

„Wie es scheint, haben wir im letzten Augenblick doch noch gewonnen“, sagte Belopolski.

„Abwarten“, antwortete Melnikow zurückhaltend. „Dem Lokator nach zu urteilen, liegt das Land genau voraus.“ Abermals geriet das Schiff in eine Gewitterfront, die jede Sicht unmöglich machte, und drohte so das Festland zu verfehlen. Melnikow setzte die Geschwindigkeit herab. Das war nicht ganz ungefährlich; die Wucht der gigantischen Wolkenbrüche konnte das Schiff in die Tiefe reißen. Aber das Risiko mußte eingegangen werden. Vielleicht war die Gewitterfront nicht breit?

Tatsächlich hatte das Schiff das Gewitter binnen drei Minuten hinter sich gelassen. Vor den Augen der Besatzung erstreckte sich ein orangeroter Streif.

Wenn dies eine Insel war, dann augenscheinlich eine sehr große, die sich für Landung und längeren Aufenthalt durchaus eignete. Das Schiff befand sich nun genau auf der Grenze von Tag und Nacht, und bald würde der Tag, der lange Tag der Venus anbrechen.

Melnikow drehte ab nach Süden. Während er auf hundert Meter Flughöhe ging, musterte er forschend das Uferrelief und suchte, von allen Besatzungsmitgliedern unterstützt, ein geeignetes Terrain.

Professor Balandin bemerkte als erster eine schmale Bucht, die sich tief ins Land schnitt und rings von steilen Bergen eingefaßt war, auf denen riesige Bäume wuchsen. Er meldete es dem Kommandanten. In dieser windgeschützten Bucht mußte das Wasser ganz ruhig sein.

Als das Schiff sich der Bucht näherte, sahen die Sternfahrer, daß sie zweihundert Meter breit war und mindestens einen Kilometer tief ins Land hinein reichte. Es war ein vorzüglicher Hafen.

Melnikow sah den Kommandanten an.

„Landen!“ befahl Belopolski. „Es ist ungewiß, wo und wann wir anderes Land finden.“ Das Schiff beschrieb einen weiten Halbkreis und setzte zur Landung an.

Die Triebwerke verstummten, und im Gleitflug strich „SSSR-KS 3“ dicht über die Wasseroberfläche, warf vor seinem spitzen Bug schäumende Wogen auf, tauchte allmählich tiefer ein und glitt auf seinem flachgestuften Rumpf wie ein gigantisches Boot dahin. Die Tragflächen wurden eingefahren, und der langgestreckte zigarrenähnliche Schiffskörper kam hundert Meter vom Ufer entfernt zur Ruhe.

Sekundenlang verharrten alle Besatzungsmitglieder auf ihren Plätzen. Eine ganz besondere Stille schien eingetreten. Sacht wiegte sich das Schiff. Dann stürmten alle zur Steuerzentrale.

Unter einmütigem Beifall umarmten sich die beiden Kommandanten. „Freunde“, sagte Belopolski. „Die erste Hälfte unserer Fahrt, die schwierigste, liegt hinter uns. Wir haben unser Ziel erreicht. ›SSSR-KS 3‹ ist auf der Venus gelandet. Ich möchte Ihnen allen danken! Wir denken in dieser glücklichen Stunde aber auch an diejenigen, die uns durch ihre Arbeit auf der Erde zu diesem Glück verholfen haben, an die Erbauer unseres herrlichen Schiffes. Ihnen sei Ehre und Ruhm! Voller Dankbarkeit denken wir an unseren Lehrer und Freund Sergej Alexandrowitsch Kamow. Er steht nicht an unserer Seite, aber in Gedanken ist er bei uns. Wir sind auf der Venus! Doch — nicht alle, die von der Erde starteten, haben sie erreicht. Um unsern Erfolg hat sich auch unser Leonid Nikolajewitsch verdient gemacht.

Ehren wir das Andenken unseres gefallenen Genossen durch eine Minute des Schweigens.“

Ein rätselhafter Fund

Die Kosmonauten durften mit Recht sagen: „Wir haben es geschafft!“ Überraschend hatte die Venus ihnen einen natürlichen Hafen geboten, der gegenüber jener Flußmündung, die Kamow und seine Begleiter beim vorigen Venusflug gesehen hatten, viele Vorzüge besaß.

Auf dem Fluß hätte man gegen die Strömung kämpfen müssen — in der Bucht gab es keine. Der Fluß wäre völlig deckungslos gewesen — in der Bucht schützten hohe steile Felsen das Schiff sicher gegen Sturm und Wellenschlag. Seewärts war die Bucht durch eine weit vorspringende felsige Landzunge geschützt. Von welcher Seite der Wind auch wehen mochte, das Wasser in diesem Fjord würde ruhig bleiben.

Es fehlte eigentlich nur noch der Sonnenschein, und man hätte die Gegend sogar schön nennen können. Ein dünner Nebel stieg von den dunkelblauen Wassern auf, und die Männer fühlten sich wie an einem frühen Sommermorgen auf der Erde. Das braune Steilufer krönte eine dichte Wand aus Gewächsen und mächtigen Bäumen, die seltsame Formen und alle Schattierungen von Orange, Rot und Gelb aufwiesen. Die Baumstämme waren rosafarben — ein für das Auge der Erdbewohner befremdlicher Anblick —, und ein dichtes Netz von Lianen umrankte sie. So sah es jedenfalls von weitem aus. Allem Anschein nach war dieser Wald schwer zugänglich.

Statt blauen Himmels spannte sich eine düstere, von Blitzen durchzuckte dicke Wolkendecke über Fjord und Wald. Und an Stelle hellen Sonnenlichts herrschte trüber Dämmerschein, der die Umrisse verwischte und die Landschaft sonderbar durchsichtig erscheinen ließ.

Der Fjord lag in jener Zone des Planeten, in der der Morgen gerade erst graute, aber das Bild würde sich auch bei Tage nicht ändern. Es mochte ein bißchen heller werden, weiter nichts. Die kilometerdicke Wolkenschicht, die die Strahlen des Tageslichts nur spärlich durchsickern ließ, verlieh der Venus sogar am Mittag nur die Helligkeit eines Abends auf der Erde.

Die Gelehrten wußten bereits, daß auf der Schwester der Erde ständig Winde wehten, die sich bisweilen zum Orkan steigerten. Aber der hundert und mehr Meter hohe Wald wirkte eigenartig starr. In den Wipfeln war nicht die geringste Bewegung wahrzunehmen. Wie versteint standen die orangeroten Baumriesen. Ebenso unbeweglich schienen auch die gelben Sträucher, die dicht bei dicht die rosafarbenen Stämme umdrängten.

Wäre nicht die Bewegung des Wassers und des Nebels gewesen, das Land hätte tot gewirkt, als sei es von einem geistesgestörten Künstler, der alle Farben der Pflanzenwelt verwechselte, auf den bleigrauen Himmel gemalt. Nirgends prangte das den Menschen der Erde so vertraute Grün.

„Ich glaube, als wir damals mit ›KS 2‹ hier waren, haben sich die Wipfel der Bäume geregt“, sagte Paitschadse.

„Ich erinnere mich genau, daß der Wind die Baumkronen wiegte“, bestätigte Melnikow. „Denken Sie doch an meinen Film.“ Belopolski hob verständnislos die Schultern.

„Entweder steht hier eine andere Baumart“, sagte er, „oder wir haben uns damals getäuscht. Ich kann mich nicht darauf besinnen, ob im Film eine Bewegung des Waldes zu sehen war.

Die ›KS 2‹ hat ihn sehr schnell überflogen.“ Je länger die Sternfahrer durch die Bullaugen des Observatotiums die Umgebung betrachteten, desto eigenartiger wirkte sie.

Es war unfaßbar, daß dies tatsächlich ein Wald, also ein Reich der Pflanzen, sein sollte. Allzu unbeweglich und leblos sahen alle diese Sträucher und Bäume aus. Durchs Fernglas war zu erkennen, wie regellos die Zweige wuchsen, die im übrigen wie verbogene Röhren aussahen und keine Blätter, sondern verschiedenfarbige längliche Knollen trugen. Die Baumstämme waren von der Wurzel bis zur Krone beinahe gleich stark, etwa einen Meter im Durchmesser, was bei derart hohem Wuchs noch mehr verblüffte. Die gelben Büsche sahen wie eine kompakte Masse aus, und sogar durch die starken Ferngläser konnte man keine Zweige unterscheiden. Überall hingen wundersam verschlungene Lianen; sie waren armstark und purpurfarben mit schwarzen Ringen; dadurch erinnerten sie an bestimmte Korallenarten. Mit ihren biegsamen Leibern wanden sie sich um die rosafarbenen Stämme und die roten und orangefarbenen Zweige.

„Was halten Sie von alledem?“ fragte Paitschadse, während er das Fernglas absetzte und sich Korzewski zuwandte.

„Das ist das Reich von Aktinien, von Blumentieren, Korallpolypen also“, erwiderte der Biologe.

Man hätte schwerlich einen treffenderen Vergleich ersinnen können. Die Bäume der Venus glichen tatsächlich ungewöhnlich großen Korallen, jenen schlauchähnlichen Lebewesen, die auf der Erde in den warmen Äquatorialgewässern leben.

„Und die gelben Sträucher erinnern an Schwämme“, warf Melnikow ein.

Professor Balandin lächelte.

„Verhielte es sich so“, sagte er, „dann gäbe es auf der Venus keine Gewächse, und wir wären in das Reich von Lebewesen verschlagen worden.“

„Das könnte wahrhaftig so sein“, erklärte Belopolski ernst.

„Wenn wir bedenken, daß die Gewächse auf der Venus nach der Spektralanalyse Sauerstoff aufnehmen und Kohlensäure abgeben, was bekanntlich Lebewesen zu tun pflegen, so ist das gar nicht verwunderlich.“

„Nein!“ rief Melnikow aus. „Auf der Venus gibt es richtige Bäume. Ich entsinne mich genau. Ich bin davon überzeugt. Am Ufer des Flusses, den wir beide gesehen haben, wuchs ein lebendiger Wald.“

„Boris hat recht“, stellte Paitschadse fest.

„Wir sind also auf eine neue Gattung gestoßen. Es wäre sehr schön, wenn es sich so verhielte. Je mehr Neues wir auf der Venus finden, desto besser!“

„Wann werden wir von Bord gehen?“ fragte Korzewski ungeduldig.

„Sobald Stepan Arkadjewitsch die Analyse beendet hat.“ Doktor Andrejew, der Chefarzt — Korzewski war sein Assistent —, hatte schon damals, als er sich an den Vorbereitungen zur Fahrt von „SSSR-KS 2“ beteiligte, beschlossen, Sternfahrer zu werden. Er wollte sich aber so nützlich wie möglich machen, und da er gute Kenntnisse auf dem Gebiet der Chemie besaß, studierte er noch mehrere Jahre diese Wissenschaft und wurde schließlich nicht nur als Arzt, sondern auch als Chemiker in die Besatzung aufgenommen. Nach der Landung in der Bucht waren Luftproben genommen worden, und Stepan Arkadjewitsch stellte nun eine quantitative und qualitative Analyse her.

Die Zusammensetzung der Atmosphäre der Venus war bereits nach der Rückkehr von „SSSR-KS 2“ auf die Erde bestimmt worden. Aber das Ergebnis mußte noch einmal geprüft werden, da unmittelbar auf der Oberfläche des Planeten schwere Gase auftreten konnten, die es in einigen hundert Meter Höhe, wo bei der ersten Fahrt die Proben entnommen worden waren, nicht gab. Ohne diese Vorsichtsmaßnahme wollte Belopolski das Schiff nicht verlassen, obwohl das bereits erwiesene Vorhandensein von Formaldehyd in jedem Fall das Tragen von Spezialgasmasken verlangte.

Korzewski mußte sich mit Geduld wappnen. Und nicht nur er, Andrejew duldete keine Hast in ernsten Dingen, und alle wußten, daß er die Resultate der Analyse erst nach zwei- oder auch dreimaliger Überprüfung bekanntgeben würde.

Die Uhr des Raumschiffes zeigte auf halb eins, also jene Zeit, zu der sie jeden Tag mit der Erde in Funkverbindung traten.

Das letzte Radiogramm war aufgegeben worden, als „SSSR-KS 3“ vor genau vierundzwanzig Stunden auf die Bahn der Venus einschwenkte. Die Expeditionsmitglieder fühlten es ihren Landsleuten auf der Erde nach, mit welcher Ungeduld sie nun auf die nächste Nachricht warteten. Wußte man doch auf der Erde, daß das Raumschiff hatte landen wollen. Höchstwahrscheinlich hatten sich zu dieser Stunde die Angehörigen der Expeditionsmitglieder, die Wissenschaftler, alle Mitarbeiter des Kosmischen Instituts und Kamow in der Funkstation eingefunden.

Die erste Funkmeldung von der Venus war ein großes Ereignis, und es nahm nicht wunder, daß alle Besatzungsmitglieder außer Andrejew, der seine Arbeit nicht unterbrechen wollte, um die Erlaubnis baten, dabeisein zu dürfen. Toporkow versuchte zu protestieren, aber Belopolski griff ein, und er mußte dem allgemeinen Wunsch stattgeben.

Alle konnten in der kleinen Funkkabine nicht Platz finden; der kugelförmige Raum war durch den eingelegten provisorischen Fußboden, der ihn waagerecht halbierte, noch enger geworden. Saizew, Knjasew, Romanow und Wtorow mußten vor der offenen Tür im Korridor stehenbleiben.

Die Expeditionsmitglieder hatten das Radiogramm, das in Form eines Berichtes an den Direktor des Kosmischen Instituts und den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gehalten war, gemeinsam zusammengestellt und unterschrieben.

Igor Toporkow schaltete das Mikrofon ein. Diesmal verbot ihm niemand, alle Energiereserven einzusetzen. Eine Sendung durch die Venusatmosphäre hindurch war um vieles schwieriger als eine Sendung aus dem Raum. Da zudem keiner den genauen Standort des Schiffes im Verhältnis zur Sonne anzugeben wußte, konnte der Funker sich nicht einmal dafür verbürgen, daß die Antenne im richtigen Winkel eingestellt war. Paitschadse und Belopolski taten alles in ihren Kräften Stehende, um die Erdrichtung für Toporkow zu ermitteln, aber die dicke Wolkenschicht gestattete nur eine ungefähre Orientierung.

Genau fünf Minuten vor eins Moskauer Zeit sagte Toporkow laut und wohlakzentuiert ins Mikrofon hinein: „Hier spricht das Raumschiff!.. Hier spricht das Raumschiff ›SSSR-KS 3‹!..

Antworten! Bitte, antworten!.. Ich gehe auf Empfang!“ Die stark gebündelten Radiowellen nahmen seine Stimme auf und trugen sie über neunzig Millionen Kilometer interplanetaren Raumes hinweg bis zur fernen Erde. Fünf Minuten später sollten sie die sogenannte Himmelsstation, einen Erdtrabanten, erreichen und von dort über einen Verstärker weiter nach Kamowsk eilen.

Sobald dann auf dem gleichen Weg, aber in entgegengesetzter Richtung eine menschliche Stimme die Entfernung von der Erde zur Venus überbrückte, würde zum ersten Mal in der Geschichte ein Gespräch zwischen zwei Planeten Wirklichkeit geworden sein. Der Genius Alexander Popows und Konstantin Ziolkowskis hätten einen neuen glänzenden Sieg errungen.

Die zehn Sternfahrer waren darauf vorbereitet, die üblichen, quälend langen Minuten auf Antwort zu warten.

Plötzlich. Keine fünf Sekunden waren vergangen, erklang im Lautsprecher eine Stimme … Toporkows Stimme.

„Hier spricht das Raumschiff … Hier spricht das Raumschiff ›SSSR-KS 3‹!.. Antworten! Bitte, antworten!.. Ich gehe auf Empfang!“ Ehe die Männer begriffen hatten, was geschehen war, erklang aufs neue, allerdings schon bedeutend leiser, dieselbe Stimme.

„Hier spricht das Raumschiff!.. Hier spricht das Raumschiff ›SSSR-KS3‹!..“ Das wiederholte sich mehrere Male. Immer leiser.

Dann wurde es still.

Erbleichend griff der Ingenieur instinktiv nach den Stöpseln, sah jedoch im selben Augenblick die Sinnlosigkeit seines Versuches ein, winkte hoffnungslos ab und blickte flehentlich Belopolski an, als könnte der ihm helfen.

In der Funkkabine trat bedrückendes Schweigen ein. Es gab keinen Zweifel — die Erde konnte die Stimme der Venus nicht hören. Die Funkverbindung war abgebrochen. Im Zweikampf zwischen menschlicher Technik und den Naturgewalten hatte diesmal die Natur den Sieg davongetragen. Und obwohl dieser Sieg nur vorübergehend war, fiel es den Menschen schwer, sich damit abzufinden.

Die Möglichkeit, wieder zu starten, die Venusatmosphäre zu verlassen und von jenseits ihrer Grenzen der Erde zu berichten, schied aus. Es war für das Schiff in der schmalen Bucht nicht so einfach, zum Start zu wenden. Die Steilufer und der hundert Meter hohe Wald störten. Es würde viel Zeit kosten, die Gegend in eine Art Raketenstartplatz zu verwandeln, von dem eine Maschine mit den Ausmaßen von „SSSR-KS 3“ starten konnte. Desgleichen war es nicht möglich, die kleinen, an Bord mitgeführten Düsenflugzeuge zu verwenden. Sie waren nicht für große Höhen gebaut und konnten daher die schwere Last der Funkstation sowie die massive Antenne nicht in die oberen Schichten der Atmosphäre befördern.

Es blieb den Männern nichts anderes übrig, als sich dem Schicksal zu beugen. Die Menschen auf der Erde würden von dem Raumschiff nichts wieder hören, bevor nicht die Arbeiten auf der Venus beendet waren und das Schiff die Rückreise angetreten hatte. Freunde und Angehörige waren zu quälender Ungewißheit verdammt.

„Haben Sie die ganze Energie eingeschaltet?“ fragte Belopolski in das Schweigen hinein.

Seine Stimme klang nüchtern und ruhig wie immer. Ihm beleitete anscheinend nur die technische Seite der Frage Sorgen.

„Ja, auch die letzten Reserven.“ Igor Dmitrijewitsch stieß einen schweren Seufzer aus.

Belopolskis Miene verdüsterte sich, aber er sagte nichts mehr.

Alle schwiegen.

Paitschadse machte dem drückenden Schweigen ein Ende.

„Laßt den Kopf nicht hängen, Freunde!“ sagte er. „Die Genossen auf der Erde werden sich schon denken können, warum sie nichts von uns hören. Mit diesem unerfreulichen Umstand haben wir ja schon vorher gerechnet.“ Die Unterbrechung der Funkverbindung konnte diejenigen, die auf der Erde Nachricht von dem Raumschiff erwarteten, tatsachlich nicht sonderlich überraschen. Wie Paitschadse sagte, hatte man schon vor dem Start damit gerechnet. Die Erfahrungen im Funkverkehr zwischen dem Mond und den Erdtrabanten hatten längst gelehrt, daß sich die Radiowellen mitunter sträuben, ionisierte Schichten zu durchlaufen, wie sie in der Atmosphäre durch Sonneneinstrahlung geschaffen werden. Bei verstärkter Sonnentätigkeit war die Verbindung mit den Himmelsstationen ausgefallen. Die Heaviside-Schicht, die sich neunzig bis hundertdreißig Kilometer über der Erdoberfläche befindet, bildet eine schwer durchdringbare Barriere; nur Ultrakurzwellen können sie überwinden und in den interplanetaren Raum gelangen. Und auch diese nur mit Hilfe von Richtantennen. Es galt als wahrscheinlich, daß auf der Venus, die der Sonne bedeutend näher ist als die Erde, die Sonneneinstrahlung noch weitaus aktiver war und in der dortigen Atmosphäre eine mächtige ionisierende Schicht bildet, die sogar für Ultra-Hochfrequenzwellen unüberwindlich sein konnte — trotz der ganzen Kraft der Generatoren, die „SSSR-KS 3“ mit sich führte. Manche, besonders Toporkow, glaubten, es würde dennoch glücken, aber die Skeptiker hatten recht behalten. Als die Radiowellen auf die unsichtbare Hülle stießen, mit der die Sonne die Schwester der Erde umgibt, wurden sie, kaum daß sie die Antenne des Raumschiffes verlassen hatten, auf die Venus zurückgeworfen, die sie abermals hinaufstrahlte. So umkreisten die Wellen, allmählich schwächer werdend, mehrmals den ganzen Planeten, bis die Energie erschöpft war.

Jedesmal, wenn das Radioecho die Antenne des Schiffes wieder erreichte, gab es das nicht beförderte Radiogramm zurück.

„Eins verstehe ich nicht“, sagte Toporkow, als er mit Belopolski allein war, „wie ist es zu erklären, daß wir das Echo so gut hören konnten? Die Laute hätten doch ineinanderfließen und das eine Echo hätte sich mit dem anderen mischen müssen.

Der Umfang der Venus beträgt doch bloß siebenunddreißigtausend Kilometer. Um diese Strecke zurückzulegen, braucht die Radiowelle eine zehntel Sekunde.“

„Darüber habe ich mir auch sofort Gedanken gemacht“, antwortete Belopolski. „Offenbar kommen die Radiowellen in der Atmosphäre der Venus sehr langsam vorwärts. Das ist ein neues Rätsel, das wir lösen müssen. Es mag Sie darüber hinwegtrösten, daß wir nicht mit der Erde sprechen können.“

„Aber wäre es nicht möglich…“

„Nein!“ entgegnete Belopolski schroff. „Wir dürfen nicht daran denken. Das Schiff darf jetzt nicht gestartet werden. Wir werden jeden Tag Radiogramme zur Erde schicken. Vielleicht gelingt es, durch glückliche Umstände trotzdem noch aus der Gefangenschaft auszubrechen.“

„Meinen Sie, die sitzen die ganze Zeit am Empfänger?“ Belopolski warf einen Blick auf Toporkow und verließ, ohne auf die Frage zu antworten, achselzuckend die Kabine.

Er hat recht, sagte sich der Ingenieur im stillen. Ich habe eine törichte Frage gestellt.

Die Unterbrechung der Funkverbindung war für die Menschen auf der Erde bedeutend qualvoller als für die Sternfahrer, die ja wußten, daß es auf der Erde kaum überraschende Zwischenfälle geben würde, für die Erde aber konnte das Schweigen des Schiffes bedeuten, daß auf der Venus eine Katastrophe eingetreten war. Waren bislang in der Funkstation die Empfänger nur zu den vereinbarten Stunden besetzt, wurde nun pausenlos gewacht. Anders konnte es nicht sein.

Sobald Andrejew das Ergebnis seiner Analyse ermittelt und Belopolski mitgeteilt hatte, konzentrierten sich aller Gedanken aiif die Entsendung der ersten Erkundungsgruppe. Aus Vorsicht sollte sie nur aus vier Mann bestehen: Belopolski, Balandin, Korzewski und natürlich Wtorow mit seiner Filmkamera.

Die Luftanalyse war wenig trostreich. Es gab so viel Kohlensäure und Formaldehyd, daß von einem Aussteigen ohne Atemmaske nicht die Rede sein konnte.

Die Temperaturmessung der Außenluft während des Fluges hatte unterschiedliche Ergebnisse erbracht. Von vierzig bis zu zweiundneunzig Grad über Null. An der Oberfläche der Bucht zeigte das Thermometer dreiundfünfzig Grad Wärme an. Wahrscheinlich würde die Temperatur im Laufe des Tages steigen, aber vorläufig konnten die Männer noch ohne ihre Kühlanzüge auskommen.

Belopolskis Gruppe sollte die Ufer untersuchen und feststellen, ob ein Geländewagen eingesetzt werden könnte, außerdem sollte sie die eigentümliche Vegetation ergründen.

Die Atemmasken, die eigens für den Aufenthalt in der Venusatmosphäre nach einem kombinierten Filter- und Isolierverfahren konstruiert worden waren, boten ausreichenden Schutz. Ein Filter aus dem Salz des schwefelsauren Natrons reinigte die Luft von Kohlenoxydgasen und Formaldehyd. Ein Behälter, den jeder Forscher auf dem Rücken trug, reicherte die Luft außerdem mit Sauerstoff an, der jedoch dank diesem Verfahren in verhältnismäßig geringer Menge gebraucht wurde.

Der Helm war eine durchsichtige Quarzhaube, die hermetisch mit dem Kragen der Kombination abschloß. In den Helm waren ein Mikrofon, ein Lautsprecher sowie eine winzige automatische Apparatur zum Luftgeben und zur Ableitung der Atemrückstände eingebaut.

Eine Miniaturfunkstation trug jeder am Gürtel, eine starre Antenne auf dem Rücken neben dem Sauerstoffbehälter. Sie war absichtlich ziemlich lang gehalten und endete über dem Kopf.

Die Schuhsohlen waren mit Metallplatten benagelt, von denen elastische Drähte zum Anzug führten und am Fuß der Antenne endeten. Die Entfernung zwischen Antenne und Erdleitung, genau ein Millimeter, diente als Spannungsschutz. Der Spezialanzug schützte den Menschen weitgehend davor, vom Blitz getroffen zu werden.

Die Expeditionsmitglieder hatten schon auf der Erde ein Spezialtraining für den Aufenthalt auf der Venus absolviert. Sie hatten bei hoher Temperatur übungsweise gearbeitet. Daher fürchteten sie sich nicht vor der tropischen Hitze, die sie draußen erwartete.

Auch Ultraschalldolche waren nicht vergessen worden, mit denen man leicht und schnell Lianen und andere Hindernisse organischer Natur beseitigen konnte, wenn sie den Weg versperrten; außerdem rüsteten sich die vier Mann mit dicken Tauen und Bergstöcken aus, die zugleich als Elektrovibratoren dienten — sie brauchten bloß durch einen Draht mit der Batterie des Funkgeräts verbunden zu werden. Ebenso wie am Raumanzug war oben am Helm ein kleiner Scheinwerfer angebracht, für den Fall, daß man auf eine dunkle Höhle stieß. Die Nacht drohte nicht so überraschend hereinzubrechen wie auf der Arsena; die Bucht war gerade erst in den Bereich des Tages gerückt, und vor anderthalb Erdenwochen würde es nicht Abend werden.

So ausgerüstet, gingen die vier Sternfahrer in die Luftschleuse.

„Sind die Anzüge in Ordnung?“ fragte Belopolski. „Die Luftzufuhr?“

„Normal“, antworteten alle der Reihe nach.

„Anfrage an die Steuerzentrale! Wie steht’s mit dem hermetischen Türverschluß?“

„Zeigt Grün“, antwortete Melnikow — er meinte die Farbe des Kontrollämpchens.

„Und die Treppe?“

„Ist ausgefahren.“

„Ich öffne!“ Die zweiflügelige Tür verschwand nach beiden Seiten. Sogar durch das dicke Gewebe der Kombination hindurch spürten die Männer, wie ihnen feuchtheiße Luft entgegenschlug. Eine Dunstwolke wälzte sich in die Schleusenkammer.

Dicht unter dem Ausgang plätscherte das Wasser des Fjordes, in dessen dunkler Tiefe sich verschwommen die Umrisse seltsamer Gebilde, Pflanzen oder Felsenklippen, abzeichneten. Durch den Helm hindurch waren von allen Seiten bald nahe, bald ferne ohrenbetäubende Donnerschläge zu hören. Von Zeit zu Zeit mußten die Männer vor grellen Blitzen, die in der Nähe einschlugen, die Augen schließen. In hundert Meter Entfernung zeichnete sich das ersehnte Ufer ab, ein hoher Steilhang, den malerisch der orangerote Wald krönte.

„Auf der Arsena wären wir mit einem Satz an Land gewesen“, sagte Wtorow.

Niemand antwortete auf die humorige Bemerkung. Voll verhaltener Erregung betrachteten die Sternfahrer stumm die Landschaft, die sich vor ihnen breitete.

Unterhalb der Luftschleuse öffnete sich die Tür eines Hangars, in dem ein Elektro-Motorboot hing. Es hatte ein durchsichtiges Plastedach, das sich beim Einstieg auseinanderschob.

Wtorow setzte die Treppe an, und die vier Mann gingen an Bord des kleinen Wasserfahrzeugs, das bequem acht Passagiere aufnehmen konnte. Vom Steuerpult aus wurden die Haltetrosse gefiert, und das Boot glitt behende ins Wasser.

Sogleich hielt Balandin seine Hand, die in einem dünnen Handschuh steckte, ins Wasser. Er empfand es weder als warm noch als kalt, also glich die Wassertemperatur annähernd der Körpertemperatur des Menschen. Das Thermometer bestätigte dies; es zeigte 37,2 Grad an. Der Professor füllte vorher bereitgestellte Flaschen und verschloß sie sorgfältig mit Glaskorken.

Korzewski übernahm die Aufgaben des Maschinisten. Er schaltete den Motor ein, und das Boot löste sich langsam vom Schiff.

Wtorow spähte emsig durch den Sucher seiner Kamera und filmte den historischen Augenblick: Die erste Expedition auf der Venus bricht auf.

Zwanzig Meter vom Ufer entfernt stoppte das Boot. Das Ufer fiel steil zum Wasser hin ab. Nirgends war eine Stelle zu entdecken, an der man hätte an Land gelangen können. Ganz oben waren die Ränder der gelben Büsche zu sehen, die auch vom Boot aus wie eine dichte, schwammige Masse wirkten. Über ihnen reckten sich die Stämme der Bäume himmelwärts; die Wolken schienen ihre reglosen Wipfel zu berühren.

Blendend hell zuckte ein Blitz auf und schlug am gegenüberliegenden Ufer ein; ohrenbetäubender Donner rollte über den Wald dahin. Die vier Forscher konnten gerade noch das Plastedach zusammenschieben, als auch schon ein ungeheurer Regenguß herniederprasselte. Eine Gewitterfront, wie das Raumschiff sie soeben erst durchflogen hatte, zog über der Bucht herauf und tauchte alles mit Augenblickes Schnelle in völlige Finsternis.

Das Schiff, das Ufer, der Himmel — alles entschwand den Blicken. Die Männer sahen weder das Wasser noch das Boot, sahen einander selber nicht mehr. Sie fühlten nur, wie ihr Boot unter der Last der stürzenden Wassermassen erbebte. Falls das Plastedach dem Ansturm des Wassers nicht standhielt, mußte das Boot augenblicklich untergehen.

Fast gleichzeitig flammten die Scheinwerfer an den Helmen Belopolskis und Balandins auf. Ihr Licht fiel auf gurgelnden, weißen Schaum rings um das Boot und auf die Sturzbäche des Wolkenbruches, der ununterscheidbar mit einem ungestümen Wasserfall verschmolz, der sich dicht neben ihnen von der Höhe des Ufers in die Bucht ergoß.

„Fahren Sie mit dem Boot etwas vom Ufer weg“, sagte Belopolski.

In seiner Stimme schwang nicht die geringste Erregung. Diesen Mann schien die gefahrliche Lage, in die sie geraten waren, nicht im geringsten zu beunruhigen.

Korzewski befolgte die Weisung, das Boot entfernte sich ein großes Stück vom Wasserfall.

„Wenn es uns nur nicht in den Ozean hinaustreibt“, bemerkte Wtorow.

„Hier ist ja kein Wind“, erwiderte Balandin.

„Als wir damals mit ›KS 2‹ hierherflogen“, erklärte Belopolski im Ton eines Lektors, „stießen wir auf eine Gewitterfront von eintausend Kilometer Mächtigkeit. Wenn diese hier genauso ist, kann sie ein paar Stunden dauern. Dann müßten wir unter der Bordwand unseres Raumschiffes Schutz suchen.

Wenn es aber nur eine kleine Gewitterfront ist, haben wir sie bald überstanden. Auf der Venus sind die meisten Gewitterfronten nicht groß. Deshalb werden wir lieber vorerst hier bleiben und abwarten.“

„Wird das Plastedach halten?“

„Es ist für solche Belastung berechnet. Wenn es bis jetzt gehalten hat, wird es auch den Rest überstehen. Gefahr droht uns nicht.“

„Warum ruft uns niemand vom Schiff?“ fragte Balandin.

„Das ist doch sehr merkwürdig, Boris Nikolajewitsch!“ sagte er nachdrücklich.

Es erfolgte keine Antwort.

„Vielleicht ist keiner auf der Station“, sagte Korzewski unschlüssig.

„Das ist ganz ausgeschlossen. Genosse Melnikow!“ rief der Professor noch einmal.

Abermals Schweigen.

„Sie hören uns nicht!“

„Sie müssen uns hören!“ Lang anhaltendes Donnergrollen von erschütternder Gewalt unterbrach das Gespräch, als wäre selbst der Himmel der Venus in tausend Stücke zersprungen und wollte sogleich auf das feste Land stürzen. Wie ein märchenschönes Feuerwerk erhellten Dutzende von Blitzen gleichzeitig die Bucht mit flackerndem Licht. Ganz nahe vor dem Boot erhob sich inmitten einer Regenwand der riesenhafte Leib des Raumschiffes, auf dem wie ein feuriges Netz die Flammen von Entladungen zuckten, als ergössen sich nicht die Fluten eines Wasserregens, sondern eines elektrischen Regens auf die Bordwände.

Das Gewitter schien noch heftiger zu werden.

Das Boot begann krampfhaft zu zittern, und die Männer merkten, daß es allmählich tiefer sank. Die wild tosenden und schäumenden Wasser stiegen immer höher an der Bordwand empor, bis gegen den unteren Rand des Plastedaches.

Plötzlich schoß am metallenen Vorsteven eine blaue Flamme empor. Sie ballte sich zu einem leuchtenden Kugelblitz und zerbarst, blaue Funkenkaskaden ins Dunkel sprühend, mit ohrenbetäubendem Gepolter.

In die sekundenlange Stille hinein, die dem folgte, sagte Wtorow plötzlich: „Jetzt weiß ich es!“ Niemand reagierte darauf. Von der drohenden Gewalt der Elemente umklammert, harrten die Männer schweigend der kommenden Minuten. Das Boot war noch tiefer gesunken, als zöge es eine unsichtbare Hand auf den Meeresgrund.

Und plötzlich, wie im Film, wenn eine Szene von einer anderen abgelöst wird, war das Gewitter vorübergeeilt. Verhallender Donner grüßte abschiednehmend aus der Ferne, und der dunkle Regenvorhang verzog sich rasch und verschwand hinter dem Wald am anderen Ufer. Alles sah wieder so aus wie vorher. Sogar der vom Steilhang herabstürzende Wasserfall versiegte schlagartig.

Das Boot schnellte in die Höhe, als freue es sich, daß es einer drückenden Last ledig war, und wiegte sich auf den sanften Wellen des Fjordes. Man hätte glauben können, die Sonne wäre aufgegangen, so hell wurde es im Gegensatz zu der eben noch herrschenden Finsternis.

„Sehen Sie nur — hier, was mit dem Kompaß geschieht!“ rief Balandin.

Der Zeiger auf dem Zifferblatt zuckte krampfartig nach allen Richtungen.

„Es war ein Magnetsturm“, sagte Belopolski.

Wie zur Bestätigung seiner Folgerung tanzte der Zeiger noch mehrmals hin und her und beruhigte sich allmählich, indem er sich wieder in Richtung auf den Magnetpol der Venus orienr tierte.

„Jetzt weiß ich es“, sagte Wtorow zum zweiten Male. „Die Ursache für das Funkecho muß in den elektrischen Eigenschaften der Gewitterfronten gesucht werden.“

„Da haben Sie völlig recht“, bestätigte Toporkow per Sprechfunk vom Schiff aus. „Unsere Meßgeräte haben während des Gewitters eine ungewöhnliche Ionisierung angezeigt.“

„Alles in Ordnung?“ fragte Melnikow.

„Wenn das Gewitter nicht so schnell aufgehört hätte, wäre wohl nicht alles in Ordnung“, erwiderte Balandin. „Dann wären wir auf Grund gegangen.“

„Das Boot kann nicht sinken“, beruhigte ihn Belopolski trocken.

Zweifellos war die Funkverbindung infolge des Gewitters unterbrochen worden. Die Radiowellen hatten die ionisierte Luft und den elektrisch geladenen Regen nicht durchdringen können.

„Auf der Venus gewittert es dauernd“, sagte Toporkow. „Wir werden häufig Gelegenheit haben, diese sonderbare Erscheinung zu studieren, und wir werden auch das Rätsel des Echos lösen.“ Es gab keine Garantien dafür, daß die Stille lange dauern würde. Jeden Augenblick konnte ein neues Unwetter heraufziehen. Aber niemand dachte daran, an Bord zurückzukehren.

Das Boot setzte seine Fahrt fort, und alle suchten nach einer Stelle, an der man an Land gehen könnte. Aber soviel sie auch umherspähten — nirgends war an eine Landung zu denken. Das Steilufer zeigte sich überall unzugänglich.

Da beugte sich Korzewski, der das Boot steuerte und weniger nach dem Ufer sah, plötzlich weit vor und legte das Ruder hart backbord.

„Was ist los?“ fragte Belopolski.

Wortlos wies der Biologe auf einen Gegenstand, der im Wasser schwamm.

Wtorow hielt die Hand außenbords und zog ein langes, flaches Brett aus dem Wasser.

Es war — ein Lineal mit einer Maßeinteilung.

Die Koralleninsel

Wäre ein fremdes Tier zu den Männern ins Boot gesprungen, hätten sie sich wahrscheinlich nicht so sehr gewundert. Ein Lebewesen war sogar auf der Venus, wo man nicht damit rechnete, hochorganisiertes Leben zu finden, noch etwas Verständliches, denn es konnte hier trotz allem möglicherweise doch existieren.

Aber ein totes Stück Holz, dem ein Unbekannter die Form des vertrauten Meßinstrumentes gegeben hatte — das war ein unwiderleglicher Beweis für das Vorhandensein von Vernunft und völlig unerklärlich. Daß die Schwester der Erde nicht von vernunftbegabten Geschöpfen bevölkert war, schien unwiderleglich bewiesen. Der Planet hatte ein zu extremes Klima, als daß sich Leben hätte entwickeln können, welches dem auf der Erde glich. „SSSR-KS 2“ hatte keine Spuren vernunftgelenkter Tätigkeit und keine Beweise für menschliches Leben auf der“!

Venus gefunden. Die Besatzung von „SSSR-KS 3“ hatte bislang ebenfalls nichts gesehen, was auch nur entfernt an bewußtes Leben erinnerte. Auch die leidenschaftlichsten Optimisten hatten auf der Venus lediglich die Existenz von niederen Formen der Tierwelt für möglich gehalten.

Und da hielt Wtorow nun einen Gegenstand in der Hand, der von einem hohen geistigen Entwicklungsstand zeugte. Ein Holzlineal beweist die Fähigkeit, Holz zu bearbeiten, beweist das Vorhandensein von Werkzeug für eine solche Bearbeitung, beweist mathematisches Können, das Bedürfnis, Körpergrößen zu messen, und folglich einen gewissen Grad wissenschaftlicher Kenntnisse.

„Vielleicht ist ein anderes Raumschiff auf der Venus gewesen?“ äußerte Korzewski mutmaßend.

Ein derartiger Gedanke tauchte bei allen auf, sobald sie sich davon überzeugt hatten, daß sie wirklich ein Lineal und kein Stück Holz vor sich hatten.

Aber was für ein Raumschiff könnte die Venus erreicht haben?

Die Expedition von William Jenkins war noch auf dem Mars.

Sie hatte auf dem Weg dorthin die Venus nicht besuchen können.

Die englischen, französischen und schwedischen Raumschiffe hatten alle auf der Erde geankert, als „SSSR-KS 3“ seine Fahrt antrat, und über den Bau von Raumschiffen in anderen Ländern war nichts bekanntgeworden.

Belopolski nahm Wtorow das Lineal aus der Hand und betrachtete es aufmerksam.

„Das ist nicht auf der Erde gemacht worden“, sagte er. „Die Einteilung entspricht keinem auf der Erde gebräuchlichen Maßsystem. Wir kennen die Maßeinheit nicht, die der Herstellung dieses Instruments zugrunde liegt. Wenn Kosmonauten das Lineal verloren haben, so sind sie nicht von der Erde gekommen.“ Seine Begleiter sahen sich schweigend an.

Nicht von der Erde?!

Hatten etwa Bewohner einer anderen Welt den Planeten besucht? Vielleicht lag ihr Schiff immer noch auf der Venus? Das Lineal schwamm in einer Bucht, in die es die Meereswellen nicht hineingetragen haben konnten. Also befand sich dieses Raumschiff vielleicht ganz in der Nähe.

Alle drehten sich fast gleichzeitig zum Ufer um, als erwarteten sie, aus dem orangeroten Dickicht würde sogleich ein fremdartiges Geschöpf heraustreten, ein Besucher von einem anderen Planeten.

Doch die Umgebung lag unverändert, niemand kam, und nichts rührte sich auf dem steilen Hang.

An Bord des Raumschiffes hatten die Genossen anscheinend diese Unterhaltung mitgehört, aber sie konnten sich kein Bild daraus machen. Melnikow fragte, was vorgefallen sei, und ihm wurde ausführlich berichtet.

Niemand dachte an die weitere Erforschung der Bucht. Das Boot kehrte um. Alle fieberten vor Ungeduld, den überraschenden Fund gründlich zu untersuchen und genau zu bestimmen, woraus er hergestellt war. Das Lineal schien aus Holz zu sein, aber das mußte genau geprüft werden.

Die Prozedur der Einschleusung in das Schiff kam den vier Männern diesmal quälend lang vor.

Sobald sich die Außentüren geschlossen hatten, begann ein Luftfilter zu arbeiten. Die aus der Kammer abgesaugte Luft wurde in einen Doppelbehälter geleitet, der Spiritus nebst einer Beimischung von Schwefelsäure enthielt, und kehrte, nachdem sie noch einen Filter mit aktivierter Kohle durchlaufen hatte, von Formaldehyd gereinigt in die Kammer zurück. Diese Operation dauerte zehn Minuten. Anschließend mußten die Kombinationen, die Helme und die Spezialschuhe ausgezogen und in einen hermetisch verschließbaren Kasten gelegt werden. Dann wurde abermals die Luft fünf Minuten lang gefiltert. Erst nach diesen Vorsichtsmaßnahmen konnten die Türen geöffnet werden und durfte man das Innere des Schiffes betreten.

Die ganze Besatzung versammelte sich im Laboratorium.

Belopolski legte das Lineal auf den Tisch.

Früher waren Meteoriten lange Zeit das einzige gewesen, was an außerirdischen Objekten wissenschaftlich untersucht werden konnte. Seitdem die Epoche der interplanetaren Flüge angebrochen war, hatten die Wissenschaftler auch zahlreiche Objekte anderer Art erhalten: Gesteinsproben, die auf dem Mond gesammelt worden waren, Proben der Flora und Fauna des Mars.

Nicht mehr der zufällige Absturz eines Meteoriten, sondern die planmäßige, bewußte Arbeit des Menschen lieferte nunmehr das Material zum Studium des Lebens im All.

Aber noch nie hatte ein Mensch einen Gegenstand in seinen Händen gehalten, der auf einem anderen Planeten hergestellt worden war.

Es wäre denkbar gewesen, daß das Stück Holz durch ein Zusammentreffen unwahrscheinlicher Umstände irgendwo abgesplittert war und dabei die Form eines langgestreckten Rechtecks, eines Lineals angenommen hatte. Aber kein Zufall konnte auf den Rand eines solchen Rechtecks ebenmäßige, voneinander gleich weit entfernte Maßzeichen eingetragen haben. Das konnte nur ein vernünftiges Geschöpf tun, das wenigstens mit den Anfangsgründen der Mathematik vertraut war.

„Wie merkwürdig“, sagte Knjasew, „daß wir, kaum daß wir die Venus betreten haben, sogleich auf ein neues Geheimnis stoßen.“ Es war in der Tat merkwürdig. Als hätte jemand absichtlich das Lineal weggeworfen, um die Gäste darauf aufmerksam zu machen, daß der Planet seine eigenen Herren habe und bewohnt sei.

„Ich bin trotzdem davon überzeugt, daß es auf der Venus keine vernünftigen Wesen gibt“, sagte Belopolski.

„Aber woher ist dann dieses Lineal gekommen?“ Konstantin Jewgenjewitsch zuckte die Achseln. „Das weiß ich ebensowenig wie Sie.“

„Ist das ärgerlich!“ sagte Toporkow. „Wenn wir Funkverbindung hätten…“ Niemand antwortete, aber alle beseelte der gleiche Gedanke.

Der geheimnisvolle Fund würde auf der Erde eine Sensation auslösen. Doch da die Verbindung abgerissen war, konnte niemand etwas davon erfahren, bevor das Schiff zurückkehrte.

Saizew maß sorgsam die Abstände zwischen den angezeichneten Maßstrichen. Sie waren einunddreißig und ein viertel Millimeter voneinander entfernt.

Belopolski hatte recht — ein solches Längenmaß gab es auf der Erde nicht. War dies nun die grundlegende Maßeinheit, die bei den Herstellern des Lineals galt, oder war es nur das Teil einer größeren? Niemand wußte es zu sagen.

Balandin und Andrejew wurden beauftragt, den Fund zu untersuchen. Sie machten sich sogleich an die Arbeit.

„Versuchen Sie festzustellen, wie lange das Lineal im Wasser gelegen hat“, bat Belopolski.

Die Sternfahrer beschlossen, die unterbrochene Erkundung fortzusetzen. An Stelle Balandins wurde Toporkow der Gruppe zugeteilt.

Da das Steilufer so hoch und offenbar in seiner ganzen Ausdehnung unzugänglich war, kamen Belopolski und Melnikow überein, das Raumschiff dicht ans Ufer zu bugsieren. Das würde keine Schwierigkeiten bereiten; das Wasser war tief genug, und die Kraft der Elektromotoren von zwei Booten reichte aus, sogar solch ein gewaltiges Schiff ins Schlepp zu nehmen.

Romanow und Knjasew stiegen durch verschiedene Luftschleusen aus und gingen in die Boote. Der eine fuhr zum Bug des Schiffes, der andere zum Heck. Sie befestigten an eigens zu diesem Zweck, angebrachten starken Ringen Schlepptrossen und ließen auf ein Kommando vom Steuerpult her ihre Motoren gleichzeitig mit voller Kraft laufen.

Der Riesenwal bewegte sich langsam von der Stelle und schwamm majestätisch auf das nahe Ufer zu. Als er genug Fahrt machte, wurden die Trossen ausgehakt, und die Boote entfernten sich ein gutes Stück. Das Schiff fuhr bedächtig. Aber es war so massig, daß es mit Wucht gegen den Steilhang stieß. Zwei Wellen rollten durch die Bucht, und am gegenüberliegenden Ufer rauschte schäumende Brandung auf.

Die Bordmechaniker, Saizew und Knjasew, ergriffen die günstige Gelegenheit. Als sie den mit einem Geländer versehenen Landesteg herangeschleppt hatten, schlüpften sie mit der Expeditionsgruppe zusammen in die Ausgangsschleuse, um den Steg auch selber auszubringen. Wenigstens für kurze Zeit wollten sie gleich den anderen ihren Fuß auf den Boden der Venus setzen.

Als alle ihre Kombinationen angezogen und den Helm aufgesetzt hatten, stellte Belopolski die traditionelle Frage, ob die Luftzufuhr funktioniere.

Die Tür öffnete sich.

Sträucher und Bäume waren jetzt so nahe, daß jeder sogleich Einzelheiten entdeckte, die ihm vorher nicht aufgefallen waren.

Während die Mechaniker mit Wtorows Hilfe den Landesteg auszubringen versuchten, musterten Belopolski, Korzewski und Toporkow forschend die Umgebung.

Die ursprüngliche Vermutung, daß der Wald der Venus schwer zugänglich sei, erwies sich als richtig. Wie eine bequeme Allee erschienen die tropischen Urwälder der Erde im Vergleich mit dem chaotischen Dickicht aus Büschen, Lianen und Bäumen, zwischen denen sich am Boden ein dicker Teppich blutroter bandähnlicher Gewächse mit meterlangen, sehr scharfen Dornen breitete.

Überall drängten sich durch diesen Teppich sonderbare fleischige Röhren, an denen bunte Fransen hingen.

Genau gegenüber der Ausgangsschleuse stand ein großer Busch. Es war sogleich klar, daß dieses gelbe Gewächs nichts mit den Pflanzen der Erde gemein hatte. Für sein Äußeres paßte am besten der Name, den Melnikow ihm gegeben hatte: Es war ein gigantischer Schwamm, und er hatte wie die Schwämme auf der Erde einen porösen Leib mit zahlreichen kleinen Öffnungen, zwischen denen nach allen Seiten Nadeln abstanden.

Die Baumstämme hatten keine Rinde. Glatt und zartrosa getönt, schienen sie fast durchsichtig zu sein. Wie auf einem Aquarell ging das Rosa der Stämme unmerklich in das Rot und Orange der Zweige über. Die grellroten biegsamen Lianen mit ihren schwarzen Ringen wirkten aus der Nähe nicht mehr glatt.

Ihre porigen Körper waren mit zahllosen Öffnungen versehen.

Plötzlich umklammerte Korzewski den Arm Belopolskis.

„Sehen Sie — dort!“ Er wies auf den Stamm des nächsten Baumes.

Die grellrote Liane, die die unteren Zweige des Riesen fest umschlungen hielt, bewegte sich kaum merklich. Es sah aus, als zöge sich der lange, elastische Leib des Korallenaspidiums gleichmäßig zusammen und atme wieder ein.

„Das kommt durch den Wind“, raunte Belopolski.

Der Biologe schüttelte verneinend den Kopf.

„Hier gibt es keinen Wind“, flüsterte er.

Die Mechaniker und Wtorow unterbrachen die Arbeit am Landesteg. Gespannt beobachteten die Astronauten ihre fremde Umgebung.

„Das ist ja Leben! Überall wimmelt es von Leben!“ stieß Korzewski atemlos hervor.

Alle sahen nun, daß der Wald voller Bewegung war.

Die zahllosen angeblichen Lianen atmeten, und auch die bunten Fransen an den seltsamen Röhren schwangen sich wiegend hin und her. Von Zeit zu Zeit hoben sich langsam einige ihrer Härchen wie Fühler, die Beute suchten. Im Innern der rosafarbenen Stämme stiegen dunkle Punkte nach oben wie etwa im Wasser eine Kette von Luftbläschen. Die roten Bänder, die sich am Boden breiteten, regten sich ebenfalls. Manchmal schien elektrischer Strom in ihnen zu pulsen — krampfhaft zuckten dann ihre Stacheln, und die Bänder krümmten sich wie im Schmerz und erstarrten alsdann wieder in der neuen Lage.

„Dort kann kein Mensch gehen“, erklärte Wtorow.

Der Boden, dem all diese eigentümlichen Gewächse entsprossen, war gar nicht zu sehen. Bis zum Rand des Steilhanges breitete sich der lebende Teppich.

„Und wir haben gedacht, auf der Venus gäbe es kein Leben“, bemerkte Balandin, „aber sehen Sie nur — da liegt es vor uns…“

„Ich verstehe das nicht“, sagte Korzewski plötzlich. „Dies sind doch Seetiere, die im Wasser leben müßten. Sehen Sie sich die fleischigen Röhrchen mit dem Fühlerkranz an! Das sind haargenau irdische Aktinien. Ich bin überzeugt, daß sie eine Mundoffnung besitzen. Aber was für eine Nahrung können sie aus der Luft beziehen? Und diese langen Nadeln? Das sind typische Seetierorganismen. Und die Korallenbäume? Wir stehen sozusagen auf einem Meeresgrund, der sich plötzlich aus den Fluten gehoben hat. Auch die Schwämme — woher sollten sie auf dem Trockenen kommen? Vielleicht sind die Wolkenbrüche daran schuld?“ fragte er plötzlich sich selbst. „Nein, nein! Die würden nicht genügen. Diese ganze Gegend muß vor gar nicht langer Zeit noch von einem Ozean bedeckt gewesen sein.“

„Aber warum ist der Ozean plötzlich versiegt?“ fragte Toporkow.

Belopolski hatte die Brauen zusammengezogen und dachte angestrengt nach. Korzewskis Worte vom aufgetauchten Meeresgrund hatten in ihm einen Gedanken wachgerufen, der ihm aber sogleich wieder entschlüpft war, und er versuchte sich nun auf ihn zu besinnen. Toporkows Frage diente seinem Gedächtnis als Anstoß.

„Jetzt weiß ich es!“ rief er aus. „Ganz bestimmt ist es so! Es ist Ebbe eingetreten!“ erklärte er seinen Gefährten, die ihn verdutzt ansahen. „Die Sonne steht zur Zeit am östlichen Horizont. Sie hat die Ebbe bewirkt. In der Nacht wird dieses Ufer wieder von der Flut überspült werden.“

„Das klingt wie eine Entschlüsselung des Geheimnisses“, sagte Korzewski. „Eine derartige Deutung könnte vieles erklaren, denn die Nacht dauert auf der Venus sehr lange.“

„Also wird hier gegen Abend wieder Ozean sein?“ fragte Toporkow. „Was werden wir dann tun?“

„Es wird dunkel!“ rief Knjasew warnend.

Ein Gewitter nahte.

Alle zogen sich schleunigst in die Luftschleuse zurück, und Belopolski schloß die Tür. Kaum hatte er das getan, als heftiger Donnerschlag und Geknatter, die in ein gleichbleibendes Grollen übergingen, anzeigten, daß sich der nächste Regenguß über das Raumschiff ergoß.

„Die Gewitter lassen uns keine Ruhe“, sagte Belopolski.

„Wenn uns ein Gewitter unter freiem Himmel überraschen sollte, wird es uns schlecht ergehen.“ Niemand antwortete auf diese berechtigte Bemerkung Wtorows.

„Wo seid ihr?“ fragte Melnikow von der Zentrale aus.

„In der Luftschleuse. Wird es noch nicht wieder heller?“

„Nichts zu sehen. Die Bildschirme sind schwarz.“ Geduldig mußten die Männer das Ende des Gewitters abwarten. Es lohnte nicht, noch einmal die lange Prozedur über sich ergehen zu lassen, die mit dem Eintritt ins Schiffsinnere verbunden war. Das Gewitter konnte jeden Augenblick abziehen.

Tatsächlich war es zwanzig Minuten später vorüber. Die Tür wurde wieder geöffnet.

„Was mich am meisten wundert“, sagte Korzewski, „ist der Umstand, daß man nirgends Pfützen sieht. Eine derartige Sintflut müßte doch Spuren hinterlassen.“

„Die Pfützen könnten unter diesem roten Teppich stehen“, äußerte Toporkow unsicher. „Vielleicht ist dort ein richtiger Sumpf.“ Das Bild der Landschaft hatte sich nicht verändert, aber es fiel sofort auf, daß sich die vorher kaum wahrnehmbare Bewegung am Ufer verstärkt hatte. Häufiger atmeten die Lianen, schneller bewegten sich die Härchen der Aktinien, und krampfhafter wanden sich die Bänder am Boden.

„Ein weiterer Beweis dafür, daß die Heimat dieser Organismen das Wasser ist!“ Der Biologe triumphierte. „Sie haben sich nicht getäuscht, Konstantin Jewgenjewitsch!“

„Na, dann gehen wir einmal an Land!“

„Einen Augenblick!“ bat Wtorow, als er sah, daß Belopolski den Landesteg betreten wollte. „Erlauben Sie, daß wir Sie für alle Fälle anseilen.“

„Ja, das wäre angebracht.“

„Gennadi Andrejewitsch denkt als Alpinist immer an solchen Zauber“, sagte Toporkow lächelnd.

Vom Ende eines starken Seils umwickelt, das Wtorow in seinen muskulösen Händen hielt, schritt Belopolski über den Landesteg. Er blieb einen Augenblick stehen und überlegte, wohin er zuerst treten wollte. Behutsam setzte er den Fuß zwischen zwei rote Bänder. Dann tat er einen weiteren Schritt.

„Wasser ist nicht hier“, sagte er. Im selben Augenblick versank er auch schon in der Tiefe.

Das Seil spannte sich ruckartig. Wtorow wankte keine Sekunde. Mit wenigen Handgriffen zog er Belopolski auf den Steg zurück.

„Da sehen Sie, wozu solch ein Zauber gut ist“, sagte er spöttisch zu Toporkow.

Korzewski half Konstantin Jewgenjewitsch auf die Beine. Die Hose seiner Kombination war etwas beschmiert, aber völlig trocken. Also war Belopolski nicht ins Wasser gefallen.

„Meine Sohle ist auf der harten, schrägen, festen Oberfläche abgerutscht“, sagte er. „Ich glaube, der Boden ist hier porös.

Das erklärt, warum sich das Wasser nicht staut. Es läuft durch die Erdporen in die Bucht ab.“

„Lassen Sie mich einmal versuchen.“

„Nein, ich gehe.“ Er trat abermals an den Rand des Laufsteges und tastete mit der Spitze seines Elektrovibrators den Boden ab.

„Halten Sie gut fest!“ bat Toporkow besorgt.

Wtorow sah ihn grienend an.

Sicher, wenn auch sehr langsam, schritt Belopolski voran und untersuchte sorgfältig den Weg vor sich. Oft versank sein Vibrator in der Tiefe. Daran ließ sich erkennen, daß er auf einem unsichtbaren Pfad schritt, der zwischen Gruben von unbekannter Tiefe verlief. Vielleicht reichten sie gar bis zur Oberfläche der Bucht hinab.

Nachdem Belopolski sich sechs Schritt entfernt hatte, blieb er stehen und drehte sich zu seinen Gefährten um.

„Folgt mir und bindet euch alle an dem Seil fest. Tastet den Weg gehörig ab. Boris Nikolajewitsch!“ rief er.

„Ich höre“, antwortete Melnikow.

„Fahren Sie das Periskop aus! Beobachten Sie aufmerksam den Horizont und warnen Sie, falls eine Gewitterfront heraufzieht!“

„Sofort!“ Über dem Schiff stieg eine zwei Meter große Kugel auf. Sie erhob sich binnen Sekunden bis über die Kronen der rosa Bäume und wiegte sich am Ende einer dicken Trosse. Man sah, wie der Wind sie sogleich dem Ausgang der Bucht zutrieb.

„Wie ist die Sicht?“ fragte Belopolski.

„Tadellos.“

„Seien Sie nicht übervorsichtig! Verständigen Sie uns nur, wenn wirklich Gefahr droht!“ Melnikow gab keine Antwort.

„Hören Sie mich?“

„Natürlich, Konstantin Jewgenjewitsch.“

„Warum antworten Sie dann nicht?“ Belopolski lächelte über sich selbst. Er kannte den Charakter seines Schülers genau. Melnikow konnte Belehrungen dieser Art nicht leiden.

„Vorsicht!“ rief plötzlich Wtorow. „Ein Stachel!“ Aber Belopolski hatte es selber bemerkt.

Die scharfe Spitze des meterlangen Stachels eines Bandes, das unmittelbar vor ihm lag, zielte auf ihn. Diese langsame Bewegung der vermeintlichen Pflanze war unverkennbar ein Angriff.

Beinahe instinktiv schlug Belopolski mit dem Vibrator zu. Der seltsame Stachel zerbrach nicht, wie zu erwarten, in der Mitte, sondern flog als Ganzes ab. An der Stelle, an der er gesessen hatte, rannen aus dem roten bandähnlichen Körper schwarze Tropfen wie bei einem verletzten Tier das Blut.

Belopolski trat zu dem abgeschlagenen Stachel, hob ihn auf und warf ihn seinen Genossen zu, während er sprungbereit die anderen Stacheln beobachtete. Sobald er sich ihnen auf mehr als einen Meter näherte, zielten die dünnen Degen auf ihn, als wollten sie seinen Leib mit ihrer scharfen Spitze durchbohren, aber er brauchte nur ein wenig zurückzutreten — und sie nahmen ihre alte Stellung wieder ein. Auch die aktinienähnlichen Gewächse sträubten drohend ihre Härchen, sobald seine Hand nach ihnen griff. Der menschliche Körper schien die Venusbewohner anzuziehen, sie erkannten ihn als ein ihnen fremdes Wesen, das sie bereit waren zu packen.

„Wir müssen sehr vorsichtig sein“, sagte Belopolski. „Vielleicht sind sie giftig.“ Nun betraten auch die drei übrigen Astronauten, einer nach dem anderen, das Ufer. Wtorow ging als letzter. Er wurde von Saizew und Knjasew gehalten, die auf Belopolskis Befehl an der Schwelle der Luftschleuse zurückblieben. Toporkow rutschte aus, aber seine Kameraden hielten ihn mühelos fest.

Korzewski trat zu Belopolski. Die Augen des Biologen blitzten vor Freude.

„Es sind Lebewesen! Lebewesen!“ rief er immer wieder zutiefst bewegt. „Sie machen Jagd auf uns. Verstehen Sie? Sie sind gewohnt, die Beute zu erlegen, sobald sie sich ihnen nähert. Daraus geht hervor, daß es im Wasser dieses Ozeans Lebewesen gibt, die sich bewegen … schwimmen. Verstehen Sie, was das heißt?“

„Sehr gut sogar“, erwiderte Belopolski.

„Hier, passen Sie auf!“ Korzewski ergriff die Fransen einer Aktinie. Im selben Augenblick wanden sich die elastischen Härchen um seine Hand und zogen sie zu einer sich auftuenden kreisrunden Öffnung.

„Sehen Sie, dieses Lebewesen hat einen Mund wie die Aktinien der Erde!“ rief der Biologe entzückt.

Er dachte nicht daran, sich zu wehren, und ließ die Pflanze, die vielleicht sogar ein Tier war, seine Hände immer tiefer in sich hineinsaugen. Belopolski packte den Wissenschaftler, der vor Begeisterung ganz außer sich war, an der Schulter und riß ihn zurück.

„Seien Sie doch vernünftig“, sägte er mit gewohnter Ruhe, „das ist doch keine Aktinie wie auf der Erde.“ Korzewski blickte ärgerlich auf die abgerissenen Härchen, die sich wie widerwillig langsam lösten und zu Boden sanken.

„Wir müssen eine mit an Bord nehmen“, sagte er.

„Nehmen Sie, soviel Sie wollen, aber geben Sie gut acht!“ Belopolski schlug den nächstgelegenen Stachel ab und hielt seine Spitze vor eine andere Aktinie. Die kleinen Haare ergriffen den Stachel sofort und führten ihn zu der mundähnlichen Öffnung.

Alle verfolgten gespannt, was nun geschehen würde.

Nach einer Minute hielt der Gelehrte nur noch das Ende des Stachels in der Hand. Alles übrige war verschwunden.

„So, ich denke, das dürfte Ihnen genügen! Wer garantiert, daß mit Ihrer Hand nicht das gleiche geschehen wäre?“

„Wahrhaftig… Das ist ja…“ Der Biologe war betroffen.

Es stand fest, daß die Aktinien auf der Venus ganz anders gebaut waren als ihre Geschwister auf der Erde. Belopolski versuchte das in seiner Hand verbliebene Stück des Stachels zu zerbrechen, aber es gelang ihm nicht. Er war hart wie Eisen.

Trotzdem hatte dieses sonderbare Gewächs, das so zerbrechlich und weich aussah, den Stachel mühelos zerkleinert.

„Ich nenne sie Actinaria ferrumus“, verkündete Korzewski feierlich.

Da das Seil nicht lang war, konnten sich die Männer nicht weit vom Schiff entfernen. Außerdem mußten sie besonders vorsichtig sein. Die Gewitter waren noch nicht gründlich studiert, jedes barg Lebensgefahr. Ob es einem unbewehrten Menschen gelingen konnte, der Wucht der Wassermassen standzuhalten, war nicht erwiesen.

Aber auch wenn sie sich nicht weit entfernten, gab es genug zu erkunden. Unter Wahrung größter Vorsicht sammelten die Forscher mehrere Stacheln und lösten mit Hilfe ihrer Ultraschalldolche drei Aktinien und ein bedeutendes Stück eines der seltsamen roten Bänder vom Boden. All das trugen sie in die Luftschleuse.

Als nächstes untersuchte Korzewski gründlich den ersten Baum, dem sie sich näherten.

„Er zeigt typische Korallenstruktur“, erklärte er. „Es wäre schön, wenn wir einen Zweig mitnehmen könnten.“ Wtorow spähte nach oben. Die ersten Äste setzten bereits in geringer Höhe an, und der Baum war dicht mit Lianen umrankt.

„Darf ich es versuchen?“ fragte er Belopolski.

Konstantin Jewgenjewitsch musterte zweifelnd den Stamm, der so glatt war, als hätte ihn jemand poliert.

„Die Lianen werden mir helfen“, setzte Wtorow hinzu.

„Aber nicht so hoch klettern“, entschied der Expeditionsleiter.

„Brechen Sie den ersten besten dünnen Zweig ab. Beeilen Sie sich! Es kann wieder ein Gewitter kommen. Dann würde es Ihnen auf dem Baum schlecht ergehen!“

„Es ist keine Gewitterfront in der Nähe“, sagte Melnikow.

„Stellen Sie sich mir auf die Schulter“, schlug Korzewski vor.

Wtorow übergab Belopolski seinen Filmapparat und ergriff, nachdem er auf Korzewskis Schulter geklettert war, die Liane, die sich um den unteren Zweig geschlungen hatte.

Im nächsten Augenblick geschah etwas, womit keiner gerechnet hatte.

Kaum hatten Wtorows Hände das grellrote Tau umklammert, als es sich blitzschnell vom Ast loswand und mit seinem langen elastischen Ende durch die Luft schnellte. Binnen drei Sekunden war Wtorow gefesselt. Völlig hilflos und unfähig, eine Hand oder ein Bein zu bewegen, hing der Ingenieur zu Häupten seiner Genossen, die durch diesen überraschenden Angriff der vermeintlichen Pflanze völlig verdattert waren.

Toporkow riß sich das hinderliche Sicherungsseil vom Leib und schwang sich Korzewski auf die Schultern. Mit der Spitze seines Spezialdolches fuhr er über den Leib der tückischen Liane.

Wie ein Rasiermesser zerschnitt der Ultraschall den pflanzlichen Räuber. Der Gefesselte fiel in die ausgebreiteten Arme Belopolskis. Durch den Helm hindurch sah man, daß Wtorow kaum noch atmen konnte, weil ihn die Liane, die seinen Brustkorb immer noch umspannte, so würgte. Die Männer versuchten vergeblich, die Fesseln mit den Händen zu lösen. Erst mit dem Ultraschalldolch gelang es, die Ringe zu zerschneiden und den Brustkorb zu befreien. Die Kombination war, wie sich herausstellte, an vielen Stellen zerrissen.

„Er muß schleunigst an Bord!“ rief Korzewski erschrocken und legte seine Hände Wtorow um den Hals, als wollte er ihn erwürgen. Durch die Risse konnte die mit Formaldehyd vergiftete Luft der Venus unmittelbar in den Helm eindringen.

Belopolski ergriff das Seil und schnitt ein langes Stück ab. Mit diesem Stück wurde der Kragen der Kombination umwickelt.

„Haben Sie sich nichts gebrochen?“ fragte Korzewski.

„Anscheinend nicht“, antwortete Wtorow. „Diese Ungeheuer haben eine unheimliche Kraft. Mir tun sämtliche Knochen im Leibe weh.“

„Aber laufen können Sie?“

„Natürlich.“ Als Wtorow die Luftschleuse erreicht hatte, gab er Toporkow die Hand.

„Ich danke Ihnen, Igor Dmitrijewitsch!“

„Vielleicht kommt es auch mal anders! Heute rette ich Ihnen das Leben und morgen Sie mir.“ Selbst als vor einigen Stunden alle an Bord geeilt waren, um das gefundene Lineal zu untersuchen, erschien ihnen die Prozedur des Einschleusens nicht so quälend lang wie jetzt. Besorgt beobachteten sie Wtorows Gesicht und fürchteten, Anzeichen einer Vergiftung darin zu entdecken, weil zweifelhaft war, daß der aus dem Seil gefertigte Kragen hermetisch schloß.

„Wie fühlen Sie sich?“ fragte Korzewski alle Augenblicke.

„Ich habe Kopfschmerzen.“

„Nehmen Sie einen besonderen Geruch wahr?“

„Ja, einen sehr starken und unangenehmen.“

„Also ist doch etwas Formaldehyd eingedrungen!“ Im Raumschiff wußten die Genossen schon, was geschehen war. Stepan Arkadjewitsch wartete an der Luftschleuse mit der Instrumententasche für Erste Hilfe. Balandin und Paitschadse hielten eine Trage bereit.

Wie groß auch die Sorge um die Gesundheit des Kameraden sein mochte, so wurde die vorgeschriebene Desinfektion doch peinlich genau beachtet.

Von der inneren Schleusenkammer aus konnte man nur mit der Zentrale sprechen. Die Männer, die sich im Korridor eingefunden hatten, wußten also nicht, was hinter der Tür vor sich ging. Als sie sich endlich öffnete, sahen sie, daß Wtorow von Saizew und Knjasew getragen wurde.

„Er ist vor drei Minuten ohnmächtig geworden“, erklärte Belopolski.

Wortlos klappte Andrejew seine Tasche auf.

„Legen Sie ihn auf den Fußboden“, ordnete Korzewski an.

Die beiden Ärzte beugten sich über den Verunglückten. Nach einer Minute schlug Wtorow die Augen wieder auf, und Andrejew ließ ihn ins Lazarett bringen.

„Halb so schlimm“, antwortete er auf Belopolskis Frage, „er wird bald wieder ganz gesund sein.“ Romanow und Knjasew als die Stärksten trugen die Trage.

Durch das Raumschiff zu laufen, noch dazu mit einer Last, war sehr schwierig. Die „Klinik“, wie man im Scherz das Krankenzimmer nannte, befand sich zum Glück im gleichen Korridor.

„Die Venus beschenkt uns großzügig mit Überraschungen“, sagte Saizew. „Was wird nun weiter geschehen?“

„Was hat die Untersuchung des Lineals ergeben, Sinowi Serapionowitsch?“ fragte Belopolski den emsigen Balandin.

„Es besteht zweifellos aus Holz“, antwortete der Professor.

„Die Art des Holzes können wir nicht feststellen.“

„Kein Wunder!“

„Aber wir können mit Sicherheit sagen, daß es sehr lange im Wasser gelegen hat. Meiner Meinung nach mindestens ein Jahr.“

„Mindestens ein Jahr“, wiederholte Belopolski sinnend. „So!

Das Lineal ist also vor einem Jahr hier ins Wasser gefallen?“

„Es ist anzunehmen.“

„Dann brauchen wir nicht nach seinen Besitzern zu suchen.

Innerhalb eines solch langen Zeitraumes kann es von der anderen Halbkugel des Planeten hierhergebracht worden sein.“

„Und wenn Astronauten es verloren haben, so hat ihr Schiff die Venus längst wieder verlassen“, setzte Melnikow hinzu.

„Astronauten?“ Belopolski zuckte die Achseln. Damit gab er zu verstehen, daß er nicht sonderlich an einen Besuch der Venus durch Bewohner einer anderen Welt glaubte.

„Ist das Periskop noch ausgefahren?“ fragte er.

„Natürlich nicht.“

„Wir werden es noch einmal ausfahren. Kommen Sie mit ans Pult, Sinowi Serapionowitsch!“ Der Ballon mit der Fernsehkamera stieg abermals über dem Raumschiff auf. Der Bildschirm zeigte den Ozean. Die Kamera wendete langsam, und die Wasserebene wurde von dem orangeroten Wald abgelöst.

„Fahren Sie das Periskop noch höher aus!“ Melnikow betätigte den entsprechenden Mechanismus. Es war zu merken, daß der Ballon stark nach Osten abgetrieben wurde.

Trotzdem verbreiterte sich der Horizont weiter.

„Ich habe es ja gewußt!“ sagte Belopolski. „Sehen Sie!“ Der Sucher des Periskops hatte sich in diesem Augenblick nach Norden gewandt, und fast gleichzeitig bemerkten Balandin und Melnikow in der Ferne einen dunklen Streifen, Wasser!

Ebensolche Streifen zeigten sich im Westen und Süden.

„Wir sind auf einer Insel“, sagte Belopolski. „Als Stanislaw Kasimirowitsch sagte, die Bäume am Ufer seien in Wirklichkeit Korallen, glaubte ich gleich, daß wir nicht festes Land, sondern eine Koralleninsel vor uns haben, die nur tagsüber bei Ebbe an die Oberfläche tritt. Bei Nacht ist dies hier Meeresgrund. So leuchtet auch ein, warum hier keine richtigen Pflanzen wachsen, wie sie auf der Venus zu finden sein müßten, sondern nur Meeresorganismen. Wir müssen unbedingt festes Land finden und dorthin fliegen.“

„Die Insel ist gar nicht so groß“, bemerkte Balandin. „Es ist sogar verwunderlich, daß wir nicht vor unserer Landung bemerkt haben, daß dies eine Insel ist.“

„Es war damals bedeutend dunkler als jetzt“, antwortete Melnikow. „Und der Horizont war mit Gewitterfronten verhangen.“

„Aber trotzdem ist die Insel viel ausgedehnter als die größten Korallenbauwerke auf der Erde“, fuhr der Professor fort.

„Allerdings sind auch die Korallen selber, sofern es welche sind, unvergleichlich viel größer als die Korallen der Erde. Auf jeden Fall müssen wir die Insel, ehe wir sie verlassen, gründlich studieren.“

„Unbedingt!“ stimmte Belopolski zu. „Schon deswegen, weil wir diese Gegend nicht so bald verlassen werden. Das Schiff kann nirgends zum Starten gewendet werden. Es wird bis zum Abend hier bleiben, das heißt — anderthalb Wochen.“

Luftaufklärung

So lag also die „SSSR-KS 3“ am Ufer einer Koralleninsel, die bei Ebbe aus den Fluten emportauchte.

Auf der Erde, die anderthalbmal so weit von der Sonne entfernt ist wie die Venus, erreicht die Flutwelle an einigen Stellen, zum Beispiel in der Fundybucht in Nordamerika, zwischen NeuSchottland und Neu-Braunschweig, einundzwanzig Meter Höhe.

Freilich wird sie hauptsächlich durch den Mond ausgelöst, dessen Anziehungskraft sie merklich beeinflußt, jedoch die Nähe zur Sonne mußte bei der Venus das Fehlen eines Trabanten reichlich wettmachen. Nach Belopolskis und Balandins Meinung konnte die Flut auf der Venus achtzig Meter Höhe betragen.

Wenn daher zu Beginn der Nacht im Gefolge der Sonne, die sich dem westlichen Horizont zuneigte, die Flutwelle die Insel erreichen würde, dürften nur noch die Wipfel der höchsten Korallenbäume aus den Wassern des Ozeans ragen, alles andere aber untertauchen.

Die Meeresgewächse und Seetiere, die gegenwärtig auf dem Trockenen lagen, würden dann erwachen, um Nahrung suchend ihr eigentliches Leben zu führen. Und wenn der Tag sie wieder an die Luft versetzte, würden sie in den Zustand einer eigenartigen Anabiose, die dem Winterschlaf einiger Tiere und Pflanzen ähnelte, zurückverfallen, Balandin und Korzewski gelangten einmütig zu diesem Schluß.

Schon über hundert Stunden, beinahe fünf Erdentage, lag das Schiff nun auf der Venus. Die wissenschaftliche Arbeit, auf die sich alle auf der Erde und unterwegs so gründlich vorbereitet hatten, entfaltete sich allmählich.

Trotz des ganz natürlichen Wunsches, möglichst gut und vollständig das zu erforschen, was noch nie ein Mensch erforscht hatte, trieb jedoch der Gedanke an die Erde die Besatzungsmitglieder zur Eile an.

Alle fühlten sich durch die Unterbrechung der Funkverbindung bedrückt. Das Bewußtsein, daß die Angehörigen auf der Erde unter schrecklicher Ungewißheit litten, war quälend. Unablässige Arbeit half am besten, mit der zermürbenden Sehnsucht fertig zu werden. Andrejew mußte sich oft an Belopolski oder Melnikow wenden, damit der festgesetzte Ablauf des Tages und vor allem der Nacht eingehalten wurde. Die Besatzung war zu bestimmten Stunden verpflichtet, sich schlafen zu legen, aber fast täglich versuchte jemand, gegen diese Regel zu verstoßen.

Außerhalb des Schiffes herrschte „ewiger“ Tag, neblige Dämmerung, die kein einziger Sonnenstrahl durcheilte. Fast stündlich wurde diese Tagähnlichkeit durch die totale Finsternis tobender Gewitter abgelöst. Bei einigen Expeditionsmitgliedern tiaten die ersten Anzeichen von Nervosität auf. Andrejew und Korzewski führten obligatorische therapeutische Maßnahmen durch, denen sich alle ohne Ausnahme jeden Tag unterziehen mußten. Besonders häufig versuchten Toporkow, Knjasew und Wtorow, der die Lianenumarmung übrigens gut überstanden hatte, sich vor diesen Maßnahmen zu drücken, aber die Kommandanten des Schiffes schritten energisch dagegen ein. Die Gesunderhaltung gehörte zu den wichtigsten Aufgaben. Belopolski und Melnikow, die sich selbst ausgezeichnet fühlten, kamen als erste in die Klinik und gaben damit den anderen ein Beispiel.

„Die Lebensbedingungen auf der Venus sind so ungewöhnlich für uns“, erklärte Andrejew denjenigen, die an der Notwendigkeit derartiger Maßnahmen zweifelten, „daß sich ganz unbemerkt ein Leiden einschleichen kann. Das Nervensystem entscheidet alles. Wenn es in Ordnung ist, bleiben den Menschen viele Unannehmlichkeiten erspart.“

„Ich bin so gesund wie noch nie“, sagte Toporkow.

„Reden Sie sich nicht heraus! Sie sind hier nicht auf der Erde.“ Die nähere Umgebung des Raumschiffes war schon gründlich untersucht worden, und die Kühlschränke bargen umfangreiche Kollektionen von Mustern der Fauna und Flora der Insel. Die Sternfahrer hatten sich mit der Heimtücke der Venusbewohner vertraut gemacht, und der beinahe tragisch ausgelaufene Zwischenfall wiederholte sich nicht mehr.

Von Tag zu Tag verlor das Betreten des Ufers an Gefährlichkeit. Je höher die unsichtbare Sonne über den Horizont stieg, desto deutlicher sah man das Leben ersterben. Immer langsamer bewegten sich die vermeintlichen Lianen, Bänder und Aktinien.

Man mußte ganz dicht an sie herantreten, um noch Reaktionen hervorzurufen, die aber auch von Stunde zu Stunde matter wurden. Die Natur schlief vor den Augen der Erdbewohner gleichsam ein. Auch durch die häufigen Regengüsse wurde sie nicht lebendiger, wie dies am frühen Morgen noch der Fall gewesen war. Unerschrocken drangen die Wissenschaftler tiefer in das Dickicht des wundersamen Waldes ein.

Vor den Gewittern mußten sie sich nach wie vor in acht nehmen. Aber dank Toporkow schwanden auch die Schrecken dieser Gefahr fast völlig. Igor Dmitrijewitsch hatte die elektrischen Eigenschaften der Gewitterfronten untersucht und festgestellt, daß die Ionisierung der Luft, die ihn im Zusammenhang mit dem Geheimnis des Radioechos besonders interessierte, lange Zeit vor einem Gewitter begann und zunahm, je mehr es sich näherte. Das brachte ihn auf den Gedanken, die Ionisierung als Wettervorhersage zu nutzen. Er baute mit Saizews Hilfe ein einfaches Gerät, ein elektrisches Barometer, von dem man das Nahen eines Gewitters schon eine Viertelstunde vorher mit großer Genauigkeit ablesen konnte.

Solch ein Gewittermelder konnte gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er gab den Wissenschaftlern buchstäblich die Hand frei.

Belopolski ließ sofort mehrere solcher Barometer anfertigen.

Sie wurden auf dem zentralen Steuerpult, in der Funkkabine und in den Luftschleusen aufgestellt.

Von nun an wußten die Sternfahrer stets, wann ein Gewitter heraufzog. Sobald das Gerät erhöhte Ionisierung der Luft anzeigte, wurde vom Schiff aus ein Warnsignal abgegeben, und alle, die sich am Ufer aufhielten, eilten darauf schleunigst in die Luftschleusen.

Die entsetzlichen Regengüsse überraschten nicht ein einziges Mal ein Expeditionsmitglied außerhalb des Schiffes.

Die Temperatur der Außenluft stieg unaufhaltsam. Am fünften Tag zeigte das Thermometer siebzig Grad plus an. Der Dunst, der vom Wasser aufstieg, verwandelte sich allmählich in Nebel. Die Astronauten mußten ihre Kühlanzüge anziehen.

Bemerkenswert war, daß diese Anzüge sehr leicht und einlach waren. Die auf der Venus in großen Mengen anfallende Kohlensäure diente nämlich als Kühlmittel. Das Absinken der Temperatur innerhalb des Anzuges wurde mit Hilfe der Kompressionsmethode durch Verdunsten der Kohlensäure erreicht.

Natürlich waren Halbleiterbatterien, die bei kleinem Umfang in bedeutender Menge Elektroenergie erzeugen, für den Bau einer Kompressionsvorrichtung wie dieser, die sogar in einen kleinen Tornister paßte, Voraussetzung. Aber stets sind die Errungenschaften der Wissenschaft eng mit dem Niveau der Technik verknüpft.

Belopolski ließ beschleunigt eine Startbahn für Flugzeuge anlegen. Er wollte die Insel von oben betrachten und gleichzeitig versuchen, ein Festland ausfindig zu machen. Am Ufer der Insel hatte man Spuren entdeckt, die deutlich darauf hinwiesen, daß die Flut hier sehr hoch stieg. Das diente nach Balandins Meinung als Beweis für die Nähe eines Festlandes. Auf hoher See, fern von anderen Ufern, konnte die Flut nicht so hoch steigen.

Mit der Anlage einer Startbahn wurden Paitschadse, Wtorow, Romanow und Knjasew beauftragt. Saizew leitete die Arbeit.

Als Flugfeld konnte die Bucht dienen; die Düsenflugzeuge, die an Bord von „SSSR-KS 3“ mitgeführt wurden, waren alle Wasserflugzeuge. Es tauchte jedoch die Frage auf, wo sie montiert und vor allem wo sie untergestellt werden sollten. Auf dem Wasser würde das erste beste Gewitter ihre Tragflächen zerschmettern. Deshalb wurde beschlossen, einen geschützten Hangar zu bauen und ihn mit einer Vorrichtung zum Wassern der Flugzeuge vorm Start sowie zur Wiederaufnahme nach der Landung zu versehen.

Das war eine schwierige Aufgabe, wenn man die Höhe des Ufers und die unzähligen Schwammsträucher und Korallenbäume berücksichtigte. Aber Zähigkeit und Erfindergeist siegten.

Mit Flammenwerfern und mächtigen Ultraschallgeräten vernichteten sie auf einer Fläche von dreihundert Quadratmetern alles, was das Ufer bedeckte. Mit Stücken der Korallenbäume schütteten sie die zahlreichen Gruben zu. Über diesem Platz errichteten sie ein festes Dach, das an einigen Stammen befestigt wurde, die eigens zu diesem Zweck nicht gefallt worden waren.

Gezielte Sprengungen rissen einen Teil des Ufers ein, so daß ein schräger Hang entstand. Als sie dann noch eine Elektrowinde aufgestellt hatten, war der Flughafen fertig.

Zwar drückten Regengüsse das Dach noch mehrmals ein, und es mußte neu errichtet werden. Aber schließlich konnten selbst die schrecklichsten Gewitter dem Hangar nichts mehr anhaben.

Das Wasserflugzeug im Hangar unterzustellen war nun nicht mehr schwierig. Es wurde ans Ufer bugsiert und mit der Winde den Hang hinaufgezogen. An der Montage und Anbringung der Tragflächen beteiligten sich fast alle Besatzungsmitglieder.

Am sechsten Tag, dem 15. Juli, stand die Maschine startbereit.

Belopolski beauftragte Melnikow und Wtorow mit dem ersten Flug. Sie sollten die Insel aus der Luft fotografieren.

Balandin und Korzewski hatten während dieser Tage vergeblich versucht, Wassertiere zu fangen. Ihre Netze blieben leer.

Aber zweifellos gab es im Ozean der Venus schwimmende Lebewesen; denn sonst wäre das Verhalten der Aktinien und der anderen Organismen an Land schwerlich zu erklären gewesen.

Es blieb nur zu vermuten, daß alle diese Tiere mit der Ebbe auf die hohe See hinausschwammen.

Aber trotz des erfolglosen Fischfangversuches konnten die Sternfahrer mit den Ergebnissen ihrer Arbeit zufrieden sein. Sie hatten innerhalb von sechs Tagen Entdeckungen gemacht, die alle bisherigen Vorstellungen vom Leben auf diesem Planeten, zumindest was die Ozeane betraf, über den Haufen warfen. Die Korallen, die Schwämme und die vorerst noch rätselhaften „Bänder“ waren keine embryonalen Lebenskeime mehr, sondern voll ausgebildete Organismen mit einer komplizierten Struktur.

Und die unbekannten Fische, die ihnen als Nahrung dienten, mußten auf einer noch höheren Stufe der Evolution stehen.

Die Korallen und Schwämme auf der Venus glichen denen auf der Erde, aber über diesen auf den ersten Blick merkwürdig scheinenden Umstand wunderten sich weder Balandin noch Korzewski. Das Wasser im Ozean war gewöhnliches Wasser und unterschied sich nicht von dem Meerwasser der Erde. Auf Planeten, die einander nahe waren, mußte das Leben in annähernd gleicher Weise entstehen und konnte bei den niederen Formen sogar miteinander identisch sein. Der sehr schwache Formalingehalt in den Gewässern der Venus konnte die Entfaltung des Lebens nicht behindern.

Das größte Rätsel, für das sich vorläufig keine wissenschaftliche Erklärung fand, blieben die seltsamen Eigenschaften der grellroten Lianen. Sie gehörten zweifellos zur Pflanzenwelt, erinnerten aber dadurch, daß sie bewußt auf Berührung reagierten, an Tiere. Es gelang den Forschern, zwei dieser vermeintlichen Lianen vom Stamm zu lösen, ohne sie zu zerstückeln, und in einem Behälter mit Spiritus zu verschließen. Die rätselhaften Pflanzentiere sollten auf der Erde gründlich studiert werden.

Selbstverständlich beschäftigte auch das geheimnisvolle Lineal nach wie vor die Gedanken der Expeditionsmitglieder und verursachte hitzige Streitgespräche. Daß es künstlich entstanden war, konnte nicht bezweifelt werden. Folglich gab es entweder vernunftige Lebewesen auf der Venus, oder solche Wesen hatten vor der Landung von „SSSR-KS 3“ die Venus besucht. Die letztere Vermutung wurde von Melnikow und Korzewski unterstutzt. Professor Balandin dagegen behauptete, das Lineal sei von Bewohnern der Venus hergestellt und verloren worden.

„Wir werden ihnen auf dem Kontinent sicher begegnen“, sagte er.

Belopolski äußerte seine Zweifel nicht, und daher erfuhr niemand seine Gedanken.

Überall versuchten die Astronauten Spuren vernünftiger Lebewesen zu entdecken, aber sie fanden nichts. Anscheinend war die Insel nie bewohnt gewesen. Wenigstens nicht in der Gegend, in der das Schiff lag. Alle, die den Gedanken verfochten, daß die Venus bewohnt sei, setzten große Hoffnung auf die vorbereitete Luftaufklärung. Vielleicht würde es vom Flugzeug aus gelingen, Spuren vernunftgelenkten Schaffens zu entdecken, die sich auch über die letzte Überflutung der Insel durch den Ozean hinweg erhalten hatten. Das Lineal konnte nicht vom Himmel gefallen sein, jemand mußte es hergestellt und verloren haben, mochte das auch schon ein Jahr zurückliegen — es war geschehen und bezeugte unwiderleglich das Wirken von Vernunft.

„Auf der Insel kann es keine Bauwerke geben“, widersprach ihnen Korzewski, „und zwar deshalb nicht, weil sie zu bestimmten Zeiten regelmäßig im Wasser versinkt. Allem Anschein nach ist die Venus für die Herausbildung vernünftigen Lebens ungeeignet. Für mich steht jedenfalls fest, daß dieser Planet keine vernunftbegabten Bewohner besitzt. Das Lineal haben Kosmonauten verloren.“

„Dann müßten wir Spuren von der Landung eines Raumschiffes finden.“

„Es kann weit von hier gelandet sein.“

„Und wie ist dann das Lineal in die Bucht geraten?“

„Die Wellen der Flut und der Wind haben es hierhergetrieben.“

„Wenn tatsächlich von einem anderen Planetensystem aus ein Raumschiff hierhergeflogen ist“, sagte Balandin, „dann hätte es auch unsere Erde angesteuert.“

„Nicht unbedingt“, entgegnete Melnikow, „es ist nicht so einfach, einen Planeten zu finden, noch dazu solch einen kleinen.

Sie sind zufällig auf die Venus gestoßen, haben die Erde nicht bemerkt und dann den Rückflug in ihre Heimat angetreten.“ Alle diese Auseinandersetzungen waren im Grunde völlig zwecklos. Beide Seiten konnten mit gleichviel Grund annehmen, sie hätten recht. Das Rätsel des Lineals ließ sich nicht lösen, bevor der Planet nicht eingehend erforscht war.

Ähnlich wie Belopolski zog auch Paitschadse es vor, zu schweigen. Wenn er geradezu gefragt wurde, gab er ausweichende Antworten wie: „Das mag schon sein“ oder „Das ist kaum anzunehmen.“

Am Sechzehnten sollte der erste Probeflug über der Insel unternommen werden. Die Männer warteten, bis es für Venusverhältnisse etwas aufklarte, dann schoben sie das Flugzeug ins Wasser.

Melnikow saß am Steuerknüppel, Wtorow hatte sich in einen Passagiersessel gesetzt. Die Triebwerke heulten auf, und der silbergleißende Vogel glitt, einen Schaumstreif hinter sich herziehend, über die spiegelglatten Wasser und erhob sich in die Lüfte.

Auf Wtorows Bitte hin kreiste Melnikow einmal über dem Fjord. Gennadi Andrejewitsch wollte das Schiff fotografieren, wie es unten am Ufer lag. Die lange stählerne Zigarre mit der komplizierten Richtantenne, die das Vorschiff überragte, war deutlich zu erkennen. Toporkow sandte jeden Tag Funksprüche an die Erde, und die Antenne wurde gar nicht mehr eingefahren.

Nebel behinderte die Sicht. Trotzdem konnte man noch viele Einzelheiten der Landschaft erkennen. Melnikow dachte daran, daß sie in ein paar Tagen die Insel nicht mehr von oben würden betrachten können. Der Dunst, der von der Wasseroberfläche aufstieg, verdichtete sich von Stunde zu Stunde.

Um die Genossen unten auf dem Schiff zu grüßen, schaukelte das Flugzeug mit den Tragflächen, dann stieg es auf dreihundert Meter. Von dieser Höhe aus konnte man die ganze Insel gut überblicken. Sie hatte die Form eines fast rechtwinkligen Dreiecks.

Der Wind trieb nach wie vor düstere Wolken vor sich her, überall wälzten sich schwarze Regenwände und zuckten Blitze. Vom Schiff aus wurde gefunkt, daß Gewitterfronten noch nicht in bedrohlicher Nähe seien, sich aber von allen Seiten der Insel zu nähern schienen.

Das Flugzeug flog an der Küste entlang. Zur Linken breitete sich der mit weißen Wellenkämmen bedeckte unendliche Ozean, zur Rechten der orangerote vermeintliche Wald, hinter dem wiederum die Wasserebene schimmerte.

Das Ufer sah die ganze Zeit gleich aus. Hoch, abschüssig, von Korallenbäumen gekrönt. Viele Buchten schnitten ins Land. Sie waren gewöhnlich sehr schmal und erinnerten an Erdspalten.

Die Geschwindigkeit war zu groß, als daß die beiden Männer im Flugzeug Einzelheiten hätten ausmachen können. Ein Hubschrauber wäre für ihre Zwecke nützlicher gewesen, aber mit solchen speziell zur Geländeerkundung geeigneten Maschinen war die Expedition nicht ausgerüstet; es wäre für einen Hubschrauber auch allzu gefährlich gewesen, mit einer Gewitterfront zusammenzutreffen. Seine relativ geringe Wendigkeit und Geschwindigkeit sowie die langen Blätter seiner Luftschrauben konnten ihm leicht zum Verhängnis werden. Ein schnelles, manövrierfähiges Düsenflugzeug ohne Luftschraube war unter den Bedingungen der Venus am sichersten.

Als die Maschine die Südspitze der Insel erreicht hatte, drehte Melnikow auf Kurs Nordwest und folgte weiter den Windungen der Inselküste.

Das durchsichtige Plastedach bot für das Fotografieren kein Hindernis, und Wtorow machte eine Aufnahme nach der anderen. Der Wind kam nun von vorn. Seine Stärke ließ sich am Sinken der Fluggeschwindigkeit ablesen.

Als weißer Streifen war in der Tiefe die Brandung zu erkennen. Die vom Wind gepeitschten Wellen stürmten grimmig gegen das Steilufer und zerschellten zu diamantenem Staub.

Das gewiß sehr laute Tosen der Brandung war durch das Dröhnen der Triebwerke natürlich nicht zu hören.

Bald mußte der Kurs abermals geändert werden. Diesmal nach Nordosten. Die Landschaft änderte sich nicht, und nirgends entdeckten die beiden Männer etwas Neues. Überall bot sich ihnen ein und dasselbe Bild.

Nach fünfzehn Minuten hatte das Flugzeug die Insel umflogen. Dann überquerte es sie mehrmals von Norden nach Süden, von Osten nach Westen und in umgekehrter Richtung.

Aber nichts war zu erspähen, was auch nur im entferntesten an eine künstliche Anlage erinnert hätte.

Die Korallensiedlung inmitten des Ozeans lag völlig vereinsamt und war offenbar unbewohnt. Wenn es auf der Venus bewußtes Leben gab, dann mußte es anderenorts gesucht werden.

Melnikow wollte schon zum Schiff zurückfliegen, da meldete Toporkow, das Ionometer steige steil an, und anscheinend ziehe ein mächtiges Gewitter herauf.

„Die Ionisierung nimmt schnellstens zu“, wurde vom Schiff übermittelt, „sie ist bedeutend stärker als gewöhnlich. Ihr müßt äußerst vorsichtig sein.“ Melnikow musterte den Horizont. Tatsächlich schob sich von Nordwesten her eine breite schwarze Bank heran. Schnell wachsend und voll zuckender Blitze, schien sie die Insel stürmen zu wollen.

Es durfte nicht gezögert werden. Noch fünf, sechs Minuten, und das Gewitter würde die Insel zudecken. An eine Landung war nicht zu denken. Das hieße das Flugzeug der Vernichtung preisgeben. Der Regen wurde herniederprasseln, bevor sie im Hangar Schutz gefunden hätten.

Melnikow gab Vollgas. Mit Überschallgeschwindigkeit raste die Maschine nach Süden und stieg zugleich zu den Wolken empor. Sollte es nicht gelingen, dem Gewitter zu entfliehen, so blieb noch der Ausweg, größere Höhen zu erreichen.

Rasch näherte sich der schwarze Streifen dem Flugzeug, aber Melnikow erspähte weit voraus schon das Ende der Wand. Sich im Blindflug in die Wolken schlagen wollte er nicht. Er drehte etwas nach Osten ab, wich so vor dem Gewitter aus und gewann Zeit.

Buchstäblich in letzter Sekunde gelang es ihm, der Front zu entrinnen.

Die tückische Wasserwand schoß dicht hinter dem Schwanz des Flugzeuges vorüber. Wie immer auf der Venus hatte auch diese Gewitterfront scharfe, gleichsam geschnittene Grenzen.

Wäre der Wind nicht gewesen, so hätte man wohl wenige Schritte neben einem Wolkenbruch stehen und trotzdem trocken bleiben können.

Nachdem Melnikow sich überzeugt hatte, daß die Gefahr an ihnen vorübergegangen war, drosselte er die Geschwindigkeit und drehte nach Westen ab.

Die Insel hatte sich ihren Blicken längst entzogen. Sie waren allein inmitten der unendlichen Räume des fremden Planeten.

Allein in einem kleinen zerbrechlichen Apparat, den die entfesselten Naturgewalten in wenigen Augenblicken zerschmettern konnten. Die Funkverbindung mit dem Raumschiff war mit Einsetzen des Gewitters abgebrochen.

Wtorow fühlte sich schrecklich einsam.

Nun war alles aus!

Nie würden sie die Insel und das Schiff wiedersehen. Eine der Gewitterfronten, die überall, wohin sie auch blickten, sichtbar waren, würde über sie herfallen, und die Wellen des Ozeans wurden über dem zerschellten Flugzeug zusammenschlagen — kein Mensch erfuhr je, wo sie beide ihr Grab gefunden hatten.

Er beugte sich instinktiv zu Melnikow vor, dem einzigen unter Millionen Erdenmenschen, der sein Los teilte.

Sie waren allein! … Niemand würde ihnen zu Hilfe kommen!

Der breite Rücken des Piloten bewegte sich nicht. Melnikows behandschuhte Hände hielten sicher das Steuer. Er wandte den Kopf, spähte zum Horizont, und durch das Schauglas seines Helmes sah Wtorow die ruhigen Züge des Gefährten, die auch nicht den Schatten einer inneren Unruhe verrieten.

Da fühlte Wtorow, wie ihm jählings das Blut ins Gesicht schoß. Er schämte sich seiner kleinmütigen Gedanken. Was für ein Sternfahrer war er, wenn die erstbeste Schwierigkeit ihn aus dem Gleichgewicht warf? Das Gewitter würde von der Insel abziehen und die Funkverbindung wiederhergestellt werden.

Und selbst wenn es sehr weit abgeirrt war, konnte das Flugzeug mit Hilfe der Funkorientierung den Rückweg finden.

Nachdem Melnikow fünf Minuten Kurs West geflogen war, wendete er. Er wollte sich nicht zu weit von der Insel entfernen.

Im Norden war der ganze Horizont von Regen verhangen.

Von Süden her wälzte sich wieder eine Gewitterfront heran.

Das Flugzeug stieg noch ein Stück. Wenn die beiden Fronten zusammenstießen, gab es für die Maschine keinen anderen Ausweg als die Flucht in größere Höhe.

Sie flogen schon über vierzig Minuten. Wie lange wird es noch über der Insel regnen? Zwanzig Minuten oder vielleicht eine geschlagene Stunde? … Melnikow fiel ein, daß sie vor acht Jahren auf der Venus eine tausend Kilometer mächtige Gewitterwolke gesichtet hatten. Wer weiß — vielleicht war diese hier noch größer.

Die beiden Gewitterfronten wälzten sich, einen viertel Kilometer voneinander entfernt, nebeneinander her, und in dem engen Korridor zwischen ihnen patrouillierte mit gedrosselten Triebwerken von Osten nach Westen und von Westen nach Osten das Flugzeug mit den beiden Menschen.

Abermals vergingen fünfzehn Minuten.

Der Horizont im Norden schien nie mehr aufklaren zu wollen. Im Westen verschwand die Wolke nach wie vor hinter dem Ozean. Ihr Ende war nicht abzusehen.

„Das ist aber wirklich Pech!“ sagte Melnikow. „So viele Tage sind die Regengüsse von kurzer Dauer gewesen, aber ausgerechnet jetzt kommt solch ein Koloß geflogen. Gennadi Andrejewitsch, wir werden wohl in den Wolken Schutz suchen müssen.“ Wtorow gab keine Antwort.

Der Korridor wurde immer enger. Die Gewitterwolken näherten sich einander. Gleich würden sie zusammenstoßen und das Flugzeug mit wütenden Wassermassen überschütten. Sie durften nicht länger zögern.

Melnikow riß das Steuer an sich. Die fügsame Maschine hob die spitze Nase himmelwärts. Ein Augenblick, und Wolkenmassen hatten sie verschlungen. Mit hellwachen Sinnen behielt Melnikow die Blindfluggeräte im Auge.

Er steuerte die Maschine steil nach oben, um den Gewitterwolken zu entgehen, ihrer wäßrigen Umarmung zu entschlüpfen.

Aber es war schon zu spät. Die Fronten vereinigten sich.

Melnikow und Wtorow errieten es, als weißliche Dämmerung den dichten Nebel ablöste. Sie merkten, daß die Maschine unter dem Druck des Wassers, das sich auf sie ergoß, in die Tiefe sackte.

„Das dürfte wohl das Ende sein“, sagte Melnikow. „Wir hätten eher auf große Höhe gehen sollen. Fertigmachen! Kurz bevor wir in den Ozean geschleudert werden, werfen Sie die Tragflächen ab! Das ist unsere letzte Chance.“ Das Flugzeug war so konstruiert, daß es in ein hermetisch verschlossenes Boot verwandelt werden konnte. Man brauchte nur einen Hebel zu ziehen, und die Tragflächen sowie das Fahrgestell lösten sich vom Rumpf, der ebensowenig sinken konnte wie ein leichtes Schlauchboot. Die gigantischen Wellen würden ihn natürlich wie einen Holzspan hin und her werfen. Trotzdem war dies, wie Melnikow sagte, eine Chance. Die letzte.

„Wir werden uns mit hoher Geschwindigkeit ins Wasser bohren“, sagte Wtorow.

„Abwarten!“ erwiderte Melnikow rauh.

Die Triebwerke arbeiteten mit voller Kraft. Das Flugzeug zog einen langen feurigen Schweif hinter sich her, der sogar durch den strömenden Regen hindurch zu sehen war. Es stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Last der Wassermassen, aber der Zeiger des Höhenmessers sank unaufhaltsam und schnell.

Das Flugzeug würde mit arbeitenden Triebwerken beinahe senkrecht in den Ozean stürzen.

Gespannt beobachtete Melnikow den Höhenmesser. Er wußte, daß das Düsentriebwerk abgestellt werden mußte, bevor die Maschine in den Wellen versank, weil sie andernfalls explodieren würde. Aber er wollte es noch nicht abstellen, um bis zuletzt die Auftriebskraft zu nutzen, die die Fallgeschwindigkeit bremste.

Sie waren noch zweihundert Meter über dem Ozean.

Ein schrecklicher Schlag rüttelte am Flugzeug. Das ohrenbetäubende Gepolter einer elektrischen Entladung … eine grelle Stichflamme…

Die Triebwerke blieben stehen.

Wie zum Hohn hörte ausgerechnet in diesem Augenblick das Gewitter auf. Die unheilverkündenden Wolken zogen ab.

Der letzte Blitz des abziehenden Gewitters hatte in die Düsentriebwerke eingeschlagen! Hilflos trudelte das Flugzeug, kippte vornüber und schoß wie ein Pfeil in die Tiefe.

Melnikow verlor nicht die Nerven. Energisch handhabte er das Steuer und fing das Flugzeug dreißig Meter über dem Wasser ab.

„Tragflächen abwerfen?“ rief Wtorow.

„Noch nicht! Wie müssen noch tiefer gehen.“ Sacht schwebte die Maschine im Gleitflug in die Tiefe. Gischt riesiger Wogen besprühte die Schwimmer der Maschine.

Eine Minute verging. Eine zweite … Sie flogen immer noch.

Das Gewitter war abgezogen, aber die Funkverbindung noch nicht wiederhergestellt. Über der Insel schien es immer noch zu regnen.

Der Wind riß die Wellenkämme ab. Sprühender Gischt verhängte die Sicht wie Nebel.

Zäh hielt sich die Maschine in der Luft.

Plötzlich legte sich die Bewegung des Wassers. Die tosenden Wogen glätteten sich. Beinahe reglos dehnte sich unter den Tragflächen die See. Der Nebel verflog.

„Land in Sicht!“ rief Wtorow verzweifelt.

Bedrohlich nahe, wie vom Meeresgrund emporgestiegen, reckte sich dem Flugzeug ein unbekanntes, felsiges Ufer entgegen.

Melnikow riß instinktiv den Steuerknüppel an sich. Aber die Maschine konnte sich ohne Triebwerke nicht mehr erheben.

Die Katastrophe war unvermeidbar.

Schon wasserte die Maschine und raste, auf den Schwimmern gleitend, geradewegs auf die Felsen zu …

Zu Hilfe!

Die ganze Besatzung von „SSSR-KS 3“ war in der Funkkabine versammelt.

Toporkow saß am Empfänger, bereit, sobald der verfluchte Regen aufhörte, die Funkverbindung mit dem Flugzeug wiederaufzunehmen.

In den Lautsprechern knatterte es pausenlos, manchmal so stark, daß alle glaubten, der Empfänger würde es nicht aushalten. Die Geräte zeigten an, daß die Außenluft gefährlich mit Elektrizität gesättigt war. Das Raumschiff befand sich gleichsam inmitten eines ungeheuren, nicht enden wollenden Blitzes.

Das Donnergepolter war sogar in der Funkkabine zu hören, obwohl sie im Innern des Schiffsrumpfes lag.

„Sollten wir die Antenne nicht doch lieber einziehen?“ schlug Saizew vor.

Toporkow schüttelte verneinend den Kopf.

Schon vor fünfzig Minuten hatte das Gewitter die Insel zugedeckt, und noch immer war nicht abzusehen, wann es endlich aufhören würde. Solch ein heftiges Unwetter hatten sie noch nie erlebt.

Äußerlich ruhig saß Belopolski neben Toporkow und sah alle Augenblicke nach der Uhr.

Sehr selten ließ jemand ein Wort fallen und — verstummte wieder, weil niemand antwortete. Die Gedanken der Sternfahrer waren in weiter Ferne, dort, wo das einsame Flugzeug mit ihren beiden Genossen in der Luft schwebte, durch die Regenwand von Insel und Schiff abgeschnitten.

Wo war die Maschine? Wie weit vom Schiff entfernt? Sie wußten es nicht. Vielleicht erstreckte sich das Gewitter in beiden Richtungen über Hunderte von Kilometern? Die Zeit verging quälend langsam. Dann endlich war die Front abgezogen.

Toporkow schaltete die Sendeanlage ein. Obwohl das Prüfgerät noch eine außerordentlich starke Ionisierung der Luft anzeigte, begann er, auf der vereinbarten Funkwelle Melnikow zu rufen. Wenn sich freilich Melnikow und Wtorow allzuweit von der Insel entfernt hatten, konnte die Verbindung nicht zustande kommen.

Minuten vergingen, nichts.

Die wütenden Donnerschläge verhallten. Im Äther trat völlige Stille ein. Der Zeiger des lonometers sank auf Null, die Luft war frei von Elektrizität.

„Hier spricht das Raumschiff! Wo seid, ihr? Wo seid ihr?

Antwortet! Hier spricht das Raumschiff!“

„Sofort das zweite Flugzeug montieren!“ befahl Belopolski.

„So schnell wie möglich!“ Außer Toporkow stürzten alle zur Tür.

„Paitschadse, Andrejew und ich bleiben an Bord. Konstantin Wassiljewitsch, sorgen Sie dafür, daß die Maschine schnellstens startklar wird!“

„Selbstverständlich!“ antwortete Saizew.

„Hier spricht das Raumschiff! Wo seid ihr? Antwortet! Antwortet!“

„Wenn das Flugzeug zu weit entfernt ist“, sagte Andrejew, „könnte zwischen ihm und uns ein Gewitter stehen, das die Funkwellen aufhält.“

„Wieviel Luft haben die beiden?“ fragte Paitschadse.

„Sie reicht für zwei Menschen vierundzwanzig Stunden.“

„Hier spricht das Raumschiff! Wo seid ihr?…“ Stunden vergingen.

Kurze Gewitter zwangen die fünf Männer mehrmals, die Arbeit am zweiten Flugzeug einzustellen. Die Montage der Tragflächen dauerte an sich schon nicht weniger als zwölf Stunden, diese erzwungenen Unterbrechungen aber reizten die ohnehin gespannten Nerven bis zum äußersten. Der stets ruhige und ausgeglichene Saizew fluchte wie ein Besessener, wenn er warten mußte, bis es wieder aufklarte.

Belopolski schickte zur Unterstützung auch noch Andrejew und Paitschadse. An Bord blieben nur zwei Mann. Das war ein grober Verstoß gegen die Vorschriften, die bei Raumfahrten zu beachten waren.

Es wurde in wahnsinnigem Tempo gearbeitet. Alle wußten genau, daß Melnikow, wenn er sehr weit abseits geflogen war, die Insel ohne Funkverbindung auf dem unendlichen Ozean nicht würde finden können. Eine Funkverbindung war immer noch nicht zustande gekommen.

Sie fürchteten sich vor dem Gedanken, daß alles aus sei und ihre beiden Kameraden längst den Tod gefunden hätten. Die fehlende Funkverbindung erklärten sie sich mit Gewitterfronten.

Die letzte Meldung vom Flugzeug hatte besagt, daß es Kurs Süd einschlage. Also würde man in dieser Richtung suchen müssen. Vorher aber mußte erst die Montage abgeschlossen, ein günstiger Moment abgewartet und dann endlich gestartet werden. Und wohin?

Nach Süden! sagten sich die Männer im stillen und unterdrückten den Gedanken, daß „Süden“ ein äußerst ungenauer Begriff sei Würden sie die kleine Maschine finden, wo man keine tausend Meter weit sehen konnte und dauernd manövrieren mußte, um dem Platzregen auszuweichen — es wäre ein reiner Zufall. Aber ihnen blieb nichts als die Hoffnung auf einen solchen Zufall. Solange nicht die verhängnisvollen vierundzwanzig Stunden abgelaufen waren, würde keiner den Versuch aufgeben, die Genossen zu retten.

Nach fünf Stunden Arbeit war die eine Tragfläche bereits montiert. Falls keine Gewitter dazwischenkamen, würde die Maschine zwei Stunden eher startklar sein.

Zwei Stunden! Unter solchen Umständen war dies sehr viel!

Die Natur der Venus erbarmte sich anscheinend ihrer Gäste.

Die Arbeit verlief ohne Unterbrechungen. Die Gewitter umgingen die Insel.

Belopolski und Toporkow lösten sich am Mikrofon ab, riefen unaufhörlich Melnikow und lauschten gespannt auf Antwort.

Aber die Stille im Äther wurde nur durch nahe oder ferne Gewitterstörungen unterbrochen.

„Wenn Gewitter die Funkverbindung behindern“, sagte Toporkow, „können sie doch keine lückenlose Front bilden. Zumindest zeitweise müßten Schneisen aufbrechen.“ Belopolskis Miene verdüsterte sich. Immer häufiger kam ihm der Gedanke, Melnikow und Wtorow seien verunglückt. Er wußte, daß die Männer draußen ihre Kräfte für eine nahezu aussichtslose Aktion einsetzten, konnte sich aber nicht entschließen, den Befehl zur Einstellung der Arbeit zu erteilen. Theoretisch konnten Melnikow und Wtorow noch sechzehn Stunden leben. Niemand sollte sagen dürfen, daß sie vom Schiff ihre Pflicht nicht bis zum letzten erfüllt hätten.

Wo sind der Kraft eines Menschen Grenzen gezogen, wenn er einen Freund zu retten sucht? Wo liegt die Grenze seiner Leistungsfähigkeit, seines Willens und seiner Ausdauer? Zum Umfallen müde, montierten die sieben Männer am Flugzeug die zweite Tragfläche. Die Hände wollten das Werkzeug nicht mehr halten, die Augen konnten die Einzelteile kaum noch unterscheiden, aber die schweren Metallstücke gelangten dennoch gleichsam von selbst an Ort und Stelle.

Nach neun Stunden und zwanzig Minuten meldete Balandin mit bis zur Unkenntlichkeit heiserer Stimme, die Maschine stehe zum Start bereit.

„Lassen Sie mich und Saizew fliegen!“

„Auf keinen Fall!“ entgegnete Belopolski. „Schieben Sie das Flugzeug ins Wasser. Toporkow wird fliegen. Außer Knjasew und Romanow haben alle an Bord zurückzukehren.“ Er schaltete die Sprechanlage aus, ohne auf die Einwände des Professors zu hören.

„Igor Dmitrijewitsch, starten Sie! Kein anderer ist zur Zeit in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen. Sie kommen als einziger in Frage. Ich habe in Boris Nikolajewitschs Abwesenheit nicht das Recht, das Schiff zu verlassen.“

„Ich werde alles tun, was ich kann“, antwortete der Ingenieur und verließ die Kabine.

Belopolski blieb allein. Er wußte, daß Toporkow nicht warten würde, bis die anderen an Bord zurückgekehrt waren, sondern sofort zum Flugzeug gehen würde. Der Kommandant war sich der ungeheuren Verantwortung bewußt, die er auf sich lud, indem er das Raumschiff von jeglicher Besatzung entblößte.

Auf einem fremden Planeten kann alles mögliche geschehen.

Doch er brachte es nicht fertig, anders zu handeln.

Wäre es nicht um Melnikow gegangen, hätte Konstantin Jewgenjewitsch vielleicht Besonnenheit gewahrt. Keiner außer Kamow wußte, wie sehr sich der wortkarge, rauhbeinige Wissenschaftler mit seinem jungen Freund verbunden fühlte. Melnikow stand Belopolski nahe wie ein leiblicher Sohn.

Während Belopolski in regelmäßigen Zeitabständen über Funk das verschollene Flugzeug rief, beobachtete er am Bildschirm, was im Fjord vor sich ging. Gleichzeitig behielt er den Zeiger des Ionometers im Auge.

Aber die Gewitterfronten, die den Männern soviel Kummer bereitet hatten, schienen sich verabredet zu haben, die Insel zu meiden. Das günstige Flugwetter hielt an.

Durch Nebelschwaden hindurch sah Belopolski verschwommen Toporkows Boot durch den Fjord fahren, während das andere Boot dem Raumschiff zusteuerte. Seine Weisung war befolgt worden. Die fünf Genossen, die das Flugzeug montiert hatten, kehrten zurück. Romanow und Knjasew würden, nachdem sie Toporkow beim Start geholfen hatten, auf dessen Boot zurückfahren.

Belopolski sah, wie eine winzige Gestalt im Flugzeug verschwand, das sich augenblicklich in Bewegung setzte, mit zunehmender Geschwindigkeit übers Wasser glitt und in die Luft stieg. Von Herzen dankbar, dachte er an den unerschrockenen Piloten, der kühn den Gefahren entgegenstürmte, um Boris und seinen Begleiter zu retten. Weit vorgebeugt, folgte sein Blick der Maschine, bis sie sich in einen kaum wahrnehmbaren Punkt verwandelt hatte und inmitten des bleigrauen Himmels verschwand.

Es könnte sein, daß auch er nicht wiederkommt! durchfuhr es den Kommandanten. — Was für ein entsetzlicher Gedanke!

Vielleicht quälten ihn die Einsamkeit und das Bewußtsein, daß in den nächsten zwanzig Minuten niemand die Kabine betreten würde? Vielleicht verlangte die stundenlange nervliche Belastung eine Entspannung? Vielleicht taten auch die Jahre das Ihrige?… Belopolski ließ plötzlich den grauen Kopf auf die Arme sinken und weinte.

Was würden die Kameraden sagen, wenn sie in diesem Augenblick ihren Kommandanten sähen, den sie den Eisernen nannten?

Im Lautsprecher meldete sich eine Stimme. Ruckartig richtete Belopolski sich auf.

Eine Anfrage von Toporkow? … Nein, es war nicht Toporkows Stimme …

„Raumschiff! Raumschiff! Hier spricht Melnikow! Hier spricht Melnikow! Antwortet!“ Fassungslos ob des überraschenden Glücks schaltete Belopolski den Sender ein.

„Ich höre, Boris, ich höre! Wo bist du?“

„Unsere Maschine liegt vor einer unbekannten Küste, westlich von euch. Eine Blitzeinwirkung hat die Triebwerke zerstört.

Bei der Landung sind wir auf eine Sandbank aufgelaufen, wobei die Schwimmer abbrachen. Wtorow und ich haben keine Verletzungen. Durch den Aufprall war der Generator unserer Funkanlage unbrauchbar geworden, wir haben ihn soeben repariert. Mit eigener Kraft können wir die Maschine nicht bewegen.“

„Toporkow ist mit dem zweiten Flugzeug gestartet, um euch zu suchen. Nehmt mit ihm Verbindung auf, und zwar auf eurer Welle. Reichen Luft und Lebensmittel?“

„Ich habe mitgehört“, schaltete sich Toporkow selber ein.

„Boris Nikolajewitsch! Geben Sie mir Funkorientierungssignal!“

„Es hat keinen Zweck, mit dem Flugzeug zu kommen“, antwortete Melnikow.„Kehren Sie um! Konstantin Jewgenjewitsch, lassen Sie Igor Dmitrijewitsch sofort umkehren. Wenn Sie es für möglich halten, schicken Sie uns das Unterseeboot.“

„Was heißt ›Wenn Sie es für möglich halten‹?“ Belopolski war entrüstet. „Wir sind bereit, alles zu tun, um euch zu retten.

Aber habt ihr genug Sauerstoff?“

„Er reicht noch für vierzehn Stunden. Und ungefähr zwei Stunden können wir noch länger aushalten, wenn wir den Sauerstoff aus den Behältern der Gasmasken benutzen. Ich bin der Meinung, daß nur mit dem Unterseeboot…“ Jäh brach Melnikows Rede ab. Aufgeregt rief Belopolski ihn, aber vergebens. Die Verunglückten antworteten nicht mehr.

„Am westlichen Horizont steht wieder eine mächtige Gewitterfront“, meldete Toporkow.

„Kehren Sie sofort zurück! Brauchen Sie Funkorientierung?“

„Nein, ich sehe die Insel noch.“ Balandin trat ein. Der Professor sah erschöpft aus. Als er hereinkam, hörte er, wie der Kommandant Romanow und Knjasew die Weisung gab, sie sollten am Hangar Toporkow erwarten.

„Kommt das Flugzeug schon zurück? … So schnell?“ Nach Balandin traten Korzewski, Paitschadse, Andrejew und Saizew ein.

Belopolski schilderte den Genossen sein überraschendes Gespräch mit Melnikow. Dabei schaltete er die Sprechanlage ein, damit Romanow und Knjasew mithören konnten.

Die freudige Botschaft machte allen neuen Mut.

„Wird das Boot aus der Bucht auslaufen können?“ fragte Balandin besorgt.

„Das werden wir sofort feststellen“, antwortete Belopolski.

„Sascha!“ rief er. Den jungen Mechaniker nannten alle beim Vornamen.

„Ich höre“, antwortete Knjasew.

„Sobald die Maschine wieder im Hangar steht, fahren Sie zum Ausgang der Bucht und stellen fest, ob das Unterseeboot von hier aus in See stechen kann. Messen Sie die Tiefe.“

„Zu Befehl!“

„Wenn es aber nicht geht?“ fragte Korzewski.

„Dann sprengen wir die Felsen, die die Ausfahrt versperren“, antwortete Belopolski energisch, so wie ihn alle kannten. Von der Schwäche, die ihn soeben noch übermannt hatte, war nichts mehr zu spüren. „Mit dem Boot werden Sinowi Serapionowitsch und Konstantin Wassiljewitsch fahren.“

„Dann bitte ich die beiden Genossen mitzukommen“, sagte Andrejew. „Wie lange wird es dauern, bis das Boot seeklar ist?“

„Wenn wir keine Felsen sprengen müssen, anderthalb Stunden.“

„Das genügt, um sich etwas zu erholen. Kommen Sie, Stanislaw Kasimirowitsch! Wir werden uns bemühen, die U-BootFahrer wieder in einen normalen Zustand zu versetzen.“ Korzewski, Balandin und Saizew gingen mit Andrejew hinaus.

Toporkow landete glatt, und kaum stand das Flugzeug im Hangar, da fuhr das Motorboot schon zum Ausgang der Bucht.

Eine Fahrrinne für das Unterseeboot wurde gefunden und vermessen.

Kaum war das Boot zum Schiff zurückgekehrt, da regnete es wieder in Strömen. Dieselbe Gewitterfront, die Toporkow per Sprechfunk angekündigt hatte, belagerte die Insel. Aber keiner stellte die Arbeit ein. Das Unterseeboot wurde im Innern des Raumschiffes mit allem Notwendigen ausgerüstet. Durch bittere Erfahrung belehrt, richteten sich die Sternfahrer auf die ärgsten Unglücksfälle ein. Es wurde ein doppelter Lebensmittelvorrat für fünf Personen, berechnet auf eine Woche, verladen, desgleichen ein dreifacher Satz Sauerstoffbehälter und zusätzliche Akkumulatoren; sorgfältig wurden die Mechanismen und die Funkanlage geprüft. Auch Taucher- und Kühlanzüge wurden nicht vergessen. Toporkow stellte sein Ionometer auf das Zentrale Steuerpult.

Die Männer beeilten sich, aber jede Anlage, jedes Teil wurde dreifach geprüft.

Das Unterseeboot, das man eigens für die Fahrt auf der Venus gebaut hatte, war nicht groß — acht Meter lang und zweieinhalb Meter im Durchmesser. Der Rumpf bestand aus Plasteguß, der hart wie Stahl und durchsichtig wie Glas war. Mit vier mächtigen Scheinwerfern konnte die ganze Umgebung des Bootes beleuchtet werden. Zwei Schrauben, die von Elektromotoren getrieben wurden, konnten ihm eine Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern verleihen. Fast alle Teile der Ausrüstung waren aus Plaste gefertigt, was das Fahrzeug leicht und wendig machte. Die Errungenschaften der Plaste-Industrie, die sich in den letzten Jahren stürmisch entwickelt hatte, waren die Voraussetzung dafür, daß dieses Wunderwerk der Technik entstehen konnte.

Sobald das Gewitter abgezogen war, wurde die Funkverbindung mit dem gestrandeten Flugzeug wiederaufgenommen. Melnikow präzisierte die Angaben über die Lage des neuentdeckten Festlandes. Es befand sich seiner Berechnung nach hundertfünfzig Kilometer südwestlich der Insel. Sein Ufer erstreckte sich von Horizont zu Horizont, so daß das Unterseeboot es gewiß nicht verfehlen konnte. ’ „Meiner Meinung nach ist es ein Festland“, erklärte Boris Nikolajewitsch. „Es könnte nichts schaden, wenn Sinowi Serapionowitsch auf dem Wege hierher das Ufer nördlich und südlich von uns näher untersuchte. Wir müssen genau feststellen, ob dies ein Festland oder eine Insel ist. Wir können mit bloßem Auge Wald sehen, und er besteht nicht aus Korallen.“

„In welchem Zustand befindet sich das Flugzeug?“ fragte Belopolski.

„Die Schwimmer sind abgebrochen, die Flügel weg. Ich fürchte, es ist völlig fluguntüchtig geworden.“

„Danach frage ich nicht. In welchem Zustand ist der Rumpf, in dem Sie sich aufhalten?“

„Er sackt allmählich ab. Wird anscheinend von dem sandigen Grund aufgesogen, und die Regengüsse tun das Ihrige.“

„Und da empfehlen Sie Balandin, er soll sich das Ufer ansehen!“ Melnikows Kaltblütigkeit begeisterte alle Besatzungsmitglieder.

Zwei Stunden später lag das Unterseeboot seeklar vor der hinteren Luftschleuse.

Balandin und Saizew kamen. Ein belebendes Sauerstoffbad, eine Stunde künstlicher Schlaf und Massage hatten sie erstaunlich verändert. Dank der helfenden Hand der Schiffsärzte war ihnen keine Spur von Müdigkeit anzumerken. Sie fühlten sich gekräftigt und energiegeladen.

„Sie fahren ohne Umwege zu Melnikow und Wtorow“, befahl ihnen Belopolski. „Halten Sie sich nirgends auf — was Ihnen unterwegs auch begegnen mag. Falls Boris Nikolajewitsch Ihnen nahelegt, Sie sollten sich mit irgendwelchen Untersuchungen abgeben, so verbiete ich, auf ihn zu hören.“

„Wer wird denn jetzt an Forschungsarbeit denken?“ staunte Balandin.

Die anderen schilderten ihm Melnikows Unterhaltung mit Belopolski. Der Professor schüttelte nur mit dem Kopf.

Die Befürchtung, es könne bald ein längeres Gewitter aufziehen, trieb die U-Boot-Fahrer zur Eile. Sie mußten wenigstens das Riff, das die Ausfahrt aus der Bucht verengte, bei klarem Wetter umschiffen. Wenn sie erst auf hoher See waren, konnten sie tauchen und brauchten die Unwetter nicht mehr zu fürchten.

Eine sorgfältig gezeichnete Karte von der Fahrrinne des Fjordes wurde Saizew übergeben.

Die Kosmonauten waren nun beinahe völlig beruhigt. An der Stabilität des Unterseebootes war nicht zu zweifeln. Es würde die hundertfünfzig Kilometer lange Strecke innerhalb von drei Stunden zurücklegen und sich unterwegs nach den Funksignalen des Flugzeuges orientieren. Selbst wenn man auf unvorhergesehene Hindernisse stoßen sollte, deren Überwindung drei Stunden zusätzlich kostete, würden Melnikow und Wtorow rechtzeitig aus dem Flugzeugwrack gerettet werden.

Auf Belopolskis Anfrage hin war ihm berichtet worden, der Rumpf sinke in der Stunde fünf bis sechs Zentimeter, aber das Wasser könne nicht in die hermetisch verschlossene Kabine eindringen.

Die außerordentliche Erschöpfung der Besatzung forderte nun mit Macht ihr Recht. Nachdem das Unterseeboot abgelegt hatte, suchten alle außer Belopolski und Toporkow ihre Kabinen auf, um sich auszuruhen: Im Schiff trat völlige Stille ein.

„Legen Sie sich auch ein bißchen aufs Ohr“, sagte Belopolski zu Toporkow. „Ich wecke Sie in drei Stunden.“

„Und Sie?“

„Ich bin nicht so müde wie die anderen.“ Eintönig summten im Lautsprecher die Orientierungssignale.

Von Zeit zu Zeit wechselte Belopolski einige Worte mit Melnikow oder mit Balandin, wenn nicht gerade Gewitter die Verbindung störten.

Vorerst verlief alles glatt. Das Boot näherte sich auf dem vorgesehenen Kurs seinem Ziel.

Das Unterseeboot hatte die gewundene Fahrrinne zwischen den Klippen hinter sich gelassen und wurde von der Dünung erfaßt. Je weiter es sich vom Ufer entfernte, desto mehr schlingerte das leichte Gefährt. Bald wurde es auf den Kamm einer Meereswoge hinaufgetragen, bald stürzte es wieder in die Tiefe.

Die Besatzung konnte sich, solange das Ufer nahe war, noch nicht zum Tauchen entschließen, weil sie fürchtete, auf ein Korallenriff zu stoßen. Erst als das Echolot große Tiefe anzeigte, öffnete Saizew, der am Steuerpult saß, die Tauchtanks.

Das Boot schlüpfte unter die Wasseroberfläche. Das trübe Tageslicht der Venus, an das die Männer sich schon gewöhnt hatten, wurde von undurchdringlicher Finsternis abgelöst. In einer Tiefe von zehn Metern hörte das Schlingern völlig auf.

Ein Scheinwerfer wurde eingeschaltet. Ein mächtiger Lichtstrahl bohrte sich in das Wasserdickicht vor ihnen. Durch die Plastewand hindurch waren huschende Schatten zu sehen, die spurlos verschwanden, sobald sich das Boot ihnen näherte.

„Das sind ganz bestimmt Fische!“ stieß Balandin erregt hervor. „Wenn wir doch wenigstens einen von nahem sehen könnten!“

„Maschinen stop!“ rief er, als er im Scheinwerferlicht ganz nahe einen langgestreckten Körper vorüberhuschen sah.

„Lassen wir uns durch nichts ablenken“, empfahl Saizew.

„Wenn es Seetiere sind, werden sie nachher auch noch da sein, und wir können sie auf der Rückfahrt genauer ansehen. Jetzt gibt es für uns nur eine Aufgabe: Wtorow und Melnikow retten.

Wir wissen nicht, was uns noch erwartet. Am besten erfüllen wir gewissenhaft unseren Auftrag. Wir dürfen uns unterwegs nicht aufhalten.“

„Sie haben recht, Konstantin Wassiljewitsch“, antwortete der Professor beschämt. „Ich war unbesonnen, entschuldigen Sie.

Geben Sie volle Fahrt voraus.“

„Dazu ist es noch zu früh.“ Kaum hatte das Unterseeboot die Südspitze der Koralleninsel umschifft, als auf dem Bildschirm des Lokators ein Nebelstreif auftauchte. Saizew legte das Ruder herum. Der Bug schwenkte mehr nach Westen. Der Streif auf dem Bildschirm wurde schmaler und durchsichtiger. Als er sich in einen dünnen Strich verwandelt hatte, der grünlich fluoreszierte, wurden die beiden Motoren auf äußerste Fahrt gebracht. Wie ein Pfeil schoß das Boot seinem Ziel entgegen.

Auf der Erde leitet das Wasser die Funksignale in der Regel schlechter als die Luft. Auf der Venus verhält es sich anders. Die Ionisation im Bereich der Gewitterfronten, die jeden Funkverkehr unterbricht, wirkt sich auf die Leitfähigkeit des Ozeans nicht aus. Daher hatte Melnikow auf Toporkows Anweisung die Antenne seines Flugzeuges ins Wasser getaucht, und die Orientierungssignale waren, wenn auch abgeschwächt, ständig auf dem Bildschirm des Bootes zu sehen. Das gleichzeitig ausgestrahlte akustische Orientierungssignal war dagegen kaum zu hören und verstummte zeitweilig vollends.

Der Bootskörper erwärmte sich allmählich durch die hohe Geschwindigkeit, aber Saizew fuhr deswegen nicht langsamer.

Die Lokationsgeräte teilten beruhigend mit, daß keine Hindernisse voraus waren.

Das Fahrtempo machte es unmöglich, backbord oder steuerbord noch etwas zu erkennen. Professor Balandin war eigentlich froh darüber. Es fiel ihm schwer, achtlos an der Meereswelt der Venus vorüberzufahren, in die der Mensch zum erstenmal eingedrungen war. Wenn er nach vorn spähte, sah er, wie sich weit voraus am Ende des Lichtkorridors, den der Scheinwerfer erzeugte, manchmal etwas bewegte. Gestalten ließen sich nicht erkennen, aber es waren bestimmt Lebewesen; sie verschwanden augenblicklich wieder in der unbeleuchteten tiefen See. Durch die Bordwände spürte man geradezu, daß sich in dem finsteren Wasser etwas regte. Verschwommene Schatten kamen so nahe heran, daß ihre Umrisse beinahe zu erkennen waren. Verschiedenfarbige Punkte flammten auf und erloschen wieder.

Mühsam unterdrückte Balandin den Wunsch, alle Scheinwerfer einzuschalten und das Wasser ringsum zu beleuchten. Er durfte der Versuchung nicht nachgeben und sich von der Erfüllung des vordringlichen Auftrages nicht ablenken lassen.

Nach der Rettung der verunglückten Genossen würde Zeit genug sein, alles zu beobachten. Jetzt gab es nur eins: vorwärts!

Nichts als vorwärts!

An der mehrmaligen Unterbrechung der Funkverbindung mit dem Raumschiff merkten die U-Boot-Fahrer, daß ein Gewitter nach dem anderen über dem Ozean tobte. Sie beeinträchtigten aber nicht die Stille im tiefen Wasser.

Die erste Stunde war vergangen. Fünfzig Kilometer hatte das Boot bereits zurückgelegt. Die grüne Linie auf dem Bildschirm wurde allmählich immer klarer. Das Millimeterband des Radarprojektors zeigte an, daß seine Suchstrahlen noch nirgends auf Land gestoßen waren. Das Boot raste mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.

Gespannt beobachteten Balandin und Saizew die vom Scheinwerfer beleuchtete Wasserwüste. Es war nicht ausgeschlossen, daß sie auf Hindernisse stießen, vor denen der Lokator sie nicht warnte. Beispielsweise auf Schlinggewächse, die für die Funkwellen sozusagen durchsichtig waren und sie deshalb nicht zurückwarfen. Wer konnte wissen, welche Überraschungen der fremde Planet dem Menschen noch zu bieten hatte?

Balandins Gedanken kamen nicht los von den Rätseln der Venus. Er mußte darüber sprechen.

„Die Venus“, sagte er, „hat längst das Stadium der ursprünglichen Entstehung des Lebens durchlaufen. Ebenso wie auf der Erde hat sich dabei das Leben auch hier im Meer entwickelt.

Die Teilung der Organismen in Pflanzen- und Tierreich ist abgeschlossen. Wir dürfen mit Recht annehmen, daß die Pflanzen bereits an Land gestiegen sind und sich den widrigen klimatischen Bedingungen angepaßt haben. Aber haben die Tiere ein Gleiches getan? Oder leben sie noch im Wasser? In Anbetracht der Länge von Tag und Nacht sowie der hohen Tagestemperatur auf dem Land neige ich zu der Auffassung, daß die Tiere im Ozean geblieben sind, wo sie gleichmäßigere Lebensbedingungen finden. Aber das Lineal, das wir gefunden haben, widerlegt eine derartige Folgerung. Ach, dieses vermaledeite Lineal!

Es läßt mir keine Ruhe. Es birgt das Geheimnis des Lebens auf der Venus, und solange dieses Geheimnis nicht gelüftet ist, können wir nichts als feststehend betrachten, so einleuchtend es auch erscheinen mag.“

„Sie lehnen also entschieden die Theorie ab, daß hier ein anderes Raumschiff gelandet ist?“ fragte Saizew.

Balandin maß ihn mit einem seltsamen Blick.

„Sagen Sie, Konstantin Wassiljewitsch“, fragte er nach kurzem Schweigen, „gehören zu Ihren Geräten auf dem Schiff Holzlineale?“

„Natürlich nicht!“

„Sie benutzen also vollkommenere Meßgeräte?“

„Selbstverständlich.“

„Weshalb sollen wir also annehmen, Astronauten eines anderen Planeten, deren Technik keinesfalls auf einem niedrigeren Stand als unsere sein könnte, benutzten solch ein primitives und ungenaues Meßgerät?“

„Wahrhaftig — ein richtiger Gedanke!“ sagte Saizew erstaunt.

„Warum hat bloß keiner beachtet, daß dieses Lineal ja äußerst primitiv ist?“

„Ich finde diesen Gedanken auch richtig. Übrigens hat ihn Arsen Georgijewitsch zuerst geäußert, und Sie selber haben ihn darauf gebracht.“

„Ich? Nicht daß ich wüßte…“

„Nicht direkt! Als wir heute das Flugzeug montierten, machten Sie zu Paitschadse eine Bemerkung, als der den Durchmesser einer Öffnung mit einem Lineal maß. Mit einem genauen Lineal, das aus Metall, nicht aus Holz gefertigt war. Sie sagten zu ihm, daß es für solche Zwecke doch einen Stangenzirkel gäbe.“

„Das stimmt.“ Saizew schmunzelte. „So war es.“

„Und darauf sagte Paitschadse zu mir, das Lineal habe allem Anschein nach niemand auf die Venus mitgebracht. Es sei hier hergestellt worden, von einem ›Menschen‹, einem Geschöpf also, das Vernunft besitzt, obwohl es uns vielleicht nicht ähnelt. Vernunft aber, die mathematischer Erkenntnis fähig sei, stelle eine sehr hohe Entwicklungsstufe in der Evolution der Materie dar.

Doch wo sind Spuren vom Wirken dieser Vernunft? Außer diesem einen Lineal sind keine zu finden.“

„Wir werden sie finden!“

„Ganz recht — sie müssen gefunden werden. Wie ich schon gesagt habe, liegt darin das Geheimnis des Lebens auf der Venus.“

Ein zweites Rätsel

Mit leichter Schlagseite und zur Hälfte im Wasser versunken, lag das Flugzeug sechzig Meter vom Ufer entfernt. Richtiger gesagt, nicht das Flugzeug, sondern sein Rumpf.

Als es aufklarte, schoben Melnikow und Wtorow das Plastedach auseinander und atmeten durch ihre Gasmasken die Außenluft. Das war sparsamer, als den kostbaren Sauerstoffvorrat aufzubrauchen, der so lange wie möglich aufgehoben werden mußte. Es blieb ungewiß, wann ihnen die anderen zu Hilfe eilen würden. Das Unterseeboot hatte auf seiner Fahrt zwar vorläufig nirgends Aufenthalt gehabt, aber keiner konnte sich dafür verbürgen, daß dies auch weiterhin so bleiben würde.

Jeden Augenblick konnte es auf unerwartete Hindernisse stoßen.

Eine Sandbank, von weitem nicht zu erkennen, hatte den beiden Fliegern das Leben gerettet. Die Schwimmer waren im letzten Augenblick auf die Sandbank aufgelaufen, als scheinbar nichts mehr den verhängnisvollen Zusammenstoß mit den Felsen verhindern konnte, die von drei Seiten die schmale Bucht um’ gaben.

Alles war innerhalb weniger Sekunden geschehen.

Die beiden Astronauten hatten schon Abschied vom Leben genommen, als sie ein schrecklicher Stoß gegen die Vorderwand der Kabine schleuderte. Melnikow schnitt sich die Stirn am Steuer auf, Wtorow schlug gegen die Instrumententafel, und der zersplitternde Helm zerschnitt ihm Kinn und Wangen.

Mit blutüberströmten Gesichtern standen sie wieder auf und verstanden immer noch nicht, was vor sich gegangen war. Sie wußten nur, daß sie lebten.

Nachdem sie sich gegenseitig verbunden hatten, hielten sie Umschau.

Regungslos lag das Flugzeug auf einer Sandbank im ruhigen Wasser der Bucht. Die Schwimmer hatten sich tief in den Sand gebohrt, und dadurch hatte sich die Maschine trotz des plötzlichen Abbremsens nicht überschlagen können. Das Schwimmergestänge war gebrochen, die Steuerung zerschellt, alle Trossen gerissen.

Die Felsen ringsum schienen aus Granit zu sein. Dunst, der vom Wasser aufstieg, verdeckte die Einzelheiten, aber die Astronauten sahen deutlich Gras oder etwas Grasähnliches, das gelbbraun gefärbt war und an den Steilhängen wuchs. Ein Stück weiter ins Land hinein erhoben sich die Wipfel von Bäumen, von richtigen Bäumen, keinen Korallen. Sie hatten Zweige und Blätter und wiegten sich im Wind. Die hohen Uferfelsen machten es unmöglich, Form und Farbe der Stämme zu erkennen.

„So schnell wie möglich mit dem Schiff Verbindung aufnehmen“, sagte Melnikow. „Mit eigener Kraft kommen wir hier nicht heraus.“ Schweigend wies Wtorow auf das Funkgerät.

Es bot einen traurigen Anblick. Zerschlagen glitzerten die Scheiben der Apparaturen, zerrissen hingen die Drähte heraus.

Bei näherer Untersuchung stellte Melnikow fest, daß der Generator sich losgerissen hatte und nicht mehr funktionierte.

Melnikows Miene verdüsterte sich.

„Ich bin kein Funker“, sagte er. „Sie auch nicht. Aber wenn wir die Funkverbindung nicht wiederherstellen, sind wir erledigt. Der Sauerstoff reicht nur noch für vierundzwanzig Stunden.“

„Der Kommandant wird das andere Flugzeug ausschicken, um uns zu suchen.“

„Es muß erst montiert werden, und das kostet viel Zeit.“ Melnikow verstummte und setzte erst nach geraumer Weile leise hinzu: „Auch wissen sie dort nicht, wohin wir geflogen sind.“ Wtorow entsann sich. Er hatte selbst an das Schiff gefunkt, daß ihr Flugzeug Kurs Süd nähme, um einem Gewitter auszuweichen. Daß sie später nach Westen abgedreht hatten, konnte nicht mehr gemeldet werden. Wo würden die Männer vom Raumschiff sie also suchen? Natürlich südlich von der Insel.

Das ist der Tod! dachte Wtorow niedergeschlagen.

„Also ist alles aus?“ fragte er so ruhig wie möglich, aber seine Stimme zitterte verräterisch.

„Warum so voreilige Schlüsse ziehen? Wir werden kämpfen!

Geben Sie mir den Ersatzteilkasten für das Funkgerät!“

„Sie glauben…“

„Wir haben nichts zu glauben. Wenn wir das Sendegerät nicht reparieren, bedeutet das unser Ende. Also müssen wir es um jeden Preis reparieren. Darauf kommt es an!“

„Wir werden es versuchen“, sagte Wtorow. Die Worte und vor allem der Ton, in dem Boris Nikolajewitsch sprach, gaben ihm neue Hoffnung. Ohne Zeit zu verlieren, begannen sie zu arbeiten.

Ein Gewitter, das aufzog, störte sie nicht. Durch das massive Plastedach geschützt, wechselten sie bei elektrischem Lampenlicht die zerstörten Teile der Funkanlage aus. Sie brauchten nur mechanisch die neuen Teile an dieselbe Stelle zu setzen, von der sie die beschädigten entfernten, und äußerst behutsam die zerrissenen Leitungen wieder zu flicken. Verwechselten sie dabei einen Draht mit einem anderen, wäre ihre ganze Arbeit umsonst.

Dankbar dachten sie an Toporkows Unterricht in Funktechnik, an dem auf Belopolskis Weisung alle Besatzungsmitglieder von „SSSR-KS 3“ hatten teilnehmen müssen. Ohne diese kluge Voraussicht des Expeditionsleiters hätten sie nicht einmal jene allgemeine Vorstellung von der Arbeitsweise eines Senders und eines Empfängers gehabt, die ihnen jetzt unschätzbaren Dienst erwies.

Sie nahmen gar nicht wahr, daß ein Gewitter nach dem anderen über das Flugzeug hinwegzog, und wunderten sich sehr, als sie entdeckten, daß seit Beginn ihrer Arbeit bereits neun Stunden vergangen waren.

Die Funkanlage war repariert. Aber würde sie funktionieren?

Minutenlang zögerten sie mit dem Einschalten.

Die beiden Männer wußten genau, daß ein Mißerfolg für sie den Tod bedeutete. Wenn ihnen in dem kompliziert verflochtenen Schaltschema ein Fehler unterlaufen war, würden sie nicht in der Lage sein, ihn aufzuspüren und zu beseitigen.

Die Genossen werden bestimmt alles daransetzen, uns zu finden, dachte Melnikow. — Sie haben wahrscheinlich inzwischen das zweite Flugzeug montiert. Ein paar Stunden werden sie uns südlich der Insel suchen. Erst wenn sich erweist, daß wir dort nicht sind, werden sie in andere Himmelsrichtungen fliegen.

Vielleicht entdecken sie dann dieses Festland und schließlich auch uns? Aber wieviel Zeit werden sie dazu brauchen? Unsere Luft reicht noch für fünfzehn, sechzehn Stunden. Und selbst wenn sie uns entdeckt haben, kann das Flugzeug in der schmalen Bucht nicht wassern. Es wird umkehren und dann erst das Unterseeboot hierher auslaufen müssen. Das dauert abermals mindestens fünf Stunden. Wenn wir nicht zu zweit wären — einer allein konnte es dreißig Stunden aushalten. Ich muß Wtorow retten, er ist jünger als ich …

Nicht ganz so ausführlich und besonnen, aber ähnlich dachte im selben Augenblick auch Wtorow.

Es ist eine arithmetische Rechnung, sagte er sich im stillen. — Boris Nikolajewitschs Leben ist wertvoller als meins. Wenn das Funkgerät nicht funktioniert, nehme ich mir das Leben. Die Pistole steckt in der Tasche.

Sie sahen einander lächelnd an — mit der gleichen Absicht, die eigenen Gedanken vor dem andern zu verbergen.

„Also — versuchen wir es!“ sagte Melnikow.

„Das Zögern führt zu nichts.“ Als sich der Generator mit einem trockenen Knacken einschaltete, schloß Wtorow unwillkürlich die Augen. Tanjas Gestalt stand ihm so klar vor Augen, daß er glaubte, ihren warmen Atem auf seiner Wange zu spüren. Seine Hand schob sich in die Tasche der Kombination und befühlte den kalten Stahl der Schußwaffe.

„Ich höre, Boris, ich höre! Wo bist du?“ Die Stimme Belopolskis … Warum antwortet er sofort? Hat Melnikow denn etwas gesagt? — Wtorow schlug die Augen auf.

Boris Nikolajewitschs ruhige Stimme klang in der Kabine des gestrandeten Flugzeugs wie ein Aufruf zum Leben.

Langsam, als traute er seinen Ohren nicht, zog Wtorow die Hand aus der Tasche.

Ihm wurde schwindlig. Er hätte am liebsten mit voller Brust die reine Meeresluft eingeatmet. Aber draußen war ja keine reine Luft, sondern die gasgeschwängerte des unbekannten Planeten.

„Ich glaube, daß nur das Unterseeboot…“ Das Lämpchen am Indikator erlosch, der Satz brach ab. Eine Gewitterfront, die sich zwischen sie und die Insel schob, zerriß die Funkverbindung.

„Ich habe offengestanden bezweifelt, daß es uns gelingt“, sagte Melnikow. „Ich dachte, wir würden es nicht fertigbringen, den Sender instand zu setzen.“

„Ich auch“, antwortete Wtorow leise.

Melnikow sah ihm ins bleiche Gesicht und zuckte zusammen.

Das war doch nicht möglich!

Wahrhaftig! Wtorow hatte für ihn zweifellos das gleiche tun wollen wie er für Wtorow. Melnikow packte das unwiderstehliche Verlangen, diesen Prachtjungen mit dem reinen Herzen zu umarmen. Er tat es nicht. Wtorow brauchte nie zu erfahren, was in ihm vor sich ging.

„Sieh nur, Gennadi!“ Er duzte ihn, ohne sich dessen bewußt zu sein. „Unsere Maschine hat keine Tragflächen mehr.“ Tatsächlich waren beide Tragflächen, anscheinend unter der Last der Regengüsse, abgebrochen und verschwunden. Wann dies geschehen war und warum sie das Gepolter und das Knakken des brechenden Metalls nicht gehört hatten, wußte sich weder der eine noch der andere zu erklären.

„Ich habe den Eindruck, das Flugzeug ist tiefer ins Wasser gesunken“, sagte Wtorow.

Er wunderte sich nicht im geringsten darüber, daß Melnikow plötzlich so freundschaftlich mit ihm redete. Er fand es natürlich, daß der Kommandant als der Ältere ihn beim Vornamen nannte. Bloß warum hatte er das früher nicht getan?

„Ich habe nicht nur den Eindruck“, erwiderte Melnikow, „ich bin davon überzeugt. Der Sand saugt den Rumpf in sich hinein.“ Er sagte das so selbstverständlich, daß Wtorow nicht wagte, die sich aufdrängende Frage zu stellen: Was wird geschehen, wenn das Flugzeug ganz im Wasser versinkt? Sie hatten kein Boot bei sich, um an Land zu fahren. Ihr Schlauchboot hatte in der einen Tragfläche gelegen und war mit ihr hinweggespült worden.

Nach zwei Stunden teilte Belopolski ihnen mit, daß das Unterseeboot ausgelaufen sei.

Die Stunden des Wartens zogen sich in die Länge.

Die Kabine sank langsam, aber unaufhaltsam tiefer. Das Wasser reichte schon bis zum Rand des Plastedaches. Oft zog Regen herauf, und die Wucht der Wassermassen drückte das Flugzeug noch tiefer in den Sand. Bald mußten die beiden Männer das Plastedach wieder schließen und statt der gefilterten Außenluft wieder mit Hilfe der Sauerstoffballons atmen, weil sonst das Wasser in die Kabine gedrungen wäre. Es stieg schon mehrere Zentimeter über die Bordwand.

„Schade, daß wir keine Taucheranzüge bei uns haben“, sagte Melnikow.

Sobald es aufklarte, betrachteten sie prüfend durch die Ferngläser das Ufer, das sie von drei Seiten umgab. Sie hatten zweifellos richtige Bäume, gigantische Vertreter der Pflanzenwelt, vor sich. Das Laub war hellorange gefärbt.

Ein heftiger Windstoß fegte durch die Bucht. Die Wasseroberfläche kräuselte sich, das Gras am Ufer wippte, stärker wiegten sich die Kronen der Bäume.

„Ein ganz anderes Bild als die Insellandschaft“, sagte Wtorow. „Dort herrscht Totenstille, hier regt sich Leben. Es fehlen bloß noch Vögel.“

„Sieh dir einmal das Laub an.“ Melnikow wies mit der Hand auf das Ufer. „Dort — etwas ganz Merkwürdiges! Wie können sich Blätter bei solchen Regengüssen halten?“

„Sie sind wahrscheinlich anders gebaut als die Baumblätter auf der Erde.“

„Sicherlich. Die müssen wir uns auch noch ganz genau ansehen.“ Ein kurzes, aber schweres Gewitter unterbrach die Unterhaltung. Beim Rauschen des Regens, beim Einschlagen der Blitze und beim Donner konnten sie einander nicht verstehen.

Brodelnder Schaum bedeckte die Kabine.

Als es wieder aufklarte, sahen sie, daß das Plastedach kaum noch aus dem Wasser ragte. Noch ein, zwei Gewitter, und die Wasser der Bucht würden über ihnen zusammenschlagen.

„Jetzt wird es Zeit, daß das Boot kommt“, meinte Wtorow.

„Es wird zur rechten Zeit da sein.“ Am Funkgerät flammte ein Lämpchen auf. Toporkow meldete sich.

„Wie ist die Lage?“ Melnikow kam seinem Genossen zuvor, der schon antworten wollte.

„Keine besonderen Veränderungen“, sagte er hastig.

„Und das Absacken?“

„Verläuft normal. Keine ernsten Gefahren.“

„Ich habe schon lange keine Verbindung mehr mit dem U-Boot“, sagte Toporkow. „Wo steht es?“

„Fünfzig Kilometer von hier.“ Man hörte Igor Dmitrijewitsch tief atmen.

„Wir machen uns große Sorgen um euch.“

„Dazu haben Sie nicht den geringsten Grund.“ Abermals brach die Verbindung ab. Der Funkverkehr auf der Venus gestaltete sich äußerst launisch.

„Warum machen Sie den Genossen etwas vor?“ fragte Wtorow. „Wäre es nicht besser, die Wahrheit zu sagen?“ Melnikow blickte Wtorow schweigend an, als studiere er sein Gesicht.

„Ich weiß aus eigener Erfahrung“, sagte er langsam, „daß es bedeutend schwerer fällt, einen Kameraden in Not zu wissen, als selbst in Not zu sein. Die Genossen an Bord können außer dem, was sie bereits unternommen haben, nichts für uns tun.

Was soll ich ihnen sagen? Daß das Boot frühestens in einer Stunde hier sein kann, wissen sie selber. Daß wir endgültig ins Wasser absinken werden, wenn noch zwei Platzregen kommen, und es dann bedeutend schwieriger sein wird, uns zu finden?

Daß jedes neue Gewitter ebensolange anhalten kann wie jenes, dem wir unsere jetzige Lage verdanken?“ Er versank in ein längeres Schweigen. Dann erklärte er ruhig: „Die Wahrheit ist immer gut, aber um die Freunde nicht zu beunruhigen, muß sie manchmal geopfert werden. Sie sollen ruhig denken, bei uns sei die Lage unverändert.“

„Sie halten unsere Rettung noch für fraglich?“ Melnikow lächelte.

„Du kennst selber den ›lieblichen‹ Charakter der Venus. Bevor wir nicht im Boot sitzen, bin ich von nichts überzeugt. Immerhin haben wir jetzt unvergleichlich mehr Chancen als vor der Instandsetzung des Funkgerätes. Aber auch da war noch kein Grund zum Verzweifeln.“

„Aber wenn wir nicht hätten funken können?“

„Dann wäre unsere Lage ernst geworden.“ Die letzte Stunde des Wartens zog sich besonders in die Länge.

Balandin teilte mit, daß der Radarprojektor fünfzehn Kilometer voraus festes Land anzeige. Das konnte nur jenes Land sein, vor dem das Flugzeug lag. Das Boot hielt geraden Kurs darauf.

Noch zwanzig Minuten vergingen, in denen über der Bucht kein Regen niederging; und das Boot kam schon ganz nahe. Das Funkorientierungssignal wurde abgestellt, es wurde nicht mehr gebraucht.

„Jetzt wird uns also die Chance gegeben, von der Sie gesprochen haben“, sagte Wtorow vergnügt.

Ohne zu antworten, beugte Melnikow stell hastig zum Mikrofon vor.

„Sinowi Serapionowitsch!“

„Ich höre.“.

„Tauchen Sie nicht auf! Legen Sie sich auf Grund! Ein mächtiges Gewitter zieht auf!“ Über die Wipfel des Waldes schob sich immer höher und schneller eine breite schwarze Wand. An den vielen Blitzen und an dem lauter werdenden Gepolter des Donners erkannte Wtorow, daß dies kein kurzes, sondern ein langes Unwetter war.

Die Enden des Wasservorhanges verbargen sich in nebliger Ferne.

„Halte die Ohren steif, Gennadi!“ sagte Melnikow. „Das wird die letzte und schwerste Prüfung.“ Vierzig Minuten wüteten ringsum die entfesselten Naturgewalten. Die zwei Männer im Flugzeug sahen über sich nur weißen Schaum. Gedämpft drangen die Donnerschläge zu ihnen.

Das konnte nur daran liegen, daß die Kabine unter die Wasseroberfläche abgesunken war.

Für Melnikow und Wtorow stand es daher fest, daß sie nach diesem Gewitter den Himmel nicht mehr erblicken würden.

Aber nachdem die Gewitterfront endlich abgezogen war, nahmen sie zu ihrer großen Verwunderung keine Veränderung ihrer Lage wahr. Das Wasser stand ebenso hoch wie vorher.

Vierzig Minuten hatten die Wassermassen auf die Kabine getrommelt, aber sie war keinen Zentimeter tiefer gesunken.

„Wie ist das zu erklären?“ fragte Wtorow verdutzt.

„Wahrscheinlich liegen wir jetzt auf festem Grund.“ Das war die einzige und anscheinend auch richtige Erklärung.

Nun drohte ihnen keine Gefahr mehr, und sie konnten in Ruhe noch ein paar Stunden warten, solange die Sauerstoffvorräte reichten. Aber das erübrigte sich, das Boot lag schon ganz in ihrer Nähe.

„Sie haben recht gehabt, Boris Nikolajewitsch“, sagte Wtorow. „Wenn wir die Wahrheit gesagt hätten, wären alle unnötig in Sorge gewesen.“

„Merke es dir!“ erwiderte Melnikow. „Oberster Grundsatz: Bevor du an dich denkst, denke immer an die anderen! — Das kannst du immer brauchen und ist bei Raumfahrten Gesetz.

Folge diesem Gesetz, und du wirst nie einen Fehler machen.“

„Ich werde Ihre Worte nicht vergessen“, sagte der junge Ingenieur tief bewegt.

Nach wenigen Minuten hatte das Warten ein Ende.

Nicht weit von ihnen wurde plötzlich das Wasser aufgewühlt, und der durchsichtige Rücken des Unterseebootes hob sich aus den Fluten. Man konnte nur staunen, wie geschickt Saizew das Boot durch den völlig unbekannten Ozean der Venus gesteuert und sich dabei nur nach den Funkorientierungssignalen gerichtet hatte.

Das Luk wurde geöffnet, und den Gasschutzhelm auf dem Kopf, beugte sich Professor Balandin heraus. „Genossen ihr seid ja schon untergegangen!“ sagte er über das Sprechfunkgerät.

„Wir holen euch sofort an Bord.“

„Sie können sich Zeit lassen“, antwortete Melnikow. „Die Kabine sinkt nicht tiefer.“ Saizew, der auch herauskam, begrüßte die Freunde lebhaft winkend.

„Wenn ihr noch tiefer gesunken wäret oder wenn Wellengang gewesen wäre, hätten wir euch gar nicht bemerkt.“ Weil alle das Nahen eines neuen Gewitters befürchteten, wurde schleunigst ein Schlauchboot ausgebracht, und Saizew ruderte zu dem Wrack.

Der Ingenieur trug eine wasserdichte Kombination ohne Kühlvorrichtung und hatte daher das Gefühl, er säße vor einem Hochofen. Die auf achtzig Grad erhitzte Luft, die durch den Filter der Gasmaske strömte, versengte ihm schier das Gesicht und erschwerte das Atmen.

Ohne sich zu besinnen, sprang Saizew ins Wasser, suchte tastend die Strebe de «Stabilisators und befestigte daran eine Trosse.

„Anziehen!“ rief er, während er wieder ins Boot kletterte und zur Seite fuhr.

Die anderthalbtausend Pferdekräfte, die in den beiden Motoren steckten, zogen das Flugzeug mühelos aus dem sandigen Grab. Es schnellte nach einigen Sekunden an die Oberfläche und wurde längsseit an das Unterseeboot gezogen.

„Herzlich willkommen!“ rief Balandin scherzend und umarmte die Geretteten.

„Sie haben Ihre Aufgabe glänzend gelöst“, sagte Melnikow, „ich danke Ihnen!“ Als erstes wurde die Meldung an das Raumschiff gefunkt, daß die Rettungsaktion geglückt sei. Alle freuten sich, daß die Funkverbindung zustande kam.

„Was sollen wir mit dem Flugzeug machen?“ fragte Melnikow.

„Kann es nicht an Land gebracht werden?“

„Unmöglich. Ringsum sind Felsen, die beinahe senkrecht ins Meer abfallen!“

„Also müssen Sie es liegenlassen.“ Die Männer nützten die Pause bis zum nächsten Gewitter und räumten das Wrack restlos aus. Der nächste Regen würde die leere Kabine mit dem offenen Dach versenken.

„Schade um die Maschine!“ sagte Melnikow. „Aber es ist nicht zu ändern.“

„Wollen wir nicht einmal an Land gehen?“ schlug Wtorow vor.

„Das ist an dieser Stelle gefährlich. Die Felsen sind zu steil.

Wir werden versuchen, eine Stelle zu finden, an der wir, falls ein Gewitter aufzieht, ins Boot flüchten können.“

„Wir müssen sofort zum Schiff zurückfahren“, erklärte Balandin auf einmal. „Sie sind verwundet.“

„Ach, nichts weiter als Schrammen“, entgegnete Melnikow.

„Wir denken schon gar nicht mehr dran.“ Der Professor wollte nicht nachgeben. Nur mit Mühe und Not gelang es Melnikow und Wtorow, ihn zu überreden, daß er Belopolski nichts von den tatsächlich unbedeutenden Verletzungen der beiden meldete. Balandin gab sich erst dann zufrieden, als er sie untersucht und die dilettantischen Verbände durch sachgemäße ersetzt hatte.

„Konstantin Jewgenjewitsch wird mir das übelnehmen“, sagte er nachdenklich.

„Das verantworte ich.“ Melnikow beruhigte ihn. „Warum sollen wir Zeit vergeuden. Wir liegen vor einem unbekannten Land und müssen es erforschen.“ Es wurde beschlossen, an der Küste entlangzufahren und festzustellen, ob dies eine Insel oder ein Festland sei. Belopolski riet ihnen, Kurs Nord zu halten. Seiner Meinung nach war die „SSSR-KS 2“ damals nördlicher geflogen und der von ihr gesichtete Fluß mußte ebendort gesucht werden.

„Wenn Sie einen Fluß entdecken“, sagte er, „haben Sie den Beweis, daß das Melnikow-Land ein Kontinent ist.“

„Melnikow-Land“ hatte er gesagt.

Aufgetaucht, lief das Boot aus der Bucht aus und ging auf Kurs Nord.

Das Ufer zog sich beiderseits bis zum Horizont. Soweit das Auge reichte, war es dicht bestanden mit einem Wald gigantischer orangeroter Bäume. Stellenweise reichte der Wald bis dicht an das Wasser heran, stellenweise trat er weiter zurück und bildete Lichtungen, auf denen gelbes und braunes Gras wuchs. Zu Füßen der Bäume breitete sich undurchdringliches Dickicht. Ob dies Sträucher oder junge Bäume der gleichen Art waren, ließ sich nicht bestimmen.

Aus Vorsicht wurde das Boot in zweihundert, dreihundert Meter Entfernung von der Küste gehalten. Dort herrschte schon ziemlich starker Wellengang, und das Schlingern störte beim Beobachten, aber damit mußte man sich abfinden. Saizew fürchtete, er könnte sonst auf eine Sandbank laufen.

Wenn Gewitter kamen, tauchte das Boot mit gestoppten Maschinen und wartete ab. Diese Viertelstunden benutzten die Männer, um die Flora und Fauna unter Wasser zu studieren.

Aber sie war äußerst kärglich. Das Scheinwerferlicht fiel nur auf rötliche Algen und grellrote Moose, die jeden Vorsprung überzogen, sowie auf zahlreiche Steine, die auf dem sandigen Grund lagen. Weder Fische noch Mollusken waren zu entdecken.

Gab es hier tatsächlich keine, oder hatten sie sich nur verzogen, als das Boot erschien und das Scheinwerferlicht aufflammte? Wer konnte diese Frage beantworten?

„Wir haben aber doch mit eigenen Augen im Ozean Lebewesen gesehen …?“ Balandin konnte es nicht fassen.

„Ganz so war es wohl doch nicht“, stellte Saizew berichtigend fest „Wir haben keine gesehen, sondern glaubten, welche zu sehen. Vielleicht waren es gar keine Tiere, sondern schwimmende Pflanzen.“ Der Professor war mit dieser Auslegung nicht einverstanden.

„Haben Sie vergessen, daß diese vermeintlichen Pflanzen, sobald sie angeleuchtet wurden, ins Dunkle flüchteten, was hingegen für Tiere, die an Finsternis gewöhnt sind, völlig natürlich ist?“ Wie dem auch sein mochte — vor dieser Küste ließen sich weder Tiere noch schwimmende Pflanzen blicken.

Stunde um Stunde fuhr das Unterseeboot gen Norden. Die Funkverbindung mit dem Raumschiff wurde nur durch Gewitter hin und wieder unterbrochen.

Der Landschaftscharakter änderte sich nicht. Schier endlos breitete sich der Wald, der stets gleich aussah, er verdeckte den ganzen westlichen Horizont. Das Ufer war gleichbleibend hoch und abschüssig. Dann und wann erhoben sich kleine Höhenzüge, auf denen ebenfalls Bäume wuchsen. Nicht die geringste Spur eines anderen, nichtpflanzlichen Lebens war zu entdecken.

Schon über vierundzwanzig Stunden hatte keiner der Sternfahrer ein Auge zugetan, aber so merkwürdig es auch war — nicht im Boot, sondern auf dem Raumschiff dachte man daran, daß die Tauchbootfahrer müde sein müßten. Es war Doktor Andrejew. Er verlangte kategorisch, sie sollten eine „Nachtruhe“ einlegen.

Melnikow unterstützte diese Forderung. Bereitwillig erklärten sich alle einverstanden. Das Boot tauchte und legte sich auf Grund.

Erst jetzt fühlten alle, wie körperlich und seelisch erschöpft sie waren. Sie schliefen neun Stunden ohne Unterbrechung. Dann tauchten sie erholt und mit frischen Kräften auf und fuhren weiter.

Der Wald nahm immer noch kein Ende.

Unvermittelt machte das Ufer einen Knick und wandte sich nach Nordwesten. Fern am Horizont kam ein anderes Ufer in Sicht, das parallel zu verlaufen schien.

„Eine Bucht“, sagte Balandin. „Werden wir hineinfahren?“

„Selbstverständlich.“ Melnikow nickte.

Die Bucht schnitt scheinbar sehr tief ins Festland. Ihre Ufer waren sogar mit dem Fernglas nicht deutlich zu erkennen.

Das Boot fuhr am Südufer entlang. Mehrmals mußte eines Gewitters wegen gestoppt und auf Tauchstation gegangen werden.

„Vielleicht ist dies gar keine Bucht, sondern eine Meerenge?“ sagte Saizew.

„Es könnte sein,“ Melnikow betrachtete unverwandt das gegenüberliegende Ufer, das merklich näherrückte. „Maschinen stop!“ Die Motoren verstummten, sacht hob und senkte sich der Bug.

„Seht doch mal zum Ufer!“ Alle stellten fest’, daß das Boot nicht auf der Stelle liegenblieb, sondern langsam rückwärts getrieben wurde.

„Das ist keine Bucht und auch keine Meerenge, sondern ein Fluß“, verkündete Melnikow.

„Konstantin Jewgenjewitsch hat wie immer recht“, sagte Balandin. „Wir haben ein Festland vor uns.“

„Fahren wir doch weiter, stromaufwärts“, schlug Saizew vor.

„Das Ufer muß schließlich mal flacher werden, und dann können wir an Land gehen.“ Seine Vermutung erwies sich als richtig. Schon nach einer Stunde wurden die Ufer bedeutend niedriger und fielen nicht mehr so steil zum Wasser ab.

Nichts schwamm auf dem Wasser des Flusses. Nur manchmal trug die Strömung dem Boot Zweige entgegen.

Als sie fast vier Stunden stromaufwärts gefahren waren, übermittelten die Hydrographen ein fernes Dröhnen an das Steuerpult. Es klang so, als näherte das Boot sich einem Wasserfall.

Das Boot fuhr langsamer.

Die Ufer rückten immer näher zusammen. Der Fluß verengte sich, und die Strömung wurde reißender.

Ungefähr drei Kilometer fuhr das Boot noch vorsichtig weiter. Das Gedröhn wurde immer lauter. Schließlich erblickten die Männer seinen Ursprung.

Eine Barriere aus riesigen Felsblöcken versperrte den Fluß, der an dieser Stelle höchstens dreihundert Meter breit war.

Brüllend schoß das Wasser zwischen den Felsblöcken hindurch und tanzte in tausend schäumenden Strudeln. Sprühender Gischt verhüllte die nähere Umgebung mit Nebelschleiern.

„Gewöhnliche Stromschnellen“, murrte Melnikow.

Die Genossen hörten aus seinen Worten die Enttäuschung.

Was hatte er zu sehen gehofft?

„Damit ist unsere Flußfahrt zu Ende“, sagte Balandin. „Hier kommen wir mit unserem Boot nicht hindurch.“

„Ich finde, wir können gerade hier am besten an Land gehen.

Was meinen Sie dazu, Boris Nikolajewitsch?“ fragte Saizew.

„Ja, gerade hier“, antwortete Melnikow und betonte besonders das letzte Wort.

Er schien sehr unzufrieden zu sein.

Saizew steuerte auf das Nordufer zu, das bedeutend flacher als das Südufer war. Die Maschinen machten nur noch langsame Fahrt, so daß das Boot von der Strömung stark abgetrieben wurde.

Der Wald reichte fast bis an den Fluß, nur ein schmaler Wiesenhang trennte ihn vom Wasser.

„Zwei Mann gehen an Land“, sagte Melnikow. „Sinowi Serapionowitsch und ich. Den Filmapparat nehme ich selber mit“, setzte er hinzu, als er sah, daß Wtorow etwas einwenden wollte.

Gennadi Andrejewitsch seufzte nur tief. Zu seinem Kummer beherrschte der Stellvertretende Expeditionsleiter die Kunst des Filmens ausgezeichnet. Er mußte sich stillschweigend fügen.

Es gelang, das Boot dicht ans Ufer zu fahren. Für ein Schiff, das nicht mehr als anderthalb Meter Tiefgang hatte, bedeutete das keine Schwierigkeit.

„Behalten Sie das Barometer im Auge“, sagte Balandin. „Sobald es Ionisation anzeigt, warnen Sie uns sofort!“

„Machen Sie sich keine Sorgen! Wir verständigen Sie rechtzeitig. Aber entfernen Sie sich nicht so weit vom Boot.“ Durch das Doppelluk stiegen Balandin und Melnikow ins Freie. Das Ufer war so nahe, daß man mühelos hinüberspringen konnte. Bevor die Männer den Sprung wagten, sahen sie sich den Strand genau an.

„Scheint kein Schlamm zu sein“, sagte Melnikow. „Aber legen Sie mir für alle Fälle das Sicherungsseil an. Ich springe als erster.“

„Das wird am besten sein.“ Balandin nickte.

Melnikow sprang. Er versank bis zu den Knöcheln, und unter dem Gras hervor spritzte Wasser. Er trat schnell zur Seite und ging zu einer trockenen Stelle.

„Springen Sie, Professor!“

„Einen Augenblick!“ sagte auf einmal Wtorow über Sprechfunk. „Warten Sie doch, Boris Nikolajewitsch!“ sagte er vorwurfsvoll. „Wenn Sie schon meine Funktion übernehmen, dann üben Sie sie richtig aus. Filmen Sie Sinowi Serapionowitsch, wie er an Land springt!“

„Beruhige dich!“ erwiderte Melnikow. „Ich bin doch gerade deswegen als erster gesprungen.“ Er lachte im stillen, weil er in Wahrheit die Kamera auf seiner Brust ganz vergessen hatte, und beeilte sich, den heiligen Wunsch des Kameramannes der Expedition zu erfüllen.

Die gigantischen Bäume, deren Wipfel in den Himmel zu reichen schienen, waren nun so nahe, daß die Männer sie genau betrachten konnten.

Sie hatten nichts mit den Korallenbäumen gemein, die auf der Insel wuchsen! Es waren richtige Bäume, riesenhafte Vertreter der Pflanzenwelt. Die Stämme, die am Boden bis zu drei Meter Durchmesser hatten, waren von einer glatten rötlichen Rinde mit dunkelroten Flecken bedeckt. Die Äste trugen lange Blätter und setzten so hoch an, daß man nicht hinaufgelangen konnte. Zwischen den Bäumen wucherte orangefarbenes Gebüsch, das sich mit einem besonderen totenbleichen und mannshohen Gras verflocht. Die Zweige der Sträucher waren mit Dornen gespickt.

Den beiden Kosmonauten fiel sofort eine Eigenart dieser Bäume auf, die sie von den irdischen Arten unterschied. Während die Bäume auf der Erde, bildlich gesprochen, „auf einem Bein“ standen, besaßen die Bäume der Venus deren mehrere.

Fünf, sechs und bisweilen noch mehr Stämme vereinigten sich in einer Höhe von dreißig, vierzig Metern über dem Boden und verzweigten sich erst dann in größerer Höhe, wobei sie wunderliche Gewölbe bildeten.

„Einen solchen Baum kann kein Wirbelsturm entwurzeln“, sagte Melnikow sinnend. „Aber wir haben von der ›KS 2‹ aus doch schwimmende Bäume gesehen.“

„Vielleicht sind sie stromaufwärts nicht so grandios?“ Melnikow ging langsam auf die Stromschnellen zu.

Balandin merkte, daß sein Begleiter mit einem Gedanken rang, der ihm keine Ruhe ließ, und beschloß, ihn bei nächster Gelegenheit zu fragen.

Von der Stelle, an der das Boot festgemacht hatte, war es bis zu den Stromschnellen ein gutes Stück zu laufen. Der Professor glaubte, sie würden, falls es gewitterte, das Boot nicht so schnell erreichen, und sagte es Melnikow.

„Ich denke, wir würden es schaffen. Toporkows Barometer zeigt eine Viertelstunde vorher an, wenn ein Gewitter aufzieht.

Und falls wir es nicht schaffen…“ Melnikow wies mit der Hand auf den Wald, der ganz nahe war. „Schauen Sie sich an, wie dicht die Stamme beieinanderstehen. Sie bilden gemeinsam mit den Ästen ein undurchdringliches Dach. Meiner Meinung nach kann man sich unter ihnen vor den Wolkenbrüchen schützen.“

„Und wenn nicht?“ Melnikow blieb stehen und sah Balandin an.

„Wenn Sie das Risiko fürchten“, sagte er schroff, „dann kehren Sie an Bord zurück.“

„Mir scheint, ich habe Ihnen keine Veranlassung gegeben, mich für einen Feigling zu halten!“ Der Professor war beleidigt.

„Das habe ich nicht gesagt. Aber die Auffassung der Menschen vom Vernünftigen ist verschieden. Wir müssen demnächst den Wald gründlich untersuchen. Den Geländewagen können wir dazu nicht gebrauchen, wie Sie sehen. Also müssen wir zu Fuß in ihn eindringen. Einer muß als erster erproben, ob der Wald Schutz vor Gewittern bietet oder nicht. Ich will es tun.

Aber Sie haben wohl recht — ich sollte mich lieber allein der Gefahr aussetzen. Gehen Sie zurück!“

„Ich lasse Sie nicht allein“, sagte Balandin bestimmt.

„Nun — dann gehen wir weiter.“ Konstantin Jewgenjewitsch würde ein solches Experiment nicht billigen, dachte Balandin, während er Melnikow folgte.

Sie erreichten eine kleine Anhöhe, von der aus die Stromschnellen gut zu überblicken waren.

Stromaufwärts verbreiterte sich der Fluß wieder. Schier ins Unendliche erstreckte sich die öde Wasserwüste.

Melnikows Blick heftete sich auf das gegenüberliegende Ufer.

„Dort vorn am Ufer, an den ersten Steinen … sehen Sie dort nichts?“ Der Professor spähte in die angegebene Richtung. Er hatte nicht so scharfe Augen wie Melnikow. Trotzdem entdeckte er einen orangeroten Hügel, der vor dem dichten Wald schlecht zu erkennen war.

„Das ist sicherlich eine Gruppe von Büschen“, sagte er.

„Keinesfalls. Das ist ganz etwas anderes. Gehen wir an Bord zurück.“ Ohne auf Antwort zu warten, kehrte Melnikow um. Er hatte es sehr eilig.

Bestimmt wollte er ans andere Ufer fahren. Und tatsächlich, kaum waren die beiden wieder an Bord, da befahl Melnikow, noch ehe er durch das Luk geschlüpft war, Saizew solle auf die andere Seite des Flusses fahren.

Am südlichen Ufer wuchs ebenfalls Wald. Der mit gelbbraunem Gras bewachsene Uferstreif wirkte jedoch bedeutend breiter, und der Waldrand schien weiter vom Fluß entfernt zu sein. Alles war hier weiträumiger und völlig trocken. Der Hügel, den die beiden Männer vom anderen Ufer aus gesehen hatten, entpuppte sich von nahem als ein Haufen übereinandergestürzter Bäume.

Das waren aber nicht jene Giganten, aus denen der Wald bestand, sondern dünne gerade Stämme mit Ästen, an denen keine Blätter, sondern lange rote Dornen wuchsen.

„Damit hätte sich der Kreis meiner Beobachtungen denn geschlossen“, sagte Melnikow in einem Ton, der aufhorchen ließ.

Und erst in diesem Augenblick sah Balandin, was ihm zunächst nicht aufgefallen war.

Es war kaum zu glauben, verblüffend und einfach unerklärlich! Und doch war es kein Wunder, sondern reale Wirklichkeit.

Die Bäume lagen geordnet mit den Spitzen in einer Richtung.

Die Männer standen nicht vor einem Haufen Baumstämme, sondern vor einem Stapel. Auf der dem Fluß zugekehrten Seite stützten ihn in den Boden gerammte Pfähle aus unbehauenen, gewaltsam abgebrochenen Stämmen der gleichen Art.

Am Waldrand erblickte Balandin einen zweiten Stapel…

Orangefarbene Stämme. Sie waren bereits entästet.

Die Welt unter Wasser

Minuten vergingen, bis der Professor endlich wieder reden konnte.

„Was ist denn das?“ fragte er verdattert.

„Die Enträtselung der Herkunft des Lineals“, antwortete Melnikow. „Der endgültige Beweis, daß es auf der Venus vernunftbegabte Wesen gibt, die auf einer niederen Entwicklungsstufe zu stehen scheinen. Auf die Hypothese von dem unbekannten Raumschiff müssen wir nun verzichten.“

„Aber wo sind sie, diese vernünftigen Geschöpfe? Warum sehen wir sie nicht?“

„Weil wir überhaupt noch nichts gesehen haben. Sie müssen dort irgendwo sein.“ Melnikow wies auf den Wald. „Im Schutz dieser Baumriesen konnte sich Leben entwickeln, und wie wir sehen, hat es sich auch tatsächlich entwickelt. Hier werden wir die ›Menschen‹ der Venus, höchstwahrscheinlich Wilde, finden.“

„Wie kommen Sie auf den Gedanken?“ entgegnete Balandin.

„Das Lineal…“

„Was beweist es denn?“ unterbrach ihn Melnikow. „Die Fähigkeit zu linearer Einteilung finden wir schon bei den wildesten Stämmen Afrikas. Das ist noch keine Zivilisation. Sehen Sie sich lieber diese Stämme an. Sie sind ganz primitiv gefällt, die Zweige abgebrochen, nicht abgehackt worden. So arbeiten Geschöpfe, die Säge und Beil nicht kennen, aber über große Körperkraft verfügen.“

„Aber solch ein Lineal kann man doch nicht ohne Werkzeug machen!“ Der Professor gab sich nicht geschlagen.

„Die Australier stellten mit Steinmessern ein solch treffsicheres Wurfgerät wie das Bumerang her. Ein flaches Brett zu schneiden ist bedeutend einfacher.“

„Die Australier und Afrikaner besaßen aber keine Lineale.“

„Richtig! Doch wir sind nicht auf der Erde, sondern auf einem anderen Planeten. Man kann nicht mechanisch die Geschichte des Erdmenschen auf die Venus übertragen.“

„Anscheinend haben Sie sich eine bestimmte Meinung gebildet“, sagte Balandin, „und zwar schon, bevor wir von Bord gingen. Was hat Sie dazu bewogen?“

„Na, ganz so war es nicht“, antwortete Melnikow. „Zunächst hatte ich bloß erst meine Vermutungen. Ich kann meinen Gedankengang in wenigen Worten schildern. Als wir feststellten, daß wir auf einem Fluß und nicht auf einer Bucht fuhren, mußte ich an die im Wasser schwimmenden Bäume denken, die wir bei unserer vorigen Expedition gesichtet hatten. Warum waren sie jetzt verschwunden? Weder auf dem Fluß noch auf dem Ozean, in den der Fluß ja mündet und in den er die Bäume hinaustreiben müßte, sind welche zu entdecken. Ich vermutete daher, daß stromaufwärts ein Hindernis sein müsse, das die Stämme aufhält.“

„Völlig logisch“, bestätigte Balandin.

„Aber an solch einem Hindernis“, fuhr Melnikow fort, „hätte sich in mehreren tausend Jahren eine riesige Menge Baumstämme ansammeln müssen. Unter der Last immer neuer, stromabwärts treibender Stämme hätten sie im Wasser versinken und schon seit geraumer Zeit den Fluß aufstauen und unterbrechen müssen. Aber das war nicht geschehen. Ich habe mir einzureden versucht, daß wir nur zufällig keinen Stämmen begegnet waren.

Aber warum gab es ausgerechnet in der Mündung des Flusses keine, wo die Kraft der Strömung doch am geringsten ist?“

„Ja, das ist schwer zu verstehen.“

„Danach dachte ich zum erstenmal an ein künstliches Flößen von Holz. Ich verwarf die Vermutung zwar sogleich wieder, doch immer häufiger befiel mich dieser ›törichte‹ Gedanke.

Haben Sie die Zweige beachtet, die uns unterwegs begegnet sind? Sie schwammen nicht einzeln, sondern in Haufen. Als hätte jemand jeweils einen Armvoll in den Fluß geworfen.

Zweige trieben im Fluß, aber keine Stämme. Schließlich stand es für mich beinahe fest, daß wir ein künstliches Hindernis zu Gesicht bekommen würden, das die Bäume aufhält Als wir dann hier vor den Stromschnellen stoppten, schienen sich meine Erwartungen aber doch nicht zu erfüllen. Ich hielt die Felsen im Fluß zunächst für ein natürliches Hindernis.“

„Wirklich?“ Balandin blickte Melnikow verdutzt an.

„Ja, im ersten Augenblick. Dann fiel mir ein sonderbarer Umstand auf. Der Fluß ist in seiner ganzen Länge sehr breit. Die ›SSSR-KS 2‹ stieß damals ein wenig nördlich von hier auf ihn und verfolgte seinen Lauf noch weiter nach Norden. Bis zu den Bergen, wo er entspringt, verengt sich der Fluß nirgends so sehr wie an dieser Stelle. Einzig und allein hier treten die Ufer so dicht zusammen. Und gerade hier, wo auch jeder Ingenieur der Erde empfehlen würde, einen Staudamm zu bauen, steht dieses Wehr.“

„Das ließe sich auch anders erklären“, widersprach Balandin.

„Der Fluß kann in mehreren tausend Jahren viele Steine von den Bergen talwärts getragen haben. Und weil das Flußbett sich hier verengt, haben sie sich an dieser Stelle abgelagert.“

„Nehmen wir an, es verhält sich so“, antwortete Melnikow.

„Allerdings erscheint es kaum glaubhaft, daß die Strömung, selbst wenn sie noch so stark ist, solche Felsblöcke hierherbefördern konnte. Wir beide haben uns das Wehr von oben angesehen, vom Ufer aus. Ist Ihnen dabei nichts Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Eigentlich nicht. Es sind gewöhnliche Stromschnellen.“

„Da irren Sie sich, Sinowi Serapionowitsch! Diese Stromschnellen sind ganz ungewöhnlich. Kommen Sie, wir werden einmal auf diesen Stapel steigen und genauer hinschauen.“ Balandin maß den dichten Wald, der ganz nahe war, mit einem skeptischen Blick.

„Aber wenn nun die Besitzer des Holzes plötzlich erscheinen?“ sagte er.

„Ich würde sie brennend gern sehen. Aber sie werden sich nicht blicken lassen. Darüber habe ich mir schon meine Meinung gebildet. Ich werde es Ihnen nachher erläutern.“ Mühelos kletterten sie auf die fest gestapelten Stämme. Von oben konnten sie die Stromschnellen vortrefflich überblicken.

„Ich bin einfach blind gewesen“, stieß Balandin plötzlich hervor. „Das ist ja klarer als klar!“

„Sie haben es vorher nicht gemerkt, weil Ihnen der Gedanke daran fern lag. Ich war darauf vorbereitet und entdeckte es deshalb sofort.“ Ungestüm schossen die Wasser des Flusses zwischen den riesigen Steinen hindurch, die alle annähernd gleichgroß waren.

Damit nicht genug — Balandin sah, daß die Steine nicht kreuz und quer durcheinanderlagen, sondern in drei Reihen schachbrettartig angeordnet.

„Durch dieses Wehr schlüpft kein einziger Stamm hindurch“, stellte Melnikow fest. „Wir können dieses Hindernis nicht mehr Stromschnellen nennen. Es ist ein Wehr, ein sehr primitives zwar, aber doch ein Wehr, ein Bau, der ingenieurmäßig vorgeplant wurde. Es ergibt sich also folgendes Bild: Viele hundert Kilometer stromaufwärts besteht der Wald aus kleineren Bäumen einer anderen Art als derjenigen, die hier wächst. Deswegen werden die Bäume dort gefällt, mit der Flußströmung befördert und hier an Land gezogen und zu Brettern verarbeitet. All das, wohlgemerkt, mit bloßer Hand. Was für eine schwere und undankbare Arbeit wird dabei geleistet, bloß um Nutzholz zu gewinnen, von dem es hier auch jede Menge gibt. Aber die hiesigen Bäume sind zu groß, als daß sie von diesen unglücklichen Geschöpfen gefällt werden könnten.“

„Die Steine für das Wehr sind wahrscheinlich nicht vom Gebirge, sondern von der Küste geholt worden“, warf Balandin ein. „Aber mit welchen Mitteln hat man sie transportiert? Sie sind doch unwahrscheinlich schwer!“

„Und wie ist die Cheopspyramide erbaut worden? Auch beinahe mit bloßen Händen. Die Stromschnellen, richtiger — das Wehr ist vielleicht in Hunderten von Jahren entstanden. So, nun wollen wir wieder hinuntergehen, sonst überrascht uns noch ein Gewitter.“

„Sie versprachen, mir zu erläutern, warum die Bewohner des Waldes nicht hervorkommen würden“, sagte Balandin, während sie hinabstiegen.

„Es ist nur eine Vermutung, und zwar eine höchst fragwürdige. Ich habe mir überlegt, daß ein Tag und eine Nacht auf der Venus annähernd drei Wochen bei uns auf der Erde entsprechen. Also dauert ein Tag hier ungefähr zweihundertfünfzig Stunden und eine Nacht ebenso lange. Der Fluß mißt über zweitausend Kilometer in der Länge. Das Holz braucht sehr viel Zeit, um von der Quelle bis hierher zu treiben. Wir haben damals die schwimmenden Bäume entdeckt, als früher Morgen war. Jetzt ist Tag, und es sind keine zu sehen, oder besser noch nicht zu sehen. Sie schwimmen sicher irgendwo stromauf, noch ein Stück vor dem Wehr und werden erst gegen Abend hier eintreffen. Andererseits haben wir die Bewohner der Venus bisher kein einziges Mal gesehen. All das zusammen genommen, führt zu dem Schluß, daß die Venusleute bei Nacht arbeiten, wenn es nicht so heiß ist. Vielleicht sind sie überhaupt Geschöpfe, die nur bei Nacht lebendig werden und am Tage schlafen. Ich habe das Gefühl, diese Deutung könnte zutreffen“, schloß Melnikow.

Balandin überlegte.

„Es spricht einiges für Ihre Auffassung. Jetzt ist ungefähr Mittag und die Luft auf achtzig, neunzig Grad erhitzt. Es dürfte kaum anzunehmen sein, daß Lebewesen bei einer derartigen Hitze zu arbeiten vermögen. Sie haben wahrscheinlich in der Tiefe der Wälder Schutz gesucht, wo es kühler ist.“ Die Worte des Professors klangen zögernd. Melnikow bemerkte es.

„Sie scheinen nicht recht daran zu glauben?“

„Ich muß es glauben“, erwiderte Balandin. „Habe ich doch den Beweis vor Augen. Aber wenn ich offen sein soll — ich verstehe nicht, wie jemals Menschen auf der Venus entstehen konnten. Der Mensch erscheint als eine Schöpfung der Natur nicht sofort in vollendeter Gestalt. Er ist das Produkt der langen Entwicklung weniger vollkommener Organismen, die sich in Millionen und aber Millionen Jahren vollzieht. Das Leben hat in der Regel im Wasser seinen Ursprung und wechselt erst später aufs Land. Aber wie haben sich schwache und unentwickelte Geschöpfe hier auf dem Trockenen halten können?

Die klimatischen Bedingungen sind auf diesem Planeten sogar jetzt noch ungünstig. Früher waren sie noch schlechter. Und selbst wenn sich die Keime des Lebens dennoch auf dem Festland halten konnten — warum gibt es dann keine Tiere? Der Mensch oder ein ihm annähernd ähnliches Geschöpf kann nicht das einzige Lebewesen sein. Das widerspricht den Gesetzen der Biologie.“

„Ja…“ Melnikow nickte. „Was Sie sagen, überzeugt. Also wird uns hier ein zweites Rätsel aufgegeben. Die Schwierigkeiten wachsen von Stunde zu Stunde. Aber es wird Zeit, zum Raumschiff zurückzukehren. Unser Ausflug war äußerst ergebnisreich, und die Rätsel müssen wir alle gemeinsam lösen.“ Nach wie vor zeigten sich am Himmel keine Gewitterfronten, und die Männer konnten in aller Ruhe „Exponate“, Gesteinsproben und anderes sammeln. Balandin schnitt mit seinem Ultraschalldolch ein Stück von einem Baumstamm und mehrere Zweige mit Dornen ab.

„Es gilt zu ermitteln, wann die Stämme hier angelangt sind und wie lange sie im Wasser trieben“, sagte er. „Das wird uns helfen, festzustellen, ob unsere Vermutung stimmt oder nicht.“ Melnikow nahm mehrere Büschel Gras mit, gelbes, braunes und weißes. Außerdem wurden einige Zweige von einem Strauch und ein großes Stück Rinde von einem der gigantischen Bäume eingepackt.

Mit dieser Beute beladen, kehrten sie zu dem Unterseeboot zurück und trafen gerade in dem Augenblick ein, als Saizew meldete, die Luft weise zunehmende Ionisation auf.

Sobald alle an Bord gestiegen und die Luken hermetisch verschlossen waren, befahl Melnikow, abzulegen und zu tauchen.

Von Nordwesten her zog eine riesige Gewitterwolke herauf.

Die Prozedur der Einschleusung wurde bereits unter Wasser durchgeführt.

„Sie wollten doch ein Gewitter am Ufer abwarten…?“ Balandin konnte sich diese spöttische Bemerkung nicht versagen.

Melnikow antwortete nur mit einem Achselzucken.

Die Funkverbindung mit dem Schiff wurde hergestellt, als das Boot den Fluß schon hinter sich gelassen hatte und auf die hohe See hinausfuhr. Melnikow schilderte Belopolski ausführlich ihre Beobachtungen. Wie nicht anders zu erwarten, erregten die Neuigkeiten im Raumschiff großes Aufsehen. Die Fragen hagelten nur so. Die U-Boot-Fahrer hörten, wie Korzewski, dicht am Mikrofon stehend, um die Erlaubnis bat, nach Rückkehr des Bootes sogleich selbst zu den Stromschnellen fahren zu dürfen, und wie Belopolski antwortete: „Wir werden mit dem Raumschiff dorthin fliegen.“ Die Funkorientierungssignale erreichten die Männer im Boot sehr unregelmäßig. Trotzdem hielt Saizew einen geraden Kurs ein. Balandin und die anderen Genossen konnten nun, da besondere Eile nicht mehr geboten war, nach Herzenslust das Leben im Ozean beobachten. Sie fuhren sehr langsam und stoppten des öfteren.

Der Ozean der Venus wimmelte von Lebewesen. Über vierzig verschiedene Arten zählte der Professor. Viele von ihnen konnten fotografiert werden.

Voraus im hellen Scheinwerferlicht rührte sich nichts. Alle Lebewesen verließen schleunigst den Lichtkorridor. Aber achteraus und mittschiffs schwammen die Fische dicht an das Boot heran, weil sie offenbar von dem unbekannten bewegten Gegenstand angezogen wurden, den sie wohl für ein neues Tier hielten. Wenn plötzlich das Scheinwerferlicht aufflammte, erstarrten sie für einen Augenblick und verschwanden dann hastig ins Dunkel. In diesen Augenblicken konnten die Männer sie betrachten.

Die meisten Meeresbewohner glichen in ihrer Gestalt den Fischen der Erde.

„Darüber braucht man sich nicht zu wundern“, sagte Balandin. „In dem gleichartigen Milieu haben sich gleichartige oder fast gleichartige Organismen entwickeln müssen. Die Natur beschreitet stets den einfachsten Weg.“

„Warum fürchten sich diese Tiere so vor dem Licht?“ fragte Wtorow.

„Auch das ist zu verstehen. Es kann gar nicht anders sein“, antwortete der Professor. „Auf der Erde dringt das Sonnenlicht in das Wasser der Meere bis zu vierhundert Meter Tiefe ein.

Hier herrscht sogar unmittelbar an der Oberfläche fast völliges Dunkel. Die Sehorgane der Venusfische müssen bedeutend empfindlicher sein als die der Fische auf der Erde. Das Licht tut ihnen weh und erschreckt sie.“ Die Forscher entdeckten zahlreiche kleine schnelle Fische mit bläulichen Schuppen, nahe Verwandte der irdischen Weberfischchen. Matt phosphoreszierend jagten zwischen ihnen lange schmale Körper dahin, die Balandin auf der Erde als Myxine[6] klassifiziert hätte. Die Astronauten entdeckten mehrere Lebewesen, die den Rochen der Erde verblüffend glichen: Seeadler, deren Schwimmflossen Flügelgestalt besaßen und deren Schwanz dünn und lang war, sowie gleichsam zusammengeknüllte störähnliche Rochen. Einmal erblickten sie beim Aufflammen des Scheinwerferlichts unmittelbar vor sich ein stumpfes Maul, das Ebenbild eines gewöhnlichen Rundmaules — allerdings mit drei anstatt mit zwei Augen. Ein andermal starrte sie der häßliche, mit scharfen Zähnen bewehrte Kopf eines „Chauliods“ an, auch er mit drei Augen besetzt.

„Großartig, wie überlegt die Natur arbeitet!“ rief Balandin begeistert. „Auf der Erde und auf der Venus schafft sie einander ähnliche Wesen, die dem Leben im Wasser angepaßt sind.

Aber auf der Erde haben die Fische zwei Augen und hier, wo es bedeutend dunkler ist, gibt sie ihren Geschöpfen drei. Das ist einfach großartig!“ Neben Wasserbewohnern, deren Gestalt an entsprechende Arten der Erde erinnerte, entdeckten die Kosmonauten auch solche, die nichts mit irdischen Arten gemein hatten. Durchsichtig und kaum wahrnehmbar, schwammen seltsame Kugeln umher. Andere Fische wieder waren so flach, daß man sie nur von der Seite erkennen konnte. Ihr Körper schien nur aus einer Außenhaut zu bestehen. Oft stießen die Männer auf noch seltsamere Geschöpfe; sie erinnerten in ihrer Form an Gymnastikhanteln, und ihre Kugeln leuchteten verschiedenfarbig, blau und grün, grün und weiß, weiß und grellrot. Aus den Tiefen des Ozeans stiegen endlos lange, wunderliche Schlangen mit quadratischen Köpfen senkrecht auf. Wenn der Lichtstrahl sie erfaßte, ringelten sie sich augenblicklich zusammen und sanken wie ein Stein in die Tiefe.

Weit voraus, wohin das Scheinwerferlicht nicht mehr reichte, waren kurz aufflackernde, verschiedenfarbige Lichter zu sehen, aber es gelang nicht, ihnen näher zu kommen. Sogar wenn die Scheinwerfer abgeschaltet wurden, blieben sie dem Boot fern.

„Ich mußte einmal im Taucheranzug aussteigen“, erklärte Balandin.

„Das wird Ihnen niemand erlauben“, antwortete Melnikow.

„Wir haben diese leichten Anzüge nur mitgebracht, weil wir den Venusozean für unbewohnt hielten. Aber hier ist es zu gefährlich.“ Tatsächlich zeigten sich des öfteren ungeheuer große Fische, die offenbar zur Gattung der Raubfische gehörten. Ihre elastischen starken Leiber mit den riesigen Schwimmflossen schossen mit einer solchen Geschwindigkeit vorüber, daß keiner sie richtig ansehen konnte. Als einer dieser Fische das Boot streifte, schlingerte es dadurch eine ganze Weile sehr heftig. Über diesen Zusammenstoß verblüfft, verharrte der Fisch sekundenlang regungslos, so daß die Forscher seinen mit Reißzähnen gespickten Rachen und den fünf Meter langen Rumpf genau betrachten konnten, der wie beim Katzenhai gefleckt war.

„Wenn ein Taucher einem solchen Fisch begegnet, ist er erledigt“, sagte Saizew.

Der Meeresgrund hob sich dann und wann, und an diesen Stellen konnten die Männer auch die Bewohner des Meeresgrundes studieren. Im Gegensatz zu den Fischen flüchteten diese Lebewesen nicht, und man konnte sie, wenn das Boot stoppte, beobachten, solange man wollte.

Hier wuchsen unübersehbare Mengen von Aktinien, Korallenbüschen und verschiedenfarbigen Wasserpflanzen. Zwischen ihnen wimmelte es von Tieren.

Die Sternfahrer erblickten sonderbare phantastische Sterne, die aus mehreren, gleichsam miteinander verwachsenen Schlangen bestanden. Sie krochen auf dem Meeresgrund umher, wobei sie ihre sieben oder acht quadratischen Köpfe hin und her schüttelten. An den Seiten dieser Köpfe ragten lange Auswüchse hervor, und wie Laternen glommen verschiedenfarbige Lichter darauf. Überall bewegten sich pausenlos grellrote, schwarzgestreifte „Seile“, sie wanden sich hin und her.

„Das sind doch die ›Lianen‹, die mich gepackt haben, als wir den ersten Tag hier waren!“ sagte Wtorow.

„Ja, sie sehen ebenso aus“, bestätigte Balandin. Außer den „Lianen“ entdeckten sie auch die schon bekannten „Bänder“ wieder. Ihre spitzen Dornen wirkten wie lebend. An einigen hingen, frisch gefangen und wie an Bratspießen zappelnd, Fische.

„Wenn wir doch das Licht nicht einzuschalten brauchten!“ Der Professor seufzte. „Dann würden wir sehen, wie diese vermeintlichen Pflanzen jagen. Aber unser Scheinwerfer vertreibt das ganze Wild.“

„Wir haben doch den Radarschirm“, erinnerte Saizew.

„Ich fürchte, er wird wenig helfen.“

„Versuchen wir es trotzdem I“ Der Professor behielt recht. Als das Scheinwerferlicht erloschen war und blaßgrün das Rechteck des Schirms aufleuchtete, erblickten sie darauf nur verschwommene Schatten. Nichts war deutlich zu erkennen.

„Was wir brauchten, wäre kein Radargerät, sondern ein Ultraschallbildschirm“, sagte Saizew.

„Wer konnte voraussehen, daß wir dergleichen brauchen würden! Niemand hat geglaubt, daß es im Ozean der Venus Leben gibt.“ Es geschah zum erstenmal, daß der Expedition, die so sorgfältig und wohlüberlegt ausgerüstet worden war, ein Gerät fehlte.

Ob man wollte oder nicht — man mußte zu dem bisherigen Verfahren der Beobachtung zurückkehren.

Aufmerksam betrachteten die Männer kleine Eidechsen, die sich unter den Wasserpflanzen verborgen hielten. Sie besaßen entfernte Ähnlichkeit mit Hatterias, Brückenechsen — bloß, daß sie nicht grün, sondern blau waren —, mit Gekkos, Agamiden, gehörnten Phrini oder Schlangenköpfen.

„Tja, die Venus ist tatsächlich eine Schwester der Erde“, stellte Melnikow fest. „Wie sehr sich ihre Bewohner ähneln!“ An einer Stelle stießen sie auf eine riesige Ansammlung von gepanzerten Tieren, in denen sie sogleich Verwandte der irdischen Schildkröten erkannten. Sie waren verschieden groß; während einige einen Durchmesser von einigen Zentimetern aufwiesen, maßen andere zwei und drei Meter. Langsam bewegten sie sich auf vier äußerst langen Gliederfüßen vorwärts. Ihre Panzer waren verschieden getönt, vom Zartrosa bis zum Dunkelrot. Es sah so aus, als bewegten sich lebende kleine Gartenlauben, deren Dächer auf vier Pfosten stünden, auf dem Grund.

Die Schildkröten taten, als bemerkten sie das Unterseeboot gar nicht, das über ihnen hing, aber sie hüteten sich, ihre Köpfe zu zeigen.

Melnikow riet, einen Augenblick das Licht auszuschalten. Die List führte zum Erfolg. Als nach einigen Minuten der Scheinwerfer wieder aufflammte, konnten die Männer gerade noch die dreiäugigen Köpfe sehen, die sogleich wieder unter den Panzern verschwanden.

Nachdem die Sternfahrer dieses Manöver mehrmals wiederholt hatten, wußten sie, daß sich diejenigen Schildkröten, die keinen runden, sondern einen ellipsoiden Panzer trugen, anders benahmen als die übrigen. Beim Aufleuchten des Scheinwerfers konnte man feststellen, daß sie sich auf die Hinterbeine gestellt und das Boot offenbar im Dunkeln gemustert hatten. Sie erinnerten mit ihren langen Vorderbeinen, die wie Arme herabhingen, und mit ihren dreieckigen und dreiäugigen Schädeln entfernt an häßliche Affen. Sobald das Licht anging, fielen die sonderbaren Tiere wieder auf den Meeresgrund zurück, versteckten sich in ihren Panzern und glichen dann nur noch roten, regungslosen Hügeln. Kein einziges Mal erhob sich eines dieser Geschöpfe, wenn es hell war.

Ein zweites Mal wurde der Radarschirm eingeschaltet. Nachdem die Männer den Funkstrahl auf äußerste Schärfe eingestellt hatten, wurde das Bild ziemlich klar.

Die vier Männer erkannten deutlich, wie sich drei längliche Schatten bei Eintritt der Dunkelheit flugs erhoben. Die verschwommenen Konturen ihrer Schädel bewegten sich hin und her, neigten sich wie bei einer Unterhaltung zueinander. Ein langer Gliederarm hob und senkte sich wieder.

„Er hat auf uns gezeigt“, flüsterte Balandin aufgeregt. „Kein Tier ist einer derartigen Geste fähig.“

„Meiner Meinung nach war das bloß eine bedeutungslose Bewegung mit der Pfote“, entgegnete Saizew. „Sie übertreiben, Sinowi Serapionowitsch.“

„Sehen Sie genauer hin!“ Aber die Schildkröten machten keine Bewegung mehr, die man als Handbewegung hätte deuten können. Beinahe eine Stunde beobachteten die Astronauten diese Tiere, ohne das Licht einzuschalten. Ein vierter Schatten gesellte sich zu den dreien. Dann verschwanden alle vier.

Der Scheinwerfer flammte auf. Nirgends waren mehr ellipsoide Panzer zu sehen. Wie zuvor krochen behäbig die runden Lauben auf dem Grund dahin und schienen sich nicht um das Boot zu kümmern. Jedoch die seltsamen Geschöpfe, die auf den Hinterbeinen zu stehen verstanden, waren fort.

„Wo können sie sich versteckt haben?“ überlegte Balandin verständnislos. „Und warum sind sie geflüchtet? Da sie auf zwei Beinen laufen können, heißt das…“

„Woher wollen Sie wissen, daß sie gehen können?“ unterbrach ihn Saizew. „Wir haben sie stehen sehen, das stimmt, aber daraus kann man doch nicht…“

„Sie haben überhaupt keine Phantasie!“ Balandin ärgerte sich.

Saizew lachte. „Dafür haben Sie zuviel. Sogar erstaunlich viel für einen Wissenschaftler.“

„Diese Schildkröten müssen wir nach allen Regeln studieren“, sagte Melnikow. „Ich hatte auch den Eindruck, daß die eine auf das Boot sozusagen gezeigt hat.“

„Studieren! Aber wie sollen wir sie studieren, wenn sie nicht da sind?“

„Wir werden noch einmal hierher zurückkehren.“

„Wenn wir die Stelle wiederfinden“, bemerkte Balandin niedergeschlagen.

„Ich werde Sie jederzeit wieder hierherbringen. Was mir an Phantasie fehlt“ — Saizew schmunzelte —, „ersetzen die Navigationsinstrumente.“

„Nehmen Sie Kurs auf die Insel!“ warf Melnikow ein, als er merkte, daß der Professor ernstlich böse wurde. „Fürs erste genügt es. Konstantin Jewgenjewitsch ist sehr unzufrieden.“ Belopolski hatte tatsächlich schon mehrmals gefunkt, das Boot solle sich nicht länger unterwegs aufhalten. Es wurde im Raumschiff mit Ungeduld erwartet.

Saizew schaltete die Motoren auf äußerste Kraft voraus.

Nach anderthalb Stunden lief das Boot durch die Fahrrinne, die man nun schon kannte, in den Fjord ein und machte am Raumschiff fest. Belopolski, Paitschadse und Toporkow empfingen die Expedition an der Tür der Luftschleuse.

„Was ist denn mit Ihnen geschehen?“ fragte der Kommandant, als er sah, daß Melnikow und Wtorow den Kopf verbunden hatten. „Warum ist mir nicht gemeldet worden, daß die beiden verletzt sind?“

„Wir haben ja gar keine Wunden, sondern nur Schrammen“, antwortete Melnikow.

„Sofort ins Lazarett!“

„Es ist doch nichts Ernstes.“

„Das wird Stepan Arkadjewitsch entscheiden. Sinowi Serapionowitsch, ich muß mich sehr wundern! Wie konnten Sie das zulassen? Sie hatten die beiden sofort zum Schiff bringen müssen!“ Balandin wies mit dem Blick auf Melnikow und hob vielsagend die Schultern.

„Das Unterseeboot muß in den Hangar gebracht werden. Für den Fall, daß ein Gewitter aufzieht“, sagte Saizew.

„Das machen wir schon. Jetzt — ab ins Lazarett! Und dann wird geschlafen!“ Aber der Professor weigerte sich hartnäckig, seine Kajüte aufzusuchen. Er wollte vorher das Stück Holz und die Zweige untersuchen, die er von dem Stapel an den Stromschnellen mitgebracht hatte. Er wollte mit Andrejews und Korzewskis Hilfe feststellen, wann der Baum gefällt worden war und wie lange er im Fluß gelegen hatte. Die Errungenschaften der Botanik und der organischen Chemie sowie das Vorhandensein eines Elektronenmikroskops im Labor berechtigten zu der Hoffnung, daß man auf all diese Fragen eine Antwort finden würde.

„Voraussetzung ist allerdings, daß die Bäume der Venus in ihrem Bau denen der Erde verwandt sind“, sagte Balandin zu Belopolski. „Und ich glaube, daß dies der Fall ist.“

„Versprechen Sie mir, daß Sie mich wecken, sobald die Analyse fertig ist“, bat Melnikow. „Sonst bleibe ich hier und warte.“

„Geh schon, geh!“ Paitschadse drängte ihn zur Tür. „Wir wecken dich natürlich.“ Die Laboruntersuchung dauerte mehrere Stunden. Sobald sie beendet war, lud Belopolski alle in die Rote Ecke ein. Verständlicherweise ließ niemand auf sich warten.

„Das Holz, aus dem der Stamm besteht“, begann Balandin, „weist einige Besonderheiten auf, ist aber im allgemeinen dem der Bäume auf der Erde verwandt. Wir nehmen an, daß man mit großer Wahrscheinlichkeit sagen kann, der Baum ist vor über achthundert Stunden von der Wurzel getrennt worden. Der Zustand der Holzfasern an der Bruchstelle und im Innern führt zu einem derartigen Schluß.“

„Wieviel mehr Stunden als achthundert schätzen Sie?“ fragte Paitschadse.

„Stanislaw Kasimirowitsch nimmt an, es werden etwa achthundert bis achthundertfünfzig Stunden seit dem Fällen vergangen sein.“ Paitschadse wechselte einen Blick mit Belopolski.

„Warten Sie“, sagte er. „Ich werde gleich einmal rechnen.

Achthundertfünfzig. So! Das entspricht fünfunddreißig unserer Tage. Es müßte also, anders ausgedrückt, am 12. Juni geschehen sein.“

„Um Mitternacht“, sagte Belopolski.

„Wissen Sie etwa schon, wie lang ein Kalendertag auf der Venus ist?“ Balandin staunte.

„Ja. Gestern genau vierzehn Uhr einunddreißig war Mittag.“

„Wie haben Sie das ohne Sonne festgestellt?“

„Mit Hilfe von Fotografien. Arsen Georgijewitsch hat jeden Tag Infrarotaufnahmen des Himmels gemacht. Auf ihnen kann man deutlich die Stellung der Sonne erkennen und die Dauer eines Tages ablesen. Ein Venustag entspricht dreiundzwanzig Erdentagen. Auf diese Weise läßt sich ermitteln, daß der Baum ungefähr vor anderthalb Venustagen gegen Mitternacht umgebrochen worden ist.“

„Haben Sie auch feststellen können, wann er aus dem Wasser gezogen wurde?“ fragte Saizew nach längerem Schweigen.

„Das läßt sich nicht so genau bestimmen. Die Bäume, die am Ufer liegen, werden oft naß durch den Regen. Zum Glück ist das untersuchte Stück von einem Stamm geschnitten worden, der unten lag. Wir nehmen an, daß er mindestens acht, neun’Erdentage auf dem Trockenen gelegen hat.“

„Und der Fluß hat ihn einen ganzen Venustag auf seinem Rücken getragen?“

„Das leuchtet mir nicht ganz ein“, sagte Balandin. „Die Strömung fließt so schnell, daß ein Stamm nicht so lange brauchen kann, um das Wehr zu erreichen.“

„Meiner Meinung nach ist alles ziemlich klar“, erklärte Belopolski. „Boris Nikolajewitsch hat recht. Die Venusbewohner verlassen ihre Zufluchtsstätten selten und arbeiten nur nachts.

Die Bäume sind in der vorhergehenden Nacht gefällt und ins Wasser geworfen worden. Sie sind bei Tage stromabwärts getrieben und von dem eigens dazu bestimmten Wehr aufgehalten worden. In der nächsten Nacht hat man sie herausgeholt und gestapelt. Das ist vor Sonnenaufgang geschehen. Heute. Man darf annehmen, daß in der nächsten Nacht, die in fünf Erdentagen anbricht, das gestapelte Holz abtransportiert und an seiner Stelle anderes gestapelt werden wird.“

„Wenn sich alles tatsächlich so verhält“, sagte Korzewski, „dann müssen wir nachts hierherkommen, um die Venusbewohner zu sehen.“

„Das werden wir auch tun“, antwortete ihm Belopolski. „Unser Arbeitsprogramm verlangt, daß wir uns auf der Nachtseite des Planeten aufhalten. Sobald es Abend wird, fliegen wir zum Kontinent und landen in der Nähe der Stromschnellen.“

„Werden wir innerhalb von fünf Tagen eine Startbahn geschaffen haben?“ fragte Saizew. „Damit unser Raumschiff starten kann, müßten wir einen Teil der Korallenbäume an der Westküste vernichten und die Steilküste selbst erheblich abtragen.“

„Das erübrigt sich. Heute sind die ersten Anzeichen der nahenden Flut beobachtet worden. Gegen Abend wird der Wasserstand um achtzig Meter gestiegen, werden die Korallenbäume mehr als bis zur Hälfte überspült sein. Übrigens, Boris Nikolajewitsch, wird die Flut bis zu den Stromschnellen reichen?“

„Ich glaube kaum.“ Melnikow schüttelte den Kopf. „Sinowi Serapionowitsch und ich haben auf der Rückfahrt die Strömungsgeschwindigkeit und die Entfernung von der Seeküste gemessen.

Das Ergebnis beweist, daß das Wehr zweihundert Meter über dem Meeresspiegel liegt.“

„Und“ — wir werden am Flußufer landen können?“

„Auf dem südlichen Ufer bestimmt. Der Wiesen streifen zwischen Wald und Fluß genügt völlig.“

„Also wird das Schiff am 22. Juni, in fünf Tagen, die Insel verlassen“, sagte Belopolski. „Wir werden so nahe wie möglich an das Wehr heranfliegen. Hoffen wir, daß wir dort das Rätsel der vernunftbegabten Geschöpfe auf der Venus lösen.“

Der Flug zum Festland

In der zweiten Hälfte des langen Venustages erstarb das Leben am Ufer der Insel. Die „Aktinien“, die „Bänder“ und „Lianen“ schienen wie tot. Man konnte sie berühren, sooft man wollte, mit den Händen greifen und umbiegen — sie reagierten nicht.

Auch die längsten Regengusse erregten keine Bewegung bei ihnen.

„Der Vorgang der Anabiose ist auch auf der Erde oft zu beobachten“, erklärte Korzewski. „Allerdings hängt er dort von der Jahreszeit, hier jedoch von der Tageszeit ab. Viele Gewächse der Erde ersterben für die Dauer des Winters und feiern im Frühling Wiederauferstehung. Auch einige Tiere halten Winterschlaf. Auf der Venus aber ist der Tag die für Lebensprozesse ungünstige Zeit. Natürlich spielen hier auf der Insel Ebbe und Flut eine entscheidende Rolle. Die Meeresorganismen sind eingeschlafen, weil ihnen das Wasser fehlt. Auf dem Meeresgrund brodelt das Leben, wie wir gesehen haben, auch bei „Tage“. Die Inselbewohner haben sich an das besondere Leben auf einem Korallenriff, das bald im Wasser versinkt, bald wieder daraus emporsteigt, gewöhnt. Das ist sehr interessant, für einen Biologen tut sich hier ein weites Schaffensfeld auf.“ Er lächelte und rieb sich vor Freude die Hände.

„Leider werden wir nur anderthalb Monate auf der Venus bleiben“, entgegnete Balandin.

„Wir müssen darauf dringen, daß so schnell wie möglich eine zweite Expedition vorbereitet wird, und zwar für eine längere Zeit. Sie wollen das doch auch. Das Leben in den Meeren dieses Planeten ist für Sie doch ebenso interessant wie für mich.“

„Was kann man schon studieren, wenn man aus dem Boot nicht herauskommt?“ Der Professor seufzte tief.

Melnikows Vorhersage hatte sich bewahrheitet. Belopolski untersagte kategorisch, daß die Taucheranzüge benutzt würden.

Er ließ sie sogar wieder aus dem Boot ausladen und im Lagerraum verschließen, weil er Grund hatte zu befürchten, die Gelehrten würden im Eifer ihres Forscherdranges die Gefahr vergessen.

Der überraschende Tierreichtum im Ozean der Venus hatte den ganzen, von Balandin und Korzewski auf der Erde sorgfältig aufgestellten Arbeitsplan zunichte gemacht. Darauf war die Expedition nicht vorbereitet. Ihr fehlten die Mittel, Muster der Fauna und Flora des Meeresgrundes einzufangen. Das Unterseeboot war nicht mit Spezialfanggeräten ausgerüstet. Die leichten und bequemen Taucheranzüge, die vor allem für größte Bewegungsfreiheit gearbeitet waren, boten keinen Schutz gegen die Angriffe der gefährlichen Raubtiere, von deren Existenz man ebensowenig etwas geahnt hatte wie von der anderer hochorganisierter Organismen.

„Sie haben ja recht!“ sagte Balandin. „Aber wir sind da in eine dumme Lage geraten.“

„Und daran sind zum nicht geringen Teil Sie selbst schuld“, erklärte Belopolski. „Sie haben die Vorbereitungen für die Arbeit in der Tiefsee geleitet. Ich entsinne mich genau, daß die Konstrukteure vorschlugen, das Boot mit mechanischen Fanggeräten auszurüsten, aber Sie sagten, Sie brauchten keine. Wer — wenn nicht Sie — hat denn behauptet, daß es im Venusmeer kein organisches Leben gäbe? Es ist also kein Wunder, wenn beschlossen wurde, das Boot nicht mit einer überflüssigen Anlage zu belasten.“

„Ich habe mich auf die Taucheranzüge verlassen. Ich konnte nicht voraussehen, daß Sie uns verbieten würden, sie anzuziehen.“ Die Umstehenden lachten unwillkürlich.

„Was wollen Sie eigentlich?“ Belopolski wurde wütend. „Die Erlaubnis, einem Haifisch geradewegs in den Rachen zu steigen?“ So blieb Balandin und Korzewski infolge der Fehlentscheidung, die sie auf der Erde getroffen hatten, nichts anderes übrig, als sich damit zu begnügen, die Tiefsee der Venus durchs Schauglas des Unterseebootes zu beobachten.

Saizew hielt sein Versprechen und fuhr Balandin und Korzewski schon am Tage nach ihrer Rückkehr von den Stromschnellen wieder zu jener Stelle, an der sie den rätselhaften roten Schildkröten begegnet waren.

Aber diese ließen sich zum großen Kummer der Wissenschaftler nicht mehr blicken. Ungeheure Mengen von Schildkröten lagen und krochen auf dem Meeresgrund umher, nur ellipsoide Panzer waren nirgends zu entdecken. Sie waren spurlos verschwunden.

Diese besonderen Schildkröten fanden die Männer auch am zweiten und dritten Tage nicht.

„Wo sind die Tiere nur geblieben?“ fragte Balandin verständnislos. „Es waren doch mehrere von der Sorte zu sehen. Warum haben sie sich verzogen, während die anderen geblieben sind?“

„Wirklich schade!“ klagte Korzewski. „Ihren Schilderungen nach sind es ganz besondere Lebewesen.“

„Also — wieder ein Rätsel.“ Saizew seufzte.

Der Tag ging zur Neige. Am westlichen Horizont verglomm die unsichtbare Sonne. Die Flut stieg von Stunde zu Stunde.

Langsam schien die Koralleninsel in den Wellen zu versinken.

Der Laufsteg mußte an der unteren Luftschleuse neu installiert werden, dann wurde er ganz überflüssig, und schließlich brauchte man schon eine Treppe, um an Land zu gelangen. Am 21. Juli war die Insel vollends vom Meer verschlungen. Kaum ein Drittel der Korallenstämme ragte noch aus dem Wasser.

Das Motorboot konnte mühelos zwischen ihnen hin und her fahren.

Der Wind kam immer häufiger aus dem Osten. Von den Felsenklippen am Ausgang der Bucht nicht mehr geschützt, schlingerte das Raumschiff in der Dünung. Schließlich mußten die Fahrten mit dem Unterseeboot eingestellt werden. Es wurde gefährlich, von der Luftschleuse in das Boot hinüberzusteigen.

Außerdem nahm der Dunst über dem erhitzten Wasser so zu, daß das Boot, sobald es sich einige Meter vom Schiff entfernte, nicht mehr zu erkennen war.

Beim Abendessen teilte Belopolski mit, daß sie am nächsten Tag zum Kontinent fliegen würden.

„Um welche Zeit?“ fragte Toporkow hastig.

„Um zehn.“

„Können wir den Termin nicht auf halb eins verschieben?“ Konstantin Jewgenjewitsch zuckte verständnislos mit den Schultern. „Wir können. Aber warum? Bleibt es sich nicht gleich, ob wir um zehn oder um zwölf starten?“ Toporkow drehte nervös die Gabel in seiner Hand.

„Ich finde, es würde unserem Schiff, wenn es sowieso aufsteigt, nichts ausmachen, eine Weile über den Wolken zu fliegen.“

„Ich verstehe — Sie wollen einen Funkspruch an die Erde schicken. Die Wolken würden uns nicht daran hindern, wohl aber die ionisierte Schicht, die sich Ihren eigenen Berechnungen zufolge in einer Höhe von zweihundertfünfundvierzig Kilometern befindet.“ Alle am Tisch hatten aufgehört zu essen. Gespannt verfolgten sie die Unterhaltung. In den Blicken, die sich auf den Kommandanten richteten, waren Erregung, Hoffnung und inständiges Bitten zu lesen. Nur Melnikow hob den Kopf nicht. Er kannte Belopolski besser als die anderen.

„Aber könnten wir nicht höher steigen?“ fragte Toporkow.

Belopolski zog die Brauen zusammen.

„Wir könnten“, sagte er. „Aber ich darf das Raumschiff nicht grundlos der Gefahr des Absturzes aussetzen.“ Mit einem Ruck richtete Melnikow sich auf. Bleich sah er Belopolski an. Die gewohnte Selbstbeherrschung ließ ihn diesmal im Stich.

„Grundlos?“ stieß er scharf akzentuiert hervor. „Die Sorgen unserer Verwandten und Bekannten, ihre quälende Ungewißheit, ihre schlaflosen Nächte, ihr Kummer und ihre Verzweiflung — sind das keine Gründe?“ Es wurde still in der Kajüte. Alle schlugen die Augen nieder.

Belopolski schien nicht im geringsten gekränkt zu sein. Ruhig und ausgeglichen wie zuvor sagte er: „Ich trage vor unserem Land die Verantwortung für den Erfolg der Fahrt. Wenn das Schiff nicht zur Erde zurückkehrt, würden Verwandte und Bekannte sich noch viel mehr grämen. Wenn du schon jemand Egoismus vorwerfen willst, Boris, dann nicht mir.“ Das Abendessen endete in drückendem Schweigen.

Nachdem die ersten aufgestanden waren, wandte sich Belopolski, schon an der Tür stehend, an Saizew.

„Konstantin Wassiljewitsch“, sagte er so selbstverständlich wie möglich, „rechnen Sie aus, wieviel Treibstoff wir noch haben und wieviel wir brauchen würden, um eine Stunde in dreihundert Kilometer Höhe über den Wolken zu fliegen. Boris Nikolajewitsch wird Ihnen dabei helfen.“ Am nächsten Tag, dem 22. Juli, wurde die „SSSR-KS 3“ von den Motorbooten mit dem Bug nach Osten gedreht, damit die Kronen der Korallenbäume beim Start nicht störten, und zwölf Uhr zwanzig breitete sie die Tragflächen aus. Nachdem sie über anderthalb Kilometer auf dem Wasser dahingerast war, erhob sie sich in die Lüfte.

Belopolski und Melnikow saßen nebeneinander am Steuerpult. In weiten Spiralen stieg das Schiff immer höher. Über die kleine Unstimmigkeit vom vorhergehenden Tag fiel kein Wort, aber Konstantin Jewgenjewitsch sprach mit seinem Schüler besonders freundlich, und Melnikow bat, indem er jedes Wort des Kommandanten äußerst bereitwillig aufnahm, seiner Schroffheit wegen gleichsam um Entschuldigung. Kleinliche Eitelkeit, die jeder lebendigen Sache so abträglich ist, war beiden fremd.

Weit unter ihnen blieben die Wellen des Ozeans zurück, die düsteren Wolken, die Gewitterfronten und die zahllosen Blitze, die auf den Wellen tanzten. Über dem Raumschiff spannte sich das blaßblaue reine Himmelsgewölbe, in dem blendendhell und riesengroß die Sonne ruhte.

Sie stiegen noch höher. Immer mehr verdunkelte sich der Himmel. Seine Farbe ging allmählich in kräftiges Blau, dann in Dunkelblau und schließlich in Violett über.

In einer Höhe von achtzig Kilometern sackte das Schiff plötzlich ein Stück ab. Die verdünnte Luft bot seinen Tragflächen nicht mehr genügend Widerstand. Daraufhin wurden die beiden Haupttriebwerke eingeschaltet. Mit ihrer Hilfe stieg die „SSSR-KS 3“ weitere hundert Kilometer.

Der Himmel wurde beinahe schwarz, und auf seinem Grund funkelten die Sterne.

Nachdem auch das dritte und danach das vierte Triebwerk eingeschaltet waren, fuhr Melnikow die Tragflächen ein. Sie waren überflüssig geworden; das Düsenflugzeug hatte sich wieder in eine Rakete verwandelt.

Die ionisierte Schicht, die den Funkwellen den Weg verlegte, begann zweihundert Kilometer über der Oberfläche des Planeten und endete in zweihundertsechzig Kilometer Höhe.

Kaum zeigten die Geräte an, daß das Ziel erreicht war, da schaltete Toporkow schon den Sender ein. Die Richtantenne war bereits ausgefahren und auf die Erde eingestellt. Nach der Sonne und den Sternen hatte Paitschadse die genaue Richtung leicht ermitteln können.

Die Schiffsbesatzung war überzeugt, daß die Funkstation des Kosmischen Instituts täglich erwartungsvoll auf ihre Wellenlänge eingestellt war. Es konnte gar nicht anders sein.

Genau zwölf Uhr fünfundfünfzig Moskauer Zeit trat ein Funkspruch, der knapp, aber aufschlußreich über die Ereignisse auf der Venus berichtete, seinen langen Weg an.

„Wann könnte Antwort hier sein?“ fragte Melnikow.

„Als wir auf der Venus landeten“, antwortete Belopolski ausführlich wie immer, „betrug die Entfernung zwischen den beiden Planeten neunzig Millionen Kilometer. Seitdem sind zweihundertachtzig Stunden vergangen. Die Venus holt die Erde ein, und die Entfernung verringert sich. Zur Zeit sind es einundachtzig Millionen Kilometer. Die Funkwellen brauchen viereinhalb Minuten, um diese Entfernung einmal zurückzulegen.“

„Also wird die Antwort in neun Minuten hier eintreffen?“

„Rechne noch eine Minute fürs Lesen des Funkspruchs und eine weitere Minute fürs Zusammenstellen der Antwort hinzu.

In elf Minuten werden wir die Antwort erhalten. Wenn unser Funkspruch sein Ziel erreicht“, schloß Belopolski.

„Warum sollte er nicht ankommen? Die ionisierte Schicht liegt doch unter uns!“

„Wir kennen die Atmosphäre der Venus nur ungefähr. Vielleicht besitzt sie eine zweite ionisierte Schicht, die gar noch mächtiger als die erste ist?“ Außer den Kommandanten hatte sich die ganze Besatzung in der Funkkabine eingefunden. Neun Männer verfolgten den Lauf des Sekundenzeigers auf der Uhr.

Neun, zehn, elf Minuten vergingen. Keine Antwort kam.

Zwölf…

Niemand sprach. Alle hielten den Atem an. Der Mißerfolg schien eindeutig, der Funkspruch hatte offenbar die Erde nicht erreicht. Das Schiff hätte noch höher steigen und in den interplanetaren Raum hinausfliegen müssen.

Alle wehrten sich gegen den Gedanken, die Funkstation auf der Erde sei vielleicht nicht besetzt. Das war unmöglich, undenkbar __ Den zutiefst aufgewühlten Menschen kamen die Sekunden wie Minuten vor.

Als es schließlich für alle schon feststand, daß der Versuch gescheitert wäre, antwortete jemand deutlich aus dem Lautsprecher: „Haben euren Funkspruch erhalten. Danken euch, daß ihr das Risiko eingegangen seid, um uns zu beruhigen. Raten, unverzüglich auf die Venus zurückzukehren. Wünschen vollen Erfolg in der Arbeit und ihren glücklichen Abschluß. Die Familien der Besatzungsmitglieder sind gesund, und bei ihnen ist alles in Ordnung. Bestätigt den Empfang unseres Funkspruchs und landet sofort wieder. Sehr herzlichen Gruß! Sergej Kamow.“ Als flammten die elektrischen. Lampen heller auf und als würde selbst die Luft klarer — so war den Männern plötzlich zumute. Eine drückende Last war von ihren Herzen genommen.

„Funkspruch empfangen. Verstanden. Nächste Verbindung 27. August. Schalte Sender ab“, sagte Toporkow.

Kaum waren die Worte verhallt, als das Raumschiff die Flughöhe verringerte und dorthin zurückflog, wo sich in weiter Ferne wie eine schneeweiße Masse der endlose Wolkenozean breitete.

Zufällig streifte Melnikows Blick den Kommandanten, und der junge Wissenschaftler staunte über das ungewöhnliche Bild, das sich ihm bot: Konstantin Jewgenjewitsch lächelte. Das war nicht nur der Anflug eines Lächelns, wie er es schon mehrmals auf dem strengen Antlitz Belopolskis wahrgenommen hatte, sondern es war das breite, freundliche Lächeln eines Menschen, dem ein Stein vom Herzen gefallen ist. Noch eine Sekunde — so schien es —, und Belopolski würde aus vollem Halse lachen.

Wenn ich das Arsen erzähle, wird er es nicht glauben wollen!

dachte Melnikow.

Die Landung dauerte bei weitem nicht so lange wie der Start.

Nach achtzehn Minuten tauchte das Schiff bereits in die Wolken, und nachdem es sie hinter sich gelassen hatte, geriet es — wie vor zwölf Tagen — mitten hinein in ein Gewitter. Die Venus schien ihre Gäste nicht anders empfangen zu können.

„Zum dritten Male nähern wir beide uns nun der Venus“, sagte Melnikow. „Wenn ich bedenke, daß wir in wenigen Minuten den orangeroten Wald wieder vor uns haben… Wenn es doch wenigstens etwas Grün dort gäbe!“

„Bei Ihnen zeigt sich das Resultat der geistigen Verbindung mit der Erde“, entgegnete Belopolski leicht spöttisch.

„Nicht einen einzigen Augenblick habe ich diese Verbindung jemals verloren“, stieß Melnikow beleidigt hervor.

„Das glaube ich Ihnen gern. Aber bisher unterdrückte das Interesse an der Arbeit alles andere. Was für ein Unterschied ist das schon — Grün oder Orange!“ Er ist trotz allem ein sonderbarer Mensch, dachte Melnikow.

Man durchschaut ihn nicht ganz.

Das Festland lag zu dieser Zeit beinahe auf der Grenze zwischen der Tag- und Nachthälfte des Planeten. Wenn sie nach Westen flogen, konnten sie es nicht verfehlen. Und wirklich war nach zwanzig Minuten Flug auf dem Bildschirm orangeroter Wald zu sehen, Melnikow, der das Schiff gerade steuerte, drehte nach Norden ab, um die Flußmündung zu suchen.

Minuten vergingen, aber der Fluß kam noch immer nicht in Sicht. Da bemerkten die Männer, daß sich der Wald lichtete.

Ebenen dehnten sich, die von Bord des U-Bootes aus nicht zu sehen gewesen waren.

„Wir sind entweder bedeutend weiter südlich oder nördlich des Flusses“, erklärte Melnikow. „Die Gegend kenne ich nicht.“

„Eher wohl nördlich“, antwortete Belopolski. „Wenden wir.“ Melnikow zog die Ruder. Das Schiff beschrieb einen weiten Halbkreis und ging auf Gegenkurs.

Eine halbe Stunde etwa flogen sie an der Küste entlang, ohne auf ein einziges Gewitter zu stoßen. Zwar waren überall finstere Wolkengebirge zu sehen, aber diese schienen ebenfalls nach Süden abzuziehen.

Aus sechshundert Meter Höhe eröffnete sich ein weiter Rundblick, und Belopolski und Melnikow entdeckten zu gleicher Zeit den gesuchten Fluß. Er bog unweit der See scharf nach Nordwesten ab und verschwand hinter einem Waldmassiv. Der Horizont war von dieser Seite mit Gewitterwolken verhangen.

„Immer und überall diese Gewitter“, murrte Melnikow verdrießlich.

Das Landschaftsbild der Venus, ihm längst vertraut, regte ihn diesmal auf. Ähnlich empfanden auch die anderen Genossen.

Alle maßen den bleigrauen Himmel und den’’ orangeroten Küstenstreifen mit trübseligen Blicken. Sie sehnten sich nach etwas, was wenigstens entfernt an die Heimat erinnerte. Aber außer den Wassern des Ozeans war alles von fremder Art.

„Warten wir ab“, murmelte Konstantin Jewgenjewitsch ruhig.

„Wir haben ja keine Eile.“ Mit geringster Geschwindigkeit kreiste das Raumschiff in Küstennähe und wartete, daß die Gewitter abzögen. Bald wurde der Weg frei.

Noch zwanzig Minuten Flug, dann mußten sich in der Ferne die Stromschnellen abzeichnen, die aus der Höhe wie ein dünner weißer Strich aussahen.

„Sehen Sie dort — ein See!“ rief Belopolski plötzlich.

Melnikow warf einen Blick auf den Bildschirm. Tatsächlich war ganz in der Nähe der Stromschnellen inmitten der Bäume ein Waldsee zu erkennen, der, soweit man es aus dieser Entfernung schätzen konnte, einen Durchmesser von zwei Kilometern hatte. Als sie näher kamen, zeigte sich, daß das nördliche Ufer des Sees flach war, das südliche aber steil aus dem Wasser emporstieg. Der Wald reichte beinahe bis ans Wasser heran.

Das Raumschiff glitt hinab zu den Baumkronen. Die Triebwerke arbeiteten mit der für diese geringe Höhe minimalsten Geschwindigkeit, sie betrug aber immer noch über fünfzig Meter pro Sekunde.

Als die „SSSR-KS 3“ den See erreicht hatte, folgte Melnikow der Uferlinie.

„Ich sehe Balken am Nordufer“, teilte Paitschadse durch den Lautsprecher mit.

Er stand zusammen mit den anderen im Observatorium und konnte die Landschaft nicht nur durch den Bildschirm, sondern auch durchs Fenster beobachten.

In diesem Augenblick entdeckte auch Melnikow einen hohen Holzstapel — nicht nur einen, sondern mehrere. Sie lagen gleichweit voneinander entfernt und waren aus ebensolchen Stämmen geschichtet, wie Balandin und er sie an den Stromschnellen gesehen hatten. Aber das Schiff flog so schnell darüber hinweg, daß man sie nicht genau betrachten konnte.

„Ich sehe einen Staudamm aus Holz!“ Saizews Stimme zitterte vor Erregung. Das gleiche meldeten Balandin und Knjasew.

Das Raumschiff flog gerade auf den Westzipfel des Sees zu und drehte, über die linke Tragfläche geneigt, nach Süden.

Weder Belopolski noch Melnikow hatten den Staudamm sehen können.

„Wo sehen Sie einen Staudamm?“ fragte Konstantin Jewgenjcwitsch.

„Er liegt schon hinter uns“, antwortete ihm Balandin. „Aus dem See fließt ein kleiner Fluß ab, den ein Wehr aus fest zusammengefügten Balken absperrt.“

„Dieser See ist noch rätselhafter als die Stromschnellen“, sagte Melnikow. „Aber er ist lang genug. Wir werden hier landen.“

„Auf keinen Fall auf dem Wasser“, entgegnete Belopolski in ungewöhnlichem Tonfall. „Nur am Ufer.“

„Am Ufer ist kein Platz, es ist zu schmal.“

„Dann am Fluß, dort, wo wir ursprünglich landen wollten.“

„Aber warum denn nicht hier?“ fragte Melnikow, jedoch nach einem Blick auf den Kommandanten verstummte er. Solch einen Ausdruck wie in diesem Augenblick hatte er bei seinem Lehrer und Freund noch nie bemerkt. Sein Gesicht war mit tiefen Runzeln bedeckt, er wirkte strenger als sonst, und jeder Zug darin, der Glanz der Augen und das Zittern der Lippen verrieten, daß der Gelehrte zutiefst aufgewühlt war. Unablässig musterte er den spiegelglatten See, und auf seinem Gesicht verhärtete sich gespannte Erwartung.

Reglos lag der See. Nicht das geringste Lebenszeichen war zu erkennen. Ebenso tot lag das flache Ufer, auf dem riesige Bäume und orangefarbene Sträucher wuchsen. Nichts rührte sich. Nur das dichte Laub tanzte im Wind.

Ohne weitere Fragen zu stellen, steuerte Melnikow auf den Fluß zu. Er lag ganz in der Nähe des Sees. Nicht mehr als einen Kilometer entfernt.

Schon als sie das erstemal zu den Stromschnellen kamen, hatte Melnikow eine Stelle ausfindig gemacht, die sich zur Landung eignete. Es war ein langer und breiter Uferstreifen, ein Feld, auf dem das Schiff ungehindert landen und von dem es auch wieder starten könnte. Das Gelände war eben und schien völlig trocken zu sein; dort wuchs das gelbbraune Gras.

„Beeil dich!“ sagte Belopolski. „Ein Gewitter zieht auf!“ Melnikow verständigte die Besatzung durch ein Klingelzeichen von der bevorstehenden Landung.

Als die vorgesehene Stelle in Sicht kam, wurden die Triebwerke abgestellt. Das riesige Schiff glitt, rasch langsamer werdend, auf das Ufer zu. Das schwere Achterschiff sank tiefer.

Kamows Konstruktion, die eine Landung mit Hilfe von Stützarmen vorsah, verlangte vom Piloten äußerste Konzentration und Präzision jeder Bewegung. Das Landemanöver war so schwierig, daß der Autopilot trotz aller Anstrengungen der Konstrukteure den Menschen dabei nicht ersetzen konnte. Belopolski und Melnikow hatten lange Zeit gebraucht, um diese Kunst zu erlernen; denn es war keine Technik mehr, sondern Kunst. Mit außerordentlicher Genauigkeit mußte der Augenblick abgepaßt werden, in dem das Schiff im Zustand labilen Gleichgewichts gleichsam in der Luft stillzustehen schien. In einem kleinen Übungsraumschiff hatten sie Dutzende Male dieses Manöver auf der Erde ausgeführt.

Aber es war unvergleichlich schwieriger, solch ein gigantisches Schiff wie die „SSSR-KS 3“ mit Hilfe der Stützarme zu landen.

Der Kommandant übertrug diese verantwortungsvolle Aufgabe daher in Anbetracht seines Alters dem jüngeren Kollegen, dessen Hand sicherer war und der, wie man allgemein sagte, überhaupt keine Nerven besaß.

Melnikow sah nicht mehr auf den Bildschirm. Er konzentrierte sich ganz auf den Höhenmesser und das Tachometer. Die beiden Zeiger sanken rasch auf Null.

„Eins“, sagte Belopolski gepreßt.

Das hieß, daß das Achterschiff noch einen Meter über dem Erdboden hing. Noch eine Sekunde … zwei Sekunden …

„Die Stützarme“, kommandierte Melnikow.

Belopolski drückte auf einen Knopf.

Sie verspürten einen sanften Stoß — das Heck hatte den Boden berührt. Im selben Augenblick wurden die Stoßdämpfer ausgefahren. Zitternd kam das Raumschiff zum Stillstand. Mächtige Motoren fuhren die Stützarme schnell wieder ein. Die Tragflächen verschwanden in den entsprechenden Aussparungen, und das Schiff legte sich mit seinem ganzen Leib auf den Boden.

„Bravo!“ rief Paitschadse durch den Sprechfunk. „Boris, du bist ein Prachtkerl!“

„Scheint alles glatt gegangen zu sein“, sagte Melnikow zurückhaltend. „Sergej Alexandrowitschs Konstruktion hat die letzte und schwerste Prüfung bestanden.“ Die „SSSR-KS 3“ war genau in der Mitte zwischen Wald und Fluß gelandet. In etwa anderthalb Kilometer Entfernung stromaufwärts lagen die Stromschnellen.

„Konstantin Jewgenjewitsch, wissen Sie noch: Als wir mit der ›SSSR-KS 2‹ flogen, glaubten wir, auf dem Festland der Venus gäbe es keine Stelle, die sich für eine Raumschifflandung eignet.

Doch es gibt solche Stellen in Hülle und Fülle.“

„Ja, da haben wir uns geirrt“, bestätigte Belopolski. „Aber das ist kein Wunder. Um einen Planeten kennenzulernen, genügt es nicht, ihn kurze Zeit zu überfliegen. Wir sind jetzt schon zwölf Tage hier und wissen trotzdem noch nicht viel. Die Venus bereitet uns eine Überraschung nach der anderen. Und die größte Überraschung steht uns noch bevor… Auf dem See.“ Das letzte Wort hatte er fast geflüstert, und Melnikow sah in seinem Gesicht abermals Erregung aufflackern.

„Warum haben Sie uns nicht auf dem See landen lassen?“ Belopolski ließ sich Zeit mit der Antwort. Er schien unschlüssig.

„Wissen Sie, mir ist da so ein Gedanke gekommen“, sagte er zögernd und beinahe zaghaft. „Ein sehr merkwürdiger Gedanke … Dieser See…“

„Was ist mit ihm?“

„… ist gar kein See. Genauer gesagt — er ist nicht das, was wir gewöhnlich darunter verstehen.“ Ohne seine Worte näher zu erklären, verließ der Kommandant die Kajüte.

„Was wollte er damit sagen?“ fragte Balandin.

„Ich weiß es wahrhaftig nicht“, gestand Melnikow verstört.

„Ich habe keine Ahnung.“

„,… ist gar kein See’“, wiederholte der Professor. „Sonderbar! Meiner Meinung nach ist das ein ganz gewöhnlicher Waldsee, wenn man von dem Wehr und den Stapeln am Ufer absieht. Aber der See selbst…“ Sie unterhielten sich über Sprechfunk. Melnikow sah seinen Gesprächspartner nicht, malte sich aber aus, wie Balandin verständnislos die Schultern hob.

„Konstantin Jewgenjewitsch hat sicherlich etwas entdeckt, was… wir müssen uns bei ihm eingehend erkundigen.“

„Das führt zu nichts!“ sagte Melnikow überzeugt. „Er wird es nicht verraten.“ Der Professor versuchte trotzdem zu erfahren, was der Expeditionsleiter hatte andeuten wollen. Wie nicht anders zu erwarten, erreichte er nichts.

„Es wird sich bald zeigen“, antwortete Belopolski. „Man darf nicht voreilig Schlüsse ziehen.“

„Ich bin sicher, daß er etwas weiß“, sagte Balandin, als er von seinem ergebnislosen Erkundungsvorstoß zurückkehrte.

„Aber schlagt mich tot — ich kann mir nicht vorstellen, was es sein könnte.“

„Wir werden es schon noch erfahren“, tröstete ihn Melnikow.

Es war vier Uhr Moskauer Zeit. Auf der Venus näherte sich die lange Nacht, die elf Erdentage und elf Erdennächte währen würde.

In den Klauen des Gewitters

Bis zum Sonnenuntergang blieben noch zehn Stunden Zeit, und auch danach würde es nicht sofort ganz finster werden. Die Venus dreht sich so langsam um ihre eigene Achse, daß sich die Abenddämmerung sehr in die Länge zieht. Nacht konnte es im Grunde erst in fünfzig Stunden werden. Diese Zeit galt es zu nützen.

Kaum war die „SSSR-KS 3“ an ihrem neuen Standplatz angelangt, da gingen Melnikow und Korzewski von Bord, um das Ufer zu untersuchen und festzustellen, ob der Geländewagen eingesetzt werden könnte. Würde eine Exkursionsgruppe die anderthalb Kilometer bis zu den Stromschnellen zu Fuß zurücklegen, setzte sie sich der Gefahr aus, von einem Gewitter überrascht zu werden. Melnikows Vermutung, man könne sich unter den Gewölben des Waldes vor den Regengüssen schützen, bedurfte erst einer Prüfung.

Die beiden Sternfahrer überzeugten sich mühelos davon, daß der Boden am Ufer fest genug war. Es bestand keine Gefahr, daß der Geländewagen mit seinen Raupenketten versinken würde. Unter dem orangebraunen Grasteppich lag eine feste Sandschicht. Ob dies gewöhnlicher Sand war, blieb vorerst ungewiß, aber eins stand fest — die Expeditionsmitglieder konnten den Geländewagen benutzen. Und das war im Augenblick die Hauptsache.

Ganz in der Nähe hielten sich die unbekannten Bewohner der Venus auf, die allem Anschein nach sehr kräftig und an die Finsternis der Nacht gewöhnt waren.

Wie würden sie sich den Eindringlingen gegenüber verhalten?

Wenn sie, wie Melnikow annahm, Wilde waren, mußte mit feindseligen Handlungen von ihrer Seite gerechnet werden. Die Astronauten beabsichtigten aber nicht, von der Waffe Gebrauch zu machen. Sollten sie überfallen werden, würden ihnen die Geländewagen sicheren Schutz bieten.

Um die für die Nacht vorgesehene Arbeit zu leisten, standen den Männern öftere Ausflüge von Bord bevor. Außerdem waren sie fest entschlossen, die Herren dieses Planeten näher kennenzulernen. Das ließ sich nur nachts einrichten. Eine Exkursion zu den Stromschnellen und vielleicht auch noch zum See barg aber bei völliger Finsternis große Gefahren in sich. Sumpfiges Gelände, das bei den häufigen Regenfällen etwas ganz Natürliches gewesen wäre, hätte die Lösung dieser Aufgabe noch erschwert.

Doch der Uferstreifen glich nicht im geringsten einem Sumpf.

Er war fest und offenbar trocken.

„Ich halte das für ganz gewöhnlichen Sand“, erklärte Korzewski. „Und er liegt in einer sehr dicken Schicht. Andernfalls würde er nicht das ganze Regenwasser aufsaugen können.“

„Diese Eigenschaft besitzt nicht nur Sand“, antwortete Melnikow. „Das Ufer fällt vom Wald nach dem Wasser zu ab. Das meiste Regenwasser kann also in den Fluß abfließen, und nur den Rest nimmt der Boden auf.“

„Das könnte auch sein“, pflichtete ihm der Biologe bei.

An Bord zurückgekehrt, meldeten sie Belopolski das Ergebnis ihrer Erkundung. Dieser ließ sofort einen Geländewagen fahrfertig machen. Eine halbe Stunde später stand das eine Kettenfahrzeug schon vor der unteren Luftschleuse.

Das Raumschiff hatte Geländewagen verschiedener Größe an Bord. Es wurde beschlossen, zur ersten Ausfahrt den leichtesten und schnellsten zu nehmen.

Belopolski wollte sich die Stromschnellen und die Holzstapel am Ufer persönlich ansehen, aber weil er nicht zur gleichen Zeit wie Melnikow das Schiff verlassen durfte, sollte ihn Professor Balandin begleiten. Weder er noch Konstantin Jewgenjewitsch verstanden, mit der Filmkamera umzugehen. Deswegen gab Wtorow ihnen Fotoapparate mit.

„Machen Sie soviel Aufnahmen wie möglich!“ bat er. „Jedes Foto ist von unschätzbarem Wert!“

„Ja, ja, das wissen wir.“ Balandin lächelte. „Ich verspreche Ihnen, daß ich den ganzen Film verknipse.“

„Vielleicht wäre in dem Wagen noch ein Plätzchen frei?“ Wtorow sah den Kommandanten bittend an.

„Sie werden noch zur rechten Zeit hinauskommen“, entgegnete Belopolski barsch. „Diese Fahrt wird nicht die letzte sein.“ Wie immer verzögerten Gewitter die Abfahrt. Die Kosmonauten hatten sich schon an die häufigen Regengüsse gewöhnt, wenngleich ihre Geduld diesmal hart auf die Probe gestellt wurde. Drei Stunden lang löste ein Gewitter das andere ab und raubte ihnen kostbare Zeit. j Aber die erzwungene Verzögerung brachte auch einen gewissen Nutzen. Sie überzeugten sich davon, daß der absichtlich im Freien abgestellte Geländewagen dem Druck der Wassermassen standhielt und die Männer sich in ihm gegen die Gewitter schützen konnten. Während sie in den kurzen Pausen zwischen den Gewittern vom Observatorium aus das Gelände beobachteten, stellten sie auch fest, daß Melnikows Vermutung zutraf. Das Wasser floß entsprechend dem natürlichen Gefälle zum Fluß ab; es bestand keine Gefahr, daß der Boden ringsum sich in einen Sumpf verwandeln würde.

Sobald Toporkows Barometer anzeigte, daß die Luft keine Elektrizität mehr enthielt, verließen Belopolski und Balandin ohne Zögern das Schiff und setzten sich in den Geländewagen.

Er war so niedrig, daß sie die individuelle Sprechfunkanlage mit akustischen Verstärkern vertauschen mußten. Die Antennen ihrer Gasschutzanzüge paßten nicht in den Wagen hinein.

Bis zu den Stromschnellen fuhren sie ganz langsam. Melnikow und Korzewski hatten nur die nächste Umgebung erkundet, und Konstantin Jewgenjewitsch war deswegen sehr vorsichtig.

Sie legten die anderthalb Kilometer in einer Viertelstunde zurück und hielten unmittelbar neben einem Holzstapel.

Balandin erkannte sofort, daß seit ihrem ersten Besuch niemand die Stapel angerührt hatte. Die Stämme lagen noch genauso angeordnet wie vorher. Er sah auch jenen Stamm, von dem er sich ein Stück abgeschnitten hatte.

Belopolski nickte wortlos, als der Professor ihm seine Beobachtungen mitteilte, öffnete den Wagenschlag und trat ins Freie.

Die rätselhaften Stapel sahen zwar noch genauso aus wie vorher, aber der Fluß hatte sich völlig verändert. Als das Unterseeboot hier ans Ufer gekommen war, hatte er sich wasserreich und ungebärdig tosend durch die Enge aus mächtigen Felsblöcken gezwängt. Jetzt am Abend aber herrschte an dieser Stelle beinahe Stille. In einer Breite von etwa fünfzig Metern versperrten oberhalb der Felsblöcke Baumstämme dicht bei dicht den Fluß. Die Strömung hatte sie so eng aneinandergepreßt, daß man über sie wie über eine Brücke vom Südufer zum Nordufer gelangen konnte.

„Das bestätigt unsere Vermutung“, sagte Balandin. „Die Venusbewohner arbeiten nachts.“ Eingehend betrachtete Belopolski das Wehr. Um besser sehen zu können, stieg er auf den einen Holzstapel. Von oben konnte er genau die Anordnung der riesigen Steine erkennen.

„Es kann kein Zweifel bestehen“, sagte er im Hinuntersteigen, „dies ist ein künstliches Wehr. Aber wenn man die Anwendung technischer Hilfsmittel bei seinem Bau für ausgeschlossen hält, muß man zugeben, daß nur außerordentlich starke Geschöpfe eine derartige Anlage haben errichten können.“

„Das war auch Boris Nikolajewitschs Meinung.“

„Die Frage ist nur, warum sie errichtet wurde.“

„Offenbar brauchen diese Geschöpfe Holz“, erklärte Balandin.

„Und die Bäume, die hier stehen, können sie nicht fällen. Sie sehen ja selber, was für Riesen das sind.“

„Es wäre die einzige Erklärung.“ Belopolski nickte. „Das Holz wird von einer Stelle, die stromauf liegen muß, hierhergeflößt. Und dann wird es zu dem See hinüberbefördert. Wir haben doch Stapel am Seeufer gesehen. Aber wozu brauchen sie soviel Holz? Hier liegen doch Tausende Stämme“, setzte er hinzu und wies auf den Fluß. „Und man darf kühn behaupten, daß ebenso viele an jedem Venustag oder nach unserer Zeitrechnung alle drei Wochen geflößt werden. Das ist es, was ich nicht verstehe. Na, wir werden es erfahren, wenn wir die Venusbewohner besuchen, und zwar dort, wo sie wohnen.“

„Ich denke, ihre Behausungen werden im Wald, am Ufer des Sees liegen.“

„Im Wald?“

„Ja. Oder vermuten Sie sie woanders?“

„Fahren wir doch einmal an den See“, schlug Belopolski, der Antwort ausweichend, vor.

„Durch den Wald?“

„Natürlich. Wenn die langen Stämme vom Fluß zum See geschleift werden, muß dort eine Schneise sein.“

„Wir können sie ja suchen“, antwortete der Professor lakonisch.

Er hielt eine Exkursion dieser Art für sehr gefährlich und meinte, sie sollten dazu lieber mit dem stärkeren Geländewagen, und zwar nicht nur mit einem, sondern wenigstens mit zweien, fahren. Aber er behielt seine Gedanken für sich. Er wollte um keinen Preis von Belopolski das gleiche hören, was ihm schon Melnikow entgegnet hatte. Diese vier Männer, Kamow, Paitschadse, Belopolski und Melnikow, waren Menschen besonderer Art. In ihrem besonnenen Mut lag etwas, was der Alltagsvernunft Schweigen gebot. Im stillen hoffte der Professor, daß sie keine Schneise fänden, die breit genug wäre.

„Es ist nicht gefährlich“, sagte Belopolski, als habe er die Gedanken des Genossen gelesen. „Die Venusbewohner sind auf jeden Fall Lebewesen der Nacht.“

„Also — dann — los!“ Sie setzten sich in den Geländewagen. Balandin teilte dem Schiff durch Funkspruch ihre Absicht mit. Melnikow, der den Funkspruch aufnahm, machte keine Einwände. Er bat nur, die beiden Männer sollten Verbindung mit dem Raumschiff halten.

Sie brauchten nicht lange zu suchen. Die vermutete Schneise begann ganz in der Nähe, neben den Stapeln, und sie war für das bewegliche Raupenfahrzeug breit genug.

Bei den ersten Bäumen hielt Belopolski an.

Ein gewundener Pfad führte in das Dickicht des Waldes hinein und zog sich emsig zwischen den gigantischen Stämmen dahin. Das schwache Licht des Tages, richtiger des Abends, drang nicht durch das dichte Laub hindurch, so daß bereits zehn Schritt voraus nichts zu erkennen war. Der Weg verschwand im Dunkel.

Erregt spähte Balandin die Schneise entlang. Hier waren die Herren des unerforschten Planeten gegangen, seine natürlichen Herren, so wie die Menschen die natürlichen Herren der Erde sind. Geschöpfe, mit Vernunft begabt und zielstrebiger Arbeit fähig, werden allzeit und allerorten Gebieter der Natur sein.

Mochten sich die Venusbewohner vorerst auch noch auf einem niederen geistigen Niveau befinden, mochten sie primitiv sein und mit primitiven Methoden arbeiten, mochte ihnen auch noch das technische Denken fehlen — das änderte nichts.

Vielleicht werden die Venusbewohner vom Instinkt geleitet?

dachte Balandin. — Vielleicht entspricht ihre Arbeit mit den Bäumen der unserer Biber? Vielleicht ist es gar keine schöpferische, sondern mechanische Arbeit?

Aber er verstand sehr wohl, daß alle diese spitzfindigen Schlüsse durch die Tatsache widerlegt wurden, daß sie auf der Koralleninsel ein Lineal gefunden hatten. Es konnte nur den Venusbewohnern gehören. Kein Tier vermag ein Meßinstrument herzustellen. Hier wird mathematisches Denken verlangt. Zumindest primitives. Und mathematische Begriffe können nicht in ein Hirn gelangen, dem die Fähigkeit fehlt, logische Schlüsse zu ziehen. Die Logik ist ein Privileg des Menschen.

„Nein, es müssen wohl doch Menschen sein“, sagte der Professor.

Belopolski schien seinen Gedankengang zu verstehen. Vielleicht hatte er genauso gedacht.

„Das Lineal schließt jeden Zweifel aus“, antwortete er.

„Haben Sie sich übrigens den Boden genau angesehen? Boris Nikolajewitsch hat anscheinend recht, wenn er meint, die Regenfälle könnten uns im Wald nicht gefährlich werden.“

„Woraus schließen Sie das?“

„Haben Sie nicht gesehen, wie das Gras im Wald niedergetreten worden ist? Aber vom Wald zu den Stapeln führen keine Spuren. Unter freiem Himmel hält also der Regen das Gras frisch, im Wald aber vermag er es nicht.“ Belopolski legte den ersten Gang ein, und der Geländewagen fuhr langsam an. Der Weg war gerade breit genug, dauernd mußten die Steuerungshebel betätigt werden.

Je tiefer der Wagen in den Wald eindrang, desto dunkler wurde es. Dichtes Unterholz, mit weißem Gras verflochten, schob sich immer näher an das Raupenfahrzeug heran. Die riesenhaften Stämme, die säulengleich das orangerote Gewölbe trugen, strebten himmelwärts, so weit das Auge reichte. Der Geländewagen hatte kaum die erste Kurve durchfahren, da schienen die Bäume hinter ihm zusammenzurücken. Das Ufer entschwand den Blicken der beiden Männer. Wohin sie auch blickten, überall erhob sich eine dunkelrote Mauer, die mit kirschroten Flecken betupft und unten von einem orangeweißen Streifen gesäumt war.

Belopolski und Balandin schwiegen. Sie waren erregt und fühlten sich etwas beklommen angesichts des unzugänglichen, jungfräulichen Waldes, durch den dieser einzige Weg führte, den ihnen noch unbekannte, aber verwandte Geschöpfe gebahnt hatten. Denn sie waren ihnen verwandt, so wie alle denkenden Wesen des unendlichen Weltalls miteinander verwandt sind.

Es dauerte keine Minute, da war es so dunkel, daß der Scheinwerfer eingeschaltet werden mußte.

Blendend hell, aber fremd und unpassend wirkte das elektrische Licht in diesem Wald. Hunderte, vielleicht sogar Tausende Jahre standen die Waldriesen, und nie hatte ein Sonnenstrahl sie berührt. An die Finsternis gewöhnt, mußten sie sich über die unerwünschte und dreiste Beleuchtung, die ihre Jahrhunderte währende Ruhe störte, empören.

Aber Pflanzen empfinden ja nichts.

In dem strengen weißen Licht traten die Bäume, die Sträucher und das seltsam reglose, bleiche Gras plastisch und deutlich aus dem Dunkel hervor.

Nicht die geringste Bewegung … Totenstille…

Wie ein gewundener Korridor zog sich der geheimnisvolle Weg in die Ferne.

Vorsichtig fuhr der Geländewagen weiter. Die tiefen Spuren seiner Raupenketten drückten der Venuslandschaft einen irdischen Stempel auf.

Was werden die Bewohner des Planeten über diese für sie unerklärlichen Spuren denken, wenn sie bei Einbruch der Nacht den vertrauten Weg entlangkommen? Werden sie ihre Bedeutung verstehen? Ist der Gedanke für sie überhaupt faßbar, daß Bewohner einer anderen Welt die Venus besucht haben? Oder können sie sich, weil der Sternenhimmel ihres Planeten immer von einem Dickicht nie auseinandertretender Wolken verhüllt ist, gar nicht vorstellen, daß es außer der ihren noch andere Welten gibt und daß sie nicht die einzigen vernünftigen Wesen im All sind?… Wie können sie überhaupt die Existenz des Alls ahnen, wenn keiner von ihnen je die Sonne oder die Sterne gesehen hat? … Sie werden vielleicht die Spuren des Kettenfahrzeugs für die Spuren eines unbekannten Tieres halten. Selbst wenn sie solchen Tieren bisher nie begegnet sind, wird dieser Gedanke sich aufdrängen.

Professor Balandin malte es sich bildlich aus… In nächtlicher Finsternis beugen sich riesengroße Schatten über die Spuren, machen sich gegenseitig auf sie aufmerksam und reden in einer fremden Sprache miteinander. Forschend richten sich ihre Augen in das Waldesdickicht, um das unbekannte wilde Tier zu suchen.

Er stellte sie sich als Zweibeiner vor mit Augen, die im Dunkeln wie Raubtieraugen grünlich funkeln.

Wenn nun plötzlich die Herren des Waldes aus dem Dunkel treten? Geschöpfe, die imstande sind, mit bloßen Händen (oder dem, was ihnen als Hand dient) Felsbrocken zu bewegen und Bäume umzubrechen. Wenn sie nun vor dem Scheinwerferlicht gar keine Angst haben?

Was wird es ihnen ausmachen, den Gelandewagen umzukippen, die Scheiben einzuschlagen und die Türen aufzureißen?

Wurde es den Männern da noch gelingen, die Kameraden durch Funkspruch zu verständigen?

Balandin warf unwillkürlich einen Blick auf das Funkgerät, um sich zu überzeugen, daß es in Ordnung war.

Ruhig leuchtete das grüne Lämpchen des Indikators in der dunklen Kabine. Da flammte neben ihm ein rotes Lämpchen auf — ein Anruf.

„Ich höre“, sagte Belopolski in alltäglichem Tonfall.

„Ein Gewitter zieht auf“, teilte Melnikow mit. „Und wie es scheint — ein schweres.“

„Von welcher Seite?“

„Von Norden. Es ist noch weit entfernt.“

„Beobachten Sie es. Sobald es am Fluß anfängt zu regnen, benachrichtigen Sie uns.“

„Gut.“ Sekundenlanges Schweigen. Dann fragte Melnikow: „Wo befinden Sie sich?“

„Im Wald.“

„Wollen Sie nicht lieber umkehren?“

„Wir schaffen es nicht bis zum Schiff. Es wird interessant und wichtig sein zu prüfen…“ Belopolski kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Das rote Lämpchen am Funkgerät erlosch, die Verbindung war unterbrochen.

„Anscheinend zieht eine außerordentlich mächtige Gewitterwand auf“, sagte er. „Toporkows Barometer zeigt ein Gewitter fünfzehn Minuten vorher an. So schnell ist die Verbindung noch nie abgebrochen. Also muß die Luft schon sehr stark ionisiert sein.“ Belopolskis Stimme verriet nicht die geringste Erregung. Er redete wie gewöhnlich, als hielte er ein Selbstgespräch.

Balandin gab keine Antwort. Was sollte er auch antworten?

Sie würden es tatsächlich nicht mehr schaffen, an Bord zurückzukehren. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auf die Festigkeit ihres Fahrzeugs und auf den Schutz der Baumkuppel zu verlassen.

Das Kettenfahrzeug fuhr langsam weiter.

Im Licht seiner Scheinwerfer sah man immer die gleichen Bäume, den gleichen Wald. Der Weg beschrieb wunderliche Zickzacklinien, verengte sich aber nicht. Nach wie vor schob sich eine Mauer aus Sträuchern, die mit weißem Gras verwoben waren, bis dicht ans Fahrzeug.

So vergingen zehn Minuten.

Plötzlich hielt Belopolski an. Einen Augenblick spähte er forschend in den Wald, dann streckte er den Arm aus und stellte die Scheinwerfer ab.

„Schauen Sie nur!“ sagte er beinahe flüsternd.

Nach dem hellen Licht fand Balandin, es herrsche besonders tiefe Finsternis. Er schloß sekundenlang die Augen.

„Schauen Sie nur!“ sagte Belopolski ein zweites Mal. „Was ist das?“ Der Professor blickte nach vorn und nach beiden Seiten, sah aber nichts. Dunkel ringsum.

„Wohin soll ich sehen?“ fragte er und erkannte nicht einmal seinen Gefährten. „In welche Richtung?“

„Wohin Sie wollen“, antwortete Belopolski. „Es ist überall!“

„Was für ein ›Es›?“

Keine Antwort.

Balandin fühlte, daß sein Genosse ganz unter dem Eindruck einer Erscheinung stand, die er selbst noch nicht wahrgenommen hatte. Erst allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit.

Da merkte er auf einmal, daß es gar nicht stockfinster war.

Immer klarer unterschied der Professor die Stämme der Baume. Ein seltsam zitterndes Licht beleuchtete sie. Es wurde immer heller, aber nirgends war die Quelle jenes Lichts zu entdecken.

Balandin überzeugte sich mit einem Blick durchs Plastedach, daß die Kronen der Bäume im Dunkel verschwanden. Angestrahlt wurden nur die Stämme. Die Sträucher und der Weg waren ebenfalls nicht zu sehen.

Dann bemerkte er, daß die Stämme verschieden beleuchtet wurden. Von den einen war nur der untere Teil, von anderen die Mitte und von einigen nur die rechte oder die linke Hälfte zu sehen, während die andere Hälfte unsichtbar blieb.

Verblüfft musterte der Professor den Wald und wußte nicht, wie er sich diese Erscheinung erklären sollte.

„Sie leuchten aus sich heraus!“’ Der Gedanke kam ihm ganz plötzlich.

„Ja, das Licht kommt aus den Stämmen selbst“, antwortete Belopolski. „Aber es ist ein sonderbares Licht. Es macht nur die Stämme der Bäume sichtbar, beleuchtet aber keine anderen Gegenstände. Doch nein…, ich kann undeutlich einen Strauch erkennen.“ Hat Konstantin Jewgenjewitsch aber Augen! dachte Balandin.

— Wie konnte er bloß das schwache Licht bemerken, als die Scheinwerfer noch eingeschaltet waren?

Die Bäume wurden noch deutlicher sichtbar. Im Innern der Stämme schien eine unerklärliche Flamme, deren Liehe’die Rinde durchdrang, immer stärker entfacht zu werden und zu lodern. Stellenweise ging das rosige Licht in dunkleres Rot über.

Das flimmernde Leuchten wurde so stark, daß es den Augen weh tat.

Plötzlich sah es aus, als ob sich der ihnen am nächsten befindliche Baum mit einem zitternden Netz blendend weißer Fäden überzog. Wie Rinnsale weißglühenden Metalls flossen sie den Stamm entlang und verschwanden im Boden.

Darauf erlosch das Licht des Baumes schlagartig. Die soeben noch grellrote Säule entzog sich den Blicken und war vor dem leuchtenden Hintergrund der anderen Bäume nur noch als schwarze Silhouette zu erkennen. Nach einer Weile jedoch flammte das innere Leuchten abermals auf, zuerst rosig, dann immer mehr in Rot übergehend.

Der geheimnisvolle Vorgang wiederholte sich immer häufiger, bald mit dem einen, bald mit dem anderen Baum. Es schien, als versuche jemand, das in den Stämmen lodernde Feuer zu löschen, doch es loderte nach wenigen Augenblicken stets aufs neue mit gewachsener Kraft wieder empor.

„Gut, daß unser Wagen nicht aus Metall gebaut ist“, sagte Belopolski leise. „Und dabei ist das noch nicht das Gewitter, sondern erst sein Präludium.“ Balandin hatte gerade das gleiche gedacht. Es war klar, daß diese ganze Phantasmagorie durch die Elektrisierung der Luft hervorgerufen wurde. Die Rinde der Bäume leitete offenbar den Strom weiter. Diesem Umstand mußte man es wohl zuschreiben, daß die Stämme leuchteten. In der Baumrinde sammelte sich Elektrizität, und sie entlud sich in die Erde, sobald die Konzentration zu groß wurde.

Was für eine Rinde war das, die über solch ungewöhnliche Fähigkeiten verfügte?

„Wieder ein Rätsel mehr“, sagte der Professor.

Belopolski kam nicht dazu, Antwort zu geben.

Durch den Wald ergoß sich grelles Licht. Die Zweige und Blätter hoch über ihnen, die bislang nicht zu erkennen gewesen waren, leuchteten schneeweiß auf. Jeder einzelne Grashalm, jeder Zweig an den Sträuchern zeichnete sich ab. In diesem strahlenden Glanz ging das rote Licht der Stämme unter. Zur gleichen Zeit krachte ein fürchterlicher Donnerschlag, als wären samtliche Bäume des Waldes zugleich gefällt worden.

Halb betäubt, bedeckten die beiden Männer das Gesicht mit den Händen. Sie sahen aber noch, wie sich der ganze Glanz der Kuppel ihnen zu Häupten pfeilgeschwind in eine einzige Feuersaule verwandelte und auf das Dach des Geländewagens stürzte.

Sogar durch die geschlossenen Lider fühlten sie, wie es im Wagen unerträglich hell wurde. Sie hörten ein heftiges Knakken, das von einem zweiten, weitaus schrecklicheren Donnerschlag übertönt wurde.

Ehe der Professor das Bewußtsein verlor, bemerkte er noch starken Ozongeruch. Ein letzter Gedanke flackerte in seinem zerrütteten Hirn auf: die Antenne!

Belopolski erhob sich halb von seinem Sitz, beugte sich krampfhaft vor, gleichsam bemüht, das Gleichgewicht zu halten, und schlug dann lang auf den Boden der Kabine. Über ihn fiel wie leblos Balandin …

Das strahlende Gewölbe wurde noch gleißender, noch blendender. Aber die beiden Männer sahen und hörten nichts mehr.

Triumphierend krachten Donnerschläge, als feierten sie ihren Sieg über die irdischen Eindringlinge. Durch das Gewölbe der Baumkronen stießen grelle Blitze ins Dickicht und flossen, in zahllose Rinnsale verzweigt, die Baumstämme hinab. Rot leuchtend flammten die Baumriesen auf und erloschen wieder.

Fern erscholl, allmählich wachsend und anschwellend, dumpfes Grollen.

Über dem Ort, an dem mit verbrannter Antenne der Geländewagen stand, zog der wütende Venusregen auf.

Am Ufer des Sees

Dieses Gewitter war das kürzeste, aber schrecklichste, das die Sternfahrer auf dem unerforschten Planeten erlebten.

Es gab Augenblicke, in denen sie zweifelten, ob der Schiffskörper die ununterbrochen herniederprasselnden Blitze und die schreckliche Wucht der Regengüsse aushalten würde, von denen das ganze Schiff erbebte. Noch nie hatten die Elemente derart gewütet.

Bei jedem Donnerschlag — und sie folgten einander fast ohne Pause — schlitterte das gewaltige Raumschiff so heftig, daß alle fürchteten, es werde sich sogleich auf die Seite legen und wie ein Strohhalm, den der Wirbelsturm vor sich her treibt, das Ufer hinabgleiten.

Die Außenatmosphäre verwandelte sich in ein einziges elektrisches Meer. Alle Anlagen des zentralen Steuerpultes, die nach draußen Verbindung besaßen, versagten. Das Schiff „erblindete“, wurde „taub“. Zum Glück war es Toporkow gelungen, die Außenantenne beizeiten zu bergen. Das berechtigte zu der Hoffnung, daß die Funkanlagen wenigstens nicht zerstört werden würden.

An den erstbesten Gegenstand geklammert — Hauptsache, er war befestigt und hielt! — , warteten die Besatzungsmitglieder stumm auf das Ende des Chaos. In den zwölf Minuten, die das Gewitter währte, dachte keiner von ihnen an sich und was ihn erwartete, falls das Schiff umschlagen würde. Alle weilten in Gedanken an der Seite ihrer Genossen im Wald.

Das hundert Tonnen schwere Raumschiff trotzte mühsam der Gewalt des Unwetters. Was aber mochte aus dem kleinen, leichten Geländewagen und den beiden Insassen geworden sein? Bot ihnen der Wald, auf den sie sich verlassen hatten, als sie ihre gefährliche Fahrt begannen, genügend Schutz?

Quälend langsam verstrichen die Sekunden, die Minuten …

Das gewaltige Schiff schütterte und wankte. Das Gewitter schien kein Ende zu nehmen.

Wenn später jemand daran zurückdachte, daß ihnen kurze zwölf Minuten wie träge Stunden vorgekommen waren, wunderte er sich. Aber genauso war es gewesen.

Kaum war das Gewitter mit der für die Venus üblichen Plötzlichkeit abgezogen, erscholl in allen Räumen des Raumschiffes die bestimmte und äußerlich ruhige Stimme Melnikows. Er hatte sein Pult die ganze Zeit nicht verlassen, um nötigenfalls, wenn es am Boden zu gefährlich wurde, mit dem Schiff sofort starten zu können.

„Sofort die Geräte und Apparaturen der Funkkabine, des Observatoriums und der Räume im Achterschiff prüfen und mir ihren Zustand melden“, befahl er. „Die Genossen Knjasew und Wtorow machen den zweiten Geländewagen fahrfertig und halten sich bereit, um nötigenfalls dem anderen Wagen zu Hilfe zu kommen. Stepan Arkadjewitsch stellt ein Rettungskommando zusammen. Igor Dmitrijewitsch — so schnell wie möglich Funkverbindung mit Belopolski und Balandin herstellen. Ich bin am Steuerpult.“ Während Melnikow auf die Ausführung seiner Befehle wartete, kontrollierte er mit Hilfe der Geräte den allgemeinen Zustand des Schiffes. Er wußte schon, daß der zentrale Bildschirm nicht funktionierte. Aber wie sah es mit den anderen aus?

Systematisch drückte er nacheinander auf die Kontrollknöpfe und verfolgte gespannt die Antworten, die ihm die Lämpchen am Pult und die Aufzeichnungsstreifen der Registriergeräte gaben.

Der Schiffskörper sowie die Mechanismen der Stoßdämpfer und Tragflächen waren unversehrt geblieben. Die ausfahrbare Antenne hatte ebenfalls keinen Schaden genommen. Aber alle Horchgeräte, Außenbildschirme und Radarprojektoren wiesen Schäden auf.

Das war unerfreulich, doch keineswegs beängstigend. Saizew und Toporkow würden alles in ein, zwei Tagen wieder instand setzen.

Ungeduldig wartete Melnikow auf die Meldungen. Es war nicht seine Art, zur Eile zu drängen. Er wußte, daß seine Kameraden keine Zeit verlieren würden.

Er wirkte völlig ruhig. Nur Olga hätte wohl an seinem verdunkelten Blick und den betont gemächlichen Bewegungen seinen wahren Zustand erkannt. Sogar dem aufmerksam beobachtenden Paitschadse, der in die Zentrale kam, um zu melden, daß die astronomischen Geräte gebrauchsfähig geblieben seien, fiel nichts auf.

„Laß mich an Stelle Andrejews fahren“, bat er. „Ich mache mir Sorgen um Konstantin Jewgenjewitsch.“

„Das geht nicht“, antwortete Melnikow und setzte nach kurzem Besinnen mit gesenkter Stimme hinzu: „Es kann alles mögliche geschehen. Ich darf nicht zulassen, daß außer dem Kommandanten auch noch der einzige Astronom von Bord geht.

Leonid Nikolajewitsch ist ja nicht mehr da.“ Daß der verunglückte Orlow in diesem Augenblick erwähnt — wurde, ließ Paitschadse zusammenzucken. Forschend blickte er den Freund an.

„Meinst du wirklich?“ Melnikow wandte sich ab. „Stepan Arkadjewitsch ist Arzt und du nicht. Die beiden könnten verletzt sein.“ Bald darauf meldete Saizew, daß die Räume im Achterschiff, in denen die Treibstoffvorräte lagerten, sowie die Triebwerke und Düsen völlig unbeschädigt seien. Toporkow schwieg noch.

Nachdem Melnikow noch einige Minuten gewartet hatte, schaltete er den internen Bildschirm ein und verband sich mit der Funkkabine.

Toporkow saß, die Ellbogen aufgestützt und den Kopf in die Hände gelegt, vor dem Sender. Seine ganze Haltung drückte Niedergeschlagenheit aus. Als er das Anrufsignal vernahm, drehte er sich zum Bildschirm um und sagte: „Entschuldigen Sie, Boris Nikolajewitsch! Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu melden. Die Funkgeräte sind in Ordnung.

Demoliert ist nur die Lokationsvorrichtung. Aber das wissen Sie wohl schon.“

„Ja“, antwortete Melnikow. „Haben Sie Verbindung?“

„Vorläufig nichts zu machen. Die Ionisation der Luft ist noch zu stark. Die Funkwellen dringen nicht durch.“

„Lassen Sie nicht locker. Sobald sich die Möglichkeit ergibt, funken Sie! Und machen Sie sich keine unnötigen Sorgen!“ setzte Melnikow hinzu. „Ich nehme an, daß das Gewitter im tiefen Wald, wo der Geländewagen steht, ungefährlich ist.“

„Meinst du wirklich?“ fragte Paitschadse, nachdem der Bildschirm abgeschaltet war.

Melnikow wich einer Antwort auf diese direkte Frage aus.

„Was für eine Analogie der Ereignisse!“ sagte er. „Nicht wahr, Arsen? Auf dem Mars verloren Belopolski und ich die Verbindung zu dir und Sergej Alexandrowitsch, und danach wußten wir drei nicht, was aus Kamow geworden war. Auf dem Mond riß zunächst die Verbindung mit mir ab, als ich in den Spalt gefallen war, und dann auch mit Toporkow. Hier auf der Venus habt ihr eine Zeitlang nicht gewußt, was aus Wtorow und mir geworden war. Und nun Belopolski und Balandin…“

„Es kann nicht anders sein“, antwortete Paitschadse, „und wird immer wieder vorkommen…“

„Beiß dir auf die Zunge!“ Melnikow lächelte gequält.

Außer Toporkow fanden sich nach und nach alle Besatzungsmitglieder in der Zentrale ein. Knjasew meldete, der Geländewagen zwei stünde einsatzbereit an der Luftschleuse.

„Welchen habt ihr genommen?“

„Den mittleren, den Fünfsitzer.“

„Recht so. Konstantin Jewgenjewitschs Wagen kann beschädigt sein.“ Aller Augen verfolgten unablässig den Zeiger des Elektrobarometers. Entgegen aller Erfahrung brauchte er diesmal lange, bis er den Nullpunkt erreichte.

Es wurde immer offensichtlicher, daß das abgezogene Gewitter sich von den bisherigen unterschied.

„Vielleicht sollten wir lieber den Spuren des anderen Wagens folgen und nicht auf die Funkverbindung warten?“ schlug Andrejew vor.

„Auf keinen Fall“, antwortete Melnikow kurz.

Endlich hatte sich die Luft wieder gereinigt. Die Männer in der Zentrale hörten, wie Toporkow zu funken begann.

„Geländewagen! Geländewagen! Antwortet!“ So vergingen lange, lange Minuten. Schließlich konnte Melnikow sich nicht länger zur Geduld zwingen.

„Fahren Sie los, Stepan Arkadjewitsch!“ sagte er.

Erfreut stürmten Andrejew, Knjasew und Wtorow hinaus.

Melnikow seufzte.

„Wenn den beiden nichts zugestoßen ist, wird Konstantin jewgenjewitsch meine Entscheidung als voreilig mißbilligen.

Aber ich bringe es einfach nicht fertig, länger zu warten.“

„Wir haben genug gewartet“, beruhigte ihn Paitschadse. „Du handelst richtig.“ Alexander Knjasew fuhr mit höchster Geschwindigkeit zu den Stromschnellen. Die drei Mann in dem großen Kettenfahrzeug wußten, daß ihre Genossen in der Nähe der Holzstapel in den Wald abgebogen waren. Dem jungen Mechaniker war nicht bange, daß er den Weg verfehlen konnte. Er fürchtete nur, der Weg würde für ihren Wagen, der bedeutend größer als der andere war, nicht breit genug sein. Auf der Erde hätte ihm das Leine Sorgen bereitet. Wie ein mächtiger Panzer hätte sich der Geländewagen durch jeden Wald einen Weg gebahnt. Aber auf der Venus mit ihren gigantischen Bäumen konnte sich das als unmöglich erweisen.

Gleich beim ersten Stapel bog Knjasew, ohne einen Augenblick zu zögern, zum Wald ab.

Weder er noch seine Kameraden beachteten die rätselhaften Balkenhaufen oder den Fluß mit den zahllosen Baumstämmen, die sich an der kaum weniger rätselhaften Felssperre stauten.

Was sie vorher so sehr interessiert hatte, schien nun für sie gar nicht zu existieren. All ihre Gedanken waren darauf gerichtet, so bald wie möglich die Genossen zu finden und sich zu überzeugen, daß sie das schreckliche Gewitter überlebt hatten.

Andrejews Blicke streiften immer wieder die Instrumententasche. Er überlegte, ob er alles mitgenommen habe, was er in diesem oder jenem Fall brauchen würde.

Vieles war möglich. Das Fahrzeug konnte beschädigt und die Insassen durch Formaldehyd und Kohlensäuregas vergiftet sein.

Durch Blitzschlag konnten beide sich Brandwunden zugezogen haben. Der Geländewagen konnte umgestürzt sein, wobei Balandin und Belopolski Quetschungen oder sogar Knochenbrüche erlitten.

Wtorow hielt ständig Verbindung mit dem Raumschiff. Belopolski aber antwortete immer noch nicht. Nach Toporkows Meinung war das Funkgerät des Geländewagens unbrauchbar geworden.

„Ich fürchte, sie haben vergessen, die Antenne einzuziehen, als das Gewitter sie überraschte“, sagte Igor Dmitrijewitsch, „und der Blitz ist in die Antenne eingeschlagen.“ Wenn es so war, kommt die Hilfe zu spät! dachte Andrejew.

Kaum hatte der Geländewagen den Waldrand erreicht, entdeckten die Insassen auch schon eine Schneise. Ohne zu zögern, bog Knjasew unerschrocken ein. Die Breite des Weges war mehr als ausreichend. Doch zur Vorsicht drosselte Knjasew die Geschwindigkeit bis auf zehn Stundenkilometer.

Im dichten Ufergras hatten sie keine Spuren bemerkt. Das wunderte sie nicht — der Regen hatte sie wahrscheinlich getilgt.

Aber auch im Wald waren keine Spuren zu erkennen.

Die Schneise zog sich fast schnurgerade ins Innere des Waldes. Weit voraus erhellte der Scheinwerfer den Weg. Der dunkelbraune Boden, dem jede Grasdecke fehlte, wies keine Feuchtigkeit auf, was äußerst befremdlich wirkte, weil der Platzregen erst vor kurzem aufgehört hatte. Der Boden war völlig trocken.

Als sie zurückblickten, sahen sie, daß die Raupenketten ihres Wagens eine tiefe Spur hinterließen. Warum war die Spur des anderen Wagens nicht zu sehen?

„Ob wir nicht auf dem falschen Weg sind?“ fragte Andrejew.

„Vielleicht haben die beiden einen anderen benützt?“

„Konstantin Jewgenjewitsch hat mitgeteilt, daß die Schneise genau gegenüber dem einen Stapel anfängt“, erwiderte Knjasew. „Es ist kaum anzunehmen, daß hier zwei Wege fast nebeneinander her fuhren.“

„Aber warum sehen wir dann keine Spuren?“

„Die hat der Regen weggespult.“ Stepan Arkadjewitsch wiegte zweifelnd den Kopf. Er entsann sich der Belopolskischen Meldung, die Schneise sei schmal und gewunden. Diese aber war breit und gerade.

Was tun? Umkehren und den anderen Weg suchen? Aber wenn sich der Zeitverlust als verhängnisvoll erwies? Wenn nun die Spuren tatsächlich ausgewaschen waren und der Boden das Regenwasser völlig aufgesogen hatte? Wer wußte, was für Eigenschaften der Boden der Venus besaß? Belopolski konnte sich geirrt haben, als er kurz die gefundene Schneise beschrieb.

Außerdem war Stepan Arkadjewitsch nicht ganz sicher, daß er sich im fraglichen Sinne geäußert hatte.

Andrejew bat Toporkow, Melnikow ans Mikrofon zu holen, er wolle sich mit ihm beraten. Boris Nikolajewitsch hatte gerade die Funkkabine verlassen. Als er wieder zurückkam, hatte das Kettenfahrzeug schon eine beträchtliche Strecke zurückgelegt.

„Nehmen Sie mit Bestimmtheit an, daß der Weg zu dem See führt?“ fragte Melnikow, nachdem er sich Andrejews Zweifel angehört hatte.

„Höchstwahrscheinlich fuhrt er zum See. Wir haben am Wegland Stämme liegen sehen, deren Zweige ebenso abgebrochen waren wie bei den Stämmen am Fluß. Diese Stämme liegen am Rand der Schneise in annähernd gleichem Abstand voneinander und sind offenbar mit Absicht so hingelegt worden.“

„Wie tief sind Sie in den Wald eingedrungen?“

„Ungefähr fünfhundert Meter.“

„Dann hat es keinen Sinn, umzukehren. Erst wenn Sie den anderen Wagen am See nicht vorfinden, suchen Sie die zweite Schneise.“

„Gut.“ Wachsende Besorgnis ließ Knjasew schneller fahren. Der Weg war erstaunlich glatt. Wie eine Parkallee auf der Erde.

Nur zweimal stießen sie auf sanfte Kurven.

Das majestätische Bild des unberührten Waldes — gigantische Bäume, deren Stämme wie riesige Säulen emporstiegen, die undurchdringliche Kuppel der Zweige und Blätter, das dichte Unterholz, wunderlich verflochten mit dem fahlen Gras — all das nahmen die Männer kaum wahr. Sogar Wtorow griff kein einziges Mal nach der Kamera, er hatte sie völlig vergessen.

Angestrengt blickten sie nach vorn und versuchten, wenigstens die Andeutung einer Spur zu finden, eine Kleinigkeit, die bewiese, daß vor ihnen ein Kettenfahrzeug den gleichen Weg gefahren wäre. Aber sie entdeckten nichts.

Allmählich wurden sich alle darüber einig, daß sie den falschen Weg gewählt hatten. Und hätte Melnikow ihnen nicht einen bestimmten Rat erteilt, den alle drei als Befehl auffaßten, wären sie wahrscheinlich umgekehrt.

Dabei wären sie überzeugt gewesen, richtig und vernünftig zu handeln, obwohl gerade die Umkehr sie und ihre Genossen vom Raumschiff dazu verurteilt hätte, nie etwas über das Schicksal der beiden Vermißten zu erfahren, die sie doch retten wollten.

Der Zufall hatte sie auf eine gerade und breite Schneise geführt, auf der ihr Geländewagen schnell vorwärts kam, und er verschaffte ihnen auch die Möglichkeit, sehr bald die schreckliche Wahrheit zu erfahren.

Doch das wußten sie noch nicht und konnten es auch noch nicht wissen.

Wäre jemand von der Besatzung der „SSSR-KS 3“ während des Gewitters über den Wald geflogen, hätte sich ihm ein seltsames und für einen Erdenbürger völlig unerklärliches Bild geboten.

Bei einem ersten flüchtigen Blick aus der Vogelperspektive konnte man meinen, der Wald des fremden Planeten unterscheide sich nicht von dem der Erde. Abgesehen natürlich von seiner Farbe und gigantischen Höhe. Dem aufmerksamen Beobachter jedoch konnten mehrere wesentliche Besonderheiten nicht entgehen. Vor allem fiel auf, daß die Bäume des Waldes einander völlig glichen, etwas, was auf der Erde nie vorkommt, weiter reichten alle Baumkronen bis zu ein und derselben Höhe, als wären sie mit der Schere eines Riesengärtners beschnitten, und Zweige und Blätter wurden nicht, wie auf der Erde, von oben nach unten dichter und kräftiger, sondern von unten nach oben. Das Laub war besonders auffällig. Jedes Blatt erreichte, zu einem Rohr zusammengerollt, eine Länge von mehreren Metern. Der heftige Wind konnte den Blättern fast gar nichts anhaben, sie bewegten sich kaum. Bei näherem Hinsehen konnte man auch die Ursache dafür erkennen. Jedes Blatt war nicht nur durch einen, sondern durch zwei Stiele, die an seinen gegenüberliegenden Enden saßen, mit dem Zweig verbunden, was ihnen mehr Halt gab. Auch waren Stiele und Blätter oft mehrere Zentimeter dick.

In dem dichten Dach des Waldmassivs gab es kein einziges „Fenster“, durch das der Blick hätte ins Innere fallen können.

Das undurchdringliche Astgewölbe entzog alles den neugierigen Augen.

Wie ein riesiger gepflasterter Platz von orangeroter Farbe, fast regungslos und gleichsam in ewiger Ruhe erstarrt, sah der Wald der Venus von oben aus.

Sobald aber ein düsteres Gewitter aufzog, änderte sich das Bild. Je näher es kam, desto lebhafter wurde es. Die aufgerollten Blätter entfalteten sich, zuerst langsam, dann immer schneller, um den nahenden Regen abzufangen. Man konnte glauben, sie kämpften miteinander und versuchten, sich gegenseitig möglichst viel freien Raum zu nehmen. Jedes Blatt schien sich über seine Nachbarn legen zu wollen, die wiederum den gleichen Wunsch hegten.

Rasch veränderte sich so das Aussehen des Waldes. In nichts erinnerte er noch an den Wald der Erde. Eine glatte, glänzende Fläche breitete sich nach allen Seiten und glich von oben einem bunten Parkettfußboden.

Das farbenprächtige Feuerwerk aber, das Balandin und Belopolski vor kurzem im Wald beobachtet hatten, war aus der Vogelperspektive gar nicht zu sehen. Die Blätter, die sich in ihrer ganzen Breite entrollt hatten, verbargen es unter sich.

Wälzte sich nun eine mächtige Regenwand auf den Wald zu, neschah etwas geradezu Unfaßbares.

Die „SSSR-KS 3“ hatte nur mit knapper Not dem Ansturm der Wassermassen standgehalten, auch die Tragflächen von Melnikows Flugzeug waren seinerzeit unter dem Wasserdruck wie Pappflügel abgebrochen. Aber die Blätter der Venusbäume, ein weicher, pflanzlicher Stoff also, widerstanden mühelos dem schrecklichen Angriff. Binnen Sekunden entschwand das orangerote „Parkett“ den Blicken. An seiner Statt tobte ein brodelndes Meer, das sich über schäumende Kaskaden zu den Ufern des Flusses und des Waldsees ergoß.

Die Wassermassen prallten also an der Waldkuppel ab, sie durchschlugen sie nicht und konnten die Wurzeln der Bäume nicht netzen; diese nährten sich entweder von der Feuchtigkeit, die die Blätter aufnahmen, oder vom Grundwasser.

So erklärte sich auch der Umstand, daß der Boden in den Waldschneisen trocken blieb.

Als erster kam Belopolski wieder zu sich.

Er schlug die Augen auf, sah aber nichts. Ringsum herrschte Düsternis. Minutenlang blieb er liegen, ohne sich zu rühren.

Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern, wo er sich befand und was ihm widerfahren war. Da kam ihm zum Bewußtsein, daß ein anderer auf ihm lag, und er nahm scharfen Ozonduft und Brandgeruch wahr.

Seinen rechten Arm konnte er bewegen; fast mechanisch langte er nach dem vertrauten Hebel des Luftschlauches und legte ihn herum.

Der Sauerstoffstrahl brachte sogleich Klarheit in seine Gedanken. Tief atmete er das belebende Gas ein und schloß den Hahn wieder.

Behutsam kroch er unter Balandin hervor, der offenbar immer noch ohnmächtig war: Er wurde nun hellwach. Deutlich stand ihm wieder vor Augen, wie das Gewitter angefangen, die Feuersäule sich aufgerichtet und auf ihren Wagen gestürzt hatte. Besorgt befühlte er im Dunkeln die Instrumententafel.

Er drehte den Hauptschalter — welch eine Freude! Die Lampen, die Akkumulatoren und das Leitungsnetz waren nicht beschädigt! Helles Licht erstrahlte in der Kabine.

Ein Blick auf das Funkgerät genügte, um zu wissen, was mit ihm geschehen war. Empfänger und Sender, die in ein und demselben Gehäuse steckten, hatten sich in eine formlose Masse ausgeglühten und teilweise geschmolzenen Metalls verwandelt.

Kein Zweifel — in die Antenne, die sie einzuziehen vergaßen, hatte der Blitz eingeschlagen.

Eine unverzeihliche Fahrlässigkeit! dachte Belopolski. — Ein Wunder, daß wir überhaupt noch leben!

Im selben Augenblick wurde ihm klar, daß er das vorläufig nur von sich sagen konnte; sein Begleiter lag regungslos am Boden und gab kein Lebenszeichen von sich.

Balandin hatte näher am Funkgerät gesessen und war deswegen vielleicht stärker getroffen worden. Rasch, aber vorsichtig drehte Belopolski den Professor auf den Rücken.

Das Gesicht totenbleich, die Augen eingefallen, die Lippen blau angelaufen — war er etwa tot? …

Funken konnte Belopolski nicht mehr. Er hatte keine Möglichkeit, mit dem Raumschiff zu sprechen und den Rat des Arztes zu erbitten. Ein Sprechfunkgerät hatte er nicht mitgenommen.

Belopolski tat das erste beste, das ihm in den Sinn kam. Er knöpfte Balandins Kragen auf, schob dem Genossen den Schlauch des Sauerstoffbehälters zwischen die Lippen und drehte den Hahn weit auf. Dann holte er eine Flasche aus dem Sanitätskasten und flößte Balandin etwas Alkohol ein.

Diese einfache Maßnahme wurde von Erfolg gekrönt. Die bläuliche Färbung der Lippen verlor sich, und es röteten sich die Wangen des Ohnmächtigen, weil das Blut wieder in Bewegung kam. Nach bangen Minuten schlug er die Augen auf und stöhnte.

„Haben Sie Schmerzen?“

„Der Kopf … und die Beine.“ Belopolski warf einen Blick auf die Beine des Professors und erschauerte. Bis zu den Knien war die Hose der Kombination völlig verbrannt. Man erkannte die versengten Unterschenkel, die über und über mit Brandblasen bedeckt waren.

Belopolski gab sich Mühe, sein Entsetzen zu verbergen, und sagte so ruhig wie möglich: „Ich werde Sie sogleich verbinden.

Eine schwere Verbrennung.“ Er wußte, wie man sich in derartigen Fällen zu verhalten hatte. Alle Besatzungsmitglieder konnten Erste Hilfe leisten, ein Sanitätskasten lag hinten im Wagen.

Schnell schnitt er die zerfetzten Hosenbeine von der Kombination des Professors ab und legte ihm einen Pikrinverband an; dann half er dem Genossen in den Sitz.

„Die Schmerzen sind sehr stark“, sagte Balandin. „Aber das macht nichts. Im Raumschiff bringen sie mich schnell wieder auf die Beine.“ Belopolski nahm seinen Platz ein.

„Es konnte schlimmer kommen“, sagte er düster. „Wir sind nur durch ein Wunder am Leben geblieben.“

„Es war meine Schuld.“ Der Professor hatte schon das verbrannte Funkgerät gesehen. „Ich hätte an die Antenne denken müssen.“

„Jetzt ist es zu spät, Vorwürfe zu machen. Wir müssen schleunigst aus dem Wald heraus.“ Belopolski sah auf die Uhr und stellte staunend fest, daß sie höchstens eine Viertelstunde bewußtlos gewesen waren. Er hatte sich gemerkt, wann die Bäume anfingen zu leuchten.

Er knipste die Innenbeleuchtung aus und schaltete in der Annahme, die Schneise würde unter Wasser stehen, die Scheinwerfer ein. Aber die Schneise war ebenso trocken wie vor dem Gewitter.

„Merkwürdig!“ sagte er. „Nimmt der Boden das Wasser so schnell auf? Es hat doch erst vor höchstens fünf Minuten aufgehört zu regnen…“

„Vielleicht hat es noch gar nicht angefangen?“

„Aber warum hört man dann keinen Donner und sieht keine Blitze, und warum leuchten die Bäume nicht mehr? Nein, das Gewitter ist abgezogen. Klarer Fall. Und es war ein sehr kurzes Gewitter.“

„Wenn ich mich recht entsinne, hatte Boris Nikolajewitsch uns eine mächtige Gewitterfront angekündigt.“

„Ja, aber ich weiß genau, wie spät es war.“ Balandin zog die Stirn kraus, weil seine Beine heftig schmerzten, und zuckte mit den Schultern. „Die Rätsel nehmen kein Ende“, sagte er. „Eins jagt das andere.“ Belopolski startete den Motor. Wie immer arbeitete er geräuscharm und ohne zu stottern. Nur an den Geräten konnte man ablesen, daß der mächtige Motor lief; im Innern des Wagens spürte man nicht das geringste Zittern.

Das Gebüsch, das den Weg von beiden Seiten bedrängte, machte auf den ersten Blick einen zerbrechlichen Eindruck. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß es stählernen Raupenketten ernsthaften Widerstand leisten könnte. Aber es zeigte sich ein weiteres Mal, wie unklug es ist, die Natur eines anderen Planeten mit irdischen Maßstäben zu messen. Die zerbrechlichen Gewächse waren, wie sich herausstellte, unüberwindlich. Sie krümmten sich zwar unter dem Druck des Geländewagens zusammen, ließen ihn aber keinen Schritt vorwärts kommen. Seine Ketten drehten sich auf der Stelle.

Endlich sah Belopolski ein, daß er den Versuch, hier zu wenden, aufgeben mußte. Es gab nur eins: an den See fahren, der nicht weit sein konnte, und dort am Ufer wenden. Im Rückwärtsgang auf der schmalen gewundenen Schneise zu fahren hätte viel Zeit gekostet. Höchste Eile tat aber not — Balandin mußte so schnell wie möglich an Bord gebracht werden.

„Es bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterzufahren…“

„Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen“, sagte Balandin.

„Die Schmerzen sind auszuhalten. Wir führen unsere Exkursion bis zu Ende durch.“

„Leider geht es wirklich nicht anders.“ Das Kettenfahrzeug fuhr weiter. Der Weg wand sich wie zuvor, bald nach rechts, bald nach links. Sie konnten nur im Schneckentempo fahren.

„Ich kann mir nicht vorstellen“, sagte Balandin plötzlich, „wie die Venusmenschen hier die langen Stämme befördern. Möglicherweise werden sie diese senkrecht tragen.“

„Das könnte auch sein.“

„An Bord werden die Genossen nicht wissen, was sie von unserem Schweigen halten sollen. Boris Nikolajewitsch wird sicherlich den anderen Geländewagen ausschicken, um unseren Spuren zu folgen.“

„Außer unserem Wagen kommt kein anderer durch die Schneise“, entgegnete Belopolski. „Sie ist zu schmal.“ Plötzlich glitzerte dicht vor ihnen Wasser. Noch eine kleine Kurve — und der Wagen hatte den Waldrand erreicht. Vor ihnen breitete sich der spiegelglatte Waldsee, das Ziel ihrer Fahrt Das mit dichtem gelbem Gras bewachsene Ufer war an dieser Stelle nicht breiter als dreißig Meter. Nach Osten trat der Wald bedeutend weiter vom Wasser zurück. Ganz nah vor sich erblickten die beiden Männer die rätselhaften Holzstapel. Es waren vier, gleich breit und gleich hoch angelegt, stumme Zeugen dafür, daß ihre Besitzer sich auf lineare Maßeinteilung verstanden. Es war unmöglich, derart viele Baumstämme zufällig so präzise zu stapeln.

So eilig Belopolski es auch hatte — er stoppte unwillkürlich.

Ganz in der Nähe mußten sich die vernunftbegabten Bewohner dieses Planeten aufhalten. Von hier aus zogen sie bei Nacht zum Fluß, um zu unbekanntem Zweck die nächste Ladung Baumstämme zu holen.

Das ist gar kein See. Richtiger gesagt — nicht das, was wir sonst darunter verstehen! hatte Belopolski vor wenigen Stunden zu seinen Genossen gesprochen.

Nun war er mehr denn je von der Richtigkeit dieser Ansicht überzeugt. Dies war kein See. Es war eine Stadt, in der eine große Gruppe der Venusbewohner sich angesiedelt hatte. Die Geschöpfe, deren heimatliches Element das Wasser war, hatten gerade solch ein stehendes Gewässer bevorzugt, weil hierher keine Raubtiere aus dem Ozean dringen konnten. Auf dem riesigen Festland des Planeten gab es zweifellos Hunderte, vielleicht auch Tausende solcher Seestädte. Wer weiß, vielleicht bildeten sie alle gemeinsam einen Staat mit eigenen Gesetzen, eigenen Sitten und einem eigenen Lebensstil, die sich von denen der Erde unterschieden.

Minutenlang musterten die Kosmonauten schweigend den See, gleichsam in der Erwartung, daß plötzlich einer seiner Bewohner an Land stiege.

„Wir fahren zurück!“ sagte Belopolski energisch.

Jedoch, ganz im Banne gespannter Erwartung und ins Schauen vertieft, hatten sie völlig den heimtückischen Charakter des Planeten vergessen, auf dem sie sich befanden. Gerade wollte Belopolski die Hände auf die Steuerhebel legen, als dichte Nebel plötzlich das matte Abendlicht in die undurchdringliche Finsternis der Nacht verwandelte. Eine unbemerkt herangezogene Regenwand schüttete ihre Wassermassen auf das blinkende Fahrzeug der Eindringlinge.

Der Geländewagen stand unmittelbar am Waldrand, und ehe die beiden es sich versahen, ergoß sich von den Baumkronen ein mächtiger Wasserfall auf sie hernieder. Die Männer errieten bloß, was geschah, weil das rasende Getöse des herabstürzenden Wassers das wilde Rauschen des Regens und die Donnerschläge übertönte.

Der Geländewagen war aus Plaststoffen hergestellt, die die Festigkeit von Stahl besaßen. Aber Belopolski wollte den Wagen nicht unnütz gefährden, startete den Motor und fuhr vom Waldrand weg an den See heran.

Im Scheinwerferlicht erkannten die beiden, daß sich das Ufer in eine brodelnde Flut verwandelt hatte, in der die RaupenLetten ihres Fahrzeugs versanken.

„Ein Wunder, daß der Regen die Stapel nicht in den See spult“, sagte Balandin.

„Sie sind wahrscheinlich gut abgestützt.“ Die Astronauten hatten so oft auf der Venus Gewitter erlebt, daß sie am Charakter des Regens deren Stärke erkannten. Sie wußten sogleich, daß dieses zu den schwächeren, aber ausgedehnten gehörte, die gewöhnlich eine halbe Stunde, eine ganze Stunde oder auch länger dauerten.

Unmittelbar drohte ihnen keine Gefahr, doch Belopolski geriet ernstlich in Sorge. Eine halbe Stunde warten — das konnte für seinen Begleiter, der dringend ärztlicher Hilfe bedurfte, schwere Folgen haben. Der Professor ertrug die Schmerzen mit Haltung und jammerte nicht, aber Konstantin Jewgenjewitsch sah, wieviel Kraft ihn das kostete.

Belopolski drehte die Scheinwerfer nach hinten. Aber er erblickte bereits wenige Schritte hinter dem Wagen nichts als einen einzigen gigantischen Wasserfall. Hinter dieser tosenden Wand lag der schmale Zugang zu dem Waldweg. Es war aussichtslos, ihn in diesem Chaos aus Wasser und Finsternis zu suchen.

Zehn lange Minuten blieb die Lage unverändert. Der ohrenbetäubende Lärm, das Rauschen des Wasserfalls und des Regens, die in der Nahe grellen, jenseits der Wasserwand aber trüben Blitze — all das hatten sie schon viele Male gesehen, und es nötigte ihnen keine besondere Achtung mehr ab. Sie warteten ungeduldig auf das Ende und waren überzeugt, das Gewitter werde ebenso überraschend abziehen, wie es sie überfallen hatte. So war es bisher immer gewesen, an ein solches Finale waren sie gewöhnt, und so würde es auch diesmal kommen.

Die Venus hatte es sich aber anscheinend in den Kopf gesetzt, ihnen eine neue Überraschung zu bereiten, ihnen ein übriges Mal zu beweisen, daß sie vieles zu bieten hatte, was den Menschen der Erde noch nie begegnet war.

Belopolski und Balandin beobachteten staunend, daß der Regen diesmal abflaute — im allgemeinen endete er plötzlich.

Sie erlebten ein Gewitter ganz anderer Art. Es jagte nicht ungestüm über sie hinweg, sondern hielt sich lange, wurde aber immer schwächer. Seltener und leiser polterte der Donner, seltener und matter zuckten die Blitze. Die Finsternis wich einem trüben Dämmerschein. Unvermittelt lief das Wasser vom Ufer ab und befreite das Seegras. Minuten vergingen, und die Männer stellten verdutzt fest, daß sie nichts weiter als einen ganz gewöhnlichen Wolkenbruch erlebt hatten, wie sie ihn von der Erde her kannten. Eine Zauberkraft schien sie blitzschnell von der Venus in die Heimat versetzt zu haben.

Es wurde so hell, daß sie das Ufer des Sees, auf dessen Oberfläche in dichter Folge winzige Fontänen emporschossen, überschauen konnten.

„Genießen Sie das Erlebnis in vollen Zügen!“ sagte Belopolski. „Die Überraschungen nehmen kein Ende.“

„Ich hätte nie gedacht, daß wir auf der Venus einen gewöhnlichen Regen erleben würden.“

„Wenn das Gewitter auch vorüber ist, bedeutet das für uns noch keine Erleichterung.“ Belopolski wies nach hinten auf den Wald.

Der Wasserfall, der von den Wipfeln herabstürzte, hörte nicht auf. Er war bloß nicht mehr so ungestüm und stürmisch.

Zwischen dem Geländewagen und dem Wald hing ein durchsichtiger Wasservorhang, durch den verschwommen Bäume und Sträucher zu erkennen waren. So dünn diese Sperre indes auch sein mochte, der schmale Zugang zu dem Waldweg blieb dennoch unsichtbar.

„Wir müssen versuchen, ihn zu finden“, sagte Belopolski.

„Dieser Regen kann Stunden dauern.“ Energisch ergriff er die Steuerhebel. Er langte nach dem Starterknopf und — erstarrte, die Augen betroffen auf den dunstverhangenen See gerichtet.

Augenblicklich vergaß auch Balandin seine quälenden Schmerzen im Bein und beugte sich mit dem ganzen Oberkörper weit vor — dicht am Ufer bewegte sich etwas Dunkles im Wasser, dann erhob es sich und kam heraus.

Durch das dichte Netz der Regenfäden sahen die Männer die verschwommene Silhouette eines riesenhaften formlosen Körpers. Er schien über drei Meter groß zu sein. Das gespenstische Halbdunkel machte es unmöglich, Genaueres zu erkennen.

Der Professor wollte schon die Hand ausstrecken, um den Scheinwerfer einzuschalten, aber Belopolski hielt seine Hand fest.

„Das erübrigt sich!“ flüsterte er. „Erschrecken Sie ihn nicht!

Das sind sie!“ Atemlos vor Erregung sahen die Astronauten, wie dem ersten Venusbewohner ein zweiter folgte. Dann stiegen nacheinander noch drei weitere aus dem Wasser.

Fünf nebelhafte Gestalten trotteten auf das Fahrzeug zu.

„Sie sehen uns“, stieß Balandin mit erstickter Stimme hervor.

„Natürlich sehen sie uns“, gab Belopolski sonderbar ruhig zur Antwort.



Drei Schritte trennten die Venusbewohner von den Menschen.

Nun waren deutlich die dicken Beine, der mächtige ellipsoide Leib und der dreieckige Kopf des ersten dieser Geschöpfe zu erkennen. Die übrigen vier gingen um den Wagen herum, sie wollten ihn offenbar von allen Seiten umstellen.

Was dachten sie von diesem Fahrzeug? Wofür hielten sie es?

Die langsamen Bewegungen der Kolosse wirkten auf die beiden Menschen wie eine Drohung. Es gab nur noch eins: fliehen, nichts als fliehen!

Alles geschah in Sekundenschnelle.

Belopolski erwachte aus seiner Erstarrung und griff nach den Bedienungshebeln. Aber es war schon zu spät. Die Venusianer stürzten sich auf den Geländewagen.

Er wurde mit einem einzigen Ruck hochgehoben. In verhängnisvoller Weise bestätigte sich die Vermutung der Menschen, daß die Venusbewohner ungeheuer stark seien.

Mit einer verzweifelten Anstrengung langte Belopolski nach dem Starterknopf und schaltete den Motor ein.

Die Raupenketten zitterten, rührten sich aber nicht von der Stelle.

Was bremste sie? Waren die Venusianer etwa stärker als der Motor?

Auf ihren Händen trugen die fünf rätselhaften Wesen die anderthalb Tonnen schwere Maschine schnell zum See.

„Leben Sie wohl, Sinowi Serapionowitsch“, flüsterte Belopolski.

„Leben Sie wohl!“ raunte der Professor. „Das ist das Ende…“ Eine Minute zu spät Andrejew, Knjasew und Wtorow erfuhren erst über Funk von den Genossen im Raumschiff, daß ein Gewitter tobte. Sie hörten es zwar donnern, aber auf die Schneise, die ihr Geländewagen befuhr, fiel nicht ein Tropfen Regen.

Wie Toporkow berichtete, war das Gewitter ganz überraschend aufgezogen. Das Barometer hatte es vorher nicht angekündigt. Mehr noch — die Funkverbindung wurde diesmal nicht unterbrochen. Regen deckte zwar Wald und Schiff zu, aber man konnte mit dem Geländewagen sprechen wie bei klarem Wetter.

Das hatten sie auf der Venus noch nie erlebt. Der Planet schien absichtlich seinen Gästen zwei für sie neue Arten von Gewitter vorzuführen: erst ein außerordentlich stark mit Elektrizität geladenes und nun eines von genau entgegengesetzter Art.

„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, sagte Igor Dmitrijewitsch.

„Tragen Sie dieses Rätsel unter Nummer achtzehn ein“, gebot Wtorow in spöttischem Ton.

„Was heißt denn hier achtzehn?“ Toporkow seufzte tief. „Das nimmt und nimmt kein Ende!“ Die von Balandin und Belopolski beobachteten Lichteffekte fehlten bei diesem Gewitter. Die drei Männer wunderten sich natürlich nicht darüber, sie wußten und ahnten ja nicht einmal etwas von dieser Erscheinung. Sie wunderten sich über etwas anderes. Ihnen war mitgeteilt worden, daß über ihnen ein Gewitter tobe, das dann in einen gewöhnlichen Regen überging, aber im Wald blieb es nach wie vor völlig trocken. Auch die Besatzungsmitglieder, die an Bord geblieben waren, teilten die Verständnislosigkeit.

„Ist das Laub etwa so dicht, daß es solch einen starken Regen abzufangen vermag?“ fragte Korzewski nachdenklich. „Das dürfte doch wohl kaum stimmen!“

„Aber es ist eine Tatsache“, entgegnete ihm Wtorow. „Der Weg ist knochentrocken, und kein einziger Regentropfen fällt darauf.“

„Abermals — ein Rätsel!“ Der Biologe stöhnte.

Im selben Augenblick sperrte plötzlich eine Wasserwand den Weg. Sie erschien so überraschend, daß Knjasew kaum noch den Motor abstellen und auf die Bremse treten konnte. Zwei, drei Sekunden später wären sie mit voller Geschwindigkeit in diese eigentümliche Sperre hineingerast, ohne zu wissen, was sie dahinter erwartete.

Im starken Licht der Scheinwerfer wirkte der rätselhafte Vorhang durchsichtig. Trotzdem war nicht zu erkennen, was sich hinter ihm befand. Endlich begriffen die Männer, daß das Wasser von oben, wie von einem glatten Dach, dem die Dachrinne fehlt, herabstürzte.

„Der Vorhang scheint sehr dünn zu sein“, bemerkte Wtorow.

„Ganz egal!“ sagte Andrejew. „Wir dürfen kein Risiko eingehen. Ich steige sofort aus und werde das Gelände erkunden.“

„Auf keinen Fall!“ erklärte Knjasew bestimmt. „Ich steige aus.“

„Oder ich!“ pflichtete ihm Wtorow bei.

Stepan Arkadjewitsch fuhr auf: „Ich bin der Leiter der Expedition.“

„Trotzdem werden nicht Sie gehen“, sagte der junge Mechaniker entschlossen wie zuvor. „Sie ebensowenig wie Wtorow.

Das fordert eine ganz einfache Rechnung. Wir eilen unseren Genossen zu Hilfe, die vielleicht ärztliche Hilfe brauchen. Sie sind hier der einzige Arzt, und Gennadi Andrejewitsch ist der einzige Kameramann, der überraschend auftauchende Motive filmen muß. Sie haben daher nicht das Recht, ihr Leben ohne zwingenden Grund aufs Spiel zu setzen. Ich werde aussteigen, kein anderer.“ Wahrend er das sagte, zog er hastig seinen Gummianzug an und setzte den Plastehelm auf, um anzudeuten, daß er nichts weiter hören wolle.

„Sascha hat recht!“ bestätigte Melnikow über den Sprechfunk.

Das Gerät war die ganze Zeit über eingeschaltet gewesen, und die Genossen an Bord hatten den Wortwechsel verfolgt.

„Also dann — meinetwegen!“ Andrejew gab nach.

Er und Wtorow setzten die Gasmasken auf, weil beim Öffnen der Tür zwangsläufig die Luft der Venus eindringen würde.

Knjasew stieg aus. Ohne zu zögern, ging er auf den Wasservorhang zu, trat unerschrocken in ihn hinein und entschwand tkn Blicken seiner Kameraden, die ihm besorgt nachsahen.

Sekundenlang war noch verschwommen der Umriß seiner Gestalt zu erkennen, die von den Scheinwerfern angestrahlt wurde.

Dann verschwand er…

Aber es war noch keine Minute vergangen, als Knjasew aus dem Vorhang buchstäblich wieder herausgeschossen kam. Mit einem Satz war er auf seinem Platz, schaltete die Motoren ein und riß den Regler bis zur Höchstgeschwindigkeit durch.

Der Geländewagen stürmte vorwärts, hatte, ehe die beiden anderen es sich recht versahen, die Wassersperre hinter sich gelassen und rollte geradewegs auf den See zu.

In voller Fahrt bog Knjasew scharf nach rechts ab. Die linke Raupenkette hob sich vom Boden, der Wagen legte sich bedenklich auf die Seite. Dann erfaßte der mächtige Lichtstrom der Scheinwerfer eine Szene, bei deren Anblick Andrejew und Wtorow vor Schreck für einen Augenblick das Herz stehenblieb.

Das elektrische Licht zitterte, brach sich in allen Farben an den Regenfäden, verwandelte sie in funkelnde Perlenketten.

Hinter diesem seltsam glitzernden Netz war ganz in der Nähe eine Gruppe erstarrt… Die Menschen der Neuzeit waren verdattert — plötzlich standen vor ihnen lebendig gewordene Ungeheuer der Vorzeit.

Im grellen Scheinwerferlicht verharrten fünf phantastische Gestalten, gewaltige „Schildkröten“, die sich auf die Hinterbeine erhoben hatten, mit grellroten Panzern und disproportional kleinen dreieckigen Köpfen, an denen wie gelbes Feuer je drei riesige kreisrunde Augen leuchteten. Die kahlen, faltigen Leiber glänzten blaßrosa, als wären sie aus Metall. Die dicken Beine schienen keine Zehen zu besitzen. Von oben bis unten waren sie gleich plump und mit fleischigen Hautfalten bedeckt.

Die Vorderbeine dienten ihnen offenbar als Arme. Sie waren ebenso dick und unförmig wie die Füße. An den Enden hatten sie vier Auswüchse, deren jeder so dick wie ein Menschenarm war. Zwischen diesen fingerähnlichen Greifern schimmerten dünne, durchsichtige Häute, was sie gigantischen Entenfüßen ähnlich machte.

Wtorow wußte sofort: Das sind die gleichen „Schildkröten“, die sie vom Unterseeboot aus beobachtet haben. Gerade nach ihnen hatten Balandin und Korzewski emsig gefahndet.

Doch nicht der Anblick dieser Ungeheuer erfüllte die Herzen der drei Tapferen mit Entsetzen. Sie hatten seit langem damit gerechnet, den Bewohnern der Venus Auge in Auge gegenüberzutreten, und nicht angenommen, daß ihre Körperformen denen des Menschen ähnelten. Sie wären beim Anblick selbst noch abscheulicherer und häßlicherer Geschöpfe nicht erschrocken. Aber das Blut erstarrte in ihren Adern, als sie erkannten, daß der große dunkle Gegenstand, den diese Vorzeitungeheuer in den Pranken hielten, nichts anderes als ihr Geländewagen war, an dessen Fenstern sie Belopolski und Balandin erkannten.

Die „Schildkröten“ stapften ins Wasser. An ihrer Absicht konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Sie wollten den Geländewagen mit auf den Grund des Sees nehmen.

Die drei Männer im zweiten Wagen begriffen, daß sie Augenzeugen vom letzten Akt eines Dramas waren, dessen Einzelheiten sie nicht kannten.

Das grelle Licht, das so unvermittelt die gewohnte Dunkelheit vertrieb, hatte die fünf Venusianer innehalten lassen. Einen Augenblick verharrten sie reglos, waren betroffen und vielleicht auch zu Tode erschrocken. Die erbarmungslosen Strahlen der Scheinwerfer mußten ihren auffallend großen, lichtempfindlichen Augen, weh tun.

Der zweite Geländewagen raste geradewegs auf sie zu. Knjasew wollte die ganze Gruppe samt der anderen Maschine anscheinend zermalmen.

All das geschah innerhalb von zwei, drei Sekunden.

Als der Wagen sich den Venusianern schon bis auf drei Schritte genähert hatte, stürmten diese auf einmal, ohne ihre Beute fallen zu lassen, ins Wasser und verschwanden in der Tiefe.

Außer sich vor Verzweiflung und seiner Sinne kaum noch mächtig, riß Knjasew den Bremshebel der linken Raupenkette an sich und — in voller Fahrt raste der Geländewagen aufs Wasser zu.

Zum Glück behielt Wtorow in diesem tragischen Augenblick einen klaren Kopf. Er schaltete blitzschnell beide Motoren aus, entriß Knjasew die Steuerungshebel und brachte das Fahrzeug zwei Meter vom Ufer entfernt zum Stehen. Die überragende Körperkraft des jungen Sportlers war die Rettung gewesen.

Das Raupenfahrzeug stand schon halb im Wasser. Das Ufer fiel hier sehr steil ab. Knjasew faßte sich, legte den Rückwärtsgang ein, und mühsam kletterte der Wagen wieder an Land.

Das Scheinwerferlicht tastete die spiegelglatte Oberfläche des Sees ab. Es hatte aufgehört zu regnen. Weder im Wasser noch an Land rührte sich etwas. Der schwere Wagen lastete wie ein Stein auf den drei Männern. Gleich einem flüchtigen Alptraum war das grausige Bild vom Untergang der beiden Kameraden an ihnen vorübergehuscht.

Langsam hob Wtorow die Hand und schaltete die Scheinwerfer aus.

Das war das Ende! Der Expeditionsleiter und sein Begleiter tödlich verunglückt!

Im Dunkel der Kabine brach Knjasew in Tränen aus. Mit weit aufgerissenen Augen starrten Andrejew und Wtorow immer noch dorthin, wo die widerlichen Reptilien Belopolskis Fahrzeug mit sich in die Tiefe genommen hatten.

Hier also war es dem berühmten Astronauten, dem nach Kamow zweiten „Sternenkapitän“ der Erde, beschieden, sein Leben auszuhauchen… Hier also hatte der berühmte Wissenschaftler Balandin den Tod gefunden!

Das furchtbare Ende war so überraschend gekommen, daß sie lange Zeit weder etwas Sinnvolles zu sagen noch zu tun vermochten. Eine Minute nach der anderen verging, aber die drei Männer rührten sich nicht. Sie waren verzweifelt — die Katastrophe ließ sich nicht wiedergutmachen.

Da leuchtete am Funkgerät das rote Anrufsignal auf.

„Wie steht es bei euch?“ fragte Melnikow ruhig. „Wo seid ihr? Warum laßt ihr so lange nichts von euch hören?“ Sollte man es ihm sagen? Es ging wohl nicht anders. Aber wer sollte dem Schiff die Unglücksbotschaft übermitteln?

Die drei Männer schwiegen.

„Antwortet!“ rief Melnikow, und seine Stimme verriet, daß er unruhig wurde. „Geländewagen! Geländewagen! Antworten!“ Wtorow überwand sich und antwortete: „Ich höre! Wir stehen am Ufer des Sees. Soeben haben…“ Sekundenlanges Schweigen.

„Was ist geschehen? So antwortet doch!“

„Soeben haben jene Schildkröten vor unseren Augen Belopolski und Balandin in ihrem Geländewagen in den See getragen.

Ende!“ Atemlose Stille.

Im Raumschiff am Fluß und im Raupenfahrzeug am See fiel kein Wort. Auch in der Atmosphäre herrschte völlige Stille, als fühlte die Venus mit den trauernden Menschen. Kein ferner Donner grollte, kein Baum rauschte im Wind mit seinem Wipfel. Versteint lag der See, kein Grashalm raschelte.

Oder bildeten sich die Menschen das nur ein?

„Bleibt dort am See! Falls ein Gewitter kommt, zieht euch zum Waldrand zurück. In einer halben Stunde ist der Amphibienwagen bei euch.“ Wer hatte das gesagt? Melnikow? Sie hatten seine Stimme nicht wiedererkannt.

Der Amphibienwagen! Ja, an Bord des Raumschiffes befand sich ein Schwimmfahrzeug. Aber was könnte es helfen?

Und wer würde fahren? Melnikow natürlich nicht. Der war nun der einzige Kommandant des Schiffes. Er durfte bis zum Schluß, bis zur Landung auf der Erde, nicht mehr von Bord gehen. Und weder Paitschadse noch Saizew oder Toporkow durften das Schiff verlassen; denn ohne sie konnte es die Rückreise nicht antreten. Also kamen nur noch Korzewski und Romanow in Frage.

Die Zeit schien stillzustehen. Die Männer merkten gar nicht, daß zwanzig Minuten vergangen waren.

„Der Schwimmwagen ist zu euch unterwegs“, meldete Toporkow. „Boris Nikolajewitsch hat angeordnet, daß Knjasew und Korzewski die Erkundung durchführen. Seid so vorsichtig wie möglich!“

„Wo ist Boris Nikolajewitsch?“ fragte Wtorow.

„Er kommt gleich zurück. Braucht ihr ihn?“

„Nein, ich meine bloß so.“

„Worum handelt es sich?“ fragte Melnikow. Er war anscheinend gerade in die Funkkabine zurückgekehrt. „Was wollen Sie, Gennadi Andrejewitsch?“

„Nichts weiter. Entschuldigen Sie, Boris Nikolajewitsch!“

„Wollen Sie an der Erkundung teilnehmen?“

„Ich dachte…“

„Sie haben richtig gedacht.“ Melnikow sprach anders als sonst, er betonte jeden Buchstaben. „Es gibt keinen Grund, der uns dazu bestimmen dürfte, unsere Arbeit auf der Venus zu unterbrechen. Haben Sie die Kamera bei sich?“

„Ja.“

„Ich erlaube Ihnen, Korzewski zu ersetzen.“ Aus dem Wald schoß ein langer Scheinwerferstrahl, der zusehends heller wurde. Der Amphibienwagen, obwohl selber noch nicht zu sehen, näherte sich rasch dem See.

Plötzlich erscholl abermals Toporkows Stimme.

„Stanislaw Kasimirowitsch, halten Sie an!“ sagte er. „Fahren Sie unter die Bäume! Ein Gewitter zieht auf.“

„Schon — wieder!“

„Wann wird das endlich aufhören?“ fragte Knjasew wütend.

„Wenn wir die Venus verlassen.“ Es donnerte, von den Baumkronen stürzte der mächtige Wasserfall herab, und das Ufer verwandelte sich wieder in einen schäumenden Strom. Aber die Lichteffekte blieben diesmal «us.

Außer Belopolski und Balandin kannte also noch keiner die rätselhafte Erscheinung.

Endlich zogen die Gewitterfronten ab, und die Funkverbindung lebte wieder auf.

„Die Erkundungsaufgabe lautet“, begann Melnikow im selben Augenblick, „den Geländewagen auf dem Grund des Sees suchen, feststellen, in welcher Tiefe er sich befindet und ob eine Möglichkeit besteht, ihn an Land zu ziehen. Schnell, aber äußerst vorsichtig handeln. Die Kabine des Geländewagens ist hermetisch geschlossen, und wenn die ›Schildkröten‹ sie nicht eingedrückt haben, leben Belopolski und Balandin noch. Das Raumschiff kann jederzeit starten und zum See fliegen. Beeilt euch, Genossen!“ Wie hatten sie nur vergessen können, daß das Wasser in den Geländewagen nicht eindringen würde? Sie hatten ihre Genossen schon für tot gehalten, aber in Wirklichkeit durften sie ja noch hoffen. Allein Melnikow war besonnen geblieben und hatte sich den Blick für die Tatsachen nicht trüben lassen.

Die Hoffnung gab ihnen neue Kraft. Die Wagen fuhren aus dem Wald bis dicht ans Wasser. Knjasew und Wtorow lösten Romanow und Korzewski im Schwimmwagen ab.

Der Schwimmwagen war wie das Unterseeboot ganz aus durchsichtiger Plaste gebaut. Sogar die Raupenketten bestanden aus dem gleichen Material. Für zwei Personen berechnet, leicht und beweglich, konnte dieser Wagen fahren, schwimmen und mit Hilfe von ausfahrbaren Flossen, die den Tragflächen eines Segelflugzeuges ähnelten, unter Wasser tauchen. Die erreichbare Tauchtiefe betrug zwar nur sieben, acht Meter, aber die Astronauten vermuteten, daß auch die „Schildkröten“ nicht tiefer unter der Wasseroberfläche leben könnten.

Die Amphibien der Erde suchen nie größere Tiefen auf, weil der Wasserdruck mit jedem Meter zunimmt. Andererseits können Tiefseeorganismen nicht an der Oberfläche leben, weil sie dort platzen würden. Warum sollte es auf der Venus anders sein? Da die Venusianer aufs Trockene kamen, konnten sie keinesfalls Bewohner der Tiefen sein.

Die Schildkröten der Erde können schwimmen. Besaßen ihre riesigen Verwandten auf der Venus die gleiche Fähigkeit? Die Beantwortung dieser Frage war von ungeheurer Bedeutung.

Konnten sie nur laufen, drohte dem Amphibienfahrzeug keine Gefahr. Andernfalls aber konnte es ihm ebenso wie Belopolskis Geländewagen ergehen. Dann wären statt zwei sogar vier Opfer zu beklagen.

„Ich habe mich mit Boris Nikolajewitsch darüber beraten“, sagte Korzewski, „und wir sind zu dem Schluß gelangt, daß der Schwimmwagen den Reptilien entgehen kann, falls sie ihn im Wasser angreifen. Auf keinen Fall werden sie schneller schwimmen als er.“

„Seid so vorsichtig wie möglich“, legte Melnikow dem jungen Knjasew zum Schluß noch einmal ans Herz. „Bei der geringsten Gefahr sofort an Land kommen!“ Vom Raumschiff waren mit Sprengpatronen geladene SchnellIcuergewehre mitgebracht worden. Korzewski und Romanow stiegen aus, um nötigenfalls mit ihrer Hilfe einen Angriff auf das Amphibienfahrzeug abzuwehren. Wenn kein Gewitter aufzöge, würden sie so lange am Wasser Wache halten, bis Knjasew und Wtorow wieder in Sicherheit waren. Was geschehen sollte, lails doch ein Gewitter käme, wagte keiner sich auszumalen.

Andrejew blieb im Geländewagen. Er war für die Funkverbindung mit Knjasew und dem Raumschiff verantwortlich und sollte außerdem, wenn Reptilien an Land kämen, diese mit Scheinwerferlicht empfangen.

„Meiner Meinung nach ist Licht die beste Waffe gegen sie“, iagte Korzewski. „Man darf nicht vergessen, daß ihre Augen an Dunkelheit gewöhnt sind.“ Ohne zu zögern, ließ Knjasew den Motor an. Plätschernd fuhr das Amphibienfahrzeug ins Wasser. Die am Ufer Zurückbleibenden sahen, wie die Unterwasserflächen ausgefahren wurden, sich neigten und das Fahrzeug unter Wasser drückten. Das Kielwasser hinterließ auf der glatten Oberfläche des Sees eine schäumende Spur. Einen Augenblick war in dem trüben Halbdunkel unter Wasser noch das Plastedach zu erkennen, dann verschwand es. In der Tiefe flammte Licht auf, Knjasew hatte den Scheinwerfer eingeschaltet. Der helle Fleck entfernte sich langsam vom Ufer.

Qualvoll zogen sich die Minuten in die Länge. Jeden Augenblick erwarteten die drei Männer, daß der Schwimmwagen wiederauftauchen und, von gigantischen „Schildkröten“ verfolgt, in voller Fahrt an Land flüchten würde. Ob das Feuer ihrer Gewehre die Venusianer aufhalten würde? Konnten irdische Geschosse den Riesenleibern etwas anhaben? Würde das Scheinwerferlicht sie erschrecken?

Ohne den See aus den Augen zu lassen, beobachteten die drei Männer den hellen Fleck in der Tiefe. Er entfernte sich langsam und verblaßte. Dann verschwand er vollends. Offenbar war der Amphibienwagen noch tiefer getaucht.

Im Raumschiff verfolgten Melnikow und Toporkow in der Funkkabine unablässig das Ionometer. Bang dachten sie an die Möglichkeit eines Gewitters, und jeder flehte im stillen den Himmel der Venus um Mitleid an.

Ein langes Gewitter war das Schrecklichste, was ihnen widerfahren konnte. Die herniederprasselnden Wassermassen würden das Amphibienfahrzeug im See festhalten und den Venusianern ausliefern. Eine Gewitterfront wie jene, an der das Flugzeug gescheitert war, würde den Tod bedeuten.

Der Minutenzeiger schien sich in den Stundenzeiger verwandelt zu haben und kroch unerträglich langsam über das Zifferblatt.

Neunzig Minuten war Knjasews Fahrzeug schon unter Wasser.

Da geschah, was auf der Venus nicht ausbleiben konnte. Der zierliche Zeiger des Ionometers erzitterte.

„Schwimmwagen! Schwimmwagen!“

„Ich höre“, antwortete Wtorow.

„Ein Gewitter zieht auf! Sofort ans Ufer! So schnell wie möglich!“

„Wir kommen!“ Ob sie es schafften? Der Zeiger des Barometers schien rasch zu steigen …

Als Korzewski und Romanow hörten, daß ein Gewitter nahte, zogen sie sich vom Wasser zurück und blieben in der Nähe des Geländewagens. Sie waren entschlossen, bis zuletzt auf ihrem Posten zu bleiben und nicht einzusteigen.

Vom Raumschiff aus wurde pausenlos angefragt, ob der Amphibienwagen schon aufgetaucht sei. Wtorow meldete, daß sie mit äußerster Kraft führen. Die „Schildkröten“ verfolgten sie nicht.

„Auf dem Grund des Sees halten sich sehr viele von ihnen auf“, sagte er.

Bald darauf brach die Funkverbindung ab. Also war das Gewitter schon ganz nahe.

Der Amphibienwagen war noch nicht aufgetaucht.

Hinter dem Wald zuckte der erste Blitz auf. Der erste Donnerschlag krachte, „Steigt sofort ein!“ sagte Andrejew.

„Einen Augenblick noch!“ antwortete Romanow, ohne den See aus den Augen zu lassen.

Da leuchtete in der Ferne, fast am gegenüberliegenden Ufer, ein Fleck auf, der rasch heller wurde. Ein Scheinwerferstrahl schoß aus dem Wasser.

Die Männer an Land erkannten das weiß schäumende Kielwasser, das mit hoher Geschwindigkeit näher kam.

Schneller! Noch ein paar Sekunden …

Die Wucht der herabstürzenden Wassermassen warf Romanow zu Boden. Korzewski konnte gerade noch in die offene Tür tics Geländewagens springen.

Dichter Nebel hüllte das Ufer ein.

Die unterirdische Stadt

„Leben Sie wohl, Sinowi Serapionowitsch!“ sagte Belopolski.

„Leben Sie wohl!“ antwortete Balandin.

Sie hielten sich für verloren. Wie konnten sie sich gegen die Ungeheuer wehren, die ihren Geländewagen in den See trugen?

Belopolski unternahm einen letzten Versuch. Er schaltete den Motor ein, in der Hoffnung, die Seebewohner würden das Fahrzeug loslassen, aber die Raupenketten rührten sich nicht. Die Kräfte der „Schildkröten“ waren stärker als der Motor.

Die Männer hatten ein Gewehr bei sich. Es war mit Sprengpatronen geladen, und vielleicht hätte es sogar gegen solche Giganten etwas ausrichten können, aber es blieb ihnen keine Zeit, sich dieser Waffe zu bedienen.

Die vorderen Reptilien traten schon ins Wasser.

Plötzlich wurden sie von der Seite angeleuchtet.

Einen Augenblick sahen Belopolski und Balandin die Köpfe ihrer Entführer deutlich im Scheinwerferlicht vor sich.

Die „Schildkröten“ waren unglaublich häßlich. Drei riesengroße Augen, die im Licht ganz schwarz aussahen, und ein stark vorstehendes, gefletschtes Maul mit langen, spitzen Stoßzähnen, die zu beiden Seiten herausragten — mehr schien es in diesen „Gesichtern“ nicht zu geben. Es war die grimmige Visage eines blutgierigen Raubtieres. Der kahle, faltige Schädel endete dicht über den Augen. Keine Spur von einer Stirn.

Das heller werdende Scheinwerferlicht kam rasch näher. Die „Schildkröten“ rührten sich nicht, sie standen wie versteint.

Die beiden Sternfahrer wußten sehr wohl, was dieser Lichtstrahl bedeutete: Ihre Genossen eilten ihnen zu Hilfe.

Ein Funken Hoffnung glomm auf.

Sie sahen, wie sich die Reptile von dem Licht abwandten.

Balandin registrierte mechanisch, daß ihre Augen keine Lider besaßen und nicht geschlossen werden konnten.

Durch die Kabinenwand drang rasch anwachsender Lärm.

Der große Geländewagen war schon ganz nahe herangekommen.

Noch einen Augenblick — und er würde in voller Fahrt in die regungslose Gruppe hineinrasen.

Da stürzten sich die „Schildkröten“, ohne die Beute loszulassen, ins Wasser, als hätten sie sich plötzlich besonnen. Die Wellen schlugen über ihnen zusammen.

Der Hoffnungsfunke erlosch.

Die Venusianer schritten rasch in die Tiefe. Das matte Abendlicht wurde von undurchdringlichem Nebel abgelöst. Gelb funkelten die Augen der „Schildkröten“.

Belopolski stellte den Motor ab — er nützte ihnen nichts mehr.

Die hermetisch verschlossene Kabine ließ kein Wasser herein. Wenn die „Schildkröten“ den Geländewagen nicht zertrümmerten und die Fensterscheiben nicht anrührten, drohte den Menschen vorläufig keine Gefahr.

Sie merkten, daß der Grund des Sees steil abfiel. Immer weiter wurden sie in die finstere Tiefe getragen. Belopolski schaltete den Scheinwerfer ein. Sein Licht beleuchtete das Wasser weit voraus. Sie beobachteten, wie mehrere „Schildkröten“, die ihnen offenbar entgegenkamen, ins Dunkel flüchteten.

Plötzlich huschte etwas dicht vor ihren Fenstern vorüber. Ein furchtbarer Schlag traf den Wagen.

„Nun ist alles aus!“ sagte Balandin dumpf.

Ihre letzte Stunde schien gekommen. Die „Schildkröten“ wolllen anscheinend den Geländewagen zertrümmern. Bei ihren Riesenkräften würden sie dazu nicht viel Zeit brauchen.

Die Männer erwarteten, daß sogleich das Wasser in ihre Kabine eindringen würde. Aber es geschah nichts. Dem furchtbaren Schlag folgte kein zweiter.

Die eingetretene Finsternis erklärte alles. Die Reptilien hatten den Scheinwerfer eingeschlagen. Womit? Anscheinend mit einem Baumstamm. Das Licht war ihnen unangenehm gewesen, und sie hatten die Lichtquelle zerstört, den Wagen aber sonst nicht behelligt.

„Äußerst resolut!“ sagte Belopolski. „Allerdings auch flegelhaft.“ Er konnte sich nicht entschließen, den zweiten Scheinwerfer oder die Innenbeleuchtung einzuschalten.

Tn völliger Finsternis warteten die Männer, was weiterhin geschehen würde.

Die „Schildkröten“ trugen den Geländewagen immer weiter über den Seegrund. Der Wagen wiegte sich sacht in ihren Pranken.

„Warum schwimmen sie nicht?“ fragte Balandin.

„Sicherlich ist ihnen unser Wagen zu schwer.“

„Wir haben überhaupt noch keine schwimmen sehen.“

„Sie sind ja auch anders als unsere irdischen Schildkröten.

Vielleicht können sie gar nicht schwimmen.“

„Möglich.“ Die beiden Astronauten verspurten würgende Unruhe. Die Finsternis, die Ungewißheit und die Erwartung des Todes, der jeden Augenblick eintreten konnte, all das mußte sogar hart geprüfte Männer wie sie zermürben. Kein Mensch — und sei er noch so furchtlos — kann ungerührt seinem unnatürlichen Tode entgegensehen.

Die Minuten vergingen, aber die „Schildkröten“ äußerten keine gewalttätigen Absichten.

Wohin trugen sie den Geländewagen? Warum belasten sie sich so lange mit ihm? Die Gefangenen begannen sich zu wundern. Nach Belopolskis Rechnung hatten sie sich schon mindestens einen halben Kilometer vom Ufer entfernt.

Ebensoschnell wie am Anfang ging es weiter. Die Augen der beiden Männer gewöhnten sich allmählich an die Finsternis, und sie nahmen nun einen matten Schimmer wahr. Kein Zweifel, der Grund des Sees war beleuchtet. Aber womit und woher, konnten sie vorerst nicht ergründen. Verschwommen, wie im irdischen Sternenlicht, erkannten sie allmählich die Umrisse ihrer Umgebung. Sie stellten fest, daß nicht mehr fünf, sondern acht „Schildkröten“ ihren Wagen trugen. Ihre Augen strahlten wie gelbe Lampen. Doch nicht von ihnen ging dieses sonderbare Licht im Wasser aus!

Balandin bemerkte als erster zu beiden Seiten des Weges leuchtende Streifen. Da wußte er auf einmal, was es war.

„Sehen Sie dort!“ sagte er. „Es sind Baumstämme. Sie leuchten und erhellen den Seegrund.“ Er hatte sich nicht geirrt. Nun sah auch Belopolski, daß die Helligkeit tatsächlich von den ihnen schon bekannten Stämmen ausging. Sie lagen überall in ungeordneten Haufen und verbreiteten ein schwaches rosiges Licht. Der Wagen wurde gerade an einem ganzen Stapel solcher Baumstämme vorübergetragen, da erkannten die Männer deutlich den Seegrund. Orangefarbene Algen bedeckten ihn. Massen von „Schildkröten“ begleiteten ihre Artgenossen, die den erbeuteten Geländewagen trugen.

Sie erinnerten sehr an eine Menge neugieriger Müßiggänger. Nur daß diese Müßiggänger keine Menschen, sondern wilde Tiere waren.

„Ja“, antwortete Belopolski, „sie verwenden sie nicht als Baumaterial, wie wir gedacht haben, sondern als natürliche Laternen.“

„Wie schade, daß wir dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen!“ Konstantin Jewgenjewitsch gab keine Antwort. Balandin sah, wie sein Genosse hastig das Notizbuch hervorzog, es dicht an die Instrumententafel hielt und in ihrem bläulich matten Lichtschein hastig etwas aufschrieb. Der Professor verstand, daß Belopolski den Genossen, die obengeblieben waren, einen Brief schicken wollte. Aber wie wollte er dies tun?

„Ich werde diesen Zettel in ein Fläschchen unseres Sanitätskastens stecken“, erklärte Belopolski. „Sobald wir wissen, daß unser Ende gekommen ist, öffnen wir die Tür und werfen es hinaus. Das leere Fläschchen wird an die Oberfläche emporschnellen, und dort werden die Genossen es finden.“ Der Professor nickte. Dies war wirklich die einzige Möglichkeit, die sich ihnen noch bot.

Unermüdlich gingen die „Schildkröten“ weiter. Belopolski hatte den Eindruck, sie steuerten geradewegs auf das gegenüberliegende Ufer zu. Ihre Absichten blieben unklar. Was wollten sie dort tun? Warum machten sie mit den Menschen nicht unterwegs im Wagen kurzen Prozeß?

Im rosigen Licht der hölzernen „Lampen“ sahen die Gefangenen, daß sich immer mehr Seebewohner ihrem Zug anschlossen.

Mindestens hundert „Schildkröten“ gaben dem Geländewagen das Geleit.

„Sehen Sie nur — was ist denn das dort vorn?“ sagte Balandin.

Weit vor ihnen zeichnete sich im Dunkel ein heller Fleck ab.

Je naher sie kamen, desto heller wurde er. Die „Schildkröten“ gingen direkt auf ihn zu.

Bald erkannten die Astronauten etwas, was an einen leuchtenden Torbogen erinnerte.

Noch einige Dutzend Schritte, und sie standen dicht davor.

Der Bogen bestand aus ebensolchen Stämmen, wie sie am Ufer gestapelt waren und auf dem Seegrund in Haufen umherliegen. Zu einem Halbkreis zusammengefügt, umrahmten sie den Eingang zu einem Tunnel, der anscheinend tief ins Innere des südlichen Seeufers führte. Die Wände des Tunnels waren ebenfalls mit Baumstämmen verschalt, so daß er wie ein leuchtender Gang in Ungewisse Fernen wirkte, die sich im rosigen Dunkel verbargen. Der Tunnel stand voll Wasser.

Die „Schildkröten“ durchschritten den Torbogen und verschwanden in dem merklich aufwärts führenden Gang.

Das Licht, das von den Baumstämmen ausging, färbte das Wasser rosa. Es war so hell, daß Belopolski und Balandin mühelos die kleinsten Einzelheiten erkennen konnten. Die Menge der „Schildkröten“, die ihnen das Geleit gab, glich bei dieser Beleuchtung mit ihren rosigen Leibern und roten Panzern einem phantastischen Gespensterzug. Allmählich erlosch in ihren Augen das gelbe Feuer.

Während diejenigen Reptilien, die das Raupenfahrzeug trugen, auf zwei Beinen in aufrechter Haltung gingen, liefen die meisten anderen auf allen vieren.

Der Tunnel war sehr lang. Sein Ende war noch nicht abzusehen.

„Es dürfte kaum anzunehmen sein, daß dies ein künstlicher Tunnel ist“, sagte Belopolski. „Er stammt sicherlich von einem Wasserdurchbruch.“

„Wer weiß, ob diese Geschöpfe so etwas nicht auch fertigbringen!“ antwortete Balandin. „Alles ist möglich. Aber wir werden es bald erfahren.“ Vor ihnen zeichneten sich in der rosigen Dämmerung allmählich schärfere Konturen ab. Endlich tat sich ein riesiger Raum auf, der im ersten Augenblick völlig leer wirkte.

Die „Schildkröten“ stiegen aus dem Wasser.

Sie befanden sich in einer gewaltigen Höhle, die tief in das südliche Steilufer hineinreichte, so weit, daß man das Ende nicht erkennen konnte. Zu Häupten hing ein steinernes Gewölbe. Schwacher Lichtschein erhellte den unterirdischen Saal.

Von wo er ausging, war nicht zu entdecken.

Der Boden war völlig trocken. In geraden Reihen standen sonderbare Würfel nebeneinander. Sie bildeten so etwas wie Straßen aus Häusern ohne Fenster. Die Würfel waren anscheinend aus Holz, aber diese Balken leuchteten nicht. Vielleicht verlor sich ihr Leuchten auch in dem Dämmerschein, der die ganze Höhle erfüllte.

„Das also ist ihre Stadt!“ sagte Belopolski zufrieden.

„Es scheint so.“ Balandin nickte.

Die Reptilien gingen mitten auf einer der Straßen. Oft tauchten hier und dort flüchtige Gestalten auf, die nicht genau zu erkennen waren. Ihrer Größe nach zu urteilen, waren es keine „Schildkröten“.

Die hölzernen Würfel stellten anscheinend die Häuser der unbekannten Bewohner dieser unterirdischen Stadt dar. Aber für die riesigen „Schildkröten“ waren derartige Wohnungen ziemlich eng.

Der Tunnelausgang blieb weit zurück. Unverdrossen setzte die „Schildkröten“ menge ihren Weg fort Endlich blieb sie stehen. Die Reptile traten an die Wand unes „Hauses“ heran und gingen abwärts. Wohin? Fünf Meter geradeaus. Dann wieder aufwärts. Und dann sahen sich die Menschen im Innern des eigenartigen Bauwerks. Die „Schildkröten“ gingen noch einige Schritte und setzten dann das Kettenfahrzeug behutsam auf den balkengefügten Fußboden.

Unter schwierigen Bedingungen hatten sie den Geländewagen, der anderthalb Tonnen wog, zweieinhalb Kilometer getragen, was ein weiteres Mal ihre ungeheuren Kräfte bewies.

Nacheinander verließen sie das Haus auf dem gleichen Wege, auf dem sie hereingekommen waren.

„Da sitzen wir also im Gefängnis“, stellte Belopolski fest, und ich bin doch nicht dazu gekommen, unsere Flaschenpost abzuschicken. Es dürfte uns wohl kaum noch glücken.“ Aufmerksam hielten sie Umschau.

Der Bau war völlig leer. Es gab darin keine Zwischenwände.

Er bestand offenbar nur aus einem einzigen „Zimmer“, besaß keine Fenster und keine Decke.

Wenn man das Haus von der „Straße“ aus betrachtete, sah es wie ein Würfel aus. In Wirklichkeit waren es einfach vier Wände von etwa sieben Meter Höhe.

Die beiden Sternfahrer hielten diese Bauweise der Häuser für logisch durchdacht. Über der „Stadt“ gab es keinen Himmel, und ihr drohten also weder Regen noch Wind. Vorteilhaft wurden Decke und Dach durch das steinerne Gewölbe der Höhle ersetzt. Der Fußboden war aus Balken gefügt. Die Tür — wenn man diesen Eingang so nennen wollte — befand sich in einer Ecke. Wände und Fußboden strahlten rosiges Licht aus.

Zwanzig Minuten warteten die Menschen stumm, ob ein Venusianer erschiene, aber die Zeit verging, und niemand suchte sie auf.

„Wie lange reicht unser Sauerstoff?“ fragte Balandin.

„Noch fast zwei Tage. Aber was tut das schon? Es bedeutet nur eine Verlängerung der Agonie.“

„Könnten wir hier nicht entfliehen?“ Belopolski zuckte mit den Schultern.

„Schmerzen Ihre Beine noch sehr?“ fragte er, anstatt zu antworten.

„Was tut das schon“, erwiderte Balandin mit den Worten des Kommandanten, „ich habe sie vergessen.“

„Egal — solange uns Zeit bleibt, muß der Verband gewechselt werden. Wer weiß, was uns noch bevorsteht.“ Belopolski schaltete die Kabinenbeleuchtung ein. Vorsichtig nahm er die Binde ab und musterte stirnrunzelnd die verbrannten Knie. An den Rändern der aufgequollenen Brandblasen war die Haut tiefrot, was auf eine schwere Entzündung hinwies.

Das kann zur Gangräne ausarten! durchfuhr es ihn. — Wie hält er das aus? Das sind doch bestimmt höllische Schmerzen!

Außer Pikrinsäure enthielt der Sanitätskasten für diese Fälle keine Mittel. Er war nur für Erste Hilfe gedacht. Belopolski wußte nicht, was bei einer solch schweren Verbrennung zu tun war.

Er legte dem Professor einen neuen Verband an.

Qualvoll zogen sich die Minuten des Wartens in die Länge.

Um die Energie der Akkumulatoren zu sparen, schaltete Belopolski die Kabinenbeleuchtung aus. Das Leuchten der Hauswände genügte.

Vor zwei Stunden waren sie aus der Ohnmacht erwacht. Eine halbe Stunde warteten sie nun schon in dem Würfelhaus, aber kein Laut drang zu ihnen. Weit und breit schien alles ausgestorben zu sein. Tiefe Stille herrschte in dem „Haus“.

Aber die „Schildkröten“ hätten ihre Gefangenen doch nicht so weit getragen, um sie dann in diesem Blockhaus sich selbst zu überlassen. Es mußte doch jemand kommen. Aber wer und wozu? Was würde mit ihnen geschehen?

Belopolski klinkte die Tür auf und stieg aus.

Der kleine Geländewagen besaß keine Luftschleuse. Seit sie das Raumschiff verlassen hatten, trugen sie unausgesetzt ihre Gasmasken. Im Innern des Wagens war die gleiche Luft wie draußen.

Auf den runden Stämmen konnte man schlecht stehen. Die Schuhsohlen rutschten an dem glatten Holz ab.

Belopolski trat zur Wand und versuchte, einen Schlitz zu entdecken, durch den er nach außen blicken könnte. Aber die Stämme waren sehr fest zusammengefügt. Jeden Augenblick bereit, vor den Venusianern in den Wagen zu flüchten, untersuchte er vorsichtig den Raum. Als er zur Tür kam, sah er, daß keine Treppe hinabführte. Der Abstieg bestand ebenfalls nur aus Stämmen. Man konnte sich kaum vorstellen, wie die Reptilien mit ihrer schweren Last auf ihnen hatten hinaufgehen können.

Die quadratische Türöffnung war drei Meter breit.

Nachdem Belopolski seinen Rundgang beendet hatte, kehrte er zum Wagen zurück.

Abermals verging eine Stunde. Niemand kam. Das befremdete und beunruhigte die Männer. Hatten die „Schildkröten“ sie etwa hier eingekerkert, um sie sterben zu lassen?

Die Stille schien unheilkündend.

„Solange wir nicht wieder ins Wasser getragen werden“, sagte Belopolski, nur um das drückende Schweigen zu brechen, „können wir uns mit den Atemmasken begnügen. Dadurch sparen wir Sauerstoff, strecken den Vorrat auf fünf bis sechs Tage. Aber wir haben keine Lebensmittel bei uns außer der eisernen Ration, und die ist nicht sehr groß. Trotzdem schlage ich vor: Wir starken uns jetzt!“

„Das durfte nicht schaden.“ Balandin war einverstanden.

Aber kaum hatten sie die eiserne Ration ausgepackt, da hörten sie ein Geräusch wie das Tappen von Riesenfußen.

Hastig schloß Belopolski die Wagentür.

Sie sahen an der Tür den häßlichen Kopf einer „Schildkröte“ auftauchen. Dann schob sich ihr Riesenleib herein. Das Tier trat in die Mitte des Raumes.

Es trug einen langen, schmalen Gegenstand auf den Pranken.

In dem rosigen Halbdunkel konnten die Männer nicht erkennen, was es war. Die „Schildkröte“ legte ihre Last auf den Fußboden und verschwand.

Belopolski und Balandin trauten ihren Augen nicht — sie erkannten in dem Gegenstand einen Menschen in einem Gasschutzanzug.

Es war der Geologe der Expedition, Wassili Wassiljewitsch Romanow.

Nacht

Am 24. Juli ging der Venusabend zur Neige. Wie schon vermutet, hatte die Dämmerung nach Sonnenuntergang beinahe fünfzig Stunden gedauert.

Bereits vom Morgen des 24. Juli an — die Astronauten maßen die Zeit nach der Uhr der Erde — verdichtete sich das Dunkel zusehends. Gegen achtzehn Uhr trat die Nacht vollends in ihre Rechte.

Aber diese Nacht war bei weitem nicht so dunkel wie erwartet. Wenn Paitschadse nicht gesagt hätte, sie sei bereits angebrochen, so wären alle wahrscheinlich der Meinung gewesen, es sei noch Abend. Nichts war zu beobachten, was der tiefen Finsternis entsprach, die doch eigentlich auf der Oberfläche des Planeten hätte eintreten müssen unter den Bedingungen einer dicken Wolkendecke. Von den Fenstern des Observatoriums aus sahen die Männer immer noch den Fluß und den Wald, und in der Ferne konnten sie sogar die Umrisse der Stromschnellen erkennen. Die Beleuchtung erinnerte an eine Nacht auf der Erde, wenn der Mond im ersten Viertel steht.

„Unsere theoretischen Berechnungen sind somit bestätigt“, frohlockte Paitschadse. „Die Helligkeit des Nachthimmels der Venus ist dank der Nähe zur Sonne fünfzigmal stärker als auf der Erde und beträgt ein Fünftel des Vollmondlichts. Wir haben uns nicht geirrt.“ Die Kosmonauten bereiteten die Nachtarbeit vor. Viele verschiedenartige Aufgaben waren zu lösen. Es galt, eine ganze Reihe fotometrischer Messungen zu verschiedenen Zeitpunkten der Nacht vorzunehmen und die Schwankungen der Boden- und Lufttemperaturen in verschiedenen Höhen und zu verschiedenen Zeiten — zu Beginn und am Ende der Nacht sowie um Mitternacht — graphisch darzustellen. Außerdem mußte die Intensität der kosmischen Strahleneinwirkung auf den Planeten untersucht und die innere Struktur der Venus mit Radargeräten erforscht werden. Unendlich viele, nicht minder wichtige Aufgaben harrten der Lösung. Ein Teil sollte in dieser, der Rest in der nächsten Nacht gelöst werden. Zwei Venustage wollte die „SSSR-KS 3“ auf dem unerforschten Planeten bleiben.

Keine dieser Arbeiten konnte im Innern des Schiffes geleistet werden. Die Männer mußten ihre Apparaturen ans Ufer bringen und Stunde um Stunde bei ihnen verweilen. Obwohl viele Prozesse automatisch abliefen, überwachten die Wissenschaftler die Geräte; sie wollten vermeiden, daß auch nur das geringste mißlang. Die Venusianer hatten schon bewiesen, daß sie den fremden Eindringlingen feindlich gesinnt waren, und während der Nacht konnte sich jeden Augenblick einer von ihnen dem Schiff nähern. Es würde diesen Geschöpfen mit ihrer gewaltigen Körperkraft leichtfallen, die zerbrechlichen Apparate der Menschen zu zerstören.

Alle Vorsichtsmaßnahmen waren getroffen. Im Umkreis von hundert Metern wurde das Ufer von grellem Scheinwerferlicht überflutet. Niemand konnte sich den Arbeitsplätzen nähern, ohne rechtzeitig bemerkt zu werden. Jedes Besatzungsmitglied, das von Bord gehen mußte, wurde von zwei gut bewaffneten Genossen begleitet, die einen Überfall abwehren konnten.

Allerdings glaubte keiner der Wissenschaftler an einen Überfall der Reptilien. Der Sicherungsdienst wurde nur auf alle Fälle eingerichtet, damit sich hinterher niemand Vorwürfe zu machen brauchte.

Die Suche nach Belopolskis Geländewagen in der Tiefe des Sees hatte eindeutig bewiesen, daß das Scheinwerferlicht ein völlig ausreichender Schutz war. Auf die Sehorgane der an die Finsternis gewöhnten Wasserbewohner wirkte das Licht offenbar ganz unerträglich.

Gewitter störten die Arbeiten jetzt fast gar nicht mehr. Sie zogen seit Einbruch der Nacht immer seltener auf und wurden bedeutend schwächer, es goß eigentlich nur noch.

Wenn sich die ganze Besatzung an Bord befand, erloschen die Scheinwerfer, und über das Raumschiff breitete sich das sichtige Dunkel. Dann richteten sich die Nachtferngläser und die Strahlen der Radarprojektoren auf die Umrisse der fernen Stromschnellen. Die Stapel sahen noch genauso aus wie bei Tage, die Seebewohner hatten sie nicht angerührt.

Mehrmals schalteten die Astronauten überraschend einen Scheinwerfer ein und richteten seinen Strahl auf den nahen Waldrand. Aber sie entdeckten dort nicht das Geringste.

„Sie haben Angst vor unserem Schiff“, sagte Melnikow, „und trauen sich nicht nahe heran. Unsere Anwesenheit hindert sie, in gewohnter Weise ihre Nachtarbeit zu verrichten.“ Das klang sehr wahrscheinlich. Das gigantische Raumschiff, das da plötzlich am Flußufer lag und dessen Herkunft und Zweck für sie unerklärlich war, mußte auf die Venusianer geheimnisvoll und furchterregend wirken.

„Vielleicht kehren wir auf die Erde zurück, ohne die Reptilien ein einziges Mal fotografiert zu haben“, sagte Wtorow. „Das würde ich mir nie verzeihen.“ Gennadi Andrejewitsch hatte Grund, mit sich unzufrieden zu sein. War er den Venusianern doch begegnet. Regungslos hatten sie, vom Scheinwerfer angestrahlt, vor ihm gestanden, während er die Kamera in der Hand hielt. Eine günstigere Aufnahmebedingung war kaum denkbar.

Das Versäumte ließ sich offenbar nicht wiedergutmachen. Die seltsamen Geschöpfe würden sich kaum in die Nähe des Schiffes wagen. Von einem zweiten Versuch, am Ufer des Sees auf sie zu warten, konnte keine Rede sein. Seit Melnikow Kommandant war, hatte er kategorisch jede Exkursion untersagt. Bis zum Heimflug durfte sich kein Expeditionsmitglied mehr weit vom Schiff entfernen.

„Wir haben genug Opfer gebracht!“ sagte er zu den Genossen.

„Bei der nächsten Reise werden wir die Venusbewohner kennenlernen.“ Sosehr Wtorow auch darauf erpicht war, eine Aufnahme der Venusianer zu machen, mußte er doch zugeben, daß dieser Beschluß der einzig richtige war. Die Expedition hatte vier Mann verloren. Das war tatsächlich ein großer Verlust.

Durch einen Zufall, den man weder hatte voraussehen noch verhindern können, war Leonid Orlow auf der Arsena ums Leben gekommen. Ein Opfer eigenen Leichtsinns war Wassili Romanow geworden. Und wie schließlich Belopolski und Balandin in die Hände der Venusianer geraten und von ihnen auf den Grund des Sees getragen worden waren, wußte niemand zu sagen. Es bestand keine Hoffnung auf ihre Rettung mehr.

Der kleine Geländewagen war spurlos verschwunden. Knjasew und Wtorow hatten ächtmal mit dem Amphibienfahrzeug den Seegrund abgesucht, das Fahrzeug jedoch nirgends entdeckt.

Wohin konnten es die Ungeheuer verschleppt haben? Das blieb ein Geheimnis. Nach dem ergebnislosen achten Versuch hatte Melnikow befohlen, an Bord zurückzukehren.

„Wir haben getan, was wir konnten“, sagte er, „und mehr dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.“ Das Gewitter, das die erste Tauchfahrt des Amphibienwagens unterbrach, war zum Glück nur schwach und kurz gewesen. Aber als es endete, sahen Korzewski und Andrejew mit Entsetzen, daß ihr Kamerad,“ der nicht rechtzeitig in den Geländewagen hatte einsteigen können, nirgends mehr zu entdecken war. Offenbar hatte Wassili Romanow beim Aufprall des herniederbrechenden Regengusses das Bewußtsein verloren und war in den See gespült worden.

„Sofort suchen!“ befahl Melnikow.

Der Schwimmwagen war unversehrt geblieben. Als das Gewitter begann, tauchte Knjasew wieder unter, so daß ihm weder liegen noch Blitze etwas anhaben konnten. Die Befürchtungen, daß die Seebewohner das Fahrzeug angreifen würden, erwiesen sich als ungerechtfertigt. Die Venusianer, von denen die beiden Kundschafter auf dem Seegrund über hundert zählten, verspürten panische Angst vor den Scheinwerfern. Sobald das Licht eingeschaltet wurde, sanken sie auf den Grund und krochen ganz unter ihre Panzer, wie sie dies im Ozean auch getan hatten.

Der Schwimmwagen konnte unter Wasser umherfahren, soviel es ihm beliebte.

Als Knjasew erfuhr, daß Romanow vermißt wurde, fuhr er näher ans Ufer heran und suchte eingehend den Grund ab. Aber der junge Geologe blieb ebenso spurlos verschwunden wie Belopolskis Geländewagen.

Mit der Energie der Verzweiflung suchten sie zwölf Stunden hintereinander ihre vermißten Kameraden; sie vergaßen alles andere und lösten einander ständig ab. Von einem Ende zum anderen wurde der Seegrund abgesucht.

Vergeblich!.Sie stießen weder auf den Geländewagen noch auf den Körper Romanows. Wie sich herausstellte, war der See nicht sehr tief. Sie sahen auf dem Grund Baumstämme, die in riesigen Haufen umherlagen, entdeckten zahlreiche Arten von Wasserpflanzen und anderen Gewächsen, bemerkten aber außer den „Schildkröten“ kein einziges Lebewesen, keinen einzigen Fisch.

„Verstecken kann man den Wagen dort nicht“, sagte Knjasew.

„Wir haben ihn aber nirgends entdecken können.“

„Wo kann er denn sein?“

„Ich weiß es nicht. Im See ist er jedenfalls nicht.“ Fast gleichzeitig hatten drei Genossen den Tod gefunden.

Alle waren tief erschüttert.

„Die letzte Frist ist verstrichen!“ schrieb Melnikow am Abend des 24. Juli in sein Tagebuch. „Bis zuletzt sagte mir ein dumpfes Gefühl, daß Konstantin Jewgenjewitsch und sein Begleiter noch am Leben seien. Ich wollte und wollte die Hoffnung nicht aufgeben! Aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz bildete ich mir ein, sie würden zurückkehren. Heute ist diese fadenscheinige Hoffnung zusammengebrochen. Sogar theoretisch läßt sie sich nicht mehr halten. Alles ist zu Ende. Der Sauerstoffvorrat im Geländewagen ist erschöpft. Falls die beiden noch am Leben waren, müssen sie jetzt zweifellos tot sein. Sie haben nichts mehr zum Atmen! Was für ein schreckliches Los!

Ich wünschte — soweit ist es gekommen! — , daß die Reptilien die Wand des Wagens sofort eingedrückt, die Scheiben zertrümmert und die Kameraden getötet haben … Zu schrecklich wäre der Gedanke, daß sie zwei Tage und zwei Nächte ohne Hoffnung auf Rettung in den Händen der wilden Tiere leben mußten!

Wieviel glücklicher — was für ein Wort! — ist dagegen Romanows Schicksal! Wenn er durch den peitschenden Regen nicht sofort getötet worden ist, muß er doch sehr schnell gestorben sein. Er hatte sehr wenig Sauerstoff in seinem Behälter.

Ironie des Schicksals! Ich bedauerte es, daß der Funkverkehr mit der Erde abbrach. Jetzt segne ich diesen Umstand. Mit welchen Worten könnten wir das Vorgefallene schildern?

Natürlich ist es egoistisch, aber ich denke an Olga. Wieviel Tage mußte sie voller Sehnsucht warten, als nach unserer Lanj düng auf der Venus niemand daheim um unser Schicksal wußte.

Und jetzt sollen wir melden, daß noch drei Kameraden verunglückt sind? Nein, lieber nicht an diesen Alptraum denken!

Aber wo wurde der Geländewagen versteckt? Wohin ist Romanows Leichnam gebracht worden?

Kann man uns vorwerfen, wir hätten ungenügend nach den Vermißten geforscht? Sollten wir es nicht noch einmal versuchen? Nein, dazu bin ich nicht berechtigt. Wassili Romanow ist den ›Schildkröten‹ in die Hände gefallen. Das steht fest. Und ebenso wie den Geländewagen von K. J. haben sie ihn irgendwo versteckt. Warum haben sie das getan? Wo ist dieses Versteck? Knjasew und Wtorow behaupten, es läge kein Geländewagen auf dem Seegrund. Ein schreckliches Rätsel. Haben die Ungeheuer das Fahrzeug etwa zerstückelt und die Leiber unserer unglücklichen Kameraden zerrissen? Oder haben sie…

Was wissen wir von den Bewohnern dieses Planeten? Nichts wissen wir. Es sind ›Schildkröten!‹ Was für sonderbare und wunderliche Geschöpfe! Mir stehen sie immer noch vor Augen.

Aufdringlich. Konnten wir ahnen, daß sie, die wir vom Unterseeboot aus sahen, daß diese Amphibien die vernünftigen Bewohner der Venus, ihre Menschen sind? Selbst jetzt, da doch eigentlich die letzten Zweifel entfallen, kann ich es nicht glauben.

Korzewski behauptet, daß die ›Hände‹ der Venusianer, den Beschreibungen nach zu urteilen, kein Lineal hätten herstellen können. Sie seien einer derartigen schöpferischen Leistung nicht fähig. Sie besäßen keine Hände, sondern die Pfoten von Tieren.

Ich bin überzeugt, daß dieses Urteil zutrifft. Das Lineal haben andere gemacht.

Vielleicht sind die ›Schildkröten‹ tatsächlich nur Tiere? Ihr Benehmen allerdings gleicht nicht dem Benehmen der Tiere der Erde. Aber was besagt das? Wir haben es mit Tieren der Venus zu tun. In Indien arbeiten ja auch Elefanten. Sie reißen Bäume aus, transportieren Baumstämme. Genauso wie die ›Schildkröten‹ hier. Außerdem wissen wir gar nicht, ob sie selber es tun.

Wer aber sind dann die wahren Herren der Venus. Wo sind sie? Wie sehen sie aus? Werden wir sie zu Gesicht bekommen?

Nein, bei dieser Expedition sicher nicht mehr. Ich habe selber icden Versuch, sie aufzuspüren, untersagt. Und ich werde meinen Entschluß nicht ändern. Später! Bei der nächsten Venusfahrt!

Wie schwer, wie schwierig ist es, ruhig aufzutreten und durch nichts den Schmerz zu verraten, der mich keinen Augenblick verläßt! Wie oft muß ich mit Gewalt die Tränen zurückhalten.

Manchmal möchte ich wie ein Tier brüllen, um meiner Verzweiflung Luft zu machen. Aber es darf nicht sein! Jeder andere Genosse, ja, aber ich nicht. Sogar wenn ich allein bin, muß ich mich zusammennehmen. Ich bin nicht nur für mich da. Später!

Wenn unsere unglückselige Fahrt beendet ist…“ In der Nacht zum 25. hatte Knjasew Wache.

Um drei Uhr morgens setzte er unerwartet die Alarmglocke in Betrieb. Keine fünf Minuten später hatten sich alle acht Besatzungsmitglieder in der Steuerzentrale versammelt.

„Was ist geschehen?“ fragte Melnikow, der als erster eintrat.

Wortlos wies Knjasew auf den Bildschirm.

Der Himmel der Venus war von flammendem Rot überzogen.

Der unheilschwangere Widerschein war so stark, daß man deutlich die ganze Umgebung des Schiffes erkennen konnte. Die für gewöhnlich dunklen Gewitterwolken schillerten in allen Schattierungen des Rubinrots. Jenseits des Horizonts schien eine fürchterliche Feuersbrunst zu wüten.

Verständnislos starrten die Sternfahrer mit klopfendem Herzen das unerklärliche Bild an.

Was war das? Ein Brand? Ein Vulkanausbruch? Die Männer meinten, das blutrote Lodern würde stärker, und eine unerklärliche Gefahr nähere sich dem Schiff.

Melnikow wechselte einen Blick mit Saizew. Beiden kam der gleiche Gedanke. War es nicht Zeit zu starten und, solange das — noch möglich war, der unbekannten Gefahr zu entfliehen?

Plötzlich stieg hinter dem Wald ein grün und violett funkelnder Vorhang empor, der sich alsbald wieder auflöste. Wie ein flimmerndes Netz überspannten Leuchtfäden den ganzen Horizont, verflochten sich miteinander und funkelten in allen Schattierungen von Smaragd und kirschrotem Granat.

„Das wird ein Polarlicht sein!“ Paitschadse war es, der als erster die Vermutung äußerte.

„Es ist ganz plötzlich aufgeflammt“,’ sagte Knjasew.

Nachdem alle sich beruhigt hatten, gingen sie ins Observatorium hinüber und betrachteten, dicht an die Fenster gedrängt, schweigend das bezaubernde Schauspiel. Wtorow filmte.

Das Rubinrot des Himmels wurde abgelöst von Orange, dann durchlief das Licht die ganze Farbskala und glitzerte schließlich wie reinster Aquamarin. Die smaragdgrünen und granatfarbenen Linien wichen einem fluoreszierenden Strom von Kristallfäden.

Das phantastische Farbenkaleidoskop veränderte sich anderthalb Stunden lang unaufhörlich und entzückte das Auge durch die Vielfalt der Farbverschmelzungen und Schattierungen. In allem Reichtum erstand vor den Menschen die Palette des größten Künstlers — der erhabenen Natur.

Die hinter dem Horizont versinkende Sonne gab zum Abschied ein einzigartiges Schauspiel.

Gegen fünf Uhr morgens erlosch das Polarlicht allmählich.

Immer zarter wurden die Farben des Himmels, immer deutlicher traten die bleigrauen Wolken hervor.

„Erstaunlich!“ sagte Korzewski.

„Fragt sich nur — was!“ erwiderte Paitschadse. „Erstaunlich ist nicht so sehr das Schauspiel selber. Es muß hier farbenprächtig sein. Die Venus ist der Sonne nah. Erstaunlich ist etwas anderes. Das Polarlicht entsteht in den oberen Schichten der Atmosphäre, auf der Venus also über einer zehn Kilometer dicken Wolkendecke. Wieso haben wir es da so deutlich sehen können? Das bleibt vorläufig ungeklärt.“

„Was könnten wir sehen, wenn wir über den Wolken wären?“ fragte Wtorow.

„Höchstwahrscheinlich würden wir geblendet werden“, antwortete Paitschadse.

Bewegt von allem Erlebten, gingen die Astronauten halb widerstrebend in ihre Kajüten.

Aber keiner konnte sofort wieder einschlafen. Als Knjasew zum zweiten Male Alarm gab — es war noch keine Stunde vergangen —, stürmten daher alle sogleich zur Steuerzentrale, weil sie wieder etwas so Wunderschönes zu sehen hofften wie das Nordlicht. Doch diesmal erwartete sie etwas anderes. Diese Nacht sollten sie nie wieder vergessen, sie bereitete ihnen noch eine Überraschung.

Aschfahl im Gesicht, empfing Knjasew die Genossen mit dem unverständlichen Satz: „Sie haben etwas gebracht!“

„Wer — ›sie‹?“ fragte Melnikow.

„Die Reptile.“ Alle hasteten zum Bildschirm. Aber im trüben Halbdunkel der Nacht sahen sie nichts.

„Licht!“ befahl Melnikow.

Grelles Scheinwerferlicht breitete sich über den Boden. Da entdeckten sie ganz nah beim Schiff einen kleinen dunklen Gegenstand im Gras.

„Ich bemerkte, wie sich von den Stromschnellen her eine schlecht erkennbare Masse näherte“, berichtete der junge Mechaniker, „ein dunkler Körper. Zuerst dachte ich, es sei ein riesiges Tier. Es kam langsam immer näher. Ich schaltete den Scheinwerfer nicht ein, weil ich es mir ansehen wollte und das Licht es hätte verscheuchen können. Dem Schiff kann es keinen Schaden zufügen, auch wenn es noch so groß ist. Als es näher kam, erkannte ich — es waren ›Schildkröten‹, ebensolche, wie wir am See gesehen haben. Sie trugen etwas. In ihrer Begleitung befand sich ein anderes Tier, das viel kleiner war, aber ich konnte es nicht richtig erkennen. Weil ich nicht wußte, was ich machen sollte, habe ich Alarm gegeben. Aber während Sie hierher eilten, haben die Reptilien diesen Gegenstand dort abgelegt.

Dann sind sie sehr schnell in Richtung Fluß verschwunden.“

„Da hätten Sie doch den Scheinwerfer anstellen sollen“, sagte Korzewski unwirsch.

„Ich konnte mich nicht dazu entschließen. Erschrecken wollte ich sie doch nicht.“

„Es war richtig!“ Melnikow billigte die Handlungsweise.

Also hatten die Seebewohner sich nicht gescheut, dem Raumschiff nahe zu kommen. Sie hatten den Menschen etwas gebracht. Was und warum?

„Genosse Wtorow“, befahl Melnikow, „steigen Sie aus und holen Sie das Ding an Bord. Andrejew geht mit Ihnen.“ Eine halbe Stunde später trugen die beiden Männer die geheimnisvolle Gabe ins Observatorium.

Neugierig umringten alle das Geschenk.

Es sah aus wie eine rhombenförmige Holzschüssel mit halbrunden, nach innen gebogenen Rändern. Sie war kunstvoll gefertigt, so glatt, daß sie beinahe glänzte, und besaß drei dünne, ebenfalls hölzerne Spitzen, die am Boden befestigt waren. Das Gefäß war sorgsam mit Büscheln orangefarbener Wasserpflanzen und roten Laubes bedeckt. Darauf lagen acht flache rote Fladen und — eine goldene Uhr.

Melnikow traute seinen Augen nicht, er ergriff sie.

„Das ist doch Konstantin Jewgenjewitschs Uhr“, sagte er.

Die Herren des Planeten

Zum Wesentlichsten im Leben eines jeden Geschöpfes gehört die Nahrungsaufnahme. Die ersten Vorstellungen des noch kaum entwickelten Hirns sind unlöslich mit ihr verbunden. Und von den unteren bis zu den oberen Stufen der Evolution ordnet sich alles, was da kreucht und fleucht, diesem unerschütterlichen Gesetz der Natur unter.

Alle vernunftbegabten Wesen sorgen unabhängig von ihrem Entwicklungsgrad für Nahrung, und zwar nicht nur für sich, sondern auch für andere Geschöpfe, mit denen sie verbunden sind. Vögel und wilde Tiere beschaffen Futter für die ganze Familie. Das gleiche tun die Menschen. Ein Raubtier überläßt seine Beute einem anderen, wenn es nicht kämpfen will. Das gilt als Zeichen von Friedfertigkeit. Wilde Völkerschaften bieten dem Feind zum Zeichen des Friedens Lebensmittel an, die sie erarbeitet haben.

Bei orientalischen Völkern hat sich die Sitte bewahrt, im Hause eines Feindes nichts zu essen. Die Nahrung mit einem Feind zu teilen, heißt sich mit ihm versöhnen. Einem Menschen etwas zu essen anbieten, heißt ihm Sympathie beweisen.

Das Gesetz der Nahrungsaufnahme diktiert Sitten und Gebräuche. So war es, so ist es und wird es bleiben, weil die Nahrung eine Lebensgrundlage und oberstes Gesetz der Natur für die Lebewesen ist. Und man darf annehmen, daß dieses Gesetz nicht nur auf der Erde gilt. Es herrscht gebieterisch überall, wo es Lebewesen gibt, die zumindest primitiver Überlegung fähig sind, die heranwachsen und sich vermehren.

Gleichartige Vorstellungen von einem Gegenstand müssen unausweichlich auch gleichartige Begriffe über dessen Rolle in diesem oder jenem Falle hervorbringen.

Was Wunder also, daß die Venusianer genauso handelten, wie Menschen der Erde es an ihrer Stelle getan hätten. Nur die von Menschen gemachten Gesetze verändern sich und können unterschiedlich sein, die Gesetze der Natur sind überall gleich.

Die Bewohner der Venus wollten, als sie ihr „Brot“ zum Raumschiff brachten, den Fremden sagen, daß sie Frieden anböten.

Ihre Handlungsweise ließ sich gar nicht anders auslegen.

In diesem Sinne äußerte sich der Biologe Korzewski, als sich nach gründlicher Analyse herausstellte, daß die acht Fladen der Reptilien ein Fischgericht darstellten.

Niemand zweifelte, daß dies tatsächlich die Bedeutung des überraschenden Geschenks war. Es war ein Friedenszeichen.

Was dachten die Venusianer über das Raumschiff? Wofür hielten sie es?

„Da sie weder Sonne noch Sterne je gesehen haben, können sie nichts von der Existenz anderer Welten wissen“, sagte Paitschadse. „Sie halten uns für Bewohner ihres eigenen Planeten, die sie bislang nicht gekannt haben.“ Das war durchaus möglich. Auch die Eingeborenen abgelegener Inseln der Erde empfingen einst die ersten Schiffe der Europäer mit Früchten und selbstgefertigten Gegenständen.

Aber warum hatten die Venusianer neben ihr „Brot“ Belopolskis Uhr gelegt? Was bedeutete diese schreckliche Erinnerung an einen Menschen, den sie umgebracht hatten? Die Uhr stand.

Alle Expeditionsmitglieder wußten, daß Konstantin Jewgenjewitsch nie vergaß, sie aufzuziehen. Was bedeutete die Uhr?

Eine Warnung oder ein Zeichen der Reue?

Paitschadse sprach einen Gedanken aus, der allen zugleich kam.

„Sie haben Konstantin Jewgenjewitsch die Uhr abgenommen“, sagte er, „und hierhergebracht, um uns so mitzuteilen, daß die Leichname unserer Genossen bei ihnen liegen. Warum sie allerdings nicht die Leichname mitgebracht haben, weiß ich nicht.

Sie bieten uns an, sie zu holen. Die Fischfladen beweisen, daß sie Frieden wollen und unsere Fahrzeuge nicht mehr angreifen werden. Ich glaube, wir sind verpflichtet, sie ein zweites Mal zu besuchen. Natürlich am Seeufer. Wenn sie herauskommen und uns einladen, können wir ihnen mit dem Schwimmwagen folgen.“ Eine Weile blieb es still in der Messe, in der das Gespräch stattfand. Niemand wagte seine Meinung über eine so verantwortungsvolle Sache zu sagen, ehe sich Melnikow geäußert hatte.

Aber dieser schwieg. Er schien ganz in Gedanken versunken.

„Ich schließe mich Arseni Georgijewitsch an“, sagte Toporkow endlich. „Es ist nicht die Art sowjetischer Wissenschaftler, sich vor Gefahren zu fürchten.“

„Es geht nicht um die Gefahren“, sagte Melnikow und wurde wieder nachdenklich. „Warum sind es acht Fladen?“ fragte er auf einmal. „Kann man das als reinen Zufall betrachten?“ Alle in der Messe sahen sich an. Wahrhaftig! Niemand war aufgefallen, daß die Venusianer genausoviel Fladen geschickt hatten, wie Männer an Bord waren. Für jeden einen!

„Woher können sie das erfahren haben?“ fragte Korzewski unsicher.

„Das ist es ja — woher?“ Melnikow sah die Genossen mit blitzenden Augen an. „Sie haben es erfahren können von…“ Er beendete den Satz nicht, aber alle wußten, was er meinte.

Das rätselhafte Auftauchen der goldenen Uhr, die Belopolski, wie alle wußten, nie liegenließ, konnte etwas ganz anderes bedeuten als das, was sie zunächst gedacht hatten. Er selber hatte sie den Venusianern gegeben. Das konnte heißen: „Zu Hilfe!“ Lebten Belopolski und Balandin etwa noch?

„Auf, zum See!“ rief Paitschadse leidenschaftlich.

„Ja!“ antwortete Melnikow. „Wir müssen sofort zum See fahren. Es kann sein, daß wir uns geirrt haben, aber es kann auch sein, daß unsere Vermutung zutrifft. Zu zögern wäre verbrecherisch.“ Die Entscheidung des Kommandanten war eine Freude für alle. Nur Korzewski zog eine finstere Miene und schüttelte mit dem Ausdruck ernsten Zweifels den Kopf.

„Mit wem könnte Konstantin Jewgenjewitsch über uns gesprochen haben?“ fragte er. „Mit den ›Schildkröten‹? Wie denn?“

„Sascha hat ein Lebewesen gesehen, das wahrscheinlich ein richtiger Venusianer ist“, entgegnete Melnikow. „Wie dem auch sei — wir können nicht am Auftauchen der Uhr vorübergehen, was immer es auch bedeuten mag.“

„Das bestreite ich nicht“, pflichtete ihm der Biologe bei.

Nachdem die Sternfahrer ihren Entschluß gefaßt hatten, holten sie sogleich den größten Geländewagen aus seinem Hangar.

Es war ein robustes Ganzmetallfahrzeug mit zwei Motoren von zweieinhalbtausend PS und zwei getrennten Steuervorrichtungen. Er konnte vorwärts und rückwärts mit gleichhoher Geschwindigkeit fahren und legte hundertzwanzig Kilometer in der Stunde zurück. Die schmalen Fenster, die einen Rundblick nach allen Seiten ermöglichten, waren nicht mit Glas, sondern mit drei Zentimeter dicker Plaste verschalt. Mit seinen auffallend breiten Raupenketten konnte der Wagen sich auch auf sumpfigem Boden bewegen. An der Vorder- und Rückwand waren spitze, seitlich gerichtete Rammsporen angebracht, die die Raupenketten schützten. Der Geländewagen konnte sich durch das dickste Dickicht, das für die anderen Wagen unbefahrbar blieb, einen Weg bahnen. Seine große Länge, acht Meter, bewahrte ihn an Steilhängen davor, sich zu überschlagen, und sein Gewicht, zweiunddreißig Tonnen, schützte ihn vor einem Mißgeschick, wie es Belopolskis Wagen ereilt hatte. Eine derartige Last würden die Reptile schwerlich tragen können.

Das Werk, in dem dieses Fahrzeug gebaut worden war, hatte auch für Bequemlichkeit gesorgt. Im Innern befanden sich sechs Polstersitze, die in Ruhebetten verwandelt werden konnten.

Eine automatische Klimaanlage reinigte und temperierte die Luft. Die Einstiege besaßen Doppeltüren mit eingebauter Luftschleuse. Drei Funkeinrichtungen — ein Hauptgerät, ein Reservegerät und ein Fernsehgerät — sorgten für eine zuverlässige drahtlose Verbindung.

Im Gegensatz zu den bisher auf Raumfahrten verwendeten Geländewagen war dieser bewaffnet. Aus einem besonderen Turm, der sich über dem vorderen Teil des Wagens erhob, ragte ein großkalibriges Maschinengewehr.

Kamow hatte Belopolski dazu bewogen, dieses bewaffnete Fahrzeug „für alle Falle“ mitzunehmen.

„Wer weiß, vielleicht haben wir grundsätzlich falsche Vorstellungen von den Bewohnern der Venus“, hatte er gesagt.

„Nehmen Sie es zu unserer Beruhigung mit.“

„Das sind zweiunddreißig Tonnen überflüssige Last.“

„Einen großen Geländewagen brauchen Sie sowieso.“ Neben dem Maschinengewehr waren auch die Raupenketten in Anbetracht der starken Motoren eine furchtbare Waffe. Wäre das Fahrzeug nicht so robust gewesen, hätte Melnikow die gefährliche Exkursion vielleicht gar nicht gewagt.

Als die Besatzung beriet, wer an der Fahrt teilnehmen solle, entbrannte ein heftiger Streit. Jeder wollte dabeisein. Schließlich mußte Melnikow von seinen Rechten als Kommandant Gebrauch machen.

„Knjasew wird den Wagen fahren“, bestimmte er. „Ihn begleiten Korzewski als Arzt und Wtorow als Kameramann. Die Befehlsgewalt übertrage ich Knjasew.“ Laut Erdkalender war es der 25. Juli, halb acht Uhr morgens, laut Venuskalender aber tiefe Nacht, als der schwere Geländewagen das Raumschiff verließ. Er fuhr langsam zu den Stromschnellen, nachdem er den im Scheinwerferlicht liegenden Uferstreifen hinter sich gelassen hatte. Die an Bord zurückgebliebenen Männer versammelten sich im Observatorium und blickten ihm so lange nach, bis seine Umrisse in der Finsternis der Nacht verschwammen. Aber auch dann blieben sie noch am Fenster stehen und spähten angestrengt in die Ferne.

Nach zehn Minuten etwa flammte in weiter Ferne ein Scheinwerfer auf — die Kameraden suchten die Schneise. Dann verschwand das Licht. Der Wagen war in den Wald gefahren.

Die fünf Männer gingen hinüber in die Funkkabine. Toporkow schaltete den Bildschirm ein. Sogleich erschien das Bild des Waldweges. Die Fernsehkamera, die auf dem Geländewagen montiert war, trat in Tätigkeit Deutlich zeichnete sich der langsam vorüberziehende Wald ab, der von dem grellen Scheinwerferlicht des Fahrzeuges angestrahlt wurde. Aus dem Lautsprecher erscholl das Gerassel der Raupenketten. Die Männer fühlten sich an der Seite ihrer Genossen. Sie horten jedes Wort, das im Wagen gewechselt wurde, und konnten sich, wenn sie wollten, an der Unterhaltung beteiligen.

Toporkow streckte den Arm aus, um sich in die Unterhaltung einzuschalten, aber Melnikow hielt ihn zurück.

„Wir wollen sie lieber nicht ablenken. Wenn nötig, werden sie selber anrufen.“ Er sprach so leise, als fürchtete er, die Besatzung des Gelandewagens könnte ihn hören. Aber die Sendeanlage war ausgeschaltet.

Schweigend saßen die fünf Männer in der verdunkelten Kabine vor dem hellen Bildschirm und nahmen an jeder Bewegung des mächtigen Raupenfahrzeugs Anteil. Sie schienen mit ihm verschmolzen. Saizew wiegte sich sogar auf seinem Stuhl hin und her, als die Landschaft auf dem Bildschirm erzitterte und schneller vorüberzog. Knjasew fuhr nun bedeutend schneller.

Plötzlich…

Die fünf Männer beugten sich ruckartig vor und unterdrückten einen Schrei.

Hinter einer Wegbiegung, der sich der Wagen schnell näherte, trat überraschend eine Gruppe der Seebewohner hervor. Es waren mindestens zwanzig…

Alle fünf spürten förmlich, wie scharf Knjasew bremste. Die Bäume auf dem Bildschirm kamen zum Stillstand. Ebenso reglos verharrten die Reptile.

Sekundenlang waren deutlich ihre roten Panzer, die faltigen blaßrosafarbenen Leiber und die kleinen dreieckigen Köpfe zu sehen…

Dann erloschen die Scheinwerfer des Wagens. Der Wald versank in völlige Finsternis.

Finsternis schlug auch den Männern in der Funkkabine des Raumschiffes vom Bildschirm her entgegen.

Die Begegnung mit den Venusbewohnern kam für Knjasew und seine Begleiter nicht überraschend. Sie waren jeden Augenblick darauf gefaßt gewesen und hatten sich sogar gewundert, als ihnen an den Stromschnellen keine einzige „Schildkröte“ begegnet war. Die Stapel sahen unberührt aus.

Fast einen Kilometer war der Wagen auf dem Waldweg gefahren, ohne daß sich ein Lebewesen hätte blicken lassen. Zweimal sahen sie ganz am Ende des Lichtkorridors etwas Lebendes hin und her huschen. Aber das ging so schnell und überraschend vor sich, daß keiner genau zu sagen wußte, ob es eine optische Täuschung oder Wirklichkeit war.

„Also gibt es doch eine Tierwelt auf der Venus?“ fragte Korrewski verständnislos. „Und die Lebewesen verlassen bei Nacht ihre Schlupfwinkel?“ Da tauchten plötzlich hinter einer Kurve die zwanzig Venusianer auf.

Knjasew hielt an.

Die Reptile blieben ebenfalls stehen. Sie waren etwa dreißig Schritt entfernt.

Aus dieser kurzen Entfernung konnte man gut Einzelheiten erkennen, die auf dem Bildschirm im Raumschiff nicht zu sehen waren.

An Bord sah man nur, daß „Schildkröten“ auf dem Weg standen. Korzewski, Wtorow und Knjasew aber beobachteten mehr. Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß ihre Augen nicht trogen und vor ihnen keine Gespenster geisterten, sondern etwas Wirkliches stand, frohlockten sie: Das große Geheimnis der Venus lüftete sich endlich.

Korzewski hatte recht gehabt — nicht die „Schildkröten“ waren die Herren des Planeten, nicht sie waren jene vernünftigen Lebewesen, deren Existenz die Astronauten vom ersten Tage an vermutet hatten.

Die riesigen rötlichen Leiber mit den häßlichen roten Panzern auf dem Rücken und den seltsam kleinen dreieckigen Köpfen standen wie eine Mauer quer über die Schneise fest und unerschütterlich. Die vorderen rührten sich nicht und äußerten auch keine feindlichen Absichten. Vielleicht blendete sie das Scheinwerferlicht.

Aber die drei Astronauten beobachteten nicht die Ungetüme, sondern drei sonderbare Geschöpfe, die vor der „Abteilung“ standen. Sie waren vor dem rosafarbenen Hintergrund nicht sogleich zu erkennen.

Kein Zweifel — dies waren die Menschen der Venus.

Sie wirkten neben den gigantischen „Schildkröten“ sehr klein.

Nicht größer als einen Meter. Ihr Körper war mit einer blaßrosafarbenen, fast weißen Haut überzogen und endete in einem kurzen dicken Schwanz. Die zwei Paar Gliedmaßen endeten in drei beweglichen Fingern und Zehen ohne Schwimmhäute. Der Kopf mit mächtig aufgestülpten Lippen und drei riesigen Augen, die nicht an den Seiten, sondern vorn in einer Reihe saßen, ruhte auf einem kurzen Hals. Nah beieinanderstehend, sahen die Augen von weitem wie eine schwarze Binde aus. Auf dem platten, glänzenden Schädel wuchs kein Haar.

Sie standen aufrecht, auf den Schwanz und die unteren Gliedmaßen gestützt, die man Beine nennen konnte. Diese Beine besaßen keine Fußsohlen, sondern nur lange, dicke Zehen.

Was die oberen Gliedmaßen betraf, so blieb kein Zweifel an ihrer Bestimmung. Es waren Arme, glatte, runde Arme, die in breiten Händen mit vier biegsamen Fingern endeten.

In ihren Händen hielten die Venusianer verschiedene Gegenstände.

Der eine hatte einen langen hölzernen Stock bei sich, der einer Lanze ohne Metallspitze glich, der zweite trug ein steinernes Gefäß in Form einer Schale und der dritte genauso ein Lineal, wie es die Astronauten aus der Bucht gefischt hatten.

Dieses Lineal hatte den Menschen die ganze Zeit keine Ruhe gelassen. Nun sahen sie es in den Händen seiner Besitzer.

Wortlos musterten die Menschen eine Weile die Herren des Planeten. Korzewski stellte mechanisch fest, daß ihre Stirn über den drei schwarzen Augen eine markante Wölbung aufwies.

Die Köpfe der „Schildkröten“ dagegen waren flach, ihre Augen funkelten im Dunkeln gelb, so wie sie bei Raubtieren der Erde im Dunkeln grün funkeln.

Obwohl er bislang weder die „Schildkröten“ noch ihre Gebieter gesehen hatte, war dem Biologen Korzewski gefühlsmäßig schon klar gewesen, daß die riesigen Panzertiere keine vernünftigen Wesen sein konnten. Alles, was er über sie gehört hatte, widersprach dem. Nun überzeugte er sich, daß er recht gehabt hatte.

Wtorow und Knjasew dachten das gleiche.

Die Menschen sahen, daß die Venusianer — nicht die „Schildkröten“- beim überraschenden Herannahen des Geländewagens wie angewurzelt stehenblieben. Dann hoben sie die Hände vor die Augen, um sich gegen das Licht zu schützen. Keiner wich einen Schritt zurück.

Die „Schildkröten“ drehten dem Fahrzeug wie auf Kommando den Rücken zu.

Da tat Knjasew, was ein anderer an seiner Stelle vielleicht nicht gewagt hätte: Er stellte die Scheinwerfer ab.

„Gefahr droht uns nicht“, sagte er ruhig und knipste die Kabinenbeleuchtung an. Er wollte die Venusianer gleichsam einladen, näherzutreten und sich die Eindringlinge anzusehen.

„Sie sind so zahlreich, daß sie unser Fahrzeug aufheben und tragen könnten“, sagte Wtorow.

„Das werden sie nicht tun“, entgegnete Knjasew bestimmt und dachte: Sie haben uns doch ihr „Brot“ gebracht.

Draußen war es stockfinster. Die drei Raumfahrer warteten schweigend.

Was die Venusbewohner im Augenblick taten, wußte keiner.

Vielleicht trauten sie sich nicht an die rätselhafte Maschine heran und berieten, was sie tun sollten. Vielleicht störte sie sogar das verhältnismäßig schwache Licht im Innern des Wagens.

Korzewski meinte, letzteres sei am wahrscheinlichsten, und schaltete das Licht aus. Nun wurde das Wageninnere nur vom Armaturenbrett matt bläulich erhellt.

Da erblickten sie im Dunkel wankende gelbe Lichter. Es waren die leuchtenden Augen der Reptile. Sie kamen näher. Bedächtig und mißtrauisch gingen die riesigen Tiere auf den Wagen zu.

Den drei Männern fiel auf, daß in ein Meter Höhe keine Augen zu sehen waren. Also wollten die Venusianer entweder nicht an den Wagen herantreten, oder ihre Augen leuchteten nicht.

Am Armaturenbrett flammte das rote Anrufsignal auf. Korzewski beugte sich vor.

„Abwarten!“ flüsterte er. „Sie kommen auf uns zu.“ Die verschwommenen Schatten schienen ganz nahe zu sein, aber die Menschen konnten es nicht genau feststellen. Die Finsternis selber wankte und schwankte. Die gelb funkelnde Lichterkette der ungeheuren Augen schlängelte sich, wie durch die Luft schwebend, heran und bildete einen Halbkreis um den Wagen. Wie wenn eine schwarze Wand den finsteren Wald verdrängte.

Bis auf einen Meter etwa mochten die „Schildkröten“ herangekommen sein. Jeden Augenblick konnten sie angreifen. Knjasew umklammerte die Bedienungshebel.

Waren die Venusmenschen bei den „Schildkröten“?

Blaue Dämmerung erfüllte die Kabine. Die Sternfahrer sahen einander kaum. Das gespenstische Licht des Armaturenbretts drang nicht nach außen, aber dann und wann beobachteten die Männer dicht vor den Fenstern verschwommene helle Flecken — einen matten Widerschein der glänzenden rosafarbenen Leiber.

Angestrengt lauschend, vernahmen sie ein kaum hörbares Kratzen — die „Schildkröten“ befühlten den Geländewagen.

Auf einmal mußte Korzewski laut husten. Sofort hörte das Geraschel auf. Die gelben Augen traten zurück, die dunkle Wand rückte ab.

Der Biologe lächelte zufrieden. Die Venusianer besaßen also ein feines Gehör. Und sie hatten Angst vor dem Raupenfahrzeug.

Eine ganze Weile blieben die gelben Augen in achtungsvoller Entfernung. Jedoch die Stille im Wageninnern beruhigte sie offenbar. Die Wand rückte wieder näher. Aber es kratzte von außen nicht mehr am Wagen. Die Venusianer wagten wohl nicht, das rätselhafte Ding noch einmal zu berühren, oder sie wollten es nicht.

Knjasew, Korzewski und Wtorow wußten, daß die Reptile sie forschend beobachteten. Ihre ans Dunkel gewöhnten Augen mußten alle Einzelheiten im Wageninnern gut erkennen. Die Armaturenbeleuchtung konnte sie nicht stören, sie war nicht hell.

Ein Gegenstand wurde dicht an das vordere Fenster gehalten.

Knjasew glaubte, es sei das berühmte Lineal. Behutsam klopfte jemand an die Scheibe. Nach einer Weile klopfte es abermals.

Die gelbe Lichterkette zog sich einige Schritte zurück.

„Sie bitten uns, auszusteigen“, sagte Knjasew.

Korzewski und Wtorow sahen sich schweigend an.

Den Geländewagen verlassen … Sich diesen rätselhaften Geschöpfen ausliefern … Diese äußerten zwar keine feindseligen Absichten, aber trotzdem … Wer weiß, wes Geistes Kind sie bind? Vielleicht haben sie schon versucht, den Geländewagen wegzutragen, und locken nun, weil es ihnen nicht gelungen ist, die Menschen heraus?

„Wir müssen Boris Nikolajewitsch fragen“, sagte Korzewski.

„Wozu?“ Man sah, wie Knjasew verständnislos die Schulten!

hob. „Wenn wir die Venusianer kennenlernen wollen, müssen wir aussteigen. Ich steige aus!“

„Dann lieber ich“, erwiderte Wtorow, „du wirst an Bord nötiger gebraucht.“

„Wer von uns wichtiger ist, bleibt fraglich. Aber wozu streiten? Es besteht keinerlei Gefahr.“

„Also dann laß mich aussteigen…“

„Lassen Sie mich lieber gehen“, bat Korzewski.

Knjasew sah den Biologen gar nicht an. Er schien seine Worte nicht gehört zu haben.

„Gut“, sagte er. „Wenn dir soviel daran liegt, Gennadi, dann geh. Aber ich glaube, wir müssen den Scheinwerfer anstellen.“

„Das blendet sie.“

„Wir werden den Strahl nach oben richten, sonst siehst du die Hand nicht vor den Augen. Zweige und Blätter werden das Licht ausreichend widerspiegeln, daß du dich orientieren kannst und sie nicht geblendet werden.“

„Immerhin sollten wir Melnikow fragen“, schlug Korzewski abermals vor.

Es hatte ihn nicht beleidigt, daß Knjasew ihn nicht beachtet hatte. Der junge Mechaniker, dem die Leitung dieser Unternehmung übertragen worden war, hatte sich gescheut, den einzigen Biologen der Expedition einer Gefahr auszusetzen. Der Umfang der Arbeit, die es noch zu leisten galt, war beträchtlich.

Stanislaw Kasimirowitsch hatte sich fast gewohnheitsmäßig freiwillig gemeldet.

„Ich habe nichts dagegen“, antwortete Knjasew. „Aber Boris Nikolajewitsch kann gar nicht anders als zustimmen.“ Melnikow widersprach tatsächlich mit keinem Wort. Nachdem er Korzewskis informativen, aber knappen Bericht angehört hatte, fragte er nur, wer aussteigen werde.

„Gennadi Andrejewitsch“, antwortete Korzewski.

Melnikow schwieg einige Augenblicke.

„Machen Sie sich auf alles gefaßt“, sagte er. „Ein Mann muß an den Scheinwerfern, der andere am MG stehen.“ Während diese Worte gewechselt wurden, zogen sich die Venusbewohner noch weiter vom Geländewagen zurück. Sie warteten offenbar.

Wtorow setzte den Gasschutzhelm auf. Knjasew drehte einen Scheinwerfer senkrecht nach oben und schaltete den Strom ein.

Eine weiße Lichtsäule stieg empor. In großer Höhe trat das Laubdach des Waldes aus dem Dunkel.

Die Finsternis verflüchtigte sich, sichtiges Halbdunkel löste sie ab.

In zwanzig Schritt Entfernung erblickten die Männer die dicht bei dicht stehenden Reptile sowie die drei phantastischen Gestalten der Venusianer. Alle hielten den Kopf gesenkt, als begrüßten sie die Fremden. Aber es war klar, daß sie sich nicht vor ihnen verneigten, sondern die Augen vor dem Scheinwerferlicht schützen wollten. Zwei hielten sich die Hand vor die Augen.

Kein einziges dieser merkwürdigen Geschöpfe rührte sich von der Stelle.

„Gehen Sie ans MG“, befahl Knjasew dem Biologen.

Er hielt diese Vorsichtsmaßnahme für überflüssig, aber der Kommandant hatte sie angeordnet.

Der Biologe stieg in den Turm. Wie alle anderen Besatzungsmitglieder der „SSSR-KS 3“ konnte er sämtliche Waffen an Bord bedienen.

Ohne im geringsten zu zögern, öffnete Wtorow die Innentür des Wagens und trat in die Luftschleuse. Dann stieg er aus und ging gelassen auf die Venusianer zu.

Einer kam ihm entgegen.

Die Reptile liefen ähnlich den Menschen auf zwei Beinen.

Der Venusianer aber bewegte sich anders fort. Er ging nicht, sondern hüpfte. Unter Zuhilfenahme des Schwanzes näherte er sich in kurzen Sätzen dem Kosmonauten. In den Händen trug er eine steinerne Schale.

Korzewski und Knjasew verfolgten gespannt jede Bewegung des artverwandten Geschöpfes. Zugleich ließen sie die beiden anderen Venusianer, die auf ihrem Platz geblieben waren, und auch ihr furchteinflößendes Gefolge nicht aus den Augen.

Wtorow ging nur fünf Schritte, dann blieb er stehen. Der Venusianer mußte mehr als zwanzigmal springen, um zu ihm zu gelangen.

Ein Mensch der Erde und ein „Mensch“ der Venus standen bich gegenüber.

Wtorow streckte die Hand aus.

Der Venusianer ergriff sie nicht. Er sprang sogar einen Schritt’ zurück. Dann hielt er Wtorow die Schale entgegen und ließ sie, los, kaum daß Wtorows Hände sie sacht berührten.

Die Schale fiel zu Boden und zersprang.

Was folgte, geschah binnen Sekunden.

Der Venusianer sprang zurück und hob die Hände. Das war offenbar ein Signal.

Fünf Reptile stampften auf Wtorow zu.

Blitzschnell riß Knjasew den Scheinwerfer herum. Der Lichtstrahl schoß den Angreifern in jähem Bogen direkt in die Augen.

Wie vom Schlag gerührt, blieben die Tiere stehen.

Der junge Mechaniker spürte, daß Korzewski sogleich auf den Abzug drücken würde… Auf die Masse der rosigen Leiber würde ein Geschoßhagel prasseln und Tod und Verderben säen.

„Nicht schießen!“ rief er und schaltete den zweiten Scheinwerfer ein.

Aber der eine genügte. Die angreifenden Reptile sanken zu Boden und bargen den Kopf unterm Panzer. Die übrigen kehrten dem Wagen den Rücken zu. Der Venusianer, der Wtorow entgegengekommen war, sprang zu seinen Artgenossen zurück.

Gennadi Andrejewitsch bückte sich und las die Scherben der Schale auf. Dann wich er rückwärts gehend zurück. Nicht daß er Angst hatte, den unerwarteten Feinden den Rücken zuzukehren. Der Scheinwerfer hatte vor ihnen eine unüberwindliche Mauer aufgerichtet. Er konnte einfach nicht das Gesicht dem Geländewagen zuwenden, von dem blendende Helle ausging.

Als Knjasew die Tür der Luftschleuse hinter Wtorow zufallen hörte, schaltete er den einen Scheinwerfer aus und richtete den Sjarahl des anderen wieder senkrecht nach oben. Er dachte nicht einmal daran, den Rückwärtsgang einzulegen und vor der Gefahr das Weite zu suchen. Er wollte wissen, was die Venusbewohner tun würden. Er fürchtete sie nicht, das Licht war ein sicherer Schutz.

„Was hatte das zu bedeuten?“ fragte Korzewski verständnislos.

„Was ist geschehen?“ fragte Melnikow erregt aus dem Lautsprecher. „Warum wollte Stanislaw Kasimirowitsch schießen?“ Knjasew schilderte, was vorgefallen war.

„Man könnte annehmen“, schloß er, „daß die steinerne Schale eine gewisse symbolische Bedeutung besitzt. Gennadi hat danebengegriffen. Ich habe es deutlich gesehen. Die Schale ist entzweigegangen, und sie haben das als Ablehnung ihrer Gabe aufgefaßt. Wir kennen doch ihre Sitten nicht. Vielleicht bedeutet das ihren Auffassungen nach feindliche Absichten oder sogar eine Kriegserklärung. Wer kann es wissen?“

„Die Scherben müssen gesammelt werden, um damit zu zeigen, daß wir ihr Geschenk annehmen.“

„Das hat Gennadi bereits getan.“

„Und die Venusianer?“

„Sie haben sich dreißig Schritte zurückgezogen und scheinen zu beraten. Zum mindesten sieht es so aus.“

„Seid so vorsichtig wie möglich.“

„Selbstverständlich, Boris Nikolajewitsch!“

„Ein dummer Zufall!“ sagte Korzewski. „Wäre Wtorow die Schale nicht aus der Hand gerutscht, hätten die Ereignisse eine interessante Wendung nehmen können.“

„Sie sind auch so interessant genug“, antwortete Knjasew.

„Sogar mehr als genug.“ Die Venusianer verließen ihren Platz nicht. Sie kamen weder naher noch entfernten sie sich. Die Reptile hatten dem Geländewagen den Rücken zugekehrt. Die drei Venusianer standen dicht beieinander und erweckten tatsächlich den Anschein, als berieten sie.

„Schau einer an!“ sagte Korzewski. „Sie scheinen die Scheinwerfer für unsere einzige Waffe zu halten und glauben, sie waren völlig sicher, wenn sie uns den Rücken zudrehen.“

„Das machen sie doch richtig“, sagte Melnikow. „Das Licht ist eine sichere und ausreichende Waffe. Eine andere anzuwenden wäre grausam und unmenschlich.“

„Boris Nikolajewitsch, Sie haben recht!“ antwortete Knjasew.

Diese Geschöpfe sind ungefährlich. Gegen uns sind sie machtlos.“ Es dauerte aber gar nicht lange, da mußte er einsehen, daß dies eine Fehleinschätzung war.

Über zehn Minuten blieb die Lage unverändert. Der Geländewagen rührte sich nicht, und die Venusbewohner warteten ebenfalls ab. Wtorow hatte inzwischen die Desinfektionsprozedur abgeschlossen und verließ die Luftschleuse.

„Ich habe wirklich bloß danebengegriffen, so daß mir die Schale aus der Hand fiel“, antwortete er Korzewski auf dessen Frage. „Ich war nicht darauf gefaßt.“

„Und wo sind die Scherben?“

„Die habe ich in der Luftschleuse gelassen. Wir werden sie uns an Bord ansehen. Was wollen wir jetzt tun?“

„Abwarten. Wir überlassen den Venusianern die Initiative.“ Sie ließen nicht lange auf sich warten.

Die Masse der Rotgepanzerten geriet in den hinteren Reihen in Bewegung. Die vorn Stehenden traten beiseite und gaben einem gewaltigen Ungetüm den Weg frei, das im ersten Augenblick wie eine unbekannte Maschine aussah. Als die Menschen genauer hinsahen, wurde ihnen klar, daß ein großer Holzschild auf sie zugetragen wurde; er bestand aus Stämmen, die mit einer Art von Stricken untereinander verbunden waren. Wer ihn trug, war nicht zu sehen.

„Die Kampfhandlungen werden eröffnet“, stellte Knjasew fest.

„Außerordentlich interessant!“ rief Korzewski aus. „Daran läßt sich erkennen, daß es auf der Venus verschiedene Stämme gibt und daß sie miteinander Krieg führen. Kein Zweifel — sie kennen den Krieg.“

„Das ist sehr schade“, sagte Wtorow bekümmert.

Der Schild kam näher. Die Absichten der Venusianer ließen keinen Zweifel mehr offen. Mit dem Schild gegen das Scheinwerferlicht geschützt, wollten sie sich dem Geländewagen nähern.

„Mut kann man ihnen nicht absprechen“, sagte Korzewski.

„Unser Fahrzeug muß ihnen Angst einflößen, aber man merkt ihnen nichts an. Woher kommt das?“ Er schien Selbstgespräche zu halten und sprach so ruhig, als drohte ihnen gar keine Gefahr. „Wilde Stämme auf der Erde würden es nicht wagen, ein Kettenfahrzeug zu überfallen. Entweder sind die Venusianer bedeutend klüger als sie oder aber bedeutend dümmer und ahnen daher nichts von der Gefahr.“

„Hypothesen werden wir im Raumschiff aufstellen“, warf Knjasew ein. „Gehen Sie ans MG, aber schießen Sie nicht ohne meinen Befehl! Gennadi, setz dich ans hintere Pult.“

„Sollten wir nicht lieber zurückfahren?“

„Ich will wissen, was sie vorhaben. Fliehen können wir immer noch.“ Er ahnte nicht, wie bald er gezwungen sein würde, seine Meinung zu ändern.

Um die Sitten und Gebräuche, den Charakter und die Kraft eines unbekannten Volkes kennenzulernen, braucht man stets Zeit. Wenn dies schon auf der Erde zwischen einander verwandten Geschöpfen so ist, muß es den Bewohnern des einen Planeten erst recht schwerfallen, die Bewohner eines anderen kennenzulernen.

Zwischen den Menschen und den Venusianern gab es nur eine Gemeinsamkeit: die Vernunft. In allem übrigen unterschieden sie sich sehr stark voneinander. Und nicht nur im Äußeren, sondern offenbar auch in der Weltauffassung. Die Menschen konnten nicht begreifen, warum ein Zufall, den sie far belanglos hielten, die Einstellung der Venusbewohner zu ihnen so unvermittelt geändert hatte.

Die Venusianer fürchteten sich anscheinend wirklich nur vor den Scheinwerfern. Ob sie die Funktionsweise dieser Apparate verstanden oder sie für gefahrliche Tiere hielten, blieb ungewiß, aber sie richteten ihren Angriff vor allem auf die Scheinwerfer. Die Menschen bemerkten es zu spät.

Knjasew glaubte, die „Schildkröten“ würden wieder versuchen, den Wagen hochzuheben und in den See zu tragen, und er war überzeugt, daß dieser Wagen zu schwer für sie war.

Doch es geschah etwas anderes.

Der hölzerne Schild kam näher und blieb vier Schritt von dem Wagen entfernt stehen. Dann fiel er zu Boden und gab den Blick auf die gigantischen Gestalten der Venuskrieger frei. Die „Schildkröten“ hielten riesige Steine in ihren Pranken.

Die Menschen begriffen alles erst, als bereits dichte Finsternis eingetreten war. Ungeheuer wuchtige Schläge hatten die Scheinwerfer zertrümmert oder abgerissen.

„Vorwärts!“ rief Kcjasew.

Selbst in diesem Augenblick, in dem sie doch angegriffen wurden, konnte er sich nicht zu jenem Befehl entschließen, den Korzewski erwartete.

Wtorow ließ den Motor an. In undurchdringlicher Finsternis hielt der Geländewagen auf den Fluß zu. Die Schneise war ecrade, aber solange voraus nichts zu erkennen war, konnte nicht mit hoher Geschwindigkeit gefahren werden. Die Männer hofften, sich auch bei langsamer Fahrt rasch zu befreien.

Knjasew warf einen Blick nach hinten und sah, daß sich die gelb funkelnden Augen immer weiter entfernten. Die Reptile waren stehengeblieben und versuchten nicht, den Wagen zu verfolgen.

Er dachte angestrengt über alles nach und gelangte zu einer Deutung des Vorgefallenen, die danach von allen Genossen im Raumschiff als wahrscheinlich anerkannt wurde. DieVenusianer hatten gar nicht die Absicht gehabt, über sie herzufallen. Die ersten Reptile, die sich, wie es schien, auf Wtorow stürzten, konnten das Scheinwerferlicht, das ihren empfindlichen Augen arg zu schaffen machte, nur nicht mehr ertragen. Sie waren vielleicht sogar völlig erblindet. Da sie nicht wußten, wozu die Menschen die Lichtquellen brauchten, rächten sie sich an den Scheinwerfern wie an feindlichen Lebewesen. Vermutlich wollten sie damit weder dem Wagen noch seinen Insassen schaden.

Was konnten sie von den Menschen wissen, wenn selbst die Existenz anderer Lebensbedingungen als derjenigen ihres Planeten ihnen völlig unbekannt war. Die Venusianer brauchten kein Licht, es war ihnen fremd. Noch nie hatten sie einen Sonnenstrahl gesehen.

„Die ganzen Vorfälle sind nichts weiter als ein Mißverständnis!“ sagte Knjasew laut. „Aber wie sollen wir die Sache wieder geradebiegen?“

„Kehren Sie an Bord zurück“, befahl Melnikow über den Sprechfunk. „Dann werden wir überlegen, was zu tun ist. Kommen Sie schnell!“

„Wir können nicht schnell fahren, weil wir den Weg nicht erkennen.“

„Der Weg ist zu erkennen“, sagte Wtorow auf einmal.

Alle im Wagen und an Bord staunten, als sie das hörten.

„Wo kannst du ihn erkennen?“ fragte Knjasew.

„Schau nur selber hin“, erwiderte der Ingenieur.

Die Kabinenbeleuchtung war natürlich nicht eingeschaltet.

Korzewski und Knjasew spähten durchs vordere Fenster und erkannten wenige Schritte vor dem Wagen einen matt leuchtenden Streifen. Dann erblickten sie etwa hundert Meter voraus einen zweiten.

„Was ist das?“ Korzewski staunte.

„Baumstämme“, erklärte Wtorow, „eben die, die längs der Schneise liegen.“

„Ja, stimmt“, bestätigte Knjasew, „dafür sind sie also hierhergebracht worden.“

„Wir dürfen also annehmen, daß die Venusianer im Dunkeln gar nicht besonders gut sehen“, stellte der Biologe fest.

„Die Stämme sind wahrscheinlich eigens deswegen geschält worden, weil die Rinde das Leuchten verhindert“, mutmaßte Knjasew.

Bald darauf wurde auch klar, wozu jene Stämme bestimmt waren, die nicht einzeln, sondern in Haufen lagerten. Sie zeigten die Wegbiegungen an.

„Das ist ja kaum zu fassen!“ Der Biologe staunte. „In der Botanik werden diese Bäume eine Sensation auslösen.“

„Sonderbar, daß wir das Leuchten der Stapel am Ufer nicht bemerkt haben. Sie bestehen doch auch aus geschälten Stämmen.“

„Wir haben diese Stapel bloß bei Tage oder im Scheinwerferhcht gesehen.“ Die rätselhaften Baumstämme lagen gleich weit voneinander entfernt. Wenn sie an dem einen vorübergefahren waren, tauchte schon in der Ferne als heller Streifen der nächste auf. Mit Hilfe dieser eigenartigen Wegweiser fuhr Knjasew, der Wtorow am Steuerpult abgelöst hatte, den Wagen sicher aus dem Wald heraus.

Am Flußufer überzeugten sie sich davon, daß auch die Stapel leuchteten. Jeder Stamm sandte mattes, leicht rosiges Licht aus.

„Wir müssen auf jeden Fall ein paar solcher Stämme auf die Crde mitnehmen“, sagte Korzewski.

„Nichts leichter als das.“ Über dem Raumschiff zog eine Leuchtkugel ihre feurige Bahn.

I n hundert Meter Höhe flammte sie strahlend hell auf und entfaltete einen Fallschirm über sich. Auf dem hellerleuchteten IJf erstreifen raste der Geländewagen in voller Geschwindigkeit nach Hause“. Einige Minuten später hielt er vor einer der Luftschleusen.

„Schade!“ sagte Knjasew. „Unsere Fahrt war vergeblich.“

„Wieso? Jetzt habe ich die Reptile und die Venusianer hier hei mir!“ Wtorow klopfte mit der Hand auf seine brünierte Filmkamera.

Einige Stunden nach der Ruckkehr des Geländewagens berief Melnikow in der Steuerzentrale eine Beratung ein.

Das Hauptziel der Erkundungsfahrt war nicht erreicht, das Schicksal der verschollenen Kameraden immer noch ungewiß.

„Ich bitte alle, ihre Meinung zu sagen“, bat Melnikow.

Als erster sprach Paitschadse.

„Was geschehen ist, läßt sich nicht wiedergutmachen“, sagte er. „Ich halte weitere Versuche für vernunftwidrig.“ Nacheinander sagten die sechs Männer das gleiche.

„Ich schließe mich dieser Meinung an…“, begann Melnikow.

Plötzlich verstummte er und drehte sich ruckartig um.

Alle vernahmen ein leises, aber wohlvertrautes Geräusch.

Einer der Automaten am Steuerpult begann zu arbeiten. Sie sahen das rote Lämpchen aufflammen, das mit der Außentür der unteren Luftschleuse verbunden war. Die Zeiger der Geräte erbebten und setzten sich in Bewegung. In der Luftschleuse begann die Desinfektionsprozedur.

Keiner rührte sich. Erbleichend sahen die Männer ihren Kommandanten an.

Was bedeutete das? Wer konnte in der Schleuse sein? Alle acht Besatzungsmitglieder waren doch in der Steuerzentrale.

Sollten etwa…

„Das ist einer von ihnen“, stieß Melnikow mit erstickter Stimme hervor. „Ein anderer kann es nicht sein.“ Plötzlich stürzte Toporkow ans Pult und knipste einen der Bildschirme an. Vor Aufregung irrte er sich in den Hebeln und schaltete die Backbordseite ein.

Alle sahen ganz dicht neben dem Schiff einen dunklen Gegenstand, den sie sogleich erkannten. — Es war der vermißte Geländewagen Belopolskis.

Die Venusianer

„Ich schaffte es nicht mehr bis zu unserem Wagen“, schloß Romanow seinen Bericht. „Stanislaw Kasimirowitsch hat es anscheinend geschafft. Der Regen peitschte und prasselte. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Im Wasser kam ich wieder zu mir. Weit und breit war es dunkel. Zuerst glaubte ich zu schwimmen, aber dann fühlte ich, daß mich jemand festhielt.

Dicht neben mir funkelten in der Finsternis drei riesige gelbe Augen. Ich begriff, daß es eine der ›Schildkröten‹ war, die mich trug. Ich wußte, daß mein Funkgerät eingeschaltet war, und rief sofort um Hilfe. Das Reptil zuckte zusammen, als es meine Stimme hörte. Ich spürte es. Aber das Ungeheuer ließ mich nicht los, sondern umklammerte mich so, daß mir die Knochen krachten. Da hielt ich den Mund und horchte. Aber es kam keine Antwort. Entweder hatte mich niemand gehört, oder ich verpaßte die Antwort. Den Versuch zu wiederholen wagte ich nicht.

Das Reptil konnte mich zermalmen, ich bekam schon so kaum noch Luft. Ich wunderte mich, daß kein Wasser durch meinen Gasschutzanzug drang. Wie sich herausstellt, sind diese Anzüge also wasserundurchlässig. Auch die Sauerstoffzufuhr funktionierte normal. Aber das Atmen fiel mir immer schwerer, mir wurde schwindlig. Ich wußte, daß das vom Einatmen reinen Sauerstoffs kam. Dann erblickte ich einen sonderbaren Tunnel, dessen Wände mit rosig leuchtenden Baumstämmen verschalt waren. Ich stellte fest, daß ich wirklich von einer ›Schildkröte‹ getragen wurde. Sie sah aus wie diejenigen, die wir Ihnen beschrieben haben, Sinowi Serapionowitsch. Ein widerwärtiges Geschöpf! Sind das etwa die Venusianer? Aus dem Tunnel wurde ich in eine riesige Höhle geschleppt und dann schließlich hierher. Keineswegs erwartete ich euch hier zu sehen.“

„Ebensowenig haben wir Sie hier erwartet“, antwortete Belopolski finster. „Schlecht, sehr schlecht! Drei Besatzungsmitglieder in Gefangenschaft und nur noch acht Mann an Bord. Ich hoffe, daß Boris Nikolajewitsch niemanden mehr weit vom Schiff fortlassen wird.“

„Bestimmt werden sie versuchen, uns oder wenigstens unsere Leichen zu finden“, sagte Balandin. „Sie werden den ganzen See absuchen und schließlich den Tunnel finden.“

„Wenn der Schwimmwagen hereinfährt, könnte das mit einer Katastrophe enden. Er würde auch gefangen werden. Ach, wenn wir doch wenigstens unsere individuellen Sprechfunkgeräte bei uns hätten! Ich würde ihnen alle diesbezüglichen Versuche kategorisch verbieten! Erlauben Sie“, rief Belopolski plötzlich, „Sie haben ja ein Gerät bei sich, Wassili Wassiljewitsch!“

„Ich sagte doch schon, daß es aus irgendeinem Grund nicht funktioniert.“

„Sehr einfach“, sagte Balandin ruhig, „es funktioniert nicht, weil es nicht da ist.“

„Wieso?“ Das kleine schwarze Futteral des transportablen Funkgerätes j war tatsächlich nicht mehr vorhanden. Verwaist baumelte die abgerissene Leitung herab.

„Die verdammte ›Schildkröte‹!“ sagte Romanow. „Die war es.“ Das Futteral mußte abgerissen worden sein, als das Tier den Geologen ergriff.

„Nun ist Melnikow unsere einzige Hoffnung“, sagte Belopolski, „er muß sich darüber klarwerden, daß seine einzige Aufgabe jetzt lautet: Die Forschungsarbeiten einstellen und auf die Erde zurückkehren. Mit den Venusianern wird sich die nächste Expedition bekannt machen.“ Konstantin Jewgenjewitsch sprach in einem Ton, als beträfen ihn die Folgen dieses Planes, den er Melnikow „nahelegte“, überhaupt nicht. Kein Zweifel — Belopolski hielt sich und seine beiden Genossen für hoffnungslos verloren.

„Gibt es keine Möglichkeit, von hier zu fliehen?“ fragte Romanow. „Unsere Anzüge eignen sich ohne weiteres für eine Wanderung unter Wasser. Schlösser gibt es in diesem Gebäude wohl nicht.“

„Sinowi Serapionowitsch kann nicht laufen“, entgegnete Belopolski.

„Nehmt nur keine Rücksicht auf mich“, sagte Balandin hastig.

„Ich kann nicht laufen, aber ihr könnt es doch! Werdet nicht sentimental. Lieber soll einer sterben, als daß drei zugrunde,!

gehen.“

„Das geht auf keinen Fall. Wir brauchen bloß im Tunnel oder im See zu erscheinen, und schon sehen uns die Reptilien. Sie werden uns sofort ergreifen und vielleicht auch umbringen.

Nein! Wenn wir nicht sinnlos sterben wollen, müssen wir es ganz anders anfangen. Wir müssen beobachten, möglichst viel erkunden und alles aufschreiben. Vielleicht bietet sich doch eine Gelegenheit, eine Flaschenpost abzuschicken. Wenn klar ist, daß unsere Stunden gezählt sind, unternehmen wir einen Versuch, durch den Tunnel auszubrechen und sie aufzugeben.“

„Wenn Boris Nikolajewitsch so handelt, wie Sie es ihm gerade als besonders vernünftig geraten haben, wird keiner unsere Flaschenpost finden“, erklärte Balandin.

Belopolski sah den Professor an, und über sein strenges Gesicht huschte der Schatten eines Lächelns.

„Eben wenn er so handelt“, sagte er. „Leider werden in dieser Frage Sie und nicht ich recht haben. Ich fürchte, daß die Genossen uns suchen werden. Aber selbst wenn sie es nicht tun, bleibt uns noch die Hoffnung, daß die nächste Expedition die Flasche findet.“

„Eine schwache Hoffnung!“ sagte Romanow. „Ich würde den Versuch sofort unternehmen.“ Sie verstummten. Ein und derselbe unerfreuliche Gedanke beschäftigte die Hirne aller. Eine tragische Situation. Von ihren Genossen getrennt, waren sie als Gefangene der rätselhaften Venusianer völlig hilflos. Was hatten diese mit den Menschen im Sinn? Was wollten sie mit ihnen tun?

Belopolski sagte: „Nichts Gutes!“ Aber die Venusianer hatten den Menschen bislang kein Haar gekrümmt, und das ließ unwillkürlich immer noch hoffen. Und jeder klammerte sich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz an diese winzige Hoffnung. So ist es nun einmal Menschenart.

Eine Stunde verging, eine zweite, eine dritte…

Belopolski erneuerte noch einmal Balandins Verband. Mit stoischer Geduld ertrug der Professor die Schmerzen.

Niemand kam.

Die drei Männer wechselten hin und wieder einige kurze Worte. Ihr Gesprächsstoff versiegte. Alles war klar und scheußlich genug.

„Wenn uns ein wilder Stamm auf der Erde gefangengenommen hätte“, sagte Balandin, „so hätte er in jedem Fall dafür gesorgt, daß wir etwas zu essen bekommen. Die Venusianer können doch nicht wissen, daß wir Verpflegung bei uns haben. Das will mir gar nicht gefallen.“ Weder Romanow noch Belopolski antworteten ihm.

Die Sorgen, die sie voreinander zu verbergen suchten, wuchsen. Die Stille ringsumher wurde unerträglich. Was sie auch erwarten mochte — sie wollten nur das eine: Die Lösung sollte so schnell wie möglich eintreten.

Abermals verging eine Stunde, noch eine…

Auf einmal zuckte Belopolski zusammen und lauschte.

„Es kommt jemand!“ sagte er. „Das ist kein Reptil, die Schritte sind anders!“ Durch die offene Wagentür hörten sie schlürfende Geräusche.

Sie drangen aus der Ecke, in der sich der Eingang befand. Kein Zweifel, es stieg jemand die Baumstammtreppe herauf. Dem schweren Gestampf der mächtigen Schildkrötenbeine glichen die Geräusche nicht. Die Stämme knarrten kaum.

Belopolski schloß die Tür. Die Wände des Geländewagens waren ihr einziger Schutz.

Stumm warteten die drei Männer.

Da traten zwei Geschöpfe ein, die derart sonderbar wirkten, daß die Sternfahrer im ersten Augenblick zu träumen glaubten.

Nein, es waren keine „Schildkröten“.

Den Kopf vorgereckt, sahen sie sich mit ihren drei schwarzen Augen, die nicht an den Seiten, sondern vorn nebeneinandersaßen, im Raum um. Von weitem wirkten die Augen wie eine schwarze Binde. Ihre rosigen Leiber waren in der rosigen Dämmerung kaum zu erkennen.

Die seltsamen Geschöpfe, die geradewegs aus einem Zaubermärchen zu kommen schienen, hüpften auf zwei Beinen und stießen sich mit dem Schwanz ab. Der eine trug eine steinerne Schale in den Händen, der andere eine Art hölzerne Schüssel.

Starr vor Staunen, folgten Belopolski, Balandin und Romanow schweigend den Bewegungen der phantastischen Gestalten.

Sie sahen, daß deren Hände in langen, biegsamen Fingern endeten und daß sich über ihren Augen Stirnen wölbten. Da wußten sie: Dies waren die wahren Herren des Planeten!

Die Venusianer traten dicht an den Geländewagen heran. Sie verspürten offenbar keine Angst, sich den Menschen zu nähern, obwohl sie nur zu zweit, die Menschen aber zu dritt waren.

Vielleicht dachten sie nicht einmal an eine mögliche Gefahr.

„Endlich!“ flüsterte der Professor.

Die beiden Venusianer zuckten merklich zusammen. Offenbar hatten sie durch die Wagenwand hindurch das Flüstern gehört.

Sie blickten sich an, als wollten sie ihre Meinung darüber austauschen. Aber ihre Lippen blieben unbeweglich.

Der Venusianer, der die Schüssel trug, stellte sein Mitbringsel auf den Boden und klopfte ans Fenster. Dann traten sie beide einen Schritt zurück, das heißt — sie sprangen zurück.

Die sechs dunklen Augen schienen jede Bewegung der Gefangenen zu verfolgen.

„Sie bitten uns auszusteigen“, sagte Balandin.

„Gut, ich werde zu ihnen gehen.“ Belopolski griff nach der Klinke. „Ich verbiete aber kategorisch, von der Waffe Gebrauch zu machen!“ Er sah Romanow an. „Was auch geschehen mag!“ Er öffnete die Tür und trat hinaus. Im selben Augenblick sprang der Venusianer mit der Schale vor. Er war nicht größer als einen Meter, und Belopolski wirkte neben ihm wie ein Riese.

Sie standen sich nah gegenüber.

Der Venusianer reichte dem Fremden die Schale. Sie war leer. Belopolski ergriff sie. Sie war sehr schwer, und er staunte, wie ein so kleines und zerbrechlich wirkendes Geschöpf sie hatte ttagen können.

Der Venusianer wartete auf etwas. Er wich nicht von der Stelle und schien den Menschen forschend anzublicken. Der zweite Venusianer rührte sich ebenfalls nicht.

Worauf — warteten sie?

Belopolski hielt die Schale in der Hand und wußte nicht, was er tun sollte. Er fühlte, daß von seinem Verhalten viel abhing, aber die Sekunden jagten einander, und ihm fiel kein rettender Gedanke ein.

Die Lage war schwieriger denn je. Wie sollte er erraten, was die Venusianer von ihm wollten?

Die steinerne Schale zog seine Arme nach unten. Es war schwierig, sie im Gleichgewicht zu halten. Eine Minute verging, und Belopolskis Arme sanken unwillkürlich immer tiefer. Die Schale war nun in Brusthöhe des Venusianers. Er nahm sie zuluck.

Der zweite Venusianer reichte dem Menschen die Holzschüssel. Als dieser sie ergriff, drehten sich beide um, sprangen zum Ausgang und verschwanden mitsamt der geheimnisvollen Schale.

Verständnislos und die Schüssel immer noch in Händen hallend, wandte sich Belopolski seinen Genossen zu.

Was war hier vor sich gegangen? Was bedeutete diese unverständliche Zeremonie mit der steinernen Schale? Hatte er gelan, was er tun mußte?

„Jedenfalls haben die beiden uns die Schüssel überlassen“, sagte Balandin, „also ist alles in Ordnung. Sie haben uns etwas zu essen gebracht. Niemals würden sie uns Nahrung anbieten, wenn sie feindliche Absichten hegten.“ Das Holzgefäß war seltsam rhombenförmig und hatte nach innen gestülpte Ränder. Es war mit nassen Pflanzen ausgelegt, die an die orangefarbenen Algen erinnerten. Darauf lagen rötliche Fladen.

„Wir werden sie gründlich untersuchen“, sagte Belopolski, „schließlich müssen wir etwas essen. Hunger ist in unserer Lage ein schlechter Gehilfe.“ Vor dem Erscheinen Romanows hatten sich Belopolski und Balandin zwar schon stärken wollen, es aber dann doch nicht getan.

Belopolski schloß die Tür und schaltete den Desinfektor ein.

Nach einer halben Stunde hatte sich die Luft im Wageninnern’ von Kohlensäure und Formaldehyd gereinigt. Da hier nur ein transportabler Desinfektor arbeitete, dauerte es so lange.

Die Männer freuten sich, endlich die Helme abnehmen zu können.

Balandin ergriff einen der Fladen und hielt ihn dicht vor seine Nase.

„Riecht wie roher Fisch. Trotzdem würde ich nicht empfehlen, davon zu kosten.“

„Vorläufig sind wir nicht darauf angewiesen“, erwiderte Belopolski, „wir haben noch etwas Proviant. Wir werden die Speise der Venusianer nur im Notfall angreifen.“ Die Schüssel wurde unter dem Sitz versteckt. Es wäre unvorsichtig gewesen, sie offen stehenzulassen. Die Herren des Planeten hätten denken können, die Menschen lehnten ihre Gabe ab.

„Seht euch einmal die Algen an“, sagte Balandin, „daß Gefäß ist sorgsam damit ausgelegt — ich möchte fast sagen: liebevoll.

Speisen für Gefangene, die man umbringen will, wird man nicht so garnieren. Das zeugt abermals für ihre Friedensliebe und ihre freundschaftlichen Gefühle.“

„Es könnte sein“, gab Belopolski unbestimmt zu.

Nachdem die Männer wieder die durchsichtigen Helme aufgesetzt hatten, öffneten sie die Tür. Sie mußten Sauerstoff sparen, auch konnten die Venusianer jeden Augenblick zurückkommen.

Wieder zogen sich die Stunden des Wartens in die Länge.

Die Herren der Venus hatten es offenbar nicht eilig. Bisweilen kam den Männern der Gedanke, man habe sie völlig vergessen — so langsam verging die Zeit.

Belopolskis Uhr stand auf zwölf. Sechzehn Stunden waren seit der verhängnisvollen Exkursion zum See vergangen. Die ganze Nacht über hatte niemand ein Auge zugetan. Jetzt machte sich trotz aller Erregung die Müdigkeit bemerkbar.

Abermals vergingen mehrere Stunden, ohne daß sich etwas änderte. Es wurde Abend. Niemand kam zu ihnen …

Alle drei wachten zugleich auf. Sie konnten sich nicht darauf besinnen, wie sie eingeschlafen waren, aber ein Blick auf die Uhr zeigte, daß sie zehn Stunden geschlafen hatten. Es war bereits Morgen. Der Morgen des 24. Juli.

Auf dem Boden neben dem Wagen stand eine Schüssel mit Fladen. Romanow holte sie herein und stellte sie zu der ersten.

Belopolski wechselte Balandins Verband. Dann frühstückten sie und wappneten sich wieder mit Geduld.

Stunde um Stunde verging.

Endlich gegen zwei Uhr nachmittags vernahmen sie Geräusche. Die Baumstämme knarrten, schwere Fußtritte dröhnten.

Zehn Reptile und drei Venusianer umringten das Fahrzeug.

Die Entscheidung nahte.

Warum kamen sie in so großer Zahl? Was gedachten sie zu lun?

Ein Venusianer hüpfte zum Wagen und klopfte ans Fenster.

Die Insassen wußten schon, daß sie damit aufgefordert wurden, ihr Fahrzeug zu verlassen.

Belopolski stieg, äußerlich ruhig, als erster aus. Ihm folgte Romanow.

Aber der Venusianer klopfte aufs neue. Alle sollten aussteigen.

Balandin konnte sich nicht bewegen. Seine Brandwunden bereiteten ihm bei der geringsten Bewegung heftige Schmerzen.

Wie sollte man das den Venusianern erklären?

Belopolski wies auf die Beine des Professors und schüttelte den Kopf. Aber das merkwürdige Geschöpf verstand ihn nicht und klopfte weiter. Der zweite Venusianer hob die Hand. Die Reptile traten näher, die Lage wurde bedrohlich.

Balandin versuchte mit unwahrscheinlichem Energieaufwand auszusteigen, sank aber stöhnend in seinen Sitz zurück. Große Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

„Ich kann nicht!“ stöhnte er. „Lieber will ich sterben!“ Der Venusianer horte auf zu klopfen. Er wandte sich seinen beiden Artgenossen zu. Die sahen ihn an. Man hätte schwören mögen, daß sie miteinander sprachen, aber es war nichts zu hören, und ihre Lippen bewegten sich nicht. Wenn sie sich wirklich unterhielten, so geschah es stumm.

Ob sie Gedanken lesen können? überlegte Belopolski. — Oder sprechen sie mit Hilfe einer für uns nicht wahrnehmbaren Mimik?

Die Herren des Planeten berieten nicht lange. Der eine sprang zum Ausgang. Die übrigen blieben neben dem Wagen stehen, drangen aber nicht mehr darauf, daß Balandin ausstieg.

Sie warteten auf etwas.

Die Nähe der Riesenreptile, deren grimmige Mäuler irgendwo hoch über den Köpfen der Menschen schwebten, beunruhigte die beiden Astronauten. Sie wußten nicht, ob sie ins Fahrzeug zurückkehren dürften.

Romanow beschloß, es zu versuchen. Er drehte sich so langsam wie möglich um und klinkte die Tür auf. Weder die Reptile noch die beiden zurückgebliebenen Venusianer reagierten darauf. Da stieg er ein und setzte sich auf seinen Platz.

Keine drohende Bewegung.

Belopolski folgte dem Geologen und schloß hinter sich sogar die Tür. Niemand hinderte ihn daran.

Die Reptile ließen sich auf alle viere nieder. So sahen sie den Schildkröten der Erde, obwohl sie viel größer waren, wieder sehr ähnlich. Wie zehn rosarote Lauben auf je vier Pfählen standen sie regungslos im „Zimmer“.

Die beiden Venusianer hüpften mit kurzen Sprüngen rings um das Kettenfahrzeug herum. Sie schienen es forschend zu mustern. Der Wagen, der in dem engen Raum riesengroß wirkte, flößte ihnen nicht die geringste Angst ein. Dann traten sie zur Wand und stellten sich einander gegenüber auf. Abermals sah es aus, als sprächen sie miteinander’. Aber die drei Männer, die ihr Gebaren beobachteten, stellten fest, daß sich ihre Lippen ebensowenig wie zuvor bewegten.

„Wenn sie Vernunft besitzen“, sagte Balandin, „und das ist offensichtlich, müssen sie auch eine Sprache entwickelt haben.

Wir wissen, daß sie Lineale, Schüsseln und steinerne Schalen herstellen können. Sie verstehen Häuser zu bauen. All das zeugt von schöpferischem Denken. Das aber kann nicht ohne Gedankenaustausch, das heißt ohne Sprache, gedeihen. Sie reden miteinander. Aber wie?“ Weder Belopolski noch Romanow äußerten sich dazu. Ihnen stand nicht der Sinn nach theoretischen Erörterungen.

Im Benehmen der Venusianer zeigte sich nichts Bedrohliches, aber die absolute Ungewißheit bedrückte die Menschen. Aus welchem Grund hatte sich der eine Venusianer entfernt? Wohin war er gegangen? Vielleicht wollten sie Balandin zum Aussteigen zwingen?

Mitleid und Barmherzigkeit sind nicht angeborene Eigenschaften aller vernunftbegabten Geschöpfe. Sie setzten sich erst mit der Zivilisation durch. Aber auf welcher Stufe der Zivilisation standen die Venusianer? Das war völlig ungewiß.

Wofür hielten die Venusianer die Menschen? Für vernünftige Wesen oder für unbekannte Tiere? Sagte ihnen ihr Äußeres und das ihres Fahrzeugs etwas? Legten sie sich Rechenschaft über das Ungewöhnliche ab, das ihnen vor Augen stand?

Weil sie die Sonne nicht sehen, können sie nicht wissen, daß es sie gibt. Weil sie die Sterne nicht sehen, wissen sie nichts vom Weltall, dachte Belopolski. Der Gedanke, daß wir Bewohner einer anderen Welt sind, wird ihnen gar nicht kommen. Was müssen sie also von unserem Besuch denken?

Zwanzig Minuten vergingen.

Der dritte Venusianer kehrte zurück. Jedenfalls glaubten die Menschen, er sei derselbe; ihrem Empfinden nach sahen die Venusianer einer wie der andere aus.

Er hoppelte auf seine beiden Artgenossen zu und schien ihnen etwas mitzuteilen. Daraufhin wandten sich alle drei an die „Schildkröten“.

Auch diesmal war kein Laut zu hören. Die Reptile jedoch erhoben sich wie auf Kommando auf die Hinterbeine, stellten sich rings um das Fahrzeug und hoben es mit ihren riesigen Pranken hoch. Scheinbar ohne sich anzustrengen, trugen sie es zum Ausgang. Die Venusianer folgten ihnen.

„Kein Zweifel“, sagte Balandin, „sie haben eine Sprache und können auch Weisungen erteilen, die von den Reptilen verstanden werden. Bloß wie machen sie das?“ Auch diesmal bekam er keine Antwort von seinen Gefährten.

Sie hörten gar nicht zu.

Man trug sie durch den unterirdischen Ausgang zurück auf die „Straße“.

Die „Schildkröten“ menge, die dem Fahrzeug Stunden zuvor das Geleit gegeben hatte, war nicht mehr da. Die „Stadt“ schien verödet. Kein einziger Einwohner ließ sich blicken.

Die „Schildkröten“ gingen schnell. Nach zwei, drei Minuten stapften sie durch einen unterirdischen Gang wieder in ein Haus hinein, und die Menschen gelangten auf diese Weise in ein „Zimmer“, das zehnmal so groß wie das erste war. Es besaß ebenfalls keine Fenster. Fußboden und Wände strahlten auch hier rosiges Licht aus.

An der Wand, die dem Eingang gegenüberlag, standen etwa zwanzig Venusianer.

Die Reptile trugen den Geländewagen in die Mitte des Raumes und stellten ihn auf den Boden. Dann entfernten sie sich. Die drei Venusianer, die den Menschen das Geleit gegeben hatten, kamen ebenfalls ins Haus. Der eine von ihnen klopfte an das Wagenfenster.

Belopolski und Romanow stiegen sofort aus. Balandin blieb.

Die Venusianer protestierten nicht dagegen. Verstanden sie etwa, daß dieser Mensch bei bestem Willen nicht aussteigen konnte? Was bisher geschehen war, sprach für eine solche Vermutung.

Die Venusianer sprangen ein Stück voraus, blieben dann stehen und wandten sich zu den Menschen um. Der Sinn dieser Bewegung war klar — sie wollten sich davon überzeugen, daß die Fremden ihnen folgten.

Die Kosmonauten unterdrückten mit Macht ihre Unentschlossenheit. Es blieb ihnen ohnehin nichts anderes übrig, als das auszuführen, was die Herren des Planeten verlangten.

Die Venusianer begaben sich zu der an der Wand stehenden Gruppe. Etwa drei Meter vor ihr blieben sie abermals stehen und drehten sich um. Der eine machte eine abwehrende Handbewegung, die nur heißen konnte: „Stehenbleiben!“ Als er sah, daß die Menschen ihn verstanden und nicht weitergingen, traten die drei zu den anderen. Jetzt hätte man beim besten Willen nicht mehr sagen können, welcher von diesen Venusianern die Kosmonauten soeben aufgesucht und begleitet hatte.

Genau gegenüber von Belopolski und Romanow standen etwas abseits von den übrigen zwei Venusianer. Sie sahen aus wie alle.

Der eine drehte sich nach hinten um. Im selben Augenblick wurde ihm eine steinerne Schale gereicht.

Wieder erschien also das geheimnisvolle Symbol, aber die Menschen wußten nun schon, was sie zu tun hatten.

Es wiederholte sich alles wie beim ersten Male. Der Venusianer sprang vor und reichte Romanow, der ihm zufällig gegenüberstand, die Schale. Der junge Gelehrte nahm die Gabe entgegen und reichte sie zurück. Dabei verbeugte er sich. Der Venusianer ergriff die Schale wieder und übergab sie dem, der sie ihm zuerst gegeben hatte. Die Zeremonie schien so verlaufen zu sein, wie es der Sitte entsprach.

Mit einer Handbewegung wie ein Mensch forderte der Venusianer die beiden Astronauten auf, ihm zu folgen.

Die an der Wand Stehenden traten auseinander, und die Männer erblickten einen Eingang. Eine quadratische Öffnung, vor der nicht einmal ein Vorhang hing. Dahinter war ein zweites Zimmer zu sehen.

Die beiden Venusianer gingen in dieses Zimmer hinein. Die Menschen mußten sich bücken, weil die Tür nur knapp einen Meter hoch war. Die übrigen Venusianer blieben in dem ersten Kaum.

Die Wände des zweiten Zimmers, das klein und ebenfalls deckenlos war, hingen voller langer orangefarbener, gelber und roter Zweige, zwischen denen rosiges Licht schimmerte. Es sah schön aus.

In der Mitte befand sich eine höchstens sechzig Zentimeter hohe Erhebung, die aus Balken gefertigt war. Ihre sorgfältig Gearbeitete Oberfläche war glatt und eben. Die Erhebung sah ms wie ein Tisch ohne Beine. Darauf stand die steinerne Schale, die die Menschen bereits kannten.

Neben dem Tisch standen drei Venusianer. Der eine lud die Kosmonauten mit einer Handbewegung ein, an den Tisch herin zutreten.

Belopolski und Romanow folgten dem Wunsch der Gastgeber und setzten sich neben dem Tisch auf den Fußboden. Sie begriffen, daß ihnen ein langes Gespräch bevorstand, konnten sich aber nicht vorstellen, wie es vonstatten gehen sollte. Eine gemeinsame Sprache zwischen ihnen gab es doch offenbar nicht.

Die Venusianer machten es sich stehend bequem. Der Schwanz ersetzte ihnen den Stuhl.

Unterhaltung ohne Worte

Minutenlang betrachtete jeder sein Gegenüber. Die Bewohner der beiden Schwesterplaneten studierten einander aufmerksam.

Die Sternfahrer schwiegen. Zitternde Erregung, wie sie ihnen sonst ganz fremd war, hatte sie befallen, und das Herz schlug ihnen bis zum Halse.

Ringsum erhoben sich die Balkenwände, geschmückt mit den sonderbaren Gewächsen. Das von ihnen ausgehende Licht machte sie durchsichtig, glasartig zerbrechlich und beinahe unwirklich. Hoch zu Häupten wölbte sich die Decke der Höhle.

An ihren hervorstehenden Unebenheiten fingen sich Strahlen weißen Lichts, das einer unauffindbaren Quelle entsprang. Die sichtige Dämmerung des Zimmers verwischte die Umrisse der Gegenstände. Matt glänzte die glatte Tischplatte, und die Steinschale, die darauf stand, schien mit der Luft zu verfließen.

Gegenüber, ganz nah vor sich, sahen die Astronauten die phantastischen Schädel mit den drei schwarzen Augen und den schmalen, flachlippigen Mündern. Keine Nasen, Ohren oder Haare. Die Leiber waren unbekleidet. Die nackte rötliche Haut an Armen und Schultern verbreitete bei jeder Bewegung metallischen Glanz.

Menschenähnliche Geschöpfe! Bewohner einer fremden Welt!

Venusianer!

Der eine Venusianer bückte sich und holte hinter dem Tisch einige Bündelchen dünnen Fadens sowie Holzklötzchen verschiedener Größe hervor. Er legte alles auf den Tisch. Seine Bewegungen waren weich und elastisch. Die Arme dieser Geschöpfe besaßen offenbar kein Ellenbogengelenk.

Der Venusianer machte sich ans Werk. Auf dem Tisch erschien aus Schnur eine gewundene Linie. Parallel zu ihr legte der Venusianer eine zweite. Zwischen ihnen stellte er in Schachbrettordnung die kleinen Holzwürfel in drei Reihen auf, daneben legte er einen länglichen Stein. Der Venusianer zeigte mit der Hand auf den Stein und mit der anderen auf die Menschen.

Mit gespannter Aufmerksamkeit folgten die Kosmonauten jeder seiner Bewegung. Sie wußten, daß sie um jeden Preis den Sinn seines Tuns verstehen mußten. Die Venusmenschen wollten sich mit Hilfe dieser Bildsprache mit ihnen unterhalten. Sie nicht verstehen, hieße die Hoffnung auf Verständigung aufgeben.

Die beiden Männer beugten sich über den Tisch.

Als erster erriet Belopolski den Sinn.

„Das stellt den Fluß und das Wehr dar“, sagte er, „und der Stein ist unser Schiff.“

„Die Stelle, an der es liegt, ist richtig angegeben“, stimmte Romanow zu.

Belopolski legte den Finger auf das „Raumschiff“, nickte mit dem Kopf und blickte den Venusianer fragend an. Dieser neigte stumm den Kopf. Seine Miene blieb unbewegt.

Der andere Venusianer stellte neben das „Raumschiff“ drei kleine Würfel. Er wies mit der einen Hand auf die Würfel, mit der anderen erst auf Romanow, dann auf Belopolski und schließlich auf den Eingang.

Auch das war klar genug. Die drei Würfel sollten drei Menschen darstellen. Die Venusianer fragten, wieviel Mann an Bord seien.

Es war leicht zu antworten.

Belopolski ergriff einige Würfel — ein Venusianer schob sie ihm zu — und legte neben die drei noch acht Würfel.

Die „Unterhaltung“ ließ sich fürs erste gut an. Die fünf Venusianer waren verständig. Sie stellten klare Fragen und verstanden sofort die Antworten. Sie waren geistig hoch entwickelt.

Belopolski hielt sie für Gelehrte der Venus, die zum See gekommen waren, als man die Ankunft unbekannter Geschöpfe gemeldet hatte. Das erklärte auch, warum die Menschen solange allein geblieben waren. Die Bewohner dieser Gegend hatten auf die „Wissenschaftlerkommission“ gewartet. Aber woher war sie gekommen?

Die Venusianer sammelten Klötzchen und Schnüre wieder ein. Was würden sie als nächstes fragen?

Das folgende Bild war komplizierter und brauchte viel Zeit.

Eine ganze Landkarte erschien auf dem Tisch. Der Fluß zog sich quer über die ganze Platte. Der eine Venusianer schob deswegen die Schale bis ganz an den Rand. Das Wehr und das Schiff wurden in der einen Ecke dargestellt. Neben dem Wehr legten die Venusianer die Konturen des Sees aus, und mit einem dünnen Faden kennzeichneten sie sogar die Waldschneise. Sie war jedoch gerade. Offenbar meinten sie nicht diejenige, die llelopolski gefunden hatte. Am entgegengesetzten Ende des Tisches markierten sie die Konturen eines anderen Sees, der weitaus größer war. Daneben legten sie große Holzstücke.

Der Fluß endete in diesem See.

„Die großen Stücke stellen allem Anschein nach Berge dar“, sagte Beldpolski. „Es wird der Bergsee sein, aus dem der Fluß entspringt. Aber was wollen sie damit sagen? Bis jetzt verstehe ich gar nichts.“

„Ich auch nicht.“ Romanow hob verständnislos die Schultern.

Sie brauchten nicht lange zu warten. Bald wurde alles klar und sogar ziemlich besorgniserregend.

Der Venusianer nahm drei kleine Würfel und legte sie neben die Darstellung jenes Sees, bei dem sie sich zur Zeit aufhielten.

Er gab zu verstehen, daß diese Würfel drei Menschen darstellten. Dann ergriff er sie und legte sie zu dem anderen See, dem Bergsee.

Belopolski und Romanow verstanden alles. Entsetzlich — das würde ihren Tod bedeuten! Die Venusianer wollten ihre Gefangenen in die Berge bringen.

Die Männer mußten ihnen um jeden Preis ihre Lage erklären.

Fieberhaft überlegte Belopolski, was er tun solle. Die Venusianer begriffen anscheinend nicht, daß die Menschen die Venusluft nicht atmen konnten. Sie sahen natürlich, daß ihre Gefangenen etwas Durchsichtiges über den Kopf gestülpt hatten, was nicht Teil ihres Körpers war. Aber verstanden sie die Bedeutung der Helme?

Belopolski versuchte, es ihnen zu erklären. Er gebrauchte all seine mimischen Fähigkeiten und bemühte sich zu zeigen, daß, sie ohne Helm nicht mehr atmen könnten. Romanow unterstützte ihn dabei emsig. Gewiß sah das äußerst lächerlich aus.

Die Venusianer folgten aufmerksam all diesen Bewegungen.

Aber ob sie etwas verstanden oder nicht, blieb ungewiß.

Der eine schritt um den Tisch herum auf Belopolski zu, ergriff dessen Helm und hob ihn langsam empor.

Belopolski schüttelte abweisend den Kopf und schob den Venusianer sehr behutsam von sich.

Der unternahm keinen zweiten Versuch und kehrte auf seinen Platz zurück. Alle fünf steckten die Köpfe zusammen. Ihre flachen Lippen bewegten sich nicht, und doch unterhielten sie sich offenbar. Alles, was bisher geschehen war, bewies eindeutig, daß die Herren des Planeten sich gegenseitig ihre Gedanken mitteilen konnten.

Das „Gespräch“ dauerte nicht lange. Der eine Venusianer ergriff wieder die drei Würfel, legte sie neben den kleinen See und beförderte sie abermals zu den Bergen. Sie wiederholten also ihr bedrohliches Angebot. Sie hatten nichts verstanden.

Belopolski zwang sich zur Ruhe. Er legte die Würfel energisch auf den alten Platz zurück. Dann beförderte er sie zu dem „Raumschiff“, hob es mitsamt den Würfeln hoch und setzte es bei den Bergen wieder ab.

Romanow wiederholte das Manöver.

Die beiden Männer glaubten, sie müßten diesmal verstanden worden sein. Ihre Bitte war klar genug — sie wollten an Bord zurückkehren, und das Schiff würde mit seiner ganzen Besatzung zu den Bergen fliegen. Aufgeregt warteten sie auf Antwort.

Abermals führten die Venusianer ein Gespräch ohne Worte.

Diesmal dauerte es lange.

Die Männer warteten schweigend. Tod und Leben hingen davon ab, ob die Herren des Planeten alles richtig einzuschätzen verstanden.

Endlich wandten sich die Venusianer wieder den Menschen zu. Sie wischten die alte Landkarte vom Tisch und legten ein neues Bild.

„Wir müssen zurück zum Wagen“, sagte Belopolski leise, „und unsere Ballons nachfüllen.“ Romanow nickte. Über drei Stunden hatten sie den Sauerstoffvorrat nicht erneuert. Er ging zur Neige.

„Wir können uns doch einfach zurückziehen“, sagte Romanow, niemand wird uns aufhalten.“

„Es ist gefährlich. Sie könnten es falsch verstehen. Warten wir noch ein bißchen, sie wollen uns etwas fragen.“ Auf dem Tisch war noch einmal die gleiche Landkarte ausgelegt: der Fluß mit dem Wehr, das Raumschiff, die Waldschneise und der See. Aber neben dem See skizzierten die Venusianer nun auch die Höhle, und zwar beinahe ebenso groß wie den See. In die Höhle legten sie drei Würfel, die, wie bereits bekannt, drei Menschen darstellten. Dann legte der eine Venusianer die Hand auf die steinerne Schale und wies auf das Raumschiff“.

Belopolski und Romanow stutzten.

„Sie meinen wohl damit, daß sie uns entlassen werden“, vermutete Romanow.

„Ich glaube kaum! Es sieht nicht so aus.“ Belopolski ergriff die Würfel und legte sie neben das „Raumschiff“. Der Venusianer nahm sie jedoch zurück und berührte wieder mit der Hand die Steinschale.

Die Unterhaltung war in eine Sackgasse geraten.

Dreimal hintereinander wiederholten die Venusianer dieselben Bewegungen. Romanow sah seinen Kommandanten verzweifelt an.

Belopolski überlegte angestrengt. Sie mußten diese Zeichensprache unbedingt verstehen.

Als der Venusianer zum vierten Male beharrlich die gleichen Bewegungen machte, glaubte er, ihren Sinn — zu erfassen. Ihm fiel ein, daß ihnen selber zweimal dieses geheimnisvolle Symbol dargereicht worden war. Fragten die Venusianer vielleicht an, ob sie die Schale denen bringen könnten, die an Bord geblieben waren, und ob jene ihnen auch nicht feindlich begegnen würden?

„Das ist das Wahrscheinlichste!“ sagte Romanow erleichtert, als Belopolski ihm seine Vermutung mitteilte.

Konstantin Jewgenjewitsch legte acht Würfel neben das „Raumschiff“. Dann wies er auf sie und legte die Hand auf die Schale.

Der Venusianer wiederholte exakt die Bewegungen. Also hatte Belopolski ihre Frage richtig verstanden und sie ihrerseits seine Antwort.

Wenigstens schien es sowohl den Menschen als auch den Venusianern so.

Gewohnte Begriffe und Vorstellungen erscheinen stets einfach und allgemein bekannt. Jedes vernünftige Geschöpf nimmt gern an, daß die anderen Geschöpfe mit einer der seinen parallelen Vernunft begabt sind.

Die Menschen dachten, sie hätten die Bedeutung der steinernen Schale richtig als Friedenssymbol verstanden, mit dem in ungewöhnlicher Form freundschaftliche Gefühle ausgedrückt werden sollten. Die Antworten der Venusianer schienen das zu bestätigen. Als Bewohner der Erde setzten sie unwillkürlich voraus, die Herren des anderen Planeten seien mit irdischer Vernunft begabt und mäßen ihren Handlungen irdischen Sinn bei.

Diese irrige Auffassung wurde nicht wenig dadurch begünstigt, daß die Schale eine ihnen gut bekannte Form hatte. Ohne sich darüber klar zu sein, daß sie die Form mit dem Inhalt verwechselten, konnten sie die wahre Bedeutung des Steingefäßes nicht einmal ahnen.

Auch die Venusianer irrten sich — sie irrten sich aus dem gleichen Grund. Als Bewohner der Venus schrieben sie ihren Gästen die ihnen selber geläufigen Vorstellungen von dem fraglichen Gegenstand zu. Sie faßten deren Antworten in ihrem Sinne auf und gelangten zu dem Schluß, die Menschen hätten sie verstanden und eingewilligt, eine Bitte zu erfüllen, von der sie in Wirklichkeit jedoch nicht das geringste ahnten.

All das stellte sich jedoch erst später heraus. In diesem Augenblick waren sowohl die Gäste als auch die Gastgeber mit dem Verlauf der Unterhaltung völlig zufrieden. Beide Parteien nahmen an, sie hätten über die Steinschale gegenseitiges Einverständnis erzielt.

Die Venusianer luden die Menschen mit Gesten ein, ihnen zu folgen, und kehrten in den Saal zurück zu dem Geländewagen.

Balandin empfing sie voller Freude. Das lange Warten und die Sorge hatten ihn zermürbt. Wußte er doch nicht, wohin seine Genossen geführt worden waren und was mit ihnen geschehen sollte. Als er sie beide lebend und unversehrt erblickte, atmete er erleichtert auf.

Belopolski und Romanow stiegen schnell in den Wagen. Sie merkten, daß ihr Sauerstoff zur Neige ging. Das Atmen fiel ihnen schwer. Durch Gasmaskenfilter zwar von Kohlensäure und Formaldehyd gereinigt, eignete sich die Luft der Venus auf die Dauer doch nicht zum Atmen; sie enthielt nicht genug Sauerstoff. Fünf Venusianer umringten den Wagen. Die übrigen waren verschwunden.

„Sie haben sich sofort zurückgezogen, als Sie dort hineingegangen sind“, sagte der Professor. „Hier ist die ganze Zeit niemand gewesen.“ Binnen weniger Minuten waren die transportablen Sauerstoffbehälter frisch gefüllt Die Venusianer beobachteten alle Bewegungen der Menschen und sahen einander zwischendurch immer wieder an, als teilten sie sich ihre Eindrücke mit.

„Sprechen Sie?“ fragte Balandin.

„Nein“, antwortete Belopolski, „sie verständigen sich durch Gesten.“ Er berichtete über den Verlauf und die Resultate ihrer Unterhaltung.

„Was werden sie mit uns tun?“

„Ich sagte schon — sie werden uns zu den Bergen transportie ren. Alle unsere Bemühungen, ihnen zu erklären, daß wir nicht zum Atmen haben, blieben vergeblich. Sie verstehen uns nicht.“

„Und Sie haben sich damit abgefunden?“ Belopolski hob unschlüssig die Schultern. „Jetzt beabsichtiget! sie, zum Raumschiff zu gehen“, sagte er statt einer Antwort „um dort ihre Zeremonie mit der Schale zu wiederholen. Ich hoffe, unsere Freunde wissen, wie sie sich zu verhalten haben.“

„Vielleicht können wir ihnen einen Zettel mitgeben?“

„Das überlege ich mir auch gerade. Wir müssen es versuchen.’’ Belopolski und Romanow stiegen noch einmal aus. Sie ließen die Tür offen, um zu zeigen, daß sie den Venusianern völlig vertrauten. Konstantin Jewgenjewitsch trat zu einem von ihnen und lud ihn durch eine Handbewegung ein, mit ihm in das Zimmer mit dem Tisch zu gehen.

Der Venusianer verstand sogleich. Belopolski nahm einen Bleistift und ein Notizbuch mit.

Er trat an den Tisch und zeichnete auf ein Blatt Papier den gleichen Plan, den die Venusianer zweimal mit ihren Mitteln dargestellt hatten: den Fluß mit dem Wehr, das Raumschiff und den See. Dann schrieb er auf ein anderes Blatt ein paar Zeilen an Melnikow.

Sichtlich interessiert folgte der Venusianer seinem Tun.

nahm behutsam Notizblock und Bleistift in die Hand.

Belopolski versuchte zu erklären, daß der Zettel zum Raun schiff gebracht werden sollte. Mehrmals hintereinander zeigte auf ihn und auf die skizzierte Darstellung des Raumschiffes.

Dann legte er den Zettel in die Schale.

Der Venusianer erstarrte. Er blickte unverwandt die Schale an, und Belopolski gewann den Eindruck, seine Haltung drückte gespannte Erwartung aus.

Worauf wartete er?

So verging eine Minute.

Plötzlich stürzte der Venusianer zu der Schale, holte den Zettel heraus und warf ihn auf den Tisch. Diese Geste konnte Verachtung, Ungeduld oder einfach die Weigerung, die Bitte zu erfüllen, bedeuten. Vielleicht hatte der Mensch ihn beleidigt, dem er einen fremden Gegenstand in das heilige Gefäß legte?

Wie sollte Belopolski das erkennen, wenn sich in den Gesichtern der Venusianer keine Gefühle spiegelten? Wenn sie stets völlig unbeweglich blieben?

Aber warum hatte er den Zettel nicht sofort wieder aus der Schale entfernt? Warum hatte er gewartet?

Belopolski sah ein, daß sein Versuch mißlungen war. Die Venusianer würden keine Nachricht an die Genossen überbringen.

Plötzlich ergriff sein sonderbares Gegenüber den Zettel, wies mit der einen Hand auf die Zeichnung und dann auf die Schale.

War er vielleicht doch einverstanden?

Belopolski nickte und wiederholte aufs neue seine Erklärung.

Der Venusianer wiederholte alle seine Gesten genau. Wieder flackerte Hoffnung auf, daß die Nachricht doch noch überbracht werden würde. Er durfte sie offenbar nur nicht in die Schale legen.

Belopolski dachte, daß die vernünftigen Geschöpfe verschiedener Planeten, sowenig sie einander auch gleichen mochten, dennoch stets eine Methode finden könnten, ihre Gedanken auszutauschen.

Der Venusianer wies noch einmal auf den Zettel und auf die Darstellung des Raumschiffes auf der Zeichnung. Es leuchtete ein — er war bereit.

Aber wer würde die Nachricht überbringen? Wenn es eine ›Schildkröte‹ tat, würde sie bestimmt durch den See zum Raumschiff gehen. Wie könnte man den Brief vor der Wassereinwirkung schützen? Eine Flasche würde leicht zerspringen.

Belopolski zögerte nicht lange. Er zog seine goldene Uhr aus der Tasche. Sie war ein Geschenk seines Lehrers, eines berühmten russischen Astronomen, und Konstantin Jewgenjewitsch trug das für ihn wertvolle Stück stets bei sich. Aber es blieb keine andere Wahl, er mußte es wagen, die Uhr zu verlieren. Er faltete den Zettel zusammen und legte ihn unter den doppelten Deckel. Das Gehäuse schloß gut, und es konnte kein Wasser eindringen. Dann hielt er dem Venusianer die Uhr hin.

Aber dieser nahm sie nicht an. Er blickte die Uhr an und traute sich anscheinend nicht, sie zu berühren. Aus welchem Grund?

Belopolski fiel ein, daß die Herren der Venus ein scharfes Gehör besaßen. Ob ihn das Ticken der Uhr beunruhigte?

Höchstwahrscheinlich. Aber wie sollte Belopolski das Werkanhalten? Sogar hier in der Gefangenschaft hatte er die Uhr jeden Morgen aufgezogen.

Abermals zögerte er keinen Augenblick. Er öffnete den hinteren Deckel und drückte mit einem Finger auf die Unruhe. Das rubinene Hämmerchen brach ab, die Uhr stand.

Nun nahm der Venusianer den Gegenstand, der ihm rätselhaft war, an sich. Dabei wies er zum dritten Male auf die Darstellung des Raumschiffes.

Belopolski atmete erleichtert auf. Sein Brief würde zum Schiff gebracht werden, und die Genossen würden erfahren, wie es ihnen hier ergangen war und wo sie sich befanden. Alles übrige würde von Melnikow abhängen. Belopolski war überzeugt, daß sein Vertreter die Situation meistern würde.

Er kehrte zu dem Geländewagen zurück.

Die Uhr blieb auf dem Tisch. Daneben hatte Belopolski auch Bleistift und Notizbuch liegengelassen. Ihm war nicht entgangen, daß diese Gegenstände den Venusianer sehr interessierten.

Romanow empfing ihn mit einer Neuigkeit.

„Unsere Gastgeber möchten unseren Wagen einmal fahren sehen“, berichtete er.

„Warum nicht? Das ist doch zu verstehen. Erfüllt ihren Wunsch. Der Raum hier ist groß genug, und der Wagen kann im Kreis herumfahren. Aber daß Sie mir nicht den Scheinwerfer einschalten!“ Romanow setzte sich auf den Fahrersitz. Belopolski blieb bei den Venusianern und erklärte ihnen mit einer Handbewegung, sie sollten an die Wand zurücktreten. Gehorsam befolgten sie seine Weisung. Die Zeichensprache ersetzte vorläufig immer noch gut das gesprochene Wort. Das kam, weil sich die grundlegenden Gesten von Geschöpfen, die Verstand und Hände besitzen, nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Sie sind nicht erfunden, sondern naturgegeben.

Das Raupenfahrzeug ruckte an. Seine Ketten verursachten auf dem Balkenboden einen unglaublichen Lärm.

Die Venusianer hielten die Hände dicht überm Hals an den Kopf. Offenbar saßen dort ihre Hörorgane, die allem Anschein nach sehr empfindlich waren.

Alle fünf drehten sich zur Wand um.

Belopolski wußte, was diese Bewegung bedeutete. Er hastete zum Wagen.

„Anhalten!“ rief er Romanow zu.

Ruckartig hielt das Fahrzeug. Der Lärm brach ab.

„Sie können solchen Radau nicht vertragen“, erklärte Konstantin Jewgenjewitsch, „sie haben empfindliche Ohren.“ Die Venusianer traten erneut an den Wagen heran. Sie schienen ihn noch aufmerksamer zu betrachten als vorher.

Der eine verließ den Raum. Die vier Zurückbleibenden baten Belopolski gestikulierend, er möge einsteigen. Er gehorchte, ohne zu wissen, was das bedeutete.

Was war geschehen? Wohin war der eine Venusianer gegangen?

Jede Änderung im Verhalten der eigenartigen Gastgeber wirkte unwillkürlich besorgniserregend. Die Menschen befanden sich die ganze Zeit auf der Grenze zwischen Leben und Tod.

Sie glaubten die Gesten ihrer Gefängniswärter zu verstehen, hatten jedoch nicht die geringste Vorstellung von deren Psyche und Denkweise. Ihre Absichten in jedem einzelnen Fall zu erraten war unmöglich. Ebenso wie sich das Äußere der Venusmenschen von dem der Erdenmenschen unterschied, mußte sich auch ihre Handlungsweise von der irdischen unterscheiden. Alles war unbekannt: die Sitten und Gebräuche, die Auffassung von der Umwelt und die Art zu denken.

Nach zehn Minuten etwa kehrte der eine Venusianer zurück.

Ihm folgten zehn Reptile. Sie hoben den Geländewagen auf und trugen ihn zum Ausgang. Die fünf Venusianer blieben im Haus zurück, und die Aufregung der Menschen wuchs. Die Anwesenheit der zweifellos hochintelligenten Geschöpfe wirkte, obwohl sie den Menschen nicht ähnelten, beruhigend. Mit den vermeintlichen Schildkröten aber gab es nichts Gemeinsames.

Die Astronauten fühlten sich unwillkürlich an der Seite der Venusianer weitaus sicherer. Diese Überzeugung erklärte sich aus der Hochachtung, die der Mensch gewöhnlich vor der Vernunft empfindet, in welcher Form sie auch auftreten mag. Von der Vernunft erwartet er ganz selbstverständlich „Menschlichkeit“.

Die „Schildkröten“ verließen den Hauseingang und traten hinaus auf die unterirdische Straße.

Wohin trugen sie das Kettenfahrzeug? Es sollte sich bald herausstellen. Minuten später standen sie wieder vor jenem Haus, in dem die drei Männer zuerst gewesen waren. Die Reptile stellten den Wagen an seinen früheren Platz und verschwanden nacheinander.

Abermals erblickten die Sternfahrer um sich nichts als die kahlen Wände des Gefängnisses.

„Wenn wir noch vierundzwanzig Stunden hierbleiben müssen“, sagte Belopolski, „sind wir verloren.“

Das Geheimnis der Steinschale

Der Lebensmittelvorrat ging zur Neige. Aber was noch schlimmer war — auch der Sauerstoff reichte nicht mehr lange. Die Kosmonauten zapften den letzten Reserveballon an. Bei strengster Sparsamkeit würde er noch zwölf Stunden reichen, vorausgesetzt, alle drei hielten sich möglichst viel außerhalb des Wagens auf.

Fünfzehn Stunden waren schon vergangen.

Die Gelehrten der Venus schienen sie vergessen zu haben.

Niemand kam — außer zwei Venusianern, die den Menschen zweimal Fischfladen brachten.

Das ließ erkennen, daß sie für ihre Gefangenen in gewisser Weise doch sorgten und nicht wollten, daß sie Hungers stürben.

Aber es war klar, daß sie an das Wichtigste, die Atemluft, überhaupt nicht dachten.

„Heute!“ sagte Belopolski.

Balandin und Romanow schwiegen.

Ja! Heute wird es ein Ende haben! Ehe die Nacht anbricht, werden sie tot sein.

Belopolski sah dem Tod mit olympischer Ruhe entgegen. Er glaubte alles getan zu haben, was in ihrer Lage getan werden konnte. Wenn die Venusianer den Brief überbracht hatten, wußte Melnikow schon Bescheid. Das Raumschiff würde zur Erde zurückkehren und den Menschen Kunde bringen, daß die Venus mit vernunftbegabten Geschöpfen bevölkert ist. Eine große Expedition würde ausgerüstet werden; sie würde die Höhle untersuchen, den Bergsee finden und alle Geheimnisse entschleiern. In diesen Gedanken fand Belopolski Trost — ihr Tod war nicht umsonst. Für ihn stand fest, daß Melnikow seinem Befehl nicht zuwiderhandeln und etwa den sinnlosen Versuch unternehmen werde, in die Höhle einzudringen; nur neue Opfer konnten die Folge sein.

Auch Balandin hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden.

Allerdings aus einem anderen Grunde: Die Brandwunden an seinen Beinen machten ihm schwer zu schaffen, und er dachte beinahe zufrieden daran, daß er bald von den quälenden Schmerzen befreit sein würde. Die Pikrinsäure linderte seine Qualen nicht mehr, die Wunden waren fast schwarz geworden und eiterten. Der Professor war derart apathisch, daß er nur noch an die bevorstehende Erlösung von seinen furchtbaren Leiden dachte.

Der junge, gesunde Romanow konnte diese Ruhe nicht aufbringen. Er wollte leben und entwarf einen phantastischen Rettungsplan nach dem anderen. Belopolski hörte ihn aufmerksam an, zerstörte aber stets aufs neue seine Illusionen.

Die kühle Logik des Expeditionsleiters brachte Romanow zur Verzweiflung. Er wußte nicht, daß Konstantin Jewgenjewitsch längst alles bedacht hatte und als letztes versuchen wollte, gerade ihn zu retten. Zu diesem Zweck mußte er aber abwarten, bis die Venusianer ihre Drohung wahrmachen und die Gefangenen zu dem Bergsee schicken würden. Es war anzunehmen, daß sie die Menschen nicht veranlassen würden, aus dem Wagen auszusteigen, sondern diesen, wie sie es vorher ebenfalls getan hatten, tragen würden. Der Weg aber konnte nur am Fluß entlangführen.

Jedoch die Zeit verging, und die Venusianer unternahmen nichts. Belopolski fürchtete, er werde sein Vorhaben nicht mehr ausführen können. Der Sauerstoff würde vorher zu Ende gehen und Romanow so das Schicksal seiner beiden Begleiter teilen.

Das Chronometer am Armaturenbrett zeigte auf halb zehn Uhr morgens, als sie endlich Reptile kommen hörten. Ihre dumpfen Tritte waren nicht mit den leichten Sprüngen der Venusianer zu verwechseln.

„Nun werden wir wohl die Reise ins Gebirge antreten“, sagte Belopolski. „Sehr gut! Mehr will ich ja gar nicht!“ Balandin vernahm seine Worte nicht, er war beinahe bewußtlos. Romanow blickte den Kommandanten an und begriff nicht den Sinn seiner Worte. Blieb es sich nicht gleich, ob ihr Fahrzeug oder sie selbst zu den fernen Bergen verschleppt wurden?

Zehn „Schildkröten“ stapften herein. Ohne die geringste Anstrengung hoben sie den Wagen hoch und trugen ihn auf die „Straße“.

Belopolski erwartete, daß man sie wieder zu dem langen Tunnel, durch den See und schließlich am Fluß entlang tragen würde.

Er beabsichtigte, am Flußufer den Motor mit äußerster Kraft laufen zu lassen und dadurch den Trägern die Hände zu binden; das sollte Romanow ausnützen, fliehen und sich nötigenfalls mit der Waffe einen Weg bahnen. Er selber würde ihm dabei mit der Kraft des Motors, mit dem Scheinwerferlicht und der Waffe helfen.

Die Erfolgschancen waren zwar gering, aber Belopolski wußte keinen anderen Rat. Um sich selbst und Balandin machte er sich keine Sorgen. Der Professor konnte ohnehin nicht fliehen, und ihn allein als Opfer für die wütenden Reptile zurückzulassen kam für Belopolski nicht in Frage. Wenn sich der Jüngste von ihnen rettete, genügte das.

Aber die Reptile wandten sich nicht dem Tunnel zu. Sie gingen in entgegengesetzter Richtung über die den drei Männern schon bekannte „Straße“ und brachten sie in dasselbe Haus, in dem sie einen Tag vorher gewesen waren.

Abermals fanden sie sich in dem großen Saal wieder, und abermals standen etwa zwanzig Venusianer an der Tür.

Die „Schildkröten“ setzten den Geländewagen ab und entfernten sich.

Niemand trat heran und bat die Menschen auszusteigen. Die Venusianer schienen zu warten.

Nicht mit den Augen, sondern eher mit einer Art sechstem Sinn nahm Belopolski wahr, daß die Venusianer sich nicht so benahmen wie früher. Sie schienen den Wagen und die Menschen mit feindseligen Blicken zu messen. Er hätte nicht erklären können, woran er das erkannte, aber er war überzeugt, daß er sich nicht irrte. Es war etwas vorgefallen, und dieser Vorfall wirkte sich nachteilig für sie aus.

Die Venusianer blieben in einiger Entfernung stehen.

Belopolski beschloß, der Ungewißheit entgegenzugehen. Er brachte es nicht fertig, untätig abzuwarten.

„Bleiben Sie im Wagen!“ sagte er zu Romanow. „Ich werde versuchen zu erfahren, was sie von uns erwarten.“ Er stieg aus und ging geradewegs auf die Venusianer zu.

Als er näher kam, traten sie auseinander und machten den Eingang zum Nebenzimmer frei. Ohne zu zögern, ging er in das Zimmer mit dem Tisch. Drei Venusianer folgten ihm.

In diesem Raum schien sich nichts verändert zu haben. An den Wänden hingen immer noch die kristallen-durchsichtigen Gewächse, die von hinten rosa angestrahlt wurden. Auch der Tisch sah aus wie früher. Belopolski bemerkte aber sofort, daß die steinerne Schale fehlte. Auch sein Notizbuch, sein Bleistift und seine Taschenuhr lagen nicht auf dem Tisch. Statt dessen erblickte er dort drei Scherben.

Mit Hilfe von Schnüren, Würfeln und einem Schleifstein legten die Venusianer rasch wieder ihre Landkarte aus und setzten neben das „Raumschiff“ acht Würfel.

Belopolski stellte im stillen fest, daß sein Gegenüber die Zahl der Besatzungsmitglieder nicht vergessen hatte.

Dann ergriff einer der Venusianer drei Würfel und legte sie dorthin, wo die Schneise markiert war. Fünf blieben beim Raumschiff.

Was bedeutete das?

Hatten etwa drei Kosmonauten eine Erkundungsfahrt zum See unternommen und waren in die Hände der Venusianer geraten? — Quälende Unruhe packte Belopolski. Hatte Melnikow etwa seinen Befehl nicht befolgt?

Der Venusianer wies mit der einen Hand auf die drei Würfel und mit der anderen auf die Scherben, die auf dem Tisch lagen, ßelopolski musterte sie prüfend und bemerkte — es waren Scherben der steinernen Schale.

Was war geschehen? Was hatte sich auf der Schneise zugetragen, auf der die Venusianer offenbar drei Menschen begegnet waren? Warum war das Symbol des Friedens uad der Freundschaft zersprungen? Der Venusianer wollte zweifellos zu verstehen geben, daß ein Mensch daran schuld sei.

Belopolski wies den Gedanken von sich, daß die Genossen absichtlich so leichtfertig gewesen sein könnten. Hinter alleilem verbarg sich etwas. Jedenfalls hatte er sich nicht getäuscht.

Die Venusianer hatten tatsächlich ihre Einstellung zu den Menschen geändert, und zwar seitdem die Schale zerstört worden war.

Die Herren des Planeten kamen ihm zu Hilfe.

Der eine wandte den Kopf zur Tür. Er gab keinen Laut von sich. Trotzdem eilte, wie auf stummen Befehl, aus dem großen Saal ein Venusianer herbei und stellte eine neue Schale auf dem Tisch, die der alten in allem glich.

Nun wußte Belopolski überhaupt nicht mehr, was er denken sollte. Wenn die Venusianer mehrere Schalen besaßen — warum grollten sie dann, wenn eine verlorenging? Was bedeutete, eigentlich dieser merkwürdige Gegenstand, dem sie offenbar so große Bedeutung beimaßen?

Die drei Venusianer wiesen mit der einen Hand auf die Schale und mit der anderen auf den Menschen, der ihnen gegenüberstand. Ihre Haltung war vielsagend, sie erteilten einen Befehl, der sich auf die Schale bezog.

Belopolski fühlte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Was wollten die Venusianer von ihm? Was sollte er tun?

Er ließ sich die „Unterhaltung“ vom vorhergehenden Tage durch den Kopf gehen und glaubte, sie plötzlich besser zu verstehen. Vielleicht hatten die Venusianer schon am Vortage das gleiche wie in diesem Augenblick von ihm verlangt. Dann hatten sie aber eingewilligt, daß dieses ihr Verlangen an Bord des Raumschiffes erfüllt würde. Dabei ereilte sie ein Mißgeschick — die Schale ging entzwei. Durch wessen Schuld dies geschah, war zunächst unwichtig. Sie beschlossen daher, ihre Absicht nun durch ihn zu verwirklichen. Aber worin bestand ihre Absicht?

Was brauchten sie?

Belopolski war gewöhnt, sich zu beherrschen. Er zwang sich zur Ruhe und zu kühlem Nachdenken.

Alles drehte sich offenbar um die Steinschale. Mit ihr mußte etwas getan werden. Sollte es ihm nicht gelingen, den Venusianern ihre Absicht zu entlocken? Am Tage zuvor hatte er sich doch auch mit ihnen verständigt.

Rechnen wir doch einmal auf, was wir schon wissen! dachte er. — Zweimal haben die Venusianer uns die Schale gereicht und sie wieder zurückgenommen. Das könnte ihren Auffassungen entsprechend heißen, daß wir uns bereit erklärten, ihre Bitte zu erfüllen. Darauf haben sie uns so verstanden, daß jene Bitte an Bord ausgeführt würde. Nachdem sie inzwischen — gleichviel, aus welchem Grunde — einen Mißerfolg erlitten haben, wollen sie, ich soll ihnen gleich hier den Wunsch erfüllen.

Belopolski nahm die Schale in die Hand. Die Venusianer hinderten ihn nicht daran, sie warteten.

Mit schier übermenschlicher Anstrengung überlegte Belopolski, was als nächstes zu tun sei. Die Schale zurückreichen? Natürlich nicht! Sie in den Wagen tragen? Auch das nicht! Etwas hineinlegen? Ihm fiel ein, wie der Venusianer den Zettel hinausgeworfen hatte. Also — auch nicht das Richtige!

Aber was dann?

Forschend sah Belopolski sich das Steingefäß an.

Das rosige Licht störte. Trotzdem bemerkte er, daß auf der Außenseite etwas eingeschnitten war. Verzierungen.

Er sah genauer hin, strengte seine scharfen Augen an und erblickte…

Was war das?

Wie eine flüchtige Vision huschten vor seinem geistigen Auge die schwarzweißen Felsen der Arsena vorüber… Der Talkessel… die Granitfiguren … Oktaeder, Dodekaeder, Kuben …

Genau solche Körper waren auf der Schale abgebildet, die den Herren der Venus gehörte.

Belopolski hob den Kopf. Ihm gegenüber standen die Venusianer. Sie sollten das geschaffen haben? … Nein, das war unmöglich! Die Venusianer und ein interplanetarer Flug — das paßte nicht zusammen!

Es war ein Zufall. Ein seltsamer Zufall!

Aber er konnte ja fragen …

Belopolski wies mit dem Finger auf die Figuren, die in die Schale geschnitten waren.

Der Venusianer wiederholte die Geste des Menschen und zeigte dann auf Belopolski. Die beiden anderen taten das gleiche.

Da durchfuhr den Kosmonauten ein unglaublicher Gedanke: Ob die Venusianer damit sagen wollten, die Schale gehöre Menschen? Daß Menschen sie geformt hätten?

Wenn sie aber nicht die Menschen meinten, dann … Ja, natürlich, nur so konnte es gemeint sein!

Wissenschaftler kennen solche Augenblicke. Der ForscherGedanke quält sich in einem verschlungenen Labyrinth und sucht nach einer Lösung. Und plötzlich flammt grell im Hirn die richtige Lösung auf, und alles, was finster und rätselhaft schien, wird klar.

Belopolski hatte verstanden.

Die Steinschalen sind nicht von den Venusianern hergestellt worden. Andere haben sie vor langer Zeit auf die Venus gebracht. Wer? Die gleichen Geschöpfe, von denen die Granitfiguren auf der Arsena stammen. Von Generation zu Generation vererbt sich auf der Venus immer noch die Erinnerung an diese unbekannten Besucher. Und die Venusianer glauben nun, Erdenmenschen hätten ihnen die Schalen hinterlassen, Menschen, die jetzt zum zweiten Male ihren Planeten besuchen. Natürlich wissen sie nichts von der Existenz der Erde, wissen sie nicht, woher und wozu damals und auch jetzt jene Geschöpfe, die ihnen gar nicht ähneln und eine ihnen unbekannte Technik besitzen, zu ihnen gekommen sind. Aber sie wollen, daß sie ihnen wiedergeben, was diese Schalen in ferner Vergangenheit darstellten und was sie anscheinend vergessen oder — was wahrscheinlicher ist — verloren haben.

Wozu dienten die Schalen? Das war die Frage.

Belopolski ergriff eine Scherbe.

Die Außenseite war zweifellos aus Stein, aber auf der Innenseite erblickte er eine eigenartige Schicht. Sie war hart, aber nicht aus Stein. Er untersuchte auch die unbeschädigte Schale und überzeugte sich, daß die ganze innere Höhlung mit der gleichen Schicht bedeckt war.

Hier und nur hier lag die Lösung verborgen!

Belopolski gab durch ein Zeichen zu verstehen, daß er zum Wagen zurückgehen wolle. Die Venusianer verstanden und begleiteten ihn. Der eine nahm die Schale mit.

Im Saal wimmelte es von Venusianern. Es waren mindestens zweihundert.

Sie machten dem Menschen bereitwillig Platz, als er auf sein Gefährt zuging. Hastig berichtete Belopolski den Kameraden, was er von alledem hielt, und zeigte ihnen die Scherbe, die er mitgenommen hatte.

„Helft mir, das Rätsel ganz zu lösen!“ bat er.

Romanow ergriff die Scherbe. Er war als Geologe zwar noch jung, aber erfahren und vielseitig. Er erkannte sofort, daß die Schicht nicht natürlichen, sondern künstlichen Ursprungs war.

Sie sah dunkelgrau aus.

„Sie erinnert mich an Thermit“, sagte er.

„Thermit!“ Belopolski fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen.

In der Schale hatte also Feuer gebrannt. Die Venusbewohner hatten das Feuer von unbekannten Sternfahrern erhalten und wieder verloren. Selbst entzünden konnten sie es nicht, aber die Erinnerung daran hatten sie bewahrt und baten nun die Fremden, ihre Schale mit der köstlichen Gabe zu füllen.

So wird es sein, so und nicht anders! Die Lösung war gefunden.

„Womit können wir sie entzünden?“ fragte Belopolski und wies auf die Scherbe.

„Wenn es eine Thermitschicht ist“, sagte Romanow, „dann muß sie längst ausgebrannt sein. Thermit brennt schnell.“

„Dieses Material stammt nicht von der Erde. Vielleicht ist es gar kein Thermit. Aber es muß brennen.“

„Thermit wird mit Magnesium entzündet“, sagte Romanow.

„Wir haben keins. Aber Wtorow natürlich.“

„Es ist kein Thermit“, sagte Belopolski noch einmal. „Haben Sie Streichhölzer bei sich?“

„Natürlich nicht. Aber wir können die Akkumulatoren dazu benutzen.“

„Beeilen Sie sich!“ sagte Belopolski ungeduldig.

Akkumulatoren liefern gleichbleibend starken Strom. Wenn die Spannung hoch genug ist, gibt es nichts Leichteres, als mit ihrer Hilfe Feuer zu entzünden. Dazu braucht man nur zwei Drähte, die mit den beiden Polen des Akkumulators verbunden sind, einander zu nähern. Dann entsteht zwischen beiden ein Voltascher Bogen, an dem man leicht einen Holzspan oder ein Stuck Papier entzünden kann.

„Seien Sie vorsichtig!“ sagte Romanow, als in Belopolskis Hand ein Notizblatt aufflammte. „Wenn es Thermit ist, entsteht eine sehr hohe Temperatur.“ Sobald das Papier brannte, traten die Venusianer hastig vom Wagen zurück. Sie erschraken sichtlich. Der die Schüssel gehalten hatte, stellte sie schleunigst auf den Boden und sprang zur Wand.

„Sie wissen, was vor sich geht“, sagte Romanow. „Seien Sie bloß vorsichtig, rate ich Ihnen!“

„Wir haben keine andere Wahl!“ Belopolski ging mit dem brennenden Papier zu der Schale, er traute sich nicht, es hineinzuwerfen. Es konnte erlöschen — und wer weiß, was bei einem derartigen Mißerfolg geschehen würde.

Das Feuer leckte am inneren Rand der Schale. Eine kurze Stichflamme, eine Rauchwolke stieg auf, verflog, und aus der steinernen Schale züngelte eine blaßblaue Flamme wie von einer dünnen Spiritusschicht empor.

Es war ein kaltes Feuer. Belopolski, der daneben stand, verspürte keine Wärme.

„Es ist kein Thermit“, sagte Romanow.

Unverwandt blickten die Venusianer die Schale an. Die Flamme blendete sie nicht, sie war ganz schwach. Dann kamen sie langsam näher.

Belopolski stieg in den Wagen.

Die Menschen wurden Zeugen einer heidnischen Feueranbetung. Jeder Venusianer berührte die Schale mit dem Kopf und den Händen und ging dann wieder zur Wand zurück. Da mindestens zweihundert Venusianer anwesend waren, dauerte diese Zeremonie sehr lange.

Endlich verneigte sich der letzte vor der Schale. Fünf blieben neben ihr stehen. Einer erhob die Schale und trug sie hinaus.

Die anderen folgten ihm.

Das seltsame Zimmer verödete, und die Menschen blieben allein. Sie schienen vergessen zu sein.

„Dafür haben wir uns solche Mühe gegeben!“ sagte Belopolski achselzuckend.

Aber keine zwei Minuten waren vergangen, als zwei Venusianer, von zehn Reptilen begleitet, zurückkehrten.

„Das ist das Ende!“ sagte Romanow. „Sie brauchen uns nicht mehr, und nun erledigen sie uns.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Belopolski, während er ausstieg.

Die Venusianer kamen ihm entgegen und warfen sich vor ihm auf den Boden. Konstantin Jewgenjewitsch wunderte sich nicht darüber, er hatte es erwartet. Wenn sich die Herren dieses Planeten vor dem Feuer, das ihnen rätselhaft war, verneigten, mußten sie sich auch vor denen verneigen, die es entzündet hatten.

Warum aber hatten sie es nicht schon vorher getan, wenn sie doch wußten, daß die Menschen ihnen Feuer schenken könnten?

Das entsprach ganz und gar nicht den menschlichen Gepflogenheiten.

Es ist keine Verehrung, sondern Ausdruck ihrer Dankbarkeit, dachte Belopolski.

Die Venusianer standen auf. Durch Gesten baten sie den Menschen, mit ihnen in das Tischzimmer zu gehen.

Was wollten sie noch?

Belopolski folgte ihnen.

Auf dem Tisch lag immer noch die Landkartenskizze, die er vor kurzem gezeichnet hatte. Der eine Venusianer legte neben die Darstellung des Raumschiffes acht Würfel. Sie stellten die acht Mann dar, die an Bord geblieben waren. Auf den See legte er fünf andere Würfel.

Warum fünf? Sie waren doch nur drei Gefangene?

Aber sogleich klärte sich alles auf. Der Venusianer wies auf die Würfel und auf Belopolski, dann zeigte er auf sich und den anderen Venusianer.

Vorläufig war alles ziemlich klar. Die fünf Würfel stellten drei Menschen und zwei Venusianer dar.

„Und was weiter?“ Es geschah, was Belopolski nie und nimmer erwartet hätte.

Der Venusianer ergriff die fünf Würfel und legte sie zu dem skizzierten Raumschiff.

Kein Zweifel — sie wollten das Schiff besuchen!

Belopolski war verdattert. Wie sich herausstellte, hatten die Venusbewohner nicht die geringste Angst vor dem Raumschiff.

Sie wollten es sogar besichtigen.

Aber nicht nur Verwunderung empfand der Expeditionsleiter.

Er wußte nun ganz und gar nicht mehr, was er von den Geschöpfen halten sollte, die ihm gegenübersaßen. Wie sah es in ihnen aus, was ging in ihnen vor? Waren sie hochentwickelte Geschöpfe oder Wilde, die eine Steinschale und das darin brennende Feuer anbeteten? Die Vorstellung, daß sie geistig hochentwickelt wären, entsprach nicht dem Bild, daß sich den Mensehen soeben an der Schale geboten hatte. Dagegen entsprach der Wunsch, das Schiff zu besichtigen, nicht der Vorstellung von Wilden, die solch rätselhaftes, riesiges Ding wie ein Raumschiff lurchten mußten.

Was sollte Belopolski den Venusianern antworten? Natürlich waren sie willkommen! Sollten sie ruhig das Schiff besichtigen, wenn sie Lust dazu verspürten.

Ihm kam der Gedanke, daß es schön wäre, könnten sie einen Venusianer zur Erde mitnehmen. Aber er verwarf ihn entrüstet im selben Augenblick. Das wäre eine ganz gemeine Vergewaltigung, eines Sowjetmenschen unwürdig. Wie konnte ihm dergleichen einfallen? Er wiederholte die Bewegung des Venusianers, um zu zeigen, daß er einverstanden sei.

Alle drei kehrten zu dem Geländewagen zurück.

„Was werden sie auf unserem Schiff atmen?“ fragte Romanow, als Belopolski von der Absicht der Venusianer berichtete.

„Ganz einfach — Venusluft“, antwortete Konstantin Jewgenjewitsch.

Belopolski stieg ein. Durch Handbewegungen forderte er die beiden Venusianer auf, ihnen zu folgen, aber sie lehnten ab.

Wollten sie damit sagen, daß sie allein kommen würden?

Oder hatte Belopolski sie wieder nicht richtig verstanden? Beides war möglich.

Die Reptile hoben den Geländewagen auf und trugen ihn hinaus. Die Venusianer folgten.

Einsam wie zuvor wirkte die „Stadt“. Aber die Menschen wußten nun, daß dieser Eindruck trog.

Schade, daß wir ihre Wohnungen nicht gesehen haben! dachte Belopolski. — Die Häuser, in denen wir gewesen sind, dienen offenbar nicht als Wohnhäuser. Sie müssen auch Werkstätten besitzen, in denen beispielsweise Schüsseln hergestellt werden.!

Die beiden Menschen wurden an ihrem nur allzu vertrauten „Gefängnis“ vorübergetragen. Schon dachten sie erregt, die Reptile würden sie wieder dorthin zurückbringen und damit endgültig dem sicheren Tod ausliefern. Aber die Tiere gingen an der gefährlichen Stelle vorüber.

Endlich stapften sie in den rosaroten Tunnel und schließlich ins Wasser hinein.

Die beiden Venusianer, die das Raupenfahrzeug begleitet hatten, waren abgebogen und verschwunden.

Fast dreimal vierundzwanzig Stunden hatten die Menschen in der unterirdischen Stadt in Gefangenschaft der Venusianer verbracht. Was war ihnen in dieser Zeit zu Gesicht gekommen? Man könnte sagen — nichts! Was hatten sie von den Venusianern erfahren? Sehr wenig! Das Abenteuer, das sie beinahe das Leben gekostet hatte, brachte ihr Wissen um die Bewohner des Planeten keinen Schritt vorwärts. Das Rätsel war nur noch größer geworden.

Da… Sie erreichten den Grund des Sees, der von dem matten Licht der rätselhaften Bäume erhellt wurde …

Das Ufer…

Die Waldschneise…

Abermals tauchten die Venusianer auf. Sie hatten die Höhle offenbar auf einem anderen Wege verlassen und waren um den See herumgegangen. Konnten sie sich überhaupt nicht unter Wasser aufhalten?

Das Flußufer zeichnete sich ab.

Und endlich erhob sich vor ihnen in der nächtlichen Finsternis ein schwarzer Koloß, ihre zweite Heimat — das Raumschiff.

Der Gefangenschaft Ende

Minutenlang standen die acht Männer wie erstarrt vor dem flimmernden Bildschirm. Freude und Schmerz, Hoffnung und Verzweiflung rangen in ihnen, wechselten einander ab. Sie trauten ihren eigenen Augen nicht und wünschten doch nichts sehnlicher, als daß es wahr wäre.

Was sie sahen, war zu unwahrscheinlich. Daß dort unten der Geländewagen stehen sollte, der unter den Augen von drei Mitgliedern der Schiffsbesatzung in den See getragen worden war, glich einem Märchen.

Noch wenige Minuten zuvor hatte Melnikow gesagt, die Venusianer würden die Toten selber bringen, wenn sie es für nötig erachteten. Und nun stand gleichsam als Antwort auf seine Äußerung der Wagen vor der einen Luftschleuse. In ihm mußten die drei Toten liegen.

Aber die Geräte des Steuerpultes widerlegten eine solche Schlußfolgerung. Das Filtergerät arbeitete, und niemand außer Belopolski, Balandin oder Romanow konnte es eingeschaltet oder auch nur die Luftschleuse betreten haben.

Doch wie war es möglich, daß auch nur einer von ihnen noch lebte, wenn der Sauerstoffvorrat in den Reservoirs des Geländewagens bereits einen Tag zuvor hätte verbraucht sein müssen? Unter Wasser, wo keine Außenluft genutzt werden konnte, war es unmöglich, Sauerstoff zu sparen.

„Vielleicht ist nur einer zurückgekehrt?“ flüsterte Melnikow.

Es war die einzige, zweifellos einleuchtende Erklärung. Für einen Menschen allein hätte der Sauerstoff vierundzwanzig Stunden länger reichen können.

Wer von den dreien kehrte zum Raumschiff zurück?

Von Ungewißheit gepeinigt, verharrten alle auf ihrem Platz, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen.

Vor lauter Aufregung war keiner darauf gekommen, einen Scheinwerfer einzuschalten und das Kettenfahrzeug anzustrahlen. Im Halbdunkel der Venusnacht hob es sich nur wie ein verschwommener Schatten ab. Und neben ihm bewegten sich andere Schatten.

Die Schatten von drei Gestalten waren zu erkennen! Drei!

Aber ein Mann befand sich doch schon in der Luftschleuse?

Neben dem Fahrzeug konnten nicht mehr als zwei Männer stehen!

Trotzdem waren es drei Schatten.

Die Sternfahrer beugten sich weit vor zum Bildschirm, und ihre Augen tasteten angestrengt das Halbdunkel ab.

Der eine Schatten… Jetzt erkannten sie in ihm die hochgewachsene Gestalt ihres Kommandanten. Neben ihr bewegte sich etwas. Zwei Lebewesen, deren verschwommene Silhouetten seltsam und ungewöhnlich aussahen.

„Was ist das?“

„Licht an!“ befahl Melnikow.

„Nicht nötig!“ rief Knjasew. „Es sind Venusianer!“

„Ja, stimmt!“ bestätigte Korzewski erregt.

Eine neue Überraschung! Wer hätte das gedacht?

War es den Kameraden etwa gelungen, sich mit den Seebewohnern zu verständigen? Besaßen diese gar eine hochentwickelte Technik, und hatten sie die Menschen mit Sauerstoff versorgt? Sonst könnten doch die Männer in dem Geländewagen gar nicht mehr leben! In der Luftschleuse stand anscheinend Balandin, während Belopolski einstweilen draußen den Fremden Gesellschaft leistete.

Zwei von den drei Männern lebten also. Und obwohl alle Wassili Romanow aufrichtig zugetan waren und bei dem Gedanken an seinen Tod echten Schmerz empfanden, fühlten sie sich ungeheuer erleichtert.

„Wir haben also richtig vermutet“, sagte Toporkow, „das Funkgerät des Geländewagens hat nicht funktioniert, und eine individuelle Sprechfunkanlage besaß keiner.“

„Anders kann es wohl nicht gewesen sein“, antwortete Melnikow seufzend. „Auch am Tod des Genossen Romanow dürfte nicht mehr zu zweifeln sein; denn er hatte Sprechfunk bei sich.“ Alles deutete auf diese traurige Wahrheit hin. Wäre Romanow noch am Leben, hätte er längst gefunkt. Sein Schweigen schloß jeden Zweifel aus. Ein sinnloser Tod. Denn die beiden Menschen, um derentwillen Romanow verunglückt war, lebten.

„Warum legen wir die Hände in den Schoß und grübeln?“ sagte Igor Dmitrijewitsch. „Warum verbinden wir uns nicht über Sprechfunk mit der Luftschleuse?“ Sogar daran hatte bisher keiner gedacht.

„Balandin könnte doch selber die Zentrale anrufen. Warum macht er das nicht?“ Toporkow legte den Hebel herum und drückte auf einen Knopf. Der Steuerbordbildschirm leuchtete auf und zeigte das Innere der Luftschleuse.

Da entrang sich allen ein Schrei der Verwunderung und der Freude.

Lebendig und, wie es schien, unversehrt stand vor ihnen ihr Kamerad Romanow. Er trug auf den Armen einen regungslosen menschlichen Körper, dessen Kopf herabhing. Entsetzt erkannten die Männer in ihm Professor Balandin.

Der Geologe warf einen Blick auf die Geräte. Auf den Schrei seiner Freunde, den er in der Schleuse hätte hören müssen, reagierte er nicht.

Toporkow sah ihn genau an. „Er hat gar keinen Sprechfunk mehr bei sich“, sagte er. „Und durch den Helm hindurch hört er uns nicht.“ Alle drei kehrten also zurück — es war nicht zu fassen!

Wie hatten sie das geschafft? In einer Viertelstunde würde man alles wissen.

Sie sahen, wie der Geologe Balandin behutsam auf den Fußboden legte, wie er den Gasschutzanzug auszog und dann auch den Professor von diesem Kleidungsstück befreite.

Also lebte der Professor! Einem Toten würde keiner den Anzug ausziehen.

„Wassili Wassiljewitsch“, rief Melnikow leise.

Der Geologe zuckte zusammen und wandte sich der Stimme zu. In der Schleuse befand sich kein Bildschirm, so daß er nicht sehen konnte, wer mit ihm sprach.

„Ich höre“, sagte er.

„Wassili, mein Lieber! Wir sind ja so froh! Was ist mit Sinowi Serapionowitsch? Warum ist Konstantin Jewgenjewitsch nicht in die Luftschleuse gestiegen?“

„Er wartet bei den Venusianern. Sie kommen uns besuchen.

Um Sinowi Serapionowitsch steht es sehr schlecht. Stepan Arkadjewitsch soll sich bereithalten, er muß ihn behandeln.“ Romanow sprach empörend ruhig, als ob sie von einem kurzen Ausflug zurückkämen und nichts Besonderes erlebt hätten.

„Geduldet euch noch ein bißchen“, setzte er hinzu, „wir werden euch alles erzählen. Konstantin Jewgenjewitsch hat angeordnet, daß Sie auf keinen Fall Scheinwerfer einschalten.“

„Die haben wir bis jetzt einfach vergessen“, antwortete nikow.

„Sehr gut. Die Augen der Venusianer vertragen das Licht nicht. Bringt eine Trage zur Schleuse. In zehn Minuten kommen wir heraus. Ach ja, noch etwas — schließt hermetisch alle Türen, im Korridor, der von der Schleuse zur Steuerzentrale führt, sowie in der Zentrale selbst und im Observatorium! Aber vorher muß Sinowi Serapionowitsch in die Ambulanz. Und überall das Licht dämpfen!“

„Wozu das?“

„Ich habe doch gesagt, daß uns Venusianer besuchen. Wir müssen die Venusluft ins Schiff hereinlassen. Sonst können unsere Gäste nicht atmen.“

„Wie seid ihr denn bloß am Leben geblieben?“

„Davon später.“ Die Besatzung mußte ihre Ungeduld zügeln. Der Geologe war Belopolskis würdig. Er dachte nicht daran, ihre Neugier zu befriedigen.

Sieben Mann gingen zur Luftschleuse. Melnikow blieb am Steuerpult, um den Befehl des Expeditionsleiters auszuführen.

In einen Teil der Schiffsräume die Venusluft einströmen zu lassen, war ungefährlich. Vorher mußten bloß alle die Gasschutzanzüge anziehen. Sobald die Venusianer das Schiff wieder verlassen haben würden, konnte die Luft schnell von Formaldehyd und Kohlensäuregas gereinigt werden. Die Filtrierapparaturen waren stark genug.

Während Melnikow prüfend beobachtete, was an Bord und vor der Luftschleuse geschah, verweilte sein Blick immer wieder auf der breitschultrigen Gestalt Konstantin Jewgenjewitschs, der gelassen und scheinbar ganz ruhig neben dem Geländewagen auf und ab ging. In seiner Nähe befanden sich, im Dunkel kaum zu erkennen, zwei kleine Venusianer.

Wer hätte noch vor kurzem gedacht, daß Menschen und Venusbewohner so schnell freundschaftlich miteinander verkehren würden? Noch vor wenigen Stunden hätte jeder das für unmöglich gehalten.

Melnikow sah auf dem Bildschirm, wie sich die Tür der Luftschleuse öffnete und Wtorow und Knjasew den scheinbar leblosen Balandin behutsam auf die Trage legten. Von Andrejew und Korzewski begleitet, trugen sie den Professor in den Sanitatsraum. Paitschadse, Toporkow und Saizew umarmten stürmisch den jungen Geologen.

Bald darauf schloß auch Melnikow den wie durch ein Wunder Geretteten in die Arme.

„Wir müssen uns beeilen!“ sagte Romanow. „Konstantin jewgenjewitsch hat fast gar keinen Sauerstoff mehr bei sich.“ Unwillkürlich warf Melnikow einen Blick auf den Bildschirm.

Belopolski lustwandelte nach wie vor gemächlich um den Gelandewagen herum und verriet durch nichts, daß sein Leben am seidenen Faden hing. Aber natürlich wußte er es.

„Was soll ich tun? Schnell, sagen Sie es!“

„Die beiden Türen der Luftschleuse öffnen.“ Warum kam Belopolski nicht ins Schiff? Konnte er die Gäste nicht einen Augenblick allein lassen? Die Energie dieses Mannes kannte keine Grenzen!

Melnikow handelte schnell. Binnen einer Minute waren alle Luken und Türen geschlossen. Balandin lag bereits im Operationssaal. Melnikow machte Andrejew darauf aufmerksam, daß er und Korzewski mit dem Verunglückten während des Venusianerbesuchs von den übrigen Räumen abgeschnitten sein würden. Die Angst um den Kommandanten, der sich in Lebensgefahr befand, ließ Melnikow alles andere vergessen; er erkundigte sich bei dem Arzt nicht einmal nach Balandins Zustand. Übrigens konnte Andrejew ohnehin noch nichts sagen.

„Die Gasschutzanzüge anziehen!“ befahl Melnikow den übrigen Besatzungsmitgliedern.

Keine fünf Minuten vergingen, und schon standen alle bereit.

Melnikow tippte auf die entsprechenden Knöpfe.

Die Konstrukteure von „SSSR-KS j“ hatten alles getan, um das Schiff vor dem Eindringen der Luft eines anderen Planeten zu schützen. Sie hatten das als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachtet.

Eine vollkommene Automatik, eingebaute Filter, eine wechselseitige Blockierung der Türen und Fenster des Observatoriums sowie thermische Schalter an den Türknöpfen — all das diente dem einen Zweck. Aus Versehen die beiden Türen der Luftschleuse zu öffnen war völlig unmöglich. Damit es dazu kam, mußte man nacheinander sechzehn Knöpfe betätigen.

Melnikow zwang sich, den unwillkürlich aufflammenden Widerstand gegen das sonst Verbotene zu überwinden. Der Befehl des Kommandanten mußte ausgeführt werden.

Das kleine Lämpchen, das an der sichtbarsten Stelle des Steuerpultes angebracht war und seit dem Start auf der Erde ununterbrochen geleuchtet hatte, erlosch. Sein grünes Licht wurde durch das unheilvolle Rot des Katastrophensignals gelöst. Die Zeiger auf den automatischen Geräten sanken auf Null. Das Schiff hatte seinen Schutz verloren.

Melnikow drückte auf die letzten Knöpfe. Auf vier Raumfahrten war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen, daß man dies nie tun dürfe. Unwillkürlich zuckte seine Hand zurück.

Es kostete ihn Anstrengung, die leicht federnden Knöpfe niederzudrücken.

Belopolski wartete geduldig. Er wußte, daß Melnikow ohne Verzug handeln würde. Doch das Atmen fiel ihm immer schwerer. Der Sauerstoff in seinem Tragebehälter ging zur Neige Die Ballons im Geländewagen waren bereits leer. Buchstäblich im letzten Augenblick hatten die Männer das Schiff wieder erreicht.

Vielleicht hätte er sogleich mit Romanow zusammen die Luftschleuse betreten sollen? Aber wie hätten die Venusianer das aufgefaßt? Belopolski maß ihrem bevorstehenden Besuch ungeheure Bedeutung bei. Daher hatte er auch, ohne zu zögern, angeordnet, die Venusluft in die Schiffsräume einzulassen.

Die beiden Venusianer standen neben dem Geländewagen.

Die Reptile, die ihn getragen hatten, waren verschwunden. Die sichtige Dunkelheit und die nun fast schwarzen Umrisse des nahen Waldes sah Belopolski zum erstenmal. Daß die Dämmerung schon vorüber und inzwischen die Nacht angebrochen war, wußte er als Astronom. Er wunderte sich auch nicht über die eigentümliche Helligkeit — genauso hatte er sich die Venusnacht vorgestellt.

Da öffneten sich mit vertrautem Geräusch die Türen der Luftschleuse. Drei Mann sprangen heraus und liefen auf ihn zu.

Erleichtert erblickte Belopolski in ihren Händen eine Sauerstoffflasche.

Er wurde fest umarmt. Belopolski sah, daß es Paitschadse war. Zwei andere zurrten etwas an seinem Rücken fest.

„Luft anhalten!“ wurde gerufen.

Belopolski zuckte zusammen — das war doch Melnikow? Was sollte das heißen?

Er merkte, wie der Hahn am Sauerstoffschlauch geschlossen wurde. Sekunden später atmete er tief, ganz tief ein: frische Luft! Der leere Behälter war durch einen neuen ersetzt worden.

Belopolski drehte sich mit einem Ruck um.

„Boris? Was soll das heißen?“ fragte er eisig. „Wie kannst du dich unterstehen, in meiner Abwesenheit das Schiff zu verhissen?“ Melnikow huschte wie ein Gespenst davon. Neben dem Kommandanten stand nur noch Romanow.

Belopolski wandte sich Paitschadse zu.

„Das geht auch dich an, Arsen“, sagte er.

Nicht ganz so eilig, doch ebenfalls ohne Zögern, kehrte Paitschadse an Bord zurück. Er und Melnikow hätten vor Scham im Erdboden versinken mögen. Hatten sie doch, was immer geschehen mochte, nicht das Recht, gegen das oberste Gebot aller Raumfahrten zu verstoßen. Sie wußten, daß Belopolski ihnen das lange nicht vergessen würde.

Die Menschen konnten in der nächtlichen Finsternis schlecht sehen, aber die Venusianer sahen ausgezeichnet. Belopolski lud die beiden Wissenschaftler des fremden Planeten mit einer Handbewegung ein, an Bord zu gehen. Er zweifelte nicht daran, daß sie der Einladung folgen würden; hatten sie doch selbst darum gebeten. Aber die beiden sonderbaren Geschöpfe traten einen Schritt zurück. Das ließ sich als Ablehnung deuten.

Belopolski und nach ihm Romanow wiederholten die Geste, die den Venusianern verständlich sein mußte.

Die gleiche Antwort.

„Was ist denn los?“ fragte Belopolski verständnislos.

„Vielleicht irritiert sie die Treppe?“

„Nein, das glaube ich nicht.“ Der eine Venusianer trat einen Schritt vor. Er wies mit der einen Hand auf Belopolski und mit der anderen hinter sich auf den Wald.

„Ich verstehe nichts!“ sagte Konstantin Jewgenjewitsch.

Aus der Luftschleuse ihnen zu Häupten fiel das matte Licht einer abgeblendeten Lampe. Um besser zu sehen, ging Belopolski zu der von ihr beleuchteten Stelle. Die beiden Venusianer folgten ihm. Er forderte sie abermals auf, hinaufzusteigen.

Aber wieder wichen die Herren des Planeten zurück. Sie zeigten auf die Menschen und dann auf den Wald.

„Vielleicht verlangen sie, wir sollen zum See zurückkehren?“ äußerte Romanow fragend.

Belopolski schwieg. Es war offensichtlich, sie verstanden nicht, was die Venusianer wollten. Demzufolge hatte es in der Höhle wieder ein Mißverständnis gegeben. Er hatte dort unten angenommen, die Venusianer wollten das Schiff besichtigen. Nun stellte sich heraus, daß sie nicht daran dachten. Sie verfolgten ein anderes Ziel. Aber wie sollten die Menschen erraten, worin es bestand?

Knjasew stieg aus dem Schiff.

„Boris Nikolajewitsch fragt, warum die Venusianer nicht kommen“, sagte er.

„Das weiß ich genausowenig wie er“, stieß Belopolski zwischen den Zahnen hervor.

„Stepan Arkardjewitsch bittet Sie, so schnell wie möglich hereinzukommen. Es steht sehr schlecht um Sinowi Serapionowitsch.“ Belopolski sah, daß eine Entscheidung getroffen werden mußte. Er unternahm einen letzten Versuch. Aber die Venusianer antworteten ablehnend wie zuvor.

Alle Pläne Belopolskis waren damit zusammengebrochen. Wie würden die Venusianer es auffassen, wenn die Menschen sie einfach stehenließen und an Bord gingen? Würde das nicht zum Abbruch der mit soviel Mühe aufgebauten Beziehungen führen?

Was war zu tun?

„Wir werden versuchen, sie die Treppe hinaufzutragen“, schlug Romanow vor.

Vielleicht hatte der Geologe wirklich recht, und die Venusianer fürchteten sich, die Treppe hinaufzugehen? Oder vielleicht konnten sie es auch gar nicht?

„Versuchen Sie es!“ Belopolski nickte. „Aber vorsichtig!“ Romanow ging auf den einen Venusianer zu, wies die Treppe hinauf und streckte die Arme aus, um ihn hochzuheben.

Hatte der Venusianer begriffen?

Anscheinend — ja. Aber man sah ihm an, daß er nicht einverstanden war. Er trat zurück und wies mit erhobener Hand auf die Tür der Luftschleuse. Mit der anderen Hand machte er die bekannte abwehrende Geste.

Die Antwort war völlig klar.

Aber warum waren sie zum Schiff gekommen? Was wollten sie von den Menschen, denen sie die Freiheit geschenkt hatten?

Die Pflicht der Dankbarkeit gebot, ihre Wünsche zu erfüllen.

Aber wie sollte das geschehen, wenn ihre Wünsche nicht verständlich wurden?

Belopolski tat das einzige, was man in einer so komplizierten Lage tun konnte. Er bemühte sich, den Herren des Planeten zu zeigen, daß ihrem Wunsch nichts entgegenstünde. Er wußte zwar nicht, worin der Wunsch bestand, aber er zeigte ebenso wie die Venusianer auf den Wald und dann auf sich. Danach setzte er den Fuß auf die unterste Treppenstufe und beobachtete prüfend die Venusianer.

Sie neigten langsam den Kopf, als verabschiedeten sie sich. Es konnte aber auch ihr Einverständnis bedeuten… Indem sie noch einmal einen Schritt zurücktraten, gaben sie wiederum zu verstehen, daß sie den Menschen nicht folgen würden.

Länger durfte jedoch nicht gezögert werden. Verärgert, verständnislos und enttäuscht zugleich, ging Belopolski an Bord.

Romanow und Knjasew folgten ihm. Die Tür schloß sich.

Die Venusianer blieben draußen stehen. Was mochten sie in diesem Augenblick von den Menschen denken? Welche Folgen würde es haben, daß die Menschen sie nicht verstanden hatten?

Belopolski begab sich unverzüglich in die Steuerzentrale.

Melnikow empfing ihn zurückhaltend. Er hätte Belopolski umarmen und ihm seine ganze Freude zeigen mögen, aber er wußte, daß der Kommandant entrüstet war, weil er vorhin seinen Posten verlassen hatte. In den Augen eines Menschen wie Belopolski war Melnikows Vergehen durch nichts zu rechtfertigen.

Konstantin Jewgenjewitsch nickte kurz mit dem Kopf und trat an den Bildschirm. Aber die Venusianer waren schon gegangen.

„Stellen Sie die Filtriergeräte in der Luftschleuse und im Observatorium an“, befahl er. „Die Luft muß so schnell wie möglich gereinigt werden.“ Wortlos gehorchte Melnikow. Die kühle Begrüßung bedrückte ihn. Belopolski hatte ihn mit „Sie“ angeredet. Verstand er ihn etwa nicht? Nein, er verstand ihn wohl nicht… Er selbst hätte dergleichen nie getan.

Belopolski stellte die Verbindung mit der Ambulanz her.

„Es steht schlecht“, berichtete ihm Andrejew. „Wahrscheinlich müssen wir das linke Bein amputieren.“

„Tun Sie, was in Ihren Kräften steht, um das zu vermeiden.“

„Selbstverständlich, Konstantin Jewgenjewitsch!“ Paitschadse und Toporkow, die in der Zentrale gewesen waren, gingen hinaus. Da wandte sich Belopolski Melnikow zu und musterte ihn schweigend.

„Es war das erste und letzte Mal“, sagte Melnikow.

„Welche Pläne hattest du?“

„Ich wollte diejenigen Arbeiten zu Ende fuhren, für die genug Leute da waren, und dann termingemäß zur Erde zurückfliegen.“

„Wie soll ich das verstehen? Haben die Venusianer euch nicht meine Uhr gebracht?“

„Doch.“ Da wurde Melnikow plötzlich klar, daß ihm ein zweiter Fehler unterlaufen war: Die Uhr hatte zweifellos eine Mitteilung enthalten! Und keiner war auf den Gedanken gekommen, sie zu öffnen! Wieder stieg ihm die Schamröte ins Gesicht.

„Ich dachte, ihr würdet das verstehen“, sagte Belopolski.

„Wir haben euch alle für tot gehalten und gedacht, die Venusianer hatten Ihnen aus irgendeinem Grunde den Chronometer abgenommen. Wir haben es als eine Art Aufforderung, die Toten vom See abzuholen, aufgefaßt.“

„Und ihr seid zum See gefahren, seid Venusianern begegnet und habt eine steinerne Schale, die sie euch gaben, in Scherben geworfen?“ Melnikow sah den Kommandanten verdutzt an. Woher kannte er diese Einzelheiten?

„Hast du selber den Geländewagen geführt?“ fragte Belopolski unerbittlich.

Abermals schoß Melnikow das Blut ins Gesicht.

„Natürlich nicht!“ entgegnete er. „Wie können Sie das denken?“

„Es wäre gar nicht so abwegig.“ Belopolski zuckte mit den Schultern. „Wer hat denn die Schale hingeworfen? Und — warum?“

„Wtorow. Genauer gesagt, sie ist hingefallen. Es geschah folgendermaßen…“

„Augenblick!“ unterbrach ihn Belopolski. „Das mußt du mir ausführlich schildern. Aber wir haben einander viel zu erzählen und wollen damit noch ein bißchen warten.“ Die Reinigung der Luft dauerte über anderthalb Stunden.

Während dieser Zeit mußten die Besatzungsmitglieder die Gasschutzanzüge tragen und unterhielten sich so gut wie gar nicht.

Endlich zeigten die Geräte an, daß die Luft an Bord keine Fremdstoffe mehr enthielt. Die Türen der Luftschleuse wurden geschlossen und die Automatik wieder in Betrieb gesetzt. Grün leuchtete das Lämpchen am Steuerpult.

Sobald sich die Zwischentüren öffneten, eilte Belopolski in die Ambulanz. Die ganze Zeit hatte er um Balandin gebangt.

Der Professor war bewußtlos. Aschfahl im Gesicht und mit bläulich angelaufenen Lippen, lag er wie ein Leichnam auf dem Operationstisch.

„Das Herz arbeitet kaum“, antwortete Andrejew auf Belopolskis Frage, „ich mache mir ernstlich Sorgen. Wenn ich ihn eher hätte behandeln können…“

„Was schlagen Sie vor?“

„Sofort amputieren. Das ist die einzige Hoffnung.“

„Aber Sie sagen doch selber, daß das Herz schwach ist.“

„Wenn wir das linke Bein nicht amputieren, hat er keine Stunde mehr zu leben.“ Belopolski schlug die Hände vors Gesicht. Eine Fahrlässigkeit, an der er sich selber für mitschuldig hielt, würde für alle Zeiten Professor Balandin aus den Reihen der Astronauten reißen. Konstantin Jewgenjewitsch spürte, wie ihm ein Kloß zum Halse aufstieg.

„Und man kann gar nichts machen?“

„Nichts. Es ist zu spät.“

„Aber eine Operation wurde ihn retten? Sind Sie dessen sicher?“ Andrejew ließ den Kopf hangen.

„Wir hoffen es“, antwortete er kaum hörbar.

Belopolski wandte sich schweigend ab und ging hinaus.

Die Operation begann.

Vor der verschlossenen Tür der Ambulanz versammelte sich die ganze Besatzung. Niemand verlor ein Wort.

Endlich öffnete sich die Tür.

Im weißen Kittel und mit blutbenetzten Gummihandschuhen trat Korzewski auf die Schwelle. Er war totenbleich.

„Sinowi Serapionowitsch ist gestorben“, sagte er.

Zu den Ufern des Bergsees

Balandins Tod war ein schwerer Schlag für die Besatzung, eine harte Probe auf ihre Tapferkeit, Energie und Zähigkeit. Voller Sorge beobachtete der Kommandant die Männer. Er befürchtete, der tragische Ausgang des im Grunde ersten Versuches, in die Geheimnisse des Planeten einzudringen, könnte ihnen den Glauben an den Sieg der großen Arbeit nehmen. Tief befriedigt und stolz überzeugte er sich davon, daß alle neun einen klaren Kopf behielten.

Keiner ließ den Mut sinken.

Um Mitternacht wurde der stählerne Sarg, den Knjasew aus Reserveplatten gebaut hatte, am Waldrand in eine tiefe Grube hinabgelassen. Das Grab wurde sorgfältig eingeebnet, damit es die Venusianer nicht entdeckten. So würde die Erde der Venus den Leichnam bis zum Eintreffen der nächsten Expedition bewahren.

Ein gesunder und normaler Mensch denkt gewöhnlich nicht ans Sterben. Auch bei der Vorbereitung der Expedition hatte niemand bedacht, was die Besatzung der „SSSR-KS 3“ tun solle, wenn jemand tödlich verunglückte. Nirgends an Bord konnte der Leichnam bis zur Rückkehr auf die Erde geborgen werden.

Den toten Kameraden zu den Musterstücken aus Fauna und Flora der Venus in die Kühlkammer zu tragen, empfanden alle als unwürdig. Sie hielten es für besser, daß Balandins und — auf der Arsena — Orlows Leichnam bis zur nächsten Expedition an Ort und Stelle blieben.

Nachdem die Astronauten Sinowi Serapionowitsch beigesetzt hatten, führten sie unter der Leitung Paitschadses, der an Balandins Stelle trat, die wissenschaftliche Forschungsarbeit mit doppelter Energie fort. Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit.

Schnell und unmerklich vergingen die Stunden der Venusnacht. Die angestrengte Arbeit half vergessen. Nicht den Menschen, aber den Schmerz, den sein Tod verursachte.

Mehrmals beobachtete die Besatzung das zauberhafte Nordlicht der Venus. Alle bedauerten, daß es auf der Erde ein solch unvergleichlich schönes Schauspiel nicht gab. Wtorows Aufnahmen konnten nur eine unvollkommene Vorstellung von der Phantasmagorie der Farben vermitteln.

Je näher der Morgen rückte, desto seltener und matter leuchtete das Nordlicht auf.

Der Verkehr mit den Venusianern war völlig abgebrochen.

Nur noch einmal kamen sie in großer Zahl — es mochten etwa hundert sein — zum Schiff. Sie standen etwa eine Stunde am Waldrand und sahen sich offenbar das Schiff genau an, traten aber nicht näher.

Konstantin Jewgenjewitsch war überzeugt, daß die Expedition am Bergsee den Venusianern erneut begegnen würde.

Die Erlebnisse Belopolskis und seiner Begleiter in der unterirdischen Stadt und auch die Begegnung mit den Venusianern auf der Schneise waren Gegenstand endloser, hitziger Auseinandersetzungen.

Romanow äußerte die Vermutung, daß die Venusianer ihre Gefangenen gar nicht gewaltsam zu den Bergen hatten verschleppen wollen. Vielleicht legten sie ihnen ganz einfach nahe, dorthin aufzubrechen. Belopolski sträubte sich lange gegen diese Auffassung, gelangte aber allmählich doch zu einer anderen Einschätzung der stummen Unterhaltung in der Höhle.

Wenn man es sich richtig überlegte, hatten die Venusianer die Menschen von Anfang an nicht bedroht. Sie waren ihnen sogleich freundschaftlich entgegengekommen. Was die Menschen der Erde als Vergewaltigung empfanden — die Verschleppung des Geländewagens und die dreitägige Gefangenschaft —, konnte in den Augen der Venusianer eine ganz andere Bedeutung haben.

Es konnte sogar ein Ausdruck von Gastfreundschaft sein. Woher sollte jemand die Sitten und Gebräuche dieses Volkes kennen?

Was sich am Raumschiff zugetragen hatte, als sich die Venusianer weigerten, das Schiff zu besteigen, nachdem sie zuvor selber gewünscht hatten, es zu besichtigen, wurde nach langen Erörterungen auch anders beurteilt. Alle faßten es nun so auf, daß die Venusianer ihre Gaste einfach „nach Hause“ begleitet und sie zum Schluß nochmals aufgefordert hätten, sie wieder in der Höhle zu besuchen. An eine Besichtigung des Raumschiffes hätten sie gar nicht gedacht.

Aber ungeachtet dieser erfreulichen Schlußfolgerungen erklärte Belopolski, man dürfe der Einladung der Venusianer nicht leichtfertig folgen, und er lehnte Wtorows Bitte, in die Höhle zu gehen, um dort zu filmen, kategorisch ab.

„Die Gesten der Venusianer bei unserem letzten Zusammentreffen mit ihnen“, sagte er, „können auch bedeuten, daß man uns nicht nur nicht einlädt, die Höhle zu besuchen, sondern im Gegenteil uns den Besuch verbietet. Wir überlassen das also lieber der nächsten Expedition, die für eine derartige Exkursion entsprechend ausgerüstet sein wird.“ Diese Worte machten den Besatzungsmitgliedern klar, daß der Kommandant ihre Meinung nicht teilte.

Er traute den Venusianern offenbar nicht und fürchtete neue Opfer.

Wtorow mußte sich fügen. Ganz überraschend machte er sich bald darauf durch andere wertvolle Aufnahmen verdient.

Schon am Tag nach Balandins Beisetzung beobachteten die Astronauten an den Stromschnellen Bewegung. Wie sich herausstellte, leisteten die Venusbewohner ihre nächtliche Arbeit.

Belopolski schlug vor, sich dies aus der Nähe anzusehen.

Daß der mächtige Geländewagen an den Baumstapeln vorfuhr, schien die Seebewohner gar nicht zu stören. Sie setzten ihre Arbeit fort, ohne sich um ihn zu kümmern. Die Menschen waren klug genug, die Scheinwerfer nicht einzuschalten, und Wtorow konnte durch die Fenster des Wagens hindurch soviel fotografieren, wie er wollte, was er natürlich auch tat. Die überempfindlichen Filme, die eigens für ihn hergestellt worden waren, ermöglichten sogar bei Nacht ziemlich klare Aufnahmen.

Es war ein ungewöhnlich reizvolles Bild. Tag für Tag fuhr der große Geländewagen für mehrere Stunden zu dem Wehr.

Außer Wtorow fuhren nacheinander alle Besatzungsmitglieder einmal mit; alle wollten die Venusianer arbeiten sehen. Die aufmerksame Beobachtung des Arbeitsprozesses ließ auch außerordentlich wichtige Schlüsse über die geistige Entwicklung der Seebewohner zu.

Die Arbeit wurde hauptsächlich von den Reptilen geleistet.

Bei ihnen standen einige Venusianer, die offenbar Befehle erteilten und Anweisungen gaben. Wie sie dies taten, konnten die Menschen nicht erkennen. Keine Gesten, keine Laute. Es entstand der Eindruck, daß die Venusianer die Weisungen durch Gedankenübertragung erteilten und die Schildkröten sich ihrem Gedankenbefehl unterordneten. Aber das war natürlich unmöglich. Hinter dem ganzen verbarg sich ein Geheimnis.

Während Belopolski die Reptile beobachtete, sah er immer wieder das Bild vor sich, wie ihr Geländewagen verschleppt worden war. Die Handlungsweise der Reptile hatte an jenem verhängnisvollen Abend durchdacht gewirkt. Sie hatten das Kettenfahrzeug nach allen Regeln der Kriegskunst erobert. Das ließ sich einzig und allein damit erklären, daß auch Venusianer zugegen gewesen waren, obwohl weder Belopolski noch Balandin welche bemerkt hatten.

Ein noch schwierigeres Manöver hatten die Reptile bei dem Überfall auf Knjasews Wagen ausgeführt. Zwar waren sie dabei ganz gewiß von den Venusianern geleitet worden; trotzdem ging ihre Leistung über die Grenzen gewöhnlicher Dressur weit hinaus. Auf der Erde waren selbst Affen, Elefanten und hochentwickelte Tiere solcher Handlungen nicht fähig. Die Venusianer hatten ja die Begegnung mit dem Geländewagen nicht voraussehen und die Reptile zuvor „unterrichten“ können, wie sie sich in solch überraschender Situation zu verhalten hätten.

Nach langer Überlegung äußerte schließlich auch Korzewski seine Vermutungen zu dem Fragenkomplex.

„Alles, was wir über die vermeintlichen Schildkröten erfahren haben“, begann er, „beweist, daß sie keine Vernunft besitzen und ebensowenig wie andere Tiere logischer Folgerung fähig sind. Was sie tun, tun sie mechanisch, ohne den Sinn zu verstehen. Aber die Art, wie sie beim Zusammentreffen mit uns gegen die Scheinwerfer vorgingen, laßt sich mit einer langen, vorbereitenden Dressur nicht erklären. Ich nahm damals an, sie kannten den Krieg. Das war ein Irrtum; die Reptile können keinen Krieg führen. Aber sie verstehen einen Schild zu benutzen, sich unter seinem Schutz einem Objekt zu nähern und es mit Steinen anzugreifen. Wie ist das zu erklären? Nur durch die Jagd. Durch die Jagd auf irgendein großes, gefährliches Tier. Die ›Schildkröten‹ sind darauf dressiert worden, mit Schilden und Steinen zu jagen, und sie haben bei der Begegnung mit uns in gewohnter Weise gehandelt. Den Unterschied zwischen dem üblichen Wild und unserem Fahrzeug haben sie nicht begriffen. Wir dachten, sie zielten auf unsere Scheinwerfer. Irrtum.

Sie bewarfen den ganzen Wagen mit Steinen. Daß dabei die Scheinwerfer getroffen wurden, ist reiner Zufall.“

„Also haben die Venusianer uns in jenem Augenblick nicht persönlich angegriffen?“ fragte Wtorow.

„Keinesfalls!“ entgegnete der Biologe. „Überlegen Sie einmal — sie haben doch unseren Wagen nicht verfolgt! Vergessen Sie nicht, daß ihre Vernunft nicht die der Erdenbewohner ist.“ Die Astronauten pflichteten Korzewski bei. Wenn man die Handlungsweise der Venusianer so deutete, wurde vieles verständlich.

Die Arbeiten am Wehr wurden gegen Morgen eingestellt.

Die Stämme, die am Fluß gelegen hatten, waren zum See abtransportiert und an ihrer Stelle neue gestapelt worden. Wieder bestand nur jeder zweite Stapel aus geschälten Stämmen, während die anderen Bäume Rinde und Äste enthielten. Korzewski maß diesem Umstand besondere Bedeutung bei.

„Daraus geht eindeutig hervor, daß nicht nur die Reptile, sondern auch die Venusianer selber nach einem ein für allemal gegebenen Schema verfahren“, erklärte er. „Kann man doch mit Gewißheit sagen, daß diese Arbeit bereits jahrhundertelang geleistet wird. Und trotzdem ist sie äußerst primitiv.“ Den Menschen war tatsächlich aufgefallen, daß man vieles ertragreicher und mit weniger Kraftaufwand hätte ausführen können. Dazu bedurfte es lediglich einiger elementarer Vorstellungen von Arbeitsorganisation. Aber die Venusianer hatten davon keine Ahnung.

Nicht die geringste Spur einer Technik. Alles wurde mit den Händen, mit nackter Körperkraft getan. Das Hebelgesetz, das den Venusianern viel hätte helfen können, war völlig unbekannt.

Selbst die einfachsten Steinbeile, von den Menschen der Erde schon vor undenklichen Zeiten benutzt, harrten bei ihnen noch der Erfindung.

„Bald wird sich hier alles ändern“, sagte Belopolski, „wir werden sie lehren, sinnvoll zu arbeiten. Die Venusianer sind im Vergleich mit uns Wilde. Aber sie sind unsere jüngeren Brüder. Es ist Pflicht des Erdenmenschen, ihnen alles zu geben, was sie brauchen, um sich das Leben und die Arbeit zu erleichtern. Und das wird geschehen!“

„Ohne eine gemeinsame Sprache…“, begann Korzewski.

Aber der Expeditionsleiter fiel ihm ins Wort.

„Es wird geschehen!“ wiederholte er. „Und wir werden eine gemeinsame Sprache finden. Auf welche Weise sie miteinander reden, ist für uns noch ein Geheimnis. Aber dieses Geheimnis müssen und werden wir lüften.“ Toporkow, der dem Wortwechsel zuhörte, sah Belopolski hintergründig lächelnd an.

„Was würden Sie sagen“, fragte er, „wenn ich dieses Geheimnis bereits enträtselt hätte?“

„Sie?“ Igor Dmitrijewitsch zuckte mit den Schultern.

„Man braucht kein Biologe zu sein, um in ein biologisches Geheimnis einzudringen. Es kann sein, daß die Technik uns Menschen die Möglichkeit liefert, mit den Venusianern zu sprechen oder zumindest uns mit ihnen zu verständigen.“

„Was wissen Sie denn?“

„Erstens weiß ich nicht, sondern glaube zu wissen. Das ist nicht ein und dasselbe. Und zweitens werde ich Ihnen vorläufig nichts sagen. Das Mißtrauen, Konstantin Jewgenjewitsch, das in Ihrem Ausruf ›Sie?‹ lag, galt sicher nicht mir persönlich, sondern der Technik, die ich vertrete. Es will Ihnen nicht gefallen, daß ein Ingenieur ein biologisches Geheimnis lüftet. Aber ich fühle mich für meine Berufskollegen gekränkt. Ich habe einen Plan. Wenn er verwirklicht ist, werde ich Ihnen davon berichten.

Eher nicht.“ Die Sternfahrer glaubten zunächst, Toporkow scherze. Aber Igor Dmitrijewitsch schien wirklich gekränkt zu sein. Obwohl Korzewski ihn sehr herzlich bat, sich nicht in Schweigen zu hüllen, blieb er stumm. Der Biologe mußte seine Versuche schließlich, voller Groll auf Belopolski, aufgeben.

„Woher konnte ich wissen, daß Igor so empfindlich ist“, sagte der Kommandant kaum merklich lächelnd, „und darum geht es doch wohl auch gar nicht. Er will einfach nichts sagen, bevor er sich nicht überzeugt hat, daß es stimmt.“

„Dann hätte er auch keine Andeutungen machen sollen!“

„Tja, da ist nichts zu machen! Fassen wir uns in Geduld!“ Der ungeduldige Biologe versuchte noch mehrmals in Toporkow zu dringen, erreichte aber nichts. Igor Dmitrijewitsch konnte manchmal sehr dickköpfig sein.

Dennoch erfuhr ein Mitglied der Expedition früher als die anderen von dem Plan. Es war Saizew. Ohne die Hilfe des Ingenieurs und Mechanikers war das Vorhaben nicht zu verwirklichen. Aber Toporkow verpflichtete ihn zum Schweigen, und der Oberingenieur des Raumschiffes wußte zu schweigen.

Der Morgen graute. Aufs neue ging am Horizont die unsichtbare Sonne auf. Das Ende der Nacht wurde durch ein fürchterliches Gewitter angezeigt, das zwölf Stunden ununterbrochen tobte. Die Natur der Venus feierte gleichsam ihr Erwachen aus einem zweihundertsiebzigstündigen Winterschlaf.

Die Sternfahrer bereiteten alles zum Start vor. Die für die erste Nacht vorgesehenen Arbeiten waren erledigt; sie hatten sogar noch mehr geschafft. Belopolski wollte nun zu den Bergen fliegen, den Bergsee suchen, auf den ihn die Venusianer aufmerksam gemacht hatten, und die restliche Zeit dort verbringen.

Am 4. August startete das Raumschiff von seinem alten Liegeplatz und hinterließ den Seebewohnern zur Erinnerung an den Besuch einen verbrannten Uferstreifen. Melnikow, der am Steuerpult saß, flog zum Abschied noch einmal über den See.

Tief bewegt spähten die Sternfahrer auf die spiegelglatte Wasserfläche hinab. Dort unten lag die seltsame, vom rosigen Licht rätselhafter „Bäume“ erhellte Welt, dort unten krochen „Schildkröten“ umher, die lebendig gewordenen Lauben glichen und die „Arbeitskräfte“ der Venus stellten.

Dort unten, im Innern des Steilufers, verbarg sich die riesige Höhle mit der unterirdischen Stadt aus Häusern ohne Dächer und mit leuchtenden Wänden. Drei von ihnen waren in dieser Stadt der Venusianer gewesen, ohne viel von ihr gesehen zu haben. Sinowi Serapionowitsch hatte dort den Tod gefunden.

Die mit Baumstämmen verschalten Wände des rosigen Tunnels waren das Letzte gewesen, was er sah, denn hier verlor er für immer das Bewußtsein.

Was mochten die Bewohner der Stadt im Augenblick tun?

Korzewski versicherte, sie schliefen. Für die Venusbewohner bedeute der Tag dasselbe wie für die Menschen die Nacht.

Drei irdische Wochen seien für die Venusianer ein Tag und eine Nacht. Ob sie wirklich schliefen?

Vielleicht könnte man sich gerade jetzt am leichtesten heimlich in ihre Stadt schleichen und darin umsehen?

Der See blieb zurück. Unter den Tragflächen des Raumschiffes strömte in der Tiefe der breite Fluß.

Nirgends waren Spuren von Leben zu entdecken. Man sah nichts als Pflanzen. Kein Wunder, daß die Menschen, die als erste die Venus besucht hatten, zu falschen Vermutungen gelangten. Auch die Besatzung der „SSSR-KS 3“ hätte dieser Täuschung erliegen können. Nichts wies darauf hin, daß der Planet bewohnt war.

Die Venus war ein Rätsel! Ein verschlossenes Buch, das erst die nachfolgenden Expeditionen würden lesen lernen.

Wissenschaftler sind zähe. Die Arbeit von Belopolskis Expedition ging dem Ende zu. Ihr Raumschiff würde bald zur Erde zurückkehren. Aber an seiner Statt werden andere zur Venus fliegen. Zwei-, drei-, viermal. Sooft wie nötig.

Der Mensch muß alles wissen!

Schnell fliegt das Schiff. Deutlich spiegelt sich in den Wassern des Flusses die geflügelte Zigarre mit dem langen, feurigen Schweif. Kilometer um Kilometer rast sie dahin. Vorwärts, immer vorwärts! Zu neuen Entdeckungen, zu neuen Gipfeln des Wissens!

Ohne Ende und schwer, aber herrlich ist der steile Aufstieg menschlichen Wissens!

1957

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