»Ich weiß«, sagte Evie, und sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Aber sie drängte es weg, weil sie wusste, dass er die Wahrheit sagte und dass sie nichts dagegen tun konnte.



33


Lucas erblickte Evie in der Ferne und rang unwillkürlich nach Luft.


»Was ist? Was hast du gesehen?«, fragte Linus.


Er und Lucas hockten schon seit Stunden auf einem Laubbaum ein paar Hundert Meter von der Siedlung entfernt, beobachteten abwechselnd das Tor und warteten auf die Spitzel. Mit dem Fernglas konnte Lucas die ganze Siedlung überblicken und dabei hatte er Evie entdeckt.


»Nichts«, erwiderte er rasch. »Da war nur … ein Vogel, der in meine Richtung geflogen ist.«


Linus hob eine Augenbraue, nahm das Fernglas und richtete es auf die Siedlung. Dann zog er beide Augenbrauen hoch; offenbar hatte er dasselbe gesehen wie Lucas. »Ein Vogel, sagst du? Ein ziemlich großer Vogel, würde ich meinen.«


Lucas atmete tief aus und lehnte sich gegen den Stamm des Baumes, wo er sich auf einen Ast gesetzt hatte. Evie. Sie war da, so nah, dass er sie fast hätte zu sich rufen können. Sie hatte glücklich ausgesehen. Natürlich war sie glücklich. Sie war ja bei Raffy. Er schloss die Augen, öffnete sie aber gleich wieder. Er war so müde, dass er auf der Stelle einschlafen würde, wenn er die Augen zumachte. Stattdessen legte er die Hand an die Stirn und spähte zur Siedlung hinüber, als würde er dort eine Antwort finden. Dabei wusste er noch nicht einmal, wie die Frage lautete.


Er sollte nicht hier sein, das wurde ihm mit einem Mal klar. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Das Ganze war ein großer Fehler.


Er sah zu Linus hinüber. Es war früher Abend und es dämmerte schon. »Du hast gesagt, hier seien sie sicher.«


»Ja«, sagte Linus.


»Vielleicht sollten wir sie hierlassen und lieber nach den Spitzeln suchen. Die beiden sind hier glücklich. Das zählt doch auch.«


Linus machte ein nachdenkliches Gesicht und legte das Fernglas weg.


»Schon, aber ich glaube, die Torpfosten haben sich etwas verschoben.«


»Wirklich?« Lucas zog die Augenbrauen hoch. »Aber wie?«


»Wie?« Linus atmete langsam aus. »Wie«, wiederholte er, mehr zu sich selbst. »Nun, zuerst einmal sind die Spitzel nicht so, wie ich gedacht habe. Ich meine, in mancher Hinsicht schon, aber in mancher Hinsicht auch wieder nicht …«


Linus verstummte, und Lucas sah ihn ungeduldig an. »Was soll das? Linus, bitte, hier geht es um Menschenleben. Red keinen solchen Scheiß. Wenn du was zu sagen hast, dann sag es.«


Linus’ Augen weiteten sich vor Erstaunen. »War es das, was du loswerden wolltest?«, fragte er mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme. Dann ließ er den Kopf in den Nacken fallen. »Ehrlich gesagt, Lucas, weiß ich es nicht.«


»Was weißt du nicht?«


»Keine Ahnung«, meinte Linus kopfschüttelnd. »Ihre Technologie. Diese Perfektion. Hier handelt es sich nicht um irgendeine Gruppe von Überlebenden, die sich gutes Material geschnappt haben, bevor in der Schreckenszeit alles zerstört wurde. Das geht viel weiter. Die Informationen, die sie haben. Das …« Er verzog das Gesicht. »Das lässt die Dinge in einem anderen Licht erscheinen«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ich sehe mich veranlasst, meine frühere Annahme zu überdenken, dass Raffy dort, wo er jetzt ist, sicher ist. Dass alles so einfach ist, wie ich dachte. Sie haben Bomben, Lucas. Sie haben Waffen, wie sie nicht einmal während der Schreckenszeit erfunden wurden. Was fängt eine Gruppe Überlebender mit solchen Bomben an? Wen wollen sie damit angreifen?«


Lucas musste das alles erst einmal verdauen. »Wir müssen Raffy und Evie da rausholen«, sagte er.


»Noch nicht«, sagte Linus vorsichtig.


Lucas rutschte unruhig auf seinem Ast hin und her. »Willst du mir auch verraten, warum? Innerhalb von fünf Minuten kann ich über den Zaun klettern und die beiden holen. Worauf warten wir noch?«


»Wir warten auf die Spitzel. Weil sie uns gefolgt sind, seit wir ihr Lager verlassen haben.«


Lucas starrte Linus wütend an. »Ist das dein Ernst? Wir haben sie hierher geführt? Ausgerechnet zu den Menschen, die wir beschützen wollen?«


Linus schüttelte den Kopf. »Sie haben immer gewusst, wo Raffy ist«, sagte er ruhig. »Sie wissen alles. Genau das versuche ich dir ja zu erklären. Dieses Computersystem … So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«


»Warum sind sie uns überhaupt gefolgt? Clara hat gesagt, sie wollen Raffy.«


Linus zuckte erneut die Achseln. »Ich habe nicht auf alles eine Antwort«, sagte er schroff. »Aber ich habe Fragen. Zum Beispiel: Warum ist Clara nicht gestorben? Warum sind die Spitzel hinter uns her? Was wollen sie wirklich? Diese ganze Sache ist viel komplexer, als wir denken. Es ist wie ein Spiel. Ich weiß nur noch nicht, um was oder mit wem wir spielen.« Er hob das Fernglas wieder an die Augen. »Okay, ich glaube, es ist Zeit, dass wir gehen. Schau mal.«


Linus reichte Lucas das Fernglas, und dieser richtete es auf die Absperrung, die die Siedlung von dem umliegenden Ödland trennte. Der schwache Zaun, über den Linus etwas geworfen hatte, ein Zaun, der fast bescheiden aussah und der auf Lucas dennoch wesentlich vertrauenerweckender wirkte als die hohe und gut bewachte Stadtmauer. Aber vor wem bewachen sie sie? Und vor was? Bestimmt nicht vor den Spitzeln. In der Ferne vernahm er ein Motorengeräusch. Und dann sah er es. Es war kein Auto, sondern ein kleiner Lieferwagen, der schnell auf die Siedlung zufuhr und dabei eine Staubfahne hinter sich her zog. »Sie sind da«, flüsterte Linus mit kaum hörbarer Stimme. »Sie sind da.«


Benjamin saß ganz still da, eingehüllt in einen Mantel des Schweigens. Das einzige Geräusch war ein emsiges Summen, das durch das offene Fenster drang. Seine Räumlichkeiten waren spärlich eingerichtet und seine Kleidung war schlicht. Aber einen Luxus gönnte er sich, den einzigen, der zählte. Frieden. Frieden und Ruhe. Ein paar Minuten am Tag ohne Lärm, ohne Störungen, darauf bestand er. Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, um zu planen, nachzudenken; Zeit, die Gedanken treiben zu lassen; Zeit, sich zu entspannen. Es hatte genug Lärm in seinem Leben gegeben. Einen ganz bestimmten Lärm, den er nie wieder hören wollte.


Benjamin holte tief Luft und atmete langsam und nachdenklich wieder aus. Eine wundervolle Sache, der menschliche Körper, dachte er. So komplex und doch so simpel. Luft zum Atmen, Nahrung zum Essen, Kleidung und Obdach zum Schutz, ein freundliches Gesicht, eine Umarmung … Der Mensch strebte nach so vielem und brauchte doch eigentlich so wenig. Benjamin sah sich in dem Zimmer um, wie er es um diese Zeit immer so gern tat, und die Ruhe und die spartanische Einrichtung gefielen ihm ungemein.


Wieder atmete Benjamin langsam und vielsagend ein und aus, dann stand er auf und ging zum Fenster, einem großem Fenster mit Blick auf einen Innenhof. Auf der anderen Seite war Ackerland, das ständig bestellt wurde. Essen. Nahrung. Er hatte diese Aussicht ganz bewusst ausgewählt. Er wollte das Leben sehen, nicht den Tod; Hoffnung, nicht Zerstörung.


Es klopfte an der Tür und er drehte sich um. »Herein.«


Es war Stern. »Benjamin, wir haben Besuch. Die Spitzel.«


»Die Spitzel?« Benjamin runzelte die Stirn. Er hatte zwar Besuch erwartet, aber nicht diesen. Andererseits hatte er im Leben gelernt, dass nur wenige Dinge vorhersehbar waren. »Wo sind sie?«


»Sie sind draußen. Sie wollen mit dir sprechen.«


»Gib mir eine Minute«, sagte er. »Dann wollen wir sehen, warum sie gekommen sind.«


Benjamin wartete, bis Stern das Zimmer verlassen hatte. Dann schloss er die Augen und atmete tief die reinigende Luft ein, um sich mental vorzubereiten. Zuvor hatte ihn schon das Zeichen durcheinandergebracht. Es war schon so lange her, seit er es das letzte Mal gesehen hatte, dass er die Vereinbarung fast vergessen hätte, die er vor Jahren getroffen hatte, als ein Fremder namens Linus, ein Mitbegründer der Stadt, ihn aufsuchte, fast wie ein Prophet aus der Bibel: Er war weise für sein Alter, seine Lehre bestand aus Geschichten, die Benjamin nicht recht zu deuten vermochte, aber er war ein guter Mensch. Benjamin hatte es ihm angesehen, und er wusste, dass man ihm vertrauen konnte. Und bevor er ging, hatten sie sich auf ein Zeichen geeinigt. Ein Zeichen, das sie auf Gefahren aufmerksam machen sollte und das nicht missachtet werden durfte. Und nun diese Männer … Hatten die beiden etwas damit zu tun? Sie mussten etwas damit zu tun haben.


Benjamin wappnete sich, öffnete die Tür und ging nach draußen. Als er auf die Männer zuging, bemerkte er, dass sie und ihr Fahrzeug sich gerade noch innerhalb der Umzäunung befanden. Sie suchten nicht Gastfreundschaft. Sie hatten nicht vor, länger zu bleiben als unbedingt nötig. Das war vermutlich die gute Nachricht. Wahrscheinlich ging es um die Abwicklung eines Geschäfts oder um einen gestiegenen Bedarf an Nahrungsmitteln. Benjamin fragte sich oft, ob Linus etwas mit diesen Forderungen zu tun hatte, aber insgeheim hoffte er, dass das nicht der Fall war.


Es waren drei Männer. Einer von ihnen war elegant gekleidet, die beiden anderen trugen Kakihemden und Kakihosen. Den gut gekleideten Mann erkannte er wieder. Sie waren sich früher schon ein paarmal begegnet. Sechs Monate, nachdem Benjamin die Siedlung gegründet hatte, war der Mann zu ihm gekommen und hatte ihm mit einem aalglatten Lächeln Schutz angeboten. Im Gegenzug verlangte er Nahrungsmittel. Abgaben an die Stadt; eine monatliche Lebensmittellieferung für die Bürger der Stadt.


Und Benjamin hatte zugestimmt, wofür er sich ewig schämen würde. Aber er hatte das Kämpfen satt und wollte nicht, dass noch mehr Menschen sterben mussten.


Benjamin nahm die beiden anderen Männer genau unter die Lupe. Waren sie bewaffnet? Die Spitzel hatten immer behauptet, sie bräuchten keine Waffen.


Er nickte dem elegant gekleideten Mann zu, der nie seinen Namen preisgegeben hatte. »Ich heiße Benjamin. Willkommen, Brüder«, sagte er und streckte die Hand aus. Die beiden Männer in Kaki schwiegen.


»Schön, Sie zu sehen, Benjamin«, meinte der Mann im Anzug mit einem Lächeln. »Wir sind gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten.«


Benjamin erwiderte das Lächeln nicht. Besuche von diesen Männern bedeuteten immer Ärger. Entweder verlangte die Stadt von der Siedlung höhere Abgaben oder es gab irgendwelche Beschwerden. Benjamin würde den Bitten nachkommen. Sie würden härter arbeiten, mehr produzieren und alles tun, was nötig war. Wie jede andere Gemeinschaft in diesem gottverdammten Land wusste Benjamin nur zu gut, dass die Spitzel zu mächtig waren, als dass er ihre Forderungen ablehnen könnte. Wenn man ihnen bezahlte, was sie verlangten, behielt man seine Unabhängigkeit und den lang ersehnten Frieden. Benjamin hatte den Leuten in der Siedlung noch gar nicht gesagt, dass jeden Monat ein Viertel ihrer Erzeugnisse in die Stadt wanderte; es genügte, wenn die Spitzel den Transport übernahmen, und es war viel besser, wenn die Menschen mit ihrem Schicksal zufrieden waren, als wenn sie einen Groll gegen eine weit entfernt liegende Stadt hegten. Verbitterung führte zu Krieg, und einen Krieg wollte Benjamin nie wieder erleben.


»Einen Gefallen?« Benjamin hörte, wie Stern sich hinter seinem Rücken räusperte. Das war seine Art, Widerstand zu leisten und seine Unzufriedenheit zu zeigen. Aber Stern war nicht der Anführer der Siedlung, er musste keine schwierigen Entscheidungen treffen. Bevor Benjamin zum ersten Mal Besuch von den Spitzeln bekommen hatte, hatte er von Siedlungen gehört, die niedergebrannt und deren Bewohner erschossen worden waren. Siedlungen, die für die Vorschläge der Spitzel nicht so empfänglich gewesen waren, weil sie fanden, dass die Stadt schon genug hatte und nicht noch mehr bräuchte. Benjamin hatte von Anfang an gewusst, dass die Spitzel es ernst meinten. »Wir waren nicht darauf eingestellt, dass wir schon so bald wieder Besuch bekommen würden. Ich fürchte, wir sind nicht vorbereitet.«


»Ich bin nicht hier, um etwas abzuholen«, sagte der Mann mit einem beruhigenden Lächeln. »Zumindest nicht das Übliche. Könnten wir vielleicht drinnen weiterreden?«


Benjamin nickte bedächtig und bereitete sich mental vor. Normalerweise betraten die Spitzel nie ein Gebäude in der Siedlung; sie zogen es vor, nur kurz zu bleiben und gleich auf den Punkt zu kommen, und entfernten sich nur selten von ihrem Fahrzeug. Wenn sie bei Nacht die Lebensmittel abholten (und sie kamen immer nachts), überprüften sie nur, ob alles in Ordnung war, und fuhren anschließend zurück zur Sammelstelle, wo die Waren auf Lkw verladen wurden.


Obwohl er spürte, wie sein Herz pochte, blieb sein Gesichtsausdruck unbewegt. »Natürlich«, sagte er, zeigte dem Mann den Weg und bedeutete Stern, mit den beiden anderen Männern draußen zu warten. Sie betraten Benjamins Räumlichkeiten und der schloss die Tür. »Bitte, nehmen Sie Platz. Machen Sie es sich bequem.«


Doch der Mann setzte sich nicht. Er schaute sich im Zimmer um und dann sah er Benjamin in die Augen. »Benjamin, wir glauben, dass sich vor Kurzem zwei junge Leute Ihrer Gemeinschaft angeschlossen haben. Junge Leute, die aus der Stadt geflohen sind und die wir gern zurückhaben wollen. Sie werden vermisst. Deshalb sind wir gekommen. Ich würde es begrüßen, wenn Sie sie sofort holen würden, damit wir sie nach Hause bringen können.«


»Verstehe«, sagte Benjamin nachdenklich und bekam plötzlich Angst. Bis jetzt hatte er gehofft, dass es vielleicht eine Möglichkeit gäbe, die Männer abzuwimmeln. Aber jetzt war ihm klar, dass das nicht ging. Mit Waren konnte er handeln, aber nicht mit Menschen. »Zwei junge Leute, sagen Sie?«


Der Mann nickte. »Die Einzigen, die sich in den letzten zwei Jahren Ihrer Gemeinschaft angeschlossen haben. Sie wissen genau, von wem ich spreche. Von Raffy und Evie. Wir brauchen sie, und zwar jetzt gleich.«


Benjamin blickte ihn aufmerksam an. »Alle Leute in unserer Gemeinschaft sind Bürger. Sie auszuliefern … ist nicht so einfach«, sagte er.


Die Gesichtszüge des Mannes verhärteten sich. »Benjamin, seien Sie nicht dumm«, knurrte er. »Sie sind noch nicht lange hier, sie verdienen Ihren Schutz nicht. Übergeben Sie sie uns und wir verschwinden still und leise. Aber wenn Sie es nicht tun …«


»Was dann?«, fragte Benjamin leichthin.


Der Mann lächelte. »Sie wissen, was dann passiert. Es wäre eine Schande. Eine nette Siedlung haben Sie da. Wirklich sehr nett.«


Benjamin ließ die Worte sacken und traf eine Entscheidung. »Sie haben recht«, meinte er achselzuckend. »Sie sind gerade erst zu uns gestoßen. Ich bin sicher, wir können sie gehen lassen. Ich muss nur feststellen, wo sie gerade sind. Für die anderen werde ich mir eine Geschichte ausdenken müssen. Ich möchte nicht, dass die Leute Angst bekommen.«


Benjamin warf dem Mann einen strengen Blick zu, aber der schien es nicht zu bemerken. Benjamin ging langsam zur Tür, öffnete sie, rief Stern zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Stern machte ein verdutztes Gesicht, nickte aber sofort. Dann ging Benjamin ganz gemächlich hinüber zum Regal, zog einen Aktenordner heraus und begab sich wieder zu seinem Schreibtisch. »Nicht hier drin«, murmelte er vor sich hin, legte den Aktenordner auf den Schreibtisch und schlug den Aktendeckel auf. »Ah, da ist er ja«, sagte er.


Der Mann entdeckte das schimmernde Metall zu spät; Benjamin hatte bereits einen Schuss abgegeben. Draußen waren zwei weitere Schüsse zu hören. Kurz darauf sprang die Tür auf, und Benjamin und Stern tauschten einen vielsagenden Blick, einen Blick, der alles sagte, was sie wissen mussten, den sie sich vor Jahren angewöhnt hatten, als sie noch zusammen im Gefängnis saßen, damals in der alten Welt, über die sie heute kaum noch sprachen.


»Wir müssen die Leichen fortschaffen«, meinte Benjamin grimmig.


Stern nickte.


»Und wärst du so gut und würdest zum Tor gehen und das hier mitnehmen?« Benjamin gab ihm das schmutzige Tuch, dass er früher am Tag aufgehoben hatte. Das Tuch mit dem roten Zeichen, das besagte: Tu, was nötig ist. Benjamin hatte getan, was von ihm verlangt wurde, und Stern ebenfalls. Und jetzt musste er wissen, warum. »Ich glaube, wir haben noch mehr Besucher. Ich würde sie jetzt gerne sehen.«


Stern runzelte unsicher die Stirn und nahm das Tuch. Als er sich zum Gehen wandte, streckte Benjamin die Hand aus und berührte Stern an der Schulter. »Danke«, sagte er, »dass du an mich glaubst.«


Stern sah ihn merkwürdig an. »Alle glauben an dich. Aber du bist der Einzige, der an mich glaubt. Du musst dich nicht bedanken.« Und mit diesen Worten verschwand er. Benjamin starrte auf den Spitzel, der in einer Blutlache vor ihm auf dem Boden lag.



34


Evie schreckte aus dem Schlaf hoch und sah ein Gesicht, das sich über sie beugte. Es war Benjamin. Sie starrte ihn unsicher an, das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie wickelte sich fest in ihre Decke ein.


»Evie«, sagte er sanft. »Es tut mir leid, dass ich dich so spät noch störe, aber du musst aufstehen.«


»Aufstehen?«


»Ja«, ertönte eine Stimme, die ihr so vertraut war, dass sie glaubte, sie würde träumen, weil er es nicht sein konnte. Es konnte nicht Linus sein. Das ergab keinen Sinn. Sie setzte sich auf und starrte Linus und Benjamin an, die an ihrem Bett standen. Und dann tauchte hinter ihnen noch ein weiteres Gesicht auf. Evie riss die Augen auf, wurde rot im Gesicht, und ihr Herz pochte wie wild. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Das musste ein Traum sein.


»Lucas?« Es war tatsächlich Lucas. Evie starrte ihn an, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, zu denken, ihr Herz pochte, und ihre Hände waren plötzlich feucht und kalt. War das ein Test? Eine Warnung? Ein …


»Lucas?« Beim Klang von Raffys Stimme drehte sie sich um. Er war aufgewacht und saß jetzt kerzengerade im Bett. Wütend sah er Lucas an. »Was machst du hier? Was macht ihr alle hier?«, fragte er in barschem Ton. Er rückte ein Stück nach vorn, als könnte er Evie so vor den Blicken der anderen schützen.


»Tut mir leid, Raffy, aber wir müssen hier weg«, sagte Lucas leise. »Ihr beide seid in Gefahr.«


»Weg? Nein«, sagte Raffy und wandte sich ab. »Wir gehen nirgendwohin.«


»Raffy«, meinte Benjamin ernst. »Ich fürchte, ihr müsst. Ein paar Männer waren hier und haben euch gesucht. Wir sind mit ihnen fertig geworden, aber es werden wieder welche kommen. Ihr müsst unbedingt von hier verschwinden.«


Es klopfte leise an der Tür, und als sie aufging, erschien Sterns Gesicht im Türrahmen. Er war erstaunt, weil so viele Leute im Zimmer waren, und als er Benjamin entdeckte, schlich er zu ihm.


»Ich habe Klarschiff gemacht«, sagte er und sah seinen Anführer vielsagend an.


Benjamin machte ein finsteres Gesicht und nickte. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Höchstens eine Stunde.« Er sah Linus an. »Und du behauptest, die Stadt hätte nichts damit zu tun? Es waren Männer aus der Stadt. Die Spitzel.«


Linus verzog das Gesicht. »Es sieht vielleicht so aus, als würden die Spitzel im Auftrag der Stadt handeln, weil sie für deren Bewohner Nahrungsmittel sammeln. Aber in Wahrheit ist es umgekehrt. Die Spitzel kommen nicht aus der Stadt. Diese beiden Männer handeln vielleicht im Auftrag der Stadt, aber sie tun es in ihrem eigenen Interesse. Wie dem auch sei, sie sind gefährlicher, als ihr euch vorstellen könnt.«


Benjamin schien Linus’ Worte erst verdauen zu müssen. Dann packte er Stern am Arm. »Stern, du musst eine Zeit lang die Führung der Siedlung übernehmen. Die Siedlung ist in großer Gefahr. Du musst die Leute in die Berge bringen, so wie wir es geübt haben. Die Vorräte dort reichen, falls nötig, für mehrere Monate.«


Stern nickte stumm.


»Sorg dafür, dass die Anweisungen genau befolgt werden. Ich kümmere mich darum, dass Raffy und Evie sicher von hier wegkommen. Dann stoße ich zu euch.«


»Natürlich, Benjamin«, sagte Stern etwas verwirrt.


»Schärf allen ein, dass sie stark sein müssen und dass wir das gemeinsam durchstehen.« Er entließ Stern, warf ihm aber zum Schluss noch einen Blick zu. »Geh jetzt«, befahl er. Dann wandte er sich wieder an Raffy. »Ihr müsst hier weg. Auf der Stelle. Euer Leben ist in Gefahr.«


Evie fing Lucas’ Blick auf und wurde rot. Sie schaute schnell weg und sah auf den Boden, auf das Bettlaken, auf irgendetwas.


»Vielleicht könntet ihr … uns ein paar Minuten allein lassen«, schlug sie vor, »damit wir uns fertig machen können?«


Sie lächelte Benjamin verlegen an und der nickte sofort.


»Natürlich. Tut mir leid. Wir warten draußen.«


»Da könnt ihr auch bleiben«, sagte Raffy. »Wir gehen nirgendwohin. Keiner von uns.«


»Ihr habt fünf Minuten«, meinte Linus verschmitzt. »Dann holen wir euch, ob ihr nun angezogen seid oder nicht.«


Linus verließ das Zimmer, gefolgt von Benjamin und Lucas. Evie holte eine Reisetasche hervor und stopfte ein paar Sachen hinein. Raffy setzte sich im Bett auf. »Wir werden nicht gehen, Evie. Stell die Tasche weg. Das ist ein Trick.«


Evie drehte sich ungläubig zu ihm um. »Ein Trick? Raffy, bist du verrückt? Benjamin hat selbst gesagt, dass wir wegmüssen.«


»Weil Lucas ihn überzeugt hat. Es geht um Lucas«, sagte Raffy kopfschüttelnd und verengte die Augen zu Schlitzen. »Er kann es nicht ertragen, dass ich glücklich bin. Du kennst ihn nicht. Nicht wirklich. Ich gehe nirgendwohin mit ihm. Und du auch nicht.«


Evie schüttelte verwundert den Kopf. »Du musst deine Wut auf Lucas überwinden«, sagte sie. »Hier geht es nicht um euch beide. Es geht nicht immer um dich und Lucas.«


Raffy sah sie finster an. »Ich sehe schon, er hat dich genau da, wo er dich haben will. Aber das war schon immer so, oder?«


Evie schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann zog sie den Reißverschluss ihrer Reisetasche zu. »Weißt du was?«, sagte sie und zupfte an einem Gewand herum. »Ich gehe. Und wenn du dich nach allem, was wir durchgemacht haben, wie ein Idiot aufführen willst, dann ist das okay. Aber ich werde nicht untätig hier herumhängen. Du kannst bleiben und tun, was du willst.«


Evie ging zur Tür, aber Raffy sprang aus dem Bett, riss ihr die Reisetasche aus der Hand und warf sie auf den Boden. »Nein!« Er ging auf sie los und packte sie an den Handgelenken. »Wenn du mich liebst, dann gehst du nicht, dann bleibst du bei mir.«


»Fertig?« Linus’ Gesicht erschien in der Tür. Als er sah, wie Raffy Evie festhielt, runzelte er die Stirn. »Los, wir haben nicht mehr viel Zeit.«


»Wir kommen nicht mit«, erklärte Raffy mit leiser, angespannter Stimme. »Wenn Benjamin uns hier nicht mehr haben will, dann gehen wir eben woandershin. Aber auf eigene Faust. Ohne jede Hilfe.«


»Nein, Raffy«, sagte Evie. »Lass mich los.« Sie starrte auf Raffys Hände. Er ließ ihre Handgelenke los, und seine Arme fielen schlaff herunter. »Pack jetzt dein Zeug zusammen«, befahl sie.


Sie hatte sich noch nie so wütend, noch nie so beherrscht erlebt. Und zu ihrem Erstaunen widersprach Raffy nicht, bedrohte sie nicht und verlor auch nicht die Kontrolle. Er sah sie nur mit blitzenden Augen an, schüttelte den Kopf und packte seine Tasche.



35


Devil sah sich um. Stell den Aktenkoffer an dem Fußweg ab, hatte Thomas gesagt. An dem Fußweg in seiner Siedlung. Versteck ihn da, wo keiner ihn sieht. Und dann lauf weg, weit weg. Aber Devil wollte nicht weglaufen. Er wusste, was in dem Aktenkoffer war. Er hatte nachgesehen.


Er stellte den Koffer ab und begann auf und ab zu gehen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Thomas wusste, was er tat. Er musste es wissen. Er war klug. Er verstand sein Handwerk. Er wusste alles über Devil. Er hatte ihn ausgewählt, und Devil wollte ihn nicht enttäuschen.


Er sollte verschwinden und machen, dass er wegkam, hatte Thomas gesagt.


Aber er konnte nicht. Noch nicht. Erst wenn er sich sicher war. Aber inwiefern sicher? Was sollte er sonst mit dem Aktenkoffer machen? Er öffnete ihn noch einmal ganz vorsichtig und ließ die Finger über die Verschlüsse gleiten. Er schluckte und spürte einen Kloß im Hals. Ihm wurde flau im Magen. Laut Zeitschaltuhr waren es noch dreißig Minuten. Dreißig Minuten und fünfunddreißig Sekunden. Vierunddreißig Sekunden. Dreiunddreißig …


Thomas wollte, dass er das tat. Und sein Vater wollte es auch. Thomas sprach viel von Devils Vater. Der habe Devil nicht vergessen, sagte er. Er hatte seine Familie verlassen müssen, aber er hatte Thomas gebeten, auf Devil aufzupassen. Devil sei ein Gewinner, hatte er Thomas erklärt, und er solle seine Gemeinde übernehmen. Sein Sohn sollte ein Anführer werden, genau wie er. Bald wäre Dalston nur noch ein böser Traum, bekam Devil regelmäßig von Thomas zu hören.


Ein böser Traum oder ein beschissenes Trümmerfeld?


Devil wischte sich über die Stirn. Sein Herz schlug so schnell, dass er meinte, es müsse jeden Moment zerspringen. Noch achtundzwanzig Minuten und zwölf Sekunden. Elf …


Er musste von hier verschwinden. Das Ganze ging ihn nichts an. Er machte nur seinen Job. Um sich zu bewähren. Um zu beweisen, dass er das Zeug dazu hatte.


Das Zeug wozu? Menschen zu töten?


Er starrte auf den Aktenkoffer. Blickte hinüber zur Siedlung. Er hasste und verabscheute sie. Aber er wollte nicht, dass alle starben. Die Leute, die hier lebten, waren in Ordnung. Man konnte gut mit ihnen auskommen.


»Mach deinen Job und danach erwartet dich ein neues Leben, Devil.«


Devil sah sich hektisch um. Dann nahm er auf einmal den Aktenkoffer und rannte los. Er war noch nie so schnell gerannt. Er lief in Richtung des Ödlands, das hinter der Siedlung lag. Während er rannte, schrie er und scheuchte ein paar Leute auf, die hinter der Siedlung herumlungerten. »Verschwindet von hier«, brüllte er. »Hier ist es gefährlich. Verdammt, haut ab! Das Ding hier fliegt gleich in die Luft.« Und die Leute rannten, rannten schnell, weg von Devil, weg von dem Aktenkoffer in seiner Hand. Schließlich fand er, was er suchte: das Loch, das für die Fundamente des Jugendklubs ausgehoben worden war. Zwei oder drei Meter tief. Devil warf den Aktenkoffer hinein und machte sich auf eine Explosion gefasst, aber nichts passierte.


Er drehte sich um und fing wieder an zu rennen; er wollte so weit wie möglich von der Siedlung weg.


Während er rannte, klingelte das Handy in seiner Tasche, und auf dem Display leuchtete Thomas’ Name auf.


»Ja?«, keuchte Devil.


»Hast du es getan?«, fragte Thomas.


Devil zögerte. »Ja.«


»Gut. Wo bist du jetzt?«


»Ich verlasse gerade die Siedlung.«


»An deiner Stelle würde ich rennen.«


»Ich renne ja«, sagte Devil. »Ich renne ja.«


Und während er rannte, sah er, dass die paar Leute, die er zuvor gewarnt hatte, gerade dabei waren, andere aus der Siedlung zu holen. Sie liefen nicht weg, sondern trommelten die Leute zusammen, holten die Menschen aus ihren Wohnungen und hämmerten gegen Türen. Devil wusste nicht warum, aber er fing an zu weinen. Die Menschen waren keine Schafe. Sie waren nicht schwach. Sie waren gut. Sie waren viel besser als er. Und er machte wieder kehrt und rannte zurück, hämmerte an die Türen, zerrte die Leute aus ihren Wohnungen und erzählte ihnen Geschichten von Gangs, die die Siedlung niederbrennen wollten, um ihnen klarzumachen, dass sie hier nicht mehr sicher waren. Es blieb keine Zeit mehr, aber er rannte trotzdem weiter und schrie, bis er heiser war und bis, soviel er sehen konnte, alle Leute die Siedlung verlassen hatten. Er folgte der Menge, die keine Ahnung hatte, wohin sie gehen sollte oder warum. Da klingelte sein Handy wieder.


»Bist du inzwischen weit genug weg?«


»Noch nicht ganz«, sagte Devil.


»Dann renn los«, sagte Thomas. »Du wirst berühmt, Devil. In ein paar Minuten stelle ich deine Predigten ins Netz. Du wirst berühmt-berüchtigt und die Menschen werden dir folgen.«


»Was meinen Sie damit?«, fragte Devil, den Blick auf die Siedlung und das Land dahinter gerichtet.


»Die Genesis, das Erste Buch Mose«, sagte Thomas. »Du hast selbst daraus zitiert. ›Und der Herr sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn.‹ Das bist du, Devil. Du bist Noah. Und Gott selbst. Die Bösen werden bestraft, und den anderen wird Erlösung gewährt, wenn sie dir folgen, wenn sie tun, was du von ihnen verlangst.«


Devil schüttelte den Kopf. »Das wird nicht funktionieren, Thomas. Hier wird heute niemand sterben.«


»Was meinst du damit?« Thomas’ Stimme klang auf einmal kalt und zornig.


Aber Devil bemerkte es nicht, weil er gerade etwas entdeckt hatte. Ein Kind. Das kleine Mädchen, dem er das Fahrrad geklaut hatte. Mit ängstlichem Gesicht stand es auf dem Fußweg und blickte unsicher zu Boden. Es waren nur noch wenige Sekunden bis zur Explosion. Trotzdem rannte Devil zurück zur Siedlung und die Treppe hinauf. Er setzte das Mädchen auf seine Schultern und rannte los, obwohl er wusste, dass er es nicht mehr schaffen würde. Als er unten an der Treppe anlangte, gab es einen Knall, als ob eine Million Feuerwerkskörper auf einmal explodierten, nur noch lauter. »Es geht los«, hörte er Thomas durchs Handy. »Die Flut kommt.«


Devil roch den Rauch, hörte die Menschen rennen und schreien, aber er war wie gelähmt und konnte keinen Muskel bewegen wegen des Rauchs, der ihm in die Nase drang. Er hatte keinen solchen Rauch mehr gerochen seit … seit langer Zeit. Als er sich wieder bewegen konnte, ließ er sich zu Boden sinken, denn nun kamen die Erinnerungen wieder hoch. Er erinnerte sich an den Rauch, der ihm in den Mund und in die Nase drang. Er erinnerte sich, dass er Angst hatte, Angst wegen der Zigarette, die er geraucht hatte, der Zigarette, die den Rauch verursacht hatte, denn wenn seine Mum davon Wind bekäme, würde sie ihn windelweich prügeln. Er erinnerte sich, wie er aus der Wohnung gerannt war, um sich in Sicherheit zu bringen, weg von dem Rauch, weg von dem Feuer.


Und er erinnerte sich, dass er überhaupt nicht an Leona gedacht hatte.


Er spürte die Wärme, konnte den Hauch des Todes in der Luft riechen, der ihm in die Lungen drang. Menschen schrien, aber Devil hörte nicht hin. Denn er war mit seinen Gedanken ganz weit weg, irgendwo, wo alles voller Rauch war und heiß. Er erinnerte sich. Er war wieder in der Wohnung. Es war der Tag, an dem Leona starb.


Auf einmal bemerkte Devil, dass er etwas im Arm hielt. Es war das Mädchen. Sie lag in seinen Armen, das Handy gegen ihre Schulter gepresst. Leona?


Nein, es war nicht Leona. Sie konnte es ja nicht sein.


Leona war nicht aus dem Fenster gefallen. Wahrscheinlich hatte seine Mum es gar nicht offen gelassen.


Leona hatte es selbst geöffnet.


Leona war aus dem Fenster gesprungen.


Sie war gesprungen, weil er gezündelt und sie allein in der Wohnung zurückgelassen hatte.


Ein roter Blitz schoss durch seinen Kopf und langsam rappelte er sich wieder auf. Das Mädchen hustete, es lebte. Es hatte die Arme um Devils Hals geschlungen und sah zu ihm auf. Und er hielt es ganz fest und weinte.


»Sag mir, was los ist, Devil«, hörte er Thomas durch das Handy schreien. »Sag mir sofort …«


Devil warf einen Blick auf das Handy, das zu Boden gefallen war, und kickte es mit dem Fuß weg. Er hielt das Mädchen noch ein paar Sekunden ganz fest und spürte seine Wärme, seine Lebendigkeit. Als der Klang der Sirenen näher kam, setzte er das Mädchen ab, strich ihm über den Kopf, verabschiedete sich und rannte davon.



36


Evie marschierte schweigend durch die Dunkelheit, den Blick nach vorn gerichtet. Neben ihr ging Raffy, die Hände in den Taschen vergraben und mit finsterem Gesicht. Sie beobachtete ihn eine Weile und dachte daran, wie sein Zorn auf die Welt sie früher fasziniert hatte, wie seine Weigerung, sich anzupassen, ihn so unwiderstehlich gemacht hatte. Damals in der Stadt hatten sie und Raffy allein gegen den Rest der Welt gestanden. Ihre geheimen Treffen waren das Einzige gewesen, worauf sie sich gefreut hatte. Er war der Einzige, der die Dinge offenbar ebenso infrage stellte wie sie; der die Regeln der Stadt als derart einengend empfand, als hätten sie ihm Ketten angelegt.


Aber jetzt war alles ganz anders. Außer dass Raffy immer noch wütend, gereizt und eifersüchtig war, so als hätte sich nichts verändert, als wäre es nicht die Stadt gewesen, die ihn letztlich zu dem gemacht hatte, was er heute war.


Und während sein Zorn ihn früher aufregend und gefährlich erscheinen ließ, irritierte er Evie heute mehr, als sie mit Worten ausdrücken konnte.


Raffy ging neben ihr und passte seinen Schritt ihrem Tempo an; wenn sie den Schritt verlangsamte, ging auch er langsamer, und wenn sie den Schritt beschleunigte, ging auch er schneller. Während sie so nebeneinanderhergingen, wurde Evie bewusst, dass sie ihn abschütteln wollte; dass sie es schon eine ganze Weile versuchte und dass er es nicht zulassen würde. Je mehr sie versuchte, sich davonzumachen, desto mehr verfolgte er sie.


Die ganze Zeit hatte sie ihm seinen Willen gelassen, hatte vernünftig mit ihm geredet, war um ihn herumgeschlichen, hatte sich vereinnahmen lassen und hatte sich damit abgefunden, dass er grundlos wütend wurde. Weil sie wusste, dass er sie brauchte. Weil sie dachte, sie sei ihm etwas schuldig. Weil sie in der Siedlung glücklich sein wollte und weil sie keinen Ärger machen wollte.


Sie mussten die Siedlung verlassen, und etwas Schreckliches ging vor sich. Aber alles, was Raffy interessierte, war, dass er mit ihr Schritt hielt, dass er direkt neben ihr ging und dass sie in Sichtweite blieb, obwohl er zuvor, trotz Linus’ Warnung, dass sie in Lebensgefahr seien, bereit gewesen war, mit ihr in der Siedlung zu bleiben.


Weil er nicht an sie dachte, sondern nur an sich selbst.


Er dachte immer nur an sich selbst.


Evies Herz pochte vor Empörung und vor Enttäuschung, weil sie das nicht schon früher erkannt hatte. Sogar Raffys Wut auf Lucas diente der Selbsterhaltung und war selbst auferlegt. Es ging gar nicht um den Kuss. Raffy hatte Lucas schon lange vorher verachtet. Selbst als er erfuhr, was Lucas erduldet hatte, um ihn zu beschützen. Raffy sollte seinem Bruder dankbar sein. Er sollte ihn anhören, ihn alles erklären lassen und sich im Zweifelsfall auf seine Seite stellen.


Er sollte endlich erwachsen werden.


Evie steckte die linke Hand in ihre Tasche und griff nach dem kühlen metallenen Gegenstand, den sie dort versteckt hatte, den sie schon seit fast einem Jahr immer an einer anderen Stelle verbarg, stets darauf bedacht, dass er nicht gefunden wurde. Ihn hatte Evie als Erstes in ihre Reisetasche gesteckt; es war der einzige Gegenstand, ohne den Evie das Lager nicht verlassen konnte. Bevor sie aus dem Zimmer ging, das sie sich mit Raffy teilte, hatte sie ihn aus der Reisetasche genommen und in ihre Manteltasche gesteckt für den Fall, dass die Tasche verlorenging oder dass Raffy sie öffnete.


Es war Lucas’ Uhr, die Uhr, die sie sich so mühsam zurückgeholt hatte, nachdem Raffy sie weggegeben hatte. Sie hatte die Uhr so lange versteckt, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich damit machen sollte.


Jetzt hielt sie die Uhr in der Hand und fühlte sich wieder stark, denn ihre alte Energie kehrte zurück. Sie wollte sich nicht mehr damit abfinden. Sie wollte nicht mehr zulassen, dass Raffy immer seinen Kopf durchsetzte.


Evies Blick ruhte auf Lucas, der ein paar Meter vor ihr ging. Er war ungefähr so groß wie Raffy, vielleicht ein oder zwei Zentimeter größer, aber selbst gegen Raffys neue muskulöse Statur war er immer noch breitschultriger. Er ging aufrecht und blickte stur geradeaus, stets konzentriert und wachsam. Evie konnte es sehen, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, woran sie das erkannte. Sie wusste nur, dass er beobachtete und lauschte, wie er es früher in der Stadt getan hatte.


Evie fragte sich, was er wohl gemacht hatte, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Sie fragte sich, ob er jemanden gehabt hatte, mit dem er reden konnte, oder ob er sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen hatte. In der Stadt war er immer so unergründlich gewesen, als hätte er kein Herz, keine Seele. Evie hatte Lucas gehasst; er war für sie der Inbegriff dessen gewesen, was sie an der Stadt verabscheute. Und dann … dann hatte sie den wahren Lucas kennengelernt. Als er sich ihr anvertraut und ihr die Wahrheit gesagt hatte, damit sie Raffy davon überzeugte, die Stadt zu verlassen und damit dem sicheren Tod zu entgehen. Sie hatte erlebt, wie schwer es ihm gefallen war; nicht, die Wahrheit zu sagen, sondern seine Gefühle zu unterdrücken. Es war wie bei einem Leitungsrohr, das zum Bersten voll mit Wasser war; er musste nur den Wasserhahn so weit aufdrehen, dass ein paar Tropfen herauskamen, bevor er ihn wieder zudrehte.


Lucas blieb stehen, drehte sich um und sprach mit Linus und Benjamin. Evie sah sich um und entdeckte direkt vor ihnen einen Hügel. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie ihre Umgebung gar nicht wahrgenommen hatte.


»Okay«, sagte Lucas. »Hier machen wir halt. Linus wird da vorn in die Höhle gehen und seinen Wagen holen.«


Linus verschwand in der Dunkelheit und Raffy ging mit schlurfendem Schritt zu Evie. »Linus hat ein Auto?« Er wandte sich mit hochgezogenen Augenbrauen an Lucas und seine Stimme hatte einen patzigen, ungläubigen Unterton.


Lucas drehte sich zu ihm um und meinte mit stählernem Blick: »Ja, Raffy, er hat ein Auto. Sonst noch Fragen?«


Raffy zuckte die Achseln, um zu zeigen, wie gleichgültig es ihm war. »Komm, Evie, wir warten da drüben.«


Er ging zu einem Felsen und setzte sich. Evie sah ihn an und rührte sich nicht. Trotz Raffys wütendem Blick blieb sie, wo sie war. Schließlich wandte sie sich an Lucas. »Wann hat er sich denn ein Auto zugelegt?«


Ihre Blicke trafen sich und Evie wurde von einem warmen Gefühl durchströmt. »Ich weiß nicht«, sagte Lucas und schaute schnell weg. »Ich glaube, er hat es schon immer gehabt. Es ist fast unmöglich, eine Antwort aus ihm herauszubekommen.«


Lucas blickte zu Boden.


»Es ist unmöglich, überhaupt irgendetwas aus ihm herauszubekommen.« Evie lachte verlegen. Ihre Stimme zitterte ein wenig und Adrenalin strömte durch ihren ganzen Körper. Aber Lucas hatte sich schon wieder abgewandt und untersuchte einen Stein auf dem Boden. Ihre Unterhaltung war beendet.


Evie hatte einen Kloß im Hals und ging zu Raffy hinüber. Er rückte ein Stück, damit sie sich ihm gegenüber hinsetzen konnte, aber sie setzte sich so, dass sie in die andere Richtung schaute, weg von Raffy, weg von Lucas. Dann verschränkte sie die Arme und blickte zum Himmel.


Evie hatte keine Ahnung, wie lange sie so verharrten; sie drei zusammen und doch getrennt, in Gedanken versunken. Als Evie den Blick wieder senkte, entdeckte sie zwei Lichter am Horizont, zuerst weit entfernt, aber dann kamen sie immer näher, bis Evie ihre Augen mit den Händen vor dem grellen Licht schützen musste. Der Wagen hielt an und Linus sprang heraus. »Na, was sagt ihr jetzt?«, fragte er und strahlte.


Evie war erleichtert, dass er die unerträgliche Stille durchbrochen hatte, und sprang von dem Felsen. »Sieht toll aus«, meinte sie und bemühte sich, echte Begeisterung zu zeigen.


»Dann steig ein. Innen wird er dir auch gefallen.«


Evie nickte und ging auf das Auto zu.


»Steig hinten ein«, sagte Linus. »Lucas wird vom Autofahren immer übel, deshalb muss er vorn sitzen. Stimmt’s, Lucas?«


Lucas trat hinter Evie und hielt ihr die Tür auf. Einen Moment lang berührten sich ihre Hände und Evie blieb fast das Herz stehen. »Mir wird nicht übel«, meinte Lucas. »Ich … ich mag Autos nur nicht besonders.«


Ihre Blicke trafen sich, und Evie entdeckte etwas, was sie bei Lucas nicht erwartet hatte, ausgerechnet bei dem Mann, der so verschlossen war, dass sie sich oft gefragt hatte, ob er überhaupt Gefühle hatte. Es war ein jungenhaft verlegener und schüchterner Ausdruck. Lucas wollte nicht, dass sie seine Schwäche erkannte. Er begriff nicht, dass seine Schwäche ihn auf einmal so menschlich, so verletzlich machte, dass es Evie den Atem verschlug.



37


»Okay, nun mal ganz langsam. Du musst deutlicher sprechen«, sagte der Polizist, während er nach einem Stift kramte. »Du behauptest also, die Explosion vor einer Stunde, das bist du gewesen? Und dass du eine Bombe hast hochgehen lassen?«


Devil nickte. Er schwitzte. Er war den ganzen Weg hierher gerannt und hatte ungeduldig in der Schlange gewartet, bis er jetzt endlich vor dem Tresen der Polizeiwache stand. Die Wache war in einem niedrigen grauen Gebäude untergebracht, das direkt an der Hauptstraße lag. »Ja. Dieser Typ hat mich dazu angestiftet. Sein Name ist Thomas. Ich muss mit jemandem sprechen, der hier das Sagen hat. Es ist wichtig, Mann. Wirklich. Der Typ ist verrückt.«


Der Polizeibeamte nickte bedächtig. »Einen Moment.«


Er ging weg und Devil verschnaufte erst einmal. Er war noch nie freiwillig auf einer Polizeiwache gewesen. Die Polizei hatte ihn nur ein paarmal mitten in der Nacht hierher geschleppt, um zu fragen, wo er sich zum Zeitpunkt eines Verbrechens oder so aufgehalten hatte. In der Regel war er so unkooperativ gewesen wie nur möglich, mit mürrischem Gesicht und hasserfülltem Blick.


Aber diesmal nicht. Das Atmen fiel ihm immer noch schwer, und er musste sich am Tresen abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.


Ein Polizeibeamter in Zivil tauchte neben ihm auf, und an dessen Tonfall erkannte Devil, dass das der Chef war. Devil war erleichtert. Sie wussten Bescheid über die Explosion. Sie nahmen ihn ernst. »Würden Sie bitte mitkommen?«, sagte er.


Devil nickte und folgte dem Beamten in ein Vernehmungszimmer.


Der Mann setzte sich und forderte Devil mit einem Wink auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Devil setzte sich auf einen Metallstuhl, holte tief Luft, sah den Polizeibeamten an und wartete auf das einleitende »Also …«, damit er loslegen konnte.


Aber der Beamte schwieg und starrte ihn nur an. Devil starrte zurück, eine instinktive Reaktion: starrer Blick, zusammengepresste Lippen, der ganze Gesichtsausdruck eine einzige Herausforderung. Schließlich riss er sich zusammen und schaute weg. Er war nicht auf Konfrontation aus – er war hier, um über Thomas zu sprechen. Er wollte ihnen beweisen, dass sie ihm vertrauen konnten, dass er die Wahrheit sagte.


Devil sah sich in dem Zimmer um. Normalerweise waren bei einer Vernehmung zwei Polizisten anwesend. Aber vielleicht war das nur dann der Fall, wenn man verhaftet wurde, dachte er bei sich. Vielleicht zählte ein hochrangiger Bulle so viel wie zwei normale Beamte.


»Wollen Sie das Gespräch nicht aufnehmen?«, fragte er und sah sich suchend nach einem Tonbandgerät um.


»Das wird nicht nötig sein«, meinte der Polizist mit einem schiefen Lächeln.


Devil überlegte. »Ich finde, Sie sollten es aufnehmen«, wagte er zu widersprechen. »Jedes Wort. Denn was ich Ihnen hier erzähle … Der Typ, der hinter dem Anschlag steckt, ist verrückt. Er ist gefährlich. Sie müssen ihn aufhalten, Mann. Aber er hat Freunde. Arbeitet für ein großes Unternehmen. In der Stadt.«


Devil trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Der Polizeibeamte ihm gegenüber hatte ein unauffälliges Gesicht, große Ohren, und aus seiner Nase wuchsen dunkle Härchen. »Dann werden Sie mir jetzt also Fragen stellen, oder was?«, fragte Devil ungeduldig.


Der Polizist schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, das wird nicht nötig sein.«


»Also … was dann?«, fragte Devil misstrauisch. Er blickte hinüber zur Tür. Ob sie wohl abgeschlossen war? Sein Herz begann schneller zu schlagen. »Hat man Ihnen nicht gesagt, warum ich hergekommen bin? Was ich Ihnen zu sagen habe?«


»Doch«, erwiderte der Polizist. »Es ist nur so, Mr …« Er warf einen Blick auf seine Notizen. »Mr Jones. Da war keine Bombe.«


Devil schüttelte den Kopf. »Keine Bombe? Nee, Mann. Natürlich war da eine Bombe. Es gab Tote und Verletzte, Mann.«


»Es gab tatsächlich eine Explosion«, sagte der Beamte. »Aber die wurde durch eine undichte Stelle in der Gasleitung verursacht. Spurensicherung und Feuerwehr waren vor Ort.«


»Wollen Sie mich verarschen?«, sagte Devil kopfschüttelnd. »Es war eine Bombe. Ich hatte sie in einem Aktenkoffer. Sie ist explodiert. Es war eine Bombe.«


Der Polizist lächelte angespannt. »Also, war’s das dann?«


Als er aufstand, entdeckte Devil einen kleinen Anstecker mit einem »I« an dessen Hemd.


Die Farbe wich aus seinem Gesicht.


»Das war’s«, sagte Devil mit leicht zitternder Stimme.


»Gut. Und um den Papierkram brauchen wir uns nicht zu kümmern, oder?«, meinte der Polizeibeamte. »Wir wollen dir ja nicht die Verschwendung unserer kostbaren Zeit in Rechnung stellen. Die Explosion hat dich wahrscheinlich durcheinandergebracht, und jetzt bildest du dir Dinge ein, die gar nicht passiert sind. Habe ich mich klar ausgedrückt? An deiner Stelle würde ich mich bedeckt halten und niemanden behelligen und keine Unruhe stiften. Kapiert? Wir wollen doch nicht, dass dir etwas passiert.« Er beugte sich noch weiter vor. »Du hast alles vermasselt, du kleiner Scheißkerl«, zischte er. »Monatelange Arbeit umsonst, nur wegen dir. An deiner Stelle würde ich abhauen, bevor Thomas richtig wütend wird. Bevor er kommt, um dich zu holen. Okay?«


Der Polizist sah Devil direkt in die Augen. Devil wusste, wie eine Drohung klang. Seinerzeit hatte er genug Drohungen ausgesprochen.


Er nickte. »Ja, Mann. Was soll’s. Ich will keinen Ärger«, murmelte er.


»Nein, ganz sicher nicht«, meinte der Polizist und öffnete die Tür. Er führte Devil hinaus auf den Korridor, durch eine weitere Tür und nach draußen vor die Wache. Devil fühlte sich benommen, als er auf die Straße trat. Es war dieselbe Straße wie vorher, aber irgendwie fühlte sich alles anders an, so als hätte sich die ganze Atmosphäre, als hätte sich alles auf Knopfdruck verändert. Er lief los, doch er hatte das Gefühl, als ob er verfolgt würde. Er drehte sich um, aber da war niemand, nur eine alte Frau, die grummelnd ihre schweren Einkäufe die Straße hinunterschleppte, und eine jüngere Frau, die sich lautstark mit einem kleinen Kind herumstritt. Ob sie auch für Thomas arbeiteten? Ob sie auch solche Anstecknadeln trugen? Nein, natürlich nicht. Sei nicht albern. Geh einfach weiter.


Devil senkte den Kopf und lief schneller, zurück zur Siedlung. Keine Bombe. Eine Gasexplosion. Wie viele Leute arbeiteten eigentlich für Thomas? Warum hatten sie ihn nicht einfach umgebracht, statt so ein Theater zu veranstalten?


Mit einem Schlag wurde ihm klar, warum: weil Thomas Devil zeigen wollte, wer der Boss war. Weil Devil den Spieß umgedreht und sich gestellt hatte. Weil Thomas nicht verlieren konnte, weil er wollte, dass Devil Angst hatte, jeden Tag, und sich fragte, was wohl als Nächstes kommen würde.


Die Siedlung war kaum wiederzuerkennen. Die Hälfte der Gebäude war verschwunden. Das ganze Gelände war von der Polizei abgesperrt worden und überall standen Schilder mit der Aufschrift »Vorsicht! Lebensgefahr!«. Sanitäter kümmerten sich um die Verletzten. Außerhalb der Absperrung schrien Frauen, und Kinder standen mit schreckgeweiteten Augen da. Zwei Busse hielten an. Reisebusse. Ein Mann stieg aus und rief, die Bewohner würden woanders hingebracht. Niemand könne hierbleiben. Devil ging bis zur Absperrung. Mehrere Sicherheitsbeamte stellten sich ihm in den Weg und verweigerten ihm den Zutritt zur Siedlung. »Tut mir leid, Kumpel, zu gefährlich«, sagte einer zu Devil.


»Ich wohne hier, Mann«, erklärte er und versuchte, an dem Mann vorbeizukommen. Doch der zerrte ihn zurück. »Füll ein Formular aus«, sagte er. »Alle Bewohner werden in eine provisorische Unterkunft gebracht. Deine Sachen kannst du später holen. Oder das, was davon noch übrig ist. Ihr werdet eine Entschädigung bekommen. Du weißt doch, dass es eine defekte Gasleitung war? Behalte das Formular. Vielleicht kriegst du ja Geld.«


Devil nahm das Formular. »Eine defekte Gasleitung?« Er blickte auf das Formular, aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren, um es genau durchzulesen. Eine defekte Gasleitung. Und die Leute glaubten diesen Unsinn tatsächlich.


»Richtig. Anscheinend wusste die Kommune schon seit einem Jahr von den kaputten Leitungen, aber sie haben sie nicht reparieren lassen. In einer halben Stunde fährt da drüben ein Bus ab. Du kannst so lange warten. Und vergiss nicht, das Formular auszufüllen.«


Devil ging ganz benommen zu der großen Gruppe von Leuten, die auf den Bus warteten. Seine Mum stand neben einem Mann, den Devil kannte, und sie war sehr freundlich zu ihm. Sie sah erschöpft aus und verwirrt. Das kleine Mädchen war mit seiner Mutter da, und Nelson auch. Er kam zu Devil herüber. »Scheiße, Mann«, sagte er.


»Ja. Ja.« Devil schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf.


Dann steckte er die Hand in die Tasche und holte das Geld heraus, das Thomas ihm gegeben hatte. Ein Tausender für das In-Die-Luft-Sprengen seiner Siedlung, für den Tod all dieser Menschen. Devil ging hinüber zu seiner Mutter. »Hier«, sagte er und drückte ihr das Geld in die Hand. »Pass auf dich auf.«


Seine Mutter starrte ihn unsicher an, dann nickte sie.


»Kümmern Sie sich um sie«, sagte er zu dem Mann, der bei seiner Mutter stand.


Devil ging wieder zu Nelson. »Behalt sie im Auge. Pass auf, dass keiner ihr das Geld klaut. Kapiert?«


Nelson sah ihn erstaunt an. »Okay, Mann. Alles klar«, meinte er achselzuckend. Dann runzelte er die Stirn. »Wo willst du denn hin? Warum passt du nicht auf, dass keiner es klaut?«


Devil gab keine Antwort. Er wusste es selbst nicht. Er sah zu, wie sich die Türen des Busses öffneten und die Leute einstiegen. Die meisten waren voller Staub. Und dann sah er ihn, den Fahrer des Busses, wie er einem alten Mann beim Einsteigen behilflich war. Devil entdeckte den Ring an seinem Finger, den Ring mit dem Buchstaben »I« darauf.


»Steig in den Bus, Mann«, sagte er zu Nelson. »Ich komme später nach, okay?«


»Später? Aber …«, begann Nelson, doch Devil war schon davongerannt. Und während er rannte, machte er den Anstecker von seiner Kapuze ab, den er die ganze Zeit getragen hatte, warf ihn auf den Boden und zertrat ihn mit dem Schuh. Er gehörte nicht zu Thomas’ Gang. Nicht mehr. Er hielt einen Moment inne und blickte voller Verachtung, Scham und Angst auf den Anstecker. Dann rannte er wieder los.


Devil wusste, dass er von jetzt an ständig auf der Flucht sein würde, es sei denn, er tat, was Thomas von ihm verlangte. Denn Männer wie Thomas gaben niemals auf und sie ließen Leute wie Devil nicht entkommen. Er könnte ein Leben lang auf der Hut sein, aber das würde nicht genügen, denn er würde immer etwas oder jemanden übersehen.


Er würde nie mehr frei sein, weil er zu viel wusste.


Und da wusste Devil, was er zu tun hatte. Das Einzige, das er tun konnte und wollte. Denn er wollte weder vor Thomas davonlaufen noch vor sich selbst.


Deshalb rannte er zurück in die Stadt, zurück zur Polizeiwache, drängte sich an der Schlange vorbei, stellte sich an den Tresen und haute mit der Faust darauf.


»Ich will mich stellen«, rief er.


Der Mann hinter dem Besuchertresen drückte einen Knopf, und sofort kam der Polizeibeamte mit der Anstecknadel aus einer Tür und ging zu Devil hin.


»Du schon wieder«, sagte er mit eiskaltem Blick. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht unsere kostbare Zeit vergeuden. Da war keine Bombe. Da war kein …«


»Darum geht es nicht«, warf Devil rasch ein. »Ich will mit dem rothaarigen Polizisten sprechen.«


»Pete?«, sagte der Mann hinter dem Tresen. »Soll ich Wachtmeister Wainright holen?«


»Das wird nicht nötig sein«, meinte der Beamte. »Du kannst mit mir sprechen.«


»Ich will aber Pete«, sagte Devil verzweifelt. »Bitte«, bat er den Mann am Tresen. Dieser zuckte die Achseln und hob den Telefonhörer ab. Nach einer Weile ging die Tür auf und der rothaarige Polizist erschien. Er sah Devil unsicher an.


»Er verschwendet nur unsere Zeit«, erklärte der leitende Polizeibeamte, der, dem die Härchen aus der Nase wuchsen. »Ich erledige das.«


»Wie Sie meinen«, sagte Wachtmeister Wainright achselzuckend und wandte sich zum Gehen.


»Warten Sie«, schrie Devil. »Warten Sie.« Er musterte Wachtmeister Wainright von oben bis unten. Da war kein Anstecker und kein Ring.


»Worum geht’s denn?«, fragte der Wachtmeister.


»Ich will mich stellen«, erklärte Devil.


»Wegen etwas, was nicht passiert ist«, sagte der schmallippige Polizist.


»Wegen Mordes an einem Mitglied der Green Lanes Massive Gang«, sagte Devil und schlug mit der Faust auf den Tresen. »Wegen Drogenhandel. Und wegen Führens einer Gang. Sie wissen alles darüber. Sie waren dort. Sie haben mit den Leuten gesprochen. Sie wissen, was passiert ist. Ich möchte ein Geständnis ablegen …«



38


Sie waren inzwischen vierzig Minuten marschiert und schon gut vorangekommen; bei Tagesanbruch würden sie in einem sicheren Versteck sein. Linus hatte Benjamin darüber aufgeklärt, wie viel Sicherheit die Höhlen boten, ein Geschenk der Natur, wenn man überleben wollte. Schon bei ihrer ersten Begegnung war dieses Thema zur Sprache gekommen. Linus hatte Benjamin über die Siedlung ausgefragt, wie sie geführt wurde und wie es mit der Versorgung der Menschen aussah. Er hatte so viele Fragen gestellt, dass Benjamin misstrauisch geworden war und gedroht hatte, Linus aus der Siedlung schaffen zu lassen, wenn er ihm über die wahren Gründe seines Besuchs nicht reinen Wein einschenkte. Aber Linus war deswegen anscheinend überhaupt nicht beunruhigt gewesen, denn er hatte weitergeredet, Bemerkungen und Vorschläge gemacht und Fragen gestellt. Er hatte Benjamin erklärt, dass seine Siedlung und er als deren Oberhaupt angreifbar seien. »Du musst immer eine Rückzugsmöglichkeit haben«, hatte er gesagt. »Einen Ort, an den du dich flüchten kannst. Glaub mir, eines Tages wirst du mir dankbar sein.«


»Glaubst du, dass alles gut geht?«, fragte Benjamin.


Stern sah ihn merkwürdig an. Es kam nicht oft vor, dass Benjamin Bestätigung suchte. Vielleicht zweimal in zwanzig Jahren. Stern nickte. »Wir sind alle am Leben. Wir haben Essen und Wasser. Die Höhlen sind bereit und warten auf uns. Natürlich geht alles gut.«


Benjamin nickte, obwohl er ein ungutes Gefühl hatte. Sie waren alle am Leben. Aber wie lange noch? Wo führte er sie eigentlich hin? Wie kam er dazu, sich zu ihrem Anführer zu erklären, der alle Entscheidungen traf? Manchmal hörte er, wie die Leute über ihn redeten, als wäre er so etwas wie ein Gott, eine Art Erlöser, den der Himmel ihnen geschickt hatte. Aber er wusste, was er wirklich war. Er wusste, dass er alles andere war als ein Gott.


Andererseits hatte Gott auch nicht viel für die Menschen getan. Der Gott des Alten Testaments hatte nach Art eines Kriegsherrn mehr Interesse an Grausamkeiten, am Töten und Verstümmeln gezeigt. Dann sandte er seinen Sohn auf die Erde, damit der in seinem Namen predigte, und ließ es zu, dass er gefoltert und ermordet wurde. Vielleicht hatte sein Sohn sein Missfallen erregt, überlegte Benjamin. Vielleicht war er unzufrieden damit, wie sein Sohn seine Botschaft interpretiert hatte. Denn Jesus sprach nicht von Bestrafung, sondern von Vergebung, von Geduld, von einem bescheidenen, rechtschaffenen Leben, von Toleranz gegenüber anderen, obwohl sein Vater eindeutig nicht tolerant war. Sein Vater kannte keine Vergebung. Er war ein zorniger, machtbesessener Gott, der von seinen Anhängern bedingungslose Ergebenheit und Unterwerfung verlangte. Sicher, in der Bibel stand, dass Gott seinen Sohn opferte, um die Welt zu retten, aber daran hatte Benjamin nie wirklich geglaubt. Jesus schien nicht von derselben Schrift zu sprechen wie sein alter Herr. Vielleicht hatte er über die Stränge geschlagen. Vielleicht hatte sein Vater nicht damit gerechnet, dass er eine eigene Meinung hatte. Benjamin musste lächeln, als er sich Jesus als Sohn eines Diktators vorstellte, der versuchte, das Regime zu modernisieren und es menschenfreundlicher und angenehmer erscheinen zu lassen, während sein Vater kein Interesse daran hatte, den Status quo zu ändern. Vielleicht hatte Jesus deshalb mit seinem Leben bezahlt, und nicht, um irgendjemanden zu retten.


»Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, sich mit der Stadt anzulegen«, meinte Stern plötzlich. »Vielleicht können wir unseren Leuten jetzt die Wahrheit sagen. Jetzt, da wir der Stadt die Stirn geboten haben.«


Benjamin drehte sich verwundert um. Er hatte immer gedacht, dass Stern dasselbe wollte wie er; dass es besser war, die Spitzel zu beschwichtigen, als noch mehr Blut zu vergießen. »Hätte ich ihnen schon früher die Stirn bieten sollen? Obwohl das alle in Lebensgefahr gebracht hätte?«


Stern blieb nicht stehen. »Es ist immer besser, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, auch wenn es dann kürzer ist als ein Leben in Knechtschaft.«


»Aber keiner wusste, dass wir in Knechtschaft gelebt haben«, sagte Benjamin.


»Ich schon«, erwiderte Stern schlicht.


Benjamin nickte, und er hatte das Gefühl, als läge eine Zentnerlast auf seinen Schultern. Seine Siedlung sollte ein würdevoller, von Stolz erfüllter Ort sein. Aber die Spitzel hatten ihm die Würde genommen. Und er hatte sie Stern genommen.


Benjamin holte tief Luft und begriff, dass Stern recht hatte: Das war ein Neubeginn, eine Chance, noch einmal von vorn anzufangen. Sie brauchten nicht viel zum Leben. Luft zum Atmen, Nahrung, Kleidung und Obdach, ein freundliches Gesicht, eine Umarmung …


»Tut mir leid«, sagte er zu Stern. »Aber eins musst du wissen: Die Männer sind nicht aus der Stadt. Sie handeln zwar in deren Auftrag und schaffen Nahrung heran, aber sie verfolgen ihre eigenen Pläne. Und diese Pläne zu durchkreuzen ist gefährlich. Du musst vorbereitet sein.«


»Ich bin immer vorbereitet«, erklärte Stern mit einem Achselzucken.


Jeder trug nur eine Tasche bei sich, und nicht mal eine große. Die Leute konnten, wenn nötig, auch mit wenig Gepäck reisen, und trotzdem taten sie oft das Gegenteil. Benjamin erinnerte sich noch an die Zeit des Überflusses und der Habgier, als sich in jedem Zimmer und in jedem Schrank materielle Dinge stapelten, die ihre Besitzer infizierten und die Umwelt verschmutzten. So viele Dinge, und dennoch waren alle immer darauf aus, noch mehr zu kaufen. Wie eine Sucht, dachte er bei sich. Als ob materielle Dinge die Leere ausfüllen oder irgendwie eine Antwort geben könnten.


Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Damals hielt sich jeder für unbesiegbar, er auch. Niemand konnte ahnen, was kommen würde, niemand konnte die Schreckenszeit vorhersehen.


Außer einem.


Benjamin blieb stehen, weil die altbekannte Übelkeit in ihm aufstieg, wie immer, wenn er daran dachte. Auf einmal runzelte er die Stirn und wandte sich an Stern. »Hörst du was?«


Stern schüttelte den Kopf. »Was soll ich denn hören?«


Benjamin legte Stern die Hand auf den Arm und konzentrierte sich. War das nur Einbildung? Natürlich, was sonst.


Aber dann wurde das Pfeifen lauter und Stern und die anderen hörten es auch. Sekunden später hörten sie eine Explosion. Die Leute rannten schreiend davon, und Benjamin schickte ein Stoßgebet zu einem Gott, der seiner Ansicht nach gar nicht existierte. Dann rannte er hinter den anderen her, um sie so schnell wie möglich zu den Höhlen zu bringen.


»Was ist das für ein Ort?«, fragte Raffy vorsichtig und schaute sich um. Dabei wanderte sein Blick immer wieder zu Evie und zu Lucas hinüber.


»Das«, sagte Linus, während er zu dem größten Computer ging, »ist mein Versteck. Mein Forschungszentrum. Bitte, nimm Platz.«


Raffy ging nicht darauf ein. »Aber was tun Sie hier? Was sollen diese ganzen Computer? Ich dachte, wir würden nach Base Camp gehen.«


»Du hast also angenommen, wird würden nach Base Camp gehen«, sagte Linus achselzuckend. »Ich bezweifle, dass das viel mit Denken zu tun hatte. Deine Annahme beruht lediglich auf einer früheren Erfahrung.«


Raffys Blick verfinsterte sich.


Lucas trat vor. Er war nicht in der Stimmung für Linus’ kleine Scherze und Ausflüchte. »Linus, hör auf, Raffy zu bevormunden, und sag ihm, was wir hier machen. Oder ich sage es ihm.«


Linus hob eine Augenbraue und selbst Raffy blickte verblüfft drein. »Meinst du nicht, wir sollten zuerst Tee kochen?«, sagte Linus spöttisch. »Na los, Lucas. Sollten wir uns nicht wie zivilisierte Menschen benehmen?«


Lucas wollte etwas erwidern, überlegte es sich dann aber anders. Er hatte ihn nicht so anblaffen wollen. Er wollte nicht hier sein. Er wollte nicht mit den beiden in dieser Höhle sein. Er hatte gedacht, Raffy wäre okay, doch er war ganz und gar nicht okay. Sein Bruder hasste ihn offensichtlich, und Evie war zwar höflich, aber man sah ihr an, dass sie unglücklich war. Wie könnte es auch anders sein? Es gab nichts, worüber man hätte glücklich sein können. Sein Vater war umsonst gestorben; die Stadt wurde zwar nicht mehr von dem System regiert, aber dafür wurde sie jetzt von den Spitzeln bedroht, den Mördern, die nun auf der Suche nach Raffy waren. Die Stadt war kein besserer Ort. Sie würde nie ein besserer Ort sein und dafür schämte er sich.


Linus’ Blick fiel zufällig auf Lucas und sein Gesicht verzog sich zu einem leichten Lächeln. Seine Liebenswürdigkeit spiegelte sich in den Fältchen auf seinen Wangen und um seine Augen wider. Einen Moment lang sah Lucas in Linus nicht den wütenden Deserteur, sondern den Mann, der das System entwickelt hatte, der daran geglaubt hatte und der aus der Stadt fliehen musste, als er feststellte, dass es korrumpiert wurde und dass andere sich alles, wofür er gearbeitet hatte, widerrechtlich aneigneten. Als sie sich ansahen, glaubte Lucas ganz kurz, sich in Linus wiederzuerkennen. Denn Linus war auch einmal voller Hoffnung gewesen.


»Also machen wir jetzt Tee«, sagte Lucas ruhig. »Aber dann erzählen wir Raffy und Evie alles.«


Linus nickte und hielt Lucas’ Blick noch ein paar Sekunden stand. Dann suchte er nach einer alten Teekanne und kurz darauf machte er Feuer.


Raffy sah ihn erstaunt an. »Für alle diese Computer ist genug Strom da, aber für eine Kanne Tee müssen Sie extra ein Feuer machen? Was ist mit dem Kessel da drüben?«


Linus runzelte die Stirn. »Ich dachte, Lucas wollte den Tee machen«, sagte er mit einem leichten Achselzucken und mit seinem üblichen heiteren Blitzen in den Augen. »Ich mache Feuer, damit wir uns später davorsetzen können. Willst du mir nicht dabei helfen, Raffy? Da drüben liegt Holz.«


Raffy schlurfte zögernd in die Richtung, in die Linus deutete. Lucas lächelte in sich hinein und machte sich daran, den Tee zu kochen. Evie ging zu Lucas in Linus’ behelfsmäßige Küche und gemeinsam suchten sie nach ein paar Tassen. Die beiden schienen umeinander herumzutänzeln, immer darauf bedacht, sich nicht anzusehen, nicht mit dem anderen zusammenzustoßen, sich nicht zu berühren … Lucas bemerkte, dass Evie ihm auswich. Und er verstand auch, warum. Also tat er dasselbe und vermied möglichst jeglichen Blickkontakt. Das war er ihr und Raffy schuldig.


Ein paar Minuten später brachte Lucas die Teekanne dorthin, wo Raffy Holzscheite in das eben angefachte Feuer warf. In der ganzen Geschäftigkeit hatte sich die Atmosphäre etwas entspannt. Evie und Linus unterhielten sich und selbst Raffy machte kein so finsteres Gesicht mehr. Vielleicht hatte Linus recht gehabt, als er darauf bestand, Tee zu kochen, überlegte Lucas. Vielleicht hatte Linus in mehr Dingen recht, als Lucas ihm zugestand.


»Okay«, meinte er, goss den Tee in die Tassen und reichte diese herum. »Dann reden wir jetzt, oder?«


»Gut«, sagte Linus und trank einen Schluck Tee. »Also, die Spitzel waren von Anfang an in der Stadt«, erklärte er und warf einen vorsichtigen Blick auf Raffy. »Allmählich glaube ich sogar, dass sie an ihrer Entstehung beteiligt waren.«


»Dann sind es also Bürger der Stadt?«, fragte Evie neugierig und beugte sich vor, als wäre sie einsatzbereit.


Linus schüttelte den Kopf. »Es sind keine Bürger der Stadt, Evie. Ich habe keine Ahnung, woher sie kommen. Ich weiß nur, dass sie nach der Schreckenszeit beobachtet und gewartet haben. Und als sie von der Stadt und den Plänen erfahren haben, sind sie zu Fisher gegangen, zu unserem Großen Anführer …« Linus hob eine Augenbraue, um seine Bemerkung ironisch zu unterstreichen. »Sie haben ihm für seine neue Stadt finanzielle Unterstützung und Hilfe angeboten. Fisher hat mir nichts davon erzählt. Er hat einfach genommen, was er kriegen konnte, und später hat er dann den Bruder eingeschaltet, um den Spitzeln bei ihren kleinen Gaunereien behilflich zu sein. Im Gegenzug für die Unterstützung wurde ihnen freier Zutritt zur Stadt gewährt. Sie haben sie die ganze Zeit beobachtet. Ich weiß nicht genau, warum. Ich weiß nur, dass sie in der ganzen Zeit ihre eigene Zivilisation aufgebaut haben, und zwar mithilfe einer Technologie, die meiner weit voraus ist. Diese Technologie wurde seit der Schreckenszeit an Orten entwickelt, die angeblich völlig zerstört wurden.«


»Aber wozu brauchen sie Raffy? Ich weiß, Sie haben gesagt, weil sie glauben, dass er das System wieder in Gang setzen kann. Aber wieso?«


»Genau das müssen wir herausfinden«, sagte Linus und atmete tief aus. »Wir müssen herausfinden, was sie mit der Stadt und dem System vorhaben. Wir müssen dahinterkommen, warum sie hier sind. Denn eins ist sicher, sie führen nichts Gutes im Schilde. Und sie sind ziemlich schlau. Meiner Meinung nach ist das keine gute Kombination.«


Linus rieb sich den Kopf.


»Und weiter?«, fragte Evie mit zu Schlitzen verengten Augen.


Linus sah sie neugierig an.


»Was noch?«, sagte sie und verschränkte die Arme. »Ich weiß, dass Sie uns noch nicht alles gesagt haben.«


Linus grinste. »Das kannst du gar nicht wissen«, erwiderte er und zog eine Braue hoch.


Evie hob ebenfalls eine Braue, und Lucas spürte, dass ihm das Herz schwer wurde.


»Na schön«, lenkte Linus ein. »Es ist eigentlich nur eine Vermutung, eine Idee. Aber wenn man die chronologische Entwicklung dieser Zivilisation betrachtet, die bereits vor dem Ende der Schreckenszeit bestand …« Linus verstummte, als wäre er nicht gewillt, den Satz zu beenden.


»Erzählen Sie uns, was Sie vermuten«, meinte Evie stirnrunzelnd, und Linus seufzte. »Das alles kann kein Zufall sein. Es passt einfach zu gut. Es sieht fast so aus, als hätten sie es gewusst. Als hätten sie gewusst, was passieren würde.«


»Aber das ist unmöglich«, meinte Lucas und runzelte die Stirn.


»Vielleicht.« Linus verzog das Gesicht. »Aber aus einem anderen Blickwinkel betrachtet kann das, was an einem Tag noch unmöglich erscheint, schon am nächsten Tag möglich sein. Die meisten Dinge, die die Menschen zu wissen glauben, entsprechen nicht der Wahrheit. Früher haben die Menschen geglaubt, die Erde sei eine Scheibe und dass die Sonne sich um die Erde dreht. Die Menschen glauben eine Menge Dinge, die sich später als falsch herausstellen. Sie glauben das, was am einfachsten ist. Ich habe noch nicht den richtigen Blickwinkel. Vielleicht, wenn ich es noch eingehender betrachte …«


»Also irren Sie sich vielleicht?«, fragte Evie, und ihre klugen Augen durchbohrten ihn furchtlos. »Ich meine, Sie haben doch gesagt, dass das meiste, was wir glauben, falsch ist. Dann könnten Sie sich jetzt doch auch irren, oder?«


Linus schien ihr diese Bemerkung nicht übel zu nehmen und lächelte. »Könnte sein«, gab er zu. »Aber wie dem auch sei, da draußen gibt es eine Zivilisation, um die lange Zeit ein Geheimnis gemacht wurde und die in der Lage war, sich vor mir zu verbergen.«


»Und sie wird sich auch weiterhin verbergen müssen, wenn sie nicht von mir zerstört werden will«, sagte eine dröhnende Stimme, die von dem Felsvorsprung hinter ihnen kam. Dann erschien ein hochgewachsener, majestätisch wirkender Mann mit dunkler Haut und kurzem grau melierten Haar. »Sie haben die Siedlung zerstört. Alles, was wir aufgebaut haben. Alles …«


»Benjamin!« Raffy sprang auf, lief zu ihm hin und half ihm von dem Felsvorsprung herunter. »Was ist passiert? Warum sind Sie hier? Sie sollten nicht hier sein.« Lucas bemerkte, dass Raffy zutiefst verwirrt und ernsthaft besorgt war.


»Was passiert ist?«, sagte Benjamin. Er legte den Arm um Raffy und ging langsam und mit grimmigem Blick auf die Gruppe zu. »Wir befinden uns wieder im Krieg.«


Er ging hinüber zu Linus und streckte die Hand aus. Evie sah, dass er Tränen in den Augen hatte. »Ich stehe zu Diensten«, sagte er. »Wenn du mich willst.«


»Natürlich will ich«, meinte Linus und rückte ein Stück zur Seite, damit Benjamin sich hinsetzen konnte. »Sonst hätte ich dir nie gesagt, wie du hierher findest. Aber jetzt sag mir, was passiert ist.«


»Es ist so gekommen, wie du vorausgesagt hast. Nur dass der Angriff aus der Luft kam. Eine Bombe. Die ganze Siedlung wurde zerstört.«


Lucas sah, dass Raffy ganz blass wurde. »Sie wurde zerstört?«, stieß er hervor und sah dabei ganz elend aus.


»Nur die Gebäude«, sagte Benjamin ernst. »Die Menschen sind in den Höhlen in Sicherheit.« Benjamin nickte und warf Linus einen dankbaren Blick zu. Evie bemerkte, dass er auf einmal älter aussah, als wäre er in nur einem Tag um zehn Jahre gealtert. Seine Augen funkelten vor Zorn, aber sein Körper wirkte wie erschlagen. »Ein paar Wochen wird es ihnen gut gehen. Aber mir geht es gar nicht gut. Ich bin wütend.«


»Sind Sie zu Fuß gekommen?«, fragte Lucas. »Wie haben Sie es so schnell hierher geschafft?«


Benjamin schüttelte den Kopf. »Linus hat mir vor vielen Jahren vorgeschlagen, in der Höhle ein Fahrzeug bereitzustellen. Nur für den Fall. Ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal brauchen würde.«


»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte Linus, ging auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Arm. »Auch wenn der Anlass nicht erfreulich ist. Aber es ist einfach schön, dich hierzuhaben.«


»Ich bin hier, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Ich bin hier, weil ich dem Ganzen ein Ende machen muss«, sagte Benjamin bestimmt. Seine Augen funkelten, und seine Kiefermuskeln waren gespannt. »Die Siedlung war ein guter Ort. Wir haben niemandem Schwierigkeiten gemacht, und wir haben der Stadt gegeben, was sie verlangt hat.«


Linus zog die Augenbrauen hoch. »Das kümmert diese Leute nicht«, meinte er achselzuckend. »Das weißt du genauso gut wie ich. Die Stadt ist ihnen im Grunde egal. Dass sie als Vertreter der Stadt aufgetreten sind, war nur Mittel zum Zweck.«


»Worum geht es ihnen dann?«, fragte Evie mit zitternder Stimme.


Linus atmete tief aus. »Das ist die Frage«, sagte er und beugte sich vor. »Vielleicht haben sie sich vor langer Zeit für etwas anderes interessiert. Vielleicht waren sie der Meinung, ihr Handeln sei gerechtfertigt. Das Problem ist, Evie, dass jeder, der glaubt, er hätte eine Antwort, eine Lösung, und jeder, der sich im Recht fühlt, unvermeidlich zum Tyrannen wird. Sobald man eine richtige Antwort verkündet, müssen alle anderen Antworten falsch sein. Diktatoren, Religionen … alle wollen sie uns retten, aber in Wirklichkeit trampeln sie auf uns herum und bekämpfen jeden, der sie herausfordert. Das ist alles Größenwahn mit einer dazugehörigen Geschichte als Rechtfertigung.«


»Dann sind sie also größenwahnsinnig?« Evie runzelte die Stirn.


»So etwas Ähnliches«, meinte Linus lächelnd. »Der Zweck heiligt die Mittel. Gewalt wird unter den Teppich gekehrt, Andersdenkende werden zum Schweigen gebracht. Glaub mir, das ist nichts Neues. Aber wir haben etwas, was sie brauchen, oder zumindest den Schlüssel dazu. Wir müssen sehr behutsam vorgehen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir diese Schlacht gewinnen können.«


»Du meinst das System, oder?«, fragte Lucas.


»Ja, das System.« Linus nickte und atmete langsam aus. »Aber was mich eigentlich interessiert, ist das Warum.«


Er ließ die Frage ein paar Sekunden im Raum stehen, dann klatschte er in die Hände. »Aber jetzt ist es Zeit, dass wir uns ausruhen.«


»Ausruhen?«, meinte Evie empört und unterdrückte ein Gähnen.


»Schlafen«, sagte Linus bestimmt. »Na los, ich zeige dir, wo die Decken sind.«



39


Thomas Benning sah sich die Nachrichten an und lächelte, als verzweifelte Reporter vor laufenden Kameras die jüngsten Anschläge zu erklären versuchten, die am selben Tag die Städte London und Birmingham verwüstet hatten. Der erste wurde als Anschlag auf Wohlstand und Kapitalismus gedeutet, der zweite als das Werk religiöser Extremisten.


Sollen sie das ruhig glauben, dachte Thomas mit einem Grinsen.


Thomas ging in Adrians Büro. »Noch zwei Wochen, dann legen wir richtig los«, sagte er.


»Sie meinen …«


»Ich spreche von Krieg, von Armeen, von Zerstörung auf globaler Ebene. Es muss sich anfühlen, als ginge die Welt unter.«


Adrian schien zu überlegen. »Aber … die Bomben hier. Die sind schon ziemlich groß.«


»Ja, ja«, sagte Thomas ungeduldig. »Aber sie sind nur hier. Jetzt wird es Zeit für Phase zwei. Wir schneiden den Rest der Welt von jeglichen Informationen ab. Totaler Blackout.« Adrian verzog das Gesicht und machte den Mund auf, wie um etwas zu sagen. »Ein Blackout, von dem keiner etwas mitbekommt, weil wir gleichzeitig die Lücke mit dem Inhalt füllen, den sie sehen sollen«, fuhr Thomas fort, bevor Adrian ihn unterbrechen konnte. Er fand Erklärungen immer so ermüdend. »Und dasselbe läuft von England aus.«


»Also weiß niemand, was wir getan haben?«


»Wüsstest du, dass ich den Äther übernommen habe, wenn dein Fernsehprogramm ganz normal weiterlaufen würde?«, fragte Thomas.


Adrian schüttelte den Kopf.


»Wüsstest du, dass dein Freund in Europa tot ist, wenn du weiterhin E-Mails, Telefonanrufe und Web-Updates von ihm bekommen würdest?«


Adrian schüttelte erneut den Kopf. »Aber wenn Leute hierherkommen, wenn sie hierher fliegen, werden sie die Wahrheit wissen«, sagte er.


»Deshalb wird als Erstes eine Ausgangssperre verhängt und die Flughäfen werden geschlossen«, erklärte Thomas und verdrehte die Augen. »Meinst du nicht, dass ich an alles gedacht und jede Einzelheit berücksichtigt habe?«


Thomas lachte. »Tu einfach, was ich dir sage, Adrian. Tu, was ich verlange, und alles wird nach Plan laufen.«



40


Evie folgte Linus zu dem Schrank, in dem er die Decken aufbewahrte, und nahm ein paar heraus. Lucas stand hinter ihr und sie gab ihm eine. Er blickte verlegen drein. »Danke«, sagte er. »Sind genug da?«


Evie sah ihn kurz an. Sie konnte seinen Duft riechen, konnte die Wärme seiner Haut spüren. Er sah ganz anders aus als der Mann, den sie in der Stadt gekannt hatte, wie ein völlig anderer Mensch. Aber nicht wie ein Fremder. Er wirkte älter als damals, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte; er hatte Falten um seine klaren blauen Augen und er sah erschöpft aus. Fast so, als hätte er sich aufgegeben, dachte sie bei sich.


Evie nickte. »Es sind genug«, sagte sie und räusperte sich. »Nimm noch eine. Es wird bestimmt kalt.«


Raffy stand ein paar Meter entfernt, zu weit weg, um zu verstehen, was sie sagten, aber Evie spürte seinen prüfenden Blick und seine Wut.


»Eine reicht.« Lucas rang sich ein Lächeln ab. »Und es tut mir leid, dass du hierherkommen musstest. Es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist.« Ihre Blicke trafen sich, aber Lucas sah gleich wieder weg, als könnte er es nicht ertragen, sie anzusehen, als wollte er vergessen, was zwischen ihnen gewesen war.


Evie lächelte ebenfalls gezwungen. »Das muss dir nicht leidtun. Es ist nicht deine Schuld. Du hast nur versucht, ihn zu beschützen. Die Stadt zu beschützen.«


Lucas nickte. Er stand nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt, und keiner von beiden schien imstande zu sein, sich zu bewegen. »Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen«, sagte er plötzlich mit heiserer Stimme und sah ihr dabei direkt ins Gesicht. Evie spürte seinen bohrenden Blick, so als könnte er sie damit verschlingen, wenn sie nicht aufpasste.


»Ich dachte auch, ich würde dich nicht wiedersehen«, sagte sie leise. Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen und erinnerten sie daran, dass sie sich zusammennehmen musste. »Wie war es … Ich meine … in der Stadt? Was hast du …?« Sie hatte keine Ahnung, was sie eigentlich sagen wollte. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere.


»Evie? Kommst du?« Es war Raffy, er kam auf sie zu. Lucas verschwand sofort und der Bann war gebrochen. Evie sah ihm noch nach und drehte sich dann wieder zu Raffy um. Ihr Herz raste.


»Ich komme«, sagte sie.


Alle suchten sich einen Platz zum Schlafen – Raffy und Evie in einem Bereich neben der Küche, Lucas vor dem Feuer, Linus und Benjamin am anderen Ende der Höhle. Lucas nahm an, dass sie noch reden wollten, aber kurz darauf drang aus ihrer Richtung ein leises Schnarchen an sein Ohr.


Lucas schloss die Augen und ließ den Kopf nach hinten fallen. Er hatte Kopfschmerzen und brauchte dringend Schlaf, aber er fand keine Ruhe, weil er sich nicht entspannen und abschalten konnte. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Gehirn ganz fest verknotet, als würde jemand es zusammendrücken und das letzte bisschen Feuchtigkeit und Luft, das ihm Linderung verschaffen könnte, herauspressen. Seine Gedanken waren wie ein Knäuel, das er nicht entwirren konnte. Er konnte nicht klar denken. Seine Glieder waren schwer vor Müdigkeit, aber er war zu wach, um zu schlafen. Sein Geist war zu aktiv und sein Körper steckte voller Tatendrang.


Er hatte es sich leichter vorgestellt und sich für stärker und klüger gehalten. Aber das war er ganz und gar nicht. Wenn er Evie mit seinem Bruder zusammen sah, empfand er einen körperlichen Schmerz, so als würde ihm ein glühend heißer Schürhaken ins Auge gestoßen. Er hatte gehofft, er könnte gelassen bleiben, aber diese Hoffnung war in dem Moment zunichtegemacht worden, als er Evie erblickte, als er ihre Augen sah, die so voller Leben waren, und ihren fragenden, sprechenden Blick. Und jedes Mal, wenn er sie ansah, wusste er, dass er niemals Frieden finden, dass er niemals glücklich sein würde, solange sie mit jemand anderem zusammen war, solange sie mit seinem Bruder zusammen war.


Lucas holte tief Luft. Er musste schlafen.


Er dachte an das Krankenhaus und beschloss, wieder zu zählen, diesmal nicht, um wach zu bleiben, sondern um seine Gedanken von diesem Ort, von der Realität abzulenken. Er zählte bis tausend und dann wieder rückwärts. Und während er zählte, wurden seine Glieder immer schwerer. Als er schließlich in einen tiefen Schlummer sank, sah er Evies Gesicht neben sich, und er stellte sich vor, wie Evie ihn streichelte, ihn umarmte und ihm ins Ohr flüsterte, dass alles gut werden würde, dass er jetzt bei ihr sei und dass der ganze Schmerz für immer vorbei wäre.


Evie beobachtete Raffy, der am Rand ihres Nachtlagers saß und weder schlafen noch sie ansehen wollte. Und je länger sein wütendes Schweigen dauerte, desto weniger fühlte Evie sich imstande, es zu brechen. Es war, als wäre ihr der Gesprächsstoff ausgegangen, aber das war nicht der Fall. Es gab unzählige Dinge, über die sie gern gesprochen hätte, aber sie konnte einfach nicht anfangen, denn wenn sie es täte, könnte sie nicht mehr aufhören, und dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Also hatte sich Evie in ihr provisorisches Bett gelegt und Raffy gesagt, dass sie müde sei. Er hatte sie böse angesehen, war langsam aufgestanden, hatte sich ausgezogen und sich ans Fußende des Bettes gesetzt. Und dort saß er jetzt seit einer Stunde. Evie konnte nicht schlafen, und Raffy rührte sich nicht von der Stelle. Sie wusste, dass er sich quälte, dass er wütend war über den Verlust der Siedlung, wütend auf die Spitzel, auf Lucas, auf Linus. Und sie wusste, dass es ihre Aufgabe war, ihm zu helfen. Er musste sich aussprechen und die Gedanken loswerden, die ihm gerade durch den Kopf gingen. Bisher war sie immer sein Resonanzboden gewesen, seine Vertraute, die ihn beruhigt und die ihm bestimmte Dinge erklärt hatte. Aber jetzt fand sie nicht die richtigen Worte, um ihm seine Verwirrung und seine Angst zu nehmen. Ihr schossen immer nur stumme Bilder von Lucas durch den Kopf, ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr Herz schlug schneller. Jedes Mal, wenn Raffy sie ansah, wurde sie rot, sie hatte Schuldgefühle, und sie war wütend, weil Raffy so stur, so unmöglich war, wenn es um seinen Bruder ging.


»Raffy«, sagte sie schließlich, weil sie wusste, dass nur sie ihn aus der Sackgasse herausführen konnte, und weil sie wusste, dass Raffy nicht als Erster etwas sagen würde. »Raffy, komm ins Bett. Sei nicht mehr wütend. Lucas ist gekommen, weil du in Schwierigkeiten warst. Und deshalb sind auch alle anderen hier. Die Siedlung existiert nicht mehr. Das ist schlimmer als die Sache mit dir und Lucas. Das ist viel wichtiger.«


Raffy wollte etwas erwidern, doch er überlegte es sich anders. Er erhob sich mit gequältem Blick. »Du kapierst es nicht, oder? Nach der ganzen Zeit kapierst du es immer noch nicht.«


»Was?«, fragte Evie unsicher.


Raffy schüttelte den Kopf. »Egal. Weißt du was? Es spielt keine Rolle mehr. Ich will jetzt schlafen.«


Er legte sich ins Bett, das Gesicht von Evie abgewandt, und zog die Decke über sich. Evie schlug die Decke zurück.


»Offenbar spielt es doch eine Rolle«, sagte sie und versuchte, ruhig zu bleiben. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sagte sie sich immer wieder, aber es half nichts. »Also«, sagte sie kurz und bündig und hörte sich dabei an wie eine Lehrerin, obwohl Mitgefühl und Unterstützung eigentlich angebrachter gewesen wären. »Was genau hat Lucas denn Schlimmes getan? Abgesehen davon, dass er sich ein Leben lang verstellt hat, um dich zu beschützen? Abgesehen davon, dass er mehrmals alles riskiert hat, um dir das Leben zu retten? Was hat er so Schlimmes getan?« Raffy knurrte, und Evie rückte ein Stück von ihm weg. »Ich wünschte, du wärst nicht so verbohrt«, sagte sie. »Lucas ist kein schlechter Kerl. Ich verstehe nicht, warum du das nicht einsiehst.«


»Weil er schlecht ist«, sagte Raffy plötzlich, setzte sich auf und sah Evie finster an. »Du bist diejenige, die das nicht einsieht.«


»Dann sag mir, warum«, bat Evie verzweifelt. »Nenn mir einen triftigen Grund, warum er so schlecht ist.«


Raffy sah sie an und sagte dann kopfschüttelnd: »Es hat keinen Sinn. Es ist sowieso zu spät. Er hat getan, was er sich vorgenommen hat.«


»Was denn?«, sagte Evie, und ihre Stimme klang mindestens eine Oktave höher als sonst. »Was hat er getan? Was?«


Aber Raffy gab keine Antwort. Er legte sich wieder hin, drehte Evie den Rücken zu und zog sich das Kissen über den Kopf. Minuten später hörte Evie ihn tief atmen, ein Zeichen, dass er schlief.


Evie starrte ihn empört an. Wie konnte er nur so ruhig daliegen und schlafen? Sie zitterte am ganzen Leib vor Wut. Wie konnte Raffy nur so unvernünftig sein? So unbeweglich? So … stur?


Je länger sie ihn beobachtete, desto wütender wurde sie. Sie musste sich beruhigen und den Kopf freibekommen, damit sie endlich schlafen konnte. Sie wusste, dass er sie brauchte; er würde nicht eher ruhen, als bis sie verheiratet wären oder weit weg von allen anderen lebten. Aber im Moment bekam sie Schweißausbrüche bei dem Gedanken, mit ihm zusammen zu sein, nur mit ihm und für immer, und ihr stockte der Atem. Sie musste nach Luft schnappen, so als würde ihr allmählich die Sauerstoffzufuhr abgedreht.


Ihr war genauso zumute wie damals, in der Stadt, als sie Lucas heiraten sollte. Damals hatte sie gedacht, dass Raffy der einzige Mensch auf der Welt sei, den sie gernhatte.


Sie schloss die Augen. War das wirklich sie? War sie unfähig, glücklich zu sein oder Liebe zu geben? Sie atmete tief aus, machte die Augen wieder auf, erhob sich von ihrem Lager und tappte vorsichtig in die Küche. Vielleicht würde ein Glas Wasser helfen. Sie könnte sich ein paar Minuten ans Feuer setzen, sich aufwärmen und dabei vielleicht ihre düsteren Gedanken und ihre Wünsche vergessen. Sie war wütend auf Raffy, aber ihr war klar, dass es im Grunde nicht seine Schuld war. Sie war wütend auf sich selbst und auf die ganze Welt. Aber das würde nicht ewig dauern. Sie würde sich auch wieder beruhigen und dann wäre alles wieder gut.


Evie konnte Linus und Benjamin sehen, die am anderen Ende der Höhle schliefen. Sie goss sich ein Glas Wasser ein und ging hinüber zum Feuer, um sich zu wärmen und sich zu beruhigen. Doch als sie näher kam, sah sie, dass Lucas beim Feuer unter einem Stapel Decken schlief. Sie wusste nicht recht, warum sie es tat, aber sie ging zu ihm hinüber und hockte sich nahe bei seinem Schlafplatz auf den Boden. Sie betrachtete ihn eingehend, sein Gesicht, den Verband um seinen Kopf, seinen Arm, seine Hand. Er sah so ruhig aus und so friedlich. Sie stellte sich ihn im Lager der Spitzel vor, voller Furcht, aber dennoch ruhig und besonnen, wie er es immer war. Und während sie ihn ansah, wurde ihr bewusst, dass sie ihn immer nur sehr kontrolliert erlebt hatte. Er war für alle immer der Starke, der die Führung übernahm. Sie hatte ihn noch nie so verletzlich gesehen und sie konnte den Blick nicht von ihm wenden.


Ohne lange nachzudenken, streckte sie die Hand aus und legte sie ganz vorsichtig auf seine Hand. Gegen seine Hand wirkte ihre selbst nach einem Jahr in der Siedlung noch immer schmal und zerbrechlich. Sie ließ ihre Hand ein paar Sekunden lang auf seiner ruhen und spürte die Wärme seiner Haut. Dann zog sie ihre Hand vorsichtig wieder weg. Sie wusste, dass sie nicht hier sein sollte. Aber ob es nun Absicht war oder nicht, es hatte funktioniert. Es hatte sie beruhigt, hier bei Lucas zu sitzen, und sie war jetzt bereit, schlafen zu gehen. Während sie zusah, wie sich seine Brust hob und senkte, wurde auch ihr Atem ruhiger, und sie war nicht mehr so durcheinander. Als sie vorsichtig aufstand, schlug Lucas die Augen auf. Evie wurde rot und sah ihn besorgt an. »Tut mir leid«, flüsterte sie. »Schlaf weiter.«


Aber Lucas schüttelte den Kopf und schaute ihr direkt in die Augen. »Geh nicht«, flüsterte er. »Bleib da.«


Evies Nackenhärchen stellten sich auf, und sie bekam eine Gänsehaut, als sie sich wieder setzte.


»Wie geht es Raffy?«, fragte Lucas leise.


Evie lächelte halbherzig. »Er schläft«, sagte sie. »Er ist wütend auf dich. Wütend auf alles.«


Lucas lachte gepresst. »Gut, dass er schläft. Und was er über mich denkt, ist unwichtig. Wenn das alles hier vorbei ist, kann er ja mit Benjamin zurückgehen. Und du …« Er zögerte und räusperte sich. »Ich meine, ihr könnt beide mit ihm gehen. Ihr könnt heiraten, wie geplant.«


Evie nickte bedächtig, ihre Blicke trafen sich, und sie konnte den Blick nicht abwenden. Sie entdeckte etwas in seinen Augen, das ihr Hoffnung und Angst zugleich machte, etwas, das den Anfang von etwas und das Ende von etwas anderem bedeuten konnte, etwas, das alles zum Ausbruch brachte, was sie schon seit Langem gefühlt hatte.


»Vielleicht«, sagte sie, noch bevor sie die Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten, verarbeiten konnte, und ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein.


»Vielleicht?« Lucas runzelte die Stirn und setzte sich auf.


»Vielleicht«, flüsterte Evie und biss sich auf die Lippen.


Er streckte die rechte Hand aus, fasste sie am Kinn und streichelte mit dem Daumen über ihre Wange. »Du hast es verdient, dass du endlich Frieden findest«, sagte er und sah sie so forschend an, dass sie den Blick abwenden musste.


»Nein«, meinte sie kopfschüttelnd. »Nein, Lucas. Ich habe gar nichts verdient.« Ihre Hand berührte den Verband um seinen Kopf. »Was ist passiert?«


»Linus hat mich von einem Felsvorsprung gestoßen«, erwiderte er mit einem Achselzucken.


Evie entfernte den Verband, strich mit dem Daumen über die Wunde und spürte die rauen Wundränder. »Tut das weh?«


»Nicht besonders«, sagte Lucas mit kaum vernehmlicher Stimme.


Evie nickte. Ihre Hand glitt langsam nach unten zu seinem Nacken. Sie wollte ihm beweisen, dass es neben Schmerz und Leid auch Glück und Freude gab. Er sollte wissen, dass es zumindest einen Menschen gab, der ihn so sah, wie er wirklich war.


»Du solltest wieder zu Raffy gehen«, meinte Lucas mit heiserer Stimme. »Er wartet bestimmt schon auf dich.«


»Nein«, sagte sie, und dabei wurde ihr klar, dass sie es schon lange gewusst hatte. Raffy war der Junge, mit dem sie aufgewachsen war, aber er war nicht der Mann, den sie liebte. Nicht mehr. »Du solltest zu Raffy gehen«, wiederholte Lucas atemlos, während Evie seine Arme um ihre Taille legte und sich an ihn presste. In jeder Berührung zeigte sich sein Verlangen nach ihr.


Sie schüttelte den Kopf, strich Lucas mit der Hand über das Gesicht, fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare und stöhnte, als ihre Lippen sich trafen. Ihr ganzer Körper brannte vor Sehnsucht und Verlangen und sie wurde fast überwältigt von ihren Gefühlen.


»Evie«, hörte sie Lucas flüstern. »Evie, Evie …«


Wieder und wieder sagte er ihren Namen, als er sie an sich zog und mit den Lippen ihr Gesicht und ihren Hals liebkoste. Während Evie sich an ihn klammerte und ihren Körper an seinen presste, war ihr klar, dass sie sich ihm ganz hingeben würde und dass sich alles für immer verändern würde.



41


Raffy seufzte und öffnete die Augen. Er streckte die Hand aus und tastete über das Bett neben ihm, aber da war nichts. Er runzelte die Stirn, setzte sich auf, sah sich um und versuchte die beklemmende Angst zu verdrängen, die jedes Mal in ihm hochkam, wenn Evie außer Sichtweite war. Bestimmt war sie ins Bad gegangen oder holte sich etwas zu trinken. Bestimmt war sie gleich wieder da. Aber eine Minute verging, und Evie war immer noch nicht da, und mit jeder Sekunde schnürte es ihm die Brust mehr ein vor Angst, dass sie ihn verlassen hatte, dass man sie ihm weggenommen hatte, dass er jetzt ganz allein war, dass sie bei Lucas war …


Raffy stand auf, atmete langsam ein und aus und stützte sich mit der Hand an der Höhlenwand ab. Er musste sich beruhigen, er musste sich beherrschen. Sie würde ihm das nicht antun, egal, was dieser Thomas sagte. Er irrte sich. Er kannte Evie nicht. Obwohl er mit allem anderen recht gehabt hatte. Raffy schloss die Augen, machte sie aber gleich wieder auf, als Bilder von Evie und Lucas vor ihm auftauchten, Bilder, die ihn gequält hatten, seit Evie ihm gestanden hatte, dass sie Lucas in jener Nacht geküsst hatte, als sie aus der Stadt geflohen waren. Evie und Lucas. Lucas und Evie. Schon bei dem Gedanken brach ihm der kalte Schweiß aus. Lucas, der schon alles hatte, durfte nicht auch noch sie haben. Und solange Raffy lebte, würde er sie auch nicht bekommen.


Ruhelos ging er auf und ab. Sie würde wiederkommen. Thomas irrte sich. Er musste sich irren. Trotzdem konnte Raffy dessen Worte immer noch ganz deutlich hören, und die Lösung, die er ihm angeboten hatte …


Raffy atmete tief durch, zählte bis drei und dann bis zehn. Er musste sich endlich beruhigen. Lucas war nicht gekommen, um Evie zu holen; er war gekommen, um ihnen zu helfen, wie er es immer getan hatte. Obwohl Raffy das wusste, war sein Groll gegen Lucas immer noch weiter gewachsen. Lucas, der Held. Lucas, der Retter. Lucas, der ältere Bruder, den Raffy sein Leben lang so gehasst hatte, dass dieser Hass zu einem festen Bestandteil seines Ichs geworden war. Wenn er aufhörte, seinen Bruder zu verachten, würde er aufhören zu existieren. Und genau das verstand Evie nicht. Als Raffy die Wahrheit über Lucas erfahren hatte, hatte er ihn sogar noch mehr gehasst.


Denn Lucas’ Mut und Entschlossenheit ließen Raffys eigene Versäumnisse nur noch deutlicher zutage treten. Verglichen mit Lucas würde Raffy immer der Verlierer sein, eine Enttäuschung. Eine Tages würde Evie das erkennen und ihn wegen seines großen Bruders verlassen.


Raffy schüttelte sich. Er wurde langsam paranoid. Er ließ sich von diesem Thomas verunsichern, dabei war er sowieso schon ganz durcheinander. Evie war nicht bei Lucas. Sie liebte ihn, Raffy. Wenn das alles vorbei war, würden sie mit Benjamin in die Siedlung zurückkehren, ihm beim Wiederaufbau helfen, und sie würden heiraten. Alles würde sich wieder einrenken. Alles.


Aber sie war immer noch nicht zurück. Vielleicht sollte er einfach gehen und sie suchen. Nur für alle Fälle.


Er nahm seine Taschenlampe und ging durch den Tunnel zum Computerraum. Wenn Evie nicht in der Küche war oder im Wohnzimmer, dann würde er Lucas aufwecken und ihn fragen, ob er Evie gesehen hatte. Es war nicht so, dass er Lucas’ Hilfe bräuchte, aber so bekäme er die Gelegenheit, mit Lucas zu sprechen, sich wie ein Erwachsener zu verhalten, vernünftig zu sein. Denn er wusste, dass Evie das von ihm erwartete. Er würde es ihr zuliebe tun. Er würde Lucas danken, dass er gekommen war, und ihn fragen, wie es in der Stadt gewesen war.


Raffy ging weiter und spitzte die Ohren. Auf einmal blieb er stehen; er hatte etwas gehört. Evie. Ihre Stimme klang gedämpft, dann ein leiser Aufschrei. Das war eindeutig Evie. Wutentbrannt beschleunigte er den Schritt. Wenn irgendjemand ihr wehtat, würde er ihn umbringen; mehr noch, er würde ihn in Stücke reißen und ihm solche Schmerzen zufügen, wie er sie noch nie verspürt hatte. Raffy rannte in die Richtung, aus der ihre Stimme kam, und plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, sein Mund klappte auf, und seine ganze Welt brach über ihm zusammen.


Sie war nicht in Schwierigkeiten.


Es war alles ganz anders.



42


Evie kroch zurück ins Bett, und als sie Raffy dort liegen sah, den Kopf auf dem Kissen, nichts ahnend, da fing sie an zu weinen. Und sie hasste sich nur noch mehr wegen der Tränen, denn sie hatte kein Recht zu weinen. Sie hatte kein Recht, etwas zu fühlen, denn sie hatte gerade den Jungen betrogen, den sie immer geliebt hatte und der so an ihr hing.


Sie legte sich hin, machte die Augen zu und versuchte zu schlafen. Und als der Schlaf sie schließlich übermannte, hatte sie Fieberträume. Sie wälzte sich hin und her, schwitzte, schrie und schreckte hoch. Als sie die Augen öffnete, drang durch einen Spalt schon das Tageslicht in die Höhle, und sie tastete mit der Hand hinüber zu Raffy.


Aber Raffy war weg.


Nicht weg, sagte sie sich, sondern nur nicht im Bett. Er konnte überall sein. Wahrscheinlich hing er irgendwo herum. Er wusste nichts. Er konnte nichts wissen. Vermutlich redete er mit Benjamin oder stritt sich mit Linus. Natürlich.


Evie stand schnell auf, zog sich an und eilte nach draußen. Sie versuchte, einen entspannten Eindruck zu machen und sich ihre Schuldgefühle nicht anmerken zu lassen. Aber die erste Person, die sie zu Gesicht bekam, war Lucas, und als sie seinen Blick sah, wusste sie, dass das, was zwischen ihnen vorgefallen war, kein Geheimnis bleiben konnte. Denn so, wie er sie ansah, gab sein Blick all seine Gedanken und Gefühle preis, und bei ihr war es vermutlich genauso.


Evie zwang sich zu einem Lächeln. »Hast du Raffy gesehen?«, fragte sie mit sanfter, aber zitternder Stimme. Sie bemühte sich, ganz normal zu klingen, aber sie hatte vergessen, wie sich normal anhörte, weil nichts normal war, weil nichts jemals wieder normal sein würde.


Lucas schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Ist er nicht …« Evie wusste, wie der Satz weiterging: »… bei dir?« Worte, die Lucas nicht über die Lippen brachte. Ob er wohl die ganze Nacht gelitten hatte, weil er wusste, dass sie mit Raffy in einem Bett schlief? Ob er wohl eine ebenso unruhige Nacht hinter sich hatte wie sie?


Evie schüttelte den Kopf. »Hast du ihn auch nicht hier draußen gesehen?«


Wieder schüttelte Lucas den Kopf, und Evie begann durch die Höhle zu laufen und Raffys Namen zu rufen, aber sie bekam keine Antwort. Kurz darauf rief auch Lucas nach seinem Bruder und suchte jeden Winkel der Höhle nach ihm ab. Und während sie suchten, warfen sich Evie und Lucas immer wieder besorgte Blicke zu.


»Was ist los? Ist euch Raffy abhandengekommen?« Es war Linus, der gerade aus seinem Schlafsack kroch.


»Er … er hat geschlafen. Aber jetzt …«, sagte Evie besorgt. »Ich bin sicher, er ist hier irgendwo.« In Gedanken sah sie Raffy vor sich, wie er in der Nacht aufwachte, sie suchte und sie dann mit Lucas zusammen sah … Aber sie verdrängte diesen Gedanken sofort wieder. Nein. Nein …


Linus sah Lucas an. Evie hatte ihn noch nie so ernst erlebt. »Wir können ihn nicht finden«, sagte er.


Linus machte ein langes Gesicht und wurde aschfahl. »Ob die Spitzel ihn geschnappt haben? Nein, das ist unmöglich. Hier kommt keiner rein, wenn er nicht weiß, wie.« Er lief los, um Benjamin zu wecken. »Benjamin, bist du dir ganz sicher, dass dir niemand gefolgt ist?«


Benjamin schreckte aus dem Schlaf hoch und stand langsam auf. »Mir ist niemand gefolgt«, erwiderte er rasch. »Was ist denn los?«


»Raffy ist verschwunden«, sagte Linus grimmig. »Sie müssen hier hereingekommen sein. Aber wie? Und wie konnten sie Raffy mitnehmen, ohne dass sie Evie aufgeweckt haben? Das ergibt keinen Sinn.«


»Mir ist niemand gefolgt«, erklärte Benjamin kategorisch. »Da bin ich mir sicher. Könnten sie uns nicht auf andere Weise entdeckt haben?«


Linus ging unruhig auf und ab, die Arme vor der Brust verschränkt. »Nein. Ich meine, ja, offenbar schon. Aber nein, es ist unmöglich, dass jemand einfach hier hereinkommt und Raffy mitnimmt, ohne dass wir etwas davon mitbekommen …«


»So oder so, wir müssen ihn finden«, sagte Lucas. »Ich werde ihn finden. Ich werde mich auf den Weg machen. Sie können noch nicht weit sein.«


»Du gehst nirgendwohin«, erklärte Linus mit zu Schlitzen verengten Augen.


»Doch«, erwiderte Lucas mit entschlossenem Blick. »Wir können nicht warten, bis du dir einen Plan ausgedacht hast. Raffy ist in Gefahr und ich werde ihn suchen. Ich werde meinen Bruder finden.«


»Nein, Lucas«, sagte Evie ängstlich. »Vielleicht warten sie da draußen.« Es waren nicht die Spitzel gewesen. Raffy war nicht deswegen verschwunden. Das sagte ihr ihr Bauchgefühl. Er hatte etwas gemerkt. Irgendwie hatte er es herausgefunden. Aber sie durfte nichts sagen, weil sie wusste, dass niemand ihr die Schuld geben würde; sie würden Lucas dafür verantwortlich machen.


Lucas kam zu ihr herüber und streckte die Hand aus, um sie zu berühren, doch dann schien er sich anders zu besinnen. »Wenn die Spitzel Raffy geholt hätten, hätten sie uns alle mitgenommen«, meinte er mit leicht erstickter Stimme. »Sie waren es nicht, da bin ich mir sicher.«


Und als er ihr in die Augen sah, wusste sie, warum er seinen Bruder suchen wollte. Er glaubte auch nicht, dass sie Raffy geholt hatten. Lucas wusste genauso gut wie Evie, dass sie beide für sein Verschwinden verantwortlich waren und nicht die Spitzel; dass er von sich aus weggelaufen war. Und Evie wusste auch, dass Lucas sich nie damit abfinden würde, wenn sie ihn nicht heil zurückbrachten. Keiner von ihnen würde sich damit abfinden.


»Wir werden alle gehen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Wir werden uns verteilen und suchen. Vielleicht ist er gegangen, weil … weil wir uns letzte Nacht gestritten haben. Wenn wir alle gehen, werden wir ihn finden …« Sie warf Linus und Benjamin einen flehenden Blick zu, aber die Gesichter der beiden waren wie versteinert.


»Warum sollte er gegangen sein?«, fragte Linus. »Die Spitzel sind hinter ihm her, und er weiß genau, dass er ihrem Angriff schutzlos ausgesetzt ist, sobald er die Höhle verlässt. Warum also sollte er von hier weggehen?«


Evie sah ihn herausfordernd an. Sie würde ihre Schuld annehmen und ihren Kummer ertragen, aber sie würde nicht zulassen, dass man Lucas dafür verurteilte oder ihm allein die Schuld gab. »Sie wissen, dass er nicht hier sein wollte. Er wollte wieder in die Siedlung zurück.«


»Die Siedlung existiert nicht mehr«, sagte Benjamin und ging zu ihr. »Und er würde nicht ohne dich gehen. Evie, gibt es etwas, was du uns verschwiegen hast?«


Evie sah hinüber zu Lucas, aber der schüttelte den Kopf. »Da gibt es nichts«, erklärte er bestimmt. »Raffy war doch noch da, als du dich wieder schlafen gelegt hast, oder, Evie?«


Evie nickte. Ihr wurde ganz heiß, weil alle Augen auf sie gerichtet waren.


»Dann lasst mich gehen und ihn suchen, bevor die Spitzel ihn finden. Bevor sie …«


»Ihn töten?«, sagte Linus leise. »Das würden sie nicht tun, Lucas. Wenn sie ihn tatsächlich finden, werden sie ihm kein Haar krümmen. Sie brauchen ihn. Wenn sie ihn finden, werden sie ihn in die Stadt bringen.«


»Dann werde ich hier nach ihm suchen, und wenn ich ihn nicht finde, gehen wir in die Stadt«, erklärte Lucas und rannte zum Ausgang.


»Zuerst werden wir ihn hier suchen«, verbesserte Evie ihn und lief ihm nach. Als sie Schritte hörte und sich umdrehte, sah sie, dass Linus und Benjamin hinter ihr herkamen.


»Wir suchen zehn Minuten. Nicht länger«, meinte Linus schroff. »Obwohl es wenig Sinn hat. Wenn die Spitzel ihn geschnappt haben, ist er schon weit weg, und wenn er von sich aus gegangen ist, dann hat er ein paar Stunden Vorsprung.«


»Warum suchen wir dann überhaupt?«, fragte Benjamin, während sie aus der Höhle kletterten.


»Weil Lucas und Evie sich sonst vor lauter Wut und Schuldgefühlen den Kopf zerbrechen und niemandem von Nutzen sind«, meinte Linus achselzuckend.


Evie warf ihm einen Blick zu und hielt plötzlich inne. »Was ist das?«, fragte sie. Von draußen drang ein lautes Dröhnen zu ihnen, und Lucas blieb wie angewurzelt stehen. Auf einmal gab es einen so starken Sog, dass Lucas sich an der Höhlenwand festhalten musste, damit er nicht umgeweht wurde.


»Ein Hubschrauber«, rief Linus und eilte zu Lucas.


»Ein was?«


»Ein Fluggerät«, erklärte Benjamin und griff nach Evies Hand. »Evie, komm zurück. Komm mit mir.«


Evie sah, wie Lucas und Linus gegen den Lärm des Hubschraubers anschrien, und schließlich rannten sie zu ihr und Benjamin zurück. Lucas’ Gesicht war bleich vor Zorn, und Linus wirkte so ängstlich, wie sie ihn noch nie erlebt hatte.


»Zurück«, schrie er. »Zurück in die Höhle. Schnell!«


Alle kletterten wieder ins Innere der Höhle und Linus warf einen verzweifelten Blick in die Runde. »Sie haben uns entdeckt«, sagte er und kratzte sich am Kopf, als könnte er so eine Antwort finden. »Ich weiß nicht, wie, aber sie haben uns gefunden.«


»Linus«, meinte Benjamin. »Sie wissen zwar, wo wir sind, aber nicht, wie man hier reinkommt. Du hast mir viel beigebracht über Höhlen, auch über die Struktur komplexerer Höhlensysteme. Es würde Stunden, vielleicht sogar Tage dauern, bis man herausfindet, wie man hier reinkommt. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns erst einmal beruhigen und uns dann überlegen, was wir tun sollen.«


Linus nickte und begab sich zu seinen Computern.


»Ich muss Dateien löschen«, sagte er. »Ich muss meine Arbeit schützen.«


»Deine Arbeit schützen?« Lucas starrte ihn ungläubig an. »Und was ist mit Raffy?«


»Dafür ist es jetzt zu spät«, meinte Linus, ohne aufzublicken. »Sie haben Raffy. Das weißt du genauso gut wie ich. Sonst wären sie nicht draußen vor der Höhle. Entweder haben sie ihn dort entdeckt, oder sie haben ihn unterwegs aufgelesen und herausgefunden, wo er herkam. Ich kann nicht zulassen, dass sie an diese Informationen kommen. Außerdem wissen wir, dass sie Raffy nichts tun werden, bis er getan hat, was sie von ihm verlangen. Also, lass mich meine Arbeit machen, und dann gehen wir los und holen ihn zurück, okay?«


Lucas schwieg. Evie streckte die Hand aus, aber er nahm sie nicht.


»Kann ich helfen?«, fragte Benjamin und hockte sich neben Linus.


»Weißt du, wie man eine Festplatte löscht?«


Benjamin zuckte die Achseln. »Ich kann es versuchen«, sagte er, zog sich einen Stuhl heran und machte sich an die Arbeit.


»Lucas, pack das Nötigste zusammen, nur für alle Fälle«, knurrte Linus.


Lucas sah ihn herausfordernd an und machte sich dann auf die Suche nach ein paar Taschen. Evie wollte ihm folgen, überlegte es sich dann aber anders und ging zurück zu dem Schlafplatz, den sie mit Raffy geteilt hatte. Ihre Reisetasche war noch da, aber Raffys Tasche war weg. Wenn die Spitzel ihn geschnappt hatten, dann nur deshalb, weil sie ihn denen in die Arme getrieben hatte.


Evie griff in die Reisetasche, nahm etwas heraus, steckte es in ihre Jackentasche und ging wieder in die Küche, wo Lucas Essensvorräte und Wasser einpackte.


»Hi«, sagte er, ohne sie dabei anzusehen. Dann streckte er die Hände aus und legte sie ihr auf die Schultern. »Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist, oder? Ich bin schuld. Ich hätte nicht herkommen sollen – ich hätte Linus allein gehen lassen sollen. Aber ich werde keiner Menschenseele sagen, was passiert ist. Niemals. Raffy braucht dich. Das weiß ich jetzt – er braucht dich, und ich habe versprochen, ihn zu beschützen. Und wenn das bedeutet, dass …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken und er räusperte sich. »Ihr beide könnt glücklich werden, wenn er zurückkommt. Denn wir bringen ihn zurück. Wir finden ihn. Wir …«


»Natürlich werden wir glücklich.« Evie nickte, doch sie hatte Tränen in den Augen. Sie versuchte sie wegzuwischen, aber es hatte keinen Zweck. Alles, was sie spürte, war die Uhr in ihrer Tasche, die Uhr, die sie sich so mühsam zurückgeholt hatte, die Uhr, die ihr so viel und die Raffy so wenig bedeutete. Sie nahm sie aus der Tasche und drückte sie Lucas in die Hand. Erstaunt und völlig verwirrt starrte er auf die Uhr.


»Aber das ist Raffys Uhr«, sagte er.


Evie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie und schluckte. »Er wollte sie nicht. Sie gehört dir, Lucas. Du musst sie nehmen.«


Sie hatte keine Ahnung, ob Lucas sie überhaupt verstand, aber er behielt die Uhr. Er legte sie nicht an, und dafür war Evie ihm dankbar, obwohl sie nicht recht wusste, warum.


Schließlich nahm Lucas die Tasche mit dem Proviant, und alle versammelten sich um Linus, der noch immer am Computer saß und wie wild tippte.


»Los«, drängte Lucas. »Wir müssen gehen.«


»Ich weiß nicht«, meinte Linus stirnrunzelnd. »Der Hubschrauber ist immer noch da draußen. Wenn sie Raffy haben, warum bringen sie ihn dann nicht in die Stadt?«


»Weil sie ihn gar nicht haben«, sagte Evie mit einem Hoffnungsschimmer im Blick. »Weil sie ihn immer noch suchen. Vielleicht hat er den Hubschrauber gehört und ist noch irgendwo in der Höhle. Wir müssen los und ihn suchen.«


Benjamin schüttelte den Kopf. »Hier drin sind wir sicher. Wir müssen zusammenbleiben.«


»Und was sollen wir dann tun? Warten?«, fragte Lucas ungeduldig. »Wenn Evie recht hat, dürfen wir ihn nicht da draußen lassen, wo die Spitzel nach ihm suchen.«


»Sie suchen gar nicht nach mir«, sagte plötzlich eine Stimme.


Alle drehten sich um und sahen Raffy, der mit verlegenem Blick auf sie zukam.


»Raffy!«, rief Evie und lief ihm entgegen. »Raffy, wo warst du? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«


Aber Raffy sah sie nur seltsam an, und im selben Moment bemerkte Evie, dass er nicht allein war. Aus dem Schatten trat ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Trotzdem war ihr sofort klar, dass er zu den Spitzeln gehörte.


»Sie?«, stieß Benjamin hervor. »Sie …« Er sprang auf und machte einen Satz nach vorn, aber Linus packte ihn gerade noch rechtzeitig und hielt ihn zurück. Evie sah, dass Benjamin zitterte und dass sein Gesicht aschfahl geworden war.


»Ja, ich«, erwiderte der Mann mit einem Lächeln. »Hallo, Devil. Es ist lange her, aber ich wusste, dass ich dich eines Tages kriegen würde.«


Mit einem breiten Grinsen wandte er sich an Evie. »Thomas Benning. Schön, dich kennenzulernen. Und du …« Er drehte sich zu Linus um. Linus kniff seine blauen Augen zusammen und sah sich das Gesicht des Mannes genauer an. Dann schnappte er plötzlich nach Luft und schüttelte ungläubig den Kopf. Benning. Jetzt erinnerte er sich wieder an den Namen.


Thomas lachte. »Schön, dich wiederzusehen, Linus. Es wird Zeit, dass du deinen Vertrag erfüllst, findest du nicht?«



43


»Sie kennen diesen Mann?«, sagte Evie an Linus und dann an Benjamin gewandt. Die beiden schwiegen, fassungslos und mit angstverzerrtem Gesicht. Evie hatte die beiden noch nie so verstört gesehen und sie bekam eine Gänsehaut. Sie drehte sich zu Thomas um und sah einen schlanken Mann mit kurzem silbergrauen Haar und einem unauffälligen Gesicht vor sich. Das war niemand, der aus der Menge herausstach. Gehörte er tatsächlich zu den Spitzeln? Wie konnte jemand so böse sein? Sie erinnerte sich, dass man ihnen in der Stadt erklärt hatte, alle Menschen, die noch ihre Amygdala hätten, seien böse und zu allem fähig, das Böse sei allgegenwärtig und warte nur auf eine Gelegenheit, um zutage zu treten. Aber Evie hatte nie wirklich geglaubt, dass ein Kind bereits mit bösen Gedanken auf die Welt kam und dass ein guter Mensch ganz einfach auf Knopfdruck zu einem bösen Menschen werden konnte. Aber wenn sie Thomas so ansah, wurde ihr bewusst, dass zumindest manche Menschen dazu imstande waren, wirklich schlimme Dinge zu tun. Und er gehörte dazu. Aber sein Blick verriet, dass es ihm nicht einmal etwas ausmachte.


»Sie sind immer noch hier?«, sagte Benjamin mit zitternder Stimme.


»O ja, ich bin noch hier«, meinte Thomas lächelnd.


»Woher kennst du diesen Mann?«, fragte Linus mit erstickter Stimme, die kaum wiederzuerkennen war.


Benjamin kniff die Augen zusammen. »Er ist böse, und ich hatte das Pech, dass sich unsere Wege gekreuzt haben.«


Thomas lachte. »Wie hätten sich unsere Wege je kreuzen sollen? Du wurdest ausgewählt, weil ich dich für nützlich hielt. Du warst nichts weiter als das Ergebnis eines Forschungsprojekts. Und du hast dich als nutzlos erwiesen.«


Linus sah Benjamin an. »Wann hast du ihn kennengelernt? Wann?«


»Vor Beginn der Schreckenszeit«, sagte Benjamin, ohne Thomas aus den Augen zu lassen. »Er hat sie ausgelöst. Ich sollte es für ihn tun. Ich sollte die Menschen in den Krieg führen.«


»Ausgelöst?«, spottete Thomas. »Ich habe mehr getan als das. Ich habe sie erschaffen. Jeden Schritt inszeniert.«


»Du kannst keinen globalen Krieg inszenieren«, meinte Linus erbost.


»Vielleicht nicht.« Thomas lächelte künstlich. »Aber vielleicht kannst du es. Denk dran, es zählt nur das, was nach Ansicht der Menschen passiert, nicht das, was tatsächlich passiert. Wahrnehmung ist alles. Das hast du mir beigebracht.«


Linus starrte ihn an und runzelte die Stirn.


»Warum haben Sie nichts dagegen getan?«, fuhr Evie Benjamin plötzlich an. »Wenn Sie wussten, was er vorhatte, warum haben Sie ihn dann nicht aufgehalten?«


Benjamin holte tief Luft. »Diese Frage stelle ich mir selbst jeden Tag, aber ich habe immer noch keine Antwort gefunden. Die einzige Erklärung ist, dass ich Angst davor hatte, was er tun könnte. Er konnte die Fakten verändern und Dinge ungeschehen machen. Außerdem hatte er überall Freunde, sogar bei der Polizei. Ich war damals nicht stark genug. Ich …« Er atmete tief aus. »Ich hatte meine eigenen Probleme.«


»So kann man es auch ausdrücken«, meinte Thomas achselzuckend. »Genau genommen musstest du ins Gefängnis, weil du ein gewalttätiger Schläger warst.«


Benjamin ging auf Thomas zu und blieb dicht vor ihm stehen. »Ich war im Gefängnis, weil ich mich gestellt habe, um Ihnen zu entkommen«, sagte er leise. »Weil ich erkannt habe, dass ich, wenn ich die Wahl hätte, nicht auf Ihrer Seite sein wollte. Weil ich geradestehen wollte für das, was ich getan hatte. Weil ich noch einmal von vorn anfangen wollte.«


Thomas verzog das Gesicht. »Wie du meinst, Devil«, sagte er augenzwinkernd.


»Benjamin. Mein Name ist Benjamin.«


Sofort trat er einen Schritt zurück und Lucas packte Thomas im Genick.


»Geben Sie meinen Bruder heraus«, sagte er mit düsterem, drohendem Ton. »Lassen Sie Raffy gehen oder Sie werden es bereuen.«


»Ach wirklich? Das bezweifle ich«, meinte Thomas spöttisch und zuckte die Achseln. »Du kannst deinen Bruder haben«, sagte er und warf einen Blick in Raffys Richtung, »aber nur, weil er seinen Zweck erfüllt hat. Raffy und ich hatten nämlich eine Abmachung, stimmt’s, Raffy?« Dann wandte er sich wieder an Lucas. »Er war wirklich eine überaus große Hilfe.«


Alle starrten Raffy an, der trotzig in die Runde blickte.


»Raffy?«, fragte Evie. »Raffy, wovon redet er?«


Thomas lächelte. »Er hat mich nur ein bisschen unterstützt, stimmt’s, Raffy? Er hat mir geholfen, meine alten Freunde wiederzufinden. Und jetzt sind wir hier. Offen gesagt, habe ich keine Verwendung mehr für ihn. Du kannst ihn gerne haben, Lucas. Wenn er will. Was ich allerdings stark bezweifle, aber das ist nicht mein Problem.«


Evie sah zu Raffy hinüber. Ihr Herz klopfte laut und ihr Kopf dröhnte. Erst allmählich begriff sie, was Thomas gerade gesagt hatte. »Du hast ihn hierher gebracht? Du hast ihm gesagt, wo wir sind?«, fragte sie, obwohl sie sich kaum zu sprechen traute.


Raffy sah sie finster an. »Was sollte ich denn machen? Er hat mir gesagt, dass Lucas hierherkäme. Er hat gesagt, Lucas wollte dich mir wegnehmen.«


»Nein«, keuchte Evie. »Nein, du lügst. Das kannst du nicht getan haben, Raffy. Sag mir, dass du es nicht getan hast. Sag es mir!«


Sie sah Raffy flehend an, aber der schüttelte nur den Kopf. »Ich dachte, ich könnte dir vertrauen, Evie«, sagte er mit zornigem Blick. »Ich habe mir immer wieder gesagt, dass alles nur Einbildung ist, dass ich dir glauben muss, wenn du beteuerst, dass du mich liebst. Aber du liebst mich nicht. Du liebst ihn. Ich habe euch mit eigenen Augen gesehen, Evie. Du hast mich betrogen. So wie Thomas es vorausgesagt hat.«


Raffy ballte die Fäuste und sein Blick war schmerzerfüllt. Einen Moment lang sah Evie den ängstlichen Jungen vor sich, den sie immer auf dem Spielplatz gesehen hatte, den Jungen, der sie so fasziniert hatte, der sie angestarrt hatte, als könnte er ihre Gedanken lesen, als wüsste er, wer sie wirklich war. Aber dieser Raffy hätte so etwas nie getan, er hätte diesen widerlichen Kerl nicht einmal in ihre Nähe gelassen. Sie hatte Raffy das angetan. Sie hatte ihn zu dem gemacht, was er jetzt war.


»Du hast uns gesehen?«, fragte sie mit kaum vernehmlicher Stimme.


Raffy nickte und wandte sich zu ihr. »Es ist schon okay«, meinte er. »Es ist nicht deine Schuld. Es ist Lucas’ Schuld.« Er nahm ihre Hände, streichelte sie mit den Daumen und drückte sie. »Komm mit mir. Es steht uns frei zu gehen. Wir können gehen, wohin wir wollen.« Seine Stimme klang heiser, und er sah ihr tief in die Augen, so als wäre niemand sonst mehr im Raum. »Thomas – die Spitzel –, sie wollen nicht mich, Evie. Es ging ihnen nie um mich oder um dich. Thomas wollte nur Linus finden. Und jetzt hat er ihn gefunden. Also können wir gehen. Komm mit mir. Jetzt gleich.«


Evie sah ihn wachsam an, und während sie ihn ansah, wurde ihr bewusst, was er meinte, was er mit Thomas geplant hatte, was er sich vorstellte. »Wo sollen wir denn hin, Raffy?«, sagte sie gefasst. »Zurück in die Stadt? Zurück in die Siedlung, die er zerstört hat? Wo sollen wir deiner Meinung nach hingehen?«


»Ist mir egal«, sagte Raffy.


Evie schüttelte ungläubig den Kopf. »Jetzt begreife ich, dass es dir wirklich egal ist. Aber mir ist es nicht egal, Raffy. Mir ist es nicht egal, dass du diesen Mann hierher gebracht hast. Dass du Lucas, Linus und Benjamin hintergangen hast, die Menschen, die dich immer beschützt haben, die sich selbst in Gefahr begeben haben, um dich zu retten.«


»Nein«, sagte Raffy und drückte ihre Hände fester. »Sag das nicht, Evie. Thomas hat mir von der Uhr erzählt, Evie. Er wusste, dass du sie dir von dem Bäcker zurückgeholt hast. Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich habe ihm gesagt, dass er sich irrt. Aber er hatte recht. Er wollte mir helfen. Er wollte uns helfen.«


»Woher kennst du diesen Mann, Raffy?«, fragte Linus mit ausdrucksloser Miene. »Wie lange habt ihr das schon geplant?«


»Wir sind uns in der Siedlung begegnet, stimmt’s, Raffy?« Thomas lächelte.


»Dann hast du es die ganze Zeit gewusst?«, keuchte Evie, und sie spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. »Du hast die ganze Zeit gewusst, dass du ihn zu uns führen würdest?«


»Ich habe getan, was ich tun musste, Evie«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Eines Tages wirst du verstehen, warum ich es getan habe. Ich musste dich wegbringen. Ich musste …«


»Ich werde es nie verstehen«, meinte Evie kopfschüttelnd und mit Tränen in den Augen. »Ich werde es nie verstehen und ich werde dir nie verzeihen. Nie, Raffy. Begreifst du denn nicht, was du getan hast?« Ihr Blick wanderte zu Lucas, der Raffy mit weit aufgerissenen Augen ungläubig anstarrte. Als sich ihre Blicke trafen, veränderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Seine Augen blickten sie voller Verlangen an, voller Liebe, Gefühle, die er wegen seines Bruders immer versteckt und gegen die er sich gewehrt hatte. Und er hatte sich dafür gehasst, dass er ihnen erlegen war. Aber jetzt hasste er sich nicht mehr dafür.


Raffy machte einen Schritt auf Evie zu. Er sah aus, als hätte man ihm einen Faustschlag verpasst. »Nein, Evie«, sagte er verzweifelt. Er schüttelte den Kopf, streckte die Hände aus und packte sie an den Schultern. »Nein, sag so etwas nicht …«


»Was ich gesagt habe, habe ich auch so gemeint«, erklärte Evie und löste sich aus seinem Griff, ohne ihn anzusehen. Sie konnte einfach nicht fassen, was Raffy ihretwegen getan hatte.


Und plötzlich stand Raffy nicht mehr neben ihr, sondern ging wutentbrannt auf Lucas los. »Das ist alles deine Schuld«, schrie er und stieß Lucas zu Boden. »Musstest du mir das Einzige nehmen, was ich hatte? Ich hasse dich. Ich habe dich immer gehasst …« Er stürzte sich auf seinen Bruder und trat und schlug so heftig auf ihn ein, dass Evie zu schreien anfing und zu ihm rannte. Auch nachdem es ihr und Benjamin gelungen war, Raffy von seinem Bruder wegzuziehen, hörte dieser nicht auf, um sich zu treten.


»Raffy«, sagte Benjamin streng, packte seine Arme und drehte sie ihm auf den Rücken, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. »So ist es besser. Beruhige dich, okay?«


»Lassen Sie mich los«, sagte Raffy schäumend vor Wut. »Ich will weg. Evie, sag ihm, dass er mich loslassen soll.«


Aber Evie sagte nichts. Stattdessen schüttelte sie den Kopf und ging zu Lucas. »Nein, Raffy«, flüsterte sie. »Nein.«


»Gute Arbeit«, sagte Thomas zu Benjamin. »Du siehst gut aus, mein Freund. Sehr gut.«


»Ich bin nicht Ihr Freund«, erwiderte Benjamin ruhig. »Ich bin nie Ihr Freund gewesen.«


Thomas zuckte die Schultern. »Also los, Linus. Ende der Vorstellung. Kommen wir endlich zur Sache, okay?«


Linus ging nervös auf und ab, kratzte sich am Kopf, wiegte ihn hin und her und murmelte laut vor sich hin. Dann sah er Thomas an und schüttelte wieder den Kopf. »Nein, nein, das ist nicht möglich. Nein. Nein …«


Aber Thomas lachte nur. »Linus, ich habe dir schon vor langer Zeit gesagt, dass alles möglich ist. Du hättest mir damals glauben sollen. Du solltest dankbar sein. Siehst du denn nicht, was ich für dich getan habe? Ich habe für dich die perfekte Umgebung geschaffen. Alles, was du wolltest. Ich habe dir sogar ein Auto gegeben und den Schlüssel für dich stecken lassen. Und was ist mit Ilsa, meinem G4 Benning 8? Ist sie nicht großartig? Bist du nicht beeindruckt?«


Sein irrer Blick war Furcht einflößend und Evie wich zurück. Unterdessen starrte Linus in die Luft und schüttelte wieder den Kopf. »Aber … wie? Nein, nein, ich … Das kann nicht sein.« Sein Gesicht war kreidebleich, und sein Blick schweifte umher, als ob er ganz woanders wäre.


Thomas verdrehte ungeduldig die Augen. »Linus. Das wird allmählich langweilig. Kommen wir endlich zur Sache, okay? Ich brauche dich, um dein System neu zu starten und es wieder in Gang zu setzten. Das ist alles. Tu es, und alles ist gut. Tu es, und wir können alle den Rest des Tages genießen.«


Plötzlich veränderte sich Linus’ Gesichtsausdruck. Er wurde ganz ruhig und sah Thomas in die Augen. »Ich … es geht nicht«, sagte er leise. »Ich habe den Code geändert. Das System kann nicht neu gestartet werden. Es ist tot.«


»Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest«, meinte Thomas achselzuckend. »Dann gehen wir jetzt zu Plan B über. Eigentlich meine bevorzugte Variante, wenn auch etwas riskant.«


»Und wie sieht dieser Plan aus?«, fragte Linus.


»Du kommst mit mir«, sagte Thomas lächelnd, »und baust mir ein neues. Denn ich kriege das System so oder so. Das bist du mir schuldig, Linus. Und jetzt bin ich hier, um mir zu holen, was du mir schuldest.«



44


Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen. Dann ergriff Benjamin das Wort. »Linus geht nirgendwohin«, sagte er mit drohender Stimme und machte ein paar Schritte auf Thomas zu. Er überragte ihn um Haupteslänge.


»Doch, ich werde gehen«, erklärte Linus. Benjamin, der immer noch Raffy festhielt, drehte sich zu ihm um.


»Nein«, sagte er.


»Doch.« Linus streckte die Hand aus, berührte Benjamins Arm und drückte ihn. Dann begegnete er Evies Blick und einen Moment lang hielt er ihm stand. Dann schaute er weg. »Ich muss gehen«, sagte er. »Verstehst du das denn nicht? Wegen mir hat das alles angefangen. Ich muss mit Thomas gehen.«


»Einfach so?«, fragte Evie mit brüchiger Stimme. »Nach allem, was er getan hat?«


Sie spürte, dass Lucas hinter ihr stand. Sie fasste nach hinten, und sofort nahm Lucas ihre Hand, hielt sie fest und drückte sie. Am liebsten hätte sie sich an ihn gelehnt, sich von ihm umarmen lassen und so getan, als ob nichts anderes mehr wichtig wäre, nur sie beide, eng aneinandergeschmiegt. Aber sie tat es nicht. Das andere war eben doch wichtig, ziemlich wichtig sogar. Sie und Lucas würden später Zeit füreinander haben. Später …


Linus ging immer noch auf und ab, machte einen verwirrten Eindruck und ließ den Blick umherschweifen, offenbar unfähig, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. »Aber ich verstehe jetzt, dass Thomas und ich noch etwas zu erledigen haben. Darum ging es die ganze Zeit. Von Anfang an. Ich hätte es erkennen müssen. Ich habe auf alles geachtet, nur nicht auf das, was wichtig war … Auf mich selbst. Ich hätte … Und wir haben es abgeschaltet. Wir …« Er starrte Thomas an. »Wie hast du das gemacht? Wie hast du der Welt weisgemacht, dass England nicht mehrt existiert?«


Thomas lächelte. »So viel radioaktiver Abfall«, meinte er mit einem Achselzucken. »Eine Schande. Bis zur Schreckenszeit war es ein großartiges Land.«


»Und die hat es sonst nirgends gegeben?«, fragte Linus.


»Wovon redest du?«, warf Benjamin ein. »Was hat es sonst nirgends gegeben?«


»Die Schreckenszeit«, hauchte Linus.


Benjamin machte einen völlig verstörten Eindruck. »Ich weiß nicht, was du meinst. Die Schreckenszeit war weltweit. In ganz Europe, überall, haben sich die Menschen gegenseitig umgebracht. Sie haben Bomben geworfen. Die Japaner haben halb China ausgelöscht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«


»Du hast das gesehen, was du sehen solltest, so wie alle«, sagte Linus und drehte sich zu Thomas um. »Eine totale Nachrichtensperre, nicht?«


Thomas’ Gesicht hellte sich auf. »Es war einfach genial. Und ich durfte keiner Menschenseele etwas davon erzählen. Kannst du dir das vorstellen? Die ganze Arbeit! Und keiner hatte eine Ahnung.«


»Moment«, sagte Benjamin mit tiefer, nachhallender Stimme. »Noch mal ganz langsam zum Mitschreiben. Linus, wovon redet er eigentlich? Was geht hier vor?«


Linus schüttelte den Kopf, als wollte er nicht antworten. Und Thomas lächelte. »Linus fängt gerade an zu begreifen, was ich geplant habe. Einen globalen Krieg, den es gar nicht gab. Ein Land, von dem die restliche Welt annahm, es sei durch Nuklearwaffen zerstört worden. Ein Land, das von sich glaubte, es würde die einzigen Überlebenden beherbergen. Das ist wirklich ziemlich brillant, wenn man so darüber nachdenkt.«


»Und wozu das alles? Wozu hast du so viele Menschenleben zerstört, Thomas?«, fragte Linus.


Thomas sah ihn verdutzt an. »Für das System natürlich«, sagte er. »Damit du das System aufbaust. Um es ganz groß herauszubringen. Ich war schon so dicht dran, Linus, wirklich. Und dann hast du den Stecker gezogen. Sehr ungünstig.«


Linus sah ihn ungläubig an. »Dann hast du die ganze Zeit dein Spielchen gespielt und keiner hat es gemerkt? Dein Geheimnis wurde nie gelüftet? Das ist beeindruckend.«


»Information ist alles«, meinte Thomas achselzuckend. »Es ist wirklich ganz einfach. Wenn du Informationen über die Menschen hast, gehören sie dir. Und mir gehören eine Menge Menschen. Du eingeschlossen. Aber vielleicht sollten wir jetzt wieder in die reale Welt zurückkehren, damit du tun kannst, was du schon vor langer Zeit hättest tun sollen.«


»Du willst mich von dieser Insel wegbringen?«


Thomas lachte. »Hast du es nicht kapiert? Diese Insel existiert nicht mehr, jedenfalls nicht für die anderen. Warte nur ab, Linus. Was du zu sehen bekommst, wird dich umhauen.«


Linus holte tief Luft. »Weißt du, Thomas, ich muss das erst mal verdauen, was du uns da erzählt hast.«


»Verstehe«, sagte Thomas mit glänzenden Augen. »Das Tragische ist nur, dass es außer euch niemand erfahren wird. Und wie es aussieht, werdet ihr es keinem erzählen dürfen. Und niemanden sehen dürfen.«


»Sieht so aus«, meinte Linus. »Aber wie wär’s, wenn wir uns ein bisschen ausruhen, bevor wir gehen? Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«


Thomas hob eine Augenbraue. »Davon halte ich nichts, Linus. Es ist Zeit zu gehen.«


Linus schüttelte den Kopf. »Thomas«, sagte er, »was du mir da gerade erzählt hast … Was ich glaube, verstanden zu haben … Was du mich gefragt hast … Mir geht so viel im Kopf herum. Ich glaube, wir brauchen alle eine Pause. Außerdem muss ich mich noch von meinen Freunden verabschieden. Also, trinken wir Tee. Nur eine Tasse, ja?«


Thomas starrte ihn ungläubig an. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«


Linus schüttelte den Kopf. »Du hältst uns hier in Schach. Wir können nirgendwohin. Und ich bin bereit, mit dir zu kommen. Also lass mich erst noch einen Tee trinken. Du hast so lange gewartet, da kommt es jetzt auf ein paar Minuten auch nicht mehr an, oder? Lass uns wie zivilisierte Menschen miteinander umgehen, Thomas.«


Thomas sah Linus prüfend an, als suchte er in dessen Gesicht nach einem Hinweis, nach einem Anhaltspunkt. Dann gab er offenbar auf und zuckte die Achseln. »Okay«, sagte er. »Aber du hast recht, dass ihr nirgendwohin könnt. Denk dran, da draußen steht ein Hubschrauber, eine Armee von Männern wartet nur darauf, dass ich den Befehl gebe, hier reinzumarschieren und …« Er lächelte. »Nun, ich muss wohl nicht ins Detail gehen.«


»Nein«, erwiderte Linus. »Evie, willst du mir zur Hand gehen?«


Evie nickte zögernd und folgte Linus in die Küche. Thomas beobachtete die beiden mit Argusaugen, während sie das Teewasser aufsetzten, Tassen zusammensuchten und sie spülten, Teebeutel in die Teekanne hängten und das kochende Wasser darübergossen.


»Tief durchatmen«, flüsterte Linus Evie zu, als er merkte, wie aufgewühlt sie war. »Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.«


Doch Evie machte sich Sorgen, weil nichts gut werden würde – es würde nie wieder alles gut werden. Trotzdem rang sie sich ein Lächeln ab und versuchte, sich ganz normal zu verhalten, nicht so, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen.


»Zucker?«, rief Linus.


»Für mich nicht«, sagte Thomas.


»Wollen wir uns nicht setzen?« Linus führte alle zu einem Platz hinter seinem Computer, wo Kissen auf dem Boden verteilt waren. »Es ist nicht gerade komfortabel«, meinte er, »aber wir können wenigstens versuchen, es uns ein bisschen bequem zu machen.«


Sie setzten sich hin, Evie neben Lucas, dann Benjamin und neben ihn Linus.


Ihnen gegenüber, ein paar Meter von Evie und Linus entfernt, saß Thomas. Raffy wurde immer noch von Benjamin festgehalten.


»Setz dich«, befahl Benjamin, und bei seiner dröhnenden Stimme fuhr Evie zusammen. Raffy setzte sich hinter Thomas, das Gesicht von der Gruppe abgewandt. Ab und zu wanderte sein Blick zu Evie, die sich alle Mühe gab, ihn nicht zu beachten.


»Also«, sagte Linus, an Thomas gewandt. Seine blauen Augen waren jetzt wieder ganz klar, und sein Gesicht wirkte entspannt. »Dann erzähl mal.«


»Erzählen? Was?«, fragte Thomas. Er blickte auf seinen Tee. »Komm, tauschen wir die Tassen«, befahl er Linus.


Linus zuckte die Achseln und tauschte die Tassen aus. »Ich will dich nicht vergiften. Ich bin doch nicht blöd.«


»Ich auch nicht«, entgegnete Thomas lächelnd. »Also, was willst du wissen?«


»Alles«, sagte Lucas und sah ihn forschend an. »Von dem Moment an, als ich Infotec verlassen habe, bis jetzt.«


»Infotec?«, fragte Benjamin.


»Die Firma, für die wir gearbeitet haben. Nun, ich sage arbeiten. Ich habe dort nur ein paar Wochen ein berufsbegleitendes Praktikum gemacht«, erklärte Linus.


»I für Infotec?« Benjamin sah Thomas an. »Ihr Ring. Der, den der Polizist anhatte? Der Anstecker, den Sie mir gegeben haben?«


Thomas machte einen selbstzufriedenen Eindruck. »Das war meine Idee«, sagte er und nickte.


»Du warst ziemlich fleißig«, bemerkte Linus. »Du hast eine Menge getan.«


»Hab ich«, stimmte Thomas zu. »Ja, das habe ich wirklich. Aber ich hab es für dich getan. Für uns. Für das System. Das, was du wolltest. Was du nie für möglich gehalten hättest. Ich hab es getan, Linus. Alles.« Seine Augen funkelten. Der Blick eines Wahnsinnigen, dachte Evie und rutschte auf ihrem Kissen ein Stück zurück. Doch als sich Lucas’ Arm um ihre Taille legte, fühlte sie sich gleich sicherer.


»Also, erzähl uns alles«, sagte Linus ruhig. »Ich wette, es juckt dich schon in den Fingern, es endlich loszuwerden. Erzähl uns, was du getan hast.«


Thomas überlegte eine Weile und auf einmal strahlte er übers ganze Gesicht. »Aber du weißt ja, Linus, dass ich nur getan habe, was du gesagt hast.«


»Was ich gesagt habe?«, fragte Linus mit leiser Stimme.


»Natürlich!« Thomas grinste. »Du hast gesagt, du bräuchtest eine kleine Gemeinschaft, die ein System wollte, das sie kontrollierte. Abgeschnitten vom Rest der Welt. Ich habe überlegt, ein paar Leute Schiffbruch erleiden zu lassen, aber das hätte nicht funktioniert; ich habe versucht, ob sie auf einen falschen Linus hereinfallen würden, aber es hat nicht geklappt. Und außerdem wollte ich nicht nur die perfekte Umgebung für den Aufbau deines Systems schaffen; der Rest der Welt sollte schließlich auch etwas davon haben. Die Schreckenszeit war die perfekte Lösung. Es gab eine kleine Gruppe Überlebender, die perfekte kleine Gemeinde für dich. Außerdem hat die Schreckenszeit überall Angst verbreitet. Und wenn die Menschen Angst haben, vergessen sie die Freiheit und wollen stattdessen lieber Kontrolle und Armeen, die sie beschützen. Die Welt ist jetzt bereit für dein System, Linus. Die Welt ist bereit, sich in unvorstellbarem Ausmaß kontrollieren zu lassen. Und rate mal, wer derjenige sein wird, der alles kontrolliert? Was meinst du, wer alles kontrolliert hat, seit du von Infotec weggegangen bist?«


Er trank einen Schluck Tee und schaute in die Runde. »Es war so einfach«, sagte er. »Unheimlich einfach.«


»Was war einfach?«, fragte Lucas steif.


»Die Schreckenszeit«, erwiderte Thomas. »Ich musste nur ein paar Streichhölzer anzünden und kurz darauf gab es einen Flächenbrand.«


»Meinen Sie damit meine Siedlung, die in die Luft gejagt werden sollte?«, fragte Benjamin mit erstickter Stimme. »Das Töten unschuldiger Menschen?«


Thomas zuckte die Achseln. »Das war ein Tiefschlag. Vergeudete Mühe. Aber das spielte keine Rolle bei dem großartigen Plan. Du warst nur einer von vielen, Devil. Du weißt, wie leicht es ist, eine Armee aufzustellen, wenn man weiß, was die Menschen wollen und wie sie sind, und wenn man ihre Verunsicherung, ihre Hoffnungen und ihre Ängste kennt. Die Menschen sind so leicht zu manipulieren, wenn man alles über sie weiß. Wirklich erbärmlich.« Er warf einen Blick auf Linus. »Darum geht es doch, nicht wahr? Lerne die Menschen kennen, und du kannst mit ihnen machen, was du willst. Du kannst sogar die ganze Welt kontrollieren!«


Linus lächelte ihn aufmunternd an. »Du hast also die Schreckenszeit in Gang gesetzt. Und was dann?«


Thomas verengte die Augen zu Schlitzen. »Ich erzähle dir doch nicht alles, Linus. Ich gebe nicht all meine Geheimnisse preis.«


»Okay«, meinte Linus achselzuckend. »Na gut. Aber was ist mit der Stadt? Da hast du doch bestimmt auch dahintergesteckt, oder?«


Jetzt erschien auf Thomas’ Gesicht ein breites Lächeln. »Oh, die Stadt«, sagte er mit glänzenden Augen. »Das war schon spitze. Ich wollte dich eigentlich direkt ansprechen, aber ich war zu nervös, weil ich Angst hatte, du würdest die Sache vielleicht anders sehen als ich oder du würdest deine Meinung ändern. Deshalb habe ich beobachtet und abgewartet. Ich habe dafür gesorgt, dass es dir gut geht, dass man sich um dich kümmert und dass du alles hattest, was du brauchtest. Ich habe dich die ganze Zeit im Auge behalten, Linus, und ich habe auf dich aufgepasst. Und dann, kurz nach dem Ende der Schreckenszeit, bin ich zufällig über Fisher gestolpert. Ich habe gesehen, wie du dich mit ihm getroffen hast. Ich habe schnell herausgefunden, was er dir vorgeschlagen hat und was für Pläne ihr beide hattet. Und ich habe die Stadt aufgebaut, Linus!«


Er hatte einen ganz kindlichen Gesichtsausdruck, und Evie erkannte plötzlich, warum. Er wartete auf Linus’ Zustimmung, darauf, dass der sagte: »Gut gemacht.«


»Aber du hast die Stadt nicht aufgebaut«, sagte Linus vorsichtig. »Das waren wir.«


»Ach, ihr habt die körperliche Arbeit geleistet«, meinte Thomas achselzuckend. »Aber ich habe im Hintergrund agiert. Ich habe es allen gesagt und habe dafür gesorgt, dass es überzeugend klang und dass Fisher sich angehört hat wie ein Guru und nicht wie ein Spinner. Ich habe sichergestellt, dass die Stadt Wasser und Nahrungsmittel hatte, eben alles, was sie brauchte. Ich habe für Generatoren gesorgt. Hast du dir je über die Ressourcen der Stadt Gedanken gemacht?«


Linus schüttelte den Kopf.


»Nein!«, sagte Thomas triumphierend. »Weil du, wie ich mir schon gedacht hatte, viel zu sehr mit dem Aufbau deines Systems beschäftigt warst. Ich habe die perfekte Umgebung geschaffen, Linus. Ich habe das Unmögliche möglich gemacht.«


»Und dann haben wir das System abgeschaltet. Und du hast Panik bekommen. Du hast deine Männer in die Stadt geschickt, damit sie es neu starten. Aber sie wurden entdeckt, stimmt’s? Von den jungen Leuten. Deshalb habt ihr sie alle umgebracht«, sagte Linus mit sehr ernster Stimme.


Thomas sah ihn erstaunt an. »Natürlich!«, meinte er aufgeregt. »Wir mussten es doch wieder in Gang bringen. Und dabei durften wir nicht gestört werden. Wir konnten niemanden gebrauchen, der Fragen stellt. Als das System noch in Betrieb war, hat niemand Fragen gestellt; niemand ist irgendwohin gegangen, wo er nicht hingehen sollte. Darum mussten wir sie loswerden.« Er lächelte in sich hinein. »Natürlich war der Bruder dafür. Er dachte, er könnte die Verschwundenen dazu benutzen, Angst zu schüren und Lucas zu stürzen. Vor allem das letzte Mädchen, mit dem du geflohen bist.« Er sah Lucas triumphierend an. »Der Bruder hat ihr Verschwinden als Beweis dafür benutzt, dass du ein Mörder bist.«


Lucas wurde rot vor Zorn.


»Es spielt so oder so keine Rolle«, meinte Thomas achselzuckend. »Du hast mich auf Umwegen zu Linus geführt, und das war alles, worum es mir gegangen ist. Wenn du willst, bist du wirklich schwer zu fassen, Linus.«


»Das ist immer so«, sagte Linus, und ein leises Lächeln spielte um seine Lippen.


Mit leuchtenden Augen wandte sich Thomas zu ihm. »Da haben wir es! Ich bin ein Genie, das musst du zugeben.«


Linus nickte bedächtig. »Ein richtiges Genie.«


»So«, meinte Thomas und klatschte in die Hände. »Es ist zwar schön und gut, auf diese Weise an Informationen zu kommen, aber jetzt müssen wir wirklich gehen.«


»Und wo gehen wir hin?«, fragte Linus. »In dein Lager an der Küste?«


Thomas zog eine Augenbraue hoch. »Oh nein, während wir hier miteinander reden, wird es gerade aufgelöst.«


»Und wird dieser Landstrich jetzt wieder auf der Karte erscheinen?«


Thomas lachte. »Ich dachte mir, dass dir das gefallen würde. Aber du hast wirklich keine Ahnung, Linus. Mach dich auf was gefasst. Du wirst staunen, was ich dir zeigen werde. Richtig staunen.«


»Da wett’ ich drauf«, sagte Linus leise.


»Du gehst doch nicht wirklich, oder?«, wandte sich Benjamin an ihn. »Wir können diesen Kerl überwältigen. Wir können kämpfen.«


»Nein, das können wir nicht«, erklärte Linus rundheraus. »Nicht mehr. Er hat die Siedlung zerstört. Er wird auch die Stadt zerstören. Er wird alles zerstören.« Er sah Thomas an. »Aber wenn ich mit dir komme, lässt du die anderen frei. Du lässt sie in Ruhe. Verstanden?«


Thomas sah ihn eine Weile an und zuckte dann die Schultern. »Wie du willst.«


»Außerdem brauche ich meine Computer«, sagte Linus und sah sich um. »Ich brauche sie alle.«


Thomas lächelte. »Natürlich. Meine Männer werden sie holen.«


Linus nickte, erhob sich und ging zu seinem Computer. »Ich mache nur alles fertig«, sagte er und begann, die Geräte abzustöpseln und die Laptops zusammenzuklappen. Dabei bemerkte Evie, dass er an einem Computer seitlich etwas herausnahm. Dann schaute er zu ihr herüber, und während er um den Schreibtisch herumging, um ein weiteres Gerät abzuschalten, ließ er direkt neben Lucas’ Hand etwas auf den Tisch fallen. Blitzschnell legte Thomas seine Hand darüber, nahm es und steckte es in seine Hosentasche, ohne dass Thomas etwas davon mitbekam.


Thomas wandte sich an Benjamin. »Wünschst du dir manchmal, du würdest noch für mich arbeiten, Devil?«, fragte er, und seine Augen leuchteten.


Benjamin gab keine Antwort und blickte stur geradeaus.


»Nein«, meinte Thomas nachdenklich. »Nun, wahrscheinlich können wir nicht alle Visionäre sein.« Er stand auf. »Okay, ich bin so weit«, sagte er mit einem Blick auf Linus. »Gehen wir.«


Linus richtete sich auf. »Okay«, sagte er. »Ich will mich nur noch von meinen Freunden verabschieden.«


Thomas verzog das Gesicht. »Weißt du was?«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass wir sie hier lassen können. Ich hasse es, wenn etwas unerledigt bleibt. Wir steigen alle in den Hubschrauber, und deine Freunde werden … Nun, wir werden uns etwas einfallen lassen. Etwas Schmerzloses.«


»Sie haben gesagt, ich dürfte mit Evie weggehen«, meinte Raffy und starrte Thomas wütend an.


Thomas zuckte die Achseln. »Ich habe gelogen.«


Linus’ Gesicht war wie versteinert. »Du willst mich, also musst du die anderen freilassen. So lautet die Abmachung.«


»Wie wär’s damit: Du arbeitest mit mir zusammen oder ich werde sie alle töten. Ich finde, das ist ein besserer Deal«, meinte Thomas aalglatt. Benjamin packte Raffy fester am Genick, um zu verhindern, dass der sich auf Thomas stürzte.


Linus sah Thomas eine Weile an. »Sieht so aus, als hättest du mich drangekriegt«, meinte er schließlich.


»Ja.« Thomas lächelte. »Ja, das habe ich. Also, können wir gehen?«


Linus nickte schwerfällig und ging los. Als er an Lucas vorbeiging, flüsterte er ihm etwas zu. Keiner bemerkte etwas, außer Evie, die direkt hinter ihm war.


Lucas streckte die Hand nach hinten aus und sie ergriff sie. Als er sie zu sich hinzog, flüsterte er ihr ins Ohr: »Bei der Gabelung links halten, nicht rechts.« Obwohl sie nicht genau wusste, was er meinte, nickte sie ernst und tat so, als würde sie stolpern, damit Benjamin ihr aufhelfen und sie die Botschaft an ihn weitergeben konnte.


Linus ging voraus, dann folgten Lucas, Evie, Benjamin und Thomas; Raffy bildete das Schlusslicht. Als sie zum Ausgang der Höhle kamen, wandte sich Linus nach rechts. Lucas nahm die linke Abzweigung und verschwand sofort. Evie folgte ihm, doch noch bevor sie einen Schritt machen konnte, wurde sie von einer Hand gepackt. »Nein. Nein!« Es war Raffy. Er hatte einen Satz nach vorn gemacht und sie gepackt. Evie stieß ihn weg und schrie, er solle sie loslassen, aber es war zu spät. Thomas stand neben ihr, das Gesicht weiß vor Wut.


»Kommt her«, rief er seinen Männern zu, die jetzt am Eingang der Höhle auftauchten. »Kommt her und bringt die Gefangenen zum Hubschrauber.«


»Nein!«, schrie Evie, als mehrere bewaffnete Männer herunterstiegen und sie aus der Höhle zerrten. »Wo ist Lucas? Wo ist er?«


»Er ist in Sicherheit«, rief Linus ihr zu. Der Lärm des Hubschraubers übertönte ihn fast. Er streckte die Hand nach Evie aus, während man ihn in die seltsame, unheimliche Flugmaschine verfrachtete, in die auch Evie gezerrt wurde. »Tut mir leid. Tut mir leid, Evie …«



Nachwort


Lucas holte tief Luft und musterte die Frau, die ihm gegenübersaß. Amy Jenkins. Sie war die Erste, die ihn nach seiner Rückkehr in die Stadt interviewen durfte. Obwohl er sehr angeschlagen war, war ihm bewusst, dass er mit Clara an seiner Seite den Eindruck von Stärke und Siegesfreude vermitteln musste. Martha hatte ihn eigentlich noch ein paar Tage in Base Camp behalten wollen, um ihn gesund zu pflegen, aber er hatte abgelehnt. Nachdem er den ganzen Weg von Linus’ Höhle dorthin gerannt war, hatte er nur kurz etwas gegessen, bevor er mit Clara zur Stadt aufgebrochen war.


Es war eine triumphale Rückkehr. Nach einem kurzen Aufenthalt im Gefängnis wegen Mordverdacht hatte Claras Zeugenaussage zu seiner Freilassung geführt. Aufgrund von Linus’ Aufnahme, die alles wiedergab, was Thomas über die Stadt und über den Bruder gesagt hatte, wurde Letzterer verhaftet. Als der Inhalt des USB-Sticks, den Linus Lucas heimlich zugespielt hatte, den Menschen im Versammlungshaus vorgespielt wurde, reagierten sie mit bestürztem Schweigen, und alle, die früher an Lucas gezweifelt hatten, schluchzten vor Bedauern.


Natürlich bekamen sie nur einen Teil der Aufnahme zu sehen, nämlich den Teil, den Angel für Lucas bearbeitet hatte. Lucas wollte den Bewohnern der Stadt nicht jede Hoffnung nehmen und ihnen nicht solche Angst einjagen, wie er erdulden musste.


Amy lächelte ihn an, und Lucas hatte das Gefühl, als wäre sein letztes Interview mit ihr schon eine Ewigkeit her.


Jetzt war alles ganz anders.


Auf den Straßen der Stadt streiften keine Suchtrupps mehr umher; stattdessen sammelten sich die Menschen vor seinem Büro und forderten den Tod des Bruders. Jetzt blickte er nur noch in demütige, bescheidene Gesichter, und Männer und Frauen baten darum, ihm die Hand schütteln zu dürfen. Jetzt fingen die Menschen endlich an, ihre Freiheit anzunehmen, sich aus den Fängen des Bruders zu befreien und seine Lehren aus ihren Köpfen und aus ihren Herzen zu verbannen.


Und Lucas versuchte, sich für sie zu freuen und Befriedigung darüber zu empfinden, dass er endlich sein Ziel erreicht hatte. Aber stattdessen musste er gegen einen undurchdringlichen Nebelschleier von Nihilismus ankämpfen. Denn die Stadt war nicht wie Phönix aus der Asche entstanden, sondern am Computer. Sie war kein Leitstern des Überlebens, sondern das Werk eines Verrückten, ein Spiel, ein Projekt.


Und Evie befand sich in der Gewalt dieses Irren, meilenweit entfernt von Lucas.


»Keiner von uns hat Ihnen geglaubt«, sagte Amy. »Und jetzt erkennen wir, wie falsch es war, Ihnen zu misstrauen.«


Lucas nickte und versuchte, sich zu konzentrieren und alles andere zu verdrängen, zumindest für den Moment.


»Sie dürfen nicht vergessen«, sagte er und berührte mit der rechten Hand wie zufällig sein linkes Handgelenk, »dass das System uns zu Sklaven gemacht hat. Die Urteile, die es gefällt hat, waren willkürlich und wurden vom Bruder kontrolliert, um den Menschen Angst zu machen, um sie zu entzweien, um seine Freunde zu belohnen und seine Feinde zu bestrafen. Das System war genauso korrupt wie der Bruder. Er ist verantwortlich für das, was passiert ist. Er hat die Bewohner der Stadt manipuliert, damit sie ihm glauben und nicht mir. Niemand sollte sich selbst dafür die Schuld geben. Wir müssen nach vorn schauen, nicht zurück. Ich will, dass wir wieder anfangen zu leben.«


Doch er war sich nicht sicher, ob es ihm gelingen würde, bei diesen Worten keine Miene zu verziehen. Er hatte keine Ahnung vom Leben. Nicht mehr, seit Thomas Evie mitgenommen hatte, seit er beim Höhlenausgang nach links gegangen und einen Tunnel hinuntergesaust war, unfähig, sich umzudrehen oder auf Evies Rufe zu antworten. Er hatte versucht, wieder hochzuklettern, hatte gerufen, geschrien, sich die Hände aufgeschürft, hatte versucht, zu ihr und zu seinen Freunden zu gelangen, aber es war sinnlos gewesen. Er hatte mitansehen müssen, wie sie weggebracht wurde und wie der Hubschrauber mit ihr, Linus, Raffy und Benjamin davonflog, in eine Welt, die angeblich nicht mehr existierte, in eine Welt, die Lucas immer noch nicht begreifen konnte, auch wenn er es noch so sehr versuchte.


Hatte Linus gewusst, dass er es als Einziger schaffen würde zu entkommen? Er hatte keine Ahnung, aber er hatte so seine Vermutungen. Vermutungen, die ihm nachts den Schlaf raubten, weil ihm alle möglichen Gedanken und Fragen durch den Kopf gingen. Hatte Linus ihm deshalb den USB-Stick mit Thomas’ Geständnis gegeben, in dem er ihnen alles offengelegt hatte: seine Beteiligung an dem Verschwinden der jungen Leute, an der Schreckenszeit, an dem Verrat des Bruders? Hatte Linus deshalb dafür gesorgt, dass Lucas direkt hinter ihm ging? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er innerlich ganz leer war und dass das so bleiben würde, bis er Evie wiedersehen würde.


»Was wäre Ihrer Meinung nach die passende Strafe für den Bruder?«, fragte Amy mit zusammengekniffenen Augen. »Die Leute fordern seinen Kopf. Immerhin hat er die brutale Ermordung der Verschwundenen mitgetragen.«


Lucas schloss für einen Moment die Augen. Dann öffnete er sie wieder, stand auf und ging zu dem großen breiten Fenster. Er hatte nach seiner Rückkehr über ein neues Büro, ein neues Gebäude, einen Neuanfang nachgedacht. Aber dann hatte er sich doch mit einem neuen Fenster begnügt. Einem großen Fenster, durch das er den Himmel sehen konnte.


»Ich denke, wir werden eine angemessene Strafe finden«, sagte er leise. »Ich habe vor, eine Jury aus Männern und Frauen dieser Stadt einzuberufen, um zu entscheiden, ob er in der Stadt inhaftiert oder ob er verbannt werden soll. Die Menschen sollen entscheiden. Schließlich waren sie es, die er betrogen hat.«


»Und was für Pläne haben Sie sonst noch für die Stadt auf Lager?«, fragte Amy weiter.


Lucas dachte einen Moment lang nach und drehte sich dann zu ihr um. Sie hatte keine Ahnung, dass das alles nur Schein war, genauso wenig wie auch die anderen Menschen in diesem Land eine Ahnung hatten, dass sie betrogen und benutzt wurden und dass ihr Leben zerstört wurde. Und das alles wegen eines Computersystems.


»Frieden«, sagte Lucas schließlich. Denn sie brauchten es nicht zu wissen. Jedenfalls noch nicht. Immerhin hatten sie schon genug gelitten. »Frieden und Wohlstand für die Bewohner der Stadt. Harte Arbeit. Stabile Verhältnisse. Humor. Spaß. Liebe. Die Menschen sollen sich an den kleinen und großen Dingen freuen, frei ihre Meinung sagen und miteinander und mit mir diskutieren können; sie sollen wieder Spaß haben am Leben. Die Mauer um uns herum soll niedriger werden. Ich möchte mit den anderen Gemeinden zusammenarbeiten. Und ich möchte, dass wir keine Angst mehr haben müssen.«


Amy schrieb wie wild mit, sah dann Lucas an und neigte den Kopf zur Seite. »Und Sie? Glauben Sie, dass auch Sie Frieden finden werden? Nach allem, was passiert ist?«


Lucas schaute sie an, aber dann wanderte sein Blick zu seinem Schreibtisch hinter ihr. Auf seinem Computerbildschirm leuchtete eine Nachricht für ihn auf, eine Nachricht, die nur von einem Menschen stammen konnte, eine Nachricht, die ihn an die Zeit erinnerte, als er mit Linus kommunizierte, ohne zu wissen, wer das war oder wo er lebte. Er wusste nur, dass sein Vater Linus vertraute und dass auch er ihm vertrauen musste. Jetzt benutzten sie wieder dasselbe Kommunikationsmittel, doch diesmal ohne Worte. Es war nur ein Signal, um Lucas Bescheid zu geben, dass sie am Leben waren und dass alles in Ordnung war. Nach fünf Sekunden verschwand es wieder und wurde durch seinen Bildschirmschoner ersetzt, ein Bild von Clara an ihrem sechzehnten Geburtstag vor zwei Wochen, mit den strahlenden Gesichtern ihrer Eltern, die sich über die Rückkehr ihrer geliebten Tochter freuten. Das Bild erinnerte ihn daran, dass sein Kampf sich gelohnt hatte, zumindest für Claras Familie. Die Menschen kamen zurück, und auch Evie würde zurückkommen. Er würde sie wiederfinden, irgendwann …


Lucas holte tief Luft und zwang sich zu einem Lächeln.


»Das hoffe ich«, sagte er. »Denn die Hoffnung stirbt zuletzt.«



Ende des zweiten Bandes



Dank Mein Dank gilt wie immer meiner Lektorin Kate Howard und allen Mitarbeitern bei Hodder, die sich so große Mühe gegeben haben, diese Reihe lebendiger zu machen; vor allem Eleni Lawrence und Justine Taylor.


Dank auch an Dorie Simmonds, meine wunderbare Agentin. Und vielen Dank an Alan Greenspan, dessen Gedanken und Ideen Anlass für eine Neufassung dieses Buches waren, zum Besseren, wie ich hoffe …!


Und schließlich danke ich all denen, die sich die Zeit genommen haben, mit mir Kontakt aufzunehmen und mich anzuspornen. Ohne euch hätte ich es nicht geschafft!



Table of Contents


Vorwort


1


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3


4


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Nachwort


Dank



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