2. Chochmah



3



In hanc utilitatem clementes angeli saepe figuras, characteres, formas et voces invenerunt pro-posuerunt que nobis mortalibus et ignotas et stu-pendas, nullius rei iuxta consuetum linguae usum significativas, sed per rationis nostrae summam admirationem in assiduam intelligibilium pervestigationem, deinde in illorum ipsorum venerationem er amorem inductivas.

(In solcher Nützlichkeit wohltätig haben die Engel oftmals Figuren, Buchstaben, Formen und Stimmen erfunden und uns Sterblichen vorgeschlagen, die uns sowohl unbekannt wie erstaunlich waren und in keiner Weise dem gewohnten Gebrauch der Sprache entsprechen, sondern uns anleiten sollen, von der höchsten Bewunderung unserer Vernunft zur beharrlichen Erforschung alles Intelligiblen und von dort aus zu seiner Verehrung und Liebe zu gelangen.)


Johannes Reuchlin, De arte cabalistica, Hagenau, 1517, III


Es war zwei Tage vorher gewesen. An jenem Donnerstagmorgen blieb ich lange im Bett und konnte mich nicht zum Aufstehen entschließen. Ich war am Mittwochnachmittag angekommen und hatte gleich im Verlag angerufen. Diotallevi lag immer noch in der Klinik, und Gudrun war pessimistisch gewesen: immer gleich, das heißt immer schlimmer. Ich traute mich nicht, ihn zu besuchen.

Auch Belbo war nicht im Büro. Laut Gudrun hatte er angerufen und gesagt, er müsse für ein paar Tage aus familiären Gründen verreisen. Seit wann hatte Belbo eine Familie? Das Seltsame war, dass er den Schreibcomputer mitgenommen hatte — Abulafia, wie er ihn inzwischen nannte — samt dem Drucker. Gudrun meinte, er hätte ihn mit nach Hause genommen, um eine Arbeit fertigzustellen. Wieso der Aufwand? Konnte er nicht im Büro schreiben?

Ich fühlte mich verwaist. Lia und das Kind würden erst in der nächsten Woche zurückkommen. Am Abend vorher hatte ich kurz bei Pilade reingeschaut, aber niemanden dort gefunden.

Das Telefon schreckte mich hoch. Es war Belbo, seine Stimme klang fern, verzerrt.

»Was ist los? Von wo rufen Sie an? Ich dachte schon, Sie wären am Nordpol verschollen, mit Amundsen ...«

»Machen Sie keine Witze, Casaubon, die Sache ist ernst. Ich bin in Paris.«

»In Paris? Aber da sollte ich doch hin! Ich bin es, der endlich das Conservatoire besuchen muss!«

»Machen Sie keine Witze, ich sag's noch mal. Ich bin in einer Zelle ... nein, in einer Bar, na jedenfalls, ich weiß nicht, ob ich lange reden kann ...«

»Wenn Sie nicht genug Jetons haben, rufen Sie mich doch mit R-Gespräch an. Ich bleibe dran und warte.«

»Es geht nicht um Jetons. Ich bin in Gefahr.« Er redete plötzlich sehr schnell, damit ich ihn nicht unterbrechen konnte. »Der Plan. Der Plan ist wahr. Bitte jetzt keine Gemeinplätze. Die suchen mich.« »Aber ... wer denn?« Ich war noch nicht ganz wach. »Die Templer! Herrgott, Casaubon, ich weiß, Sie werden's nicht glauben, aber es ist alles wahr gewesen. Die denken, ich hätte die Karte, sie haben mich in die Zange genommen, haben mich gezwungen, nach Paris zu kommen. Am Samstag um Mitternacht wollen sie mich im Conservatoire haben — am Samstag, verstehen Sie in der Johannisnacht ...« Er redete abgehackt, ich kam nicht mit.

»Ich will nicht hin, ich haue ab, Casaubon. Die wollen mich umbringen. Rufen Sie De Angelis an — nein, De Angelis nützt nichts, keine Polizei, bloß keine Polizei ... «

»Und was dann?«

»Keine Ahnung. Lesen Sie die Disketten, in Abulafia, in den letzten Tagen habe ich alles da reingeschrieben, auch was diesen Monat passiert ist. Sie waren nicht da, ich wusste nicht, wem ich's erzählen sollte, ich hab drei Tage und drei Nächte durchgeschrieben ... Passen Sie auf, gehen Sie in mein Büro, in der Schreibtischschublade ist ein Umschlag mit zwei Schlüsseln. Der große nicht, der ist für das Haus auf dem Land, aber der kleine ist der zu meiner Wohnung in Mailand, gehen Sie hin und lesen Sie alles, und dann entscheiden Sie selbst, oder wir sprechen uns wieder — mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll ...«

»Okay, ich lese. Aber dann, wo finde ich Sie?«

»Ich weiß nicht, hier wechsle ich jede Nacht das Hotel. Am besten, Sie machen alles heute, und dann warten Sie in meiner Wohnung, ich versuche Sie morgen früh wieder anzurufen, wenn ich kann. Ach ja, das Passwort.«

Ich hörte Geräusche, Belbos Stimme klang abwechselnd näher und ferner, als ob jemand versuchte, ihm den Hörer wegzureißen.

»He, Belbo! Was ist los?«

»Die haben mich gefunden! Das Passwort ...« Ein trockener Knall, wie ein Schuss. Musste der Hörer gewesen sein, der runtergefallen und an die Wand geschlagen war, oder auf die Ablage unter dem Telefon. Ich hörte ein Keuchen. Dann das Klicken des Hörers, der eingehängt wurde. Sicher nicht von Belbo.

Ich ging sofort unter die Dusche. Ich musste wach werden, ich begriff nicht, was los war. Der Plan sollte wahr sein? Absurd, wir hatten ihn doch erfunden! Wer hatte Belbo entführt? Die Rosenkreuzer? Der Graf von Saint-Germain, die Ochrana, die Tempelritter, die Assassinen? An diesem Punkt war alles möglich, denn alles war unwahrscheinlich geworden. Es konnte sein, dass Belbo übergeschnappt war, in der letzten Zeit war er so nervös gewesen, ich wusste nicht, ob wegen Lorenza Pellegrini oder weil ihn seine Kreatur immer mehr faszinierte — oder besser gesagt, der Plan war unsere gemeinsame Kreatur gewesen, meine, seine und Diotallevis, aber Belbo schien mittlerweile völlig von ihm besessen, weit über die Grenzen des Spiels hinaus ... Müßig, weitere Hypothesen aufzustellen. Ich ging in den Verlag, Gudrun empfing mich mit säuerlichen Bemerkungen über die Tatsache, dass sie jetzt die Einzige sei, die den Laden auf Trab hielt Ich stürmte sofort ins Büro, fand den Umschlag, die Schlüssel, eilte in Belbos Wohnung.

Geruch nach abgestandener Luft, nach ranzigen Kippen, die Aschenbecher randvoll, wohin man blickte, die Spüle in der Küche vollgepackt mit dreckigem Geschirr, der Mülleimer überquellend von leeren Konservendosen. Auf einem Regal im Arbeitszimmer drei leere Whiskyflaschen, die vierte enthielt noch zwei Fingerbreit Alkohol. Es war die Wohnung von einem, der sich die letzten Tage hermetisch darin eingeschlossen hatte, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen, nur essend, was gerade da war, um pausenlos durchzuarbeiten wie ein Verrückter, ein Süchtiger.

Es waren zwei Zimmer im ganzen, beide gesteckt voller Bücher, Stapel in jeder Ecke, und die Regale bogen sich unter der Last. Ich sah sofort den Tisch mit dem Computer, dem Drucker und dem Diskettenbehälter. Wenige Bilder an den wenigen nicht von Regalen bedeckten Flächen, und direkt über dem Tisch an der Wand ein alter Stich aus dem siebzehnten Jahrhundert, eine sorgfältig gerahmte Reproduktion, eine barocke Allegorie, die ich im vorigen Monat nicht bemerkt hatte, als ich kurz auf ein Bier heraufgekommen war, bevor ich in die Ferien fuhr.

Auf dem Tisch stand ein Foto von Lorenza Pellegrini, mit einer Widmung in winziger, etwas kindlicher Schrift. Man sah nur das Gesicht, aber der Blick, der Blick allein verwirrte mich schon. In einer unwillkürlichen Regung von Taktgefühl (oder von Eifersucht?) drehte ich das Foto um, ohne die Widmung zu lesen.

Es gab ein paar Ordner und Mappen. Ich suchte nach etwas Interessantem, aber es waren bloß Tabellen, Verlagsprogramme, Kalkulationen. Doch mitten zwischen diesen Papieren fand ich den Ausdruck einer Computerdatei, nach dem Datum zu schließen offenbar eines der ersten Experimente mit dem Word Processor, der filename war in der Tat »Abu«. Ich erinnerte mich an die Zeit, als Abulafia seinen Einzug in den Verlag gehalten hatte, an Belbos fast kindlichen Enthusiasmus, an Gudruns Gebrumm und Diotallevis ironische Reden.

Dass er ihn »Abu« nannte, war sicher Belbos private Reaktion auf seine Verleumder gewesen, eine Art Studentenspaß, typisch für den Neuling, aber es sagte viel über den kombinatorischen Eifer, mit dem er sich auf die Maschine gestürzt hatte. Er, der immer mit seinem blassen Lächeln behauptete, seit er entdeckt habe, dass er kein Protagonist sein könne, habe er beschlossen, ein intelligenter Zuschauer zu sein — wozu schreiben, wenn man keine ernsthafte Motivation dazu habe, lieber die Bücher der anderen umschreiben, das sei die Arbeit des guten Verlagslektors —, er hatte in der Maschine eine Art Droge gefunden, hatte die Finger über die Tastatur gleiten lassen, als variiere er auf dem alten Hausklavier über den Flohwalzer, ohne Furcht, von anderen beurteilt zu werden. Nicht dass er glaubte, damit »kreativ« zu sein — er, der solche Angst vor dem Schreiben hatte, er wusste sehr wohl, dass dies keine Kreation war, sondern Erprobung der elektronischen Effizienz, gymnastische Übung. Aber während er seine vertrauten Gespenster darüber vergaß, fand er vermutlich in diesem Spiel die Formel zum Ausleben der charakteristischen zweiten Jugend eines Fünfzigjährigen. Jedenfalls, sein angebotenen Pessimismus und seine schwierige Abrechnung mit der Vergangenheit hatten sich irgendwie abgeschwächt und verflüchtigt im Dialog mit einem mineralischen, objektiven, gehorsamen, unverantwortlichen, transistorisierten Gedächtnis, dessen Unmenschlichkeit so menschlich war, dass sie ihm erlaubte, sein gewohntes mal de vivre nicht zu empfinden.

Filename: Abu


Oh, welch klarer spätherbstlicher Morgen Ende November, im Anfang war das Wort, singe mir Muse den Zorn des Peliden, habe nun ach, die Frauen die Ritter die Waffen die Lieben, in alten Maeren wunders viel geseit. Punkt und Absatz geht von allein. Probieren geht über Studieren, parakalò parakalò, mit dem richtigen Programm machst du auch Anagramme, und angenommen, du hast einen ganzen Roman geschrieben über einen Südstaatler namens Rhett Buttler und ein launisches Mädchen mit Namen Scarlett, und dann tut's dir leid, dann brauchst du bloß einen Befehl zu geben, und Abu verwandelt dir alle Rhett Butlers in Fürsten Andrej und alle Scarletts in Nataschas, Atlanta wird Moskau, und du hast Krieg und Frieden geschrieben.

Jetzt wollen wir mal sehen, was Abu für Sachen machen kann. Ich schreibe diesen Satz, gebe Abu den Befehl, alle »a« mit »akschuf« und alle »e« mit »üftal« zu ersetzen, und herauskommt etwas quasi fast Türkisches.

Jüftaltzt wollüftaln wir makschufl süftalhüftaln, wakschufs Ak schufbu für Sakschufchüftain makschufchüftain kakschufnn: ich schrüftalibüftal diüftalsüftaln Sakschuftz, güftalbüftal Akschufbu sodakschufnn düftaln Büftalfüftalhl, akschufilüftal »akschuf« mit »ak schufkschuf« und akschufilüftal »üftal« mit »üftakschufl« zu üftalr süftaltzüftain, und hptalrakschufus kommt üftaltwakschufs quak schufsi fakschufst Türkischüftals.

O Freude, schöner Götterfunken, o Schwindel der Difference, o mein idealer Leser/Schreiber, affected by an ideal insomnia, o Finnegans Wache, o anmutiges und holdes Tier. Der Computer hilft einem nicht denken, aber er hilft einem für ihn denken. Total spirituelle Maschine. Wenn man mit dem Gänsekiel schreibt, zerkratzt man das feuchte Papier und muss dauernd die Feder ins Tintenfass tunken, die Gedanken überlagern sich, und die Hand kommt nicht nach, wenn man mit der Klappermaschine schreibt, verhaken sich die Typen, man kann nicht im Tempo der eignen Synapsen schreiben, nur im plumpen Rhythmus der Mechanik. Hier dagegen, mit ihm (ihr?) fantasieren die Finger, der Geist streift die Tastatur, die Gedanken fliegen auf goldenen Schwingen, endlich meditiert die strenge Kritische Vernunft über das Glück des ersten Anhiebs.

Un sie hmal wasich jetz mache, ich nehem diesn bolck vn ortogrfhischen Tetralogien und b fehle dr maschien, ihn zu codiffernzieren und in irrem gedachtnis z spei echern, und dannsoll sies wider Rausholen aus Irhem innnern und auf dem Minitor rprodu zieren, las Strafe für irhe Sünnden.

Eben habe ich einfach blind drauflosgetippt, und jetzt habe ich diesen Block von orthografischen Tetralogien genommen und der Maschine befohlen, ihre Fehler als Strafe für ihre Sünden zu wiederholen, aber diesmal habe ich sie korrigiert, und so ist es schließlich lesbar geworden, perfekt, aus Spreu habe ich reinen Weizen gewonnen.

Ich hätte auch bereuen und den ersten Block löschen können: ich lasse ihn hier nur stehen, um zu demonstrieren, wie auf diesem Monitor Sein und Seinsollen, Zufall und Notwendigkeit koexistieren können. Oder ich könnte den falschen Block auch nur dem sichtbaren Text entziehen und nicht dem Gedächtnis, um mir so das Archiv meiner Verdrängungen zu bewahren, aber den gefräßigen Freudianern und den Virtuosen der Varianten den Geschmack an der Konjektur zu entziehen, das Metier und den akademischen Ruhm.

Dies hier ist besser als das wahre Gedächtnis, denn das wahre Gedächtnis kann bestenfalls lernen, sich zu erinnern, nicht aber zu vergessen. Diotallevi, darin gut sephardisch, ist immer ganz versessen auf jene Paläste mit großer Freitreppe, obendrauf die Statue eines Kriegers, der eine grässliche Untat an einer wehrlosen Frau begeht, und dahinter Korridore mit Hunderten von Zimmern, jedes mit der Darstellung eines Wunders, Erscheinungen, beunruhigende Begebenheiten, beseelte Mumien, und bei jedem dieser höchst memorablen Bilder assoziiert man einen Gedanken, eine Kategorie, ein Element des kosmischen Ameublements, ja geradezu einen Syllogismus, einen enormen Sorites, Ketten von Apophthegmata, Bänder von Hypallagen, Rosen von Zeugmata, Reigen von Hystera-Protera, Logoi apophantikoi, Hierarchien von Stoicheia, Prozessionen von Äquinoktien, Parallaxen, Herbarien, Genealogien von Gymnosophisten etcetera etceterorum — o Raimundus, o Camillo, ihr brauchtet bloß eure Visionen im Geiste durchzugehen, und schon rekonstruiertet ihr die Große Kette des Seins in love and joy, denn alles, was im Universum sich spaltet, das hatte sich in eurem Geist schon zu einem Buche vereint, und Proust hätte euch nur ein Lächeln entlockt. Doch als wir einmal mit Diotallevi versuchten, eine wir einmal mit Diotallevi versuchten, eine ars oblivionalis zu entwerfen, gelang es uns nicht, die Regeln für das Vergessen zu finden. Es hat keinen Zweck, man kann sich zwar auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben, indem man verwehten Spuren folgt wie der kleine Däumling im Walde, aber es gelingt nicht, die wiedergefundene Zeit absichtlich zu verlieren. Däumling kommt immer wieder zurück, wie angenagelt. Es gibt keine Technik des Vergessens, wir sind immer noch bei den zufallsbestimmten Naturprozessen - Gehirnverletzungen, Amnesien, manuelle Improvisationen, was weiß ich, eine Reise, der Alkohol, die Schlafkur, der Selbstmord.

Doch Abu erlaubt nun auch kleine lokale Selbstmorde, provisorische Amnesien, schmerzlose Sprachverluste.

Wo warst du gestern, L

Nein, indiskreter Leser, du wirst es nie erfahren, aber die abgebrochene Zeile hier oben, die da so einfach im Leeren hängt, die war effektiv der Anfang eines langen Satzes, den ich geschrieben hatte, aber dann wollte ich ihn nicht geschrieben haben (und nicht mal gedacht haben), weil ich wollte, es wäre nie geschehen, was ich da geschrieben hatte. Es genügte ein Befehl, ein milchiges Licht ergoss sich über den fatalen und deplacierten Absatz, ich drückte die Löschtaste, und pffft war alles verschwunden.

Aber damit nicht genug. Die Tragödie des Selbstmörders ist, dass er, kaum hat er den Sprung aus dem Fenster getan, zwischen der siebten und sechsten Etage denkt: »O könnte ich doch zurück!« Nichts da. Nie passiert. Pflatsch. Abu dagegen ist nachsichtig, er erlaubt dir, dich zu besinnen, ich könnte meinen gelöschten Text wiederhaben, wenn ich mich rechtzeitig entschlösse, die Rückholtaste zu drücken. Welche Erleichterung! Im bloßen Wissen, dass ich, wenn ich wollte, mich erinnern könnte, vergesse ich sofort.

Ich werde nie mehr durch Bars ziehen, um fremde Raumschiffe mit Leuchtspurgeschossen zu zertrümmern, bis das Monster mich zertrümmert. Hier ist es schöner, hier kann man Gedanken zertrümmern. Der Bildschirm ist eine Galaxie aus Tausenden und Abertausenden von Asteroiden, säuberlich aufgereiht, weiß oder grün, und du bist es, der sie erschafft. Fiat Lux, Big Bang, sieben Tage, sieben Minuten, sieben Sekunden, und vor deinen Augen entsteht ein Universum in permanenter Verflüssigung, das keine präzisen kosmologischen Linien kennt und nicht mal zeitliche Fesseln. Kein Numerus Clausius hier, hier geht man auch in der Zeit zurück, die Lettern erscheinen gleichmütig, tauchen hervor aus dem Nichts und kehren brav wieder dorthin zurück, ganz wie du befiehlst, und wenn du sie löschst, lösen sie sich auf und verfügen sich wieder als Ektoplasma an ihren natürlichen Ort, das Ganze ist eine unterseeische Symphonie aus weichen Verbindungen und Frakturen, ein gelatinöser Reigen von autophagen Kometen, wie der Fressfisch in Yellow Submarine, du hältst eine Taste gedrückt, und die irreparablen Lettern flitzen rückwärts zu einem gefräßigen Wort und verschwinden in seinem Rachen, es saugt sie auf, und schlwrrldiwupp hat es sie verschlungen, und wenn du nicht aufhörst, verschlingt es sich selber, um sich an seinem eigenen Nichts zu mästen, ein Schwarzes Loch von Cheshire.

Und wenn du etwas geschrieben hast, was die Scham nicht erlaubt, dann speicherst du's einfach auf der Diskette und gibst der Diskette ein Passwort, und niemand kann dich mehr lesen. Wunderbar für Geheimagenten, du schreibst die Nachricht, sicherst sie und verschließt sie, steckst dir die Diskette in die Tasche und gehst spazieren, und nicht einmal Torquemada wird je erfahren, was du geschrieben hast, nur du weißt es und der andere (der Andere?). Selbst angenommen, du wirst gefoltert: du tust einfach so, als wolltest du gestehen und das Passwort eingeben, statt dessen drückst du auf eine verborgene Taste, und die Nachricht ist nicht mehr da.

O je, ich hatte etwas geschrieben, mein Daumen hat eine falsche Bewegung gemacht, und jetzt ist alles verschwunden. Was es war? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, ich habe kein Geheimnis enthüllt. Vielleicht beim nächsten Mal.



4



Wer in den Rosengarten der Philosophen einzudringen versucht, ohne den Schlüssel zu haben, ist wie ein Mann, der ohne die Füße gehen will.

Michael Maier, Atalanta Fugiens, Oppenheim, De Bry, 1618, Emblem XXVII


Sonst gab es nichts Ausgedrucktes. Ich musste die Disketten am Bildschirm lesen. Sie waren durchnummeriert, und so beschloss ich, es mit der ersten zu probieren. Aber Belbo hatte von einem Passwort gesprochen. Er hatte Abulafias Geheimnisse immer sehr eifersüchtig gehütet.

Tatsächlich erschien auf dem Bildschirm, kaum hatte ich den Computer eingeschaltet, eine Schrift, die mich fragte: »Hast du das Passwort?« Keine Befehlsformel, Belbo war ein höflicher Mensch,

Eine Maschine kollaboriert nicht, sie weiß, dass sie das Wort bekommen muss, und wenn sie es nicht bekommt, schweigt sie. Allerdings so, als wollte sie sagen: »Hör zu, alles, was du wissen willst, habe ich hier in meinem Bauch, aber grab nur, grab, alter Maulwurf, du wirst es nie finden.« Nun, das werden wir ja sehen, sagte ich mir, du hast immer so gerne Permutationen mit Diotallevi gespielt, du warst der Sam Spade des Verlagswesens, wie Jacopo Belbo gesagt hätte, also finde den Falken!

Bei Abulafia konnte das Passwort sieben Buchstaben haben. Wie viele Permutationen von sieben Buchstaben lassen sich mit den fünfundzwanzig Buchstaben des Alphabets bilden, einschließlich der Wiederholungen, denn das Passwort konnte ja sehr gut auch zum Beispiel »Kadabra« sein? Irgendwo gibt es die Formel dafür, und das Ergebnis müsste so um die sechs Milliarden sein. Selbst wenn ich einen riesigen Rechner gehabt hätte, der imstande gewesen wäre, mir sechs Milliarden Permutationen im Tempo von einer Million pro Sekunde zu liefern, hätte ich Abulafia eine nach der anderen eingeben müssen, um sie auszuprobieren, und ich wusste, dass Abulafia ungefähr zehn Sekunden brauchte, um nach dem Passwort zu fragen und es zu prüfen. Ich brauchte also sechzig Milliarden Sekunden. Da ein Jahr etwas mehr als einunddreißig Millionen Sekunden hat, sagen wir abgerundet dreißig, würde ich für die Arbeit etwa zweitausend Jahre brauchen. Nicht schlecht.

Ich musste also mit Hypothesen arbeiten. An was für ein Wort konnte Belbo gedacht haben? Vor allem: war es ein Wort, das er gleich zu Anfang gefunden hatte, als er am Computer zu schreiben begann, oder eines, das er sich erst in den letzten Tagen ausgedacht hatte, als ihm bewusst wurde, dass die Disketten explosives Material enthielten und das Spiel, zumindest für ihn, nun kein Spiel mehr war? Dann hätte er ein ganz anderes Wort genommen.

Die zweite Hypothese schien mir plausibler: Belbo fühlt sich verfolgt, er nimmt den Großen Plan ernst (so jedenfalls schien es am Telefon), also denkt er an etwas, das irgendwie mit unserer Geschichte zusammenhängt.

Oder nein, gerade nicht: ein Begriff im Zusammenhang mit der Überlieferung hätte auch denen in den Sinn kommen können. Einen Moment lang dachte ich, vielleicht waren sie schon in diese Wohnung gekommen, hatten sich die Disketten kopiert und probierten jetzt gerade alle möglichen Kombinationen durch, irgendwo an einem fernen Ort. Am Supercomputer auf einem Schloss in den Karpaten...

Quatsch, sagte ich mir, solche Leute arbeiten nicht mit Computern, sie würden es mit dem Notarikon versuchen, mit der Gematrie, mit der Temurah, sie würden die Disketten wie die Torah behandeln. Und sie würden dafür so viel Zeit brauchen, wie seit der Abfassung des Sefer Jezirah vergangen ist. Dennoch war der Gedanke nicht unnütz: Sie hätten sich, wenn sie existierten, an eine kabbalistische Inspiration gehalten, und wenn Belbo von ihrer Existenz überzeugt war, könnte er denselben Weg gegangen sein.

Um einen Anfang zu machen, probierte ich es mit den zehn Sefiroth: Kether, Chochmah, Binah, Chessed, Geburah, Tifereth, Nezach, Hod, Jessod, Malchuth, und zur Sicherheit nahm ich auch noch die Schechinah hinzu... Nichts, natürlich, es war die erste Idee, die jedem x-beliebigen hätte einfallen können.

Immerhin, das Passwort musste etwas Naheliegendes sein, etwas, das einem ganz zwangsläufig einfällt, denn wer über einem Text arbeitet, und das so obsessiv, wie Belbo es in den letzten Tagen getan haben musste, kann sich dem Sprachuniversum, in dem er lebt, nicht entziehen. Es wäre unmenschlich, etwa zu meinen, Belbo hätte, während er über dem Großen Plan brütete, ein Wort wie, was weiß ich, Lincoln oder Mombasa gewählt. Es musste etwas sein, das irgendwie mit dem Großen Plan zusammenhing. Aber was?

Ich versuchte mich in die mentalen Prozesse Belbos hineinzuversetzen. Er hatte beim Schreiben nervös geraucht und getrunken und sich umgeschaut. Ich ging in die Küche, goss mir den letzten Tropfen Whisky in das einzige saubere Glas, das ich fand, setzte mich wieder vor den Computer, lehnte mich zurück, legte die Füße auf den Tisch, trank mit kleinen Schlückchen (war das nicht die Art, wie Sam Spade es machte — oder war's eher Marlowe gewesen?) und ließ den Blick durch das Zimmer wandern. Die Bücher waren zu weit entfernt, als dass ich die Titel auf den Rücken hätte lesen können.

Ich trank den letzten Schluck Whisky, schloss die Augen, machte sie wieder auf. Vor mir an der Wand hing der barocke Stich. Es war eine typische RosenkreuzerAllegorie der Epoche, vollgepackt mit verschlüsselten Botschaften, auf der Suche nach den Mitgliedern jener Brüderschaft. Offensichtlich stellte sie den Tempel der Rosenkreuzer dar, in Form eines Turmbaus mit einer Kuppel, gemäß dem ikonographischen Modell der Renaissance, dem christlich jüdischen, in welchem der Tempel zu Jerusalem nach dem Muster der Omar-Moschee rekonstruiert wurde.

Die Landschaft rings um den Turm war inkongruent und auf inkongruente Weise bevölkert, wie bei jenen Rebus-Bildern, auf denen man in der Mitte einen Palast sieht, im Vordergrund eine Kröte, daneben ein mit Säcken beladenes Maultier sowie einen König, der Geschenke von einem Pagen empfängt. Hier stieg links unten aus einem Brunnen ein Edelmann, an einen Flaschenzug geklammert, der über absurde Hebewinden, die durch ein rundes Fenster gingen, im Innern des Turms verankert war. In der Mitte unten ein Reiter und ein Wanderer, rechts ein kniender Pilger, der als Pilgerstab einen großen Anker trug. Am rechten Bildrand, dicht vor dem Turm, ein steiler Felsen, von dem ein Mann mit einem Schwert herabstürzte, und links gegenüber, perspektivisch verkleinert, in der Ferne der Berg Ararat mit der Arche darauf. Oben in den Ecken zwei Sterne, jeder in einer Wolke, die schräge Strahlen auf den Turm herabsandten, auf denen zwei Figuren schwebten, ein Nackter, umwunden von einer Schlange, und ein Schwan. In der Mitte über dem Turm ein geflügelter Strahlenkranz, gekrönt von dem Wort »Oriens« und mit hebräischen Lettern beschriftet, aus dem die Hand Gottes nach unten ragte, die den Turm an einem Faden hielt.

Der Turm stand auf Rädern, er hatte einen quadratischen Hauptteil mit Fenstern, einem Tor und einer Zugbrücke auf der rechten Seite, darüber eine Art Brüstung mit vier kleinen Wachtürmen, jeder besetzt mit einem Bewaffneten, der einen Schild trug (beschriftet mit hebräischen Lettern) und einen Palmwedel schwenkte. Zu sehen waren jedoch nur drei Bewaffnete, den vierten verdeckte die Masse der achteckigen Kuppel, auf der sich ein gleichfalls achteckiger Aufbau erhob, aus welchem zwei große Flügel ragten. Darüber eine weitere, etwas kleinere Kuppel mit einem viereckigen Türmchen darauf, in dem durch hohe Bogenfenster mit schmalen Säulen eine Glocke zu sehen war. Schließlich noch eine kleine vierschalige Kuppel, auf welcher der Faden verankert war, den senkrecht darüber die Hand Gottes hielt. Rechts und links neben der obersten Kuppel in der Luft das Wort »Fama« und über dem Ganzen ein geschwungenes Schriftband mit den Worten: »Collegium Fraternitatis«.

Doch nicht genug der Bizarrerien, denn aus zwei runden Fenstern des Turmes ragten links ein enormer Arm, riesig im Vergleich zu den anderen Figuren, der ein Schwert hielt, als gehörte er zu dem geflügelten Wesen, das anscheinend im Innern des Turms gefangen saß, und rechts eine große Trompete. Schon wieder die Trompete...

Mir kam ein Verdacht beim Betrachten der Öffnungen des Gebäudes: zu viele und zu regelmäßig in den Kuppeltürmen, dagegen wie zufällig an den Wänden des Hauptteils. Der Bau war nur zu zwei Vierteln zu sehen, in orthogonaler Perspektive, aber man durfte aus Gründen der Symmetrie annehmen, dass sich die Tore und Fenster und runden Luken, die auf der einen Seite zu sehen waren, auch auf der gegenüberliegenden jeweils in gleicher Anordnung wiederholten. Also: vier Bogenfenster im Glockenturm, acht Fenster in dem achteckigen Kuppelaufbau darunter, vier offene Wachtürme, je drei Öffnungen an der Ost und der Westfassade, je sieben an der Nord und der Südfassade. Machte zusammengezählt: sechsunddreißig Öffnungen.

Sechsunddreißig. Seit über zehn Jahren verfolgte mich diese Zahl. Zusammen mit hundertzwanzig. Die Rosenkreuzer. Hundertzwanzig durch sechsunddreißig ergibt — wenn man bei sieben Ziffern bleibt 3,333333. Übertrieben perfekt, aber vielleicht lohnte es sich, die Zahl zu probieren. Ich probierte sie. Ohne Erfolg.

Mir schoss durch den Sinn, dass diese Zahl, multipliziert mit zwei, fast genau die Zahl des Großen Tieres ergibt, 666. Aber auch diese Konjektur erwies sich als zu phantastisch.

Schließlich fiel mein Blick auf den Strahlenkranz oben im Zentrum, den Sitz Gottes. Die hebräischen Lettern waren gut zu erkennen, auch von meinem Stuhl aus. Aber Belbo konnte doch auf Abulafia keine hebräischen Buchstaben schreiben. Ich sah genauer hin: ja natürlich, das kannte ich, sicher, von rechts nach links: Jod, He, Waw, He. Jahweh, der Name Gottes.


5



Die zweiundzwanzig elementaren Lettern schnitt er, formte er, kombinierte er, wog er, stellte er um und formte mit ihnen alles Geschaffene sowie alles, was es in Zukunft zu formen gibt.

Sefer Jezirah, 2.2


Der Name Gottes ... Ja, natürlich. Ich erinnerte mich an den ersten Dialog zwischen Belbo und Diotallevi an dem Tag, als Abulafia im Büro installiert worden war.

Diotallevi stand in der Tür seines Zimmers und heuchelte Nachsicht. Seine Nachsicht hatte immer etwas Vorwurfsvolles, doch Belbo schien sie mit Nachsicht zu akzeptieren.

»Der wird dir nichts nützen. Oder willst du etwa darauf die Manuskripte umschreiben, die du nicht liest?«

»Er nützt mir zum Klassifizieren, zum Anlegen von Karteien, zum Aktualisieren von Bibliografien. Ich könnte auch eigene Texte darauf schreiben.«

»Ich denke, du hast geschworen, nie etwas Eigenes zu schreiben.«

»Ich habe geschworen, die Welt nicht mit einem weiteren Buch zu behelligen. Ich habe gesagt, da mir klar ist, dass ich nicht das Zeug zu einem Protagonisten habe ...«

»... wirst du ein intelligenter Zuschauer sein. Ich weiß. Und nun?«

»Nun, auch der intelligente Zuschauer, der aus einem Konzert kommt, trällert den zweiten Satz vor sich hin. Was nicht heißt, dass er ihn in der Carnegie Hall dirigieren will ...«

»Also wirst du jetzt Trallala-Schreibexperimente machen, um zu entdecken, dass du nicht schreiben darfst.«

»Das wäre doch eine ehrliche Wahl.«

»Sie meinen?«

Diotallevi und Belbo stammten beide aus Piemont und ergingen sich oft über jene Fähigkeit guterzogener Piemontesen, jemandem höflich zuzuhören, ihm in die Augen zu sehen und dann »Sie meinen?« zu sagen in einem Ton, der scheinbar artiges Interesse bezeugt, in Wahrheit aber tiefe Missbilligung ausdrückt. Ich sei ein Barbar, sagten sie, mir würden diese Feinheiten immer und ewig entgehen.

»Barbar?« protestierte ich. »Ich bin zwar in Mailand geboren, aber meine Familie stammt aus dem Aostatal ...«

»Unsinn«, erwiderten sie, »den Piemontesen erkennt man sofort an seinem Skeptizismus.«

»Ich bin Skeptiker.«

»Nein. Sie sind bloß ungläubig, das ist was anderes.«

Ich wusste, warum Diotallevi dem Computer misstraute. Er hatte gehört, man könne damit die Ordnung der Buchstaben so verändern, dass ein Text sein eigenes Gegenteil erzeuge und dunkle Seherworte verheiße. Belbo versuchte es ihm zu erklären. »Es sind Permutationsspiele«, sagte er. »Nennt ihr das nicht Temurah? Tut das nicht der fromme Rabbi, um zu den Pforten des Glanzes aufzusteigen?«

»Mein lieber Freund«, erwiderte Diotallevi, »du wirst nie etwas begreifen. Es stimmt, die Torah, ich meine die sichtbare, ist nur eine der möglichen Permutationen der Buchstaben jener unsichtbaren ewigen Torah, die Gott ersann und Adam übergab. Und durch Permutationen der Lettern des Buches könnte man im Lauf der Jahrhunderte schließlich zur originalen Torah gelangen. Aber was zählt, ist nicht das Ergebnis. Es ist der Prozess, die Treue, mit der du die Mühle des Gebets und der Schrift in alle Ewigkeit drehst, um die Wahrheit Stück für Stück zu entdecken. Wenn dir diese Maschine die Wahrheit sofort sagen würde, würdest du sie nicht erkennen, denn dein Herz wäre nicht durch langes Suchen und Fragen gereinigt worden. Und außerdem bitte, in einem Büro! Das Heilige Buch muss gemurmelt werden, in einer kleinen und engen Kate im Ghetto, wo du Tag für Tag lernst, dich zu beugen und die Arme dicht am Leib zu bewegen, und zwischen der Hand, die das Buch hält, und der Hand, die im Buche blättert, darf so gut wie kein Raum sein, und wenn du dir die Finger benetzest, musst du sie senkrecht an die Lippen führen, als ob du Matze zerteiltest, sorgfältig darauf achtend, dass kein Krümel verloren geht. Das Wort muss langsam, ganz langsam gegessen werden, du kannst es nur auflösen und wieder zusammensetzen, wenn du es dir auf der Zunge zergehen lässt, und gib acht, dass du nichts davon auf den Kaftan sabberst, denn wenn nur ein einziges Wörtchen verloren geht, dann zerreißt der Faden, der dich mit den höheren Sefiroth verbindet. Dieser Übung hat Abraham Abulafia sein Leben geweiht, während euer heiliger Thomas sich abmühte, Gott auf seinen fünf Wegen zu finden. Abulafias Chochmath ha-Zeruf war gleichzeitig Wissenschaft von der Kombination der Lettern und Wissenschaft von der Herzensreinigung. Mystische Logik, die Welt der Buchstaben und ihres Strudelns in ewigen Permutationen ist die Welt der Glückseligkeit, die Wissenschaft der Kombination ist eine Musik des Denkens, aber gib acht, dass du dich langsam bewegst, und vorsichtig, denn deine Maschine könnte dich statt in Ekstase leicht in Delirium versetzen. Viele der Schüler Abulafias wussten nicht haltzumachen vor dieser schmalen Grenze, die das Betrachten der Namen Gottes von der magischen Praxis trennt, vom Manipulieren der Namen, um sich daraus einen Talisman zu machen, ein Instrument zur Herrschaft über die Natur. Und sie wussten nicht, so wie du es nicht weißt — und wie es deine Maschine nicht weiß —, dass jeder Buchstabe mit einem Glied des Körpers verbunden ist, und wenn du einen Konsonanten umstellst, ohne seine Macht zu kennen, könnte eines deiner Glieder leicht seine Position verändern, oder seine Natur, und du fändest dich bestialisch verstümmelt, außen fürs Leben und innen für die Ewigkeit.«

»Hör zu«, hatte Belbo daraufhin zu Diotallevi gesagt, »du bringst mich nicht davon ab, im Gegenteil. Jetzt habe ich also mir zu Diensten, so wie deine Freunde den Golem hatten — meinen persönlichen Abulafia. Ich werde ihn Abulafia nennen, Abu für die Freunde. Und mein Abulafia wird vorsichtiger und respektvoller sein als deiner. Bescheidener. Ist das Problem nicht, alle Kombinationen des Namens Gottes zu finden? Gut, schau mal in dieses Handbuch, hier hab ich ein kleines Programm in Basic zur Permutation aller Sequenzen von vier Buchstaben. Sieht ganz so aus, als wär's extra für IHVH gemacht. Hier, soll ich's mal laufen lassen?« Er zeigte ihm das Programm, das für Diotallevi nun wirklich kabbalistisch aussehen musste:


10 REM ANAGRAMME

20 INPUT L$(1),L$(2),L$(3),L$(4)

3 0 PRINT 40 FOR I1=1 TO 4

50 FOR I2=1 TO 4

60 IF I2=I1 THEN 130

70 FOR I3=1 TO 4

80 IF I3=I1 THEN 120

90 IF I3=I2 THEN 120

100 LET I4=I0(I1+I2+I3)

110 LPRINT L$(I1);L$(I2);L$(I3);L$(I4)

120 NEXT I3

130 NEXT I2

140 NEXT I1

150

END

»Probier's mal, schreib I, H, V, H, wenn er das Input verlangt, und lass das Programm laufen. Vielleicht wirst du enttäuscht sein: die möglichen Permutationen sind bloß vierundzwanzig.«

»Heilige Seraphim! Und was machst du mit vierundzwanzig Namen Gottes? Glaubst du, unsere Weisen hätten das nicht schon längst ausgerechnet? Lies doch mal das Sefer Jezirah, Abschnitt sechzehn im vierten Kapitel. Und sie hatten keine Computer. ›Zwei Steine erbauen zwei Häuser. Drei Steine erbauen sechs Häuser. Vier Steine erbauen vierundzwanzig Häuser. Fünf Steine erbauen einhundertzwanzig Häuser. Sechs Steine erbauen siebenhundertzwanzig Häuser. Sieben Steine erbauen fünftausendundvierzig Häuser. Von hier an geh und denke an das, was der Mund nicht sagen und das Ohr nicht hören kann.‹ Weißt du, wie man das heute nennt? Faktorenrechnung. Und weißt du, warum dir die Tradition rät, hier lieber haltzumachen? Weil, wenn der Name Gottes acht Buchstaben hätte, die Zahl der Permutationen vierzigtausend wäre, und bei zehn wären's drei Millionen sechshunderttausend, und die Permutationen deines armseligen Namens wären fast vierzig Millionen, und sei froh, dass du nicht auch noch eine middle initial hast wie die Amerikaner, sonst kämst du auf mehr als vierhundert Millionen. Und wenn die Lettern von Gottes Namen siebenundzwanzig wären — denn das hebräische Alphabet hat zwar keine Vokale, aber zweiundzwanzig Laute plus fünf Varianten —, dann wäre die Anzahl seiner möglichen Namen eine neunundzwanzigstellige Zahl. Aber du müsstest auch die Wiederholungen mitrechnen, denn man kann nicht ausschließen, dass der Name Gottes siebenundzwanzigmal hintereinander das Aleph ist, und dann würde die Faktorenrechnung nicht mehr genügen, du müsstest siebenundzwanzig hoch siebenundzwanzig rechnen — und dann kämst du, glaub ich, auf vierhundertvierundvierzig Milliarden Milliarden Milliarden Milliarden Möglichkeiten oder noch mehr, jedenfalls auf eine Zahl mit neununddreißig Stellen.«

»Du mogelst, um mich zu beeindrucken. Auch ich habe dein Sefer Jezirah gelesen. Die elementaren Lettern sind zweiundzwanzig, und mit ihnen, nur mit ihnen, formte Gott alles Geschaffene.«

»Das sind doch Sophistereien, wenn du in diese Größenordnungen vordringst, kommst du, auch wenn du statt siebenundzwanzig hoch siebenundzwanzig bloß zweiundzwanzig hoch zweiundzwanzig rechnest, dann kommst du trotzdem auf etwas wie dreihundertvierzig Milliarden Milliarden Milliarden. Wo ist da der Unterschied für dein Menschenmaß? Weißt du, dass, wenn du's auszählen müsstest, eins zwei drei und so weiter, eine Zahl pro Sekunde, dass du dann für eine Milliarde, ich sage bloß eine kleine Milliarde, fast zweiunddreißig Jahre brauchtest? Aber die Sache ist noch viel komplexer, als du meinst, und die Kabbala beschränkt sich nicht auf das Sefer Jezirah. Ich will dir sagen, warum eine gute Permutation der Torah alle siebenundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets benutzen muss. Es stimmt zwar, dass die fünf letzten, wenn sie bei einer Permutation ins Innere des Wortes fallen, sich in ihr normales Äquivalent verwandeln. Aber es ist nicht immer so. In Jesaja neun, zwei zum Beispiel ist das Wort LMRBH, Lema-rbah und das heißt, wie's der Zufall will, »multiplizieren« — mit dem Schluß-Mem in der Mitte geschrieben.«

»Und warum?«

»Weil jeder Buchstabe einer Zahl entspricht, und das normale Mem gilt vierzig, während das Schluss-Mem den Wert sechshundert hat. Hier geht es nicht um Temurah, die zu permutieren lehrt, sondern eher um Gematrie, die nach sublimen Affinitäten zwischen dem Wort und seinem Zahlenwert sucht. Mit dem Schluss-Mem hat das Wort LMRBH nicht den Wert 277, sondern 837 und ist daher gleichwertig mit ›ThThZL, Thath Zal‹, was heißt ›der, welcher reichlich schenkt‹. Woran du siehst, dass man alle siebenundzwanzig Buchstaben berücksichtigen muss, denn es geht nicht nur um den Klang, sondern auch um die Zahl. Und jetzt kommen wir auf meine Rechnung zurück: die Anzahl der Permutationen ist mehr als vierhundert Milliarden Milliarden Milliarden Milliarden. Weißt du, wie lange du brauchtest, um sie alle durchzuprobieren, eine pro Sekunde, mal angenommen, du hättest eine Maschine, gewiss nicht deine erbärmliche kleine hier, die das könnte? Bei einer Kombination pro Sekunde brauchtest du sieben Milliarden Milliarden Milliarden Milliarden Minuten, das sind einhundertdreiundzwanzig Millionen Milliarden Milliarden Milliarden Stunden, also etwas mehr als fünf Millionen Milliarden Milliarden Milliarden Tage, also vierzehntausend Milliarden Milliarden Milliarden Jahre, gleich einhundertvierzig Milliarden Milliarden Milliarden Jahrhunderte oder vierzehn Milliarden Milliarden Milliarden Jahrtausende. Und wenn du einen Computer hättest, der eine Million Kombinationen pro Sekunde probieren könnte — ha, denk bloß mal, wie viel Zeit du damit gewinnen würdest: dein elektronischer Rechner wäre in vierzehntausend Milliarden Milliarden Jahrtausenden fertig! Aber in Wirklichkeit ist der wahre Name Gottes, der geheime, so lang wie die ganze Torah, und keine Maschine der Welt ist imstande, seine Permutationen je auszuschöpfen, denn die Torah ist schon an sich das Resultat einer Permutation mit Wiederholungen der siebenundzwanzig Buchstaben, und die Kunst der Temurah sagt dir nicht, dass du bloß die siebenundzwanzig Buchstaben des Alphabets permutieren musst, sondern sämtliche Zeichen der Torah, in der jedes Zeichen so viel gilt, als wär's ein selbstständiger Buchstabe, auch wenn es unzahlige Male auf anderen Seiten erscheint, mit anderen Worten: die beiden He im Namen JHWH gelten soviel wie zwei verschiedene Buchstaben. Und somit würden dir, wenn du die möglichen Permutationen aller Zeichen der ganzen Torah berechnen wolltest, alle Nullen der Welt nicht genügen. Probier's nur, probier's mit deinem kläglichen Buchhalterrechenmaschinchen. Die Große Maschine existiert, gewiss, aber sie ist nicht in deinem Silikontal produziert worden, sie ist die heilige Kabbala oder Tradition, und die Rabbiner tun seit Jahrhunderten, was keine Maschine je tun können wird und hoffentlich niemals tut. Denn selbst wenn die Kombinatorik ganz ausgeschöpft wäre, müsste das Ergebnis geheim bleiben, und in jedem Fall hätte das Universum dann seinen Zyklus beendet — und wir würden bewusstlos zerstrahlen im Glanze des großen Metatron.«

»Amen«, sagte Jacopo Belbo.

Zu solch schwindelnden Höhen trieb ihn Diotallevi schon damals, und ich hätte es einkalkulieren müssen. Wie oft hatte ich Belbo abends nach Dienstschluss über Programmen brüten sehen, die ihm erlauben sollten, Diotallevis Berechnungen zu verifizieren, um zu beweisen, dass wenigstens sein Abulafia ihm die Wahrheit in ein paar Sekunden sagte, ohne langes Geschreibe per Hand auf vergilbtem Pergament, mit vorsintflutlichen Zahlensystemen, die womöglich noch nicht mal die Null kannten. Vergebens, auch Abu antwortete, soweit er antworten konnte, stets nur mit exponentiellen Zahlen, und Belbo gelang es nicht, Diotallevi mit einem Bildschirm zu demütigen, der sich mit Nullen ad infinitum füllte, als blasse sichtbare Imitation des Wucherns der kombinatorischen Universen und der Explosion aller möglichen Welten ...

Nun aber, nach allem, was inzwischen geschehen war, und mit der Rosenkreuzer-Allegorie vor Augen, nun war Belbo bei seiner Suche nach einem Passwort bestimmt wieder auf jene Exerzitien mit dem Namen Gottes verfallen. Aber er hätte mit Zahlen wie sechsunddreißig oder hundertzwanzig spielen müssen, wenn es denn stimmte, wie ich annahm, dass er von diesen Zahlen besessen war. Also konnte er nicht die vier hebräischen Lettern kombiniert haben, da ja, wie er wusste, vier Steine nur vierundzwanzig Häuser erbauen.

Er hätte allerdings mit der italienischen Transkription IAHVEH spielen können, die auch zwei Vokale enthält. Mit sechs Buchstaben standen ihm siebenhundertzwanzig Permutationen zur Verfügung. Er hätte die sechsunddreißigste oder die hundertzwanzigste nehmen können.

Ich war gegen elf in die Wohnung gekommen, jetzt war es eins. Ich musste ein Computerprogramm für Anagramme mit sechs Buchstaben schreiben, wozu es genügte, das bereits vorhandene Programm für vier zu erweitern.

Erst mal brauchte ich ein bisschen frische Luft. Ich ging auf die Straße hinunter, kaufte mir etwas zu essen und eine Flasche Whisky.

Kaum wieder oben, ließ ich die Sandwiches in einer Ecke, um gleich zum Whisky überzugehen, schob die Systemdiskette für Basic ein und schrieb das Programm für sechs Buchstaben — mit den üblichen Fehlern, ich brauchte gut eine halbe Stunde, doch gegen halb drei lief es endlich, und über den Bildschirm flimmerten vor meinen Augen die siebenhundertzwanzig Namen Gottes.

Ich zog die Bögen aus dem Drucker, hielt sie hoch und überflog sie, ohne sie abzutrennen, als sähe ich die originale Torah-Rolle durch.

Ich probierte den sechsunddreißigsten Namen. Totale Finsternis. Ein letzter Schluck Whisky, dann tippte ich mit zögernden Fingern den hundertzwanzigsten Namen ein. Nichts.

Mir war sterbenselend zumute. Aber ich war nun Jacopo Belbo, und Jacopo Belbo musste so gedacht haben, wie ich nun dachte. Mir musste ein Fehler unterlaufen sein, ein idiotischer Fehler, etwas ganz Dummes. Ich war einen Schritt von der Lösung entfernt — vielleicht hatte Belbo aus Gründen, die mir entgingen, von unten nach oben gezählt?

Casaubon, du Trottel, sagte ich mir. Natürlich, von unten nach oben! Oder von rechts nach links. Belbo hatte den Namen Gottes in lateinischer Schrift eingegeben, mit Vokalen, klar, aber weil das Wort ein hebräisches war, hatte er es von rechts nach links geschrieben. Sein Input war nicht IAHVEH gewesen, sondern — wie hatte ich das übersehen können? — HEVHAI. Und natürlich hatte sich dadurch die Ordnung der Permutationen verkehrt.

Also musste ich von rechts unten an zählen. Ich probierte erneut beide Namen. Wieder nichts.

Es war alles falsch gewesen. Ich hatte mich in eine elegante, aber falsche Hypothese verbissen. Passiert den größten Wissenschaftlern.

Nein, nicht nur den größten. Allen. Hatten wir nicht gerade erst vorigen Monat bemerkt, dass in letzter Zeit mindestens drei Romane erschienen waren, deren Protagonisten den Namen Gottes mit dem Computer suchten? Und schließlich, wer ein Passwort wählt, nimmt etwas, das er sich leicht merken kann, das ihm quasi spontan in die Finger kommt. Man stelle sich vor: IHVHEA! Er hätte das Notarikon mit der Temurah kombinieren müssen, er hätte, um sich das Wort zu merken, ein Akrostichon erfinden müssen, so etwas wie, was weiß ich — Imelda, Ha, Verruchte, Hast Eginhard Angezeigt!

Und dann, wieso eigentlich sollte Belbo in Diotallevis kabbalistischen Termini denken? Er war besessen vom Großen Plan, und in den Großen Plan hatten wir massenhaft andere Dinge mit reingemixt, die Rosenkreuzer, die Synarchie, die Homunculi, das Pendel, den Turm, die Druiden, die Ennoia...

Die Ennoia... Unwillkürlich fiel mir Lorenza Pellegrini ein. Ich streckte die Hand aus und drehte das Foto um, das ich aus meinem Blickfeld verbannt hatte. Ein unangenehmer Gedanke regte sich in mir, den ich zu verdrängen suchte, die Erinnerung an jenen Abend damals in Piemont... Ich zog das Foto heran und las die Widmung: »Denn ich bin die Erste und die Letzte. Ich bin die Geehrte und die Gehasste. Ich bin die Heilige und die Hure. Sophia.«

Musste nach dem Fest bei Riccardo gewesen sein. Sophia, sechs Buchstaben. Ja, und wieso eigentlich mussten sie erst anagrammatisch umgestellt werden? Ich war es, der verdreht dachte. Belbo liebte Lorenza, er liebte sie, weil sie war, wie sie war, und sie war Sophia — und zu denken, dass sie in diesem Moment, wer weiß... Nein, andersrum, Belbo dachte verdreht. Mir kamen die Worte Diotallevis in den Sinn: »In der zweiten Sefirah verwandelt sich das dunkle Aleph in das leuchtende Aleph. Aus dem Finsteren Punkt entspringen die Lettern der Torah, der Leib sind die Konsonanten, der Hauch die Vokale, und zusammen begleiten sie den Gesang des Frommen. Wenn die Melodie der Zeichen sich bewegt, bewegen sich mit ihr die Konsonanten und die Vokale. Daraus entsteht Chochmah, die Weisheit, das Wissen, die Uridee, in welcher alles enthalten ist wie in einem Schrein, bereit, sich zu entfalten in der Schöpfung. In Chochmah ist enthalten das Wesen all dessen, was folgen wird... «

Und was bitte war Abulafia mit seiner geheimen Reserve an files? Der Schrein all dessen, was Belbo wusste oder zu wissen glaubte, seine Sophia! Jawohl, er wählt sich einen geheimen Namen, um in die Tiefen Abulafias einzudringen, in das Objekt, mit dem er Liebe macht (das einzige), doch während er mit ihm Liebe macht, denkt er zugleich an Lorenza, er sucht nach einem Wort, das Abulafia überzeugt, aber das zugleich ihm selbst als Talisman dient, auch um Lorenza zu haben, er will ins Innerste von Lorenza eindringen und begreifen, so wie er ins Innerste von Abulafia eindringen kann, er will, dass Abulafia undurchdringlich für alle anderen sei, so wie Lorenza undurchdringlich für ihn ist, er macht sich vor, das Geheimnis Lorenzas zu hüten, es zu erkennen und zu erobern, so wie er das Geheimnis Abulafias besitzt...

Ich war dabei, mir eine Erklärung zurechtzulegen, und machte mir vor, dass sie wahr sei. Wie bei dem Großen Plan: ich nahm meine Wünsche für Wirklichkeit.

Aber da ich betrunken war, beugte ich mich über die Tastatur und tippte SOPHIA. Und die Maschine, ungerührt, fragte nur wieder höflich: »Hast du das Passwort?« Blöde Maschine, nicht mal der Gedanke an Lorenza bringt dich in Wallung.


6



Judá Léon se dio a permutaciones De letras y a complejas variaciones Y al fin pronunció el Nombre que es la Clave, La Puerta, el Eco, el Huésped y el Palacio ...

(Juda Löw verlegte sich auf Permutationen / Von Lettern und auf komplexe Variationen, / Und schließlich sprach er ihn aus, den Namen, welcher der Schlüssel ist, / Das Tor, das Echo, der Wirt und der Palast ...)


J. L. Borges, El Golem


Schließlich, in einem Wutanfall, als Abulafia zum x-ten Mal seine sture Frage stellte (»Hast du das Passwort?«), hackte ich: »Nein.«

Der Bildschirm begann sich mit Zeichen zu füllen, mit Linien, Kolonnen, mit einer Flut von Worten.

Ich hatte Abulafias Geheimnis geknackt.

Meine Freude über den Sieg war so groß, dass ich mich gar nicht fragte, warum Belbo ausgerechnet dieses Wort gewählt hatte. Heute weiß ich es, und ich weiß auch, dass er in einem Moment der Klarheit begriffen hatte, was ich jetzt begreife. Aber am Donnerstag dachte ich nur an meinen Sieg.

Ich begann zu tanzen, laut in die Hände zu klatschen und einen Gassenhauer zu trällern. Dann hielt ich inne und ging ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen. Ich kam zurück und ließ Abulafia als erstes die letzte Datei ausdrucken, diejenige, die Belbo direkt vor seiner Flucht nach Paris geschrieben hatte. Während der Drucker gleichmütig ratterte, verzehrte ich heißhungrig meine Sandwiches und trank noch ein Glas.

Als der Drucker stehenblieb, las ich und war erschüttert, und mir war noch immer nicht klar, ob ich außergewöhnliche Enthüllungen oder das Zeugnis eines Wahns vor mir hatte. Was wusste ich letztlich von Jacopo Belbo? Was hatte ich von ihm verstanden in jenen zwei Jahren, als wir fast täglich zusammen gewesen waren? Wie viel Vertrauen durfte ich den privaten Aufzeichnungen eines Mannes schenken, der nach eigenem Geständnis in außergewöhnlichen Umständen schrieb, benebelt vom Alkohol, vom Tabak und von seinen Angstvorstellungen, drei volle Tage lang abgeschnitten von jedem Kontakt mit der Welt?

Es war unterdessen Nacht geworden, die Nacht des 21. Juni. Mir tränten die Augen. Seit dem Vormittag hatte ich auf den Bildschirm gestarrt und auf das punktierte Zeichengewimmel, das aus dem Drucker kam. Ob es nun wahr oder falsch war, was ich da gelesen hatte, Belbo hatte gesagt, dass er am nächsten Morgen anrufen wollte. Ich musste in der Wohnung bleiben und warten. Mir schwirrte der Kopf.

Ich wankte ins Schlafzimmer und fiel angezogen auf das noch ungemachte Bett.

Am Freitagmorgen erwachte ich gegen acht aus einem tiefen, bleiernen Schlaf und wusste zuerst gar nicht, wo ich war. Zum Glück fand ich eine Dose mit einem Restchen Kaffee und machte mir ein paar Tassen. Das Telefon schwieg, ich wagte nicht hinunterzugehen, um mir etwas zu kaufen, aus Furcht, Belbo könnte genau in dem Moment anrufen.

Ich setzte mich wieder an den Computer und ließ ihn die anderen Disketten ausdrucken, in chronologischer Reihenfolge. Ich fand Spiele, Übungstexte, Berichte über Ereignisse, die ich kannte, die mir aber jetzt, durch Belbos Brille gesehen, in einem anderen Licht erschienen. Ich fand tagebuchähnliche Aufzeichnungen, Geständnisse, Ansätze zu erzählenden Texten, geschrieben mit dem bitteren Eigensinn dessen, der weiß, dass sie von vornherein zur Erfolglosigkeit verdammt sind. Ich fand Notizen, Porträts von Personen, an die ich mich erinnerte, die aber hier eine andere Physiognomie annahmen — düsterer, würde ich sagen, oder war nur mein Blick verdüstert, meine Art und Weise, kleine Nebenbemerkungen zu einem schrecklichen Mosaik zusammenzusetzen?

Vor allem fand ich jedoch eine ganze Datei, die nur Zitate enthielt — Exzerpte aus Belbos jüngster Lektüre, ich erkannte sie auf den ersten Blick, wir hatten in den letzten Monaten so viele ähnliche Texte gelesen ... Sie waren durchnummeriert: hundertzwanzig. Die Zahl war kein Zufall, und wenn doch, war die Koinzidenz beunruhigend. Aber wieso hatte Belbo gerade diese Zitate gewählt?

Heute kann ich seine Texte und die ganze Geschichte, die sie mir ins Gedächtnis rufen, nur im Licht jener einen Datei wiederlesen. Ich drehe und wende die Zitate wie Kügelchen eines häretischen Rosenkranzes, und manchmal ist mir, als hätten einige davon für Belbo ein Warnzeichen sein können, eine rettende Spur.

Oder bin ich es, der nicht mehr zwischen dem guten Rat und der Sinnesverwirrung unterscheiden kann? Ich versuche mich zu überzeugen, dass meine erneute Lektüre die richtige ist, aber erst heute Morgen sagte jemand zu mir — und nicht zu Belbo —, ich sei verrückt.

Der Mond steigt langsam am Horizont herauf, drüben hinter dem Bricco. Das große Haus ist erfüllt von seltsamem Knacken und Knistern — vielleicht Holzwürmer, Mäuse, oder das Gespenst von Adelino Canepa ... Ich wage nicht, durch den Flur zu gehen, ich sitze im Arbeitszimmer von Onkel Carlo und schaue zum Fenster hinaus. Hin und wieder gehe ich auf die Terrasse, um zu sehen, ob jemand den Hügel heraufkommt. Mir ist, als wäre ich in einem Film, wie pathetisch: »Sie kommen ...«

Dabei ist der Hügel so still in dieser Frühsommernacht.

Um wie viel abenteuerlicher, ungewisser, verrückter war die Rekonstruktion, die ich, um mir die Zeit zu vertreiben und wachzubleiben, vorgestern Abend zwischen fünf und zehn im Periskop versuchte, stehend, während ich, um mein Blut zirkulieren zu lassen, langsam die Beine bewegte, als folgte ich einem afrobrasilianischen Rhythmus.

Zurückdenken an die letzten Jahre und sich dabei dem betörenden Trommeln der Atabaques überlassen ... Vielleicht um die Offenbarung zu erhalten, dass unsere Phantasien, die als mechanisches Ballett begonnen hatten, sich nun in jenem Tempel der Mechanik in Ritus verwandeln würden, in Possession, Erscheinung und Herrschaft des Exu?

Vorgestern Abend im Periskop hatte ich noch keinen Beweis für die Wahrheit dessen, was mir der Drucker enthüllt hatte. Ich konnte mich noch in den Zweifel retten. Um Mitternacht würde ich vielleicht herausfinden, dass ich nach Paris gekommen war und mich wie ein Dieb in einem harmlosen Technikmuseum versteckt hatte, bloß weil ich ahnungslos in eine für Touristen organisierte Macumba geraten war und mich hatte einlullen lassen vom hypnotisierenden Nebel der Perfumadores und vom Rhythmus der Pontos ...

Um das Mosaik zusammenzusetzen, hatte es mein Gedächtnis abwechselnd mit der Ernüchterung, dem Mitleid und dem Argwohn probiert, und jenes geistige Klima, jenes Schwanken zwischen onirischer Illusion und Vorahnung einer Falle wünschte ich mir auch jetzt, während ich mit viel klarerem Kopf über all das nachdenke, was ich vorgestern Abend gedacht hatte, als ich mir klarzumachen versuchte, was ich da hastig am Vortag gelesen hatte, nachts in Belbos Wohnung und noch am selben Morgen am Flughafen und auf dem Flug nach Paris.

Wie unverantwortlich waren wir gewesen, Belbo, Diotallevi und ich, als wir daran gingen, die Welt neuzuschreiben oder — wie Diotallevi gesagt hätte — diejenigen Teile des Heiligen Buches aufzudecken, die mit weißem Feuer eingraviert waren zwischen den Zeilen der schwarzen Lettern, die gleich schwarzen Insekten die Torah bevölkerten und zu verdeutlichen schienen!

Nun bin ich, hier endlich — so hoffe ich — zur heiterer Ruhe und zum Amor Fati gelangt, bereit zur Reproduktion der Geschichte, die ich vor zwei Tagen voller Unruhe — und in der Hoffnung, dass sie falsch sei — im Periskop rekonstruierte, nachdem ich sie weitere zwei Tage vorher in Belbos Wohnung gelesen und sie, zum Teil unbewusst, in den letzten zwölf Jahren erlebt hatte, zwischen dem Whisky bei Pilade und dem Staub im Verlag Garamond


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