18

Von Zeit zu Zeit breiteten sich Neuigkeiten durch die Bergwerke aus. Sie wurden von den Sklaven gebracht, die die Essenströge füllten. Diese Sklaven waren besser dran als wir, denn sie hatten Zugang zum Zentralschacht. Jedes der hundert Bergwerke Tharnas hatte einen Zugang zu diesem Schacht. Er unterschied sich sehr von den viel engeren Erzschächten, die in jedem Bergwerk anders ausfielen. Diese waren schmale Öffnungen, in denen die Plattformen der Hebevorrichtungen gerade einen normalen Erzsack aufnehmen konnten. Durch den Zentralschacht wurden die tharnaischen Bergwerke mit Vorräten versorgt, nicht nur mit Lebensmitteln, sondern nach Bedarf auch mit Leinenstoff, Werkzeugen und Ketten. Das Trinkwasser stammte aus den natürlichen Quellen jedes Bergwerks. Ich und meine Mitgefangenen waren durch den Zentralschacht in diese Unterwelt gekommen. Nur tote Sklaven legten den umgekehrten Weg zurück. Ausgehend von den Sklaven, die die Flaschenzüge der Versorgungsfahrstühle des Zentralschachtes bedienten, von anderen Sklaven weitererzählt — so hatte sich die Nachricht ausgebreitet, bis sie schließlich auch unser Bergwerk erreichte, welches auf der tiefsten Sohle des Riesenschachtes lag.

Es gab eine neue Tatrix in Tharna.

»Wer ist die neue Tatrix?« fragte ich.

»Dorna die Stolze«, sagte der Sklave, der Zwiebeln, Rettiche, Kartoffeln und Brot in den Essenstrog schüttete.

»Was ist aus Lara geworden?« fragte ich.

Er lachte. »Du hast keine Ahnung!« rief er aus.

»Es dauert lange, bis Neuigkeiten zu uns dringen«, sagte ich. »Sie wurde entführt!«

»Was?« rief ich.

»Ja«, sagte er. »Von einem Tarnkämpfer, wie es sich herausstellte.« »Und wie hieß der Mann«, fragte ich.

»Tarl«, entgegnete er und flüsterte: »Tarl aus — Ko-ro-ba.«

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

»Er ist ein Geächteter«, fuhr der Mann fort, »der die Schauspiele Tharnas überlebte.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Da war ein Tarn mit einer Silberstange, der ihn fressen sollte. Doch er befreite den Tarn —« der Sklave klatschte sich auf die Schenkel — »bestieg das Tier und entführte die Tatrix wie einen Tabuk!« Sein Gelächter hallte in dem engen Raum wider, und die anderen Sklaven fielen begeistert ein. Ich begann zu verstehen, mit welchen Augen die Tatrix von den Sklaven gesehen wurde. Ich lachte nicht. »Was ist mit der Verhandlungssäule?« fragte ich. »Wurde denn die Tatrix nicht unverletzt dort zurückgegeben und freigelassen?« »Das hatten alle angenommen«, sagte der Sklave. »Aber dem Tarnkämpfer lag offenbar an ihr mehr als an allen Reichtümern Tharnas.«

»Was für ein Mann!« rief einer der Sklaven. »Vielleicht war sie sehr schön«, sagte ein zweiter Mann. »Sie wurde nicht zurückgegeben?« fragte ich den Sklaven am Trog.

»Nein«, sagte er. »Zwei bedeutende Leute in Tharna, Dorna die Stolze und Thorn, ein Offizier, flogen zur Säule, aber die Tatrix wurde nicht zurückgebracht. Daraufhin wurden die Gebirge ringsrum abgesucht — doch man fand nur die zerrissenen Gewänder und ihre Goldmaske.« Der Sklave setzte sich auf den Trogrand. »Und jetzt tragt Dorna die Maske.« »Was ist wohl aus Lara geworden?« fragte ich.

Der Sklave lachte. »Nun«, sagte er, »wir wissen, daß sie ihre Goldgewänder nicht mehr trägt.«

»Zweifellos hat sie passendere Dinge erhalten.«

»Ja!« Der Sklave klatschte sich auf das Knie. »Stellt euch vor! Lara, die Tatrix von Tharna, im Tanzkleid einer Sklavin!«

Meine Kettengemeinschaft lachte — alle außer mir und Andreas aus Tor, der mich fragend ansah. Ich lächelte ihn an und zuckte die Achseln. Die Antwort auf seine unausgesprochene Frage wußte ich nicht.

Nach und nach versuchte ich meinen Mitsklaven das Selbstvertrauen wiederzugeben. Der erste Schritt war die einfache Essenszeremonie. Dann ermutigte ich sie, mehr miteinander zu sprechen, sich beim Namen und bei der Heimatstadt zu nennen, und obwohl die Männer aus den verschiedensten Gebieten Gors kamen, teilten sie dieselbe Kette und denselben Essenstrog und akzeptierten einander.

Wenn ein Mann krank wurde, sorgten die anderen dafür, daß sein Erzsack immer voll war. Wenn ein Mann geschlagen wurde, reichten die anderen Wasser von Hand zu Hand, damit seine Wunden gebadet werden konnten und er zu Trinken hatte. Und mit der Zeit kannten wir uns alle, die wir an die große Kette gefesselt waren. Wir waren keine finsteren, anonymen Gestalten mehr, die in der Feuchtigkeit des Bergwerks dahinvegetierten. Schließlich hatte nur noch Ost Angst wegen dieser Veränderung, denn er befürchtete ständig die Überflutung unserer Schlafkammer.

Unsere Kettengemeinschaft leistete gute Arbeit, und die Ablieferungsmenge wurde jeden Tag erreicht, und als sie vergrößert wurde, bereitete uns auch das keine Schwierigkeiten. Manchmal summten die Männer bei der Arbeit sogar vor sich hin, ein Summen, das in den engen Tunneln verstärkt wurde. Die Peitschensklaven Begriffen den seltsamen Wandel nicht und begannen sich vor uns zu fürchten. Die Nachricht von unserer neuen Eßmethode war von den Essensklaven auch in die anderen Bergwerke getragen worden. Und sie berichteten von den sonstigen seltsamen Dingen, die sich in dem Bergwerk tief unten am Zentralschacht ereigneten, von den Männern, die sich gegenseitig halfen und die auch die Zeit und den Willen aufbrachten, eine Melodie zu singen.

Mit der Zeit erfuhr ich von den Essensklaven, daß diese Revolution sich heimlich wie der Pfotenschlag eines Larl von Bergwerk zu Bergwerk ausbreitete. Bald mußte ich feststellen, daß die Sklaven, die uns das Essen brachten, den Mund nicht mehr aufbekamen, und vermutete, daß sie einen Schweigebefehl bekommen hatten. Doch an ihren Gesichtern war abzulesen, daß die ansteckende Seuche der Selbstachtung und des Selbstvertrauens in den Bergwerken unter Tharnas Ländern nicht mehr auf zuhalten war. Hier im Dunkel der Bergwerke, in der Heimat der niedrigsten und würdelosesten Wesen von ganz Tharna konnten sich die Männer wieder ins Gesicht sehen.

Ich wußte, daß die Zeit gekommen war.

Als wir an diesem Abend in die lange Zelle gebracht wurden und die Riegel einrasteten, wandte ich mich an die Männer.

»Wer von euch möchte gern frei sein?« fragte ich.

»Ich«, sagte Andreas aus Tor.

»Und ich«, knurrte Kron aus Tharna.

»Und ich!« riefen andere Stimmen.

Nur Ost hielt sich zurück. »Solche Worte sind verboten«, wimmerte er. »Ich habe einen Plan«, sagte ich, »aber er erfordert Mut, und vielleicht kommen wir alle dabei um.«

»Es gibt keinen Ausweg aus den Bergwerken«, sagte Ost schrill. »Führe uns, Krieger!« sagte Andreas.

»Zuerst«, sagte ich, »müssen wir dafür sorgen, daß die Zelle überflutet wird.«

Ost kreischte entsetzt auf, und Krons gewaltige Faust schloß sich um seinen Hals und brachte ihn zum Schweigen. Ost wand sich in seinen Händen. »Halt den Mund, Schlange!« sagte der stämmige Mann und ließ Ost fallen. Der dürre Mann kauerte sich zitternd an die Felswand. Sein Schrei hatte mir gesagt, was ich wissen wollte. Ich war nun sicher, wie ich die Überflutung der Zelle bewerkstelligen konnte.

»Morgen abend«, sagte ich einfach und sah Ost an, »morgen nacht machen wir unseren Ausbruchsversuch.«

Wie ich es erwartet hatte, stieß Ost am nächsten Tag ein kleiner Unfall zu. Er schien sich mit seiner Spitzhacke am Fuß verletzt zu haben und flehte den Peitschensklaven so inständig an, daß dieser ihn von der Kette losmachte, ihm einen Kragen um den Hals legte und den Humpelnden abführte. Das war eine durchaus unübliche Behandlung, doch es mußte ihm klar sein, daß Ost allein mit ihm sprechen wollte, daß er ihm etwas Wichtiges mitzuteilen hatte.

»Du hättest ihn umbringen sollen«, sagte Kron aus Tharna.

»Nein«, entgegnete ich.

Der stämmige Mann sah mich fragend an und zuckte die Achseln. An diesem Abend waren die Sklaven, die uns das Essen brachten, von einem Dutzend Krieger begleitet. Auch wurde Ost nicht zurückgebracht. »Sein Fuß muß gepflegt werden«, sagte der Peitschensklave und drängte uns in unsere Zelle.

Als die Eisentür geschlossen war und die Riegel zuscharrten, hörte ich ihn Lachen.

Die Männer waren unruhig.

»Du weißt, daß unsere Zelle heute nacht überflutet wird« sagte Andreas aus Tor.

»Ja«, entgegnete ich, und er starrte mich ungläubig an.

Ich wandte mich an den Mann am anderen Ende der Kammer. »Reich uns die Lampe herüber!«

Ich nahm das Licht und trat, begleitet von einigen anderen Sklaven, unter das große, sechzig Zentimeter breite Wasserloch, durch das sich die Flut auf uns ergießen würde. Das Licht enthüllte mir in etwa zwei Metern Hohe ein Eisengitter. Irgendwo oben ertönte ein Knirschen. »Hebt mich hoch!« rief ich, und Andreas und ein zweiter Sklave stellten sich unter mich, hoben mich auf ihre Schultern weiter in den Schacht, dessen Felswände glatt und schleimig waren. Meine Hunger glitten ab.

Mit den angeketteten Händen vermochte ich das Gitter nicht zu erreichen. Ich fluchte.

Dann schienen Andreas und der andere Sklave unter mir zu wachsen. Andere Gefangene knieten unter ihnen, hoben sie weiter an. Meine gefesselten Hände ergriffen das Gitter.

»Ich hab’s!« rief ich. »Und jetzt zieht mich runter!«

Andreas und der Sklave fielen zurück, und ich spürte den Ruck der Fesseln, die von meinen Handgelenken und den ihren führten. »Zieht!« brüllte ich, und die hundert Sklaven in unserer langen Zelle begannen an den Ketten zu zerren. Meine Hände begannen zu bluten, das Blut tropfte mir ins hochgereckte Gesicht, doch ich ließ nicht los.

» Zieht!«

Ein dünner Wasserstreifen lief an einer Seite des Schachtes herab. Das Wasser kam!

»Zieht!« brüllte ich wieder.

Plötzlich gab das Gitter nach, und ich stürzte damit inmitten rasselnder Ketten zu Boden.

Der Wasserstrom war breiter geworden.

»Der erste an der Kette!« rief ich.

Klirrend erschien ein kleiner strohblonder Mann vor mir.

»Du mußt dort hinaufklettern«, sagte ich.

»Aber wie?«

»Stemme dich mit dem Rücken gegen die Schachtwand«, sagte ich. »Gebrauche deine Füße.«

»Das schaffe ich nie!«

»Du schaffst es«, sagte ich.

Ich und sein Nebenmann nahmen ihn und hoben ihn in die Öffnung. Wir hörten, wie er sich keuchend im Schacht abmühte, hörten das Scharren seiner Füße, das hohle Klirren seiner Kette, als er sich zentimeterweise hocharbeitete.

»Ich rutsche ab!« brüllte er und stürzte uns weinend vor die Füße. »Noch einmal!« sagte ich.

»Ich schaffe es nicht!« weinte er hysterisch.

Ich packte ihn bei den Schultern und begann ihn zu schütteln. »Du bist ein Mann aus Tharna!« sagte ich. »Zeige uns, was ein solcher Mann vermag!«

Das war eine Herausforderung, wie sie die tharnaischen Männer selten genug zu Hören bekamen.

Wieder hoben wir ihn in den Schacht.

Ich schob den zweiten an der Kette unter ihn, und ließ auch gleich den dritten nachfolgen. Das Wasser schäumte nun durch die Öffnung; in etwa faustdickem Strahl rauschte es herab. Unsere Zelle war schon knöcheltief überflutet.

Dann hatte der erste Mann an der Kette endlich Tritt gefaßt und begann zu steigen, der zweite folgte ihm nach, gestützt von dem dritten Mann, der nun auf dem Rücken des vierten balancierte, und so verschwanden immer mehr Männer im Tunnel.

Einmal rutschte der zweite aus, riß den ersten zurück und brachte auch den dritten aus der Bahn, doch inzwischen waren so viele Männer in dem Schacht, daß nichts mehr passieren konnte. Der erste setzte seinen Anstieg fort.

Das Wasser stand schon sechzig Zentimeter tief in der Zelle und kam der Decke gefährlich nahe, als ich Andreas in den Tunnel folgte. Der nächste war Kron. Was war mit den armen Kerlen Hinter uns?

Ich blickte in dem langen Schacht aufwärts, an der langen Reihe der kletternden Sklaven entlang. »Beeilt euch!« rief ich.

Der Wasserstrom schien uns nach unten drücken zu wollen, schien uns weiter zu behindern. Er war wie ein Wasserfall.

»Beeilung! Schnell! Schnell!« ertönte ein heiserer Schrei unter uns. Der erste Mann unserer Kette hatte nun die Quelle des Wassers erreicht, einen zweiten Tunnel. Wir hörten ein plötzliches Rauschen. Er rief angstvoll: »Es kommt, eine Riesenflut!«

»Stemmt euch gegen die Wand!« rief ich in den Schacht. »Zerrt die letzten hoch! Es müssen alle aus der Zelle heraus!«

Doch meine letzten Worte gingen in einem unvorstellbaren Wasserschwall unter, der meinen Körper wie eine Riesenfaust traf und mir den letzten Atem raubte. Die Flut toste den Schacht hinab, hämmerte auf die Männer ein. Einige verloren den Halt, und Körper verklemmten sich im Schacht. Man konnte nichts sehen, vermochte nicht zu atmen oder sich zu bewegen.

Urplötzlich war die Flut vorüber. Über uns mußte der Mann an der Wasserregulierung die Geduld verloren haben; vielleicht war der Schwall auch als eine Geste der Gnade gedacht, um den Überlebenden so schnell wie möglich den Garaus zu machen.

Als ich wieder atmen konnte, schüttelte ich mir das nasse Haar aus dem Gesicht. Ich starrte in die feuchte Schwarze hinauf und brüllte: »Weiterklettern!«

Nach zwei oder drei Minuten hatte ich den waagerechten Stollen erreicht, durch den das Wasser in den Schacht geleitet worden war. Ich erreichte die anderen Sklaven an der Kette. Sie waren durchnäßt wie ich und zitterten — doch sie lebten. Ich nahm den ersten Mann bei den Schultern. »Gut gemacht«, sagte ich.

»Ich bin aus Tharna«, erwiderte er stolz.

Endlich war auch der letzte Mann unserer Kettengemeinschaft im waagerechten Tunnel, obwohl die letzten vier hochgezerrt werden mußten. Sie gaben kein Lebenszeichen mehr. Wie lange sie unter Wasser gewesen waren, wußten wir nicht.

Wir beschäftigten uns mit ihnen, beugten uns in der Dunkelheit über sie — ich und drei Männer aus Port Kar, die in solchen Dingen Bescheid wußten. Die anderen Sklaven warteten geduldig ab. Kein einziger klagte, keiner trieb uns zur Eile an. Endlich regten sich die leblosen Körper, Lungen begannen wieder zu arbeiten, Sogen die feuchte, kühle Luft des Bergwerks ein.

Der Mann, den ich gerettet hatte, hob den Arm und berührte meine Schulter.

»Wir gehören derselben Kette an«, sagte ich.

Es war ein Satz, der sich in den Bergwerken eingebürgert hatte. »Kommt!« sagte ich zu den Männern.

In Doppelreihen krochen wir den horizontalen Tunnel entlang.

Загрузка...