8. Hod



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For our Ordinances and Rites: We have two very long and faire Galleries in the Temple of the Rosie Cross; In one of these we place patterns and samples of all manners of the more rare and excellent inventions; In the other we place the Statues of all principal Inventours.

(Für unsere Zeremonien und Riten: Wir haben zwei sehr lange und schöne Galerien im Tempel des Rosenkreuzes; in die eine tun wir Modelle und Exempel aller Arten der eher seltenen und exzellenten Erfindungen; in die andere stellen wir die Standbilder aller bedeutenden Erfinder.)


John Heydon, The English Physitians Guide: Or A Holy Guide, London, Ferris, 1662, Vorwort


Ich war seit zu vielen Stunden im Periskop gewesen. Es mochte zehn Uhr sein oder halb elf. Wenn etwas geschehen musste, würde es in der Kirche geschehen, vor dem Pendel. Also musste ich jetzt hinuntergehen, um mir ein Refugium zu suchen, einen Beobachtungsposten. Wenn ich zu spät kam, nachdem sie bereits hereingekommen waren (von wo?), würden sie mich bemerken.

Hinuntergehen. Mich bewegen... Seit Stunden wünschte ich mir nichts anderes, aber jetzt, wo ich es konnte und es Zeit wurde, fühlte ich mich wie gelähmt Ich musste die Säle im Dunkeln durchqueren, ohne die Taschenlampe mehr als unbedingt nötig anzuknipsen. Wenig Nachtlicht drang durch die hohen Fenster, wenn ich mir ein gespenstisch im Mondschein liegendes Museum vorgestellt hatte, hatte ich mich getäuscht. Die Vitrinen empfingen undeutliche Reflexe von den Fenstern. Wenn ich mich nicht vorsichtig bewegte, konnte ich leicht etwas umstoßen, so dass es klirrend oder metallisch scheppernd am Boden zerbrach. Immer wieder knipste ich die Lampe an. Ich kam mir vor wie im Crazy Horse, da und dort enthüllte der Lichtstrahl mir eine Nudität, nur war sie nicht aus Fleisch und Bein, sondern aus Schrauben, Nieten und Bolzen.

Und wenn der Lichtstrahl nun plötzlich auf ein lebendiges Wesen fiele, auf ein Gesicht einen Abgesandten der Herren, der spiegelbildlich meinen Gang wiederholte? Wer würde zuerst aufschreien? Ich spitzte die Ohren. Wozu? Ich machte keinen Lärm, ich ging lautlos, auf Zehenspitzen. Also auch er.

Am Nachmittag hatte ich mir die Lage der Säle genau eingeprägt, ich war überzeugt, die große Treppe auch im Dunkeln zu finden. Statt dessen irrte ich nun beinahe tastend umher und hatte die Orientierung verloren.

Vielleicht durchquerte ich manche Säle bereits zum zweiten Mal, vielleicht würde ich nie wieder hier herausfinden, vielleicht war dies, genau dieses Umherirren zwischen sinnlosen Maschinen, gerade der Ritus.

In Wahrheit wollte ich nicht hinuntergehen, in Wahrheit wollte ich die Begegnung hinauszögern.

Ich hatte das Periskop nach einer langen und gnadenlosen Gewissenserforschung verlassen, stundenlang hatte ich unsere Fehler der letzten Jahre hin und her bedacht, um mir klar zu werden, warum ich hier ohne vernünftigen Grund auf der Suche nach Belbo war, den es aus noch weniger vernünftigen Gründen hierher verschlagen hatte. Doch kaum hatte ich einen Fuß aus dem Periskop hinausgesetzt, war alles anders geworden. Während ich mich durch das Dunkel tastete, dachte ich mit dem Kopf eines anderen. Ich war Belbo geworden. Und wie Belbo am Ende seiner langen Reise zur Erleuchtung wusste auch ich nun, dass jedes irdische Ding, auch das allerbanalste, als Hieroglyphe für etwas anderes zu lesen ist, und es gibt nichts Anderes, was so real ist wie der Große Plan. O ja, ich war schlau, mir genügte ein Blitz, ein Blick in einen Lichtstrahl, um zu begreifen. Ich ließ mich nicht narren.

... Fromentscher Motor: ein vertikales Gebilde auf rhomboidaler Basis, das ähnlich einer anatomischen Wachsfigur, die ihre künstlichen Rippen zur Schau stellt eine Reihe von Spindeln umschloss — was weiß ich, Spulen, Unterbrecher oder wie sie in den Fachbüchern heißen mögen —, bewegt von einem Transmissionsriemen, der über ein Zahnrad von einer Ritzelwelle getrieben wurde... Wozu mochte ein solcher Mechanismus gedient haben? Antwort: zum Messen der tellurischen Ströme, ganz klar.

Akkumulatoren. Was akkumulieren die? Nun, keine Frage, denken wir uns die Sechsunddreißig Unsichtbaren als ebenso viele beharrliche Sekretäre (Hüter des secretum), die nachts auf ihr Schreib-Cembalo hämmern, um ihm einen Ton zu entlocken, einen Funken, einen Anruf, eingespannt in einen Dialog von Küste zu Küste, von Abgrund zu Oberfläche, von Machu Picchu nach Avalon, zip zip zip, hallo hallo, Pamersiel Pamersiel, ich habe des Beben aufgefangen, die Strömung Mu 36, die die Brahmanen anbeteten als den bleichen Atem Gottes, jetzt stecke ich die Nadel rein, der mikro-makrokosmische Kreislauf ist aktiviert, unter der Kruste des Globus erzittern die Wurzeln der Mandragora, ich höre den Sphärenklang der Universalen Sympathie, over and out.

Mein Gott, die Armeen zogen mordend und sengend durch die Ebenen Europas, die Päpste schleuderten Bannstrahlen, die Kaiser trafen sich hämophilitisch und inzestuös im Jagdschlösschen der Palatinischen Gärten, alles nur, um eine Tarnung zu liefern, eine Prunkfassade für die Arbeit derer, die im Salomonischen Hause auf die schwachen Signale des Umbilicus Mundi lauschten.

Jawohl, sie waren hergekommen, um diese Maschinen in Gang zu setzen, diese pseudothermischen hexatetragrammatischen Elektrokapillatoren — wie Garamond sie genannt hätte —, und zwischendurch erfindet jemand, was weiß ich, ein Vakzin, oder eine Glühbirne, um das wunderbare Abenteuer der Metalle zu rechtfertigen, aber die Aufgabe war eine andere, sie alle versammelten sich hier um Mitternacht, um diese statische Maschine von Ducretet in Gang zu setzen, ein transparentes Rad, das aussieht wie ein Wehrgehänge, dahinter zwei tanzende Bällchen an zwei gebogenen Stäbchen, vielleicht, wenn man sie berührte, sprühten Funken heraus, Frankenstein hoffte, auf diese Weise seinen Golem beleben zu können, aber nein, das Signal, auf das er wartete, war ein anderes: such weiter, forsche, kombiniere, grab, grab, alter Maulwurf...

... hier eine Nähmaschine (so eine wie in der Stahlstich-Reklame, neben der Pille zur Entwicklung des Busens und dem großen Adler, der durch die Berge fliegt, in den Krallen den aufmöbelnden Magenbitter, Robur le Conquérant, R.C.), aber wenn sie in Gang gesetzt wird, dreht sie ein Rad, und das Rad dreht einen Ring, und der Ring... was tut der, wer gehorcht dem Ring? Die Beischrift sagte es: »Les courants induits par le champ terrestre«, die vom Magnetfeld der Erde induzierten Ströme! Schamlos, in aller Offenheit, auch die Kinder können es lesen bei ihren nachmittäglichen Besuchen, glaubte die Menschheit doch sowieso, in eine andere Richtung zu gehen, man konnte alles versuchen, sogar das höchste, äußerste Experiment, wenn man nur sagte, es diene der Technik. Die Herren der Welt haben uns Jahrhunderte lang getäuscht. Wir waren umgeben, umschlossen, umgarnt vom Großen Komplott, und wir schrieben Gedichte zum Lob der Lokomotive!

Ich lief ziellos umher. Ich konnte mir vorstellen, kleiner zu sein, mikroskopisch klein, und schon wäre ich als bestürzter Passant durch die Straßen einer mechanischen Stadt gewandert, zwischen metallischen Wolkenkratzern. Zylinder, Batterien, Leidener Flaschen übereinandergetürmt, kleine Karusselle, kaum zwanzig Zentimeter hoch, Tourniquet électrique à attraction et répulsion. Talisman, um die Sympathie-Ströme zu stimulieren. Colonnade étincelante formée de neuf tubes, Electroaimant, eine Guillotine, im Zentrum — und es sah aus wie eine Druckpresse — hingen Haken an schweren Ketten. Eine Presse, in die man eine Hand hineinstecken kann, einen Kopf zum Zermalmen. Gläserne Glocke, bewegt von einer Luftpumpe mit zwei Zylindern, eine Art Destillierkolben, darunter eine Schale und rechts eine kupferne Kugel. Saint-Germain hat darin seine Tinkturen für den Landgrafen von Hessen gemischt.

Ein Pfeifenständer mit vielen kleinen Sanduhren, die Einschnürungen lang gezogen wie die Taillen bei den Frauen von Modigliani, gefüllt mit einem undefinierbaren Material, aufgestellt in zwei Reihen von jeweils zehn, und bei jeder bläht sich die obere Erweiterung auf einer anderen Höhe, wie lauter kleine Mongolfieren, die sich in die Luft erheben wollen und nur durch einen Sandsack am Boden gehalten werden. Ein Apparat zur Erzeugung des Rebis, sichtbar vor aller Augen.

Abteilung Glasarbeiten. Ich war im Kreis gelaufen. Grüne Fläschchen, ein sadistischer Wirt bot mir Gifte in Quintessenz an. Eiserne Maschinen zur Flaschenherstellung, sie öffneten und schlossen sich mit zwei Griffen, aber wenn man nun statt der Flasche die Hand hineinhielt? Zack, so muß es gegangen sein mit jenen Zangen, jenen Scheren, jenen Bistouris mit gebogenem Schnabel, die in den After eingeführt werden konnten, in die Ohren, in den Uterus, um den noch lebenden Fötus herauszuziehen und ihn mit Honig und Pfeffer anzurichten für die blutgierige Astarte... Der Saal, den ich jetzt durchquerte, hatte breite Vitrinen, ich sah Druckknöpfe, mit denen man große Korkenzieher in Gang setzen konnte, die sich unaufhaltsam dem Auge des Opfers entgegenschraubten, Die Grube und das Pendel, hier waren wir schon fast bei der Karikatur, bei den unnützen Maschinen von Goldberg, bei den Foltergeräten, an die Mickey Mouse von Big Pete gefesselt wurde, l'engrenage extérieur à trois pignons, äußeres Zahnradgetriebe mit drei Ritzeln, Triumph der Mechanik zur Zeit der Renaissance, Branca, Ramelli, Zonca kannten diese Getriebe, ich hatte sie abgebildet in unserem wunderbaren Abenteuer der Metalle, aber hierhin waren sie später verbracht worden, im letzten Jahrhundert, jawohl, hier standen sie schon bereit, um die Aufrührer zu bändigen nach der Eroberung der Welt, die Templer hatten von den Assassinen gelernt, wie man Noffo Dei zum Schweigen bringt, sobald man ihn einmal gefangen hat, Sebottendorffs Hakenkreuz würde die ächzenden Glieder der Feinde der Herren der Welt in Richtung der Sonne verdrehen, alles stand bereit und wartete nur noch auf einen Wink, alles vor aller Augen, der Große Plan war öffentlich, aber niemand hätte ihn erraten können, knirschende Kiefern hätten ihren Eroberungshymnus gesungen, eine Orgie von Mäulern, allesamt nur noch reines Gebiss, die sich ineinander verbolzten mit einem spastischen Ticken, als fielen alle Zähne auf einmal zu Boden.

Und schließlich stand ich vor jenem Emetteur à étincelles soufflées, der für den Eiffelturm geplant worden war, zum Austausch von stündlichen Signalen zwischen Frankreich, Tunesien und Russland (Templer von Provins, Paulizianer und Assassinen aus Fez — Fez liegt nicht in Tunesien, und die Assassinen waren in Persien, aber was soll's, man kann nicht subtilisieren, wenn man in den Windungen der Subtilen Zeit lebt). Diese immense Maschine hatte ich doch schon mal irgendwo gesehen: übermannsgroß, die Wände durchbohrt von einer Reihe Luken und Luftlöcher, wer wollte mir einreden, das sei ein Funkapparat? Natürlich, das kannte ich, daran war ich am Nachmittag vorbeigekommen. Das war das Centre Beaubourg!

Vor unser aller Augen. Und in der Tat, wozu sollte diese Riesenschachtel im Zentrum von Lutetia dienen (Lutetia Parisiorum, die Luke zu einem unterirdischen Meer von Schlamm), dort, wo früher der Bauch von Paris war, mit diesen Saugrüsseln zum Einsaugen der Luft, dieser krankhaften Wucherung von Röhren und Leitungen, diesem Ohr des Dionysius, das sich so weit nach außen öffnet, um Töne, Botschaften, Signale aufzufangen und hineinzusenden ins Zentrum der Erde und sie zurückzugeben als ausgekotzte Informationen der Hölle? Erst das Conservatoire als Laboratorium, dann der Eiffelturm als Sonde, schließlich das Cent-re Beaubourg als globale Sendeempfangsstation. Hatten sie diesen Riesenschröpfkopf da etwa hingestellt, bloß um ein paar langhaarige, ungewaschene Jugendliche zu unterhalten, die sich den neuesten Hit mit japanischen Walkmen reinziehen? Vor unser aller Augen. Das Centre Beaubourg als das Tor zum unterirdischen Reich von Agarttha, als Monument der Equites Synarchici Resurgentes. Und die anderen, all die anderen, zwei, drei, vier Milliarden Andere, sie ignorierten es oder bemühten sich, es zu ignorieren. Trottel und Hyliker. Und die Pneumatiker zielstrebig, sechs Jahrhunderte lang.

Endlich hatte ich die Treppe gefunden und war hinabgestiegen, immer vorsichtiger. Mitternacht nahte. Ich musste mich in meinem Observatorium verstecken, ehe sie kamen.

Ich glaube, es war schon elf, vielleicht noch nicht ganz. Ich ging durch den Saal Lavoisier, ohne die Taschenlampe anzuknipsen, eingedenk der Halluzinationen am Nachmittag, ich eilte durch den Gang mit den Modelleisenbahnen.

Im Kirchenschiff war bereits jemand. Ich sah Lichter, huschende, flackernde. Ich hörte Scharren, als würden Möbel über den Boden geschoben.

Würde ich noch rechtzeitig in den Sockel der Freiheitsstatue kommen? Ich schlich gebückt an den Vitrinen mit den Zügen entlang und war gleich darauf im Seitenschiff neben der Statue von Gramme. Auf einem hölzernen Podest in Kubusform (der kubische Stein von Hesod!) erhob sie sich, wie um den Eingang zum Chor zu bewachen. Von hier war es nur noch ein Katzensprung bis zu meinem Versteck.

Die Vorderseite des Podests war aufgeklappt, so dass eine Türöffnung entstand, die den Ausgang eines geheimen Ganges darstellen mochte. Und tatsächlich kam dort jemand mit einer Laterne heraus — vielleicht einer Gaslaterne, mit bunten Scheiben, die sein Gesicht in rötlichen Flammenschein tauchten. Ich drückte mich in einen Winkel, und er sah mich nicht. Ein anderer kam aus dem Chor auf ihn zu. »Schnell«, sagte er leise, »in einer Stunde sind sie da.«

Das war also die Vorhut, die etwas für den Ritus vorbereiten sollte. Wenn es nicht viele waren, konnte ich unbemerkt die Freiheitsstatue erreichen, ehe die anderen kamen, wer weiß woher und zu wie vielen. Ich blieb lange in meinem Winkel und verfolgte die Bewegungen der Laternen in der Kirche, den periodischen Wechsel der Lichter, die Momente der größeren und geringeren Helligkeit. Ich kalkulierte, wie weit sie sich von der Freiheitsstatue entfernten und wie lange diese im Dunkeln bleiben mochte. Schließlich setzte ich alles auf eine Karte, huschte links unter die Statue von Gramme — an die Wand gepresst mit eingezogenem Bauch, zum Glück war ich dünn wie ein Nagel. Lia... Und schlüpfte in den Sockel der Freiheitsstatue.

Um mich noch unsichtbarer zu machen, kauerte ich mich am Boden zusammen, in einer fast embryonalen Position. Mein Herz pochte schneller, meine Zähne klapperten.

Ich musste mich entspannen. Ich atmete rhythmisch durch die Nase und steigerte langsam die Intensität der Atemzüge. So kann man, glaube ich, unter der Folter beschließen, ohnmächtig zu werden, um sich dem Schmerz zu entziehen. Tatsächlich fühlte ich mich langsam in die Arme der Unterirdischen Welt versinken.


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Unsere Sache ist ein Geheimnis in einem Geheimnis, das Geheimnis von etwas, das verhüllt bleibt, ein Geheimnis, das nur ein anderes Geheimnis erklären kann, ein Geheimnis über ein Geheimnis, das sich mit einem Geheimnis befriedigt.

Ga'far al-Sadiq, sechster Imam


Langsam kam ich wieder zu mir. Ich hörte Geräusche, ein helleres Licht schreckte mich auf. Meine Füße waren steif geworden. Ich versuchte mich langsam aufzurichten, ohne Lärm zu machen, und es kam mir vor, als stünde ich auf einem Teppich aus Seeigeln. Die kleine Seejungfrau. Ich machte ein paar lautlose Bewegungen, beugte mich nach rechts und nach links, und als ich feststellte, dass mein Versteck weitgehend im Dunkeln geblieben war, gelang es mir allmählich, wieder Herr der Lage zu werden.

Das Kirchenschiff war hell erleuchtet. Es waren die Laternen, aber nun waren es Dutzende und Aberdutzende, getragen von den Zusammengeströmten, die sich hinter mir drängten. Sicherlich aus dem Geheimgang gekommen, strömten sie links von mir in den Chor und ins Kirchenschiff. Mein Gott, sagte ich mir, die Nacht auf dem Kahlen Berge, Version Walt Disney.

Sie lärmten nicht, sie murmelten nur, aber alle zusammen produzierten ein lautes Brummen und Rauschen, wie die Komparsen in der Oper: Rhabarber, Rhabarber.

Links von mir waren die Laternen im Halbrund auf den Boden gestellt, so dass sie mit einem abgeflachten Halbkreis das östliche Halbrund des Chores vervollständigten und am südlichsten Punkt dieses Pseudo-Halbkreises die Statue von Pascal berührten. Dort drüben hatte man ein brennendes Kohlebecken hingestellt, auf das jemand Kräuter und Essenzen warf. Der Rauch drang bis in mein Versteck, legte sich mir auf die Kehle und verursachte mir ein Gefühl von überreizter Betäubung.

Im Schwanken der Laternen bemerkte ich, dass sich im Zentrum des Chors etwas regte, ein schmaler und schwirrender Schatten.

Das Pendel! Das Pendel schwang nicht mehr an seinem gewohnten Ort auf halber Höhe des Kreuzgewölbes. Es hing jetzt, größer als sonst, am Schlussstein in der Mitte des Chors. Die Kugel war größer, der Faden war dicker, er schien mir jetzt ein Seil oder eine Drahttrosse zu sein.

Das Pendel war jetzt so groß, wie es einst im Pantheon gewesen sein musste. Wie wenn man den Mond durch ein Fernrohr vergrößert sieht.

Sie hatten es so wiederherstellen wollen, wie die Templer es beim ersten Mal erprobt haben mussten, ein halbes Jahrtausend vor Leon Foucault. Damit es frei schwingen konnte, hatten sie einiges wegräumen müssen und dem Amphitheater des Chors jene grob-symmetrische Antistrophe geschaffen, die von den Laternen dargestellt wurde.

Ich fragte mich, wie es dem Pendel gelingen mochte, so gleichmäßig zu schwingen, jetzt, wo unter dem Boden nicht mehr der magnetische Regulator sein konnte. Dann begriff ich. Im Chorumgang, bei den Dieselmotoren, stand einer, der — geschmeidig wie eine Katze den Veränderungen der Schwingungsebene folgend — der Kugel jedes Mal, wenn sie zu ihm geschwungen kam, einen leichten Stoß versetzte, mit einer präzisen Handbewegung.

Er war im Frack, wie Mandrake. Später, als ich seine Gefährten sah, begriff ich, dass er ein Taschenspieler war, ein Zauberer aus dem Petit Cirque der Madame Olcott, ein Profi, der den Stoß seiner Fingerspitzen sehr genau zu dosieren vermochte, mit sicherer Hand, geschickt bei der Arbeit mit infinitesimalen Veränderungen. Vielleicht war er sogar fähig, durch die dünnen Sohlen seiner Lackschuhe die Vibrationen der innerirdischen Strömungen zu erspüren und die Hände gemäß der Logik der Kugel zu bewegen, und gemäß der Logik der Erde, auf welche die Kugel antwortete.

Seine Gefährten. Nun sah ich auch sie. Sie bewegten sich zwischen den Automobilen im Kirchenschiff, huschten an den draisiennes und Motorrädern vorbei, wälzten sich fast im Schatten, die einen trugen einen Lehnstuhl und einen mit rotem Tuch verhangenen Tisch in den breiten hinteren Chorumgang, die anderen verteilten weitere Laternen. Klein, dunkel und täppisch, wirkten sie wie rachitische Kinder, und als einer von ihnen dicht an mir vorbeikam, sah ich seine mongoloiden Züge und seinen Kahlkopf. Les Freaks Mignons de Madame Olcott, die scheußlichen kleinen Monster, die ich auf dem Plakat in der Librairie Sloane gesehen hatte.

Der Zirkus war komplett gekommen: Staff, Ordner und Choreografen des Ritus. Ich sah Alex und Denys, die Riesen von Avalon, eingezwängt in eine Rüstung aus nietenbeschlagenem Leder, wahrhaft gigantische Kerle mit blondem Haar, an die große Masse der Obéissante gelehnt mit abwartend gekreuzten Armen.

Ich hatte keine Zeit, mir weitere Fragen zu stellen. Jemand war feierlich eingetreten, mit ausgestreckter Hand Ruhe gebietend. Ich erkannte Bramanti nur deshalb, weil er dasselbe scharlachrote Gewand mit weißem Umhang und Mitra trug, in dem ich ihn an jenem Abend auf dem Schloss in Piemont gesehen hatte. Er näherte sich dem Kohlebecken, warf etwas hinein, so dass eine Flamme aufloderte, gefolgt von einem dicken weißen Rauch, dessen Duft sich langsam durch den Saal verbreitete. Wie damals in Rio, dachte ich, und wie auf dem alchimistischen Fest. Und ich hatte kein Agogõ. Ich hielt mir das Taschentuch wie einen Filter vor Nase und Mund. Aber schon glaubte ich zwei Bramantis zu sehen, und das Pendel schwang vor mir in mehrere Richtungen gleichzeitig, wie ein Karussell.

Bramanti begann zu psalmodieren: »Aleph Beth Gimel Daleth He Waw Zajin Herb Teth Jod Kaf Lamed Mem Nun Samech Ajin Pe Sade Qof Resch Schin Tau!«

Die Menge respondierte: »Pamersiel, Padiel, Chamuel, Aseliel, Barmiel, Gediel, Asyriel, Meseriel, Dorchtiel, Usiel, Cabariel, Raysiel, Symiel, Armadiel...«

Bramanti winkte, jemand trat aus der Menge hervor und sank vor ihm auf die Knie. Nur für einen Augenblick sah ich sein Gesicht. Es war Riccardo, der Maler, der Mann mit der Narbe.

Bramanti befragte ihn, und der andere antwortete, die Formeln des Rituals auswendig rezitierend.

»Wer bist du?«

»Ich bin ein Adept, noch nicht zugelassen zu den höheren Mysterien der Tres. Ich habe mich in der Stille vorbereitet, in der analogischen Meditation über das Geheimnis des Baphomet, im Bewusstsein, dass es sechs unversehrte Siegel sind, um die das Große Werk kreist, und dass wir erst am Ende das Geheimnis des siebenten kennen werden.«

»Wie bist du empfangen worden?«

»Durch die perpendikuläre Passage zum Pendel.«

»Wer hat dich empfangen?«

»Ein Mystischer Legat.«

»Würdest du ihn wiedererkennen?«

»Nein, denn er war maskiert. Ich kenne nur den Ritter des nächsten Grades über mir, und dieser kennt nur den Naometer des nächsten Grades über sich, und ein jeder kennt immer nur einen. Und so soll es sein.«

»Quid facit Sator Arepo?«

»Tenet Opera Rotas.«

»Quid facit Satan Adama?«

»Tabat Amata Natas. Mandabas Data Amata, Nata Sata.«

»Hast du die Frau mitgebracht?«

»Ja, sie ist hier. Ich habe sie übergeben, wie man mir befahl. Sie ist bereit.«

»Geh, aber halte dich gleichfalls bereit.«

Der Dialog war in einem rudimentären Französisch geführt worden, von beiden. Dann sagte Bramanti auf Italienisch: »Brüder, wir sind hier versammelt im Namen des Einzigen Ordens, des Unbekannten Ordens, von dem ihr noch gestern nichts wusstet und dem ihr doch seit jeher angehörtet. Schwören wir: Fluch allen, die das Geheimnis entweihen. Fluch den Sykophanten des Okkulten, Fluch denen, die aus Riten und Mysterien ein Spektakel gemacht haben!«

»Fluch ihnen!«

»Fluch dem Unsichtbaren Kollegium, den Bastarden Hirams und der Witwe, den operativen und spekulativen Meistern der Lüge, sei es des Orients oder des Okzidents, der Alten und Angenommenen oder Rektifizierten, Fluch über Memphis und Misraim, über Philalethes und die Neun Schwestern, Fluch der Strikten Observanz und dem Ordo Templi Orientes, Fluch den Illuminaten aus Bayern und denen aus Avignon, den Rittern Kadosch, den Erwählten Cohens, der Vollkommenen Freundschaft, den Rittern des Schwarzen Adlers und der Heiligen Stadt, Fluch den Rosenkreuzern in Anglia, den Kabbalisten vom Goldenen Rosen+Kreuz, den Satanisten vom Golden Dawn, Fluch dem Katholischen Rosen-Kreuz des Tempels und des Grals, der Stella Matutina, dem Astrum Argentinum und der Thelema, Fluch dem Vril und der Thule-Gesellschaft und jedem alten und mystischen Usurpator des Namens der Großen Weißen Brüderschaft, Fluch den Wächtern des Tempels und jedem anderen Kollegium oder Priorat von Zion oder von Gallien!«

»Fluch ihnen!«

»Wer immer aus Einfalt, auf Befehl, als Proselyt, aus Berechnung oder bösem Willen initiiert worden ist in eine Loge, ein Kollegium, ein Priorat, ein Kapitel, einen Orden, der, die oder das sich unerlaubterweise auf den Gehorsam gegenüber den Unbekannten Oberen und den Herren der Welt beruft, der schwöre in dieser Nacht ab und erflehe exklusive Aufnahme in den Geist und den Körper der einzigen wahren Observanz, der TRES, der Templi Resurgentes Equites Synarchici, der dreieinen und trinosophischen, mystischen und allergeheimsten Ordensgemeinschaft der Synarchischen Ritter der Templerischen Wiedergeburt!«

»Sub umbra alarum tuarum!«

»Es mögen nun eintreten die Würdenträger der sechsunddreißig höchsten und allergeheimsten Grade.«

Und während Bramanti die Erwählten einen nach dem anderen aufrief, traten diese in liturgischen Gewändern herein, jeder mit dem Wappen des Goldenen Vlieses auf der Brust.

»Ritter des Baphomet, Ritter der Sechs Unversehrten Siegel, Ritter des Siebenten Siegels, Ritter des Tetragrammatons, Ritter Scharfrichter von Florian und Dei, Ritter des Athanor... Ehrwürdiger Naometer des Turms zu Babel, Ehrwürdiger Naometer der Großen Pyramide, Ehrwürdiger Naometer der Kathedralen, Ehrwürdiger Naometer des Salomonischen Tempels, Ehrwürdiger Naometer des Hortus Palatinus, Ehrwürdiger Naometer des Tempels von Heliopolis... «

Bramanti rezitierte die Dignitäten, und die Genannten erschienen in Gruppen, so dass ich nicht erkennen konnte, wer welchen Titel trug, aber mit Sicherheit erkannte ich unter den ersten zwölf den Commendator De Gubernatis, den alten Buchhändler aus der Librairie Sloane, den Professor Camestres und andere, denen ich an dem Abend auf dem Schloss in Piemont begegnet war. Und ich sah, ich glaube als Ritter des Tetragrammatons, Signor Garamond, gefasst und hieratisch, ergriffen von seiner neuen Rolle, wie er sich mit zitternder Hand an das Vlies auf seiner Brust fasste. Unterdessen fuhr Bramanti fort: »Mystischer Legat von Karnak, Mystischer Legat von Bayern, Mystischer Legat der Barbelognostiker, Mystischer Legat von Camelot, Mystischer Legat von Montségur, Mystischer Legat des Verborgenen Imam... Höchster Patriarch von Tomar, Höchster Patriarch von Kilwinning, Höchster Patriarch von Saint-Martin-des-Champs, Höchster Patriarch von Marienburg, Höchster Patriarch der Unsichtbaren Ochrana, Höchster Patriarch in partibus der Felsenfestung Alamut... «

Und zweifelsfrei war der Patriarch der Unsichtbaren Ochrana mein Nachbar Salon, wie immer graugesichtig, aber nun ohne Kittel und strahlend in einer gelben Tunika mit rotem Saum. Ihm folgte Pierre, der Psychopomp der Eglise Luciférienne, doch er trug auf der Brust statt des Goldenen Vlieses einen Dolch in einer vergoldeten Scheide. Unterdessen fuhr Bramanti fort: »Erhabener Hierogam der Chymischen Hochzeit, Erhabener Rhodostaurotischer Psychopomp, Erhabener Referendar der Arcana Arcanissima, Erhabener Steganograph der Monas Ieroglyphica, Erhabener Astraler Connector Utriusque Cosmi, Erhabener Wächter des Grabes Christiani Rosencreutz... Unergründbarer Archont der Strömungen, Unergründbarer Archont der Hohlwelt, Unergründbarer Archont des Mystischen Pols, Unergründbarer Archont der Labyrinthe, Unergründbarer Archont des Pendels der Pendel... « Bramanti machte eine Pause, und mir schien, als brächte er die letzte Formel nur widerwillig über die Lippen: »Und als Unergründbarster der Unergründbaren Archonten, Diener der Diener, Demütigster Sekretär des Ägyptischen Ödipus, Niedrigster Bote der Herren der Welt und Torwächter von Agarttha, Letzter Weihrauchfassträger und Beweihräucherer des Pendels, Claude-Louis Graf von Saint-Germain, Fürst Rakoczi, Graf von Saint-Martin und Marquis von Agliè, Herr von Surmont, Marquis von Welldone, Marquis von Monferrat, von Aymar und Belmar, Graf Soltikoff, Ritter von Schoening, Graf von Tzarogy!«

Während die anderen sich im Chorumgang aufstellten, mit Blick auf das Pendel und auf die Gläubigen im Kirchenschiff, trat Agliè herein, wie immer im nachtblauen nadelgestreiften Zweireiher, bleich und mit versteinerter Miene, und an der Hand führte er, als geleitete er eine arme Seele auf dem Weg zum Hades, sie ebenfalls bleich und wie von einer Droge betäubt, bekleidet nur mit einem weißen, halb durchscheinenden Gewand, das Haar lang auf die Schultern herabfallend, Lorenza Pellegrini. Ich sah sie im Profil, als sie an meinem Versteck vorbeischritt, rein und schmachtend wie eine präraffaelitische Ehebrecherin. Zu durchscheinend, um nicht erneut mein Begehren zu wecken.

Agliè führte Lorenza zu dem Kohlebecken neben der Statue von Pascal, strich ihr sanft über die Wange und winkte die beiden Riesen von Avalon herbei, die sie rechts und links an den Armen fassten und hielten. Dann ging er an den Tisch und setzte sich, das Gesicht zu den Gläubigen gewandt, und ich konnte ihn deutlich sehen, wie er sein Döschen aus der Westentasche zog und es schweigend streichelte, bevor er zu sprechen begann.

»Brüder, Ritter. Ihr seid hierhergekommen, weil euch die Mystischen Legaten in diesen Tagen benachrichtigt haben, und daher wisst ihr nun alle, aus welchem Grunde wir uns hier versammeln. Wir hätten uns bereits in der Nacht des 23. Juni 1945 hier versammeln müssen, und vielleicht waren damals einige von euch noch nicht geboren — zumindest nicht in der gegenwärtigen Form, meine ich. Heute sind wir nun hier zusammengekommen, weil wir nach sechshundert Jahren schmerzlichsten Irrens endlich einen gefunden haben, der weiß. Woher er sein Wissen hat — und wie es kommt, dass er mehr weiß als wir —, ist ein beunruhigendes Geheimnis. Aber ich vertraue darauf, dass unter uns derjenige ist — und nicht wahr, du durftest nicht fehlen, mein Freund, der du schon einmal zu neugierig warst —, derjenige, sagte ich, der es uns sagen kann. Ardenti!«

Der Oberst Ardenti — zweifellos er, noch immer schwarzhaarig, wenn auch vergreist — drängte sich durch die Menge und trat vor das, was sich anschickte, sein Tribunal zu werden, auf Distanz gehalten durch das Pendel, das durch sein Schwingen einen unbetretbaren Raum abgrenzte.

»Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, Bruder«, sagte Agliè lächelnd. »Ich wusste, als ich die Nachricht verbreitete, dass du nicht würdest widerstehen können. Also? Du weißt, was der Gefangene gesagt hat, und er sagt, er habe es von dir erfahren. Mithin hast du gewusst und hast geschwiegen.«

»Graf«, sagte Ardenti, »der Gefangene lügt. Ich schäme mich, es zu gestehen, aber die Ehre geht vor. Die Geschichte, die ich ihm anvertraut habe, ist nicht diejenige, von der die Mystischen Legaten gesprochen haben. Die Interpretation der Botschaft — jawohl, es ist wahr, ich hatte die Hände auf eine Botschaft gelegt, und ich hatte es Euch nicht verheimlicht, damals vor Jahren in Mailand —, die Interpretation der Botschaft ist eine andere... Ich wäre nicht in der Lage gewesen, sie so zu lesen, wie der Gefangene sie gelesen hat, deswegen suchte ich damals Hilfe. Und ich muß sagen, ich bin nicht gerade auf Ermunterung gestoßen, nur auf Misstrauen, Herausforderungen und Drohungen... « Vielleicht wollte er noch etwas anderes sagen, aber indem er Agliè anstarrte, starrte er auch das Pendel an, das zwischen ihnen schwang und wie ein Zauber auf ihn wirkte. Hypnotisiert sank er auf die Knie und stammelte nur: »Vergeht mir, denn ich weiß nichts.«

»Dir sei vergeben, denn du weißt, dass du nichts weißt«, sagte Agliè. »Geh. Doch somit, Brüder, weiß der Gefangene zu viele Dinge, die keiner von uns gewusst hat. Er weiß sogar, wer wir sind, und wir haben es von ihm erfahren. Wir müssen uns sputen, bald wird es hell werden. Während ihr hier in Meditation verharrt, werde ich mich jetzt noch einmal mit ihm zurückziehen, um ihm die Enthüllung zu entreißen.«

»Ah non, Monsieur le Comte!« Pierre war in den Halbkreis getreten, mit geweiteten Pupillen. »Zwei Tage habt Ihr gesprochen mit ihm tête-à-tête, ohne uns zu prävenieren, und er nix gesehen, nix gesagt, nix gehört, wie die drei kleine Äffchen. Was wollt Ihr ihn jetzt noch fragen, diese Nacht? Non, ici, hier vor uns allen!«

»Beruhigen Sie sich, lieber Pierre. Ich habe heute Abend diejenige herbringen lassen, die ich für die exquisiteste Inkarnation der Sophia halte, das mystische Band zwischen der Welt des Irrtums und der Höheren Achtheit. Fragen Sie mich nicht, wie und warum, aber vor dieser Mittlerin wird der Gefangene sprechen. Sag ihnen, wer du bist, Sophia.«

Und Lorenza, wie schlafwandelnd, die Worte mühsam hervorstoßend und fast skandierend: »Ich bin... die Heilige und die Hure.«

»Ah, ça c'est bien«, lachte Pierre auf. »Wir haben hier die Creme de l'Initiation und greifen zurück auf la Pute! Nein, der Mann her, sofort, hierher vor das Pendel!«

»Seien wir doch nicht kindisch«, sagte Agliè. »Gebt mir eine Stunde Zeit. Wieso glaubt Ihr, er werde hier sprechen, vor dem Pendel?«

»Er wird sprechen, indem er verblutet. Le sacrifice humain!« schrie Pierre in das Kirchenschiff.

Und laut tönte es zurück »Le sacrifice humain!«

Da trat Salon vor: »Graf, Kindereien beiseite, der Bruder hat recht. Wir sind keine Polizisten... «

»Gerade Sie dürften das nicht sagen«, murmelte Agliè.

»Wir sind keine Polizisten, und wir halten es nicht für unserer würdig, mit den gewöhnlichen Verhörmethoden vorzugehen. Aber ich glaube auch nicht, dass man den Kräften des Untergrundes mit Menschenopfern beikommt. Hätten sie uns ein Zeichen geben wollen, sie hätten es längst getan. Außer dem Gefangenen wusste noch ein anderer Bescheid, aber der ist verschwunden. Eh bien, heute Abend haben wir die Möglichkeit, diejenigen mit dem Gefangenen zu konfrontieren, die Bescheid wussten und...«, er lächelte und sah Agliè mit halbgeschlossenen Augen unter den buschigen Brauen an, »und sie auch mit uns zu konfrontieren, oder jedenfalls mit einigen von uns... «

»Was wollen Sie damit sagen, Salon?« fragte Agliè mit unsicherer Stimme.

»Wenn Herr Graf erlauben, würde ich das gerne erklären«, sagte Madame Olcott. Sie war es, ich erkannte sie von dem Plakat in der Librairie Sloane. Blasser Teint, in einem grünlichen Kleid, die Haare glänzend von Öl, im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, die Stimme tief und rau wie bei einem heiseren Mann. Schon in der Buchhandlung war mir dieses Gesicht irgendwie bekannt vorgekommen, jetzt erinnerte ich mich: es war die Druidin, die uns damals in jener Nacht auf der Wiese entgegengelaufen war. »Alex, Denys, bringt den Gefangenen her.«

Sie hatte in herrischem Ton gesprochen, das Raunen im Kirchenschiff schien ihr zuzustimmen, die beiden Riesen gehorchten und übergaben Lorenza zwei Freak Mignons, Agliè hielt die Hände um die Seitenlehnen des Stuhls geklammert und wagte nicht zu widersprechen.

Madame Olcott gab ihren kleinen Monstern ein Zeichen, und zwischen der Statue von Pascal und der Obéissante wurden drei kleine Armstühle aufgestellt, auf denen sie drei Individuen Platz nehmen ließ. Alle drei von dunklem Teint, klein von Statur, nervös, mit großen weißen Augen. »Die Drillinge Fox, Ihr kennt sie gut, Graf. Theo, Leo, Geo, setzt euch und macht euch bereit.«

In diesem Augenblick erschienen die Riesen von Avalon wieder und brachten Jacopo Belbo herein, der ihnen gerade bis an die Schultern reichte. Mein armer Freund, er war aschgrau im Gesicht, seit Tagen unrasiert, die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden, sein Hemd stand offen über der Brust Als er an diesen weihrauchgeschwängerten Ort kam, kniff er die Augen zusammen. Er schien sich nicht zu wundern über die Versammlung von Hierophanten, die er da vor sich sah, in den letzten Tagen musste er sich daran gewöhnt haben, auf alles gefasst zu sein.

Allerdings war er nicht darauf gefasst, plötzlich das Pendel vor sich zu sehen, nicht in dieser Position. Doch die beiden Riesen schleppten ihn vor den Stuhl Agliès. Vom Pendel hörte er jetzt nur das leise Sausen, das es hinter ihm machte, wenn es vorbeischwang.

Einen Moment lang drehte er sich um, und da sah er Lorenza. Er fuhr zusammen, wollte sie anrufen, versuchte sich zu befreien, aber Lorenza, die ihn stumpf anstarrte, schien ihn nicht zu erkennen.

Im selben Moment erhob sich aus dem hinteren Teil des Kirchenschiffs, wo die Kasse und die Büchertische waren, ein Trommelwirbel, begleitet von schrillen Flötentönen. Mit einem Schlag öffneten sich die Türen von vier Automobilen, und heraus kamen vier Wesen, die ich ebenfalls schon auf dem Plakat des Petit Cirque gesehen hatte.

Ein Filzhut ohne Krempe, wie ein Fez, weite schwarze, bis zum Hals geschlossene Mäntel: Les Derviches Hurleurs entstiegen den Automobilen wie Auferstandene aus ihren Gräbern und begaben sich an den Rand des Magischen Kreises, wo sie sich niederhockten. Die Flöten im Hintergrund intonierten jetzt eine sanfte Melodie, während die Derwische ebenso sanft die Hände auf den Boden schlugen und den Kopf beugten.

Aus der Kanzel des Breguet-Flugzeugs erhob sich, wie ein Muezzin auf dem Minarett, ein fünfter Heulender Derwisch und begann zu psalmodieren, in einer mir unbekannten Sprache, seufzend, klagend, mit schrillen Tönen, indes die Trommeln wieder lauter zu wirbeln begannen.

Madame Olcott beugte sich hinter die Gebrüder Fox und flüsterte ihnen etwas ins Ohr. Die drei versanken in ihren Armsesseln, die Hände fest um die Lehnen geklammert, die Augen geschlossen, und begannen zu schwitzen und heftig mit allen Gesichtsmuskeln zu zucken.

Madame Olcott wandte sich an die Versammlung der Würdenträger. »Jetzt werden meine drei braven Brüderchen drei Personen herholen, die Wissende waren.« Sie machte eine Pause, dann verkündete sie: »Edward Kelley, Heinrich Khunrath und...«, erneute Pause, »der Graf von Saint-Germain.«

Zum ersten Mal sah ich Agliè die Selbstbeherrschung verlieren. Er sprang von seinem Stuhl auf, und schon das war ein Fehler. Dann stürzte er sich der Frau entgegen — beinahe nur zufällig stieß er nicht mit dem Pendel zusammen — und schrie: »Viper, Lügnerin, du weißt genau, dass es nicht sein kann... « Und zu der Menge gewandt: »Schwindel! Betrug! Stoppt sie!«

Aber niemand rührte sich, im Gegenteil, Pierre ging hin, setzte sich auf den Stuhl und sagte: »Bitte sehr, fahren Sie fort, Madame.«

Agliè fasste sich wieder. Er gewann seine Kaltblütigkeit zurück, trat beiseite zwischen die Zuschauer und sagte herausfordernd: »Na los, sehen wir's uns an.«

Madame Olcott hob den Arm, als gäbe sie das Startzeichen zu einem Rennen. Die Musik wurde immer lauter und hektischer, zerfiel in eine Kakofonie von Dissonanzen, die Trommeln wirbelten ohne Rhythmus, die Derwische, die schon begonnen hatten, den Oberkörper vor-und zurückzubewegen, nach rechts und nach links, sprangen auf, warfen die Mäntel ab und hielten die Arme starr ausgebreitet, als wollten sie zum Fluge abheben. Nach einem Moment der Reglosigkeit begannen sie sich auf einmal wirbelnd um sich selbst zu drehen, wobei sie den linken Fuß als Achse benutzten, das Gesicht hochgereckt, konzentriert und versunken, während ihre plissierten Jäckchen sich glockenförmig zu den Pirouetten erhoben, so dass sie aussahen wie Blumen in einem Wirbelwind.

Inzwischen hatten die drei Fox-Brüder sich gleichsam zusammengezogen, verkrampft hockten sie auf ihren Stühlen mit angestrengten, verzerrten Gesichtern, als wollten sie den Darm entleeren und könnten nicht, schwer atmend. Die Glut im Kohlebecken war schwächer geworden, und die Akolythen der Madame Olcott hatten alle am Boden stehenden Laternen gelöscht. Die Kirche wurde nur noch von matten Schein der Laternen im Langschiff erleuchtet.

Und langsam, Schritt für Schritt, ereignete sich das Wunder. Auf den Lippen von Theo Fox erschien etwas wie ein weißlicher Schaum, der sich zusehends verdeckte, und ein ähnlicher Schaum erschien mit leichter Verzögerung auf den Lippen seiner zwei Brüder.

»Gut, Brüder, weiter so«, raunte Madame Olcott ihnen ermunternd ins Ohr, »weiter, weiter, strengt euch an, ja, ja, so ist's gut!«

Die Derwische jaulten abgehackt und hysterisch, wackelten mit den Köpfen und drehten sich, stießen hektische Schreie aus, die dann röchelnd verklangen.

Die drei Medien schienen eine Substanz auszuschwitzen, die zuerst gasförmig war und dann immer dichter wurde, wie eine Lava, ein Eiweiß, das langsam körnig wird, der Schwaden stieg und fiel, strich ihnen um die Schultern, die Brust, die Beine, mit gewundenen Bewegungen, die an ein Reptil erinnerten. Ich begriff nicht, ob ihnen das Zeug aus den Poren kam, aus dem Mund, den Ohren oder den Augen. Die Menge drängte sich weiter vor, immer näher zu den drei Brüdern und den Heulenden Derwischen. Ich hatte alle Angst verloren: in der Gewissheit, nicht bemerkt zu werden, trat ich aus meinem Versteck hervor und setzte mich damit noch mehr den Dämpfen aus, die den Kirchenraum füllten.

Rings um die drei Medien lag jetzt ein milchiger Schein mit verschwimmenden Rändern. Die Substanz löste sich langsam von ihnen und nahm amöbenartige Formen an. Aus der Form, die vom ersten der drei Brüder ausging, löste sich eine Art Spitze, die sich hinunterbog und an seinem Körper wieder hinaufstieg, als wäre sie ein Tier, das mit dem Schnabel picken wollte. Vorn an der Spitze bildeten sich zwei Auswüchse, beweglich wie die Fühler einer Schnecke...

Die Derwische hatten die Augen geschlossen und den Mund voller Geifer, und so begannen sie nun, immer noch pirouettierend, im Kreise rings um das Pendel zu tanzen, soweit es der Platz erlaubte, wobei es ihnen wundersamerweise gelang, das schwingende Pendel nicht zu berühren. Immer rasender wirbelnd, warfen sie ihre Hüte fort, um lange schwarze Haare flattern zu lassen, während ihre Köpfe davonzufliegen schienen. Dazu stießen sie lang gezogene Schreie aus, wie damals in Rio, houu houu houuuuu...

Die weißen Gestalten wurden allmählich deutlicher, eine von ihnen nahm vage menschliche Züge an, die andere war noch ein Phallus, eine Flasche, ein Destillierkolben, die dritte verwandelte sich immer klarer zu einem Vogel, einer Eule mit großer Brille und aufgestellten Ohren, der Schnabel gekrümmt wie bei einer alten Naturkundelehrerin.

Madame Olcott befragte die erste Gestalt: »Kelley, bist du's?« Und aus der Gestalt kam eine Stimme. Es war sicher nicht Theo Fox, der da sprach, es war eine ferne Stimme, die mühsam hervorstieß: »Now... I do reveale... a mighty Secret, if you marke it well... «

»Ja, ja«, insistierte die Olcott. Und die Stimme: »This very place is call'd by many names... Earth... Earth is the lowest element of All... When thrice yee have turned this Wheele about... thus my greate Secret I have revealed... «

Theo Fox machte eine Handbewegung, als wollte er um Gnade bitten. »Entspanne dich ein wenig, aber halte es aufrecht«, sagte Madame Olcott zu ihm. Dann wandte sie sich an die Gestalt der Eule: »Du bist Khunrath, ich erkenne dich. Was willst du uns sagen?«

Die Eule schien zu sprechen: »Hallelu-ja... Hallelu-ja. Was...«

»Was?«

»Was helffen Fackeln, Licht... oder Briln... so die Leut nit... sehen... wollen...«

»Wir wollen ja«, sagte Madame Olcott. »Sag uns, was du weißt...«

»Symbolen kósmou... ta antra... kaí tōn enkosmíōn... dynámeōn etíthento... hoi theológoi...

Auch Leo Fox war mit seinen Kräften am Ende, die Stimme der Eule wurde immer schwächer. Leo beugte den Kopf zurück und hielt die Gestalt nur noch mühsam aufrecht, doch unerbittlich forderte Madame Olcott ihn zum Durchhalten auf und wandte sich an die dritte Gestalt, die nun ebenfalls anthropomorphe Züge angenommen hatte. »Saint-Germain, Saint-Germain, bist du's? Was weißt du?«

Die Gestalt begann eine Melodie anzustimmen. Mit einer Handbewegung gebot Madame Olcott den Musikern, ihren Lärm einzustellen, während die Derwische nicht mehr heulten, aber fortfuhren, immer matter zu pirouettieren.

Die Gestalt sang: »Gentle love this hour befriends me... «

»Du bist es, ja, ich erkenne dich«, sagte Madame Olcott ermunternd. »Sprich, sag uns, wo, was...«

Und die Gestalt: »Il était nuit... La tête couverte du voile de lin... j'arrive… je trouve un autel de fer, j’y place le rameau mystérieux... Oh, je crus descendre dans un abîme... des galeries composées de quartiers de pierre noire... mon voyage souterrain...«

»Fälschung, Fälschung!« schrie Agliè. »Brüder, ihr alle kennt diesen Text, er ist aus der Très Sainte Trinosophie, ich selbst habe das geschrieben, jeder kann's nachlesen, für bloß sechzig Francs!« Er rannte zu Geo Fox und schüttelte ihn am Arm.

»Hör auf, du Betrüger!« schrie Madame Olcott. »Du bringst ihn ja um.«

»Und wenn schon!« schrie Agile und kippte das Medium vom Stuhl.

Geo Fox versuchte, sich an seiner eigenen Sekretion festzuhalten, die er mit sich zu Boden riss, wo sie sich auflöste und zerfloss. Er wälzte sich in dem Geifer, den er weiterhin ausspie, bis er steif wurde und leblos dalag.

»Aufhören, Narr!« schrie Madame Olcott und packte Agliè am Arm. Dann zu den beiden anderen Brüdern: »Haltet durch, meine Kleinen, sie müssen noch einmal sprechen. Kunrath, Khunrath, sag's ihm, sag, dass ihr echt seid!«

Leo Fox versuchte, die Eule wieder einzusaugen, um zu überleben. Madame Olcott trat hinter ihn und presste die Finger an seine Schläfen, um ihn unter ihren Willen zu zwingen. Die Eule bemerkte, dass sie im Verschwinden begriffen war, und wandte sich gegen ihren Erzeuger: »Phy, Phy, Diabolos!« zischte sie und versuchte ihm die Augen auszuhacken. Leo Fox stieß einen erstickten Schrei aus, als hätte man ihm die Kehle durchgeschnitten, und fiel auf die Knie. Die Eule verschwand in einer widerwärtigen Schlickpfütze (pfuii, pfuiii, machte sie), Leo stürzte kopfüber in die Pfütze, erstickte darin und blieb reglos liegen. Die Olcott fuhr wütend zu Theo herum, der tapfer standgehalten hatte: »Sprich, Kelly! Hörst du mich?«

Kelley sagte nichts mehr. Er versuchte, sich von seinem Erzeuger abzulösen, der nun aufbrüllte, als würden ihm die Eingeweide herausgerissen, und mit den Händen ins Leere griff, um zurückzuholen, was er hervorgebracht hatte. »Kelley, denk an deine abgeschnittenen Ohren«, rief die Olcott, »hüte dich, noch einmal falsch zu spielen!« Aber Kelley, dem es nicht gelang, sich von Theo zu trennen, versuchte ihn jetzt zu ersticken. Er war zu einer Art riesigem Kaugummi geworden, den der letzte Fox-Bruder vergeblich abzuschütteln versuchte. Dann stürzte auch Theo zu Boden, hustete, vermischte sich langsam mit seinem Auswurf, der ihn verschlang, und wälzte sich zappelnd am Boden, als würde er von Flammen verzehrt. Das, was Kelley gewesen war, legte sich über ihn wie ein Schweißtuch, zerfloss dann und ließ ihn leblos am Boden liegen, die andere Hälfte seiner selbst, die Mumie eines von Salon einbalsamierten Kindes. Im selben Augenblick blieben die vier tanzenden Derwische urplötzlich stehen, rissen die Arme hoch, verharrten ein paar Sekunden so, um dann zusammenzubrechen, winselnd wie Welpen, und sich die Hände vors Gesicht zu schlagen.

Agliè hatte sich unterdessen in den Chorumgang begeben, wischte sich den Schweiß von der Stirn mit dem kleinen Taschentuch, das seine Brusttasche zierte, holte zweimal tief Luft und steckte sich eine weiße Pille in den Mund. Dann hob er Ruhe gebietend die Hand.

»Brüder, Ritter. Ihr habt gesehen, was für Erbärmlichkeiten uns diese Frau hat vorsetzen wollen. Besinnen wir uns und kommen wir auf meinen Vorschlag zurück Gebt mir eine Stunde Zeit, den Gefangenen hinüberzubringen.«

Madame Olcott war ausgeschaltet, stumm beugte sie sich über ihre drei Medien in einem fast menschlichen Schmerz. Aber Pierre, der das Schauspiel vom Lehnstuhl aus verfolgt hatte, nahm jetzt die Situation wieder in die Hand. »Non!« sagte er entschieden. »Es gibt nur ein Mittel. Le sacrifice humain! Das Menschenopfer! Her mit dem Gefangenen!«

Hypnotisiert von seiner Energie packten die beiden Riesen Belbo, der die Szene reglos verfolgt hatte, und stießen ihn vor Pierre. Dieser, flink wie ein Taschenspieler, sprang auf, stellte den Stuhl auf den Tisch, schob diesen in die Mitte des Chorraums, packte das Pendel im Fluge und stoppte die Kugel, deren Gewicht ihn ein paar Schritte zurückweichen ließ. Es ging alles im Nu: Als folgten sie einem Plan — und vielleicht hatte es während des Durcheinanders ja wirklich eine Absprache gegeben —, sprangen die beiden Riesen auf den Tisch, hoben Belbo auf den Stuhl, der eine legte das Seil des Pendels zweimal um Belbos Hals, während der andere die Kugel hochhielt, um sie dann vorsichtig auf den Tischrand zu legen.

Bramanti stürzte sich vor diesen Galgen, glühend vor Majestät in seinem scharlachroten Mantel, und psalmodierte: »Exorcizo igitur te per Pentagrammaton, et in nomine Tetragrammaton, per Alpha et Omega qui sunt in spiritual Azoth. Saddai, Adonai, Jotchavah, Eieazereie! Michael, Gabriel, Raphael, Anael. Fluat Udor per spiritum Elohim! Maneat Terra per Adam Iot-Cavah! Per Samael Zebaoth et in nomine Elohim Gibor, veni Adramelech! Vade retro Lilith!«

Belbo stand aufrecht auf dem Stuhl mit dem Strick um den Hals. Die Riesen brauchten ihn nicht mehr festzuhalten. Wenn er nur eine einzige falsche Bewegung machte, würde er aus dieser labilen Position zu Boden stürzen, und die Schlinge würde ihn erdrosseln.

»Idioten!« schrie Agliè. »Wie bringen wir's jetzt wieder richtig in Gang?« Er dachte nur an die Rettung des Pendels.

Bramanti lächelte. »Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Herr Graf. Hier mischen wir nicht Ihre Tinkturen. Dies hier ist das Pendel, wie es von ihnen konzipiert worden ist. Es wird schon wissen, wie es zu pendeln hat. Und in jedem Falle: um eine Kraft zum Handeln zu bringen, ist nichts besser als ein Menschenopfer.«

Bis zu diesem Moment hatte Belbo gezittert. Jetzt sah ich ihn sich entspannen, ich sage nicht, sich beruhigen, aber er betrachtete nun die Szene mit Neugier. Ich glaube, in diesem Moment hatte er, angesichts des Streits zwischen seinen beiden Gegnern, vor sich die verrenkten Körper der drei Medien, rechts und links die noch keuchenden und zuckenden Derwische, dahinter die Insignien der aufgelösten Würdenträger, seine authentischste Gabe wiedergefunden: den Sinn für das Lächerliche.

In diesem Moment, ich bin sicher, beschloss er, sich niemals wieder angst machen zu lassen. Vielleicht gab ihm seine erhöhte Position ein Gefühl der Überlegenheit, während er diese Versammlung von Besessenen betrachtete, die sich da vor ihm eine Fehde wie im Kasperltheater lieferten, während im Hintergrund, fast schon im Eingangsraum, die kleinen Monster, die sich nicht mehr für das Geschehen im Chor interessierten, einander feixend Rippenstöße versetzten, wie Annibale Cantalamessa und Pio Bo.

Nur einmal schaute er besorgt zu Lorenza hinüber, die wieder von den zwei Riesen gehalten wurde und sich in heftigen Zuckungen wand. Sie hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Sie weinte.

Ich weiß nicht, ob Belbo beschlossen hatte, ihr seine Angst nicht zu zeigen, oder ob seine Entscheidung nicht eher die einzige Art war, in der er seine Verachtung für diese wüste Horde und seine Überlegenheit ausdrücken konnte. Er stand aufrecht, den Kopf erhoben, das Hemd offen über der Brust, die Hände im Rücken zusammengebunden, stolz, als hätte er niemals Angst empfunden.

Beruhigt durch Belbos Ruhe, jedenfalls resigniert den Stillstand des Pendels hinnehmend, noch immer begierig, das Geheimnis zu erfahren, vermeintlich am Ziel seiner lebenslangen (oder viele Leben langen) Suche, zugleich entschlossen, seine Anhänger wieder in die Gewalt zu bekommen, wandte Agliè sich erneut an Jacopo: »Kommen Sie, Belbo, besinnen Sie sich. Sie sehen doch, Sie befinden sich in einer, um das mindeste zu sagen, unangenehmen Lage. Also hören Sie auf mit Ihrem Theater.«

Belbo erwiderte nichts. Er schaute woandershin, als wollte er diskret ein Gespräch überhören, das ihm zufällig an die Ohren drang.

Agliè insistierte, konziliant, als spräche er mit einem Kind: »Ich verstehe ja Ihre Verärgerung und, wenn Sie gestatten, Ihre Reserve. Ich begreife, dass es Sie anwidert, ein so intimes und eifersüchtig bewahrtes Geheimnis nun einem Pöbel anzuvertrauen, der eben erst ein so wenig erbauliches Schauspiel gegeben hat. Eh bien, Sie können Ihr Geheimnis auch mir ganz allein anvertrauen, flüstern Sie mir's ins Ohr. Ich lasse Sie jetzt heruntersteigen, und ich weiß, dass Sie mir ein Wort sagen werden, ein einziges Wort.«

Und Belbo: »Sie meinen?«

Da wechselte Agliè den Ton. Zum ersten Mal sah ich ihn gebieterisch, priesterlich, hieratisch. Er sprach, als trüge er eines der ägyptischen Gewänder seiner Freunde. Ich bemerkte die Falschheit seines Tons, es schien, als parodierte er diejenigen, denen gegenüber er nie mit seiner nachsichtigen Verachtung gegeizt hatte. Zugleich aber sprach er mit der vollen Autorität seiner neuen Rolle. Aus irgendwelchen besonderen Gründen — denn es konnte nicht unbewusst sein — gab er der Szene einen melodramatischen Anstrich. Wenn er spielte, spielte er gut, denn Belbo schien keinen Betrug zu bemerken und hörte ihm zu, als ob er nichts anderes von ihm erwartet hätte.

»Jetzt wirst du sprechen«, sagte Agliè. »Du wirst sprechen und wirst nicht draußen bleiben in diesem Großen Spiel. Schweigst du, bist du verloren. Sprichst du, hast du teil an dem Sieg. Denn wahrlich, ich sage dir, diese Nacht bist du, bin ich, sind wir alle in Hod, der Sefirah des Glanzes, der Majestät und der Glorie, in Hod, das die zeremoniale und rituelle Magie regiert, in Hod, dem Augenblick, da sich die Ewigkeit auftut. Von diesem Augenblick habe ich jahrhundertelang geträumt. Du wirst sprechen und wirst dich mit den einzigen vereinen, die sich, nach deiner Enthüllung, als Herren der Welt bezeichnen können. Erniedrige dich, und du wirst erhöht werden. Du sprichst, weil ich es dir befehle, du sprichst, weil ich es sage, und meine Worte efficiunt quod figurant! (bewirken, was sie abbilden)«

Da sagte Belbo, nun unbesiegbar: »Ma gavte la nata...«

Agliè, der vielleicht auf eine Weigerung gefasst war, erbleichte ob der Beleidigung. »Was hat er gesagt?« fragte Pierre hysterisch. »Nichts, er wird nicht sprechen«, antwortete Agliè, breitete die Arme aus mit einer halb resignierten, halb herablassenden Gebärde und sagte zu Bramanti: »Er gehört euch.«

Und Pierre, außer sich: »Assez, assez, le sacrifice humain, le sacrifice humain!«

»Ja, sterben soll er, wir finden die Antwort auch so!« kreischte, ebenfalls außer sich, Madame Olcott, die wieder hervorgetreten war und sich nun auf Belbo stürzte.

Fast gleichzeitig bewegte sich Lorenza. Sie riss sich aus dem Griff der Riesen los, stellte sich vor Belbo unter den Galgen, breitete die Arme aus, wie um eine Invasion aufzuhalten, und schrie unter Tränen: »Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden, das könnt ihr doch nicht machen!« Agliè, der sich schon zurückziehen wollte, blieb einen Moment wie angewurzelt stehen, dann lief er zu ihr, um sie fortzuziehen.

Danach ging alles blitzschnell. Der Olcott war das Haar aufgegangen, fauchend und flammend wie eine Medusa fuhr sie mit gespreizten Krallen auf Agliè los, zerkratzte ihm das Gesicht und stieß ihn beiseite, Agliè taumelte rückwärts, stolperte über das Kohlebecken, pirouettierte um sich selbst wie ein Derwisch, schlug mit dem Kopf gegen eine Maschine und fiel mit blutüberströmtem Gesicht zu Boden. Im selben Augenblick stürzte sich Pierre auf Lorenza, zog im Sprung den Dolch aus der Scheide, die er vor der Brust trug, doch ich sah ihn jetzt nur von hinten und begriff nicht gleich, was geschah, aber dann sah ich Lorenza vor Belbos Füßen zusammensinken, wachsweiß im Gesicht, und Pierre, der triumphierend die Klinge hochhob und brüllte: »Enfin, le sacrifice humain!« Und zu der Menge im Kirchenschiff gewandt, mit voller Kraft: »I'a Cthulhu! I'a Sha-t'n!«

Mit einem Schlag geriet die Masse der Zuschauer in Bewegung, einige stürzten und wurden überrannt, andere drohten, die große Cugnot-Karosse umzustürzen. Ich hörte — zumindest glaube ich es, aber ein so groteskes Detail kann ich mir nicht eingebildet haben — die Stimme von Signor Garamond, der sagte: »Also bitte, Messieurs, ein Minimum an Anstand... « Bramanti kniete vor der Leiche Lorenzas und deklamierte ekstatisch: »Asar, Asar! Wer packt mich am Hals? Wer nagelt mich auf den Boden? Wer sticht in mein Herz? Ich bin unwürdig, die Schwelle des Hauses der Maat zu überschreiten!«

Vielleicht hatte es niemand gewollt, vielleicht sollte das Opfer Lorenzas genügen, doch inzwischen drängten sich die Akolythen in den magischen Kreis, der durch den Stillstand des Pendels zugänglich geworden war, und jemand — ich hätte geschworen, dass es Ardenti war — wurde im allgemeinen Getümmel gegen den Tisch gestoßen, der buchstäblich unter Belbos Füßen verschwand, wegbrach, während das Pendel durch die Wucht des Stoßes plötzlich und heftig zu schwingen begann, sein Opfer mitreißend. Das Seil, vom Gewicht der Kugel gestrafft, zog sich ruckartig wie ein Lasso um den Hals meines armen Freundes zusammen und riss ihn nach hinten in die Luft, und so schwang er am Pendel hängend ins östliche Ende des Chors, machte kehrt und schwang zurück, nun bereits leblos (hoffte ich), mir entgegen.

Die Menge wich übereinanderstolpernd an die Ränder des Kreises zurück, um dem Wunder Platz zu machen. Der Spezialist für die Schwingungen, berauscht von der Wiedergeburt des Pendels, sekundierte seinem Impetus, indem er direkt am Leib des Gehenkten agierte. Die Schwingungsachse bildete eine Diagonale von meinen Augen zu einem der Chorfenster, sicherlich dem mit dem Loch, durch das in wenigen Stunden der erste Sonnenstrahl hereinfallen sollte. Ich sah also Jacopo nicht vor mir pendeln, aber ich glaube, dass dies die Figur war, die er im Raum beschrieb...

Sein Kopf erschien wie eine zweite Kugel, eingefügt am Seil des Pendels zwischen Basis und Aufhängepunkt, und wenn die metallene Kugel nach rechts strebte, neigte sich Belbos Kopf — die andere Kugel — nach links, und umgekehrt. Lange gingen die beiden Kugeln auf diese Weise in entgegengesetzte Richtungen, so dass die Figur, die das Pendel in den Raum säbelte, nicht mehr eine Gerade war, sondern ein dreieckiges Gebilde. Doch während Belbos Kopf dem Zug des gespannten Seils folgte, zeichnete sein Leib — vielleicht zuerst noch im letzten Zucken, dann mit der spastischen Behändigkeit einer hölzernen Marionette — andere Bögen ins Leere, unabhängig vom Kopf, vom Seil und von der Kugel am unteren Ende, die Arme da, die Beine dort —, und mir war, als würde, hätte jemand die Szene mit einer Muybrigde-Kamera fotografiert, so dass jeder Augenblick als eine räumliche Folge von Positionen auf den Film gebannt worden wäre — also die beiden äußersten Punkte, an denen der Kopf sich bei jeder Schwingung befand, die beiden Punkte des Stillstands der Kugel, die ideellen Schnittpunkte der beiden Seile des Kopfes und der Kugel, beide unabhängig voneinander, und die Punkte dazwischen, markiert von den Enden der Schwingungsebene des Rumpfes und der Beine —, dann hätte, so schien mir, der am Pendel erhenkte Jacopo Belbo den Sefiroth-Baum ins Leere gezeichnet, hätte mithin in seinem letzten Moment die Geschichte sämtlicher Universen resümiert, hätte in seinem Schwingen und Pendeln die zehn Etappen des Ausströmens und Sich-Entleerens der Gottheit in die Welt festgehalten.

Dann, während der Mandrake fortfuhr, diese Totenschaukel in Gang zu halten, kam durch ein schauriges Zusammenspiel von Kräften, eine Wanderung von Energien, Belbos Leib zum Stillstand. Er hörte auf zu pendeln, das Seil mit der metallenen Kugel pendelte nur noch unter ihm, während er selbst und der Rest des Seils bis hinauf zum Schlussstein reglos verharrten. So war Belbo, dem Irrtum der Welt und ihrer Bewegung entronnen, nun selbst zum Aufhängepunkt geworden, zum Fixpunkt im Universum, dem Ort, an dem das Gewölbe der Welt sich festhält, und nur unter seinen Füßen schwang die Kugel weiter von einem Pol zum andern, friedlos, während die Erde sich unter ihm wegdrehte, immer neue Kontinente vorweisend — und weder wusste die Kugel zu zeigen, noch würde sie je zu zeigen wissen, wo sich der Nabel der Welt befand.

Während die Meute der Diaboliker, einen Moment lang erstarrt vor dem Wunder, erneut zu lärmen begann, sagte ich mir, dass die Geschichte nun wirklich zu Ende war. Wenn Hod die Sefirah der Größe ist, hatte Belbo seine Größe gehabt. Eine einzige unerschrockene Geste hatte ihn mit dem Absoluten versöhnt.


114



Das ideale Pendel besteht aus einem extrem dünnen Faden, der sich keiner Flexion oder Torsion widersetzt, von einer Länge L, an dessen Baryzentrum eine Masse befestigt ist. Für die Kugel ist das Baryzentrum der Mittelpunkt, für einen menschlichen Körper ist es ein Punkt auf 0,65 seiner Höhe, gemessen von den Füßen aufwärts. Wenn der Gehenkte 1,70 m groß ist, liegt das Baryzentrum 1,10 m über seinen Fußsohlen, und die Länge L enthält diese Höhe. Mit anderen Worten, wenn der Kopf vom Scheitel bis zum Hals 0,30 m lang ist, liegt das Baryzentrum auf der Höhe 1,70 -1,10 = 0,60 m unterhalb des Kopfes und 0,60 -0,30 = 0,30 m unterhalb des Halses des Gehenkten. Die Periode kleiner Schwingungen des Pendels, wie sie Huygens bestimmt hat, ist gegeben durch:

Notabene: T ist unabhängig vom Gewicht des Gehenkten (Gleichheit aller Menschen vor Gott)... Bei einem doppelten Pendel mit zwei Massen am selben Faden:... Verlagert man A, so schwingt A noch ein Weilchen und bleibt dann stehen, und es schwingt B. Haben die gekoppelten Pendel verschiedene Massen oder Längen, so schwingt die Energie vom einen zum andern, aber die Zeiten dieser Energieschwingungen sind nicht gleich... Dieses Hin-und Herpendeln der Energie erfolgt auch dann, wenn man A, statt es frei schwingen zu lassen, nachdem man es einmal verlagert hat, weiter periodisch mit einer Kraft verlagert. Mit anderen Worten, wenn der Wind in Böen auf den Gehenkten bläst, bewegt sich der Gehenkte nach einer Weile nicht mehr, und die Kugel schwingt, als wäre sie an dem Gehenkten aufgehängt.

Aus einem privaten Brief von Mario Salvadori, Columbia University, 1984


Ich hatte nichts mehr an diesem Ort zu suchen. Ich nutzte das Durcheinander, um die Statue von Gramme zu erreichen.

Der Sockel war noch offen. Ich schlüpfte hinein, stieg eine kurze Leiter hinunter und befand mich auf einem kleinen Absatz, der von einem Lämpchen beleuchtet wurde. Hier begann eine gemauerte Wendeltreppe, die mich in einen schwach beleuchteten, ziemlich hohen Gang hinunterführte. Zuerst erkannte ich nicht, wo ich war und woher das Schwappen und Plätschern kam, das ich hörte. Dann gewöhnten sich meine Augen an das Dämmerlicht, und mir ging auf: ich war in einem Abwasserkanal, ein Geländer schützte mich vor einem Fall ins Wasser, aber nicht vor einem widerwärtigen Gestank halb chemischer, halb organischer Herkunft. Wenigstens etwas von unserer ganzen Geschichte war also wahr: die Kloaken von Paris. Die von Colbert, von Fantomas, von de Caus?

Ich folgte dem größten Kanal, ließ die dunkleren Abzweigungen beiseite und hoffte, dass ein Signal mir anzeigen würde, wo ich meine unterirdische Flucht beenden konnte. Auf jeden Fall lief ich weit weg vom Conservatoire, und verglichen mit jenem Reich der Finsternis waren die Kloaken von Paris ein Labsal, Befreiung, frische Luft, Licht.

Ich hatte ein einziges Bild vor Augen: die rätselhafte Figur, die Belbos Leichnam in den Chor der Kirche gezeichnet hatte. Was war das für ein Symbol, welchem anderen Symbol entsprach es? Ich kam nicht darauf. Heute weiß ich, dass es sich um ein physikalisches Gesetz handelte, aber die Art, wie ich es erfahren habe, macht das Phänomen nur noch emblematischer. Hier in Belbos Landhaus, zwischen seinen Papieren, habe ich einen Brief gefunden, in dem ihm jemand, den er offenbar danach gefragt hatte, in mathematischen Termini erklärt, wie ein Pendel funktioniert und wie es sich verhalten würde, wenn an seinem Faden weiter oben ein zweites Gewicht befestigt würde. Demnach hatte Belbo, wer weiß, wie lange schon, mit dem Pendel sowohl die Vorstellung eines Sinai wie die eines Golgatha verbunden. Er war nicht als Opfer eines vor kurzem angefertigten Plans gestorben, er hatte seinen Tod seit langem in der Fantasie vorbereitet, ohne zu ahnen, dass diese seine Fantasie, während er sie für unkreativ hielt, die Wirklichkeit vorausplante. Oder nein, vielleicht hatte er auf diese Art sterben wollen, um sich und den anderen zu beweisen, dass, auch wenn man kein Genie hat, die Fantasie immer kreativ ist.

In gewisser Weise hatte Belbo, indem er verlor, gesiegt. Oder hat, wer sich einzig auf diese Art zu siegen verlegt, alles verloren? Alles verloren hat, wer nicht begriffen hat, dass der Sieg ein anderer gewesen war. Aber das hatte ich in jener Nacht noch nicht entdeckt.

Ich lief durch den Gang, amens wie Postel, vielleicht verirrt in derselben Finsternis wie er, und plötzlich kam das Signal. Eine hellere Lampe an der Mauer zeigte mir eine provisorische Leiter, die zu einer hölzernen Falltür hinaufführte. Ich probierte sie und gelangte in einen Kellerraum voller Kästen mit leeren Flaschen, dann in einen Gang mit zwei Türen, auf der einen das Männchen, auf der anderen das Weibchen. Die Welt der Lebenden hatte mich wieder.

Schwer atmend blieb ich stehen. Erst in diesem Augenblick dachte ich an Lorenza. Jetzt war ich es, der weinte. Aber sie war schon dabei, sich aus meinen Adern und Venen zu entfernen und zu entschwinden, als hätte sie nie existiert. Ich konnte mich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern. In jener Welt von Toten war sie die toteste.

Am Ende des Ganges fand ich eine Treppe, dann eine Tür. Ich trat in einen verräucherten, übel riechenden Raum, eine Taverne, ein Bistro, eine arabische Bar — dunkelhäutige Kellner, schwitzende Kunden, fettige Bratspießchen und

Bierkrüge. Ich trat aus der Tür wie einer, der schon vorher da gewesen war und nur eben pinkeln gegangen ist Niemand bemerkte mich, höchstens vielleicht der Mann an der Kasse, der mir, als er mich hinten auftauchen sah, kaum merklich ein Zeichen machte, indem er kurz die Augen zusammenkniff, wie um zu sagen, okay, alles klar, ich hab nichts gesehen.


115



Könnte das Auge die Teufel sehen, die das Universum bevölkern, das Dasein wäre unmöglich.

Talmud, Brachoth, 6


Ich trat auf die Straße und befand mich unter den Lichtern an der Porte Saint-Martin. Arabisch war das Lokal gewesen, arabisch waren die Läden ringsum, die noch geöffnet hatten. Geruch von Couscous und Falafel, dichtes Gedränge. Gruppen von Jugendlichen, hungrig, viele mit Schlafsack, ganze Scharen, ich kam gar nicht in eine Bar hinein, um etwas zu trinken. Ich fragte einen Jungen, was denn los sei. Die Demonstration, sagte er, am nächsten Tag sei doch die große Demonstration gegen das Hochschulgesetz von Savary. Sie kamen mit Bussen.

Ein Türke — ein Druse, ein verkleidetet Ismaelit — will mich in schlechtem Französisch in ein obskures Lokal locken. Niemals! Weg, weg von Alamut! Du weißt nie, wer in wessen Diensten steht. Trau keinem!

Ich gehe über die Kreuzung. Jetzt höre ich nur das Geräusch meiner Schritte. Vorteil der großen Städte: du gehst ein paar Meter und bist allein.

Doch plötzlich, nach ein paar Blöcken, links das Conservatoire, bleich in der Nacht. Von außen vollkommen friedlich. Ein Monument, das den Schlaf des Gerechten schläft. Ich gehe weiter in südlicher Richtung, zur Seine. Ich hatte ein Ziel, aber ich habe es nicht mehr deutlich vor Augen. Ich möchte jemanden fragen, was passiert ist.

Belbo tot? Der Himmel ist klar. Ich begegne einer Gruppe Studenten. Sie sind still, vom Genius loci erfaßt. Links die Silhouette von Saint-Nicolas-des-Champs.

Ich gehe die Rue Saint-Martin hinunter, überquere die Rue aux Ours, sie ist breit wie ein Boulevard, ich fürchte, ich verliere die Orientierung, die ich doch gar nicht mehr habe. Ich schaue mich um und sehe zu meiner Rechten, an der Ecke, die beiden Schaufenster der Editions Rosicruciennes. Sie sind dunkel, aber im Licht der Straßenlaternen und mit meiner Taschenlampe gelingt es mir, die Auslagen zu erkennen. Bücher und Gegenstände. Histoire des Juifs, Comte de Saint-Germain, Alchimie, Le Monde caché, Les Maisons secrètes de la Rose-Croix, Le Message caché des cathédrales, Katharer, Neues Atlantis, ägyptische Medizin, der Tempel von Karnak, Bhagavad Gita, Reinkarnation, rosicrucianische Kreuze und Leuchter, Isis-und Osirisbüsten, Weihrauch in Dosen und in Form von Tabletten, Tarotkarten. Ein Dolch, ein Brieföffner aus Zinn mit rundem Griff, darauf das Siegel der Rosenkreuzer. Was soll das, wollen die mich verhöhnen?

Ich überquere den Platz vor dem Centre Beaubourg. Bei Tag ist er ein Jahrmarkt, jetzt ist er fast leer, ein paar stille Grüppchen, Pennende, spärliche Lichter aus den umliegenden Brasserien. Es stimmt. Große Saugnäpfe, die Energie aus der Erde saugen. Vielleicht sollen die Massen, die tagsüber das Gebäude füllen, die nötigen Vibrationen liefern, die hermetische Maschine nährt sich von Frischfleisch.

Eglise de Saint-Merri. Gegenüber ein Buchladen, Librairie la Vouivre, zu drei Vierteln okkultistisch. Ich darf nicht hysterisch werden. Ich biege nach links in die Rue des Lombards ein, vielleicht um einer Schar skandinavischer Mädchen auszuweichen, die lachend aus einer noch offenen Taverne kommen. Still, wisst ihr nicht, dass auch Lorenza tot ist?

Aber ist sie denn tot? Und wenn ich nun tot wäre? Rue des Lombards: von da geht nach rechts die Rue Flamel ab, und am Ende der Rue Flamel erhebt sich weiß der Turm Saint-Jacques. An der Kreuzung die Librairie Arcane 22, Tarotkarten und Pendel. Nicolas Flamel, der Alchimist, dazu ein alchimistischer Buchladen und dieser Turm Saint-Jacques mit den großen weißen Löwen am Sockel, dieser unnütze spätgotische Turm an der Seine, nach dem auch eine esoterische Zeitschrift benannt worden ist. Pascal hat dort Experimente gemacht, um das Gewicht der Luft zu bestimmen, und noch heute gibt es dort oben in 52 Metern Höhe eine Wetterstation. Vielleicht hatten sie dort oben begonnen, ehe sie den Eiffelturm errichteten. Es gibt privilegierte Orte. Und niemand bemerkt sie.

Ich gehe zurück Richtung Saint-Merri. Von neuem lachende Mädchen. Ich will keine Leute mehr sehen, ich gehe um die Kirche herum, durch die Rue du Cloître Saint-Merri — eine Seitentür, alt, aus rohem Holz. Zur Linken öffnet sich ein Platz, die äußere Grenze des Beaubourg, taghell erleuchtet. Auf dem weiten Platz die Maschinen von Tinguély und andere bunte Apparaturen, die im Wasser eines Beckens oder künstlichen Teiches schaukeln, träge-tückisch mit Zahnrädern nickend, und im Hintergrund wieder das Röhrengerüst und die gähnenden Münder des Centre Beaubourg — wie eine verlassene Titanic vor einer efeuüberwucherten Mauer, gestrandet in einem Mondkrater. Wo einst die Kathedralen nicht weiterkamen, da wispern jetzt die großen transozeanischen Sprachrohre, im Kontakt mit den Schwarzen Jungfrauen. Entdecken kann sie nur, wer Saint-Merri zu umschiffen weiß. Und darum muß ich jetzt weitermachen, ich habe eine Spur gefunden, ich bin dabei, eine ihrer Spuren freizulegen, im Zentrum der Lichterstadt das Komplott der Finsterlinge!

Ich nehme die Rue des Juges Consules und stehe vor der Fassade von Saint-Merri. Ich weiß nicht warum, aber irgend etwas drängt mich, die Taschenlampe anzuknipsen und auf das Portal zu richten. Flamboyante Gotik, verschlungene Bögen.

Und plötzlich, während ich suche, was ich nicht zu finden erwarte, sehe ich ihn auf der Archivolte des Portals.

Baphomet. Genau da, wo die beiden Halbbögen sich vereinigen. Auf dem ersten prangt eine Taube des Heiligen Geistes mit einem Nimbus aus steinernen Strahlen, auf dem zweiten aber, umlagert von betenden Engeln, hockt er, der Baphomet, mit seinen gewaltigen Flügeln. An der Fassade einer Kirche. Schamlos.

Warum gerade hier? Weil wir nicht weit vom Tempel sind. Wo ist der Tempel, beziehungsweise das bisschen, was von ihm übrig geblieben ist? Ich kehre um, gehe zurück nach Nordosten und gelange zur Rue Montmorency. Die Nummer 51 ist das Haus von Nicolas Flamel. Zwischen dem Baphomet und dem Tempel. Der gewiefte Spagiriker wusste genau, auf wen es ankam. Mülleimer voller stinkendem Unrat vor einem Gebäude aus unbestimmter Zeit, Taverne Nicolas Flamel. Das Haus ist alt, sie haben es restauriert für die Touristen, für Diaboliker niedersten Ranges, Hyliker. Daneben eine American Bar mit einer Reklame für Apple-Computer: Secouez-vous les puces, Schüttelt euch die Flöhe ab — die Flöhe, sind das nicht die bugs, die Programmierfehler? Soft-Hermes. Dir Temurah.

Jetzt bin ich in der Rue du Temple, ich gehe sie hinauf und gelange zur Ecke der Rue de Bretagne, wo der Square du Temple liegt, ein kleiner Park, fahlweiß wie ein Friedhof, die Nekropole der geopferten Ritter.

Die Rue de Bretagne hinunter bis zur Ecke Rue Vieille du Temple. Im unteren Teil der Rue Vieille du Temple, nach der Kreuzung mit der Rue Barbette, gibt es kuriose Läden für Lampen in ausgefallenen Formen: als Enten, als Efeublätter. Zu ostentativ modern. Die narren mich nicht.

Rue des Francs-Bourgeois: ich bin im Marais, den kenne ich, gleich kommen die koscheren Metzgereien, was haben die Juden mit den Templern zu tun, wo wir doch nun geklärt haben, dass ihr Platz im Großen Plan den Assassinen aus Alamut zukam? Warum sind sie hier? Suche ich nach einer Antwort? Nein, vielleicht will ich nur weg vom Conservatoire. Oder ich strebe undeutlich zu einem Ziel, ich weiß, dass es nicht hier sein kann, und versuche mich zu erinnern, wo es sein mag, wie Belbo, der im Traum nach einer verlorenen Adresse suchte.

Ein obszöner Trupp kommt mir entgegen. Böse lachend okkupieren sie den Bürgersteig und zwingen mich, auf die Straße zu treten. Einen Moment lang denke ich, es sind Abgesandte des Alten vom Berge, die es auf mich abgesehen haben. Nein, sie verschwinden in der Nacht, aber sie redeten in einer fremden Sprache, irgendwie schiitisch zischelnd, oder talmudisch, koptisch wie eine Wüstenschlange.

Androgyne Gestalten in langen Mänteln kommen daher. In rosenkreuzerischen Mänteln. Sie gehen vorbei, biegen ab in die Rue de Sévigné. Es ist tiefe Nacht mittlerweile. Ich bin aus dem Conservatoire geflohen, um die Stadt der Normalen wiederzufinden, und nun merke ich, dass die Stadt der Normalen wie eine Katakombe angelegt ist, mit besonderen Routen für die Initiierten.

Ein Betrunkener. Vielleicht tut er nur so. Trau keinem nie. Ich komme an einer noch offenen Bar vorbei, die Kellner mit den knöchellangen Schürzen stellen gerade die Tische und Stühle zusammen. Ich trete rasch an den Tresen, sie geben mir noch ein Bier. Ich kippe es runter und bestelle ein zweites. »Ganz schön durstig, eh?« sagt einer von ihnen. Aber ohne Wärme, argwöhnisch. Klar habe ich Durst, seit fünf Uhr nachmittags habe ich nichts getrunken, aber man kann auch Durst haben, ohne die Nacht unter einem Pendel verbracht zu haben. Blöde Kerle. Ich zahle und gehe, ehe sie sich meine Züge einprägen können.

Und plötzlich bin ich an der Ecke der Place des Vosges. Ich gehe unter den Arkaden entlang. Was war das noch gleich für ein alter Film, in dem die einsamen Schritte des irren Messerstechers Mathias nachts über die Place des Vosges hallten? Ich bleibe stehen. Höre ich Schritte hinter mir? Natürlich nicht, auch sie sind stehen geblieben. Ein paar Vitrinen würden genügen, um diese Arkaden in Säle des Conservatoire zu verwandeln.

Niedrige Renaissance-Decken, Rundbögen, Galerien für alte Stiche, Antiquitäten, Möbel. Place des Vosges, so geduckt mit den alten Portalen, rissig und abbröckelnd und leprös, hier gibt es Leute, die sich seit Jahrhunderten nicht fortbewegt haben. Leute mit gelben Kitteln. Ein Platz, wo nur Taxidermisten wohnen. Die gehen nur nachts aus. Die kennen den beweglichen Pflasterstein, den Schacht, durch den man in den Mundus Subterraneus eindringt. Vor aller Augen.

L'Union de Recouvrement des Cotisations de sécurité sociale et d'allocations familiales de la Patellerie numéro 75, unité 1. Eine neue Tür, vielleicht leben hier reiche Leute, aber gleich daneben kommt eine alte Tür, abgeblättert wie ein Haus in der Via Sincero Renata, dann in Nummer 3 eine frisch renovierte Tür. Wechsel von Hylikern und Pneumatikern. Die Herren und ihre Knechte. Und hier ist mit Brettern zugenagelt, was einmal ein Torbogen gewesen sein muß. Klar, hier war ein okkultistischer Buchladen, der jetzt nicht mehr da ist. Ein ganzer Block ist evakuiert worden. Über Nacht ausgezogen. Wie Agliè. Jetzt wissen sie, dass jemand Bescheid weiß, sie fangen an, ihre Spuren zu verwischen.

Ich bin am Eingang der Rue de Birague. Ich schaue zurück und sehe die Reihe der Arkaden, endlos, ohne eine lebende Seele, es wäre mir lieber, sie wäre dunkel, aber da ist das gelbe Licht der Laternen. Ich könnte laut schreien, und niemand würde mich hören. Lautlos hinter den geschlossenen Fenstern, aus denen kein Lichtstrahl dringt, würden die Taxidermisten grinsen in ihren gelben Kitteln.

Doch nein, auf dem Pflaster vor den Arkaden stehen parkende Autos, und gelegentlich huscht ein Schatten vorbei. Was den Ort freilich nicht anheimelnder macht. Ein großer schwarzer Schäferhund läuft vor mir über die Straße. Ein schwarzer Hund allein in der Nacht? Und wo ist Faust? Vielleicht hat er den treuen Wagner losgeschickt, um mit dem Hund Gassi zu gehen.

Wagner. Das war der Gedanke, der mir dunkel im Kopf herumging. Doktor Wagner, der ist's, den ich brauche. Er wird mir sagen können, ob ich deliriere, ob es Gespenster sind, die ich sehe. Er wird mir sagen können, dass nichts von alledem wahr ist, dass Belbo lebt und dass die Gruppe Tres nicht existiert. Welche Erleichterung, wenn ich krank wäre!

Ich verlasse den Platz fast rennend. Ein Auto folgt mir. Nein, vielleicht sucht es nur einen Parkplatz. Ich stolpere über Müllsäcke aus Plastik. Das Auto hält und parkt ein. Es war nicht hinter mir her. Ich bin auf der Rue Saint-Antoine, halte Ausschau nach einem Taxi. Da kommt eins, wie herbeibeschworen.

»Sept, Avenue Elisée Reclus«, sage ich.


116



Je voudrais être la tour, pendre à la Tour Eiffel.

(Ich möchte der Turm sein, am Eiffelturm hängen.)


Blaise Cendrars


Ich wusste nicht, wo das war, und ich wagte nicht den Fahrer danach zu fragen, denn wer um diese Zeit ein Taxi nimmt, will entweder nach Hause oder ist mindestens ein Mörder. Im übrigen knurrte der Fahrer grimmig, das Zentrum sei immer noch ganz voll von diesen Studenten, überall parkende Busse, eine Sauerei sei das, wenn's nach ihm ginge, gehörten sie alle an die Wand gestellt, auf jeden Fall sei es besser, im großen Bogen außen herum zu fahren. Er hatte Paris praktisch ganz umkreist, als er mich schließlich vor dem Haus Nummer sieben in einer einsamen Straße absetzte.

Es gab keinen Doktor Wagner in Nummer sieben. Dann war's vielleicht die Nummer siebzehn? Oder siebenundzwanzig? Ich machte zwei, drei Versuche, dann überlegte ich: Selbst wenn ich das richtige Haus gefunden hätte, wollte ich etwa wirklich um diese Zeit den Doktor Wagner aus dem Bett klingeln, um ihm meine Geschichte zu erzählen? Ich war aus demselben Grund hier gelandet, aus dem ich von der Porte Saint-Martin bis zur Place des Vosges geirrt war. Ich war auf der Flucht. Und jetzt war ich von dem Ort geflohen, zu dem ich auf der Flucht aus dem Conservatoire geflohen war. Ich brauchte keinen Psychoanalytiker, ich brauchte eine Zwangsjacke. Oder eine Schlafkur. Oder Lia. Daß sie meinen Kopf hielte, ihn fest zwischen ihre Brust und ihre Achsel drückte und leise sagte, ich solle ruhig sein.

Hatte ich überhaupt zu Doktor Wagner gewollt, oder war das, was ich suchte, nicht eher die Avenue Elisée Reclus gewesen? Denn jetzt erinnerte ich mich: auf den Namen war ich im Zuge meiner Lektüre für den Großen Plan gestoßen, es war jemand, der im vorigen Jahrhundert ich weiß nicht mehr welches Buch über die Erde geschrieben hatte, über den Untergrund und die Vulkane, jemand, der unter dem Vorwand, wissenschaftliche Geografie zu betreiben, die Nase in den Mundus Subterraneus gesteckt hatte. Einer von ihnen also. Ich war auf der Flucht vor ihnen und fand mich doch ständig von ihnen umgeben. Stück für Stück hatten sie im Laufe von wenigen hundert Jahren ganz Paris besetzt. Und den Rest der Welt.

Ich musste zurück ins Hotel. Würde ich hier noch ein Taxi finden? Womöglich war ich jetzt irgendwo draußen in der Banlieue. Ich ging in die Richtung, in der ich den Nachthimmel etwas heller und offener sah. Die Seine?

Und da, als ich an die Ecke kam, sah ich ihn.

Links von mir. Ich hätte mir denken können, dass er da war, dass er da irgendwo in der Nähe lauerte, in dieser Stadt enthalten die Straßennamen unverkennbare Botschaften, man wird immer vorgewarnt, mein Pech, dass ich nicht darauf geachtet hatte.

Da stand er, der metallene Riesenmenhir auf den Beinen einer grässlichen eisernen Spinne, das Symbol und Instrument ihrer Macht! Ich hätte fliehen sollen, statt dessen zog es mich zu dem Gitternetz hin, ich hob und senkte den Kopf, denn aus dieser Nähe konnte ich das Monster nicht mehr mit einem einzigen Blick erfassen, ich war praktisch innen drin, zersäbelt von seinen tausend scharfen Kanten, ich fühlte mich bombardiert von Drahtnetzen, die allseits herunterfielen, hätte das Riesentier sich nur ein kleines bisschen bewegt, es hätte mich zerquetschen können mit einer seiner Meccano-Pranken.

Der Eiffelturm. Ich war an dem einzigen Punkt der Stadt, an dem man ihn nicht von weitem sieht, im Profil, wie er sich freundlich über das Meer der Dächer erhebt, leicht wie auf einem Bild von Dufy. Er ragte direkt vor mir auf, er schwebte über mir. Ich erahnte seine Spitze, aber nachdem ich ihn einmal umkreist hatte, trat ich unter ihn, zwischen die Beine, und sah die Strumpfbänder, den Bauch, die Genitalien, erahnte die verschlungenen Gedärme, die sich schwindelerregend nach oben mit der Speiseröhre vereinten in seinem polytechnischen Giraffenhals. Perforiert wie er war, hatte er die Macht, das Licht ringsum zu verdunkeln, und je nachdem, wie ich mich bewegte, bot er mir in verschiedenen Perspektiven verschiedene Rautenformen als Rahmen für Zooms in die Dunkelheit.

Rechts war jetzt im Nordosten, noch niedrig über dem Horizont, eine Mondsichel aufgegangen. Manchmal rahmte der Turm sie mir ein, so dass sie aussah wie eine optische Täuschung, ein fluoreszierender Lichtreflex auf einem der rautenförmigen Bildschirme, die sein Gitterwerk bildete, aber ich brauchte bloß einen Schritt zu tun, schon änderte sich die Form der Bildschirme und die Mondsichel war nicht mehr da, hatte sich irgendwo zwischen den metallenen Rippen verfangen, das Tier hatte sie verschluckt, verdaut, in einer anderen Dimension aufgehen lassen.

Tesserakt. Vierdimensionaler Kubus. Jetzt sah ich durch einen Bogen ein blinkendes Licht, nein zwei, ein rotes und ein weißes, sicher ein Flugzeug auf dem Weg nach Roissy oder Orly, was weiß ich. Aber gleich darauf — hatte ich mich bewegt, oder das Flugzeug, oder der Turm? — waren die Lichter hinter einer Rippe verschwunden, ich wartete, um sie im nächsten Rahmen wieder auftauchen zu sehen, und sie blieben verschwunden. Der Turm hatte hundert Fenster, die alle beweglich waren, und jedes ging auf ein anderes Segment der Raum-Zeit. Seine Rippen formten keine euklidischen Kurven, sie zerrissen das Gewebe des Kosmos, verkehrten Katastrophen, blätterten Seiten paralleler Welten um.

Wer hatte gesagt, dass diese Nadel-Fiale von Notre-Dame de la Brocante dazu diene, Paris am Plafond des Universums aufzuhängen, »suspendre Paris au plafond de l'univers«? Im Gegenteil, der Eiffelturm lässt das Universum an seiner Spitze schweben — natürlich, schließlich ist er das Gegenstück zum Pendel!

Wie hatte man ihn genannt? Einsames Suppositorium, hohler Obelisk, Triumph des Eisendrahtes, Apotheose des Pfeilers, luftiger Götzenaltar, Biene im Herzen der Windrose, trist wie eine Ruine, hässlicher nachtfarbener Koloss, missgestaltes Symbol einer nutzlosen Kraft, absurdes Wunder, sinnlose Pyramide, Gitarre, Tintenfass, Teleskop, langatmig wie eine Ministerrede, antiker Gott und moderne Bestie... Dies alles und andres war er, und wenn ich den sechsten Sinn der Herren der Welt gehabt hätte, so hätte ich, nun, da ich eingebunden war in seine polypenverkrusteten Stimmbänder, ihn heiser die Sphärenmusik wispern hören, der Turm war in diesem Moment dabei, Wellen aus der hohlen Erde zu saugen und sie an alle Menhire der Welt auszusenden. Rhizom vernagelter Gelenke, zervikale Arthrose, Prothese einer Prothese — was für ein Horror, von da, wo ich war, hätten sie, um mich in den Abgrund zu schmettern, mich zur Spitze hinaufschleudern müssen. Sicher kam ich gerade von einer Reise durchs Zentrum der Erde zurück, ich schwankte noch im antigravitationalen Taumel der Antipoden.

Nein, wir hatten nicht fantasiert, der Turm erschien mir jetzt als der unheimliche Beweis für die Wahrheit des Großen Plans, aber bald würde er merken, dass ich der Spion war, der Feind, das Sandkorn in dem Getriebe, dessen Abbild und Motor er war, und dann würde er unmerklich eine Raute seiner bleiernen Klöppelspitzen nach unten verlängern und mich aufschlucken, ich würde in einer Falte seines Nichts verschwinden wie vorhin das Flugzeug, transferiert in ein Anderswo.

Wäre ich nur noch ein wenig länger da unter seiner durchbrochenen Wölbung geblieben, seine großen Krallen hätten sich zusammengezogen, hätten sich wie Klauen um mich gebogen und mich zermalmt, und dann hätte das Tier wieder seine übliche tückische Position eingenommen: als ein mörderischer und sinistrer Bleistiftanspitzer.

Noch ein Flugzeug. Diesmal kam es von nirgendwoher, der Turm hatte es zwischen seinen fleischlosen mastodontischen Wirbeln erzeugt. Ich betrachtete ihn, er nahm kein Ende, wie das Projekt, für das er geboren war. Wenn ich geblieben wäre, ohne verschlungen zu werden, hätte ich seine Veränderungen verfolgen können, seine langsamen Umdrehungen, seine infinitesimalen De-und Rekompositionen unter dem kalten Anhauch der Strömungen, vielleicht verstanden die Herren der Welt ihn als eine geomantische Zeichnung zu deuten, in seinen unmerklichen Metamorphosen hätten sie eindeutige Signale gelesen, unnennbare Aufträge. Der Turm drehte sich über mir wie ein Schraubenzieher des Mystischen Pols. Oder nein, er stand unbeweglich da wie ein magnetisierter Zapfen und ließ das Himmelsgewölbe um sich rotieren. Das Schwindelgefühl war dasselbe.

Wie gut der Turm sich zu tarnen weiß, sagte ich mir: Aus der Ferne winkt er dir freundlich zu, aber wenn du dich ihm näherst und in sein Geheimnis einzudringen versuchst, tötet er dich, er lässt deine Knochen gefrieren, einfach indem er den sinnlosen Horror vorzeigt, aus dem er gemacht ist. Jetzt weiß ich, dass Belbo tot ist und dass der Große Plan wahr ist, denn wirklich und wahr ist der Turm. Wenn es mir nicht gelingt zu fliehen, noch einmal zu fliehen, kann ich es niemandem sagen. Ich muß Alarm schlagen!

Motorengeräusch. Halt, zurück in die Realität. Ein Taxi, es kam sehr rasch näher. Mit einem Sprung gelang es mir, mich aus dem magischen Kreis zu retten, ich winkte mit beiden Armen, fast wäre ich unter die Räder gekommen, weil der Fahrer erst im letzten Augenblick bremste, als ob er es ungern täte... Unterwegs gestand er mir dann, dass auch ihm, wenn er nachts vorbeikomme, der Turm angst mache, und dann gebe er Gas. »Warum?« fragte ich. »Parce que... parce que ça fait peur, c’est tout. (Weil... das macht angst, das ist alles.)

Kurz darauf war ich am Hotel, aber ich musste lange klingeln, bis mir ein schläfriger Nachtportier aufmachte. Jetzt erst mal schlafen, sagte ich mir. Alles weitere morgen. Ich nahm ein paar Tabletten, genug, um mich zu vergiften. Dann erinnere ich mich an nichts mehr.


117



Die Narrheit hat ein großes Zelt; Es lagert bei ihr alle Welt, Zumal wer Macht hat und viel Geld.

Sebastian Brant, Das Narrenschiff, 46


Um zwei Uhr nachmittags wachte ich auf, benommen und steif. Ich erinnerte mich genau an alles, aber nichts sagte mir, ob das, was ich in Erinnerung hatte, wirklich geschehen war. Im ersten Moment wollte ich hinunterlaufen, um nur Zeitungen zu holen, aber dann sagte ich mir, dass in jedem Fall, selbst wenn eine Kompanie von Spahis gleich nach dem Geschehen das Conservatoire gestürmt hätte, die Meldung nicht mehr rechtzeitig für die Morgenblätter gekommen wäre.

Außerdem hatte Paris an diesem Tag anderes im Kopf. Der Portier sagte es mir sofort, als ich zum Kaffeetrinken herunterkam. Die Stadt sei in Aufruhr, viele Metrostationen seien geschlossen, an einigen Stellen habe die Polizei gewaltsam gegen die Menge vorgehen müssen, die Studenten seien zu viele und manche gingen zu weit.

Im Telefonbuch fand ich die Nummer von Doktor Wagner. Ich probierte sie, aber natürlich war er am Sonntag nicht in seiner Praxis. Ich musste sowieso erst ins Conservatoire, um mich zu vergewissern, und Sonntag nachmittags war es ja offen.

Das Quartier Latin brodelte. Lärmende Gruppen mit Fahnen zogen vorbei. Auf der Ile de la Cité war eine Polizeisperre. In der Ferne hörte man Schüsse. So ähnlich musste es Achtundsechzig gewesen sein. In Höhe der Sainte Chapelle hatte es Zoff gegeben, es roch nach Tränengas. Ich hörte Geschrei und Getrappel, es klang wie ein Angriff, ich wusste nicht, ob es Studenten waren oder die Flics, die Leute um mich herum fingen an zu rennen, wir flüchteten uns hinter eine Absperrung mit einem Polizeikordon davor, während es auf der Straße zu Handgreiflichkeiten kam. Was für eine Schande: da war ich nun unter den bejahrten Bourgeois, die abwarteten, dass die Revolution sich legte!

Dann war der Weg frei, ich ging durch Nebenstraßen im alten Hallenviertel, bis ich wieder zur Rue Saint-Martin gelangte. Das Conservatoire war geöffnet, friedlich stand es da mit seinem kleinen weißen Vorhof, an der Fassade die Plakette: »Le Conservatoire des Arts et Métiers, institué par décret de la Convention du 19 Vendémiaire An III... dans le bâtiment de l’ancien prieuré de Saint-Martin-des-Champs fondé au 11ème siècle.« Alles normal, mit einer kleinen sonntäglichen Menge, die sich im Eingang drängte, unbeeindruckt von der studentischen Kirmes.

Ich trat ein — sonntags gratis —, und alles war wie am Nachmittag zuvor. Die Wärter, die Besucher, das Pendel an seinem gewohnten Ort... Ich suchte nach Spuren dessen, was geschehen war, aber wenn es geschehen war, hatte jemand gewissenhaft sauber gemacht. Wenn es geschehen war.

Ich weiß nicht mehr, wie ich den Rest des Nachmittags verbrachte. Ich weiß nicht mal mehr, was ich sah, als ich durch die Straßen irrte, immer wieder gezwungen, in Seitengassen abzubiegen, um Tumulten auszuweichen. Ich rief in Mailand an, nur um nichts unversucht zu lassen, wählte beschwörend, wie um das Unheil zu bannen, erst Belbos Nummer, dann die von Lorenza. Dann die des Verlags, wo um diese Zeit niemand sein konnte.

Und dabei, wenn jetzt noch heute ist, war das alles erst gestern gewesen. Aber von vorgestern Abend bis heute Nacht ist eine Ewigkeit vergangen.

Gegen Abend merkte ich, dass ich Hunger hatte. Ich wollte Ruhe, nur Ruhe und ein bisschen Komfort. Am Forum des Halles fand ich ein Restaurant, das mir Fisch versprach. Es bot dann sogar zu viel davon. Mein Tisch stand genau vor einem Aquarium. Eine hinreichend irreale Welt, um mich erneut in ein Klima des absoluten Argwohns zu stürzen. Nichts ist zufällig. Der Fisch da sieht aus wie ein asthmatischer Hesychast, der den Glauben verliert und Gott anklagt, den Sinn des Universums verringert zu haben. Oh, Herre Zebaoth, Zebaoth, wie kannst du nur so gemein sein, mich glauben zu machen, dass du nicht existierst? Wie ein Krebsgeschwür breitet das Fleisch sich über die Welt... Und jener andere Fisch da, der sieht aus wie Minnie, er klappert mit langen Wimpern und zieht eine herzförmige Schnute. Min-nie ist die Verlobte von Mickymaus. Ich esse salade folle mit einer Scholle so zart wie Babyfleisch. Mit Honig und Pfeffer. Die Paulizianer sind unter uns. Der Fisch dort gleitet durch die Korallen wie das Flugzeug von Breguet — lange Flügelschläge wie ein Lepidopterus, hundert zu eins, dass er seinen Homunkulus-Fötus verlassen am Grund eines gläsernen Kolbens erspäht hat, in einem Athanor, der nun zerbrochen im Müll vor dem Haus von Nicolas Flamel liegt. Und dort drüben ein Templerfisch, ganz in Schwarz gepanzert, auf der Suche nach Noffo Dei. Er streift den asthmatischen Hesychasten, der gedankenverloren und grimmig dem Unsagbaren entgegenschwimmt. Ich wende den Blick ab, sehe durchs Fenster, und auf der anderen Straßenseite fällt mir das Schild eines anderen Restaurants ins Auge, CHEZ R... Rose-Croix? Reuchlin? Rosispergius? Ratschkowskiragotzitzarogi? Signaturen, Signaturen...

Überlegen wir mal. Die einzige Art, den Teufel in Verlegenheit zu bringen, ist bekanntlich, ihn glauben zu machen, dass man nicht an ihn glaubt. An meiner nächtlichen Flucht durch Paris war überhaupt nichts Ungewöhnliches, auch nicht an meiner Vision des Eiffelturms. Aus dem Conservatoire zu kommen, nach allem, was ich dort gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte, und die Stadt als einen einzigen Albtraum zu erleben, war normal. Aber was hatte ich im Conservatoire gesehen?

Ich musste unbedingt mit Doktor Wagner sprechen. Keine Ahnung, wieso ich mir in den Kopf gesetzt hatte, dies werde das Allheilmittel sein, aber so war es. Sprechtherapie.

Wie habe ich den restlichen Abend verbracht? Ich glaube, ich bin in ein Kino gegangen, wo The Lady From Shanghai von Orson Welles gezeigt wurde. Als die Szene mit den Spiegeln kam, habe ich's nicht mehr ausgehalten und bin gegangen. Aber vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht habe ich das nur geträumt.

Heute morgen um neun habe ich dann bei Doktor Wagner angerufen. Der Name Garamond half mir, die Barriere der Sekretärin zu überwinden, der Doktor schien sich an mich zu erinnern, und angesichts der Dringlichkeit meines Falles, die ich ihm zu verstehen gab, sagte er, ich solle gleich kommen, um halb zehn, vor den anderen Patienten. Er klang freundlich und verständnisvoll.

Habe ich auch den Besuch bei Doktor Wagner nur geträumt? Die Sekretärin ließ sich meine Personalien geben, legte eine Karteikarte an und kassierte das Honorar. Zum Glück hatte ich das Ticket für den Rückflug schon in der Tasche.

Ein Sprechzimmer in bescheidenen Dimensionen, ohne Couch. Fenster zur Seine, links die Silhouette des Eiffelturms. Doktor Wagner empfing mich mit professioneller Liebenswürdigkeit — recht so, dachte ich, schließlich war ich jetzt nicht einer seiner Lektoren, sondern ein Patient. Mit einer weitausholenden Geste ließ er mich vor seinem Schreibtisch Platz nehmen, wie ein Chef, der einen Angestellten empfängt. »Et alors?« sagte er, gab seinem Drehsessel einen Stoß und kehrte mir den Rücken zu. Den Kopf hielt er gebeugt und die Hände, wie mir schien, gefaltet. Mir blieb nichts anderes mehr, als zu sprechen.

Und ich sprach, ich redete wie ein Wasserfall, ich holte alles hervor, von Anfang bis Ende — was ich vor zwei Jahren gedacht hatte, was ich letztes Jahr dachte, was ich dachte, dass Belbo gedacht hätte, und Diotallevi. Vor allem aber, was in der Johannisnacht passiert war.

Wagner unterbrach mich kein einziges Mal, nickte nie, gab weder Zustimmung noch Missbilligung zu erkennen. So wie er dasaß, hätte er in tiefen Schlaf gesunken sein können. Aber das musste seine Technik sein. Und ich sprach und sprach. Sprechtherapie.

Dann wartete ich, dass er sprach, wartete auf sein erlösendes Wort.

Wagner stand auf, sehr langsam. Ging, ohne mich anzusehen, um den Schreibtisch herum und trat ans Fenster. Blieb dort stehen und sah hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt, gedankenverloren.

Schweigend, zehn, fünfzehn Minuten lang.

Dann, ohne sich umzudrehen, in einem neutralen, gelassenen, beruhigenden Ton: » Monsieur, vous êtes fou. (Mein Herr, sie sind verrückt).«

Er blieb reglos, ich ebenfalls. Nach weiteren fünf Minuten begriff ich, dass nichts mehr kommen würde. Ende der Sitzung.

Ich ging grußlos hinaus. Die Sekretärin schenkte mir ein breites Lächeln, dann stand ich wieder auf der Avenue Elisée Reclus.

Es war elf. Ich holte meine Sachen aus dem Hotel und fuhr zum Flughafen raus, auf gut Glück. Ich musste zwei Stunden warten, und währenddessen rief ich im Verlag an, mit R-Gespräch, weil ich kein Geld mehr hatte. Gudrun war am Apparat, sie schien noch begriffsstutziger als gewöhnlich, ich musste ihr dreimal laut zurufen, sie solle ja sagen, oui, yes, sie nehme das Gespräch an.

Sie schluchzte: Diotallevi war am Samstag um Mitternacht gestorben.

»Und keiner, keiner von seinen Freunden war heute morgen bei der Beerdigung, so eine Schande! Nicht mal der Signor Garamond, er ist angeblich auf einer Auslandsreise. Nur ich, die Grazia, Luciano und ein Herr ganz in Schwarz, mit Bart und gelockten Koteletten und einem großem Hut, sah aus wie ein Totengräber. Gott weiß, wo der herkam. Aber wo stecken Sie denn, Casaubon? Und wo ist Belbo? Was ist passiert?«

Ich murmelte ein paar wirre Entschuldigungen und hängte ein. Mein Flug wurde aufgerufen, ich musste an Bord.


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