»Und woher weißt du das?«, fragte er schließlich.


Thomas beugte sich wieder vor. »Weil ich dich kenne«, sagte er kaum vernehmlich. »Wir wollen beide dasselbe. Und ich glaube, dass du alle wachrütteln kannst. Du hast doch Leute, oder? Anhänger? Leute, die an dasselbe glauben wie du? Leute, die tun, was nötig ist?«


Wajid sagte kein Wort. Das war höchstwahrscheinlich eine Falle und er würde auf keinen Fall hineintappen.


»Du traust mir noch nicht, und das ist gut so. Ich hatte nichts anderes erwartet. Warte einfach ab, was ich tun kann. Ich hol dich hier raus. Und dann bekommst du, was du brauchst«, sagte Thomas. »Du suchst die Ziele aus, und ich sorge dafür, dass deine Leute dorthin gebracht werden. Du musst nur die richtigen auswählen und ihnen zeigen, wo’s langgeht. Kannst du das tun, Wajid?«


»Hältst du mich für blöd?«, sagte Wajid und lehnte sich mit verächtlichem Blick zurück. »Du redest einen Haufen Scheiße. Willst mir eine Falle stellen. Aber ich bin kein Idiot.«


»Ich auch nicht«, sagte Thomas und schob Wajid einen Anstecker mit dem Buchstaben »I« darauf hin. Wajid runzelte die Stirn; so einen Anstecker hatte er schon mal irgendwo gesehen. Der Gefängniswärter räusperte sich und in dem Moment fiel es Wajid wieder ein. Er hatte auch einen. »Heute Abend wirst du von einem Bombenanschlag erfahren. Das sind meine Leute. Und morgen wird dein Anwalt dich aufsuchen und dir von neuem Beweismaterial erzählen. Lass mir eine Nachricht zukommen, ob du dabei bist. Die neuen Beweise werden ausreichen, um dich hier rauszuholen und dich zu entlasten. Falls du nicht mitmachst, wirst du hier drin verrotten. Kapiert?«


Geschickt ließ Wajid den Anstecker in seinem Ärmel verschwinden. Dann starrte er Thomas einen Moment lang an. »Wenn es so ist, wie du sagst, überlege ich es mir vielleicht«, sagte er und stand auf. »Wenn nicht, solltest du dich lieber in Acht nehmen. Ich habe immer noch Freunde da draußen.«


»Davon gehe ich aus«, erwiderte Thomas mit einem Augenzwinkern und erhob sich. »Auf Wiedersehen, Wajid. Bis bald.«



13


Lucas sah auf Clara hinunter. Es war am nächsten Morgen, und Clara hatte, seit sie in Base Camp angekommen waren, fast nur geschlafen. Sie wirkte so verletzlich, wie sie da in dem Bett lag, das Martha ihr hergerichtet hatte. Ihre Eltern in der Stadt waren bestimmt schon ganz verzweifelt, und bestimmt waren schon Suchtrupps unterwegs. Und sie war hier ganz allein, weit weg von ihren Freunden und von ihrer Familie und ohne Kontakt zu ihnen. Aber sie war in Sicherheit.


Clara schlug die Augen auf und Lucas reichte ihr eine Schale mit Müsli. »Hier«, sagte er steif. »Frühstück.«


Schweigend nahm Clara die Schale. Lucas sah ihr an, wie ängstlich, wie verwirrt und unsicher sie war, und er konnte es ihr nicht verdenken.


»Das ist Martha«, sagte er und trat einen Schritt zur Seite, damit Clara sie sehen konnte. »Sie wird sich um dich kümmern.« Seine Stimme klang förmlich, und er merkte, dass es sie nervös machte, aber er konnte nichts dagegen tun.


Claras Augen weiteten sich. »Und was ist mit Ihnen?«


»Ich muss los und jemanden suchen. Ich …« Lucas verstummte. Er war sich nicht sicher, wie viel er Clara erzählen sollte; ehrlich gesagt wusste er selbst nicht genau, was er wollte. Er räusperte sich. »Ich muss dafür sorgen, dass die Spitzel die Stadt verlassen und dass ihnen der Prozess gemacht wird. Du bist hier sicher.«


Clara nickte bedächtig.


Martha trat vor, setzte sich aufs Bett und nahm Claras Hand. »Wir werden viel Spaß haben«, meinte sie augenzwinkernd. »Es wird dir in Base Camp gefallen. Und wenn es so weit ist, wird Lucas zurückkommen, und du wirst in die Stadt zurückkehren und allen die Wahrheit erzählen. Okay?«


Clara nickte eifrig, sah zu Thomas auf und suchte nach Bestätigung. Thomas nickte ebenfalls. Dabei fragte er sich, wie Martha es schaffte, Trost zu spenden, beruhigende Worte zu finden und so zu tun, als ob alles ganz einfach wäre.


Er konnte auch nie mit Evie reden. In all den Jahren, in denen er sich nach ihr gesehnt hatte, hatte er es nicht fertiggebracht, auch nur einen einzigen Satz zu sagen, der nicht gezwungen, förmlich und distanziert klang. Kein Wunder, dass sie ihn die ganze Zeit gehasst hatte; er hatte die Verachtung in ihrem Blick ganz genau gesehen. Und er hatte ihr deswegen keinen Vorwurf gemacht. Er hatte sich ja selbst verachtet.


Manchmal wünschte er, er hätte es dabei belassen. Manchmal wünschte er, er hätte sich ihr nicht offenbart, hätte nicht ihren veränderten Blick bemerkt, nicht ihre Lippen auf seinen gespürt und sich nicht vorgestellt, wie schön das Leben sein könnte.


»Okay«, sagte er, rang sich ein Lächeln ab und überlegte, ob er eine Geste machen, Clara die Hand schütteln oder ob er ihr die Schulter drücken sollte. Schließlich entschied er sich dagegen.


»Komm zu mir, bevor du gehst«, sagte Martha, als Lucas sich anschickte, den Raum zu verlassen. »Ich muss dir noch den Weg beschreiben. Ich darf nichts aufschreiben, deshalb müssen wir alles gründlich durchsprechen.«


Lucas trödelte nicht herum. Es gab keinen Grund. Stattdessen duschte er kurz, packte etwas Proviant zusammen und lauschte aufmerksam Marthas Anweisungen. Dann verließ er Base Camp, bevor die anderen Männer von der Arbeit zurückkamen. Martha hatte sich alle Mühe gegeben, Lucas die Füße zu verbinden, aber da er mit den bandagierten Füßen nicht in seine Schuhe passte, hatte sie die Verbände widerstrebend wieder abgenommen, und nun scheuerte das Leder seiner Schuhe an den offenen roten Blasen.


Marthas Wegbeschreibung war kompliziert, aber einwandfrei – ohne sie hätte Lucas Linus nie gefunden. Fast genau zwei Stunden, nachdem er Base Camp verlassen hatte, erreichte Lucas die felsigen Hügel, nach denen er Ausschau halten sollte. Dann ging er im Uhrzeigersinn darum herum, bis er eine etwa drei Meter breite Öffnung entdeckte, die in die Höhle führte. Offenbar war das Linus’ neues Zuhause.


Unsicher betrat Lucas den Tunnel und ging los. Es war feucht und im Halbdunkel stolperte er mehrmals über irgendwelche Gesteinsbrocken. Nach ungefähr 300 Metern blieb er stehen, weil der unterirdische Gang plötzlich nach rechts abbog.


»Linus. Ich bin’s, Lucas«, rief er schließlich.


Er wartete.


»Linus. Ich bin’s, Lucas«, rief er nach einer Weile noch einmal. Wieder keine Antwort.


Lucas bog um die Ecke und begann zu laufen. Hatten die Spitzel Linus entdeckt? Nein, unmöglich. Aber wo war er dann? Martha hatte ihm gesagt, dass Linus die Höhle nie verließ. Der Boden unter seinen Füßen war mit feuchtem Schlamm bedeckt und rutschig. Er streckte die Hände aus und tastete sich an den Wänden entlang. In dem Tunnel war es fast dunkel; das wenige Licht ließ den Fels leuchten, aber man konnte nicht einmal kurz erkennen, was ein paar Meter weiter war.


Nachdem Lucas mehrmals ausgerutscht war, ließ er sich auf Hände und Knie sinken und kroch auf allen vieren über den feuchten Boden. Alle paar Minuten sagte er sich, dass er den falschen Tunnel genommen hatte und dass er lieber umkehren sollte, aber er kroch trotzdem weiter. Es war der richtige Tunnel. Er hatte Marthas Anweisungen genau befolgt. Lucas bemühte sich, seine Ängste abzuschütteln, während er weiterkroch. Er schürfte sich die Handflächen und die Knie an den Steinen auf, doch er achtete nicht auf den Schmerz. Er musste Linus finden.


Lucas streckte die Hand aus und fasste auf einmal ins Leere, und sein Körper, der sich mit dem ganzen Gewicht auf die Hände stützen wollte, kippte nach vorn. Verzweifelt schob Lucas sich zurück, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Dann blickte er mit offenem Mund in den Abgrund vor ihm. Sechs Meter unter ihm tauchte etwas auf, das ihn an die Schaltzentrale des Systems in der Stadt erinnerte. Große Computer mit flimmernden Bildschirmen, Stühle, Schreibtische … Und an einem davon saß Linus mit einem mehrere Zentimeter langen Bart. Linus’ Hand schoss in die Höhe.


»Lucas«, sagte er, ohne aufzusehen. »Gib mir noch eine Minute, okay? Ich bin gerade mitten in einer Sache.«


Lucas starrte mit offenem Mund auf ihn hinunter. »Linus?«, keuchte er.


»Nur eine Minute«, warf Linus in leicht gereiztem Ton ein.


Lucas runzelte die Stirn und zählte stumm bis drei, eine Methode, die er vor vielen Jahren erlernt hatte und die er regelmäßig, oft mehrmals am Tag, anwandte, um Reaktionen zu unterdrücken, die ihm ansonsten Probleme bereiten würden. Tausende Ungerechtigkeiten; Tausende vom Bruder auf arrogante Weise gefällte Pauschalurteile; Tausende Beleidigungen, die gegen seinen Vater und seinen Bruder gerichtet waren; Hunderte Treffen mit Evie, bei denen das, was er tun wollte, und das, was er tun konnte, meilenweit auseinanderklaffte. Bis drei zählen war für ihn eine Art Mantra, eine kleine Meditationsübung, die seine Nüchternheit, seine Gleichgültigkeit, seine Distanziertheit und seinen Panzer von ihm abfallen ließ.


Aber im Moment brachte es gar nichts, bis drei zu zählen. »Mitten in einer Sache?« Lucas blickte zweifelnd, drehte sich um und ließ sich in die Tiefe hinabgleiten. Die letzten Meter überwand er mit einem Sprung und landete dort, wo Linus über einen Bildschirm gebeugt saß. »Mitten in einer Sache?« Innerlich vor Wut schäumend, aber äußerlich ganz cool wie immer, trat er neben Linus. »Ich dachte, dir sei etwas passiert«, sagte er leise. »Ich habe nach dir gerufen, aber du hast nicht geantwortet.«


»Jetzt nicht, bitte«, sagte Linus noch einmal und hob die Hand, wie ein Vater es bei seinem Kind tun würde. »Gib mir noch zwanzig Sekunden.«


Linus wandte den Blick nicht vom Computer. Verblüfft kam Lucas Linus’ Bitte nach. Während er wartete, sah er sich noch einmal in dem Raum um, und allmählich trat an die Stelle der Wut Fassungslosigkeit, als er die Technik und die Größe von Linus’ neuer Wirkungsstätte bestaunte.


»Fertig«, sagte Linus plötzlich und stand auf. »Also, Lucas, was kann ich für dich tun?«


Er lächelte nervös, als wäre Lucas nur mal eben auf eine Tasse Tee vorbeigekommen und als hätten sie sich erst gestern das letzte Mal gesehen.


Lucas war verwirrt, und fast hätte er vergessen, warum er überhaupt hier war. Er kannte Linus zwar erst seit Kurzem, aber zuvor hatten sie jahrelang heimlich miteinander kommuniziert, und davor hatte Lucas’ Vater mit Linus in Kontakt gestanden. Trotzdem hatte Lucas jetzt das Gefühl, als stünde er einem völlig Fremden gegenüber.


»Ich …« Es hatte keinen Sinn. Sein Blick wanderte wieder umher. »Was ist das für ein Ort?«, fragte er. »Wie bist du … ich meine…was ist das hier?«


»Toll, nicht?« Linus grinste und setzte sich wieder. »Ich nenne es mein Hauptquartier.«


»Aber außer dir ist hier niemand.«


»Stimmt.« Linus’ Augen leuchteten. »Ich bin der Boss, und es ist niemand da, der mir in die Quere kommen könnte. Perfekt, findest du nicht?« Lucas wusste genau, was Linus meinte – er träumte selbst manchmal davon, ganz allein zu sein und sich nicht mit anderen Leuten, mit deren Problemen, dem Misstrauen und den Versuchen, ihn auszubooten, herumschlagen zu müssen. Aber er sagte nichts. Linus schien Lucas’ Schweigen nicht zu bemerken, oder es kümmerte ihn nicht. »Also, dann verrat mir jetzt doch, warum du hier bist, denn ich habe nicht viel Zeit. Ich hab viel zu tun. Okay?« Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl vor dem Computer.


Lucas nickte ernst. »Es sind Fremde in der Stadt«, sagte er und ging in die Hocke, damit er mit Linus auf gleicher Höhe war. »Mörder. Sie machen mit dem Bruder gemeinsame Sache, unterstützen ihn, bieten ihm Nahrungsmittel und Schutz, und wer weiß, was sonst noch. Ein paar Jugendliche sind in dem alten Krankenhaus zufällig auf sie gestoßen, und sie … sie haben alle umgebracht. Bis auf ein Mädchen. Sie ist jetzt bei Martha in Base Camp. Und …«


»Und?«


Lucas holte tief Luft. Er hatte eigentlich nicht näher auf die andere Sache eingehen wollen, von der Clara ihm erzählt hatte; er hatte sich gesagt, dass sie nur flohen, um Clara zu schützen. Aber es hatte noch einen anderen Grund gegeben, weshalb sie die Stadt sofort verlassen mussten. »Als die jungen Leute die Spitzel entdeckten, sprachen die gerade über …« Er atmete noch einmal tief durch. »Sie sagten, sie müssten Raffy finden. Sie bräuchten ihn, um das System wieder anzuschalten.«


Lucas sah Linus an und wartete auf dessen Reaktion. Aber Linus schien nicht im Entferntesten schockiert, überrascht oder gar wütend zu sein, er nickte nur gedankenverloren.


»Sie sind in der Stadt, oder? Und sie interessieren sich für das System? Nun, das erklärt, warum …« Linus brach stirnrunzelnd ab. Dann wandte er sich wieder dem Computer zu und begann zu tippen. Nach einer Weile trat Lucas näher. »Also?«, fragte er.


»Also was?«


»Darum muss ich Raffy und Evie finden«, sagte Lucas. »Ich muss mich vergewissern, dass sie in Sicherheit sind, und dann werde ich in die Stadt zurückgehen und die Spitzel suchen. Es wird ihnen noch leidtun, was sie getan haben.« Seine Augen funkelten vor Zorn.


Linus hob die Augenbrauen. »Okay, wenn du darauf bestehst. Aber da, wo Raffy jetzt ist, ist er vollkommen sicher. Wahrscheinlich könnte er hier kaum sicherer sein. Du kannst ihn hierher bringen, wenn du willst, wenn er verspricht, keinen Lärm zu machen. Wenn ich mich in der Zwischenzeit darauf verlassen kann, dass du selbst nicht die Absicht hast, das System neu zu starten, dann ist die Angelegenheit damit erledigt.«


Lucas verengte die Augen und Linus wurde ein wenig blass. »Und danke, dass du es mir erzählt hast«, sagte er schnell. Offenbar dachte er, Lucas würde sich über seine schlechten Manieren ärgern. »Das ist sehr hilfreich. Wirklich sehr hilfreich.«


Lucas stand aus der Hocke auf. »Linus, hast du mir denn nicht zugehört? Innerhalb der Stadtmauer sind junge Leute ermordet worden. Der Bruder muss darin verwickelt sein, weil die Spitzel vom Torwächter in die Stadt hineingelassen wurden. Sie liefern schon seit Jahren Lebensmittel und Vorräte.«


»Aus den anderen Gemeinden und Siedlungen im Land. Ja, ich weiß«, sagte Linus besorgt. »Aber mich interessiert eher, woher sie kommen, wo ihre Basis ist. Denn im Moment ergibt das alles keinen Sinn.« Linus starrte angestrengt auf seinen Computer. »Schön, dich zu sehen, Lucas. Dahinten ist übrigens ein Bad, falls du Bedarf hast. – Und da findest du Raffy.«


Linus kritzelte etwas auf ein Stück Papier, gab es Lucas und wandte sich wieder seinem Computer zu. Lucas starrte auf den Fetzen Papier. »Ist das alles, was du zu sagen hast?«


Linus atmete geräuschvoll aus. »Gibt es denn noch etwas zu sagen?«, fragte er. »Lucas, ich bin keine Armee, sondern nur ein einzelner Mann. Ich könnte versuchen, dir zu helfen, aber ich bezweifle, dass ich dabei nützlicher wäre als, sagen wir mal, Angel. Genau genommen wäre ich noch weniger nützlich als Angel. Bitte doch ihn um Hilfe, er begibt sich immer gern auf sinnlose Expeditionen, bei denen nichts herauskommt, außer dass sie verhindern, dass er verrückt wird. Ich habe jedenfalls eine Menge zu tun. Und wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern weitermachen.«


Lucas beobachtete mit offenem Mund, wie Linus sich wieder seinem Computer zuwandte.


»Ich brauche nicht deine Hilfe«, erklärte er verbittert, »ich will, dass du dich kümmerst.«


»Das tue ich doch«, versicherte Linus. »Absolut. Ach, du kommst übrigens nicht auf demselben Weg hinaus, auf dem du hereingekommen bist. Strikter Einbahnverkehr. Du musst den Gang da entlanggehen.« Er deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Wenn du zu der Öffnung kommst, musst du ein bisschen klettern, aber das schaffst du schon. Du musst nur aufpassen, dass du nach rechts und nicht nach links gehst.«


Lucas schüttelte entrüstet den Kopf. »Du hast es anscheinend nicht kapiert, oder? Wir sind dafür verantwortlich. Wir haben das System abgeschaltet. Oder besser gesagt, du hast es getan, und ich habe es zugelassen, weil ich dir geglaubt habe. Und jetzt sind sieben junge Leute tot. Und du … du hockst hier vor deinem Computer, als ob das gar nicht wichtig wäre. Aber es ist wichtig. Und ich werde etwas dagegen tun.« Er wollte schon losgehen, blieb dann aber stehen.


»Du weißt genau, dass ich alles riskiert habe, um damals in der Stadt mit dir in Kontakt zu bleiben«, sagte er plötzlich und ging wieder zurück zu Linus. »Und vor mir hat mein Vater alles riskiert. Ich dachte, die Stadt bedeutet dir etwas.«


»Natürlich«, erwiderte Linus erstaunt. »Das System war mir wichtig, und es zu zerstören, war mir wichtig.« Er sah Lucas mit ernster Miene an. »Aber das ist jetzt erledigt. Es gibt andere Dinge, denen ich mich widmen muss. Es gibt Fragen, auf die ich keine Antwort habe und die ich nicht verstehe.«


»Welche zum Beispiel?«, fragte Lucas mit eisigem Blick. »Was ist wichtiger als Menschen, die brutal ermordet und vor der Stadtmauer den Aasgeiern zum Fraß vorgeworfen werden? Was ist wichtiger als die Entdeckung, dass der Bruder außerhalb der Stadt, die völlig autark sein sollte, Verbündete hat? Verbündete, von denen ich bis gestern nichts wusste? Verbündete, die über das System Bescheid wissen und die kommen und gehen können, wie es ihnen beliebt? Linus, hörst du mir eigentlich zu? Verstehst du denn nicht, wie wichtig das ist?«


Linus atmete tief aus und sah Lucas besorgt an. »Natürlich ist es wichtig«, erwiderte er. »Aber ehrlich gesagt weiß ich es schon. Nicht alles, aber genug, um die meisten Puzzleteile zusammenzufügen. Ich verstehe, dass du wütend und frustriert bist, aber ich habe das große Ganze im Blick.«


»Das große Ganze?« Lucas packte Linus am Kragen und zerrte ihn vom Stuhl hoch. »Du weißt das alles und hast mir nichts gesagt? Du hast zugelassen, dass sie die jungen Leute umbringen, und hast nichts getan?«


»Ich wusste nicht, was sie in der Stadt wollten«, keuchte Linus, als Lucas ihn wieder auf den Stuhl fallen ließ. »Ich … ich habe nicht darüber nachgedacht.«


»Worüber hast du denn nachgedacht?«, wollte Lucas wissen. Mit unerschrockenem Blick beugte er sich über Linus. Er kochte vor Wut. »Sag’s mir. Worüber hast du nachgedacht, Linus?«


Linus schien einen Moment zu überlegen. Dann schob er seinen Stuhl zur Seite, zog noch einen heran und bedeutete Lucas, Platz zu nehmen. Lucas lehnte ab.


»Schau her«, sagte Linus und deutete auf den Bildschirm. Es war eine Landkarte. Linus drückte eine Taste, das Bild vergrößerte sich und zeigte ein Stück Land, das Lucas sofort wiedererkannte. Dort stand der Baum, wo Evie und Raffy sich früher immer getroffen hatten, der Baum, wo er selbst erst neulich abends gewesen war. »Ganz schön clever, was?« Linus grinste. »Alte Software, aber der Satellit ist immer noch am Himmel. Es hat eine Weile gedauert, bis er wieder funktionstüchtig war. Er erkennt Aktivitäten, Bewegungen, aktive Computerchips. Ziemlich cool, findest du nicht?«


Lucas sah verwirrt auf die Landkarte. Schließlich trat er näher, und seine Wut legte sich allmählich. Es war unglaublich. Absolut unglaublich. »Du kannst die Stadt beobachten?«, flüsterte er. »Mithilfe des Satelliten können wir die Spitzel aufspüren, sie fassen und vor Gericht stellen.«


Linus verzog das Gesicht. »Vielleicht. Aber ich interessiere mich weniger für die Stadt als für das, was woanders passiert«, erklärte er.


»Ja, das hast du ziemlich klargemacht«, meinte Lucas. »Aber ich interessiere mich für die Stadt.«


Linus drückte eine weitere Taste; die Landkarte wurde kleiner, und statt des Stückchens Land sahen sie jetzt die gesamte Stadt. Linus drückte die Taste erneut und die gewaltigen Umrisse des Vereinigten Königreichs wurden sichtbar. Lucas konnte nicht fassen, was er da sah; bisher kannte er Landkarten nur aus alten Büchern, aber jetzt hatte er sie direkt vor sich.


»Es ist seltsam«, entgegnete Linus.


»Seltsam?«


»Seltsam«, wiederholte Linus. »Sieh mal, hier.«


Er scrollte quer hinüber zur Ostküste und deutete auf ein bestimmtes Gebiet. »Siehst du das?«, fragte er Lucas.


Lucas nickte.


»Da fehlt ein Stück«, erklärte Linus.


»Was heißt fehlt?« Lucas zog die Stirn in Falten. »Was meinst du damit?«


»Ich meine, dass dort ein Stück herausstehen müsste«, erklärte Linus geduldig. »Es hieß früher Margate. Und jetzt ist es nicht mehr da.«


Lucas überlegte. »Vielleicht wurde es während der Schreckenszeit zerstört.«


»Ein ganzer Landstrich? Unmöglich. Übrigens ist das nicht das einzig Merkwürdige. Die Satelliten melden keinerlei Aktivitäten außerhalb Großbritanniens.«


Lucas sah Linus verwundert an. »Aber der Rest der Welt wurde in der Schreckenszeit zerstört. Warum sollte es dann irgendwelche Aktivitäten geben?«


»Stimmt«, sagte Linus. »Aber wenn dort Insekten am Boden krabbeln, würde der Satellit sie wahrnehmen. Es ist doch ziemlich unwahrscheinlich, dass die ganze Welt in Schutt und Asche gelegt wurde, bis auf unsere hübsche Insel, das musst du doch zugeben, oder?«


»Unwahrscheinlich, aber möglich«, erwiderte Lucas.


»Okay, aber das erklärt nicht, warum in Margate keinerlei Aktivität zu erkennen ist. Oder auch in Ramsgate. Nettes Fleckchen, dieses Margate. Und jetzt ist es verschwunden. Oder besser gesagt, der Satellit denkt, es sei verschwunden. Aber ich weiß, dass es noch da ist, weil ich Angel losgeschickt habe, damit er nachschaut. Es gibt dort eine neue kleine Gemeinschaft. Allem Anschein nach ein Zeltlager. Deshalb stellt sich mir die Frage, warum sie dort sind und wie es kommt, dass ich sie oder den Ort, von dem sie gekommen sind, nicht sehen kann.«


Linus’ Gesicht war auf einmal todernst und Lucas blickte nachdenklich auf den Bildschirm. »Glaubst du, es sind die Spitzel?«, fragte er leise.


»Könnte sein«, meinte Linus.


»Dann haben wir ein gemeinsames Interesse«, sagte Lucas und wandte sich Linus zu.


»Vielleicht«, erwiderte Linus mit matter Stimme.


Lucas schaute ihm in die Augen. »Linus, hier in dieser Höhle kannst du keine Probleme lösen.«


»Nicht, wenn du mich ständig störst«, meinte Linus verschmitzt.


Lucas packte ihn bei den Schultern. »Linus, diese Spitzel wollen das System wieder in Gang setzen. Deshalb sind sie hier. Oder jedenfalls ist das ein Grund. Wer sind diese Leute? Ich werde es herausfinden und ich werde sie aufhalten. Und du kannst mir dabei helfen.«


Linus sah ihn eine Weile an, dann stand er erschöpft auf. »Du weißt, dass ich hierhergekommen bin, um allein zu sein?«, sagte er mit einem tiefen Seufzer.


Lucas gab keine Antwort.


Linus schob seinen Stuhl zurück. »Also, wenn wir wieder gemeinsam in die Schlacht ziehen, sollte ich dir vielleicht eine Tasse Tee anbieten? Ich hätte auch noch ein Stück Obstkuchen, wenn du möchtest.«


Lucas runzelte die Stirn, dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen. »Da sage ich nicht Nein. Danke.«


»Keine Ursache«, sagte Linus. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, seine Augen begannen wieder zu funkeln, und leichtfüßig begab er sich in die Küche. »Du solltest dir das ansehen«, meinte er. »Angel hat mich richtig verwöhnt. Es ist wie ein richtiges Zuhause weg von Zuhause …«



14


Devil bemerkte sofort die Farben. Das leuchtende Rot, das sich von dem grauen Betonboden abhob; der strahlend blaue Himmel hinter den monströsen grauen Wolkenkratzern. Es war ganz unwirklich, es war so, als wäre es gar nicht passiert.


Aber es war passiert.


»Wie lange liegt er schon da?«, fragte Devil mit scheinbar ruhiger Stimme, so als wäre alles in Ordnung.


»Keine Ahnung«, erwiderte Nelson. »Vielleicht zehn Minuten. Ich hab ihn schreien hören. Davon bin ich aufgewacht. Ich bin nach draußen gegangen, und …« Nicht nur seine Stimme zitterte. Mist. Nelson zitterte am ganzen Körper. Devil musste das sofort klären. Nicht weil Nelson sein Freund war. Er hatte hier keine Freunde. Das konnte er sich nicht leisten, und er wollte es auch nicht. Er war jetzt ein anderer; hier ging es ums Überleben und Freunde waren nur Ballast.


Aber Nelson war so etwas wie sein Stellvertreter. Jeden anderen, der ihn um fünf Uhr morgens geweckt hätte, hätte er umgebracht. Aber es war nicht irgendjemand; es war Nelson. Deshalb hatte er ihm zugehört und war ihm auf den winzigen Balkon hinausgefolgt, der sich um die Wohnungen herumzog, um einen Blick auf die Leiche dort unten zu werfen. Kaum hatte er sie gesehen, hatte er nicht den Jungen, sondern den leblosen Körper seiner Schwester auf dem Asphalt vor Augen gehabt. Wut und Reue waren in ihm hochgestiegen, und das Gefühl der Trauer war so stark gewesen, dass es ihn zu verzehren und aus ihm eine Jammergestalt zu machen drohte. Doch er hatte sich gerade noch zusammengerissen, bevor Nelson es bemerkte. Devil hatte seine Emotionen im Zaum gehalten und rasch umgelenkt. Die Trauer war der Wut auf den Jungen gewichen. Auf diesen dummen toten Jungen. Er hätte nützlich sein können. Er hätte etwas aus sich machen können, und stattdessen … stattdessen hatte er für Ärger gesorgt, eine Show abgezogen, ein Problem geschaffen.


»Warum hat man ihn überhaupt freigelassen?«, fragte er und gab insgeheim schon der Polizei die Schuld an allem. »Eigentlich sollte er noch im Gefängnis sein. Glaubst du, er hat den Bullen erzählt, was sie hören wollten?«


Nelson zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Sie haben ihn auf Kaution freigelassen, weil er noch so jung ist, Ersttäter. Seine Mum hat ihn abgeholt.« Nelson räusperte sich. »Sie war mit den Nerven fertig und meinte, er müsste seine Schwester im Krankenhaus besuchen.«


Devil musste an den Blick seiner Mutter denken, als sie von der Sache mit Leona erfuhr. Er hatte sie nicht wiedererkannt; es war, als hätte sie sich in ein wildes Tier oder so etwas verwandelt.


»Was soll‘s«, meinte er schließlich achselzuckend und wandte sich rasch ab. Er fühlte sich eingeengt und elend, er musste jetzt allein sein, um gegen eine Wand zu schlagen, um irgendjemanden zu schlagen. »Jedenfalls müssen wir uns jetzt keine Sorgen mehr machen, dass er auspackt«, sagte Devil schroff. »Okay?«


»Okay«, erwiderte Nelson, aber Devil wusste nur zu gut, dass überhaupt nichts okay war.


»Das ändert überhaupt nichts«, sagte er und wandte sich Nelson zu. Sein Blick war düsterer als sonst. Devil sah Nelson prüfend an. »Es ist nicht unsere Schuld. Das hat nichts mit uns zu tun, okay?« Nelson nickte, aber Devil sah ihm an, dass er nicht überzeugt war. »Der Junge war schwach, Nelson«, fügte Devil rasch hinzu. »Er kam nicht klar mit dem Leben. Aber wir kommen klar. Wir sind stark. Wir sind auf dem Weg nach oben, wir tun was. Die ganze Welt liegt uns zu Füßen, okay? Okay?«


Nelson nickte wieder. »Die ganze Welt liegt uns zu Füßen«, wiederholte er.


Devil klopfte ihm auf die Schulter. »Es war richtig, dass du es mir gesagt hast.«


»Sollen wir ihn einfach da liegen lassen?«


Devil überlegte hin und her: Sollten sie seiner Mutter Bescheid sagen oder die Polizei rufen? »Wir müssen von hier verschwinden«, sagte er schließlich. »Wenn die Bullen uns hier finden, bringen sie uns vor Gericht und stellen es so hin, als wenn es kein Unfall gewesen wäre. Geh nach Hause und schlaf ein bisschen. Wir reden später darüber, ja?«


»Okay«, sagte Nelson und schob die Hände in die Taschen. »Bis später dann.«


Nelson marschierte davon. Devil wusste, dass er dasselbe tun sollte, aber er konnte nicht. Noch nicht. Er konnte den Blick nicht von dem Jungen wenden. Es sah aus, als wäre er in einen Farbtopf gefallen. Komisch, dass Blut so rot war. Die meisten Farben hatten eine Bedeutung. Seine Mutter hatte ihm das in Hertfordshire beigebracht, als sie noch nicht arbeiten musste und sich nur um den Haushalt kümmerte. Damals hatte sie viel gelacht und ihn einfach mal so auf die Stirn geküsst. »Siehst du die Blume da?«, hatte sie gesagt. »Ihre Farbe leuchtet deshalb so, weil sie damit Bienen anlocken will, weißt du?«


Sie hatte leuchtende Farben geliebt. Das Haus war voll davon. Teller mit Blumenmuster, Bilder an den Wänden, sogar das Sofa war leuchtend rosa. Sein Dad hatte einen Anfall bekommen, als er es das erste Mal sah. Eine Weile hatte Stille geherrscht, und es hatte so ausgesehen, als bekäme er einen seiner Wutausbrüche. Aber dann hatte er es mit Humor genommen und ihr erklärt, dass sie sich keine Sorgen machen müsste und dass es okay sei.


Jetzt hatten sie ein beschissenes braunes Sofa, das Flecken hatte und das unbequem war.


Inzwischen redete sie nicht mehr, sie saß nur da und starrte ins Leere, ohne sich darum zu kümmern, ob er überhaupt noch lebte.


Sie war keine Siegerin. Sie war eine Verliererin. Sie hatte Leona verloren, seinen Dad und sich selbst.


Devil musste sich regelrecht dazu zwingen, den Balkon zu verlassen, über den man zu den Wohnungen gelangte, und in den winzigen Raum zurückzukehren, den seine Mutter als Wohnzimmer bezeichnete, obwohl niemand hier in der Umgebung wusste, was damit gemeint war. Es war der Raum, wo sie auf dem Sofa saßen und Dosenspaghetti auf Toast aßen – aber nur an den Tagen, an denen sich seine Mutter die Mühe machte, irgendeine Mahlzeit zusammenzurühren. Devil fand seine Mum auf dem Sofa liegend vor; um ihre Augen lagen tiefe Schatten. Selbst im Schlaf sah sie erschöpft aus. Sie schlief immer auf dem Sofa; das Schlafzimmer war für Devil. Als sie einzogen, hatte sie ihm erklärt, dass er und Leona ein eigenes Zimmer bräuchten.


Damals hatte er seine Mutter noch geliebt. Er hatte sich, seine Mum und Leona als Einheit betrachtet, als Team, das es auch ohne Dad schaffen würde.


Aber das war schon lange her.


Inzwischen gab es nur noch sie beide. Aber eigentlich gab es nur noch ihn. Denn an dem Tag, als man Leona fand, hatte seine Mum aufgehört zu existieren; allerdings nur psychisch, nicht physisch, denn dazu fehlte ihr der Mumm.


Devil warf einen Blick auf sie, und ihm war klar, dass er hier nicht bleiben konnte. Er konnte sich jetzt nicht wieder schlafen legen. Er musste herumlaufen, Energie verbrennen. Wie man es auch drehte und wendete, ein Selbstmord am frühen Morgen war ein beschissener Start in den Tag. Bald würde es hier nur so wimmeln von Leuten – Polizei, Krankenwagen, jede Menge Fragen und Schlussfolgerungen. Es war am besten, wenn er von hier verschwand, bevor es losging. Noch etwas frische Luft schnappen, bevor der Nebel sich senkte.



15


Raffy schlang die Arme ganz fest um sich und zitterte ganz leicht, aber er wusste, dass es nicht an der Kälte lag, wenn er an den Armen und im Nacken Gänsehaut hatte. Er wollte weg hier, wollte einfach gehen, aber er war keiner, der einfach ging. Deshalb hockte er verkrampft und zitternd im Geäst und sah zu, wie Evie etwas über Literatur lernte.


Raffy hasste Neil.


Er hasste ihn, weil er gut aussah, weil er klug war und freundlich. Weil er ein guter Mensch war, dem es nur darum ging, Evie zu helfen. Raffy hasste ihn, weil er selbst kein guter Mensch war und auch nie ein guter Mensch sein würde. Er dachte rational und sah die Welt so, wie sie war. Aber seine Gedanken wurden nicht immer von der Vernunft gesteuert. Manchmal veränderten die Dämonen in seinem Kopf seine Sichtweise, sie verfälschten die Dinge, sodass alles ganz anders und beängstigend wirkte. Dann meinte er zu sehen, wie Evie Neil verzückt ansah und über dessen Witze lachte. Raffy glaubte etwas in ihrem Blick zu entdecken, wie früher, als sie ihn so angesehen hatte: Liebe. Sie war verliebt in Neil. Sie würde ihn wegen Neil verlassen. Neil wartete nur auf den passenden Moment, um sie zu verführen, und sie würde es bereitwillig geschehen lassen und darüber lachen, wie jung und dumm Raffy doch war. Und Raffy wäre allein, einsamer als jemals zuvor in seinem Leben, allein, unglücklich und einsam, und …


Ein Geräusch durchbrach die Stille. Eine Eichel löste sich vom Baum und fiel herunter, weil Raffy eine zu hastige Bewegung gemacht hatte. Er erstarrte. Evie und Neil sahen kurz herüber, wandten sich dann aber wieder ihren Büchern zu. Sie sprachen über die Emanzipation der Frau, über die Entwicklung der Rolle der Frau und über die Möglichkeiten, die sich ihr im einundzwanzigsten Jahrhundert eröffneten.


Evie war so schön. So wunderschön. Sie war es immer gewesen. Raffy musste daran denken, wie er sie mit knapp sechs Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war ziemlich klein gewesen, misstrauisch, mit ihren dunklen Augen blickte sie die anderen Kinder unsicher an, als sie ins Klassenzimmer zu ihren Plätzen geführt wurden und man ihnen sagte, was sie tun sollten. Sie kam nicht gut aus mit den anderen; etwas an ihr war anders, etwas, das sie von den anderen Kindern unterschied, genau wie bei Raffy. Deshalb hatten sie einander gefunden; sie hatten sich in dem anderen wiedererkannt. Und schon damals, als er sie zum ersten Mal hatte lächeln sehen, als dieses breite Grinsen auf ihrem Gesicht erschien, weil er irgendetwas zu ihr gesagt hatte, wollte er nicht, dass jemand anders sie so zum Lachen brachte. Und obwohl er damals noch ein kleiner Junge war, war ihm bereits klar gewesen, dass er sie nicht verlieren wollte, aber dass dies zwangsläufig geschehen würde.


Weil er kein guter Mensch war so wie Neil.


Weil er nicht perfekt war so wie Lucas.


Wie Lucas.


Raffy atmete aus und schloss die Augen. Sein älterer Bruder. Sein ganzes Leben hatte Raffy im Schatten von Lucas gestanden, und auch jetzt hatte er das Gefühl, die Sonnenstrahlen würden nicht bis zu ihm durchdringen. Weil Lucas besser war als er. Edler, großzügiger. Er hatte erlebt, wie Evie mit ihm umgegangen war, in jener Nacht in der Stadt, als sie das System abgeschaltet hatten. Raffy kannte Evie besser als sie sich selbst. Er hatte die verstohlenen Blicke gesehen, ihre Energie, immer wenn die beiden zusammen waren. Außerdem wusste er, dass Lucas auch deshalb in der Stadt geblieben war, damit Raffy und Evie problemlos zusammen sein konnten. Ein selbstloser Akt, genau wie Lucas’ ganzes Leben.


Und deshalb hasste er ihn. Denn Raffy wäre niemals so edel gewesen. Er wollte Lucas’ Großzügigkeit nicht. Er wollte Evie. Er wollte sie so eng an sich binden, dass sie keinen anderen mehr ansah, geschweige denn mit ihm redete oder ihn gar anlächelte. Er wollte sie ganz für sich haben; er war egoistisch und besitzergreifend. Es sollte wieder so sein wie damals in dem Baum, wo sie sich abends immer getroffen hatten. Ihr Alltag war zwar unerträglich gewesen, aber das hatte Raffy nicht gekümmert, denn in den Momenten mit Evie hatte er erkannt, dass sie ihn brauchte. Sie beide gegen den Rest der Welt. Sie waren sich so nah, dass der eine wusste, was der andere sagen wollte. Die Stadt hatte sie, hatte alle unterdrückt, aber Raffy war das im Grunde egal gewesen, weil sie einander dadurch nähergekommen waren. Er würde sein restliches Leben im Gefängnis verbringen, wenn er sicher sein könnte, dass er die Zelle mit Evie teilte.


Und Evie …


Raffy beobachtete, wie sie sich angeregt unterhielt, wild gestikulierte und mit den Augen rollte.


Evie wollte frei sein. Frei von allem.


Auch von ihm.


Raffy wusste es. Er sah es in ihren Augen. Sie war so lange in der Stadt eingesperrt gewesen und hatte sich eingeengt und unglücklich gefühlt. Und jetzt schwebte sie wie auf Wolken und lachte jeden Tag.


Raffys schlimmste Befürchtungen würden sich bestätigen. Schon sehr bald würde Evie erkennen, wie Raffy wirklich war, und dann würde sie ihn verlassen.


Schon bald würde sie erkennen, dass sie ihn nicht brauchte und dass sie ihn eigentlich nie gebraucht hatte.


»Ich sollte dich jetzt gehen lassen«, meinte Neil lächelnd. »Nächste Woche werde ich dich mit Frankenstein bekannt machen, einem von Menschenhand erschaffenen Monster. Da du aus der Stadt kommst, findest du es vielleicht passend.«


Evie stand auf. »Danke«, sagte sie ernst. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie verblüffend es ist, zu … zu …«


»Zu erkennen, wie viel es noch zu entdecken gibt? Wie viele begabte Menschen so unglaubliche Dinge geschrieben haben, so außergewöhnliche Ideen hatten und den Mut aufbrachten, ihre Überzeugungen zu veröffentlichen?«


Evie nickte glücklich. Neil schaffte es immer, die Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten und die sie verzweifelt auszudrücken versuchte, in Worte zu fassen.


Neil zuckte die Schultern. »Ich wünschte nur, wir hätten hier noch mehr Bücher. Aber sie waren im Grunde nicht wichtig. Beim Überlebenskampf, meine ich. Kurzsichtige Idioten haben Nahrung und Wasser über das geschriebene Wort gestellt.« Er grinste. »Aber noch haben wir genug Bücher. Und wer weiß? Vielleicht kommt ja eines Tages jemand mit einer ganzen Bibliothek hier vorbei, die irgendwo vergraben war. Man kann ja nie wissen, stimmt’s?«


»Stimmt«, sagte Evie, und ihre Augen funkelten. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich in Neils Gesellschaft entspannen konnte, bis sie seine ständigen ironischen Bemerkungen verstand und bis sie begriff, dass er nicht deshalb aufgeregt war und eine Frage nach der anderen stellte, weil sie etwas falsch verstanden hatte oder weil er ihretwegen frustriert war, sondern weil er ebenso wie sie erpicht darauf war, Antworten zu finden. Mittlerweile genoss sie es, Zeit mit ihm zu verbringen, über die Feinheiten eines Buches, das sie gelesen hatte, zu sprechen und stundenlang darüber zu diskutieren.


»Also dann, bis nächste Woche.« Neil winkte ihr zu und schlenderte in Richtung Zentrum davon, wo er sich auf dem Rasenplatz der Siedlung mit Freunden noch auf einen Drink treffen wollte. Evie wusste das, weil er sie schon mehrmals dazu eingeladen hatte. Er meinte, sie solle Raffy mitbringen und dass sie beide willkommen seien. Aber sie hatte abgelehnt, weil sie wusste, was Raffy sagen würde. Sie wollte keinen Streit, wollte sich die Enttäuschung ersparen, wenn sich ihre Befürchtungen bestätigten und er sich weigerte, mitzukommen oder sie allein gehen zu lassen.


Vielleicht würde ja alles anders, wenn sie erst verheiratet waren, sagte sie sich.


Vielleicht würde er dann endlich begreifen, dass sie zu ihm gehörte, dass sie nirgendwo hingehen wollte und dass sie ihn liebte.


Evie machte sich auf den Heimweg. Sie liebte Raffy wirklich. Sie hatte ihn schon immer geliebt. Und doch … Sie seufzte. Plötzlich hörte sie etwas und blieb stehen. Ein Geräusch in dem Baum über ihr. Ein Vogel vielleicht? Nein, es musste etwas Größeres sein. Sie spähte nach oben, nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte, aber sie hatte es auch nicht eilig, nach Hause zu kommen. Plötzlich begegnete sie Raffys Blick, und der Mund blieb ihr offen stehen. Sie sah, wie er rot wurde, von dem Baum heruntersprang und mit ausgestreckten Armen auf sie zurannte.


»Evie!« Er lächelte verlegen, dann verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, und sie sah die Furcht in seinen Augen. Schließlich versuchte er, die Sache herunterzuspielen. »Evie, komm schon. Ich war nur … nur …«


Evie starrte ihn an und versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging. »Wie … wie lange warst du da oben?«, fragte Evie tonlos.


Raffy biss sich auf die Unterlippe.


»Wie lange?«


Raffy zuckte die Achseln. Er fühlte sich unbehaglich. »Ich … ich wollte nur wissen, was du so lernst.«


»Ach wirklich?« Evie verschränkte die Arme. »Dann weißt du ja auch, über welches Buch wir heute gesprochen haben. Also, was hast du gelernt?«


Raffy machte den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus.


»Na sag schon, Raffy, was hast du heute gelernt?«


Evie bekam wieder keine Antwort. Raffys Blick verfinsterte sich, wie immer, wenn er sich in die Enge getrieben fühlte. Normalerweise nahm sie dann seine Hand, beruhigte ihn und redete ihm seine Wut aus. Seit sie in die Siedlung gekommen waren, hatte sie das viele Male getan. Aber jetzt nicht. Jetzt hatte Evie keine Lust, Raffy zu beruhigen. Er hatte eine Grenze überschritten und Evie bebte vor Zorn.


»Früher hast du das System gehasst«, sagte sie mit leiser Stimme. »Und jetzt verhältst du dich genauso. Du würdest mich am liebsten jeden Tag zu Hause festhalten, so wie meine falschen Eltern. Aber das kannst du nicht, Raffy. Das lasse ich nicht zu.«


Evie wandte sich ab. Sie hatte Tränen in den Augen, Tränen, die Raffy nicht sehen sollte, weil er sie sofort in den Arm genommen hätte, um sie zu trösten, aber sie wollte nicht getröstet werden, nicht von ihm. Sie wollte, dass er ihr vertraute und sie ihr eigenes Leben führen ließ.


»Wo gehst du hin?«, rief Raffy ihr nach. »Wo gehst du hin?«


Seine Stimme klang gequält. Evie wusste, dass er ihr nachschauen würde, verzweifelt und unglücklich. Trotzdem ging sie weiter. Weil es seine Schuld war. Das würde ihm eine Lehre sein. Denn wenn sie blieb, würde alles noch schlimmer. Wenn sie nicht weiterging, bis sie weit genug von Raffy entfernt war, würde sie vielleicht etwas sagen, was sie hinterher bereute.



16


Lucas versuchte, den Tee und den Kuchen zu genießen, den Linus ihm hingestellt hatte. Und er versuchte, dem Drang zu widerstehen, aufzuspringen und ungeduldig auf und ab zu gehen. Er hatte von Linus gelernt, dass es keinen Zweck hatte, überstürzt zu handeln. Und deshalb erzählte er Linus einfach alles, was er wusste. Linus hörte aufmerksam zu.


Als Lucas geendet hatte, schaute Linus auf.


»Wir hätten diesen Bastard töten sollen.«


Lucas schnitt eine Grimasse. »Den Bruder?«


Linus nickte. »Wen sonst?«


»Was weißt du über die Spitzel?«, fragte Lucas. »Was sind das für Leute? Warum interessieren sie sich so für das System?«


Linus hob eine Augenbraue und auf seiner Stirn zeigten sich tiefe Falten. Er hatte ein wettergegerbtes Gesicht, ein Gesicht, das vom Leben gezeichnet war. Wenn er lächelte, vertieften sich die Falten um seine Augen und gingen ineinander über, sodass es aussah, als würden sie sich in immer kleiner werdenden Kreisen über sein Gesicht ziehen. »Das ist eine gute Frage«, sagte er.


Lucas gab sich alle Mühe, seine Enttäuschung darüber zu verbergen, dass Linus in den Monaten, die er hier in der Höhle zugebracht und in denen er offenbar die Spitzel überwacht hatte, um ihre Spur zu verfolgen, anscheinend keinerlei Anhaltspunkte gefunden hatte, was sie in der Stadt machten. Aber jetzt in die Offensive zu gehen wäre sinnlos. Er musste Martha glauben, dass Linus wusste, was er tat, und er musste seinem Vater glauben, dass man Linus vertrauen konnte. Trotzdem musste er sichergehen, dass Linus tatsächlich begriff, was vor sich ging.


»Die Stadt ist nicht mehr wiederzuerkennen«, sagte Lucas mit leiser Stimme. »Ganze Familien ziehen nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen, um denjenigen zu finden, der das getan hat. Und sie werfen mir vor, dass ich das Systems aufgelöst habe. Und allmählich werfe ich es mir selbst vor. Ich habe sie nicht beschützt. Wenn das System noch in Kraft wäre …«


»Lass dich nicht so gehen«, meinte Linus abweisend. »Das System ist nicht dein Problem. Wir haben es hier mit bösen Jungs zu tun, die schlimme Dinge machen. Hör auf, dir um deine Führungsposition Sorgen zu machen, und überlegen wir lieber, wie wir sie aufhalten und wie wir es schaffen können, dass sie für ihre Taten bestraft werden. Klingt das gut?«


Linus sah Lucas direkt in die Augen und Lucas nickte. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, Linus zu beeinflussen. Genauso gut hätte man gegen eine Wand reden können.


»Okay«, sagte Linus. »Komisch, anscheinend neigen die Guten immer dazu, sich selbst die Schuld zu geben, während die Bösen sich immer von jeder Schuld freisprechen.«


Lucas sah ihn unsicher an und Linus grinste. »Ich halte dich für einen guten Jungen«, meinte er augenzwinkernd. »Du solltest das als Kompliment nehmen.«


»Okay«, sagte Lucas, weil er nicht wusste, was er sonst antworten sollte. Er konnte nicht gut mit Komplimenten umgehen. Er verteilte lieber Komplimente, als dass er welche bekam, obwohl er im Komplimenteverteilen auch nicht gerade toll war.


»Also, sieben sind tot, und Clara wird vermisst. Sie werden nach ihr suchen«, murmelte Linus. »Okay, ich glaube, es ist an der Zeit, ihnen einen kleinen Besuch abzustatten.«


Linus erhob sich und Lucas beobachtete ihn.


»Also?«, sagte Linus ungeduldig und ging plötzlich auf Lucas zu. Er war so groß, dass er Lucas um einiges überragte. Lucas war auch groß – über einen Meter dreiundachtzig und breitschultrig. Aber Linus … Lucas hatte nie bemerkt, wie groß Linus war und dass er gebaut war wie ein Krieger. Mit den langen Haaren und dem Bart sah er absolut furchteinflößend aus.


»Also was?«, fragte Lucas mit betont ruhiger Stimme.


»Gehen wir.«


Lucas fuhr zusammen. »Was, jetzt gleich? Und wohin?«


»Zu dem Lager natürlich. Na los«, sagte Linus ungeduldig.


Auf Lucas’ Stirn bildeten sich tiefe Falten. »Du willst doch nicht schon packen? Meinst du nicht, wir sollten erst einen Plan machen und ein bisschen darüber nachdenken? Und meinst du nicht, du solltest dich rasieren?«


Linus starrte ihn ungläubig an. Aber dann erschien wie aus heiterem Himmel ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Du hast vielleicht nicht ganz unrecht mit dem Bart und den Haaren. Das ist schon ein bisschen unpraktisch. Okay, dann werde ich mich rasieren, und du machst dich inzwischen abmarschbereit.«


Linus verschwand in einer Ecke der Höhle. Lucas hörte den Wasserhahn laufen, und gleich darauf das Summen eines Elektrorasierers. Er wusste nur deshalb über elektrische Rasierapparate Bescheid, weil sein Vater einen besessen hatte; er stammte noch aus den Tagen vor der Schreckenszeit. »In der Stadt gibt es nur noch drei davon«, hatte er Lucas stolz erklärt. Der Rasierapparat hatte zu den Dingen gehört, die nach der Verhaftung seines Vaters verschwunden waren. Lucas fragte sich oft, ob der Bruder jetzt den Rasierapparat hatte und ob er jemals an Lucas’ Vater dachte, wenn er sich den Bart stutzte.


Nach zehn Minuten erschien Linus wieder, diesmal ohne Bart und mit zurückgekämmten Haaren, so wie Lucas ihn kannte: glatt rasiert, die kahler werdende Stelle auf dem Kopf weniger auffällig.


»Hier entlang«, sagte Linus und ging zur anderen Seite der Höhle, entgegen der Richtung, aus der Lucas gekommen war. »Klettere da hinauf.«


Lucas folgte ihm auf eine kleine Plattform, die zu einem Tunnel führte. Kurz darauf kamen sie an eine Gabelung.


»Hier geht’s nach rechts«, sagte Linus. »Immer nach rechts.«


»Und was ist links?«, fragte Lucas.


»Das kannst du ja irgendwann mal ausprobieren«, meinte Linus achselzuckend. »Dann wirst du wissen, warum wir uns immer rechts halten.«


Lucas spähte in den linken Gang, der ziemlich steil abfiel, und der Boden war glatt und rutschig wie Stein. Ein falscher Schritt, und man wäre verschwunden.


»Also gut«, sagte er mit einem leichten Achselzucken und folgte Linus. »Dann begeben wir uns jetzt also zu einem Lager in einem Gebiet von England, das gar nicht mehr existiert? Ohne klare Vorstellung, was wir tun sollen, wenn wir dort sind?«


»So ungefähr«, erwiderte Linus und nickte.


»Verstehe«, sagte Lucas. »Wollte nur mal nachfragen. Du gehst voraus.«


»Wie kommen wir jetzt zur Küste? Die ist meilenweit weg«, sagte Lucas zu Linus, während sie eine steile Felswand hinunterkletterten. Sie waren jetzt auf der anderen Seite des Hügels entgegengesetzt von der Stelle, wo Lucas Linus’ neuen Unterschlupf betreten hatte. Nachdem sie durch einen Tunnel gekrochen waren, was ihnen vorkam, als hätte es Stunden gedauert, waren sie jetzt endlich wieder an der frischen Luft.


Linus lächelte gezwungen. »Da lang«, sagte er und blinzelte, als er mit einem Sprung ein Stück weiter unten auf dem Boden landete. Lucas folgte seinem Beispiel. Linus lief bereits gegen den Uhrzeigersinn um den Hügel herum, und Lucas musste rennen, um mit ihm Schritt zu halten. »Es wäre mir lieber gewesen, du hättest es mir gesagt«, meinte er.


»Aber wo wäre dann der Spaß geblieben?«, sagte Linus mit Lachfältchen im Gesicht, bevor er sich umdrehte und weiterlief.


Lucas stieß einen tiefen Seufzer aus und folgte ihm. Während sie liefen, starrte er ständig auf Linus’ Rücken und staunte, wie muskulös und tief gebräunt er war, obwohl er doch mehrere Monate in einer Höhle zugebracht hatte. Er bewegte sich so lautlos wie ein Tier bei der Jagd, Augen und Ohren in höchster Alarmbereitschaft. Lucas beobachtete an Linus etwas, was auch er gelernt hatte, einen Zustand ständiger Wachsamkeit, ständiger Bereitschaft zum Kampf oder zur Flucht. Wahrscheinlich konnte Linus genau vorhersagen, was passieren würde, noch bevor die beteiligten Personen selbst es wussten. Vielleicht hatte er sogar gewusst, dass Lucas kommen würde; vielleicht war er deshalb nicht überrascht gewesen.


Endlich blieb Linus stehen. Er stand im Eingang zu einer weiteren Höhle. Lucas sah ihn befremdet an. »Wir sind der Küste noch keinen Schritt näher.«


»Nein«, stimmte Linus zu. »Aber von hier aus gelangen wir sicher hin.«


Er betrat die Höhle, holte eine Taschenlampe hervor und richtete den Strahl auf die gegenüberliegende Seite. Lucas sah etwas, irgendeine Spiegelung, doch als sie näher kamen, erkannte er, was es war. Etwas, was er noch nie gesehen hatte. Etwas, von dem er bislang nur gehört hatte und was er nur von Zeichnungen kannte.


»Ein Auto«, sagte er. Mit offenem Mund ging er um das Fahrzeug herum, berührte es und bekam einen regelrechten Adrenalinschub, als er die glänzende Oberfläche der schimmernden Karosserie fühlte. Kein Vergleich zu den Lkw, die die Polizeigarde außerhalb der Stadt benutzte, oder zu den alten Fahrzeugen in Base Camp. Das war ein blitzblankes, offenbar ganz neues Auto, das nur dem Fahrspaß dienen sollte und nicht dem praktischen Nutzen. »Ein richtiges Auto.«


»Und auch nicht irgendein altes Auto.« Linus grinste. Offenbar freute er sich über Lucas’ Reaktion. »Das ist erste Sahne. Hat damals eine schöne Stange Geld gekostet. Aber für mich ist es heute viel mehr wert.«


Er drückte mit der Hand gegen eine der Türen, und das Schloss sprang auf. »Steig ein«, sagte er und deutete auf den Beifahrersitz.


»Aber wie willst du … hast du überhaupt Benzin?«


»Der Tank ist voll. Und ich habe mir noch mehr besorgt. Natürlich nur für den Notfall. Aber ich glaube, das ist ein Notfall, oder was meinst du?«


Lucas nickte. Er war zu beeindruckt, um antworten zu können. Stattdessen öffnete er die Beifahrertür und stieg ein. Er seufzte unwillkürlich vor Entzücken, als er sich auf das weiche cremefarbene Leder sinken ließ.


»Wie hast du … ich meine, wie lange hast du … Wie ist das möglich?«, flüsterte er.


»Ich habe es gefunden«, sagte Linus und startete den Motor. »Ist sie nicht wunderschön? Irgendwer hat sie einfach stehen lassen. Der Schlüssel hat noch gesteckt, als ob sie nur auf mich gewartet hätte. Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal gefahren bin, und ich will nicht, dass das alte Mädchen Kratzer bekommt. Also, sei bitte so gut und stell keine Fragen mehr. Ich muss mich konzentrieren …«


Lucas nickte und langsam rollte der Wagen rückwärts zum Eingang der Höhle und bog um die Ecke. Lucas betätigte einen Hebel, bedachte Lucas abermals mit einem Lächeln und drückte das Gaspedal durch. »Genieß die Fahrt«, sagte er und fuhr los. Der Wagen schien über die herumliegenden Steine regelrecht hinwegzugleiten. »Willkommen zur Fahrt im Mercedes.«



17


»Du hast meinen Sohn getötet! Meinen kleinen Jungen! Willst du mich auch töten? Dann tu es! Tu es gleich und töte auch mein Baby. Du bist böse. Du wirst in der Hölle schmoren für das, was du getan hast. Du wirst …«


Devil drehte sich um und ging, lief, rannte. Er wusste, es war ein Fehler gewesen, in die Siedlung zurückzukommen. Er war den ganzen Morgen weg gewesen, hatte gewartet, bis alles erledigt, bis alles beseitigt war, und gegen vier hatte er sich sicher genug gefühlt, um zurückzukommen. Aber sie wartete schon auf ihn, genau an der Stelle, wo ihr dummer Sohn vom Balkon gesprungen war.


»Ich habe ihm gesagt, er ist böse«, schrie die Mutter des Jungen ihm hinterher. »Ich habe ihm gesagt, es ist alles seine Schuld. Deshalb hat er sich umgebracht. Aber es war nicht seine Schuld. Es war deine Schuld. Gott wird dich finden und dich bestrafen, und …«


Devil war außer Atem, doch er lief trotzdem weiter, als hinge sein Leben davon ab. Sie war verrückt. Er musste weg, weit weg. Er hasste dieses Dreckloch. Er hasste seinen Dad, weil er sie verlassen hatte und sie deshalb hierher umziehen mussten. Er sollte eigentlich gar nicht hier sein. Nichts von alledem hätte passieren dürfen.


Devil lief an ein paar Jungs seiner Bande vorbei, doch er blieb nicht stehen. Er konnte sich jetzt nicht mit ihnen befassen. Er konnte sich mit gar nichts befassen.


Er rannte die Treppe hinunter, über den Spielplatz und durch die Unterführung. Als er wieder ins Freie kam, atmete er tief aus, wie sonst immer, wenn er in der Unterführung die Luft anhielt, um sich vor dem Gestank zu schützen. Diesen Luxus hatte er sich diesmal allerdings nicht gegönnt. Mann, er war völlig außer Atem. Er musste unbedingt fitter werden. Er musste eine Menge tun. Devil stützte die Hände auf die Knie und atmete ein paarmal tief durch. Dann richtete er sich auf, bog um die Ecke, überquerte die Hauptstraße und nahm den üblichen Weg in die Stadt. Plötzlich blieb er stehen. Vor ihm stand ein Wagen, den er nicht kannte, der nicht hierher gehörte, der so auffällig war wie ein Leuchtturm.


Es war ein sehr schöner Wagen.


Und er war leer.


Das bedeutete, dass sein Besitzer entweder sehr dumm war oder so mächtig, dass es ihm egal sein konnte, wo er parkte.


Devil sah sich um, trat vorsichtig an den Wagen heran und überprüfte die Nummernschilder. Das Auto war erst zwei Jahre alt. Sehr gepflegt. Silberfarben, Alufelgen, getönte Scheiben. Zaghaft streckte er die Hand aus und berührte die Motorhaube. Kein Alarm. Er strich anerkennend über den Lack und ging um den Wagen herum zur Fahrerseite. Derjenige, der den Wagen hier abgestellt hatte, hielt sich jetzt in der Siedlung auf. Er hatte Geld. Hatte Klasse. Aber was sonst noch? Das war ein Gangsterauto.


Ein leeres Gangsterauto.


Behutsam holte Devil sein Taschenmesser hervor. Er konnte jeden Wagen knacken; das war das Erste, was er gelernt hatte. Niemand war in der Nähe, niemand würde ihn sehen. Er konnte das Leder, den Wohlstand, förmlich riechen. Wie der Wagen seines Dad. Groß, weiche Ledersitze, das dumpfe Geräusch beim Zuschlagen der schweren Türen. Er wollte dieses Auto haben. Er wollte es so sehr, dass er hätte schreien können. Das war das Auto, das er verdiente. Dieser Wagen würde der Welt zeigen, mit wem sie es zu tun hatte.


Dennoch steckte er das Messer wieder in die Tasche. An einem Wagen wie diesem spielte man nicht herum, ohne dass das Folgen hatte oder Schwierigkeiten gab. Und im Moment konnte Devil keine Aufmerksamkeit gebrauchen.


Also blieb er einfach neben dem Wagen stehen und stellte sich das Geräusch der Türen beim Zuschnappen des Schlosses vor, das Gefühl von weichem Leder, den Geruch, das Summen des Motors. Irgendwann, dachte er bei sich. Irgendwann …


Da spürte er das kalte Metall im Genick. »Gefällt dir mein Wagen? Du solltest einsteigen.«


Devil wagte nicht, sich umzudrehen. Aber das musste er auch nicht. Ein großer Mann mit breitem Schädel tauchte neben ihm auf und öffnete die Wagentür.


»Lust auf eine Spritztour?«, fragte der Mann mit der Waffe.


Devil gab keine Antwort. Man legte sich mit niemandem an, der eine Waffe hatte. Vielleicht war’s das jetzt für ihn. Vielleicht hatten die Green Lanes Massive Freunde, mit denen er nicht gerechnet hatte. Er schloss die Augen, sprach ein kurzes Gebet und stieg in den Wagen.


Die Männer waren zu viert. Devil hockte eingezwängt zwischen zwei großen Burschen auf dem Rücksitz, vorn saß der Fahrer und daneben auf dem Beifahrersitz der Mann mit der Waffe. Auf ihn richtete sich Devils Blick. Er musterte ihn eingehend und prägte sich jede Einzelheit ein. Zuerst hatte er gedacht, er sei schon ziemlich alt. Der Mann hatte eine Glatze, und es sah so aus, als wären ihm die Haare ausgegangen. Aber aus der Nähe betrachtet, war er nicht viel älter als Devil. Davon abgesehen verriet sein Gesicht nicht viel.


Devil beobachtete ihn genau, betrachtete seine Hände, sein Kinn, für den Fall, dass er etwas preisgab, was Devil von Nutzen sein konnte. »Menschen geben immer etwas von sich preis«, pflegte sein Vater zu sagen. »Du musst lernen, die Menschen zu verstehen, dann liegen sie dir zu Füßen.«


Er hatte keine Angst, noch nicht. Keiner sprach ein Wort und Devil wartete gern. Das leise Summen des Motors machte ihn schläfrig. Sie jagten die Straßen hinunter, und die unzähligen Schlaglöcher spürte man kaum.


Sein Vater hatte einen Lexus gefahren, jedenfalls in Hertfordshire. Erst nachdem er verschwunden war und die Polizei Fragen gestellt hatte, hatte Devil erfahren, dass sein Vater ein Doppelleben führte, dass Pastor Jones nur einer seiner Decknamen und die Church of Good Faith nur eines seiner kleinen Imperien war. Devil hatte sich damals gefragt, ob er in seinen anderen Heimatorten wohl auch einen Lexus fuhr. Jedenfalls hoffte er es. Damit er wenigstens irgendetwas über den Mann wusste, der sein Vater war, der abgehauen war und der, wie sich herausgestellt hatte, nicht der Mensch war, den Devil zu kennen glaubte. Er fuhr gern einen Lexus. Das war immerhin etwas. Sonst wusste er nichts von ihm.


Wegen des Lexus hatte sein Dad ihn das erste Mal geschlagen. Devil war damals vier. Er war so aufgeregt gewesen, weil er mit zur Kirche fahren durfte, auf dem Rücksitz, wie ein Erwachsener, wie sein Vater. Er hatte den Wagen nicht ruinieren wollen, hatte nicht riskieren wollen, rausgeworfen zu werden, deshalb hatte er nichts gesagt, als er pinkeln musste, hatte es verhalten und gewartet. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Vater einen Telefonanruf bekommen, wütend werden und in den Hörer brüllen würde. Devil war es vorgekommen wie Stunden und schließlich hatte er dem Drang nachgegeben und direkt auf den Ledersitz gepinkelt.


Jahre später, als sein Vater ihn endlich wieder im Auto mitnahm, hatte er ihm im Lexus private Predigten gehalten, Lektionen, die Devil bis heute nicht vergessen hatte, die ihm seine Identität und seine Entschlossenheit verliehen. »Mein Sohn, es gibt zwei Sorten von Menschen auf dieser Welt – die Besitzenden und die Besitzlosen. Die Anführer und die Anhänger. Die Starken und die Schwachen. Die Gewinner und die Verlierer. Die Leute in meiner Kirche sind die Verlierer. Sie brauchen mich. Man muss ihnen sagen, wie sie sich die Schuhe zu binden haben, wann sie essen, wann sie scheißen und wann sie beten sollen. Das alles tue ich für sie, mein Sohn. Deshalb geben sie mir ihr Geld. Ich zeige ihnen den Weg. Ich gebe ihnen, was sie brauchen. Und deshalb fahre ich diesen Wagen. Weil ich ihn verdiene. Nicht Gott. Ich. Gott tut nichts für die Menschen, das ist die Wahrheit. Und du darfst hier mit mir sitzen und die Fahrt genießen, aber es ist nicht dein Auto, sondern meins. Wenn du selbst einmal so einen Wagen haben willst, dann musst du zu den Besitzenden, zu den Gewinnern gehören. Verstehst du?«


Mit zehn hatte Devil diesen kleinen Vortrag zum ersten Mal gehört. Der starke nigerianische Akzent seines Vaters hatte sich ihm tief in die Seele gebrannt. Und er hatte ihn laut und deutlich gehört.


»Also«, hatte sein Vater mit einem Lächeln gesagt, »das ist jetzt unser kleines Geheimnis, was, Junge? Ich muss dir noch eine Menge beibringen, mein Sohn. Und du musst noch viel lernen. Du hörst mir zu und ich werde dich unterrichten. Aber wenn du irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen von dem verrätst, was ich dir sage, wirst du erfahren, was Schmerz bedeutet. Habe ich mich klar ausgedrückt?«


Devil hatte genickt, wie jedes Mal, wenn sein Vater genau das sagte. Devil hielt Wort und sagte niemandem etwas, und schließlich hörte sein Vater auf zu drohen. Stattdessen hielt er an den Lektionen fest. Dabei kam er immer wieder auf das Auto zu sprechen. »Autos machen Leute«, lautete einer seiner Lieblingssprüche.


Einen Tag, nachdem sein Vater ihm zum zweiundvierzigsten Mal eine Lektion erteilt hatte, war die Polizei aufgetaucht, hatte den Wagen beschlagnahmt und ihnen das Haus weggenommen. Die Polizeibeamten wollten auch seinen Vater mitnehmen, aber der hatte sich bereits in der Nacht aus dem Staub gemacht und sich in ein anderes Zuhause, in ein anderes Leben geflüchtet.


Und als Devil und seine Familie ein paar Tage später in die Vorstadtsiedlung umziehen mussten, hatte er erkannt, dass sein Vater mit allem recht gehabt hatte. Er war allen anderen immer einen Schritt voraus. So musste es im Leben sein: allen anderen einen Schritt voraus sein, am Steuer sitzen, sich von nichts und niemandem aufhalten lassen. Weder sein Dad noch das Geld wurden je gefunden, es war mit ihm verschwunden, wohin auch immer er sich geflüchtet hatte. Wie sich später herausstellte, war das Haus nur gemietet und der Wagen noch nicht abbezahlt. Selbst die Heiratsurkunde seiner Mutter war nicht echt.


Devil beugte sich etwas vor. Das alles war jetzt Vergangenheit. Das alles war irrelevant. Ir-re-le-vant. Das Wort der Woche. Soll heißen, dass es bedeutungslos war. Das beruhigte ihn. Nichts bedeutete mehr etwas. Leona hatte ihm etwas bedeutet, aber sie war nicht mehr da, mit ihrem leisen Geplapper im Hintergrund, mit den Puppen, die sie überall mit sich herumtrug. Sie war fort.


Und das war gut so, sagte sich Devil. Sie war sein Schwachpunkt gewesen. Er hätte alles getan, um Leona zu beschützen, und er hätte jeden umgebracht, der ihr zu nahe kam. Aber was hatte das letztlich genützt? Gegen einen Unfall war man machtlos. Man konnte nur demjenigen die Schuld geben, der das Fenster offen gelassen hatte. Man konnte nur weggehen und sich fest vornehmen, in seinem ganzen Leben nie wieder jemanden gernzuhaben, weil es zu wehtat, weil man das Gefühl hatte, als würde man innerlich explodieren.


Devil holte tief Luft. »Wo fahren wir eigentlich hin?«, fragte er.


Der Mann mit der Waffe drehte sich zu ihm um und lächelte. »Wir wollen doch kein Geheimnis verraten, was, Devil?«


Devil kniff die Augen zusammen. »Und woher kennst du meinen Namen?«


»Oh, ich weiß eine Menge über dich, Devil«, sagte der Mann und drehte sich wieder nach vorn, während die Männer neben Devil ihn wieder zurück in den Sitz drückten. »Aber darüber sollten wir uns jetzt keine Gedanken machen, oder? Ich höre beim Fahren gern Musik, wenn du nichts dagegen hast. Außerdem sind wir schon fast da. Du wirst deine Antworten noch früh genug bekommen. Ich heiße übrigens Thomas. Schön, dich endlich kennenzulernen.«


Devil wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Ihm war klar, dass es keinen Sinn hatte. Deshalb schwieg er, als Thomas einen Knopf drückte, woraufhin laute Musik erklang. Egal, was dieser Typ vorhatte, er wollte es zu seinem Vorteil wenden. Das hieß stark sein. Das hieß, ein Gewinner sein.



18


Raffy rannte in Richtung Zentrum, ohne zu wissen, wo er eigentlich hinwollte. Er kochte vor Wut. Für Evie war alles in Ordnung. Sie war hierhergekommen und hatte bereitwillig jede Gelegenheit ergriffen. Alle hatten Evie gern. Immer hatten alle Evie gerngehabt. Die Leute fühlten sich zu ihr hingezogen und wollten in ihrer Nähe sein. Leute wie Neil. Wie Lucas. Einfach alle.


Und alle wollten sie ihm wegnehmen. Ihm, Raffy, den niemand mochte, den niemand gernhatte. Seine eigene Mutter hatte ihm die meiste Zeit seines Lebens kaum in die Augen gesehen, und sein Bruder hatte ihn im Auge behalten für den Fall, dass er aus der Reihe tanzte. In der Stadt waren ihm die Leute stets mit Misstrauen begegnet und hatten getuschelt, wenn er vorbeiging. Aber das hatte ihn nie gekümmert, weil er Evie hatte.


Raffy wusste, dass er unvernünftig war. Er hätte ihr nicht nachspionieren dürfen. Aber sie war einfach zu vertrauensselig; sie erkannte nicht, wie die Menschen wirklich waren. Sie brauchte Raffy als Beschützer. Es war noch gar nicht lange her, dass sie um ihr Leben gerannt waren; er konnte das nicht so einfach vergessen wie Evie.


Raffy drängte sich an einem Tisch vorbei. Er befand sich jetzt im Zentrum der Siedlung, wo Tische und Stühle aufgestellt worden waren, damit die Leute sich unterhalten, Karten spielen oder das von ein paar Bauern gebraute Bier genießen konnten. Die meisten Bauern kamen an zwei oder drei Abenden in der Woche hierher, um Dampf abzulassen, sich zu entspannen und miteinander zu reden. Und obwohl Raffy schon des Öfteren eingeladen worden war, war er nie hingegangen. Da er den ganzen Tag von Evie getrennt war, ging er nach der Arbeit immer lieber zu Evie nach Hause, um bei ihr zu sein und sie ganz für sich zu haben. Und außerdem mochte er kein Bier. Er hatte es einmal probiert und es hatte widerlich geschmeckt. Aber wenn er sich jetzt so umsah, fand er, dass ein Bier vielleicht gar keine schlechte Idee wäre. Vielleicht war ein Bier genau das, was er jetzt brauchte.


Als Raffy sich gerade hinsetzen wollte, kam Simon auf ihn zu, ein Bauer, der Raffy unter seine Fittiche genommen hatte und der so etwas wie ein Mentor für ihn war. »Raffy! Endlich kommst du mal!« Er grinste. »Ich wusste, dass du schwach werden würdest. Komm, setz dich zu uns.«


Raffy betrachtete die Gruppe – es waren ungefähr zehn Männer, alles Kollegen, die er mochte. Er nickte und folgte Simon an dessen Tisch. Kaum hatte Raffy sich hingesetzt, wurde schon ein Bierkrug vor ihn hingestellt.


Er trank einen Schluck, aber Simon schüttelte den Kopf. »Wenn du trinkst, dann trink wie ein Mann«, sagte er augenzwinkernd. Raffy setzte den Krug an den Mund und kippte den Inhalt hinunter. Dabei hätte er sich fast verschluckt an dem modrig schmeckenden Saft, der ihm die Kehle hinunterlief, und er musste an den Sumpf in der Nähe des Stadttors denken, an den Morast, der ihm auf der Flucht mit Evie in Mund und Nase gelaufen war.


»So ist es schon besser«, meinte Simon gut gelaunt und schenkte ihm nach. »Wo ist eigentlich deine reizende Freundin? Hast sie wohl zu Hause gelassen, was?«


Raffy starrte Simon wütend an, riss sich dann aber zusammen und nickte. Ihm war klar, dass Simon sich nichts dabei gedacht hatte. Er war ein freundlicher, stämmiger, grobknochiger Mann, ein Mann, dessen Kraft Raffy verblüfft hatte, als er ihn auf dem Feld gesehen hatte; ein Mann, dessen Gesicht sich immer zu einem Grinsen verzog und der Lachfalten um die Augen hatte. Seine Frau Marion war nur halb so groß wie er, aber genauso fröhlich. Die beiden hatten fünf Kinder, die oft in der Siedlung herumtobten und Chaos anrichteten. Ihr Vater lächelte meist wohlwollend und wurde nur wütend, wenn sie ungezogen oder rücksichtslos waren.


»Sie liest«, sagte Raffy, ohne Simon dabei anzusehen. Das war nicht gelogen – zumindest könnte es so sein –, aber es war auch nicht die Wahrheit.


»Soso, sie liest.« Simon nickte gedankenverloren. Dann zuckte er die Achseln. »Ich hatte nie viel Zeit für Bücher. Aber es ist eine vornehme Art, den Abend zu verbringen. Ganz anders bei uns, was, Gentlemen?«


Die Männer lachten und tranken weiter. Bei Raffy machte sich der Alkohol schon bemerkbar, denn er fühlte sich ganz benommen. Er grinste und lachte, obwohl am Tisch über nichts gesprochen wurde, was besonders komisch gewesen wäre. Vielleicht hätte er das schon viel früher tun sollen. Vielleicht hätte er lieber mit diesen Männern ausgehen sollen, anstatt zu Hause zu bleiben und Evie zu beobachten oder auf und ab zu gehen und zu warten, bis sie nach Hause kam.


Aber in dem Moment, als er diesen Gedanken in Erwägung zog, spürte er den vertrauten Druck im Magen, und er sah Evie vor sich, allein und verletzlich. Er stellte sich vor, wie Neil oder ein anderer Mann vorbeikamen, um Hallo zu sagen, wie sie sie ansahen und sich einbildeten, sie seien ihrer würdig und dass ihr Lächeln etwas bedeutete …


Raffy schloss die Augen, und er sah nur noch Evies wütenden Blick, als sie entdeckt hatte, dass er ihr nachspionierte. Sie hatte ihn noch nie so angesehen, so zornig, so enttäuscht.


Er stand auf. »Ich muss gehen«, sagte er und stieß dabei gegen den Tisch, sodass ein paar Gläser überschwappten.


Simon sah ihn seltsam an. »Immer mit der Ruhe, Raffy. Warum die Eile?«


»Ich muss gehen«, beharrte Raffy. »Ich muss zu Evie.«


»Ich bin sicher, es geht ihr gut«, sagte Simon ruhig, aber bestimmt. »Sie hätte bestimmt nichts dagegen, wenn du noch ein oder zwei Bierchen trinkst.«


»Sie hätte nichts dagegen«, erwiderte Raffy, »aber ich muss trotzdem gehen. Ich muss zu ihr. Ich muss …« Er schob seinen Stuhl zurück und wankte davon. Simon rief noch etwas hinter ihm her, aber er drehte sich nicht um. Er musste zu Evie. Er musste sich bei ihr entschuldigen. Er musste ihr begreiflich machen, warum er sie beobachtet hatte und dass er es nur für sie getan hatte. Weil er sie liebte. Weil er sie brauchte. Und weil sie ihn brauchte.


Plötzlich blieb Raffy stehen. Direkt vor ihm saß der Mann, der die Ursache war für das alles, der Schuld hatte, dass Evie wütend auf ihn war.


»Neil.« Er stützte sich an dem Tisch ab, an dem der Lehrer saß. »Neil. Lassen Sie sich auch ein Bierchen schmecken?«


Neil saß mit einer kleinen Gruppe von Männern und Frauen am Tisch, die ernste Gesichter machten. Alle hörten auf zu reden und sahen Raffy an. Neil lächelte. »Raffy«, begrüßte er ihn freundlich. »Wie schön, dich zu sehen. Geht es dir gut?«


Raffy kniff die Augen zusammen. »Gut? Nein, eigentlich nicht. Aber machen Sie sich keine Sorgen um mich. Sie kümmern sich ja sonst auch nicht um mich, nicht wahr, Neil?«


Neil runzelte die Stirn. »Tut mir leid, Raffy. Ist irgendwas?«


Raffy hielt sich an dem Tisch fest. Dann beugte er sich tief zu Neil hinunter und sah ihm direkt in die Augen. »Lassen Sie Evie in Ruhe, verstanden?«, knurrte er. »Halten Sie sich von ihr fern, oder es wird Ihnen noch leidtun.«


Neil wich nicht zurück. »Wenn du mit ›fernhalten‹ meinst, dass ich sie nicht mehr unterrichten soll, dann fürchte ich, dass ich das nicht kann, Raffy. Solange Evie etwas lernen möchte und Spaß an unseren Diskussionen hat, stehe ich ihr zur Verfügung, so wie ich allen anderen zur Verfügung stehe. Auch dir, wenn du Interesse hast. Ich könnte …«


Doch bevor er seinen Satz beenden konnte, hatte Raffy ihn am Genick gepackt und zu Boden gedrückt, wobei der Stuhl umfiel. Dann hockte er rittlings auf Neil, schlug auf ihn ein, schüttelte ihn und schrie ihn an, bis ein paar Männer ihn packten, von Neil wegzerrten und ihn festhielten.


Raffy hatte keine Ahnung, wie lange er festgehalten wurde und dabei Neil anbrüllte und wie wild um sich trat. Aber dann bemerkte er, dass es auf einmal ganz still wurde und dass die Atmosphäre sich veränderte und dass jemand auf ihn zukam.


»Lasst ihn los«, hörte er Benjamin mit ruhiger, aber fester Stimme sagen. »Raffy, komm bitte mit. Ich glaube, wir sollten uns ein bisschen unterhalten, meinst du nicht auch?«



19


Es war eine holperige Fahrt. Das lag nicht am Wagen, wie Linus immer wieder betonte, sondern an den Straßen. Oder besser gesagt, an den fehlenden Straßen. »Diese Lady ist kein Geländefahrzeug«, erklärte er Lucas und streichelte dabei anerkennend über das Lenkrad. »Steinige Wege bewältigt sie spielend, aber nicht solche Schlaglöcher wie hier. Sie ist für einen zivilisierteren Ort gedacht.«


Lucas sah Linus fragend an. »Dann war die alte Welt also zivilisiert?«


»Teilweise war sie sehr unzivilisiert«, meinte er achselzuckend. »Aber es gab auch Lichtblicke. Und es gab Straßen. Schöne lange, ebene Straßen.«


Während sie über Steine und Geröll dahinbrausten, sah Lucas nachdenklich aus dem Fenster. Die Landschaft war genauso trostlos, wie man es ihm erzählt hatte. Keine grünen Felder oder Wiesen, keinerlei Hinweise auf landwirtschaftliche Betriebe, auf Produktionsstätten oder Häuser. Es war, als ob die Stadt nichts zu tun hätte mit ihrer Umgebung, als existierte sie in ihrem eigenen Mikrokosmos. Die große hohe Mauer hielt nicht nur die Menschen fern, sondern auch den Rest der Welt.


Während Lucas die Welt an sich vorbeifliegen sah, erkannte er, wie wenig er über das Land außerhalb der Stadtmauer wusste und über die Menschen, die dort lebten. In den Jahren, die ihn geprägt hatten, hatte er alles geglaubt, was man ihm über die Bösen erzählt hatte, die außerhalb der Stadtmauer umherstreiften und die Tod und Zerstörung heraufbeschwören würden, wenn sie nur könnten. Er hatte geglaubt, dass Menschen zu extrem bösen Handlungen fähig waren und dass nur die Entfernung der Amygdala sie voreinander und vor sich selbst schützte.


Und dann hatte sein Vater ihm die Wahrheit gesagt, hatte ihm geduldig, aber in aller Hast erklärt, dass die Dinge nicht so waren, wie er gedacht hatte, dass der Bruder die Menschen belogen hatte, dass Lucas tapfer sein musste, dass er ihm ein Versprechen geben sollte und dass er stärker sein musste, als er sich je vorstellen könnte.


Lucas hatte getan, was von ihm verlangt wurde: Er hatte gelernt, das System zu bedienen, und dafür gesorgt, dass der Bruder ihm Beachtung schenkte und ihm vertraute. Er hatte seinen Vater als Verräter hingestellt, und er hatte zugelassen, dass sein Bruder ihn hasste. Und die ganze Zeit hatte er sich mit dem Gedanken getröstet, dass er wusste, dass er begriff, was wirklich vor sich ging.


Aber jetzt, auf dieser Fahrt durch eine Landschaft, die er noch nie zuvor gesehen hatte, wurde Lucas bewusst, dass er keine Ahnung hatte.


»Leben hier Menschen?«, fragte er schließlich.


Linus schüttelte den Kopf. »Hier nicht. Hier gibt es kein Wasser. Dafür hat die Stadt gesorgt. Aber es gibt bewohnbare Orte. Zum Beispiel die Siedlung, in der dein Bruder lebt.«


Lucas hielt den Atem an.


»Sie liegt im Norden«, fuhr Linus im Plauderton fort. »Etwa dreihundert Meilen entfernt.«


»Okay«, sagte Lucas und versuchte, ruhig zu klingen. »Verstehe.«


»Nettes Mädchen, diese Evie«, bemerkte Linus.


Lucas sah ihn scharf an, aber Linus blickte stur geradeaus auf die Straße, und sein Gesicht verriet nichts. »Willst du ein bisschen Musik hören?«, fragte Linus.


Lucas antwortete nicht. Linus griff in ein Seitenfach in der Autotür und zog eine CD heraus, die er in einen Schlitz neben dem Lenkrad schob. Kurze Zeit später ertönte laute, schrille Musik, die Lucas überrumpelte. Er warf sich in seinem Sitz zurück, sodass Linus laut auflachte.


»So macht das Reisen Spaß«, sagte Linus mit einem Grinsen im Gesicht. »Das weckt schöne Erinnerungen an die schlechte alte Zeit.«


Er klopfte mit den Fingern im Takt der Musik auf das Lenkrad, und Lucas lehnte sich zurück und ließ die merkwürdigen Klänge über sich hinwegschwappen. Aber der Takt und die Melodie weckten in ihm auf einmal das Bedürfnis, einfach aufzuspringen und zu tanzen.


»Ja, die schlechte alte Zeit hatte auch ihre schönen Seiten«, meinte Linus. Dann wandte er den Blick von der Straße und sah Lucas an. »Weißt du, eigentlich waren die alten Zeiten gar nicht so schlecht. Okay, die Schreckenszeit war schlimm. Aber davor war es besser als heute, so viel ist sicher.«


Lucas wollte etwas erwidern, überlegte es sich dann aber anders. Die Musik war zu laut, der Wagen rüttelte zu heftig, und er konnte nicht klar denken. Außerdem hatte es sowieso keinen Sinn, Linus zu bitten, mehr ins Detail zu gehen. Linus würde ihm auf seine übliche frustrierende Art nur so viel an Information geben, wie er für angebracht hielt. Fragen zu stellen hieße nur, bei seinem Verwirrspiel mitzumachen. Da war es weitaus besser, einfach nur zu nicken.


Und so fuhren sie dahin. Dunkelheit senkte sich über die Landschaft, und Lucas’ Augenlider wurden schwer, bis er die Augen nicht mehr offen halten konnte und der Schlaf ihn übermannte.


Plötzlich schreckte er aus dem Schlaf hoch und stöhnte. »Anhalten. Mir ist schlecht«, sagte er, beugte sich vor und umklammerte den Türgriff.


Linus lachte. »Du hast dir wohl die Reisekrankheit geholt. Das vergeht wieder. Schlaf weiter.«


Lucas schloss die Augen, machte sie aber schnell wieder auf, als er merkte, dass es dadurch nur noch schlimmer wurde. »Es geht nicht weg. Bitte halt an«, flehte er und hielt sich den Bauch.


»Gleich«, meinte Linus beruhigend. »In fünf Minuten.«


»Du solltest lieber nicht lügen«, bat Lucas kläglich. »Denn wenn du nicht gleich anhältst, kotze ich dein kostbares Auto voll …«


»Siehst du die Lichter da?«, fiel Linus ihm ins Wort, als hätte Lucas gar nichts gesagt. Lucas blickte angestrengt in die Dunkelheit. Er hatte keine Lichter bemerkt, der Wagen rollte weiter über Steine und Geröll, und um sie herum war es vollkommen finster. Lucas hatte sich die ganze Zeit gefragt, ob Linus überhaupt eine Ahnung hatte, wohin er fuhr, ob er ihn eher auf eine Entdeckungsreise mitnahm, auf die er nur wieder mit einem rätselhaften Lächeln reagierte. Aber als er jetzt aus dem Fenster sah, erkannte er, dass Linus recht hatte. In der Ferne waren Lichter zu sehen. Zwar nur ganz schwach, aber sie waren da.


»Was ist das? Noch ein Lager? Oder eine Stadt?«


Linus verzog das Gesicht, und Lucas stöhnte innerlich auf, aber nicht nur wegen seiner Bauchschmerzen. Wenn man Linus irgendwelche Informationen entlocken wollte, hätte man sich ebenso gut mit einem Zweijährigen unterhalten können. Lucas fragte sich manchmal, warum sein Vater so viel Vertrauen in jemanden gehabt hatte, der zu keiner normalen Unterhaltung fähig war und dem es offenbar großen Spaß machte, wenn jemand dastand wie ein Idiot. Die einzige Lösung wäre, Linus zu ignorieren und ihm keine Fragen mehr zu stellen, aber das konnte Lucas nicht. Zum einen wollte er noch mehr erfahren, und zum anderen war reden die einzige Möglichkeit, seine Reisekrankheit zu vergessen.


»Also?«, fragte er. Ihm war sterbenselend, und er fühlte sich noch mehr gedemütigt, weil es ihm so schlecht ging. Lucas zeigte nie eine Schwäche, er war stark, ruhig, ein Beschützer und ein Kämpfer. Aber jetzt hatte ihn ein Fahrzeug fertiggemacht und er konnte nichts dagegen tun. »Sag mir, ist das der Ort, der von der Landkarte verschwunden ist? Ist es das Lager der Spitzel?«


Linus’ Augen funkelten im Mondlicht. »Teils Lager, teils Stadt«, meinte er nachdenklich. »Sehr interessant.«


Erleichtert stellte Lucas fest, dass sie schon ganz nah waren. Bald würden sie anhalten. »Hast du Waffen im Auto?«, erkundigte er sich.


Linus grinste. »Oh, wir brauchen keine Waffen«, erwiderte er augenzwinkernd. »Jedenfalls nicht gleich.«


»Bist du sicher?«, fragte Lucas unsicher.


»Wir brauchen Informationen und die holt man sich nicht mit Waffengewalt.«


Lucas wollte eine Frage stellen, besann sich dann aber anders. Stattdessen lehnte er sich auf dem Sitz zurück und wartete darauf, dass der Wagen anhielt. Linus drosselte das Tempo und fuhr auf einen Berg zu. Als sie näher kamen, entdeckte Lucas eine Öffnung: Linus hatte sich für seinen Wagen wieder eine Höhle ausgesucht. Er fuhr langsam hinein und stellte den Motor ab. Um sie herum war es vollkommen dunkel. Linus holte eine Taschenlampe hervor und stieg aus.


Lucas folgte seinem Beispiel. Der Boden war steinig. Zögernd folgte er Linus zum Höhleneingang, trat ins Freie und atmete dankbar die frische Luft ein.


»Dann wollen wir mal herausfinden, was sie im Schilde führen«, sagte Linus und beschleunigte den Schritt. Lucas nickte und folgte ihm.


Nachdem sie etwa eine halbe Stunde schweigend marschiert waren, blieb Linus so unvermittelt stehen, dass Lucas fast in ihn hineingelaufen wäre.


»Was ist?«, flüsterte er.


»Da«, sagte Linus und deutete auf einen Haufen Felsbrocken. »Von dort aus können wir sie beobachten.«


Leise bewegte er sich auf die Felsbrocken zu und kletterte hinauf. »Kommst du?«


Lucas zögerte. Die Lichter wurden heller. Er schätzte, dass das Lager, oder was immer es war, ungefähr eine halbe Meile entfernt war. Selbst von hier aus wirkte es riesig, viel größer, als Lucas es sich vorgestellt hatte. Es bestand aus einer Ansammlung von niedrigen Gebäuden in der Mitte, die von Hunderten kleinerer Gebäude umgeben waren.


»Fertighäuser«, erklärte Linus sachkundig. »Keine dauerhaften Bauten, aber es hat sicher eine Weile gebraucht, sie zu errichten. Diese Leute meinen es ernst.«


»Ernst womit?«, fragte Lucas.


»Das ist die Frage«, erwiderte Linus achselzuckend. »Und ich glaube, dass es nichts bringt, wenn wir sie von hier aus beobachten. Wir müssen direkt ins Lager.«


»Ohne Waffen? Hast du eine Idee?«, fragte Lucas.


»Hab ich«, sagte Linus mit einem Funkeln in den Augen. »Aber sie wird dir vielleicht nicht gefallen.«


»Wetten, dass?«, meinte Lucas trocken.


»Gut«, sagte Linus nachdenklich. »Wenn wir geschnappt werden, sterben wir. Aber wenn sie einen von uns …«


»Gefangen nehmen?« Lucas runzelte die Stirn.


»Das nicht gerade. Gefangene werden meist eingesperrt, geschlagen und gequält. Ich weiß nicht, wie es hier ist, aber wie wir wissen, schrecken sie nicht davor zurück, Menschen zu töten. Nein, ich habe eine andere Idee.«


»Und zwar?«, fragte Lucas ungeduldig.


Linus machte ein nachdenkliches Gesicht. »Es ist riskant, aber ich glaube, es könnte klappen. Wirf mal einen Blick über den Rand des Hügels und sag mir, was du siehst.«


Lucas wollte schon erwidern, dass Linus doch selbst gehen und nachsehen sollte, aber dann überlegte er es sich noch einmal und fing an zu klettern.


»Ich kann nichts sehen«, sagte er.


»Du musst weiter hinauf«, rief Linus ihm zu und deutete auf die Spitze des Felsens. Lucas zog sich hoch, aber erst als er ganz oben war, bemerkte er, dass Linus direkt hinter ihm war – zu spät, als dass er noch hätte erkennen können, was vor sich ging. Er konnte sich nicht mehr halten und stürzte kopfüber über den schmalen Felsvorsprung in die Tiefe.



20


»Gefällt dir die Musik, Devil?« Mit einem halbherzigen Lächeln drehte Thomas sich um. Er sah zwar nicht gut aus, aber sein stählerner Blick verriet Devil, dass er Autorität hatte. Seine Augen standen eng zusammen, die Haare waren kurz geschnitten, am Handgelenk trug er eine teure Schweizer Uhr, und sein Anzug sah maßgeschneidert aus.


»Ich denke schon«, sagte Devil achselzuckend und in unverbindlichem Ton. Es war nicht sein Musikgeschmack. Gitarrengeklimper. Die Art Musik, die weiße Jungs mit langen Ponyfrisuren spielten. Früher hatte er solche Musik auch gehört. »Das ist eine neue Band. Ich glaube, die Jungs werden es noch weit bringen«, sagte der Mann, trommelte mit den Fingern auf seinen Oberschenkel und nickte im Rhythmus mit dem Kopf. Dann grinste er. »Eigentlich weiß ich genau, dass sie es weit bringen werden, weil ich dafür sorgen werde. Kennst du die Redensart >zu viel Vertrautheit schadet nur

Devil zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Mir doch egal.« Er zog sich die Kapuze über den Kopf. Im Grunde hatte er keine Ahnung, wovon Thomas überhaupt redete, und deshalb tat er das, was er immer tat, wenn er nicht wusste, worum es ging: Er ignorierte ihn. »Ignoranz bedeutet Versagen«, hatte sein Vater immer gesagt. »Ignoranz bedeutet Schwäche. Und wenn du schwach bist, wird der Starke dich ausnutzen. Du musst immer einen Schritt voraus sein. Du musst sehen, was kommt. Du musst gebildet und gut informiert sein, damit dich niemand aufs Kreuz legt, verstehst du, mein Sohn?«


»Du rauchst diesen Mist?«, fragte Thomas und blickte auf Devils Zigaretten.


Devil kniff abwehrend die Augen zusammen. »Das ist kein Mist«, entgegnete er. »Silk Cut. Unverfälschte Ware.« Diese Zigaretten hatte sein Vater immer geraucht. »Mittelklasse-Zigaretten« hatte er sie genannt.


»Das ist alles Mist«, meinte Thomas. »Diese Zigaretten sind schädlich, unter Umständen sogar tödlich. Es ist nicht gut, wenn man abhängig ist, Devil. Gar nicht gut.«


Devil sah ihm frech ins Gesicht.


Thomas lächelte. »Du bist wütend auf mich, weil du denkst, ich setze dich herab, stimmt’s?«


Devil gab keine Antwort.


»Vielleicht tue ich das«, meinte Thomas achselzuckend. »Aber eine solche Angewohnheit fordert das geradezu heraus. Du gibst der Zigarettenindustrie Macht und lässt dich von ihr vereinnahmen. Früher hat man mich herabgesetzt, aber heute nicht mehr. Heute würde es keiner mehr wagen. Ich nehme mein Schicksal selbst in die Hand.«


Devil starrte mürrisch vor sich hin. Er war wütend, doch er konnte nichts dagegen tun. Er würde seine Wut später an irgendjemandem auslassen.


»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«, fragte er.


Thomas lächelte. »Ich weiß nicht nur, wie du heißt, Devil. Ich weiß alles über dich.«


»Ach wirklich?« Devil rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.


»Ja«, sagte Thomas nachdenklich. »Schade um diesen Jungen, nicht? Du musst dich ziemlich beschissen gefühlt haben. Ich meine, schließlich war es deine Schuld, dass er sich umgebracht hat, oder? Du wirst mit dieser Schuld leben müssen.«


Devil konnte sich gerade noch beherrschen, um nicht auf Thomas loszugehen. Und gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er mit diesen beiden großen Typen neben ihm nicht gewinnen konnte. »Das hatte nichts mit mir zu tun«, erklärte er stattdessen mit finsterem Blick.


Thomas lachte. »Wir wissen beide, dass das nicht stimmt, Devil. Wenn du mit dem Leben anderer spielst, musst du auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Damit zu leben. Sie anzunehmen. Du darfst dich nicht selbst belügen. Dein Vater hat dir das doch sicher beigebracht?«


Devil drehte hastig den Kopf weg und Thomas lachte.


»Oh, ich weiß Bescheid über deinen Vater. Ich weiß alles über ihn. Deshalb bist du hier.«


Devil schloss einen Moment lang die Augen. Nachdem er sie wieder geöffnet hatte, sagte er: »Wir haben nichts von seinem Geld. Ganz gleich, was Sie denken. Er hat alles mitgenommen. Ich habe nichts.«


»Das weiß ich«, sagte Thomas beschwichtigend. Der Fahrer setzte den Blinker und der Wagen bog in eine große Lagerhalle ein. Devil sah sich nervös um. Außer ihnen war kein Mensch da und anscheinend kam auch sonst niemand hierher.


»Keine Angst«, meinte Thomas und lächelte wieder. »Wir sind nur hier, um zu reden. Nichts weiter.«


Devil wandte den Blick ab. Wieso konnte dieser Typ ihn so leicht durchschauen? Das verwirrte ihn. Mehr noch, es machte ihn wütend.


Der Mann zu seiner Linken und Thomas stiegen aus und tauschten die Plätze. Devil bekam einen trockenen Hals.


»Mmm.« Thomas lehnte sich auf dem Sitz zurück. »Das zeichnet einen tollen Wagen aus. Man sitzt hinten genauso bequem wie vorn. Er zollt seinen Insassen Respekt. Respekt ist wichtig, Devil. Findest du nicht auch?«


Devil zuckte die Schultern. Er wünschte, dieser Typ würde endlich zur Sache kommen und ihm sagen, was er wollte. Zumindest wüsste er dann, worum es ging.


»Das Dumme ist nur«, fuhr Thomas fort, »dass die Leute nicht mehr viel Respekt voreinander haben, stimmt’s? Sie wissen gar nicht, was Respekt überhaupt ist. Sie sind vom Weg abgekommen, Devil. Sie richten ihre ganze Aufmerksamkeit auf unwichtige Dinge statt auf das Wesentliche, wie Respekt oder Manieren. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, Drogen zu nehmen oder unnützes Zeug anzuhäufen. Sie haben vergessen, worum es im Leben wirklich geht, Devil. Findest du nicht auch?«


»Kann sein«, meinte Devil verhalten.


»Kann sein?«, wiederholte Thomas nachdenklich. »Glaubst du, deine Mutter setzt ihre Prioritäten richtig? Glaubst du, deine Mutter hat ihre Prioritäten richtig gesetzt, als deine kleine Schwester aus dem Fenster gestürzt ist?«


Devil erstarrte.


»Tatsache ist, Devil, dass es nicht ihre Schuld war. Die Gesellschaft ist schuld. Sie hätte ihr helfen sollen, anstatt sie sich selbst zu überlassen. Sie ist nicht die Erste, die sich in Alkohol, Drogen, ins Glücksspiel oder in sonst irgendwas flüchtet. Aber sie ist Teil dieses Problems, Devil. Die Menschen brauchen Führung, aber niemand führt sie.«


Devil schwieg. Er hasste seine Mutter, ihre Schwäche, dass sie zusammengebrochen war, als sein Vater sie verließ, dass sie die ganze Zeit heulte und behauptete, sie sei immer etwas Besonderes gewesen, aber er habe ihr das Selbstvertrauen genommen, dabei hatte er ihr gar nichts genommen, weil sie ein Nichts gewesen war, als er sie geheiratet hatte. Oder nicht geheiratet hatte. Egal. Fest stand, dass sie für Leona verantwortlich war. Nicht für ihn. Er konnte sich um sich selbst kümmern. Aber Leona war noch klein. Sie brauchte ihre Mutter. Und ihre Mutter hatte sie im Stich gelassen. Ihre Mutter war eine verdammte Witzfigur. Eine Chaotin.


Aber sie war immer noch seine Mum. Sie zu hassen war das eine, aber mitanhören zu müssen, wie dieser Thomas über sie herzog, war etwas ganz anderes.


»Na und«, sagte er.


»Na und? Du kannst viel mehr erreichen.« Thomas beugte sich näher zu Devil und legte ihm die Hand auf den Arm. »Du weißt, wovon ich rede, denn du verkaufst diesem Pack Drogen«, flüsterte er. »Dieser Abschaum ist überall. Sie sind wie Schafe. Du weißt, dass sie nichts taugen. Du weißt es. Die anderen Gangs. Deine eigene Gang. Das sind keine Gewinner, oder, Devil? Das sind alles Verlierer.«


Devil rührte sich nicht. »Sie haben meinen Dad gekannt?«, fragte er.


»Ich kenne deinen Dad«, antwortete Thomas. »Ich kenne ihn sogar gut. Und er will dir helfen. Er will, dass ich dir helfe. Wir haben einen Plan, Devil. Einen Plan, um etwas zu verändern. Um alles zum Guten zu wenden. Ich muss nur wissen, ob du uns helfen willst. Ob du die Dinge verändern willst. Ob du reinen Tisch machen, den ganzen Unrat loswerden und neu anfangen willst.«


Devil sah ihn befremdet an. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, meinte er.


Thomas lächelte. »Doch, das weißt du genau. Du kennst doch die Bibel, Devil. Ich wette, du kannst sie sogar auswendig.« Devil hob eine Augenbraue und Thomas lachte. »Sag mir, was in Genesis, Kapitel 6 steht.«


Devil schwieg.


»Sag es mir«, wiederholte Thomas mit strengem Blick.


Devil sah ihn misstrauisch an. »Die Geschichte von der Arche Noah?«, fragte er.


»Die Arche Noah.« Thomas lächelte wieder. »Ein Neubeginn. Erzähl mir die Geschichte.«


Devil rutschte unsicher auf dem Sitz hin und her. »Ich soll Ihnen die Geschichte von der Arche Noah erzählen?«


»Ja, Devil. Ich warte. Und ich warte nicht gern.«


Devil schüttelte den Kopf. Er war doch kein dressierter Affe.


Der große Typ zu seiner Rechten rückte näher zu ihm hin. »Erzähl ihm die Geschichte«, sagte er mit tiefer, drohender Stimme. Devil begegnete seinem Blick und er wandte sich wieder zu Thomas. Mist. Er musste es tatsächlich tun. Mist.


Zögernd und mit leiser Stimme begann er zu rezitieren, wie er früher für seinen Vater die Bibel rezitiert hatte, um ihm zu gefallen, um ihn lächeln zu sehen vor Stolz und um ihn nicht zu verärgern. »Als aber die Menschen sich zu mehren begannen auf Erden und ihnen Töchter geboren wurden«, murmelte er vor sich hin.


»Lauter«, befahl Thomas und schloss die Augen.


Devil seufzte innerlich. »Da sahen die Gottessöhne, wie schön die Töchter der Menschen waren, und nahmen sich zu Frauen, welche sie wollten.«


»Und?«, fragte Thomas. »Weiter?«


»Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht immerdar im Menschen walten, denn auch der Mensch ist Fleisch. Ich will ihm als Lebenszeit geben hundertundzwanzig Jahre.«


Devil hielt inne und Thomas machte die Augen wieder auf. »Mach weiter«, sagte er.


Devil kniff die Augen zusammen. »Zu der Zeit und auch später noch, als die Gottessöhne zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen Kinder gebaren, wurden daraus die Riesen auf Erden. Das sind die Helden der Vorzeit, die hoch berühmten. Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Sinnen und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen.«


»Es bekümmerte ihn in seinem Herzen.« Thomas nickte anerkennend. »Das kommt hin. Na los, weiter. Jetzt kommt die beste Stelle.«


Devil verdrehte die Augen. »Und der Herr sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn.«


Thomas öffnete die Augen und auf seinem Gesicht erschien ein breites Grinsen. »Na also«, meinte er. »Er hat alle Bösen vernichtet und Noah gerettet. Weil Noah mit ihm wandelte, weil Noah anders war als der Rest der Menschheit. Siehst du, Devil? Verstehst du jetzt?«


Devil schüttelte den Kopf. »Was soll ich verstehen?«


Thomas lachte. »Vergiss es. Es wird Zeit, dass wir zurückfahren.«


Er öffnete die Tür. »Was soll ich verstehen?«, fragte Devil noch einmal.


Thomas hielt inne und drehte sich um, das Gesicht immer noch zu einem Grinsen verzogen. »Das wirst du noch früh genug herausfinden. Wirst du mir helfen, Devil? Wirst du deinem Dad helfen, es besser zu machen?«


»Warum sollte ich?« Die Worte brachen unkontrolliert aus ihm heraus, aber Thomas schien nicht verärgert zu sein.


»Weil dir klar ist, dass du es willst.«


»Mir ist gar nichts klar«, versetzte Devil, ermutigt durch die Tatsache, dass keiner ihn bisher angerührt hatte. Vielleicht waren diese beiden großen Typen gar nicht so tough. Vielleicht war das von diesem Thomas alles nur Gerede und nichts dahinter.


»Oh doch«, sagte Thomas. Seine Stimme klang plötzlich ganz sanft und fürsorglich. »Meinst du, Anführer einer beschissenen kleinen Gang in einer beschissenen kleinen Siedlung zu sein, wäre erstrebenswert? Denkst du, du bist jemand, nur weil du zehnjährige Jungs einschüchtern und dazu bringen kannst, Botengänge für dich zu erledigen? Du bist ein Nichts, Devil. Und wenn du so weitermachst, landest du innerhalb eines Jahres im Gefängnis. Ein Versager. Ein Verlierer. Arbeite für mich und du wirst jemand sein. Du wirst etwas Bedeutendes tun. Etwas, woran dein Vater glaubt. Etwas, an dem er schon sehr lange arbeitet. Also sag mir, Devil, willst du mir helfen oder nicht?«


»Sie arbeiten für meinen Vater?«, fragte Devil, und seine Augen weiteten sich ein wenig.


»Ich arbeite für niemanden, Devil«, sagte Thomas. »Beantworte einfach meine Frage.« Seine Stimme klang hart, wie eine unterschwellige Drohung. Devil starrte ihn an. Er war wütend und beleidigt. Aber auch wenn er es nie zugeben würde, war ihm klar, dass Thomas recht hatte. Die Gang war scheiße. Alles war scheiße. Seit dem Selbstmord des Jungen konnte Devil das Gefühl der Leere, der Sinnlosigkeit, der Wut auf den Jungen und auf sich selbst, weil er es zugelassen hatte und weil er nicht zwei Schritte voraus gewesen war, nicht mehr abschütteln. Er hatte sich eingeredet, dass es ihn nichts anginge, dass das Problem damit sauber gelöst sei und dass er es gar nicht besser hätte inszenieren können. Aber im Grunde hatte ihn das nicht überzeugt. Und jetzt … jetzt ergaben Thomas’ Worte einen Sinn. Es war nicht seine Schuld. Die Gesellschaft war schuld. All die Verlierer, die ihm im Weg standen.


Jetzt bot sich ihm eine Gelegenheit. Sein Dad brauchte seine Hilfe. Sein Dad wollte ihn retten.


»Ich arbeite auch für niemanden«, erklärte Devil schließlich. »Aber ich werde mit Ihnen arbeiten, wenn es das ist, was Sie wollen.«


Thomas grinste über das ganze Gesicht. »Ich wusste es«, sagte er und war offenbar zufrieden mit sich. »Willkommen im Team, Devil.« Er reichte ihm einen Anstecker, eine Krawattennadel, mit dem Buchstaben »I« darauf.


»Was ist das?«, fragte Devil.


»Steck ihn an«, sagte Thomas. »Das bedeutet, dass du Teil von etwas bist. Von etwas Besonderem. Von etwas Großem. Ich habe große Pläne mit dir, Devil. Ich glaube, du wirst etwas ganz Besonderes. Ich glaube, du hast genau die gleichen Talente wie dein Vater. Und das brauchen die Menschen jetzt.«


»Was soll ich tun?«, fragte Devil unsicher und befestigte den Anstecker an seinem T-Shirt.


»Nichts«, erwiderte Thomas, stieg aus dem Wagen und ging wieder nach vorn zur Beifahrertür. »Im Moment. Aber wir bleiben in Kontakt. Ich gebe dir dann Bescheid.«



21


Raffy brummte der Schädel. Er lag auf einer Art Ruhebett und um ihn herum waren hauchdünne Vorhänge. Er wusste, dass Benjamin im Zimmer war, aber durch den feinen Stoff war dieser nur schemenhaft zu erkennen. Er räusperte sich, und kurz darauf wurden die Vorhänge zurückgezogen, und Benjamins Gesicht erschien.


»Geht es dir besser?«, fragte Benjamin.


Raffy nickte verlegen.


»Es tut mir leid«, sagte er dann.


Er hatte ungefähr eine Stunde auf dem Bett gelegen. Anfangs hatte er sich nicht hinlegen wollen, er wollte sich unbedingt entschuldigen und Benjamin alles erklären. Aber Benjamin hatte sich geweigert, ihn anzuhören. Stattdessen hatte er darauf bestanden, dass Raffy sich hinlegte, seine Gedanken ordnete, sich besann und, so hatte er mit einem Lächeln hinzugefügt, wieder einigermaßen nüchtern wurde.


Schließlich hatte Raffy nachgegeben, hatte geschmollt, gegrübelt, sich geärgert, geraucht und seinem gerechten Zorn neue Nahrung gegeben, indem er sich Neil und Evie vorstellte, und Lucas, wie er Evie küsste, Evies finsteres Gesicht, das ihn wütend anstarrte.


Doch allmählich waren die Bilder verschwunden. Nach und nach war sein Atem ruhiger geworden, und seine Wut hatte sich gelegt, aber dafür wuchs seine Verlegenheit.


»Was tut dir leid, Raffy?«, fragte Benjamin.


»Dass ich mich wie ein Idiot benommen habe«, antwortete Raffy und wurde rot. Benjamin saß am Fußende der Liege und sah ihn mit seinen freundlichen Augen ernst an. »Dass ich Neil geschlagen habe. Dass …«


Er brach ab. Es gab so viel, was ihm leidtat. Zu viel, um es in Worte zu fassen.


»Neil ist ein guter Lehrer«, sagte Benjamin mit ruhiger, sanfter Stimme. »Ich glaube nicht, dass sein Unterricht jemals Anlass zu so einem Ausbruch gegeben hat.«


»Nein«, meinte Raffy. »Ich kann mir das auch nicht vorstellen.«


»Und trotzdem warst du so erbost über etwas, was er gesagt oder getan hat?«, fragte Benjamin neugierig.


Raffy schüttelte den Kopf und setzte sich auf. »Es liegt nicht an Neil«, sagte er mit einem Seufzer. »Es liegt an mir. Ich … ich werde jedes Mal wütend, wenn jemand Evie zu nahe kommt. Ich kann nichts dafür. Ich sehe dann einfach rot.«


»Hast du Angst, sie zu verlieren? Dass sie dich durchschaut?«


Raffys Augen weiteten sich und Benjamin lachte. »Bis zu einem gewissen Grad haben wir alle Angst davor. Ich hatte früher immer Angst, dass die Leute mich durchschauen.«


»Wirklich?«, fragte Raffy ungläubig. »Sie?«


Benjamin nickte. »Niemand ist unfehlbar. Wir alle haben Fehler.«


Raffy musste das erst einmal verdauen. Dann holte er tief Luft. »Die Sache ist die«, erklärte er, »ich darf sie nicht verlieren. Wenn ich sie verlieren würde, hätte das Leben keinen Sinn mehr für mich. Wenn ich sie mit jemand anderem lachen sehe, dann würde ich am liebsten …«


Er konnte den Satz nicht beenden.


»Denjenigen töten?«, fragte Benjamin behutsam.


Raffy sah ihn an und nickte schuldbewusst.


»Und glaubst du, dass sie dich mehr liebt, wenn du dich so verhältst?«


Raffy runzelte die Stirn. »Nein, ich glaube …« Er räusperte sich. »Sie findet mein Verhalten furchtbar. Das weiß ich. Aber sie … sie erkennt nicht … Sie …«


»Sie sieht die Welt nicht so, wie du sie siehst? Voller Bedrohungen? Voller Herausforderungen?«


Raffy nickte dankbar. Benjamin verstand ihn.


Benjamin lächelte traurig. »Raffy«, sagte er. »Weißt du, warum der Bruder euch in der Stadt so einengen konnte? Weißt du, warum er tun konnte, was ihm beliebte, warum er euch eurer Grundfreiheiten berauben und uneingeschränkt und unbehelligt nach seinen eigenen Regeln über die Stadt herrschen konnte?«


Raffy nickte. »Wegen des Systems.«


»Nein«, erwiderte Benjamin ruhig. »Das System war nur ein Teil seiner Macht. Der wahre Grund war Angst. Die Menschen hatten Angst vor der Alternative. Auch die Schreckenszeit wurde von Angst beherrscht. Angst vor den anderen. Angst, Hass und Misstrauen. Wir alle sind dafür empfänglich. Wir brauchen das: Ohne Angst würden wir in gefährliche Situationen geraten. Ohne Angst würde die menschliche Rasse nicht überleben. Aber ungehindert und ohne Beschränkung kann Angst eine überaus zerstörerische Kraft sein. Und das ist die Art Angst, die dich quält, Raffy. Neil ist keine Bedrohung für dich. Niemand hier ist eine Bedrohung für dich, außer du selbst. Meinst du nicht, dass Evie gar nichts anderes übrig bleibt, als die Flucht zu ergreifen, wenn du dich ihr gegenüber genauso verhältst, wie der Bruder sich in der Stadt verhalten hat? Würdest du nicht das Gleiche tun?«


Raffy starrte ihn an. Evie hatte fast genau dasselbe gesagt. Er hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend.


»Ich war wirklich dumm«, gestand er.


Benjamin lächelte. »Du warst ungestüm und irregeleitet. Nicht dumm.«


Raffy überlegte.


»Ich … ich will sie nicht verlieren, Benjamin. Jetzt, da wir frei sind, gibt es nichts mehr, was sie an mich bindet.«


»Doch«, meinte Benjamin sanft. »Wenn du es schaffst, deine Zweifel und deine Angst abzulegen, wirst du erkennen, dass es vieles gibt, was sie an dich bindet. Neil ist keine Bedrohung für dich. Nur du selbst und deine Eifersucht.«


Raffy atmete tief durch. Er wusste, dass Benjamin recht hatte. »Ich werde es versuchen«, sagte er. »Danke, Benjamin.«


»Du musst dich nicht bedanken«, erwiderte Benjamin mit einem freundlichen Lächeln. »Wir alle machen Fehler. Vertrau mir.«


Raffy riss sich zusammen. »Ich gehe jetzt lieber und entschuldige mich bei Neil.«


»Gute Idee«, meinte Benjamin augenzwinkernd. »Keine Sorge, Raffy. Alles wird gut.«



22


In der Siedlung war es ruhig. Ein paar Jungs von Devils Bande hingen herum, saßen auf der hohen Mauer mit Blick auf die Fußwege, rauchten, tranken und benutzten die Wand auf der gegenüberliegenden Seite, um das treffsichere Werfen mit leeren Getränkedosen zu üben. Die Geschäfte liefen schleppend, aber das lag nicht an mangelnder Nachfrage. Es sah so aus, als könnte nichts mehr Devil aus der Ruhe bringen, als interessierte ihn nichts mehr. Und seine Gleichgültigkeit war ansteckend. Ohne ihn, der das Tempo bestimmte und Anforderungen stellte, war seine Gang in Lethargie verfallen, und niemand, Devil eingeschlossen, hatte große Lust, sie aus diesem Zustand herauszureißen. Der Rubel rollte trotzdem, ohne dass man sich groß anstrengen musste, und es gab keine Probleme. Die Green Lanes Massive mischten sich nicht mehr in ihre Geschäfte ein; niemand mischte sich mehr ein. Devil dachte nicht allzu oft darüber nach, aber wenn doch, dann kam ihm manchmal der Gedanke, dass das vielleicht ein bisschen merkwürdig war. Andererseits hatten sie vielleicht etwas Besseres zu tun.


Im Grunde spielte es keine Rolle, weil Devil auf jeden Fall etwas Besseres zu tun hatte. Er hatte ein größeres Spiel im Auge. Er wollte sich in eine andere Welt begeben. In eine Welt, die ihm gefiel. Mit schicken Autos und mit Leuten, die wahre Macht hatten und denen man Respekt zollte, ohne blöde Gangs, die sich ständig stritten wie kleine Kinder. Das war ihm jetzt klar geworden. Sie unterschieden sich nicht von den Kids, die sich auf dem Spielplatz prügelten, nur dass sie ihre Kämpfe mit Messern und Gewehren austrugen.


Eben das hatte Thomas ihm in den vergangenen Wochen klargemacht. Thomas wusste alles. Er war sozusagen ein wandelndes Lexikon. Er wusste alles über Devil, über Dalston, über Devils Leben davor, über die Siedlung, über Musik, über Politik, einfach alles. Sobald Devil ein Thema anschnitt, zog Thomas die Augenbrauen hoch und spuckte eine ganze Ladung Informationen aus. Anschließend lächelte er triumphierend.


Thomas hatte Devil beigebracht, über den Tellerrand zu schauen und seine früheren Ambitionen als das zu sehen, was sie waren: erbärmlich.


»Wer interessiert sich schon für Dalston?«, hatte er einmal mit einem Lächeln gesagt. »Meinst du, irgendjemand außerhalb von Dalston schert sich einen Dreck darum? Meinst du, du verdienst Respekt, weil deine Gang die größte in Dalston ist? Den kannst du höchstens von den Leuten in Dalston erwarten. Und die sind scheißegal.«


Devil hätte ihm am liebsten einen Fausthieb verpasst, wie er es immer machte bei Leuten, die nicht seiner Meinung waren und ihn nicht respektierten. Aber bei den vielen Beschützern um Thomas herum war das unmöglich. Deshalb schwieg er beleidigt. Doch je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Thomas recht hatte. Dalston war ein unbedeutendes Kaff. Und dann nahm Thomas ihn im Auto mit ins Londoner Zentrum, zu Plätzen, von denen er nicht einmal zu träumen gewagt hatte. In Klubs, vor denen lange Schlangen standen und in die sie einfach so hineinmarschierten. In Bars, die die ganze Nacht geöffnet hatten, mit schönen Frauen, die sie umschwirrten wie Motten das Licht. Thomas genoss es sichtlich, das Geld, die Macht, die Aufmerksamkeit. Und Devil amüsierte sich ebenfalls. Er trank Champagner, aß Speisen, die so gut schmeckten, dass ihm jedes Mal das Wasser im Mund zusammenlief, wenn er nur daran dachte, und ließ sich von Frauen umgarnen, die über seine Witze lachten und die ihm das Gefühl gaben, als wäre er ein König.


Devil hatte keine Ahnung, ob er jetzt zu Thomas’ Team gehörte oder nicht. Von Zeit zu Zeit schickte Thomas ihm eine SMS und kreuzte ein paar Stunden später mit seinem Wagen bei ihm auf. Dann ließ Devil alles stehen und liegen und stieg zu ihm ins Auto. Die Jungs seiner Gang löcherten ihn ständig mit Fragen, wer der Mann in dem Wagen sei, aber Devil gab keine Antwort. Das ging nur ihn etwas an. Er war ein Gewinner, ein Anführer; die anderen waren nur sein Fußvolk. Sie erfuhren nur so viel, wie er ihnen erzählen wollte, das genügte.


Und bald würde er ihnen überhaupt nichts mehr erzählen. Bald wäre er fort. Er wusste zwar nicht genau, wann, aber Thomas gab ihm Hinweise. Von einem großen Auftrag war die Rede, von etwas, was Devils Bestimmung war. Er sollte ein Anführer werden. Er würde Anhänger haben, genau wie sein Dad; er würde ihnen sagen, was sie tun sollten und wie sie leben sollten. Und er würde Dalston verlassen. Danach hätte er vielleicht ein eigenes Auto.


Devil vernahm ein Motorengeräusch und schaute mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf. Er verabschiedete sich nicht einmal von seiner Gang; ein Nicken genügte. Die Jungs wussten, dass er wichtige Geschäfte zu erledigen hatte und dass sie die Stellung halten mussten, bis er zurückkam.


Aber kurz darauf verschwand das Lächeln aus Devils Gesicht. Es war nicht der Mercedes. Es war ein blau-weißer Wagen. Die Türen gingen auf, und zwei Polizisten, ein Mann und eine Frau, stiegen aus und kamen auf ihn zu. Es waren dieselben beiden Bullen, die ihn schon einmal verhört hatten. Seine Jungs machten sich aus dem Staub und mit ihnen verschwand auch belastendes Beweismaterial.


»Na?« Devil sah die Beamten frech an. Er hatte es gewusst. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Bestimmt waren sie nur hier, weil er sich schon dazu beglückwünscht hatte, dass sie ihn in Ruhe ließen. Dumm gelaufen.


»Wir haben mit verschiedenen Leuten gesprochen«, sagte der Rothaarige in seinem üblichen drohenden Tonfall. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir dich wegen Mordes anklagen. Das ist dir doch klar. Vermutlich kommt auch noch Totschlag dazu. Wegen dem Jungen, den du gezwungen hast, für dich die Drecksarbeit zu erledigen. Wie fühlt es sich an, wenn man ein Killer ist, Devil? Gut? Bist du stolz auf dich?«


Devil verdrehte die Augen und setzte eine gelangweilte Miene auf. »Was soll’s.«


»Wir haben das Messer, Devil. Und wir haben die Aussage der Mutter. Sie hat uns bestätigt, dass du ihren Sohn zu der Tat angestiftet hast.«


»Ich weiß nichts von einem Messer«, sagte Devil mit zu Schlitzen verengten Augen. »Und ich habe auch niemanden zu etwas angestiftet.«


Die Polizistin lächelte. »Natürlich nicht. Aber wir werden dich mit diesem Messer in Verbindung bringen und dann wanderst du für sehr lange Zeit in den Knast.«


Devil schwieg. Das Messer war sauber; dafür hatte er gesorgt. Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand. Sonst hätten sie ihn schon längst unter Anklage gestellt, anstatt hier herumzulungern.


»Und in der Zwischenzeit«, fuhr sie fort, »werden wir dich auf Schritt und Tritt beobachten. Ein Husten genügt, und schon sind wir da. Denk dran«, sagte sie, drehte sich um und ging zum Auto zurück. Als der Wagen davonfuhr, tauchten nach und nach Devils Jungs wieder auf.


Devil blickte gereizt in die Runde. »Was ist?«, fragte er.


Dann stand er auf und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er hatte das alles hier so satt.


Wütend ging Devil davon, den Fußweg hinunter, vorbei an diesen Versagern, auf die Straße. Er wollte nur noch weg. Er kickte ein paar Steine auf die Straße und traf etwas. Ein Auto. Diesmal war es kein Streifenwagen, sondern ein Mercedes.


Die Tür ging auf, Devil stieg ein, lehnte sich auf dem Sitz zurück und schnallte sich an.


»Du musst vorsichtig sein, wenn du mit Steinen herumkickst.« Thomas streckte ihm die Hand hin; er saß auf dem Rücksitz.


Devil zuckte die Schultern. »Ich habe diesen Ort hier so satt«, meinte er mürrisch. »Gehöre ich nun zu Ihrem Team, oder was? Was wollen Sie überhaupt von mir? Sie tauchen einfach auf, verschwinden wieder und sagen mir nichts.«


Thomas sah ihn eine ganze Weile an. Der Wagen fuhr los, und ein paar Minuten herrschte tiefes Schweigen, bis Thomas schließlich das Wort ergriff. »Mach dir keine Sorgen wegen der Polizei, Devil. Dir kann nichts passieren. Die können dir nichts anhängen. Und in der Zwischenzeit habe ich einen Job für dich.«


»Einen Job?« Devils Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Klar, Mann. Sagen Sie mir, wie und wann. Ich sorge dafür, dass alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigt wird.«


»Nein«, sagte Thomas ruhig. »Ich will nicht, dass einer deiner Jungs den Job erledigt. Ich will, dass du es tust, verstanden? So kannst du dich bewähren. Zeig mir, dass du das Zeug dazu hast. Wenn du deine Sache gut machst, dann wird das Messer verschwinden. Kein Messer, keine Zeugenaussage, nichts. Mach deine Sache gut und du musst nie wieder in diese Siedlung zurück, okay?«


Thomas sah ihn aufmerksam an und Devil nickte rasch. »Alles klar«, erklärte er, und seine Stimme klang etwas weniger großspurig.


»Gut«, meinte Thomas und zog die Mundwinkel leicht nach oben. »Das ist sehr gut, Devil.«



23


Raffy trank einen Schluck Wasser und genoss, ausgestreckt im saftigen Gras, die warmen Sonnenstrahlen, einen Moment der Ruhe, bevor er wieder an die Arbeit musste. So eine Arbeit kannte er bis jetzt nicht, ein Knochenjob, eine schweißtreibende Arbeit, bei der ihm die Puste wegblieb und ihm die Knochen wehtaten. Und nach getaner Arbeit war er so erschöpft, dass er zu Hause oft kein Wort mehr herausbrachte und gleich ins Bett fiel vor Müdigkeit.


Doch er liebte die Ordnung, die Regeln, die Disziplin und die Kameradschaft. In den zehn Stunden am Tag, die er bei der Arbeit war, hatte Raffy das Gefühl, dass das Leben einen Sinn hatte, dass er es unter Kontrolle hatte, dass alles in Ordnung war. Die Arbeit war zwar einfach, aber sie erfüllte einen Zweck; er sorgte dafür, dass die Menschen genug zu essen und zu trinken hatten. Er war Bauer; er konnte erhobenen Hauptes durch die Siedlung gehen. Zum ersten Mal in seinem Leben begegnete ihm weder Hass noch Misstrauen.


Zumindest bis jetzt.


Er stieß einen tiefen Seufzer aus und stützte sich auf die Ellenbogen. Gleich nachdem er von Benjamin weggegangen war, war er zu Neil geeilt und hatte sich bei ihm entschuldigt. Er hatte ihn um Verzeihung gebeten und sogar erklärt, er werde ein paar Unterrichtsstunden nehmen. Anschließend war er beschämt nach Hause gegangen, um sich bei Evie zu entschuldigen und ihr zu versprechen, dass so etwas nicht wieder vorkommen würde.


Neil hatte ihm zugehört, ihm ein paar Fragen gestellt und ihn genau beobachtet. Dann hatte er Raffy umarmt und ihm gesagt, dass er jetzt zur Siedlung gehöre, dass er sein Bruder sei und dass er sich nicht entschuldigen müsse. Raffy war sich ganz klein vorgekommen, als Neil ihm zum Zeichen seiner Freundschaft die Hand gab, ihm ohne Weiteres verzieh und ihm zum wiederholten Mal anbot, Raffy könne an seinem Unterricht teilnehmen und er werde ihm ein Buch seiner Wahl besorgen.


Evie jedoch war seinem Blick ausgewichen und hatte nichts erwidert auf seine verzweifelten Bitten, sie möge ihm verzeihen. Evie hatte ihn nur mit versteinerter Miene angesehen und war dann zur Arbeit gegangen – allerdings nicht in der gewohnt aufrechten Haltung. Sogar später beim Mittagessen hatte sie ihm vorwurfsvolle Blicke zugeworfen. Er hatte sie enttäuscht. Er hatte alle enttäuscht.


Deshalb hatte er beschlossen, Benjamins Rat zu befolgen und sich in die Arbeit zu stürzen, sich darauf zu konzentrieren, die Werte der Siedlung hochzuhalten und ein wertvolles und wichtiges Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Er hatte schwerer gearbeitet, als er sich je zugetraut hätte, war früh zur Arbeit erschienen, hatte keine Pause gemacht und für zwei geschuftet. Und jetzt ging es ihm tatsächlich viel besser. Er war zwar völlig erschöpft, und alle Muskeln – auch die, von denen er bislang gar nicht gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab – schmerzten, aber er fühlte sich besser.


Und auch sein Verhältnis zu Evie war besser geworden. Sie taute allmählich auf, wich seinem Blick nicht mehr aus und lachte manchmal sogar über seine Witze.


Alles kommt wieder in Ordnung, dachte er bei sich. Er wollte sich bewähren und ihr beweisen, dass er ihrer würdig war. Und wenn er und Evie erst verheiratet wären, dann wäre sein Glück vollkommen. Davon hatte er immer geträumt, und es war mehr, als er jemals erwartet hatte. Und wenn sie für immer miteinander verbunden waren, würde er sich bestimmt entspannen und hätte keine Angst mehr, dass jemand sie ihm wegnehmen könnte. Er wusste, dass Benjamin recht hatte, als er von Vertrauen sprach und davon, Evie ihre Freiheit zu lassen. Und Raffy bemühte sich wirklich sehr. Aber es lag nicht in seiner Natur, sich vollkommen zu entspannen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Habichte ständig über ihm kreisten und er immer auf der Hut sein musste.


Raffy ließ sich wieder ins Gras zurücksinken und blickte zum Himmel hinauf. Hier war der Himmel so unendlich weit, viel weiter als in der Stadt, und es gab so unendlich viel Luft, Licht, Sauerstoff.


Hier in der Siedlung konnte er endlich wieder atmen.


Hier konnte er einfach nur sein.


Raffy hörte die Glocke, setzte sich auf und stützte sich mit der Hand auf dem Boden ab, um wieder aufzustehen. Plötzlich hielt er inne, weil jemand dicht neben ihm stand, jemand, den er noch nie gesehen hatte. Er starrte den Fremden an, sein Puls raste. Es war niemand sonst in der Nähe; die Männer verbrachten ihre Mittagspause in der Regel auf der Baustelle, wo neue Häuser und neue Klassenzimmer entstehen sollten. Die Baustelle befand sich ganz in der Nähe der Felder. Nun, nachdem die Glocke das Ende der Mittagspause angezeigt hatte, würden die Bauarbeiter wieder auf die Dächer klettern und sich an die Betonmischer begeben, während die Bauern wieder aufs Feld gingen. Nur Raffy war zum Essen hierhergekommen, fünf Gehminuten von der Baustelle entfernt, wo er im Gras liegen und den Geruch von Freiheit genießen konnte.


»Nette Häuser entstehen da. Du musst begeistert sein«, meinte der Mann.


Raffy schwieg und starrte den Mann argwöhnisch an. Er kannte ihn nicht, und der Mann hatte etwas an sich, was ihn misstrauisch machte.


Der Mann lächelte. »Tut mir leid, du kennst mich nicht. Ich bin ein Freund von Benjamin. Dieser Ort ist sehr beeindruckend.«


Raffy verengte die Augen. Niemand hatte etwas von einem Besuch erwähnt. »Sie kennen Benjamin?«


»Schon lange«, erwiderte der Mann. »Und du bist also Raffy, hm?«


Raffy blickte ihn streng an.


Der Mann lachte. »Du bist vorsichtig, was? Keine Sorge. Ich auch. Das ist auch richtig so. Vor allem in deiner Lage.«


»In meiner Lage?«


»Na, du weißt schon. Wenn man aus der Stadt kommt und Lucas zum Bruder hat«, meinte der Mann achselzuckend. Er hatte ein verkniffenes Gesicht, kleine Augen und ein schwach ausgeprägtes Kinn. Raffy mochte ihn nicht. Er könnte ihn in Sekundenschnelle überwältigen.


Aber dann musste Raffy an Benjamin denken. Gewalt gehörte nicht zu den Grundwerten der Siedlung. Deshalb riss er sich zusammen und war auf der Hut. »Wer sind Sie?«, sagte er und ging drohend auf den Mann zu. »Was wollen Sie?«


»Ich? Gar nichts. Nur …« Der Mann neigte den Kopf zur Seite. »Ich habe Freunde hier. Ich bin nicht offiziell hier … Du musst also nicht jedem von mir erzählen. Aber, wie gesagt, ich habe Freunde. Freunde, die … sich Sorgen um dich machen. Sie wollten es dir nicht direkt ins Gesicht sagen für den Fall, dass du es ihnen übel nimmst. Deshalb habe ich mich dazu bereit erklärt. Mir macht das nichts aus.«


»Freunde? Was sind das für Freunde?«, fragte Raffy und suchte den Horizont ab, um herauszufinden, ob die Arbeiter auf der Baustelle seine Rufe hören würden. Aber ihm wurde sofort klar, dass sie zu weit weg waren.


Der Mann warf ihm einen unbehaglichen Blick zu. »Das kann ich dir wirklich nicht sagen«, meinte er. »Aber wie ich sehe, bist du beschäftigt. Das ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt. Nur … die Nachricht hat etwas mit einer Uhr zu tun. Mit einer goldenen Uhr. Anscheinend hat sie sie wieder. Ich weiß nicht, was das bedeutet und ob dir das etwas sagt. Ich sollte es dir nur ausrichten und das habe ich hiermit getan. Wenn es dir recht ist, mache ich mich jetzt wieder auf den Weg. Und, äh, mach so weiter. Das war die andere Nachricht.«


Der Mann ging davon. Raffy starrte ihm nach. Er sollte nicht auf ihn hören und sich nicht um dessen Worte kümmern, sagte er sich. Alle möglichen Gedanken schossen ihm durch den Kopf und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die Uhr? Meinte er Lucas’ Uhr? Was meinte er mit »sie hat sie wieder«? Er musste es unbedingt wissen und rannte los. »Wer sind Sie?«, fragte er noch einmal, als er den Fremden eingeholt hatte. »Für wen sollten Sie diese Nachricht überbringen?«


Der Mann zuckte die Achseln. »Das kann ich dir leider nicht sagen. Ich habe mein Wort gegeben.«


Raffy sah ihn wütend an. »Wo kommen Sie her? Wieso haben Sie hier Freunde, wenn Sie gar nicht hier leben?«


Der Mann lächelte verlegen und blickte zu Boden. »Man muss in die Siedlung aufgenommen werden, nicht wahr? Ich hab es versucht, aber ich wurde für ungeeignet erachtet. Ich war leider zu faul. Nicht so wie du. Aber, wie gesagt, ich habe Freunde, die mich von Zeit zu Zeit mit Essen versorgen. Also bis demnächst. Und pass auf deine Freundin auf, ja?«


»Raffy?« Raffy drehte sich um und sah Simon auf sich zukommen. »Raffy, was machst du denn hier? Du bist spät dran.«


»Tut mir leid«, sagte Raffy sofort. Er drehte sich nach dem Mann um, aber der war schon verschwunden.


»Na los«, meinte Simon, der mit einer Hand die Augen vor der Sonne schützte und mit der anderen Raffy ein Zeichen gab. »Wir müssen wieder an die Arbeit.«


Raffy warf einen letzten Blick hinter sich und folgte dann Simon mit Herzklopfen zurück aufs Feld.



24


Lucas wachte ganz langsam auf. Er hatte das Gefühl, als würde er mit einem Lift von tief unter der Erde an die Oberfläche fahren; eine falsche Bewegung, und es würde wieder abwärtsgehen. Er öffnete die Augen, doch er konnte kaum etwas erkennen. Sein Kopf war schwer und wie benebelt. Er hatte keine Ahnung, wo er war und wie er hierhergekommen war, aber er wusste, dass das kein guter Ort war. Er spürte es in den Knochen.


Er schloss die Augen wieder. Sein Herz schlug schnell, und ihm war klar, dass er mit seinen Kräften haushalten, dass er sich konzentrieren und sich erinnern musste. Er atmete langsam ein und aus, damit seine Lungen sich mit Sauerstoff füllten. Ein und aus. Ganz ruhig. Lucas vernahm ein mechanisches Surren, aber keine Stimmen, nichts, was darauf hindeutete, dass Menschen in der Nähe waren. Aber das hieß nicht, dass keine da waren. Vielleicht beobachteten sie ihn heimlich.


Vorsichtig machte er wieder die Augen auf. Alles war wie in Nebel gehüllt, aber ganz allmählich lüftete sich der Schleier und er konnte seine Umgebung wieder deutlich wahrnehmen. Er lag auf einem Metallbett. Links neben dem Bett stand eine Maschine, die an seinen Kopf angeschlossen war. Als er sich bewegte, spürte er ein Ziehen, und es tat weh, deshalb blieb er regungslos liegen. Seine linke Hand hing ebenfalls an einem Schlauch. Soviel er sehen konnte, war das alles.


Er atmete wieder langsam ein und aus und versuchte, die Wut und die Angst zu unterdrücken, die in ihm hochstiegen. Wut, als ihm wieder einfiel, was passiert war – Linus hatte ihn von dem Felsvorsprung gestoßen –, und Angst, als ihm bewusst wurde, wo er war: in dem Lager, in einem Bett, als Gefangener. Er musste ruhig bleiben. Er musste herausfinden, wo genau er sich befand, was sie von ihm wollten und wie er von hier wegkam. Und was diese Schläuche an seinem Kopf bedeuteten.


Lucas wartete. Es würde schon irgendwer kommen. Er musste nur solange wach bleiben und dann würde er vielleicht etwas erfahren. Er zählte bis hundert, um sein Gehirn zu beschäftigen, und danach begann er rückwärts zu zählen.


Er kam nur bis dreiundachtzig.


Lucas wachte wieder auf. Er fühlte sich schwach. Das Licht in dem Zimmer hatte sich verändert; vermutlich war es inzwischen Abend geworden. Er betastete mit der Hand sein Gesicht; seine Bartstoppeln sprossen. Er war mindestens schon ein paar Tage hier.


Der Kopf tat ihm weh, er hatte Durst, und sein Hals war ganz trocken. Er wollte rufen, aber es dauerte eine ganze Weile, bis er einen Ton herausbrachte. Und als es ihm schließlich gelang, schien ihn niemand zu hören.


Obwohl es dunkel war in dem Raum, konnte er jetzt mehr erkennen; seine Augen funktionierten wieder besser. Die Lösung aus einem Infusionsbeutel tropfte in die Vene an seiner Hand.


Lucas rief noch einmal, etwas lauter diesmal. Da ging die Tür auf und eine Frau trat ins Zimmer. »Oh, Sie sind wach«, sagte sie.


Sie war jung, hübsch und hatte ein freundliches Gesicht. Lucas brachte ein Lächeln zustande.


»Ja, ich bin wach«, bestätigte er. »Wo bin ich?«


Sie schob seine Augenlider hoch, schaute ihm in den Mund und fühlte ihm den Puls. »Sie sind in einem Krankenhaus, wo Sie betreut werden.«


»Von Ihnen?«


»Unter anderem.«


»Es gibt noch andere?«


»Richtig«, sagte sie lächelnd.


Darauf war Lucas nicht gefasst, und er beschloss, weiter so zu tun, als hätte er das Gedächtnis verloren. »Was ist los mit mir?«, fragte er. »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich heiße.«


Die Schwester sah ihn an, öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie plötzlich, verließ eilig das Zimmer und ließ die Tür hinter sich zufallen.


Lucas hörte, wie die Tür von außen abgeschlossen wurde. Er seufzte und schloss die Augen und begann erneut zu zählen. Diesmal kam er nur bis dreiundvierzig.


»Und er war ganz bestimmt bei Bewusstsein?«


Lucas wurde von einer schroffen Männerstimme geweckt, er hörte sie klar und deutlich.


»Ganz bestimmt. Ungefähr vor vier Stunden. Er wollte wissen, warum er hier ist.«


»Verstehe.« Der Ton war barsch, herablassend, abweisend. Lucas blieb regungslos liegen. Dieser Mann hatte hier offenbar das Sagen. Vielleicht war es der Arzt. »Und was haben Sie ihm gesagt?«


»Nichts, Sir. Gar nichts.« Die Schwester klang besorgt, ja beinahe ängstlich. Sir, nicht Doktor? Lucas fragte sich, wer der Mann war. »Er kann sich an nichts erinnern. Er weiß nicht mal, wer er ist.«


»Tatsächlich?« Der Mann, oder jemand anders, beugte sich über Lucas. Das Licht hinter Lucas’ Augenlidern veränderte sich. Das grelle Licht, das auf sein Gesicht gerichtet war, wurde jetzt von der Person, die ihn untersuchte, verdeckt. »An sich spielt es keine Rolle. Er ist für uns nicht von Interesse. Wir sollten ihn loswerden.«


»Ihn loswerden?«, fragte die Schwester unsicher.


Eine Weile herrschte Stille. »Ich meine, wir sollten die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen. Er wird sich offensichtlich nicht wieder erholen.«


Der zweite Mann räusperte sich. »Und was ist mit dem Papierkram?«


»Er ist keiner von uns, Sie Idiot. Da braucht es keine Formalitäten«, sagte er ungeduldig.


Wieder herrschte Stille. Dann sagte der zweite Mann mit leiser, kaum vernehmlicher Stimme: »Das entspricht nicht der üblichen Vorgehensweise. Ich weiß, dass Ihre Leute außerhalb des Lagers machen können, was sie wollen, aber hier gibt es Vorschriften. Wir können uns nicht einfach irgendwelcher Leute entledigen.«


»Und ob wir das können«, erwiderte der erste Mann mit drohender Stimme. »Wir tun, was ich für richtig halte. Verstanden?«


»Ja, Sir.«


»Okay.«


Lucas hörte, wie der erste Mann von seinem Bett wegging und diensteifrigen Schrittes den Raum verließ. Als er fort war, räusperte sich der andere Mann. »Mr Weizman möchte, dass wir die lebenserhaltenden Maßnahmen abbrechen. Ich lasse die nötigen Formulare ausfüllen und hole mir die Zustimmung des Direktors. Geben Sie ihm vorerst weiter ein Betäubungsmittel«, wies er die Schwester an.


»Aber er bekommt gar keine lebenserhaltenden Maßnahmen«, flüsterte sie. »Ihm fehlt nichts. Er hat nur eine Kopfverletzung.«


»Das macht es noch schlimmer«, sagte der Mann nach kurzem Zögern. Ein paar Sekunden herrschte Stille. Dann hörte Lucas, wie der Mann tief ausatmete. »Und er ist wirklich in Ordnung?«


»Vollkommen gesund«, erklärte die Schwester.


Der Mann seufzte. »Okay. Geben Sie ihm trotzdem ein Betäubungsmittel.«


»Ja, Doktor.« Lucas spürte etwas Kaltes auf seinem Handrücken. Er versuchte, wach zu bleiben, zu denken, zu überlegen, was er tun sollte. Aber es hatte keinen Zweck. Der Nebelschleier hüllte ihn ein, und seine Glieder wurden so schwer wie Blei.


Linus saß still da, das Fernglas auf das flache weiße Gebäude mit den hellen Lichtern gerichtet. Er war jetzt schon ein ganzes Stück näher beim Lager. Allein war es leichter für ihn, sich zu tarnen. Und Stück für Stück fügte er die Puzzleteile zusammen: Die Begrenzungsmauer, die der Landschaft angepasst war, war durch elektrischen Strom gesichert, um neugierige Tiere abzuhalten. Das Tor war zusätzlich mit Starkstrom gesichert, der ausgereicht hätte, um einen Elefanten zu rösten. Diese Leute hatten bestimmt nicht vor, Gäste zu empfangen. Aber Linus konnte das Sicherheitssystem umgehen. Es war zwar ausgeklügelt, aber es gab nichts, womit Linus nicht fertig wurde. Lucas lag hinter dem dritten Fenster von links in dem weißen Gebäude, in dem Zimmer, wo die ganze Zeit die Jalousien heruntergelassen waren. Linus warf einen Blick nach rechts und sah durch die Fenster der leeren Zimmer, deren Türen weit offen standen und die offenbar nicht gebraucht wurden, wie die Schwester den Korridor entlangging. Warum so viele Zimmer? Für wen waren die bestimmt? Linus hatte so eine Ahnung, aber es war nur eine Theorie.


Linus dachte einen Moment lang nach, dann richtete er das Fernglas wieder auf die Türen in dem Gebäude. In den letzten zwei Tagen hatte er das Lager ständig beobachtet und alles überwacht. Und jetzt war er bereit: Er hatte alles gecheckt: sämtliche Zugangscodes, die täglichen Abläufe, und wer wann was machte. Das Gebäude, in dem sich Lucas befand, hatte einen sechsstelligen Zahlencode. Ausgefallene Technik, aber nichts, womit Linus nicht klarkam. Er könnte Lucas problemlos dort herausholen.


Wenn es so weit war. Im Augenblick gab es für Linus interessantere Orte. Lucas befand sich zwar in dem weißen Gebäude, aber an dem grauen Gebäude dahinter war Linus am meisten interessiert. Dort gab es drei Sicherheitsstufen und offenbar hatten nur fünf Leute Zutritt. In diesem Gebäude waren sicher Informationen zu finden und dort wollte Linus als Erstes hin. Wenn er es schaffte, in das Gebäude zu gelangen, würde er bestimmt die Antworten auf seine Fragen finden. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass er in das Netzwerk eindringen und ein paar tickende Zeitbomben einbauen konnte, die später zum Einsatz kommen sollten.


Linus beobachtete und wartete. Als einer von den fünf Leuten mit Zugang zu dem grauen Gebäude um die Ecke bog, wie er es in den vergangenen zwei Tagen nach dem Mittagessen immer getan hatte, kam Linus vorsichtig aus seinem Versteck. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier, dachte Linus, während er den Mann überwältigte, zu dem Platz schleifte, den er am ersten Abend entdeckt hatte, ihm die Kleider auszog und ihn fesselte. »Die kann ich gut gebrauchen«, sagte er im Plauderton, als er in die Uniform des Mannes schlüpfte. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«


Der Mann konnte nicht antworten, weil Linus ihn geknebelt hatte. Linus betrachtete ihn eine Weile und zuckte dann die Achseln. Der Mann würde bald wieder okay sein; Linus würde ihn später freilassen. Und wenn nicht, würde jemand anders ihn finden.


Linus warf einen Blick auf den Weg, um sicherzugehen, dass niemand ihn sah. Dann kam er wieder aus seinem Versteck hervor und schlenderte zu dem grauen Gebäude.



25


Raffy klopfte das Herz bis zum Hals. Er hatte nur fünf Minuten, dann wäre Evie wieder zurück. Er hatte überall nachgesehen: zwischen ihren Kleidern, unter dem Bett, ganz hinten in den Schränken. Aber die Uhr war nicht da, natürlich nicht. Trotzdem musste Raffy weitersuchen. Denn der Mann hatte von der Uhr gewusst, und wie hätte er so etwas erfinden sollen? Er wäre ja zum Bäcker gegangen, aber wenn es nicht stimmte und Evie herausfand … Nein, es war besser, einfach zu suchen, um sich zu vergewissern.


Denn Evie hätte sich die Uhr nicht zurückgeholt.


Niemals.


Ausgeschlossen.


Oder doch?


Lucas’ Uhr. Raffy schloss einen Moment die Augen und versuchte, die Welle von Hass und Wut zu unterdrücken, die allein schon der Name »Lucas« in ihm auslöste, die Verbitterung und die Enttäuschung, die sein bisheriges Leben bestimmt hatten. Obwohl Lucas inzwischen weit weg war, wurde Raffy immer noch von seinem Schatten verfolgt, und er empfand Lucas’ bloße Existenz als einen Angriff auf ihn, um ihn zu unterdrücken und zu schwächen, so wie Lucas es immer getan hatte.


Wenigstens war es früher noch erträglich gewesen, wenigstens war Raffys schäumende Wut früher berechtigt gewesen. Auch wenn Lucas nach Meinung der übrigen Bewohner der Stadt perfekt war, Raffy kannte das Böse, das in ihm lauerte, die Kaltherzigkeit, mit der er den eigenen Vater verraten hatte. Damals war alles noch kontrollierbar gewesen. Raffy hatte gewusst, wer Lucas war und was er war, und dieses Wissen hatte ihn stark gemacht, sodass er den Hass und das Misstrauen der Leute ertragen konnte. Er wollte gar nicht, dass sie ihn mochten, nicht, wenn sie Lucas mochten.


Es hatte nur einen einzigen Menschen gegeben, der ihn mochte und nicht seinen Bruder. Und das hatte Raffy genügt. Denn dieser Mensch war Evie gewesen. Evie, die mit Lucas verlobt war, zog die Gesellschaft von Raffy vor und riskierte Kopf und Kragen, wenn sie sich nachts aus dem Haus schlich, um sich mit ihm zu treffen.


Das allein hatte das Leben lebenswert gemacht. Das allein hatte Raffy klargemacht, dass die Stadtbewohner denken konnten, was sie wollten; dass er und Evie im Recht waren, und nur das zählte.


Und dann … dann war alles um ihn herum in die Brüche gegangen. Es stellte sich heraus, dass Lucas die Wahrheit all die Jahre für sich behalten hatte, dass Lucas ein Held war. Lucas hatte ihren Vater nicht verraten; ihr Vater hatte Lucas vertraut, hatte ihm das Versprechen abgenommen, die Familie, ihn, Raffy, zu beschützen. Wegen dieses Versprechens hatte Lucas all die Jahre gelitten.


Und wegen dieses Versprechens konnte Raffy seinem Bruder nicht verzeihen. Denn jetzt hatte er nichts mehr. Jetzt war er nicht mehr stark, jetzt war er schwach. Jetzt war er nicht mehr gut, jetzt war er böse: der zornige junge Mann, der keinen Grund mehr hatte, zornig zu sein. Außer darauf, dass Lucas Evie ausgerechnet an dem Abend geküsst hatte, als er, Raffy, sie losgeschickt hatte, damit sie ihm bei der Flucht aus der Stadt half. Er hatte Evie die Wahrheit gesagt, hatte ihr alles erzählt, was passiert war. Evie, nicht ihm, seinem eigenen Bruder. Und nun erwartete jeder, dass er froh und dankbar war und sich darüber freute, dass Lucas, der ihn bereits in der Stadt in den Schatten gestellt hatte, ihn jetzt auch hier in den Schatten stellen wollte. Sogar bei Evie. Vor allem bei Evie.


Das wollte Raffy auf keinen Fall zulassen. Er wollte Lucas vergessen, ihn ein für alle Mal aus dem Gedächtnis streichen und so tun, als ob er gar nicht existierte. Hier könnte ihm das gelingen, weil in der Siedlung niemand wusste, dass Lucas, der neue Anführer der Stadt, sein Bruder war. Hier war er einfach Raffy, er wurde nach seinen Leistungen beurteilt und konnte er selbst sein. Aber als Evie ihm Lucas’ Uhr gegeben hatte, die Uhr, die sein Vater Lucas gegeben hatte, war seine Freiheit bedroht gewesen. Er hatte gespürt, wie Panik ihn erfasste, wie sie ihm die Kehle zuschnürte, sodass er nach Luft schnappen musste. Aber er war damit fertig geworden, hatte die Uhr angenommen und sie gleich am nächsten Tag wieder weggegeben.


Er hätte sie zerstören sollen.


Er hätte seinen Hunger ignorieren und sie zerstören sollen.


Raffy setzte sich aufs Bett und holte ein paarmal tief Luft. Die Uhr war nicht hier. Der Mann hatte unrecht. Alles war okay. Er musste sich beruhigen.


Raffy hörte, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde, und sah sich rasch im Zimmer um, ob er auch alles wieder an seinen Platz gelegt hatte. Dann stand er auf und begrüßte Evie. Sie sah ihn misstrauisch an, zog den Mantel aus und legte sich aufs Bett.


»Ich bin so müde«, seufzte sie. »Und ich habe solchen Hunger.« Sie schaute zu Raffy hinüber und runzelte die Stirn. »Raffy? Was ist los?«


Raffy verstand kaum, was sie sagte. Ihm dröhnte der Kopf, sein Magen zog sich zusammen, und er hatte das Gefühl, als würde sich der Boden unter seinen Füßen auftun. Sein Blick war auf die Tasche ihres Kleides gerichtet. Dort, wo ihr Taschentuch steckte, schimmerte durch den weißen Stoff unverkennbar etwas Goldenes.


Raffy stützte sich an der Wand ab und zwang sich zu einem Lächeln, einem Lächeln, das aussah, als hätte es ihm jemand ins Gesicht gemalt. Seine Augen suchten in Evies Gesicht nach einem Hinweis, nach einer Erklärung für ihren Verrat, aber er konnte nichts entdecken.


»Raffy?«, sagte Evie noch einmal, stand vom Bett auf und ging zur Tür. »Ist alles okay?« Sie schlich davon, als hätte sie Angst vor ihm.


Raffy nickte. »Klar«, sagte er, schluckte seine Verzweiflung hinunter und unterdrückte seine Gefühle, damit sie ihn nicht übermannten. »Was hast du denn heute so getrieben?«



26


Devil lehnte sich in dem weichen Ledersessel zurück und tat so, als wäre er gar nicht da. Aber er war da, und zwar schon seit Stunden, seit Thomas mit ihm hierher gefahren war, in eine Gegend mitten in London mit lauter hohen Gebäuden, wo es von Menschen in Anzügen nur so wimmelte. Thomas war auf einen Parkplatz gefahren und hatte Devil durch eine Hintertür in einen fensterlosen Versammlungsraum gebracht, und seitdem saß er dort, ließ seinen Blick umherschweifen und starrte Löcher in die Luft.


Er wusste, wie das ging, weil er in der Siedlung die meiste Zeit auch nichts anderes tat.


Allerdings war er nicht zum ersten Mal hier. Als Thomas ihn das erste Mal hierher gebracht hatte, hatte er ihm einen Stuhl angeboten und war dann für ungefähr eine Stunde verschwunden. Diesmal war Devil fast ausgeflippt, war auf und ab gelaufen und hatte versucht, die Tür zu öffnen. Sie war abgeschlossen, und er hatte sich gefragt, ob Thomas irgend so ein durchgeknallter Psychopath war, dem es Spaß machte, Leute einzusperren. Doch kurz bevor Devil tatsächlich in Panik geriet, war Thomas zurückgekommen, hatte ihm ein Bündel Geldscheine in die Hand gedrückt, ihm Fragen über Gott und über die Bibel gestellt und ihm erklärt, dass die Menschen Anleitung bräuchten, dass man sie begeistern und ihnen das Gefühl geben müsse, dass es sich zu leben lohnte. Sie hatten ewig lange geredet, mindestens zwei Stunden, und dann waren sie gegangen. Das war alles gewesen. Devil war irgendwie überrascht gewesen, aber er beklagte sich nicht und wollte auch nicht zu viele Fragen stellen.


Dieses Gebäude war irgendwie seltsam. Vielleicht lag es daran, dass man so hoch oben war – sie waren mit dem Aufzug in den fünfzigsten Stock gefahren. Hier oben hatte man das Gefühl, als würde der Rest der Welt hier keine Rolle spielen, als wäre alles ganz normal. Als könnte das Chaos nicht durch das solide Mauerwerk dringen.


Denn da draußen herrschte Chaos. Da draußen … und das machte Devil, ehrlich gesagt, ein bisschen wahnsinnig.


Beim nächsten Mal hatte Thomas eine Kamera mitgebracht. Er hatte Devil gebeten, in die Kamera zu schauen und sich dabei vorzustellen, sein Vater stünde dahinter und er selbst würde eine von den Predigten seines Vaters halten. Zuerst war er sich ziemlich blöd vorgekommen, war von einem Fuß auf den anderen getreten, hatte woandershin geschaut und so etwas gemurmelt wie, er sei nicht Pastor Jones. Aber als Thomas ein finsteres Gesicht gemacht und erklärt hatte, dass Devil wohl doch nicht der Richtige sei für den Job, hatte Devil mir nichts, dir nichts angefangen zu reden. Das Seltsame war, dass er sich Wort für Wort an die Predigten seines Vaters erinnerte, aber nach ein paar Versuchen begann er sie mit seinen eigenen Geschichten und Gedanken auszuschmücken. Und, Mann, das gefiel ihm. Er hatte das Gefühl, er war jemand und er hatte etwas zu sagen.


Allmählich erkannte er, dass Thomas recht hatte, dass die Menschen ihn brauchten. Denn die Welt wurde immer beschissener. Überall explodierten Bomben, Menschen gingen auf die Straße, und die Bereitschaftspolizei schoss auf sie. In Europa brachten sich die Leute mit Maschinengewehren gegenseitig um. Sie drangen in Häuser ein und schlachteten ganze Familien ab. Devil hatte das in den Nachrichten gesehen, auf dem großen Fernsehbildschirm in Thomas’ Büro. Die Menschen schrien vor der Kamera und flehten um Hilfe. Zwei Leute wurden vor laufender Kamera getötet. Echt beschissen. Und jede Woche hielt er eine andere, neu formulierte Predigt für die Anhänger seines Vaters. »Denn du wirst der neue Pastor Jones«, erklärte Thomas ihm. »Du siehst genauso aus wie er. Du wirst die Menschen aus diesem Chaos führen.«


Natürlich wusste man in diesem Gebäude nichts von den Menschen und von der Gewalt. Die Leute liefen auf den dicken Teppichen herum wie immer, in schicken Anzügen, hübsch frisiert, mit leisen, ruhigen Stimmen, und nicht schreiend wie die Menschen da draußen, die gegen die Türen der Banken hämmerten und ihr Geld verlangten.


Devil sah sich in dem Raum um. Diesmal war er nicht allein. Thomas war da und hatte noch jemanden bei sich, einen jüngeren Typen, nur ein paar Jahre älter als Devil. Ein Streber, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, mit heller Haut und mit Brille, mit dünnen Armen und Beinen, der keinen Schlag landen könnte, wenn er es versuchen würde. Sie tranken Kaffee. In dem Raum stand jetzt ein Fernseher und sie zappten durch die Kanäle und sprachen leise miteinander. Devil saß in der Ecke und beobachtete die beiden.


Plötzlich wandte sich Thomas an Devil. »Also, ich habe da einen Job für dich.«


Der Streber stellte den Fernseher aus und verließ den Raum.


Devil starrte Thomas unverwandt an. »Ich tue, was Sie wollen, Mann.«


»Gut. Und hier ist etwas Geld. Damit solltest du über die Runden kommen.« Thomas zog einen Umschlag aus der Tasche und gab ihn Devil. Devil blätterte schnell die Scheine durch; er wusste, wie man ein Bündel Banknoten nach Augenschein und Gewicht zählte.


Seine Augen blickten gierig. »’ne Million?«


Thomas nickte. »Hör genau zu, Devil. Du machst Folgendes …«



27


Linus sah sich erstaunt um. So etwas hatte er nicht erwartet. Das war … nun, er hätte gesagt, unmöglich, wenn er nicht hier wäre und es mit eigenen Augen sehen würde.


Er ging auf den Bildschirm zu.


»Haben Sie eine Frage?«, meldete sich eine sanfte Frauenstimme, die sexy und entwaffnend zugleich war.


Linus hob eine Augenbraue. »Ich bin nicht sicher, ob du mir antworten wirst«, flüsterte er.


»Probieren Sie es aus«, schlug der Computer vor.


Linus zuckte mit den Schultern. »Okay. Was bist du?«


»Ich bin ein G-4-Benning-8-Modell mit Software-Version 8.9 und einer Million Megabyte Datenspeicher«, antwortete der Computer.


Linus runzelte die Stirn. »Das ist unmöglich«, sagte er. Ihm schwirrte der Kopf, während er überlegte, woran der Name Benning ihn erinnerte. »Ich habe noch nie von dir gehört. Und ich kenne mich aus mit Computern. Ich kenne jeden Computer, der jemals konzipiert oder erfunden wurde.«


»Ich würde das Gegenteil behaupten, denn was Sie sagen, ist unmöglich, da ich existiere und mit Ihnen spreche.«


»Dann kann man mit dir auch über Philosophie reden?«, fragte Linus.


»Über philosophische Denkweisen, ja, aber nur als Teil eines normalen Diskurses«, erklärte die Computerstimme. »Für eine umfassendere philosophische Erörterung empfehle ich Ihnen, die Philosophie-App der Alpha-Website herunterzuladen. Falls Sie es wünschen, kann ich sie gleich herunterladen.«


»Nein«, sagte Linus schnell. »Das ist nicht nötig.«


»Sie wirken nervös«, stellte der Computer fest. »Soll ich Musik spielen? Oder würden Sie eine optische Darstellung vorziehen? Vielleicht mit grünen Wiesen? Oder ist Ihnen das Meer lieber?« Auf dem Bildschirm erschienen mehrere Optionen. Linus starrte darauf und schüttelte den Kopf.


»Nein, keine Bilder«, sagte er entschlossen. »Aber verrate mir, wo du herkommst.«


»Von Alpha Ltd., 11189 East Street, Sacramento, USA.«


»Und wann bist du gebaut worden?«


»Im Januar 2053. Im Februar wurde ich verschifft. Streng geheimer Auftrag.« Es klang, als sei der Computer stolz auf sich.


Linus schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich«, sagte er wieder.


»Nicht unmöglich«, erwiderte die Computerstimme. »Im Gegenteil, ich kann gar nicht vor diesem Datum gebaut worden sein, da die neueste Chip-Technologie erst 2052 eingeführt wurde.«


»Aber es gibt die USA nicht mehr«, flüsterte Linus. »Jedenfalls nicht so, wie es sie mal gegeben hat.«


»Nein«, sagte der Computer, »Sie sind …« Er zögerte. »Wussten Sie, dass sich auf dem Korridor jemand auf Zehenspitzen diesem Raum nähert, um Sie zu überraschen?«


Linus hob eine Augenbraue. »Du bist wirklich klasse. Nur eine Person?«


»Nur der Nachtwächter. Und danke.«


»Nichts zu danken.« Linus duckte sich und schlich zur Tür.


»Nein, gern geschehen«, sagte die Computerstimme.


»Okay, sei jetzt still«, zischte Linus, und der Bildschirm wurde schwarz. Linus zog eine Pistole aus der Tasche, prüfte, ob sie geladen war, und machte sich bereit.


Die Tür ging auf. Linus packte den Wachmann, hielt ihm die Waffe an den Kopf und gebot ihm, still zu sein. Dann öffnete er seine Tasche und holte eine Rolle Klebeband heraus. Innerhalb von ein paar Minuten hatte er den Wachmann an einen Stuhl gefesselt und ihm den Mund mit Klebeband zugeklebt. Zuletzt schob er den Stuhl mit dem Wachmann vor den Computer.


»Jetzt hätten wir gern etwas mit Meerblick«, meinte Linus.


»Natürlich«, sagte die Computerstimme, und sofort erschien auf dem Schirm das Bild von einem sonnigen Strand, an den sanft die Wellen rollten.


»Noch eine letzte Bitte«, sagte Linus, nachdem er sich vergewissert hatte, dass es dem Wachmann trotz seiner Fesseln gut ging. »Der Patient in dem Krankenflügel. Stell die Medikation ein und gib ihm etwas, damit er wach wird.«


»Dafür ist eine Genehmigung erforderlich«, erklärte der Computer. Linus ging zu dem Bildschirm, rief die Sicherheitsbestimmungen auf, gab den Code ein und suchte nach den nötigen Informationen. Schließlich tippte er zufrieden lächelnd das Passwort ein.


»Tust du es jetzt?«, fragte er. »Und wirst du auch sämtliche Türen des Krankenhauses aufschließen?«


»Fertig«, schnurrte der Computer.


»Danke«, sagte Linus mit einem Grinsen und ging zur Tür. »Schön, dich kennengelernt zu haben.« Linus warf einen letzten Blick auf den Computer, und dann schlich er sich auf den Korridor, bevor der Kollege des Wachmanns auftauchte.



28


Lucas wachte plötzlich auf und sah sich in dem Zimmer um. Es war steril, weiß, mit einem kleinen geschlossenen Fenster zum Korridor. Es gab einen Schrank und ein Waschbecken, und über ihm befand sich eine Art Apparat mit Schläuchen, die mit seinem Handrücken verbunden waren.


Und er war nicht tot.


Er fühlte sich sogar sehr lebendig, er hatte so viel Energie wie seit Wochen oder Monaten nicht mehr.


Lucas sprang aus dem Bett, zog die verschiedenen Schläuche aus seinem Handrücken und fragte sich, warum er eigentlich so lange hier gelegen hatte. Es war so still, dass er annahm, es müsse Nacht sein, obwohl das ohne Fenster unmöglich festzustellen war. Er schlich zur Tür, drückte die Klinke herunter, und zu seiner Überraschung ging sie gleich auf. Das Zimmer führte auf einen schwach beleuchteten Korridor hinaus. Alles war ruhig, nichts regte sich; keine Krankenschwestern zu sehen, keine Wachleute, kein Mr Weizman.


Lucas ging zurück in sein Zimmer, um nach etwas zu suchen, was er gebrauchen könnte. Er fand seine Kleider, sorgfältig zusammengelegt, in einem Schrank, eine Flasche Wasser und einen Beutel. Er stopfte die Sachen in den Beutel, zog seine Schuhe an und verließ das Zimmer. Er schlich den Korridor entlang und beschleunigte den Schritt, als er die Tür vor sich sah, die, wie er annahm, nach draußen führte. Dann blieb er stehen, streckte zögernd die Hand aus und zog die Tür einen Spaltbreit auf. Hier war es noch heller. Ein Treppenabsatz, eine Treppe, die hinauf-und hinunterführte. Ein Fenster, das ihm sagte, dass er sich ein Stockwerk über dem Erdgeschoss befand. Lucas stieg die Treppe hinunter und ging auf eine andere Tür zu, die offensichtlich ins Freie führte, weil er durch die Glasscheibe im Mondlicht einen Pfad erkennen konnte.


Lucas stellte sich innerlich darauf ein, dass die Tür verschlossen war. Er sagte sich, dass er ruhig bleiben und sich etwas überlegen müsste. Aber als er an dem Türgriff zog, ging sie ganz leicht auf, wie die Tür zu seinem Zimmer. Es war fast so, als hätten sie gewollt, dass er hier herauskam.


Lucas zögerte. War das eine Falle? Einen Moment lang überlegte er, ob er in sein Zimmer zurückgehen sollte. Aber eine Falle konnte auch nicht schlimmer sein als die Aussicht, in diesem Bett zu sterben. Warum sollten sie ihm eine Falle stellen, wenn sie ihn schon erwischt hatten? Wenn sie ihn umbringen wollten?


Leise schlüpfte er durch die Tür, warf einen Blick auf den Weg und auf die Zelte vor ihm und näherte sich dann ganz vorsichtig der Begrenzungsmauer des Lagers. Die Mauer war gesichert, so viel stand fest, aber irgendwo musste es einen Durchgang geben, und er musste ihn unbedingt finden.


Eins war klar: Er musste zu Raffy. Linus glaubte vielleicht, dass Raffy in Sicherheit war, aber Linus hatte ihn von einem Felsvorsprung gestoßen. Linus hatte seine eigenen Pläne und daran würde sich auch nichts ändern. Lucas’ Aufgabe war es, seinen Bruder zu beschützen, so wie er es immer getan hatte.


Lucas erinnerte sich an den Tag, an dem Raffy geboren wurde, als wäre es gestern gewesen. Er dachte daran, wie verwundert er gewesen war über dieses kleine zerbrechliche Wesen mit dem dunklen Haarschopf, den dunklen Augen und dem zerknautschten, scheinbar knochenlosen Gesicht, das da zusammengerollt lag, vollkommen hilflos, und dessen einziger Schutz ein durchdringendes Geschrei war, das alles übertönte und das in nächster Zeit das Hintergrundgeräusch im Haus sein würde. Es war ihr Vater gewesen, der ihm, Lucas, Raffy gezeigt hatte, während ihre Mutter schlief.


»Das ist dein Bruder«, hatte er seinem fünfjährigen Sohn mit ernster Miene erklärt. »Du musst auf ihn aufpassen.«


Lucas hatte seinen kleinen Bruder behutsam auf den Arm genommen und den winzigen Körper fest an sich gedrückt. Im Nachhinein dachte Lucas, dass die Worte seines Vaters keine Bedeutung hatten und dass er damit nur Lucas das Gefühl geben wollte, zu Raffys Leben dazuzugehören. Aber Lucas hatte die Worte ernst genommen. Während er auf das winzige Bündel hinabblickte, gelobte er, seinen Bruder immer zu beschützen und auf ihn aufzupassen, so gut er konnte.


In Raffys ersten Lebensjahren hieß das nichts weiter, als dass Lucas nach ihm sehen, ihm die Regeln der Stadt beibringen und ihm aufhelfen musste, wenn er hinfiel. Aber als Raffy fünf und Lucas gerade elf geworden war, wurde alles anders.


Die Nacht, als sein Vater zu ihm gekommen war, ihn aus dem Tiefschlaf gerissen und ihn aufgefordert hatte, ihm leise in sein Arbeitszimmer zu folgen, würde Lucas nie vergessen. Der Blick seines Vaters – voller Angst und voller Entschlossenheit – erfüllte ihn auch heute noch mit Trauer und Sehnsucht nach dem Mann, den er so geliebt hatte, und er war wild entschlossen, dessen Tod zu rächen. Denn das, was sein Vater ihm erzählt hatte, hatte das Ende von Lucas’ Kindheit bedeutet. Sein Vater hatte schreckliche Dinge über die Stadt herausgefunden, Dinge, die streng geheim gehalten wurden, und es war gefährlich, darüber Bescheid zu wissen. Er erklärte Lucas, dass die Ränge nicht durch das Streben nach dem Guten bestimmt würden, sondern durch das Streben nach Macht; dass er mit einem alten Kameraden außerhalb der Stadt in Verbindung stehe, der ihnen helfen könnte.


Von da an war Lucas in eine andere Welt eingetaucht, in eine Welt voller Geheimnisse, voller Schatten, in der er nie wieder seine wahren Gefühle zeigen konnte, außer gegenüber seinem Vater; in eine Welt, in der er rund um die Uhr arbeitete und von seinem Vater alles lernte, was dieser ihm beibringen konnte.


Und eines Tages kam sein Vater zu ihm und erzählte ihm, dass etwas passiert sei, etwas, das bald herauskommen würde, dass er zu einem K herabgestuft werde und dass er verschwinden müsse. Die ganze Familie werde dieses Schicksal teilen, es sei denn, Lucas würde genau tun, was er ihm sagte: Er sollte ihn verraten und dem Bruder erzählen, dass sein Vater ein Verräter sei, bevor der Bruder herausfand, was passiert war. Auf diese Weise könnte Lucas die Familie beschützen, das Werk seines Vaters fortführen und weiter mit dessen Freund kommunizieren. Auf diese Weise hätte die Stadt noch eine Chance.


Lucas wollte protestieren und seinem Vater sagen, dass er ihn nie verraten und dass er nie zulassen würde, dass ihm etwas passierte, aber er tat es nicht, weil er schon damals wusste, dass es keinen Sinn hatte. Er hatte bereits über die Folgen, die Möglichkeiten und die unterschiedlichen Ergebnisse nachgedacht und war zu dem Schluss gelangt, dass er keine andere Wahl hatte.


»Du musst die Wahrheit für dich behalten, bis die Zeit gekommen ist«, hatte sein Vater gesagt. »Du darfst es Raffy nie erzählen. Er wird dich hassen, weil du mich verraten hast, und du wirst damit leben müssen. Kannst du damit leben, mein Sohn?«


Lucas hatte genickt.


»Gut«, hatte sein Vater erwidert, und die Erleichterung war ihm anzusehen gewesen, Erleichterung gepaart mit Stolz und mit Liebe, und das gab Lucas die Kraft, nicht zu weinen. »Dann wollen wir ein letztes Mal Kaffee kochen.«


Eine Stunde später, nachdem Lucas die Stadtpolizei wegen verdächtiger Geräusche im Haus alarmiert hatte, war sein Vater weggebracht worden, und Lucas war nicht nur zum Beschützer seines Bruders, sondern auch zum Bewahrer des Vermächtnisses seines Vaters geworden, von allem, wofür dieser gekämpft hatte.


Lucas blieb stehen und holte tief Atem. Vor ihm tauchte jetzt eine Mauer auf, und er duckte sich, weil er wusste, dass sie bewacht wurde. Zu seiner Rechten befand sich ein Tor. Ob er da durchkäme? Vielleicht, wenn er wartete, bis jemand hereinkam, ein Fahrzeug vielleicht … Aber da müsste er unter Umständen die ganze Nacht oder eine ganze Woche warten.


Lucas hob einen Stein auf und warf ihn gegen das Tor, um zu sehen, was passierte. Zuerst war ein lautes Scheppern zu hören, und dann leuchtete eine Taschenlampe auf. Lucas wich zurück.


»Vorsicht. Es könnte sein, dass du jemanden getroffen hast.«


Beim Klang der vertrauten Stimme fuhr Lucas’ Kopf herum. »Linus?« Ungläubig starrte Lucas auf die Gestalt, die auf ihn zukam. »Du bist hier? Warum? Warum bist du nicht gekommen und hast mich da rausgeholt?«


»Das war nicht nötig«, meinte Linus achselzuckend. »Aber ich würde nicht versuchen, durch das Tor zu gehen. Wenn du da durchgehst, wirst du geröstet. Ungelogen.«


Misstrauisch betrachtete Lucas das Tor.


»Danke«, sagte er. »Ich glaube dir.«


»Kein Problem«, meinte Linus. »Da entlang.«



29


Lucas überlegte, ob er Linus Vorwürfe machen sollte wegen dem, was er getan hatte, aber dann musste er sich eingestehen, dass es ihm eigentlich egal war. Sie verließen das Lager durch eine schmale Fußgängerpforte, deren Code Linus zu kennen schien, und fuhren die ganze Nacht durch. Lucas fühlte sich ausnahmsweise einmal nicht elend. Stattdessen bestaunte er die Landschaft, die an ihnen vorbeiraste, und hörte Linus zu, der ihm von der Siedlung erzählte, in der Raffy und Evie jetzt lebten. Seltsamerweise spielte sein Magen diesmal nicht verrückt, als er ihren Namen hörte; er musste sogar lächeln bei dem Gedanken, Evie wiederzusehen.


»Ich fühle mich großartig«, sagte er zu Linus gewandt, und seine Augen strahlten.


Linus grinste. »Dieser Computer hatte ganz großartige Drogen«, bemerkte er trocken, und als er Lucas’ Gesichtsausdruck sah, musste er lachen. »Sie haben dich unter Drogen gesetzt, deshalb habe ich den Computer dazu gebracht, die Medikation einzustellen und dir ein Mittel zu geben, das dich wieder munter macht. Offenbar hat sie genau das Richtige getan. Genieß es, solange die Wirkung noch anhält.«


»Sie?« Lucas sah Linus neugierig an.


»O ja«, meinte Linus trocken. »Der Computer hatte eine tolle Stimme. Ich glaube, unter anderen Umständen hätten wir uns prima verstanden.«


Der Wagen wurde langsamer und fuhr in eine von mehreren Höhlen. Lucas sah sich um. »Wo sind wir?«


»Im Norden«, erklärte Linus. »In den North Pennines. Zumindest hat man sie früher so genannt. Eine hübsche Gegend zum Wandern. Mit vielen Höhlen.«


»Verstehe«, sagte Lucas. Linus stellte den Motor ab und sie waren in Dunkelheit gehüllt. »Du hast das alles geplant, oder?«


Linus holte eine Taschenlampe hervor, machte sie an und grinste. »So ungefähr«, meinte er augenzwinkernd. »Bis zur Siedlung braucht man von hier aus zu Fuß etwa eine Stunde«, sagte er und öffnete die Wagentür. »Bist du okay?«


»Mir geht es ausgezeichnet«, betonte Lucas, sprang aus dem Wagen und folgte Linus hinaus in die Dunkelheit.


Mr Weizman starrte auf den Computerbildschirm, in das wütende Gesicht seines Chefs.


»Nur damit ich Sie richtig verstehe. Sie hatten ihn? Er war im Lager und konnte fliehen?«


Mr Weizman nickte. Er hatte schon ein paarmal erklärt, dass es keinerlei Hinweise gegeben habe, dass der Gefangene aus der Stadt kam und dass noch jemand bei ihm war. Er sei außerhalb der Begrenzungsmauer mit einer Kopfwunde aufgefunden und vorsichtshalber ins Lager gebracht worden. Nachdem er als »untauglich« eingestuft worden war, hatte Weizman angeordnet, die Behandlung abzubrechen. Die Flucht, der Partner, der sich Zugang zum Zentralrechner verschafft hatte … nichts hatte darauf hingedeutet.


Weizman war die Ereignisse mehrmals persönlich durchgegangen und hatte zwei Leute gefeuert. Aber das half ihm jetzt auch nichts.


Der Mann vor dem Computer stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte müde den Kopf.


»Sie erschweren mir die Sache ganz erheblich«, sagte er. »Wie Sie wissen, traue ich den Leuten durchaus etwas zu, aber sie kriegen es nie hin. Nie.« Er seufzte wieder. »Zum Glück bin ich Ihnen und denen ein paar Schritte voraus. Zum Glück weiß ich, wo sie hinwollen, und bin darauf vorbereitet. Aber lassen Sie sich das eine Lehre sein. Verstanden?«


»Ja, Sir«, sagte Mr Weizman.


Sein Boss stutzte, als wäre er überrascht, ihn noch auf seinem Schirm zu sehen. »Ich bin fertig mit Ihnen «, erklärte er schroff, und der Bildschirm wurde dunkel.


Mr. Weizman drehte sich langsam um und verließ das Zimmer. Er brauchte jetzt einen Drink.



30


Der Bruder schritt gemächlich auf das Gemeinschaftshaus zu, wo neben Versammlungen auch die wöchentlichen Predigten stattfanden, von denen die Bürger der Stadt immer ganz begeistert waren. Als er an den Mitgliedern seiner Gemeinde vorbeiging, genoss er die bewundernden Blicke und das Raunen, das durch die Menge ging. Das war seine Gemeinde – schon immer. Er hatte ein Jahr in der Wildnis verbracht; man hatte ihm die Flügel gestutzt, und er hatte so tun müssen, als hätte er seine Fehler eingesehen und als wäre er Lucas dankbar.


Dankbar? Er verachtete Lucas. Noch nie im Leben hatte er jemanden so gehasst. Lucas war ein Verräter, er manipulierte, und er war verschlossen, ein Verräter, der … Der Bruder schüttelte voller Abscheu den Kopf. Er konnte nicht einmal beschreiben, was aus Lucas geworden war. Lucas, der sich nach außen so stark und kompromisslos gegeben hatte, war die ganze Zeit ein erbärmlicher, wehleidiger Ideologe gewesen. Genau wie sein Vater.


Aber jetzt war er fort. Und falls er jemals versuchen sollte, zurückzukommen, würde es ihm noch leidtun. Er würde in der Stadt keinen Tag überleben, wenn der Bruder mit ihm fertig war.


Vor dem Versammlungshaus blieb der Bruder kurz stehen und sah voller Freude an dem Gebäude hinauf. Er war erleichtert, dass er wieder da war. Die Versammlungen waren seine Lieblingsveranstaltungen in der Stadt gewesen, die er mitgestaltet hatte. Die wöchentliche Versammlung hatte ihm eine Plattform geboten, eine Möglichkeit, alle daran zu erinnern, wie glücklich sie sich schätzen konnten und wie wichtig es war, sie vor dem Bösen zu schützen, das sich nur allzu leicht ausbreitete, wenn es Gelegenheit dazu bekam. Alle hatten stets den ihrem Rang entsprechenden Platz eingenommen – ein öffentliches Forum, wenn es darum ging, die verschiedenen Ranggruppen zu beobachten. Der Bruder hatte das geliebt: die verächtlichen Blicke der As, wenn sie die jämmerliche Gruppe der Ds betrachteten; wie die Bs den Kopf hoch trugen, während sie neidische Blicke in Richtung der As warfen; und dann waren da die Cs, die sich an ihre Ehrbarkeit klammerten und so große Angst hatten, zu Ds herabgestuft zu werden, dass sie diese kaum ansahen, um ihren Ruf nicht zu beflecken. Teile und herrsche – lautete so nicht eine Redensart? Und es stimmte. Schlicht und einfach.


Die Menschen wollten einen vorgegebenen Platz im Leben einnehmen und ihn sich nicht selbst aussuchen, wie Lucas das vorgesehen hatte. Zum Glück hatte Lucas nicht den Mumm gehabt, die Stadt zu führen, und er war kläglich gescheitert, sodass es für den Bruder ganz einfach war, alles wieder ins Lot zu bringen.


Der Bruder wusste nur zu gut, dass es nicht leicht war, ein Anführer zu sein. Man musste Opfer bringen, es kostete Zeit und Mühe. Man musste ständig auf der Hut sein, war ständig Gefahren ausgesetzt und musste sich ständig neue Möglichkeiten ausdenken, um die Menschen zu manipulieren, sie zu überreden, zu begeistern und ihnen unterschwellig zu drohen. Der Bruder hatte schon vor vielen Jahren gelernt, dass die Menschen wie Schafe waren. Sie ließen sich gern führen. Aber wenn man dabei nicht energisch genug war und nicht die absolute Kontrolle behielt, konnte es sein, dass ein Schaf aus der Herde ausscherte und andere ihm blind folgten.


Natürlich sah das nicht jeder so. Lucas war der Ansicht, dass die Menschen es begrüßen würden, wenn er ihnen Freiheit bot, und dass sie ihn dafür respektieren würden. Aber die Menschen wollten keine Freiheit, sie wollten Regeln und Vorschriften und eine Struktur. Warum hätten sich die Menschen sonst so viele Jahre an die Religion klammern sollen? Warum hätten Diktatoren sonst im Lauf der Geschichte so großen Erfolg gehabt? Die Menschen wollten keine Freiheit, sie wussten einfach nichts damit anzufangen. Sie wollten bloß den Schein von Freiheit; sie wollten ein Gerüst, das ihnen vorgab, wie sie sich zu verhalten hatten, in dem die Bösen bestraft wurden und das allen anderen das Gefühl von Sicherheit gab, und im Gegenzug ignorierten sie sämtliche Logiklücken im System, sämtliche Widersprüche und sämtliche unerfreulichen Fakten, mit denen sie sich nicht abgeben wollten. So hatte die Menschheit es schon immer gehalten und so würde es auch immer bleiben.


Der Bruder betrat das Versammlungshaus, schritt durch die Halle, begab sich hinauf zum Rednerpult und hob die Hände in die Höhe. Es wurde still im Saal.


»Meine Freunde, liebe Brüder und Schwestern«, begann der Bruder. »Es ist schön, euch alle hier zu sehen, wie immer. Lasst uns dafür danken.«


Zuerst ging nur ein Raunen durch die Menge, dann wurde es immer lauter, bis die Menschen schließlich in tosenden Beifall ausbrachen. Der Bruder lächelte, als alle fünftausend Einwohner der Stadt die Hände in die Höhe streckten und ihm laut zujubelten.


»Bruder!«


»Willkommen zurück, Bruder!«


»Lasst uns dafür danken!«


»Wir sind wieder sicher!«


Der Bruder ließ seine Gemeinde ein paar Minuten gewähren und sonnte sich in der Verehrung, die die Menschen ihm entgegenbrachten. Dann hob er erneut die Hände.


»Freunde«, sagte er nun mit ernster Stimme. »Freunde, ich bin gerührt von dem herzlichen Empfang und von eurer Begeisterung. Aber heute ist kein Tag zum Feiern. Heute ist ein Tag des Gedenkens an unsere Toten, an unsere Gefallenen. Wie ihr wisst, hat uns euer ehemaliger Anführer Lucas vor Kurzem verlassen. Er ist einfach aus der Stadt geflohen, die sich sein Leben lang um ihn gekümmert hat, und hat ein junges Mädchen mitgenommen. Clara, die letzte von den Verschwundenen. Wir wissen nicht, wo er sie hingebracht hat, und vielleicht wollen wir es auch gar nicht wissen. Denn als er ging, haben wir die Wahrheit herausgefunden – die Leichen vor der Stadtmauer, die Überreste der Verschwundenen. Lucas, liebe Brüder und Schwestern, ist für den Tod unserer jungen Leute verantwortlich. Lucas ist dem Bösen verfallen, Brüder und Schwestern, und es ist uns nicht gelungen, ihm zu helfen und das Böse zu besiegen. Wir haben ebenso große Schuld auf uns geladen wie er. Aber jetzt müssen wir zusammenstehen, jetzt müssen wir uns einig sein in unserem Bestreben, das Böse von dieser Stadt fernzuhalten. Aber lasst uns zuerst danken für alles, was wir haben, für diese Stadt, für einander, für unser Essen und für die Arbeit, die unseren Geist wachhält und unseren Körper stark macht.«


»Wir sagen alle Dank«, riefen alle voller Inbrunst.


Der Blick des Bruders fiel auf Claras Eltern. Die Augen noch immer blutunterlaufen, die Hände ineinander verschlungen, klammerten sie sich aneinander, um sich gegenseitig Halt zu geben. Der Bruder lächelte still vor sich hin.


»Lasst uns dieser großartigen Stadt danken.«


»Wir sagen alle Dank.« Die Stimmen waren jetzt lauter und eindringlicher.


»Und schließlich …« Der Bruder hielt inne, und sein Blick wanderte zu dem hinteren Teil des Saales, wo ein Mann saß, umgeben von ehemaligen Ds, die noch immer ihren Platz kannten und denen es hoch anzurechnen war, dass sie es nicht wagten, sich neben As oder Bs zu setzen, wie sie es getan hatten, als Lucas die Leute zusammengerufen hatte. Der Mann nickte und der Bruder ließ sich zu einem schwachen Lächeln herab. »Und schließlich lasst uns dem System danken, das von den Mächten des Bösen abgeschaltet wurde, aber das wir so bald wie möglich wiederherstellen werden, damit es uns beschützt und über uns wacht. Damit wir keines von unseren geliebten Kindern mehr verlieren. Damit wir vor dem Bösen geschützt sind, das da draußen umgeht und das sich auch in dieser Stadt ausbreiten wird, wenn wir nicht auf der Hut sind.«


»Wir sagen alle Dank.«


Der Bruder lächelte. Alles würde gut werden. Alles war wieder so, wie es sein sollte.



31


Kaum hatte Raffy sich zum Mittagessen hingesetzt, wusste er, dass der Mann wieder da war. Noch war nichts von ihm zu sehen, aber Raffy hatte die besondere Gabe, auf die kleinsten Dinge zu achten: den veränderten Gesang der Vögel, ein unbestimmtes Rascheln in den Zweigen der Bäume, Dinge, die andere nicht bemerken würden, Dinge, die ihm sagten, dass er auf der Hut sein musste.


Raffy holte sein Sandwich heraus und begann zu essen, aber eigentlich wartete er. Und ein paar Minuten später erschien der Mann tatsächlich. Raffy sah ihn nachdenklich an. »Sie hatten recht«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme.


»Ja«, erwiderte der Mann. Er setzte sich ein paar Meter von Raffy entfernt hin. »Das tut mir leid. Ich dachte nur, du solltest es wissen.«


»Es tut Ihnen nicht leid«, sagte Raffy, und mit seinen dunkelbraunen Augen sah er dem Fremden frech ins Gesicht. »Sie haben es mir aus einem bestimmten Grund gesagt, und ich nehme an, Sie sind jetzt hier, um mir den Grund zu nennen. Sie wollen etwas von mir. Was ist es?«


Der Mann lächelte. »Dir entgeht fast nichts, oder?«


»Im Gegenteil«, meinte Raffy und blickte den Mann mit seinen großen braunen Augen an, die von den zerzausten Haaren halb verdeckt wurden. »Mir entgeht anscheinend eine ganze Menge. Erst durch Sie habe ich von der Uhr erfahren. Offenbar erfahre ich von vielen Dingen immer als Letzter. Also, warum sind Sie wirklich hier?«


»Meinst du mit den vielen Dingen deinen Bruder und die Lügen, die er dir die ganzen Jahre über aufgetischt hat?«


Raffy schwieg und biss in sein Sandwich, aber kurz darauf wünschte er, er hätte es nicht getan, denn er spürte, dass seine Kehle ganz ausgetrocknet war. Er hatte jetzt keine Lust zu essen und spuckte den letzten Bissen wieder aus.


»So schlimm?«, fragte der Mann. »Dann wirst du wahrscheinlich auch nicht erfreut sein, wenn ich dir sage, dass dein Bruder hierher unterwegs ist.«


Raffy sah jäh auf. »Was?«


Der Mann zuckte die Achseln. »Er will herkommen und dich mitnehmen. Dich und deine Freundin.«


Raffy verengte die Augen. »Wir gehen nirgendwohin«, sagte er mit leiser, drohender Stimme. »Lucas kann machen, was er will, aber ich bin fertig mit ihm.«


Der Mann verzog das Gesicht. »Sicher, Raffy. Aber kannst du das auch von Evie sagen? Jetzt, wo du von der Uhr weißt?«


Raffy antwortete nicht; der Mann sollte nicht merken, dass er kochte vor Wut.


»Sie hat sich für mich entschieden, nicht für Lucas. Und sie wird sich immer für mich entscheiden«, sagte er schließlich und stand auf. »War’s das? Ich muss nämlich wieder an die Arbeit.«


Der Mann nickte. »Du hast nicht gerade viel gegessen«, bemerkte er.


Raffy starrte ihn mit finsterem Blick an. »Ich habe keinen großen Hunger«, erwiderte er.


»Okay«, meinte der Mann mit einem Lächeln. »Du hast bestimmt recht. Wenn Lucas hierherkommt, wird Evie ihn wegschicken. Sie wird auf dich hören. Aber, und jetzt kommt ein großes Aber, wenn sie es nicht tut, wenn nicht alles ganz planmäßig läuft, dann hätte ich einen Vorschlag für dich.«


»Was für einen Vorschlag?«, fragte Raffy schroff. Seine Augen funkelten. »Wer sind Sie überhaupt? Sie haben sich nie darum bemüht, in die Siedlung aufgenommen zu werden. Ich habe mich erkundigt.«


Der Mann lachte. »Okay, du hast mich erwischt.« Er sah Raffy wachsam an und lehnte sich zurück. »Im Grunde genommen haben wir etwas gemeinsam. Du bist nicht gerade ein Freund von Lucas, und ich bin auch nicht zufrieden mit deinem Bruder und mit ein paar Dingen, die er getan hat. Ich denke, dass wir uns gegenseitig helfen könnten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du besonders begeistert bist, dass er hierherkommt, um dich von dem Ort wegzuholen, an dem du zum ersten Mal in deinem Leben glücklich bist, und dass er dir Evie wegnehmen will. Sieh mal, ich glaube nicht, dass man Lucas vertrauen kann. Ich meine, das hat er in der Vergangenheit doch zur Genüge bewiesen, oder? Also, wie wär’s, wenn du dich wieder hinsetzt und dir meinen Vorschlag anhörst? Nur für den Fall, dass Evie die Dinge nicht so sieht wie du. Hör mich an, und dann entscheide, was du tun willst. Na, wie klingt das?«


Hoffnungsvoll sah er zu Raffy auf. Raffy holte tief Luft. Er mochte diesen Mann nicht. Er traute ihm nicht über den Weg. Aber mit der Uhr hatte er recht gehabt. Wenn er jetzt auch mit Lucas recht hatte … wenn Lucas tatsächlich hierher unterwegs war … Raffy atmete tief aus, setzte sich wieder und sah den Mann an. »Gut«, sagte er. »Erzählen Sie mir Ihren Plan. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen.«


»Das erwarte ich auch nicht«, meinte der Mann lächelnd und streckte Raffy die Hand hin. »Ich heiße übrigens Thomas. Schön, dich kennenzulernen.«


»Hier sind sie?« Lucas betrachtete den großen Zaun vor ihnen, der so ganz anders war als die Stadtmauer. Anscheinend diente er nur als Grenzmarkierung und nicht dazu, Leute draußen oder drinnen zu halten. »Hier leben sie jetzt?«


Linus nickte. »Warte hier«, sagte er. Sie waren nur ein paar Hundert Meter von der Umzäunung der Siedlung entfernt. Lucas beobachtete neugierig, wie Linus auf den Zaun zurannte, einen Moment wartete, dann offenbar etwas hinüberwarf und wieder zurückkam. Lucas fand Linus’ Verhalten zwar ziemlich irritierend, aber im Moment konnte er diesen Mann nur bewundern, der doppelt so alt war wie er, aber anscheinend so fit und gelenkig wie ein Teenager, der alles zu wissen schien und der immer für eine Überraschung gut war. Lucas, der sein Leben lang Anordnungen befolgt hatte, wurde nicht schlau aus Linus, aber als er ihn nun zurückrennen sah, konnte er nur bewundernd den Kopf schütteln. Obwohl er natürlich keine Ahnung hatte, was Linus vorhatte. Denn Linus hatte ihm wieder einmal nichts gesagt.


»Na?«, fragte er, obwohl er eigentlich keine Antwort erwartete, zumindest keine befriedigende.


»Na?«, wiederholte Linus verwirrt.


»Was sollte das alles?«, fragte Lucas und versuchte, seinen Ärger hinunterzuschlucken und daran zu denken, wie sehr er ihn bewunderte.


»Nur eine Nachricht für Benjamin«, erklärte Linus achselzuckend. »Das haben wir uns vor ein paar Jahren ausgedacht.«


»Wir? Du kennst Benjamin? Das hast du nie erwähnt«, sagte Lucas.


»Ich kenne ihn gar nicht«, erwiderte Linus. »Aber vor langer Zeit, als wir die Stadt aufgebaut haben, dachte ich mir, es könnte vorausschauend sein, sich mit den Führern der verschiedenen Kulturen von ganz England zu treffen und einen Code, ein Nachrichtensystem oder so etwas Ähnliches zu entwickeln.«


»Und?«, bohrte Lucas weiter, denn wenn er Linus nicht dazu ermunterte, würde der ihm nichts erzählen.


»Und ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen, damit er weiß, dass wir kommen«, sagte Linus und machte ein verwirrtes Gesicht, als könnte er nicht verstehen, warum Lucas das alles nicht wusste … oder warum er es überhaupt wissen wollte.


»Gut«, lenkte Lucas ein. »Und was jetzt?«


»Jetzt?« Linus sah sich um und hielt die Hand über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen. »Jetzt suchen wir uns einen Platz, wo wir warten können, bis man uns hineinlässt.« Und mit diesen Worten ging er davon. Lucas sah ihm eine Weile nach, stieß einen tiefen Seufzer aus und folgte ihm.



32


»Benjamin? Benjamin?« Benjamin schreckte hoch und einen Moment lang war er irgendwo anders. Einen Moment lang versetzte ihn der Klang von Sterns Stimme viele Jahre zurück in eine Gefängniszelle, eine Zelle, die sich die beiden Männer manchmal dreiundzwanzig Stunden am Tag geteilt hatten, wo sie sich vorsichtig beäugten, ab und zu ein paar Worte wechselten, sich gegenseitig taxierten und wo sie ausknobelten, wer wohl wen besiegen würde, wenn es so weit käme, was eines Tages unweigerlich der Fall sein würde.


Drei Jahre lang hatten sie sich die Zelle geteilt, von den insgesamt zwanzig Jahren, zu denen Benjamin verurteilt worden war. Von dieser Zelle oder vom Freigelände aus hatten sie mitangesehen, wie um sie herum die Schreckenszeit losbrach. Als Benjamin verhaftet wurde, hatte sich die Gewalt in Bombenanschlägen gegen Kirchen und Moscheen, in Übergriffen auf Schwulenparaden, in Straßenschlachten geäußert, und es herrschte überall der Eindruck, dass das Chaos überhandnahm, dass es nicht mehr aufzuhalten war und dass Polizei und Armee nur Fangen spielten.


Aber das war nur der Anfang gewesen. Das, erkannte Benjamin später, waren die guten alten Zeiten gewesen.


Er erinnerte sich noch genau daran, wie ihm klar wurde, dass die Schreckenszeit niemals ein gutes Ende nehmen würde und dass die Zerstörung nicht aufzuhalten war, bis sie von selbst aufhörte, bis nichts mehr übrig war, was zerstört werden konnte. Es war ein ganz normaler Tag im Gefängnis gewesen: Küchenarbeit am Morgen, anschließend Mittagessen, dann Freizeit am Nachmittag. Benjamin hatte sich für das Ausbildungsprogramm eingetragen. Er hatte bereits die mittlere Reife abgeschlossen und bereitete sich nun auf das Abitur vor. Der Unterricht war hier weitaus besser als in der Schule; es gab kleinere Klassen, und die Leute hier wollten wirklich etwas lernen, auch wenn sie ab und zu frustriert waren und dieser Frust sich in Gewalt entlud, auch wenn manchmal die Wachen gerufen und Gefangene weggeschafft werden mussten, weil sie den Lehrer mit dem Messer bedroht hatten, weil er oder sie eine Arbeit rot durchgestrichen hatte. Benjamin hatte das Gefühl, dass er endlich etwas aus sich machte; dass er endlich erkannte, wer er war und was vielleicht aus ihm werden könnte.


Damals war die Armee bereits auf den Straßen in England und in großen Teilen von Europa präsent. Hauptsächlich wegen der Unruhen. Ursache für die Ausschreitungen war die Lebensmittelknappheit, die sich durch die Unruhen noch verschärfte, weil die Hälfte der Straßen gesperrt war und weil jedes Fahrzeug, das die Grenze passierte, mehrmals durchsucht werden musste. Und wer wollte schon etwas in dieses gottverdammte Land bringen? Selbst die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen luden die Lebensmittel an der Grenze ab und kehrten sofort wieder nach Hause zurück. Alle, die genug Geld hatten, hatten das Land bereits verlassen. Zurück blieben nur eine Handvoll Ärzte und Manager; diejenigen, die sich weigerten zu gehen, und diejenigen, die nicht weggehen konnten; die Terroristen, die sich gegenseitig umbrachten, und die randalierenden hungrigen Massen, die damit begonnen hatten, ganze Städte niederzubrennen. Und je schlimmer es wurde, desto weniger Nahrungsmittel konnten geliefert und verteilt werden. Es war ein Teufelskreis. Benjamin beobachtete das alles von einer relativ sicheren Warte aus, verfolgte die Nachrichten im Fernsehen und warf seinen Mitgefangenen einen strengen Blick zu, wenn sie ihm dabei im Weg waren oder zu viel Lärm machten. Einmal hatte die Regierung sogar in Erwägung gezogen, sämtliche Gefangenen freizulassen, um deren Unterhaltskosten zu sparen. Allerdings wurde der Plan wieder verworfen, da es unvernünftig gewesen wäre, noch zusätzlich Tausende von hartgesottenen Kriminellen auf die Straße zu lassen und die Stimmung noch mehr aufzuheizen. Und somit waren die Gefängnisse neben den Krankenhäusern und den Pflegeheimen die letzten Bastionen menschlicher Zivilisation, die bei der Nahrungsverteilung vorrangig behandelt wurden und die so sicher waren, dass viele Gefängnisbeamte mittlerweile auf den Korridoren schliefen und ihre Familie mitbrachten, um sie vor den Gefahren und vor den Randalierern da draußen in Sicherheit zu bringen.


Benjamin hatte schon ein paar Jahre im Gefängnis verbracht und sich in einer ganzen Reihe von Auseinandersetzungen bewährt. Er war sozusagen Teil des Establishments. Keiner wollte sich mit ihm anlegen. Und die meisten Gefangenen wollten alles über die Verwüstungen erfahren, denn schließlich war es ihre Welt, die da zerstört wurde, auch wenn sie jetzt nicht unmittelbar davon betroffen waren. Aber ihre Familien wurden getötet, von Terroristen, von Aufständischen, von Polizei oder Armee, die versuchten, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Woche für Woche kamen neue schlechte Nachrichten, und so mancher Schrank ging durch wütende Fäuste zu Bruch.


Die Lage war schlimm, Benjamin wusste das nur zu gut. Aber an jenem Tag wurde ihm erst richtig bewusst, wie schlimm es war. An dem Tag begann er, den Sinn seiner harten Arbeit und der bestandenen Prüfungen in Zweifel zu ziehen. Weil er plötzlich erkannte, dass es sich nicht um ein kleines, örtlich begrenztes Feuer handelte, das schnell gelöscht werden konnte, sondern um einen riesigen Waldbrand, der so lange wüten würde, bis nichts mehr übrig war. Und ihm war klar, dass alle, die dem Feuer im Weg waren, sterben würden, es war nur eine Frage der Zeit. Es war klar, dass es zu Ende ging, es fragte sich nur, auf welche Weise: ob alle starben oder ob ein paar Menschen übrig blieben und ob es unter mehr oder weniger großen Qualen vor sich gehen würde.


Es war nur ein Interview gewesen. Das übliche Interview mit dem Premierminister nach einem traumatischen Ereignis, in dem er die jüngsten Gräueltaten verurteilte und wo er erklärte, dass die Völker der Welt solche Dinge nicht länger hinnehmen würden, dass das gemeine Volk den Kampf gegen diese Terroristen, diese Vandalen, diese Mörder aufnehmen würde, dass er auf der Seite des gemeinen Volkes stehe und dass er mehr Polizei und mehr Panzer auf die Straßen schicken werde. Die Reporterin hatte nur mit halbem Ohr zugehört, war ihm ins Wort gefallen und hatte erklärt, dass es noch eine weitere Stellungnahme gebe. Ein gewisser Pastor Hunt meldete sich zu Wort, und während er redete, bemerkte Benjamin, dass er das alles schon einmal gehört hatte, dass er die Predigt Wort für Wort kannte. Und als er genauer hinsah, entdeckte er das »I«-Abzeichen an dessen Revers. Als die Kamera zu der Reporterin zurückschwenkte, sah er, dass auch sie ein Abzeichen trug. In dem Moment war ihm klar geworden, dass es keine Hoffnung mehr gab, kein Zurück.


Während Benjamin sich ruhig das Interview ansah, hatte er gespürt, wie sich etwas in ihm veränderte, und auf einmal kam ihm die Erleuchtung. Er hatte das alles so satt – diese Wut, diese Gewalt –, das alles war wie eine Krankheit, die so weit fortgeschritten war, dass sie nicht mehr geheilt werden konnte. Benjamin schwor sich, dass, wenn er überlebte, wenn alles vorbei war, wenn das Feuer die Welt verwüstet hatte, er es besser machen würde. Er würde irgendwo, irgendwann einen besseren Ort schaffen, wo keine Gewalt mehr herrschte, wo die Menschen ohne Angst vor Übergriffen frei ihre Meinung äußern konnten, wo man ihnen zuhörte, sie ermutigte und förderte. Einen Ort, an dem er die Führung übernehmen würde, aber nicht an der Spitze, um den Leuten zu sagen, was sie tun sollten, sondern mitten unter ihnen.


Benjamin hätte nie gedacht, dass sein Traum einmal Wirklichkeit werden würde, weil er überzeugt war, dass er angesichts der Zerstörung nicht mehr so lange leben würde. Aber an diesem Tag ging er gleich nach den Nachrichten zurück in seine Zelle, baute sich vor Stern auf, sah ihm direkt in die Augen und sagte etwas, was er bis heute nicht vergessen hatte. »Schlag mich, wenn du willst. Bringen wir es hinter uns. Das ist deine letzte Chance. Wenn du mir überlegen sein willst, musst du mich töten. Und wenn nicht, wirst du tun, was ich sage. Und ich sage, dass es keine Kämpfe, keine Gewalt mehr geben soll. Ich habe das alles satt. Ich schäme mich. Wir können entweder hier warten, bis alles vorbei ist, wir können uns in Stücke reißen wie wilde Tiere, oder wir können Stärke zeigen. Ich will stark sein. Ich will etwas Gutes schaffen. Ich will etwas Neues, etwas Besseres aufbauen. Also, schlag mich jetzt, oder hilf mir, etwas aufzubauen. Du hast die Wahl.«


Dann hatte er darauf gewartet, dass Stern seinen Schlag landete. Aber er tat es nicht. Stattdessen hatte er Benjamin die Hand hingestreckt. Er habe gerade erfahren, sagte er, dass sein Sohn tot sei. Er war das Einzige gewesen, was seinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Sein Sohn war erst drei gewesen. Er hatte sich gerade vor einem Restaurant aufgehalten, als dieses in die Luft flog, und war durch herumfliegende Glassplitter lebensgefährlich verletzt worden. Er war zu spät in das überfüllte Krankenhaus gebracht und von den wenigen, völlig erschöpften und überarbeiteten Ärzten zu spät behandelt worden. Und jetzt war er tot.


Benjamin erinnerte sich an all das, als wäre es gestern gewesen, und doch schien es schon eine Ewigkeit her zu sein, so als wäre es nicht in seinem eigenen Leben passiert, sondern im Leben eines anderen, den er früher einmal gekannt hatte. Er öffnete das Fenster, trat hinaus in den Sonnenschein und atmete tief durch. Es war gut, noch am Leben zu sein, dachte er bei sich. Gut, zu diesem Ort des Wachstums, der Akzeptanz und des Neuanfangs zu gehören. Jeder brauchte manchmal einen Neuanfang. Jeder hatte eine zweite Chance verdient.


Benjamin ging ins Zentrum der Siedlung, vorbei an den Handwerkern, die Möbel für die ständig wachsende Bevölkerung herstellten, vorbei an den Bäckern, vorbei an der grasbedeckten Anhöhe, wo kleine Kinder spielten. Auf einmal blieb er stehen, denn aus der Näherei kam ein neues Mitglied der Siedlung in einem langen weißen Kleid, das ungefähr drei Nummern zu groß war. Benjamin lächelte, als er die Frauen um das junge Mädchen herumtänzeln sah und wie Sandra das Kleid hier und da absteckte, damit es Evie mit ihrer zierlichen Figur passte.


Als Evie aufblickte und ihn sah, musste Benjamin seine Tagträume unterbrechen. Er ging auf sie zu und meinte: »Evie, du wirst eine wunderschöne Braut abgeben. Und eine wundervolle Bürgerin.«


Evie lächelte, aber Benjamin bemerkte, dass ihr Lächeln nicht von Herzen kam.


»Danke«, sagte sie und wandte sich dann an Sandra. »Ich sollte es jetzt ausziehen.«


»Noch nicht«, schimpfte Sandra. »Ich muss es noch fertig abstecken. Du wirst immer dünner, Evie. Und du hast dich nicht genug gedreht. Wir wollen, dass du dich noch ein paarmal drehst, nicht wahr, Mädels?«


Die Frauen lachten und feuerten Evie an, und Evie drehte sich noch zweimal. Aber Benjamin fiel auf, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war.


»Ich mache euch einen Vorschlag«, sagte er. »Du steckst das Kleid fertig ab, Sandra, und anschließend gehen Evie und ich zum Mittagessen. Wie klingt das?«


Sandra nickte kurz und steckte in aller Eile das Kleid ab, bevor sie Evie in die Näherei zurückscheuchte. Sekunden später erschien Evie in ihrer normalen Kleidung und sah mit ernstem Gesicht zu Benjamin auf. So war das bei Benjamin; er machte einen Vorschlag, und noch bevor er darüber nachgedacht hatte, ob er gut war, war er auch schon ausgeführt. So etwas konnte einem schon zu Kopf steigen und einen berauschen. Benjamin wusste das nur allzu gut. Aber ihm war auch bewusst, dass die Macht, die er hatte, auch eine große Verpflichtung gegenüber den Menschen war. Sie waren keine Schafe, die ihm bedingungslos folgten, sondern er diente ihnen, denn ihnen hatte er alles zu verdanken.


Evie sah zu ihm auf und die Angst war ihr ins Gesicht geschrieben. Benjamin lächelte. »Also, gehen wir? Heute ist so ein herrlicher Tag, findest du nicht auch?«


»Ja, herrlich«, stimmte Evie zu.


»Und bald wirst du ein Mitglied unserer Gemeinschaft sein. Macht dich das glücklich, Evie?«


Sie nickte eifrig. »Sehr glücklich«, sagte sie. Ihre Augen sahen überanstrengt aus.


»Aber trotzdem hast du Angst. Hat deine Angst mit diesem Ort zu tun, oder geht es eher um die Liebe, um deine persönliche Verpflichtung?«


Als er sah, wie Evies Blick sich verfinsterte, wusste er sofort, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.


»Ich habe keine Angst«, sagte Evie rasch. »Ich bin hier so glücklich, Benjamin. Ich habe wirklich Glück gehabt und ich weiß das. Wir beide wissen das. Raffy tut es wirklich aufrichtig leid, was er getan hat. Und im Grunde war es wohl meine Schuld. Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel. Neil meinte, es ist okay. Er hat es verstanden. Bitte, denken Sie nicht, Raffy … Er meint es nicht so. Er versucht nur …« Evie verstummte, und Benjamin erkannte den Zwiespalt, in dem sie steckte: Einerseits wollte sie ihn schützen, und andererseits war sie enttäuscht von ihm.


Benjamin nickte bedächtig. Dann blieb er stehen und sofort hielt auch Evie inne.


»Die Liebe ist eine komplizierte Angelegenheit«, sagte er. »Wir können auf ganz verschiedene Weise lieben. Wir können unser Land lieben, unsere Eltern. Wir können uns verlieben und wieder trennen.« Er holte tief Luft. »Aber die Liebe sollte uns nie Angst machen oder uns erdrücken. Wir sind nicht verantwortlich füreinander, verstehst du?«


Evie biss sich auf die Lippen. »Ich … ich glaube schon. Aber ich liebe Raffy. Ich liebe ihn wirklich.«


Benjamin lächelte. »Gut. Und keine Angst wegen der Hochzeit. Ich glaube, jeder hat Lampenfieber in so einer Situation. Ah, da ist ja Raffy. Na, auch schon nervös vor dem großen Tag?«


Evie fuhr herum. Sie hatte nicht bemerkt, dass Raffy auf sie zukam. »Nervös? Überhaupt nicht«, sagte Raffy sofort, und seine Stimme klang etwas gereizt. »Ich wünschte, die Hochzeit wäre schon heute. Und Evie auch. Nicht wahr, Evie?«


Raffy sah sie forschend an, und Evie nickte. »Natürlich«, sagte sie. »Natürlich.«


»Schön.« Benjamin lächelte und warf noch einmal einen Blick auf Evie. Dann machte er sich auf den Heimweg. Bestimmt stand das Essen schon auf dem Schreibtisch, wie jeden Mittag. Doch unterwegs entdeckte er etwas, was er viele Jahre nicht mehr gesehen hatte und von dem er nicht gedacht hätte, dass er es jemals wiedersehen würde. Das Mittagessen musste warten. Es konnte zufällig hierhergekommen sein, vielleicht hatte der Wind es hierher geweht. Aber Benjamin wusste, dass es nicht so war. Es war alt, schmutzig und hatte mehrere Löcher. Bei dem Stofffetzen, der da vor ihm auf dem Weg lag, handelte es sich zweifellos um ein rotes seidenes Taschentuch. Und das konnte nur eines bedeuten.


»Was hat er zu dir gesagt?«, fuhr Raffy Evie an, kaum dass Benjamin außer Hörweite war, und packte sie am Handgelenk.


Evie sah ihn misstrauisch an. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Nach dem Vorfall mit Neil hatte es so ausgesehen, als täte ihm die ganze Sache aufrichtig leid und als hätte er tatsächlich vor, sich zu ändern. Ein paar Tage lang war er ein ganz anderer Mensch gewesen – vielleicht etwas zu sehr auf die Arbeit konzentriert, aber ungezwungen im Umgang mit ihr, hilfsbereit, fröhlich; keine wütenden Blicke, wenn sie sich mit anderen Leuten unterhielt, keine vorwurfsvollen Blicke, wenn sie abends vom Unterricht nach Hause kam. Und dann war er plötzlich wieder rückfällig geworden, nur diesmal war es noch schlimmer, diesmal explodierte er schon bei der geringsten Kleinigkeit und fuhr aus der Haut und war nicht mehr zu beruhigen. »Er hat mit mir über die Hochzeit gesprochen«, sagte Evie. »Er hat gesagt, was für ein herrlicher Tag heute ist und dass die Liebe eine Himmelsmacht wäre.«


Raffy nickte und biss sich auf die Lippen. »Und, bist du seiner Meinung? Hast du ihm gesagt, dass du seiner Meinung bist?«


»Ich denke schon. Ich weiß nicht recht. Raffy, du tust mir weh.«


Doch Raffy ließ sie nicht los, sondern packte noch fester zu. »Du liebst mich doch, oder?«, fragte er. »Ich meine, wir sind doch glücklich, oder? Wir beide? Es gab doch immer nur uns beide, oder? Und wir sind glücklich. Wir werden heiraten. Das wollten wir doch immer, oder?« Raffy sah sie aufmerksam an und sein schmachtender Blick durchbohrte sie. Sie sah den Schmerz und die Furcht in seinen Augen, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte und warum er das tat.


»Evie, bist du okay, meine Liebe?« Es war Sandra. Sie kam auf Evie zu. Raffy lockerte den Griff, und Evie rang sich ein Lächeln ab.


»Ja, alles okay«, sagte sie.


»Ich wollte nur wissen, wie das Kleid aussieht«, meinte Raffy leichthin.


»Sag es ihm bloß nicht!«, scherzte Sandra. »Aber sie wird einfach umwerfend aussehen!« Sie lächelte beide an und ging davon.


Evie blickte Raffy an. Seine Augen glühten vor Wut.


»Raffy, ich weiß nicht, was mit dir los ist. Natürlich werden wir heiraten. Natürlich sind wir glücklich …«


Evies Augen füllten sich mit Tränen, und sie versuchte, sie zu unterdrücken, aber Raffy hatte sie schon bemerkt und wischte sie sanft mit den Daumen fort.


»Ich weiß, es tut mir leid«, sagte er plötzlich. Die Wut verschwand aus seinem Gesicht, und er zeigte Bedauern und Reue. »Ich liebe dich einfach so sehr«, sagte er, beugte sich über sie, küsste sie, nahm ihr Gesicht in beide Hände und strich ihr mit den Daumen über die Wangen. »Ein Leben lang haben sie versucht, dich mir wegzunehmen. Aber das lasse ich nicht zu. Ich würde eher jemanden töten, als zuzulassen, dass man dich mir wegnimmt. Ganz gleich, wer es ist. Das weißt du doch, oder?« Raffy blickte sie so eindringlich, so leidenschaftlich an, dass Evie in ihm wieder den Zigeunerjungen sah, den sie fast ihr ganzes Leben lang geliebt hatte, aber sie sah auch den Jungen, der sie für sich haben wollte, der ihr nicht vertraute und der ihr nie ihre Freiheit lassen würde.

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