Die HEXE ARACHNA

DAS ERWACHEN

Es war ein ungewöhnlicher Tag im kleinen Staat der Zwerge. Der Morgen verlief wie gewöhnlich, doch um die Mittagszeit erschütterte ein seltsamer Lärm die Höhle. Einigen kam er wie ein sehr lauter Seufzer vor, anderen wie ein Windstoß oder wie das Gebrüll eines riesigen Tieres. Die Luft in der Höhle geriet in Bewegung, und mehrere Lichter erloschen. Von der Decke fielen kleine Steine, und das Echo des unerklärlichen Lärms drang ins Freie und versetzte die Umgebung in Aufregung. Die Zwerge, die sich im Tal befanden, liefen so schnell sie konnten zur Höhle, aus der ihnen die erschreckten Wachen entgegenstürzten. Verständnislos fragte man einander: „Hast du gehört? Was soll das bedeuten? Ist das vielleicht Weltuntergang?"

Nur der weise Kastaglio, der Älteste der Zwerge und ihr Chronist, erriet, was geschehen war. Er erhob den Zeigefinger und rief mit feierlicher Stimme:

„Unsere Herrin erwacht!"

Kastaglio hatte recht. Das seltsame Gepolter hatte das Gähnen der erwachenden Hexe verursacht. Dem ersten Gähnen folgten ein zweites und dann noch eins, und von dem Gedröhn erloschen die restlichen Lichter, zerbrachen die kleinen Tische, Stühle und Bettchen der Zwerge und knackte es unheimlich in den Wänden der Höhle. Endlich war Arachna wach. Ein schlafender Mensch merkt nicht den Lauf der Zeit, und der Hexe schien es, als sei sie ebenerst den zahllosen Tieren entronnen, die der mächtige Hurrikap auf sie gehetzt hatte. Nur verstand sie nicht, wohin die Tiere verschwunden waren und warum sie, Arachna, auf dem Ruhelager in ihrer Höhle lag. Sie rief: „Hallo, ist jemand da? Er komme herein!"

Eine Schar Zwerge unter der Führung Kastaglios betrat zaghaft die Höhle und bahnte sich einen Weg durch die Trümmer. „Man hole Antreno!" befahl die Hexe. „Er soll mir erklären, was hier geschehen ist."

„Einen Mann dieses Namens kennen wir nicht, Herrin", wagte Kastaglio zu sagen. „In unserem Stamm ist schon lange niemand so genannt worden." „Habe ich denn so lange geschlafen?" fragte Arachna ungläubig. „Soweit menschliche Erinnerung reicht, hast du viele Jahrhunderte geruht, Herrin", sagte der alte Zwerg. „Wir wissen nicht, wann und wie du einschliefst und warum dein Schlaf so lange gedauert hat. Aber unsere Pflicht haben wir niemals vergessen und deine Ruhe haben wir abgehütet, so gut wir's konnten."

„Ich danke euch für eure treuen Dienste", brummelte Arachna. „Hoffentlich gebt ihr mir jetzt was zu essen, ich habe einen Mordshunger." Als Eßtisch diente Arachna ein hoher abgeplatteter Stein, der seit uralten Zeiten neben der Höhlenöffnung stand. Die Zwerge bestiegen ihn mit langen Leitern und zogen die Speisen mit Flaschenzügen hinauf, die geschickte Meister vor vielen Jahrhunderten gebaut hatten. Die Hexe aß den ganzen Vorrat auf und verlangte noch mehr. Als sie vier gebratene Ochsen und drei Hammel, siebzehn Fasanen und vierundsechzig Rebhühner mit gut zwei Dutzend Semmeln verspeist und ein volles Faß Wasser ausgetrunken hatte, streichelte sie sich wohlig den Bauch und sagte: „Nach einem solchen Mahl wird ein Schläfchen wohl nicht schaden." Sogleich fiel ihr aber ein, daß sie schon allzulange geschlafen und deshalb ihre Geschäfte vernachlässigt hatte.

„Ich muß erfahren", brummte sie, „wie lange der Schlaf gedauert hat, in den mich nur Hurrikap versenken konnte." Sie fragte Kastaglio nach dem großen Zauberer, und es war ihr eine Genugtuung zu hören, daß seit vielen Jahrhunderten niemand von einem Zauberer dieses Namens gehört hatte.

„Hat sich also verrechnet, der Angeber!" grinste Arachna. „Ist längst nicht mehr auf dieser Welt, ich aber lebe, und jetzt wird mich niemand mehr daran hindern können, in diesem Lande nach Herzenslust zu schalten und zu walten."

Kastaglio erzählte ihr von den vielen Schriftrollen im Schrank, in denen die Geschichte des Zauberlandes aufgezeichnet war. Arachna beschloß, die Chronik dieses weltabgeschiedenen winzigen Landes zu, studieren, bevor sie Schritte gegen dessen Einwohner unternahm. Es konnte ja sein, daß sich hier in den vergangenen Jahrhunderten ein anderer mächtiger Zauberer niedergelassen hatte, vor dem man sich in acht nehmen mußte.

DIE CHRONIK DER ZWERGE

Arachna begann zu lesen. Die Pergamentrollen waren numeriert, und deshalb konnte man die Reihenordnung leicht herausfinden. Die Hexe konnte aber schlecht lesen und kam nur langsam vorwärts. Die Geschichte der alten Zeit überflog Arachna unaufmerksam. Nur die Schilderung des Chronisten, wie Hurrikap sie eingeschläfert hatte, studierte sie aufmerksam. Der gute Zauberer, las sie, habe den Zwergen erlaubt, den reglosen Körper Arachnas in die Höhle zu schaffen und ihn zu pflegen, damit er sich viele Jahrhunderte erhielt. Als sie die Stelle mit der Beschreibung las, wie sorgfältig die Zwerge sie vor dem verderblichen Einfluß der Zeit geschützt hatten, regte sich sogar in ihrem steinharten Herzen etwas, was an Dankbarkeit erinnerte.

„Man wird die Zwerge belohnen müssen", sagte sie zu sich. „Ich werde ihnen gestatten, in meinen Wäldern so viel Wild zu jagen und in meinen Flüssen so viel Fische zu fangen, wie sie wollen..." Die Geschichte alter Königs- und Kaiserreiche übersprang Arachna, ohne sie zu lesen.

„Das Königreich Theoms... Das Kaiserreich Ballanagars... Der mächtige Eroberer Agranat... Wer kümmert sich noch um diese längst versunkenen Schatten?" brummte sie vor sich hin.

Die Chronik begann sie erst dann zu interessieren, als vom Prinzen Bofaro die Rede war, der vor tausend Jahren im Westlichen Lande gelebt hatte. Bofaro wollte seinen Vater entthronen, weil dieser seiner Ansicht nach schon zu lange regierte.[2]

Die böse Frau wunderte sich nicht über die Undankbarkeit des Königssohnes. Auch sie, Arachna, hatte seinerzeit ihrer Mutter alles weggenommen, was sie für den Hexenberuf brauchte. Nicht genug damit, hatte sie die Untertanen der Mutter, die Zwerge, aus der großen Welt in das Zauberland entführt und die hilflose Alte ihrem Schicksal überlassen. Arachna las aufmerksam, wie Bofaro und seine Anhänger, die zu ewiger Verbannung in das düstere unterirdische Reich verurteilt worden waren, sich dort einrichteten. Sie förderten Erz, und man nannte sie deshalb die Unterirdischen Erzgräber.

Gespannt las die Hexe, wie Bofaro, der erste König des Unterirdischen Reichs, vor seinem Tode alle seine Söhne - es waren sieben an der Zahl -zu Thronfolgern bestimmte, weil er keinen von ihnen kränken wollte. Sie erfuhr, wie nach seinem Ableben die Söhne der Reihe nach regierten, jeder einen Monat lang. Als sie schließlich las, welche Verwirrung daraus entstand, hüpfte sie vor Freude.

,,Sieben Könige! Und jeder mit eigenem Gefolge, eigenen Hofleuten, eigenem Militär, eigenen Gesetzen, die nur einen Monat lang gültig waren, und eigenen Steuern, die das Volk entrichten mußte - einfach fabelhaft!" dachte sie und lachte so laut dabei, daß die Decke der Höhle zu zittern begann und Steine von ihr herabfielen. Einen Einsturz befürchtend, rannte Arachna hinaus, und als das Gepolter aufhörte, kletterten Zwerge auf Leitern zur Decke hinauf und füllten die Risse mit Zement aus. „O dieser Bofaro, das muß ein Kerl gewesen sein!" kreischte die Hexe begeistert. „Ein fröhliches Leben hat er seinen Untertanen beschert, alle Achtung!"

Die Hexe beruhigte sich erst, als sie weiter las, daß die Menschen nach mehreren Jahrhunderten voller Entbehrungen in einem Labyrinth, das die Höhle umgab, zufällig eine Quelle entdeckten, deren Wasser einen jeden, der davon trank, für lange Zeit einschläferte. Wenn diese Menschen erwachten, waren sie wie Säuglinge, die nichts vom Leben wußten und alles neu lernen mußten. Allerdings dauerte die Lehrzeit nur einige Tage. Bellino, dem weisen Hüter der Zeit, war der Gedanke gekommen, die Meute der Hofleute, Soldaten und Spione und mit ihnen die Könige und ihre Familien für die Zeit einzuschläfern, in der sie nicht regierten. Danach verwandelte sich das Leben der Könige in ein Fest, das sich alle sechs Monate wiederholte, denn der Zauberschlaf zählte nicht, weil er doch wie im Flug verging. Die Hexe legte eine Rolle nach der anderen beiseite, da sie nichts in ihnen fand, das sie hätte interessieren können. Plötzlich aber nahm eine Geschichte, die sich vor langer Zeit zugetragen hatte, ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Darin stand folgendes: Jenseits der Weltumspannenden Berge, hinter der Großen Wüste lebten in verschiedenen Gegenden des riesigen Erdteils zwei gute und zwei böse Zauberinnen. Die guten hießen Willina und Stella, die bösen Gingema und Bastinda. Da die Siedlungen der Menschen den Besitzungen der Zauberinnen immer näher rückten, was diesen nicht behagte, schlugen die vier Frauen ihre magischen Bücher auf und entdeckten darin das Zauberland, das ihnen ungemein gefiel.

Die vier Zauberinnen machten sich zu gleicher Zeit auf den Weg, und als sie am neuen Ort zusammentrafen, waren sie unangenehm überrascht. Sie stritten eine Weile, beschlossen jedoch, nicht Krieg gegeneinander zu führen, sondern das Zauberland unter sich aufzuteilen.

„Schade, daß ich nicht dagewesen bin, als die Schnattermäuler ihr Teilungsgeschäft vornahmen!" brummte Arachna. „Sie hätten was erlebt!" Die Untertanen der guten Zauberinnen durften ihr friedliches Leben weiterführen, worüber sie sehr glücklich waren, doch um so schlechter erging es den Käuern unter der Herrschaft Gingemas und den Zwinkerern unter der Herrschaft Bastindas.

WAS VORHER GESCHAH

Noch war die Zeit des Zauberschlafes der Arachna nicht abgelaufen, und die vier Feen regierten ihre Völker so gut oder so schlecht sie konnten. Vierzig Jahre vor dem Erwachen der Hexe ereignete sich jedoch etwas ganz Ungewöhnliches: Während eines Sturms ging im Zentrum des Zauberlandes ein riesiger Luftballon nieder, an dem ein Korb hing, aus dem ein Mann in buntem Anzug mit einem merkwürdigen Hut auf dem Kopf sprang. Der Mann hieß Goodwin, und die Einwohner des Orts hielten ihn für einen großen Zauberer, weil er ihnen gesagt hatte, er sei vom Himmel gekommen und mit der Sonne gut befreundet.[3] „Als ob wir ohne ihn nicht schon genug Zauberer hätten", brummte die Hexe beim Lesen der Chronik. „Sie befallen uns wie Fliegen den Honig." Arachna hatte vergessen, daß auch sie ungerufen ins Zauberland gekommen war. Goodwin erklärte sich zum Herrscher des Mittleren Landes. Unter seiner Regierung wurde eine schöne Stadt erbaut, die den Namen Smaragdenstadt erhielt, weil in ihren Mauern, Dächern und sogar in den Fugen des Straßenpflasters Smaragde eingelassen waren, die herrlich strahlten. Goodwin legte sich den Namen Großer und Schrecklicher Zauberer der Smaragdenstadt zu. Diese Geschichte fesselte Arachna so sehr, daß sie tagelang über der Chronik saß und sogar die Essenszeiten vergaß, was bei ihrem Appetit höchst erstaunlich war. Im Zauberland trugen sich dann neue ungewöhnliche Ereignisse zu. Ein Gewitter, das Gingema ausgelöst hatte, brachte von der anderen Seite der Berge einen kleinen Wohnwagen, in dem sich ein Mädchen namens Elli mit ihrem Hündchen Toto befand. Der Wohnwagen stürzte auf die böse Gingema herab und zerschmetterte sie. Das Hündchen fand in ihrer Höhle ein Paar Silberschuhe, die es seiner kleinen Herrin brachte.

Am Ort des Vorganges erschien die gute Fee Willina und sagte, wenn Elli es fertigbrächte, die sehnlichsten Wünsche von drei Geschöpfen zu erfüllen, würde der Große Goodwin sie nach Kansas in ihre Heimat zurückführen. Elli zog die Silberschuhe an und machte sich tapfer auf den Weg in die Smaragdenstadt, wohin eine mit gelbem Backstein gepflasterte Straße führte. Das Hündchen lief munter an ihrer Seite. Elli brauchte nicht lange auf die drei Geschöpfe zu warten, deren sehnlichsten Wünsche sie erfüllen sollte. In einem Weizenfeld nahm sie eine Vogelscheuche von einem Pfahl, einen Strohmann namens Scheuch, der ihr sagte, sein sehnlichster Wunsch sei ein Gehirn. Man schloß Freundschaft und ging weiter. In einem Wald entdeckten die beiden den Eisernen Holzfäller, der schon ein Jahr dastand und im Regen rostete. Als Elli seine Gelenke ölte und er wieder sprechen konnte, sagte der Mann, sein sehnlichster Wunsch sei ein liebendes Herz. Das dritte Geschöpf mit einem sehnlichen Wunsch war der Feige Löwe, der so schüchtern war, daß er sich selbst vor den kleinsten Tieren fürchtete. Nach seinem Wunsch befragt, sagte er, er sehne sich nach Mut, denn Mut gehe über alles. Die seltsame Schar überwand viele Hindernisse und gelangte schließlich in die Smaragdenstadt, wo sie Goodwin ihre Wünsche vortrug. Der Große und Schreckliche erklärte ihnen, er werde ihre Wünsche nur dann erfüllen, wenn sie die tückische Bastinda besiegten und ihr die Zauberkraft nähmen. Das war eine schwere Aufgabe, doch die vier schafften es. Bastinda, die sich seit 500 Jahren nicht gewaschen und ihre Zähne niemals geputzt hatte, sollte durch Wasser umkommen. Bei einem Streit mit ihr goß Elli einen Eimer Wasser über sie aus, und die Zauberin zerschmolz wie ein Stück Zucker in einem Glas Tee. Als Elli und ihre drolligen Freunde siegreich zurückkehrten und von Goodwin die Erfüllung ihrer Wünsche forderten, gestand der Große und Schreckliche, daß er nicht ein Zauberer, sondern ein Betrüger sei, der die Menschen beschwatzte. Er verberge sich in seinem Palast vor den echten Zauberinnen, sagte er, weil er sich schrecklich vor ihnen fürchte.

„Habe mir gleich gedacht, daß da was faul ist", brummte Arachna verächtlich. ,,Dieser Angeber, der sich ein Freund der Sonne nennt, kam mir von Anfang an verdächtig vor. Um so besser, dann haben wir einen Feind weniger gegen uns"

Nebenbei gesagt, war Goodwin, wenngleich ein falscher Zauberer, immerhin erfinderisch genug, um für den Scheuch ein kluges Gehirn aus Sägemehl herzustellen, das er mit Näh- und Stecknadeln mischte. Dem Holzfäller hing Goodwin ein aus Stoffresten genähtes und mit Sägemehl gefülltes Herz in die Brust, und dem Löwen gab er aus einem goldenen Tellerchen eine zischende und schäumende Flüssigkeit zu trinken, die eine

Portion Mut enthielt. Die drei Freunde blickten jetzt stolz drein und waren glücklich über die Erfüllung ihrer sehnlichsten Wünsche. Goodwin hatte es satt, sich vor den Menschen zu verbergen, und er kehrte mit dem Luftballon, mit dem er in das Zauberland gekommen war, nach Kansas zurück. Vor dem Abflug ernannte er den Weisen Scheuch zum Herrscher der Smaragdenstadt. Der Eiserne Holzfäller kehrte zu den Zwinkerern zurück und wurde Herrscher über das Violette Land. Den Tapferen Löwen aber wählten die Tiere des Waldes zu ihrem König. „Wie merkwürdig" wunderte sich Arachna, als sie das Ende der Abenteuer von Ellis Freunden las. „Alle bekleiden jetzt hohe Ämter, sind Herrscher und Könige. Und das Mädchen? Was ist aus dem Mädchen geworden?" Weiterlesend erfuhr die Hexe, daß Elli mit Hilfe der Zauberschuhe Gingemas nach Kansas zurückgekehrt war. Arachna rief Kastaglio, der zuletzt die Chronik geführt hatte, und fragte ihn streng: „Hör mal, Knirps, ist alles, was hier über Elli und ihre Freunde geschrieben steht, wahr oder erfunden? Es klingt wie ein Märchen!" „Alles, was hier steht, ist die reinste Wahrheit, Herrin, ich schwöre es beim Leben meiner Enkel!" versicherte der Chronist. „Das ist aber längst noch nicht alles, lest nur weiter, Ihr werdet da noch viel erstaunlichere Dinge finden." Arachna verspeiste drei Ochsen und zwei Hammel und las gespannt weiter. Aus der nächsten Rolle erfuhr sie, daß in den Diensten Gingemas bis zu ihrem Tode ein böser und neidischer Tischler namens Urfin Juice gestanden hatte. Als Gingema durch den Wohnwagen Ellis umkam, ging Urfin in den Wald und lebte dort abgeschieden und in sich gekehrt, ohne jemanden zu lieben oder von jemandem geliebt zu werden.[4] Einmal trug ein Gewitter Samenkörner einer ganz ungewöhnlichen Pflanze in den Garten Urfins. Die Pflanze besaß eine außerordentliche Lebenskraft. Die Körner wuchsen schnell, bald überwucherte dies Gewächs alle Beete, und als Urfin die Stengel herausriß, sie zerkleinerte und auf Blechen in der Sonne trocknen ließ, verwandelten sie sich in ein lebenspendendes Pulver.

Urfin fertigte viele Holzsoldaten an, die er Holzköpfe nannte, flößte ihnen mit Hilfe des Pulvers Leben ein und stellte aus ihnen eine mächtige Armee auf, mit der er sich die Käuer und Zwinkerer unterwarf. Auf diese Weise wurde er König des Smaragdenlandes. Als der Scheuch und der Eiserne Holzfäller in Urfins Gefangenschaft gerieten, weigerten sie sich, seine Macht anzuerkennen, weil er ein Usurpator war. Sie schrieben einen Brief an Elli, den die Krähe Kaggi-Karr nach Kansas brachte und dem Mädchen übergab. Elli beschloß ihren gefangenen Freunden zu helfen. Sie machte sich in Begleitung ihres Onkels, des Einbeinigen Seemanns Charlie Black, der viele gute Einfälle hatte und sich immer zu helfen wußte, sofort auf den Weg. Mit einem Schiff auf Rädern durchquerten sie die Große Wüste, gingen dann über die Weltumspannenden Berge und gelangten schließlich in das Zauberland. Der Kampf mit Urfin und seinen Holzsoldaten war lang und beschwerlich, doch Elli und ihre Gefährten trugen den Sieg davon. Urfin Juice wurde zur Verbannung verurteilt. Den Holzsoldaten tauschte man auf Vorschlag des Scheuchs die grimmigen Haudegenfratzen gegen lächelnde Gesichter ein, die vor Frohsinn strahlten, und dadurch verwandelten sie sich in sanftmütige und arbeitsfreudige Diener. Nach dem Sieg über Urfin kehrten Elli und ihr Onkel in die Heimat zurück. Als Arachna die Geschichte vom ruhmlosen Ende der glänzenden Karriere Urfins las, empfand sie Mitleid mit ihm, denn der böse und neidische Charakter des Tischlers war ganz nach ihrem Geschmack. „Ich werde mir diesen unternehmungsfreudigen Kerl merken", dachte die Hexe. Arachna interessierte auch das Schicksal Ruf Bilans, des Obersten Staatsministers unter König Urfin I. Bilan hatte das hohe Amt als Lohn dafür erhalten, daß er seine Heimat verraten und den Feinden heimlich das Stadttor geöffnet hatte. Nach dem Sturz Urfins beschloß Ruf Bilan, die verdiente Strafe nicht abzuwarten, sondern in das Unterirdische Land zu fliehen. Auf der Flucht verirrte er sich in einem Labyrinth, wo er auf die Quelle des Schlafwassers stieß. Mit einer Hacke, die zufällig dort lag, schlug er ein Loch in die Wand, die die Quelle umgab, wodurch er den Lauf des Wassers unterbrach, das bald versickerte.[5] Für dieses schwere Vergehen wurde Bilan von dem damals regierenden König des Unterirdischen Landes zum Lakaien degradiert. Durch das Verschwinden des Schlafwassers war die Ordnung, die seit Jahrhunderten im Unterirdischen Lande herrschte, gestört worden.

Die Könige, die nach ihrer Regierungszeit jedes Mal ein halbes Jahr schlafen sollten, schlichen nun mit ihren Familien gähnend im Palast umher. Auch die Höflinge, Diener, Soldaten und Spione konnten nicht mehr eingeschläfert werden...

Das arbeitende Volk mußte diesen gefräßigen Haufen ernähren, doch da die vorhandenen Lebensmittel nicht ausreichten, brach eine Hungersnot aus. Gerade damals traf Elli im Unterirdischen Lande ein. „Ein patentes Mädchen, diese Elli, bestimmt eine Fee! Mit der werde ich wohl ein Hühnchen rupfen müssen, wenn sie mir in den Weg tritt!..." murmelte die Hexe.

Elli und ihr Cousin Fred Cunning waren auf dem unterirdischen Fluß mit einem Boot zur Höhle der Sieben Könige gefahren. Ruf Bilan hatte gelogen, als er sagte, Elli könne die Schlafwasserquelle wiederherstellen, deren Versickern so viel Leid über das Unterirdische Land gebracht hatte. Die Könige erklärten, sie würden Elli und ihren Cousin solange gefangen halten, bis das Wasser der Heiligen Quelle wieder da ist. Von einem Eilboten benachrichtigt, zogen der Scheuch, der Holzfäller und der Löwe aus, Elli und Fred Cunning aus der Gefangenschaft zu befreien. Mit ihnen ging der geschickte Mechaniker Lestar, der eine Brigade Holzköpfe mit Pumpen, Bohrern und anderem Werkzeug mitnahm. Sie bohrten einen tiefen Schacht, in den sie Rohre versenkten, die bis zu den wasserführenden Schichten reichten. Als das Schlafwasser wieder hervortrat, wurde den Königen gesagt, das habe Elli durch ihre Zauberkraft bewirkt.

„Ja, so muß es wohl gewesen sein,", murmelte Arachna kopfschüttelnd. Als das Schlafwasser wieder da war, dachte sich der Weise Scheuch einen schlauen Trick aus. Er ließ alle sieben Könige einschläfern, und als sie erwachten, waren sie wie Säuglinge, die sich an nichts erinnern konnten. Dem einen sagte man, er sei früher Weber, dem anderen, er sei Hufschmied, dem dritten, er sei Bauer gewesen usw. Nach einer kurzen Anlernzeit wurden sie es wirklich und führten von nun an ein rechtschaffenes Arbeitsleben. So wurde der Herrschaft der sieben Könige ein Ende gesetzt. Die Unterirdischen Erzgräber zogen in die obere Welt unter die wohltuende Sonne des Zauberlandes, wo sie sich Dörfer bauten, Ackerbau trieben und Vieh züchteten. Beim Lesen dieser Zeilen bekam Arachna schmale Augen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln: „So, so, ihr seid frei geworden? Na, wartet nur, ihr werdet's noch bereuen, die sieben Könige gestürzt zu haben! Dafür will ich sorgen!"

In den letzten Tagen ihres Aufenthalts bei den Erzgräbern sah Elli die Königin der Feldmäuse, Ramina, wieder. Diese prophezeite dem Mädchen, es werde niemals in das Zauberland zurückkehren. Der

Scheuch und die anderen Freunde Ellis waren sehr betrübt, als sie das hörten, und versprachen, das Mädchen aus der Großen Welt, das den Völkern des Zauberlandes so viel Gutes getan hatte, in ewiger Erinnerung zu behalten. Elli und Fred wurden in eine auf dem Rücken des zahmen Drachen Oicho angeschnallte Sänfte gesetzt und flogen nach Kansas in ihre Heimat zurück. Die Hexe fragte den Chronisten:

„Sag, Kastaglio, hat sich die Prophezeiung Rammas bewahrheitet? Ist Elli wirklich nie mehr in das Zauberland zurückgekehrt?" „Lest nur weiter, Herrin", antwortete der Zwerg ausweichend. „In der Chronik ist alles aufgeschrieben."

DER FEUERGOTT DER MARRANEN

Arachna vertiefte sich wieder in die Chronik, die jetzt davon erzählte, wie Urfin Juice die langweiligen Jahre in seinem einsamen Haus im Lande der Käuer verbracht hatte.[6]

Zehn Jahre hatte Urfin in seinem Garten gegraben, als sich etwas zutrug, was sein Leben völlig veränderte. In der Nähe seines Hauses stürzte der Riesenadler Karfax nach einem Kampf mit zwei Rivalen schwer verwundet ab. Der ehemalige König legte Salbe auf die Wunden des Adlers, der bald genas, und die beiden wurden Freunde. Der schlaue Urfin versicherte dem edlen Vogel, er habe nur eins im Sinn: andere Menschen glücklich zu machen. Vorher müsse er aber König eines rückständigen Volkes werden, das in Not und Unwissenheit lebe. Unter seiner Herrschaft würde dieses Volk dann reich und glücklich werden. Das rückständigste Volk im Zauberland waren die Springer, die in einem abgeschiedenen Tal in den Bergen lebten. Sie nannten sich Marranen und standen hinter den anderen Völkern so weit zurück, daß sie nicht einmal die Verwendung des Feuers kannten. Das machte sich der schlaue Urfin zunutze, der eines Nachts auf dem Rücken des Riesenadlers in das Land der Marranen geflogen kam.

In ein Purpurgewand gehüllt und eine brennende Fackel in der erhobenen Hand, sagte er, er sei der Gott des Feuers, eigens vom Himmel herabgestiegen, um die Menschen glücklich zu machen. Die arglosen Marranen glaubten ihm und unterwarfen sich seiner Herrschaft. Urfin beschloß, vor allem die Fürsten und die Stammesältesten für sich einzunehmen. Anstelle der Hütten, in denen sie wohnten, ließ er für sie geräumige warme Häuser bauen. Er lehrte die adligen Marranen, auf dem Feuer schmackhafte Gerichte zuzubereiten, gewöhnte sie an Luxus und Schwelgerei, und bald standen sie geschlossen hinter ihm, der ihnen auf Kosten des einfachen Volkes ein ergötzliches Leben bot. Als das Volk zu murren begann, lenkte Urfin dessen Zorn gegen die Nachbarvölker. „Nicht hier ist euer Glück", sagte er zu den Marranen. „Ich will euch aus eurem unfruchtbaren Land hinausführen, damit ihr reiche Täler mit herrlichen Obstgärten und zahllosen Herden fetter Schafe erobert. Wir werden die Zwinkerer und Käuer aus ihren behaglichen Häusern vertreiben und die Schätze der Smaragdenstadt als Beute nehmen!" Die kampflustigen Marranen folgten dem Ruf mit Begeisterung und brachten eine starke Armee auf die Beine. Urfin nahm den Eisernen Holzfäller gefangen, unterwarf sich die Zwinkerer und führte seine Soldaten in den Krieg gegen das Smaragdenland. Zu dieser Zeit hatten die Holzköpfe unter der Führung des Scheuchs einen breiten Kanal um die Smaragdenstadt gebaut und diese in eine Insel verwandelt. Urfins Soldaten bauten eine Brücke über den Kanal, erstürmten die Stadt und nahmen sie ein. Der Scheuch, der langbärtige Soldat Din Gior und der Hüter des Tores Faramant gerieten erneut in die Gefangenschaft des dreisten Landräubers, aus der sie wieder von einem Mädchen und einem Jungen aus der Großen Welt befreit wurden. Beim Lesen dieser Stelle frohlockte Arachna: „Ich wußte ja, daß Ramina sich geirrt hat! Elli ist doch in das Zauberland zurückgekehrt!"

Als sie jedoch weiterlas, verging ihr die gute Stimmung. Das Mädchen war nicht Elli, sondern Ann, ihre um zehn Jahre jüngere Schwester, gewesen. Ann und ihr Freund Tim O'Kelli hatten Elli oft von ihren wunderbaren Abenteuern erzählen hören, und beide hatten lange Zeit von einer Reise in das Zauberland geträumt, bis ihr Traum schließlich in Erfüllung ging. Sie hatten die Große Wüste und die Weltumspannenden Berge auf dem Rücken wunderbarer Maultiere überquert, von denen die Chroniken der Zwerge nichts genaues zu berichten wußten. Dem Chronisten war nur soviel bekannt, daß diese Tiere sich von Sonnenlicht ernährten. Ann und Tim kamen in das Land der Füchse, wo sie König Nasefein XVI. einen großen Dienst erwiesen, für den er sich dankbar zeigte, indem er dem Mädchen einen Silberreif schenkte, der seinen Träger unsichtbar machen konnte.

Dieser Reif und der Zauberkasten, auf dem man alles sehen konnte, was in der Welt geschah (der Scheuch hatte ihn von der guten Fee Stella geschenkt bekommen), leisteten Ann und Tim unschätzbare Hilfe in ihrem Kampf mit dem schlauen Urfin. Die Kinder befreiten den Holzfäller und die anderen Gefangenen und zogen mit ihnen in das Violette Land, das zu jener Zeit die Herrschaft der Marranen bereits abgeschüttelt hatte. Urfin unternahm einen Feldzug gegen Ann und ihre Freunde. Als seine Armee sich dem Violetten Palast näherte, trugen gerade zwei Volleyballmannschaften der Zwinkerer das Endspiel um die Landesmeisterschaft aus. (Das Volleyballspiel hatte seinerzeit Tim O'Kelli den Zwinkerern beigebracht.) Die Stimmung der heranrükkenden Marranen war sehr kriegerisch. Urfin hatte ihnen erzählt, daß ihre Verwandten und Freunde, die im Violetten Land geblieben waren, um dort die Ordnung aufrechtzuerhalten, von Zwinkerern ermordet, ihre Leichen zerstückelt und den Schweinen zum Fraß vorgeworfen worden waren. Die Marranen schrien nach Rache. Doch als sie sich in den Todeskampf stürzen wollten, gewahrten viele von ihnen unter den Spielern und Fans Freunde und Brüder, von denen Urfin gesagt hatte, sie seien bestialisch ermordet worden. Sie sahen diese „Ermordeten" lachen, mit Zwinkerern scherzen und ihnen Bälle zuwerfen. Die Marranen begriffen, daß der „Feuergott" ein Betrüger war, der die Völker gegeneinander aufhetzte, um sie unter seine Herrschaft zu bringen. Als Urfin sich entlarvt sah, floh er wie ein Feigling. Seine ehrgeizigen Pläne waren wieder einmal gescheitert.

„Hat Pech gehabt, der Arme", seufzte Arachna teilnahmsvoll. „Er hatte große Pläne, doch es fehlte ihm an Geschick... "

Sie las weiter, wie die Soldaten der beiden Armeen sich verbrüderten, gemischte Mannschaften bildeten und ihre Kräfte im Volleyballspiel maßen. Tim und Ann aber kehrten auf den Rücken ihrer Maultiere in die Heimat zurück. Diese Begebenheit hatte sich vor etwa einem Jahr zugetragen.

URFIN JUICE WIDERSTEHT DEN VERSUCHUNGEN

Arachna brauchte mehrere Wochen, um die lange Geschichte von den Ereignissen der letzten Jahrzehnte im Zauberland zu Ende zu lesen. Als es soweit war, verspürte sie einen ungestümen Tatendrang. Es tat ihr bitter Leid, daß sie geschlafen hatte, als im Zauberland so viele Wunder geschehen waren.

„Hätte ich nicht geschlafen wie eine dumme Gans, so hätte ich diesen Herrschern gezeigt, was eine Arachna vermag!" seufzte die Hexe. Der Ehrgeiz spiegelte ihr Bilder vor, in denen sie kaiserliche Purpurgewänder oder zumindest eine königliche Krone trug. Im Geiste sah sie sich als Gebieterin des Zauberlandes, die nicht nur demütigen Statthaltern wie dem Scheuch und dem Eisernen Holzfäller, sondern sogar stolzen Feen wie Willina und Stella Befehle erteilte. Auf ihren Befehl zogen mehrere Zwerge unter der Führung Kastaglios aus, um Urfin Juice zu suchen und ihn in die Höhle Arachnas zu bringen. Haben sie diesen Auftrag erfüllt? Hat sich der ehemalige König einverstanden erklärt, in den Dienst der Hexe zu treten?

Um das zu erfahren, wollen wir uns um ein Jahr zurückversetzen und nachsehen, was aus dem gestürzten Herrscher geworden war. Weder die Marranen noch die Zwinkerer wünschten den Tod des Betrügers. Sie begnügten sich damit, den falschen Feuergott mit Schmach davonzujagen. Der ehemals so treue Meister Petz hatte seinen Herrn verlassen, der Holzclown Eot Ling, der ihm so ergeben war, hatte sich im Gewirr verloren, und nur die Eule Guamoko war bei ihm geblieben. Jetzt saß sie auf Urfins Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: „Laß den Mut nicht sinken! Halt dich stramm!... Wir werden 's den Spöttern noch heimzahlen... "

Urfin verstand, daß die Eule schwatzte, daß sie ihn nur aufmuntern wollte, doch er war ihr auch dafür dankbar. Die Schande bedrückte so sehr sein Herz, daß es zu zerspringen drohte. Er erinnerte sich, wie er erst vor wenigen Monaten auf dem Rücken des Riesenadlers vor den Springern erschienen war, welchen Eindruck sein feuerrotes Gewand und die brennende Fackel in der erhobenen Hand auf sie gemacht und wie diese Toren ihn als Gott anerkannt und ihr Schicksal in seine Hände gelegt hatten. Was hatte er für sie getan? Er hatte die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer gemacht, hatte Gier nach fremdem Eigentum in ihre Herzen gepflanzt und sie in den Krieg gegen ihre Nachbarn getrieben. Jetzt rächte sich das alles an ihm...

Wohin sollte er sich nun wenden? Es gab niemanden im ganzen Zauberland, den Urfin einen Freund hätte nennen können, es gab keinen Zufluchtsort für ihn. Sein bescheidenes Häuschen beim kleinen Dorf

Kogida hatte er verbrannt, als er auf Karfax' Rücken zu den Marranen aufbrach. Jetzt ging er mit leeren Händen und leeren Taschen einem ungewissen Schicksal entgegen. Alles, was er besessen hatte, war im Troß der Marranenarmee geblieben: Bettzeug, warme Kleidung, Waffen, Werkzeug...

Sollte er zurückkehren und um Nachsicht bitten? Natürlich würden die großmütigen Marranen ihm seine Habseligkeiten zurückgeben, doch würde er ihren Spott oder, was noch schlimmer war, ihr Mitleid ertragen können?...

Nein, das war ausgeschlossen! Urfin biß die Zähne zusammen und beschleunigte seinen Schritt. Nur fort, fort von hier', hämmerte es in seinem Kopf.

„Noch ist niemand im Zauberland Hungers gestorben!" dachte Urfin. "Auf den Bäumen gibt es Obst genug, und Laub für eine Hütte, in der sich übernachten läßt, kann ich mit den Händen sammeln..." Als er sich etwas beruhigt hatte, fiel ihm ein, daß im Hof seines abgebrannten Hauses ein Keller war, in dem er sein Tischlerwerkzeug aufbewahrt hatte: Äxte und Sägen, Hobel, Meißel und Bohrer. Es war anzunehmen, daß der Brand den Keller verschont hatte, und folglich mußte das Werkzeug noch daliegen. Daß die ehrlichen Käuer nichts angerührt hatten, stand außer Zweifel.

,,Ich war zweimal in meinem Leben Tischler und zweimal König gewesen", dachte Urfin mit einem schiefen Lächeln, „dann werde ich eben wieder Tischler, zum dritten und letzten Mal..." Er teilte seinen Entschluß der Eule mit, seiner einzigen Ratgeberin, und diese hieß ihn gut.

„Bleibt uns wohl nichts anderes übrig, Gebieter", sagte die Eule. „Gehen wir zurück in dein Anwesen. Wir werden dort ein neues Haus bauen und darin leben, bis uns wieder was einfällt."

„Ach, Guamoko, Guamoko", seufzte Urfin, „spar dir die Mühe und versuche nicht, mich mit leeren Hoffnungen zu trösten. Ich bin nicht mehr jung und habe auch nicht mehr die Kraf, zehn Jahre auf ein Wunder zu warten. Bitte nenn mich auch nicht mehr Gebieter, was bin ich jetzt für ein Gebieter und worüber gebiete ich denn noch?Nenn mich einfach Herr!" „Zu Befehl, Herr!" erwiderte Guamoko gehorsam. Der Weg in das Blaue Land war für Urfin Juice sehr beschwerlich. Um nachts im Walde nicht zu frieren, kroch er unter die Decke der abgefallenen welken Blätter, oder er baute sich eine dürftige Laubhütte. Ein Feuer konnte er nicht anzünden, weil sein Feuerzeug mit den anderen Habseligkeiten im Troß bei den Marranen geblieben war. Er ernährte sich von Obst und Weizenähren, die er auf den Feldern pflückte. Die Eule brachte ihm mehrmals Rebhüner, die sie gejagt hatte, doch Urfin konnte sie nicht roh essen und gab sie ihr seufzend zurück. Er war sehr abgemagert, seine Wangen waren eingesunken, und die große Nase sprang turmgleich über den eingefallenen Mund hervor. Ein Stoppelbart bedeckte sein Gesicht, den er nicht entfernen konnte, weil er kein Rasierzeug hatte. Die Erinnerung bohrte in seinem Kopf und gab ihm keine Ruhe. War er glücklich gewesen, als er das Zauberland regierte? ,,Nein, ich war nicht glücklich", mußte sich Urfin gestehen. "Ich hatte die Macht mit Gewalt erobert, den Menschen die Freiheit geraubt, und sie haßten mich. Selbst die Höflinge, denen ich hohe Ämter zuteilte, taten nur so, als liebten sie mich. Schranzen und Speichellecker sangen mir Loblieder bei Schmaus und Gelage, nicht weil sie mich bewunderten und verehrten, sondern weil sie sich Orden und reiche Gaben erschleichen wollten. Ich habe die Smaragdenstadt arm gemacht, habe aus ihren Mauern und Türmen die Edelsteine herausgebrochen, und wenn ich durch die Straßen ging, warf man mit Ziegeln nach mir. Weshalb begehrte ich nur die Macht? Weshalb?... "

Urfin fand auf diese Frage keine Antwort. Als er auf ein paar zusammengebundenen Baumstämmen den Großen Fluß überquerte, mußte er daran denken, wie seine Holzarmee während des Feldzugs gegen die Smaragdenstadt ins Wasser gefallen war.

„Hätte der Fluß sie doch für immer fortgeschwemmt!... Das verdammte Lebenspulver? Wozu mußte ich es entdecken! Das Pulver ist an meinem ganzen Unglück schuld!..."

Urfin atmete auf, als er die Gelbe Backsteinstraße erreichte. Ihm war, als hieße sie ihn willkommen und lade ihn zum Weitergehen ein. Er fühlte, wie die Heimat näher kam, selbst die Luft schien hier frischer und angenehmer zu duften als in der Fremde. Auch blickten ihn die sanften Käuer, denen er begegnete, so freundlich an, als hätten sie alles vergessen und trügen ihm nichts nach. Die kleinen blaugekleideten Menschen, die blaue Spitzhüte mit Schellen auf dem Kopf trugen, baten den müden Wanderer of, in ihre blauen Häuschen hinter den blauen Zäunen einzutreten. Auf den kleinen Tischen mit blauen Decken standen blaue Tellerchen mit schmackhaften Gerichten, und lächelnde Hausfrauen bewirteten herzlich den hungrigen Gast. Zwei- oder dreimal hatte Urfin in blauen Häuschen sogar übernachtet...

Sein rauhes Herz begann aufzutauen.

„Wie ist das möglich?" dachte Urfin reumütig. „Ich habe diesen guten Menschen so viel Böses zugefügt, habe nur davon geträumt, sie zu beherrschen und zu unterdrücken, sie aber haben alle meine Bosheiten vergessen und sind jetzt so freundlich zu mir... Anscheinend habe ich doch nicht so gelebt, wie ich hätte leben sollen..."

Urfin wagte es nicht, der schlauen und bösen Eule seine neuen Gedanken und Gefühle mitzuteilen, denn er wußte, daß sie sie nicht billigen würde. Eines Tages um die Mittagszeit stand er wieder in seinem Hof. Vom abgebrannten Haus war nur ein regenfeuchter Kohlenhaufen übriggeblieben, doch der Keller war unversehrt und das Schloß ganz. Als er die Tür aufbrach und hineinschaute, sah er sein ganzes Werkzeug genau so daliegen, wie er es zurückgelassen hatte. Eine Träne rann über seinen stoppligen Bart...

,,Die braven Käuen!" seufzte er. „Erst jetzt verstehe ich, was das für gute Menschen sind... Oh, wie tief stehe ich in ihrer Schuld!" Schon unterwegs hatte Urfin beschlossen, sich möglichst weit weg von Kogida und näher zu den Weltumspannenden Bergen anzusiedeln.

,,Die Menschen sollen meine Verbrechen vergessen", dachte der ehemalige Herrscher des Zauberlandes. „Das wird schneller geschehen, wenn ich ihnen nicht beständig vor den Augen bin und möglichst weit wegziehe..." Bevor er seinen Hof verließ, wollte Urfin von den Beeten Abschied nehmen, die er so lange und mit so viel Liebe gepflegt hatte. Als er auf die Wiese hinter den Gartenzaun hinaustrat, gewahrte er mit Entsetzen ein ganzes Dickicht aus hellgrünen Pflanzen mit fleischigen langen Blättern und dornigen Stielen. „Da sind sie wieder!" stöhnte Urfin.

Er hatte sich nicht getäuscht: Es war die Pflanze, aus der er vor vielen Jahren das Lebenspulver gewonnen hatte. „Sind die Samen tief in der Erde aus ihrem langen Schlaf erwacht?" fragte sich Urfin. ,,Oder war es wieder der Wind, der sie hergeweht hat?" Er entsann sich, daß vor zwei Tagen ein Hagelsturm tobte, vor dem er unter einem Baum mit buschiger Krone Schutz gefunden hatte.

„Es muß wieder der Sturm gewesen sein, der uns die Bescherung gebracht hat", sagte Urfin, und die Eule stieß einen Freudenschrei aus. Eine große Versuchung überkam Urfin Juice. „Da ist das Wunder", dachte er, von dem Guamoko gesprochen hat. „Ich werde nicht zehn Jahre darauf warten müssen, denn es ist bereits geschehen, und ich sehe es mit meinen Augen." Urfin streckte die Hand nach einer Pflanze aus, zog sie aber, von einem Dorn gestochen, sofort wieder zurück. „Jetzt werde ich die alten Fehler nicht wiederholen nach all den Erfahrungen, die ich gemacht habe. Jetzt kann ich 500 ... nein, 1000 kräftige Holzköpfe anfertigen, die mir gehorchen werden. Aber warum nur Holzköpfe? Auch unverwundbare fliegende Ungeheuer will ich machen, Holzdrachen, die schnell wie der Blitz fliegen und gewittergleich auf die Köpfe zitternder Menschen niedergehen werden!" Solche Gedanken wälzten sich in seinem Kopf und ließen seine Augen funkeln.

„Was sagst du, Guamoko, zu diesem neuen Geschenk des Schicksals?" wandte er sich an die Eule.

„Was ich sage, Gebieter? Ich sage: Mach soviel Pulver, wie du nur kannst, und schlage los! Jetzt werden wir's ihnen heimzahlen, den Spöttern!" Doch worüber Urfin unterwegs so lange nachgedacht hatte, war nicht spurlos verschwunden. Etwas hatte sich in seiner Seele verändert. Die glänzende Zukunft, die sich wieder vor ihm auftat, lockte ihn nicht mehr. Er setzte sich auf einen Baumstumpf, betrachtete aufmerksam den Blutstropfen, den der Dornenstich auf seinem Finger hinterlassen hatte, und dachte angestrengt nach.

„Blut...", flüsterte er. „Wieder Blut, Menschentränen, Kummer und Leid. Nein, das darf nicht wiederkehren!"

Er holte einen Spaten aus dem Keller und grub alle Pflanzen mit der Wurzel aus.

„Ha, ich kenne euch!" schrie er zornig. „Wenn ich euch ungeschoren lasse, überwuchert ihr die ganze Gegend, und dann entdeckt jemand die Zauberkraft wieder, die in euch steckt, und stellt Dummheiten an. Nein, ich hab es satt!..."

Die Eule geriet über diesen unerwarteten Entschluß ihres Herrn in Verzweiflung und bat ihn inständig, das Glück nicht zu verscheuchen, das ihm wieder einmal zulächelte.

„Bereite wenigstens eine Handvoll Pulver!" flehte die Eule. „Man kann doch nicht wissen, was noch alles geschehen kann!" Urfin wies auch diese Bitte zurück. Um sich der Pflanzen schneller zu entledigen, verbrannte er sie, und die Asche vergrub er tief in die Erde. Dann machte er eine Handkarre, lud darauf die Habseligkeit aus dem Keller und zog von dannen. Die wütende Guamoko folgte ihm nicht. Etwa zwei Stunden später hörte Urfin Flügelschläge im Rücken, und als er sich umwandte, sah er die Eule.

„Ich hab's mir überlegt, Herr", sagte Guamoko kleinlaut, „du hast recht! Das Lebenspulver hat uns nichts Gutes gebracht, und es war ein kluger Entschluß, die Hände davon zu lassen."

Guamoko schwindelte natürlich - wie hätte sie sich auch so leicht eines Besseren besinnen können! Sie tat jetzt nur so, weil sie sich in ihrem langen Leben gewöhnt hatte, mit Menschen zu leben, und weil es ihr allein im Walde zu langweilig gewesen wäre. Urfin durchschaute sie, war aber dennoch zufrieden, denn auch er hätte die Einsamkeit auf die Dauer nicht ertragen können. Der Weg zu den Bergen dauerte mehrere Tage. Als sie nicht mehr weit waren, erblickte Urfin eine schöne Wiese, durch die sich ein kristallklarer Fluß schlängelte. Bäume, an denen unzählige Früchte hingen, säumten die Ufer.

„Ein guter Ort für eine Wohnstätte", sagte Urfin, und die Eule stimmte ihm zu. Urfin baute hier eine Hütte und legte einen Garten an. Seine Tage waren jetzt von Arbeit und Sorgen ausgefüllt, und die Erinnerungen an die schwere Vergangenheit verblaßten nach und nach. Ein Jahr später fanden ihn hier die Abgesandten Arachnas. Der Weg hatte die Zwerge nicht wenig Mühe gekostet, denn sie waren klein und ihre Beine kurz, und wie sehr sie sich auch anstrengten, mehr als zwei oder drei Meilen am Tag schafften sie nicht. Den neuen Wohnort Urfins aufzuspüren, war auch nicht so einfach gewesen. Als Kastaglio und seine Begleiter in das Blaue Land kamen, sagten ihnen die Käuer, Urfin habe seine Heimat wieder verlassen. Sie befragten die Tiere, und erst nach einem langen beschwerlichen Weg, der einen ganzen Monat dauerte, erreichten die Zwerge die schöne Wiese, auf der Urfins neue Hütte stand. Dieser staunte nicht wenig, als er zu seinen Füßen die winzigen Kerlchen mit den grauen Bärten sah. Vierzig Jahre lebte er im Zauberland, doch von Zwergen hatte er niemals gehört. Allerdings wußte er, daß die Wunder im Zauberland unerschöpflich sind. Urfin begrüßte höflich die Besucher und fragte nach ihrem Begehr. Kastaglio öffnete den Mund zur Antwort, doch plötzlich verließen ihn die Kräfe, und er sank zu Boden. Genauso erging es seinen Gefährten. Urfin schlug sich vor die Stirn. „Ich Dummkopf! Ihr seid müde und hungrig, und statt euch verschnaufen zu lassen, stelle ich Fragen. Ich bitte euch um Verzeihung, das kommt vom einsamen Leben... "

Nach reichlicher Bewirtung und Erholung sagte Kastaglio, weshalb er gekommen sei. Er erzählte von Arachna und erklärte, wofür sie in unvordenklichen Zeiten vom mächtigen Zauberer Hurrikap eingeschläfert worden war. Er verheimlichte auch nicht, daß die Hexe die Herrschaft über das Zauberland begehre und damit rechne, Urfin Juice, der zweimal die Smaragdenstadt erobert hatte, würde ihr dabei behilflich sein. Vor dem Aufbruch der Abgesandten, fuhr Kastaglio fort, habe Arachna angedeutet, sie werde ihre Helfer großzügig belohnen und sie zu Herrschern und Statthaltern der unterworfenen Länder machen. Urfin schwieg lange. Das Schicksal führte ihn wieder in Versuchung. Er brauchte nur in den Dienst der Hexe zu treten, um wieder Herrscher der Smaragdenstadt oder des Landes der Marranen zu werden und sich vielfach für die Erniedrigungen zu entschädigen, die er hatte durchstehen müssen. Doch da war die Frage: Lohnte es sich? Er würde wieder mit Gewalt die Macht ergreifen, und wieder würde das unterdrückte Volk ihn hassen...

Das Jahr, das er in der Abgeschiedenheit verlebt und in dem er so vieles überdacht hatte, war nicht unnütz vergangen. Urfin erhob den Kopf, blickte Kastaglio in die Augen und sagte entschieden: „Nein! Ich trete nicht in den Dienst eurer Herrin!" Kastaglio war über diese Antwort nicht verwundert und entgegnete nur: „Ehrwürdiger Urfin, vielleicht sagst du es selbst unserer Gebieterin?" „Warum?" fragte Urfin, „könnt denn ihr es ihr nicht ausrichten?" „Es handelt sich darum", erklärte der Zwerg, „daß unsere Gebieterin befohlen hat, dich zu ihr zu bringen. Täten wir es nicht, sagte sie, seien wir schlechte und schlampige Diener. Bei Nichterfüllung des Auftrags wird sie uns für einen ganzen Monat das Recht der Wildjagd in ihren Wäldern und des Fischfangs in ihren Gewässern entziehen. Doch wenn es nicht anders geht, werden wir unsere Gürtel eben enger schnallen und mit unseren Vorräten auskommen müssen." Urfin erwiderte schmunzelnd:

„Könnt ihr denn nicht Fische fangen und Wild jagen, ohne daß eure Herrin es sieht? Ihr seid doch so klein und flink!"

Die Augen Kastaglios und seiner Begleiter weiteten sich vor Schreck. „Wir sollen wildern?" fragte Kastaglio entsetzt. „Ehrwürdiger Urfin, du kennst das Volk der Zwerge nicht! Es besteht schon Tausende von Jahren, doch niemals hat einer von uns sein Wort gebrochen oder jemanden betrogen. Wir sterben lieber vor Hunger..."

Urfin war so gerührt, daß er Kastaglio in seine kräftigen Arme nahm und ihn sanft an seine Brust drückte.

„Liebe kleine Menschlein!" sagte er. „Damit euch kein Leid geschieht, will ich mit euch gehen und selbst Arachna alles sagen. Ich hoffe, sie wird euch nicht dafür bestrafen, weil ich ihr nicht dienen will?"

„Für dein Benehmen sind wir nicht verantwortlich", erwiderte würdevoll Kastaglio.

„Morgen brechen wir auf", sagte Urfin. „Heute müßt ihr erst einmal richtig ausruhen."

Zur Kurzweil seiner Gäste holte Urfin einen Haufen Spielzeug aus der Hütte und breitete es vor den Zwergen aus. Da waren hölzerne Puppen und Clowns mit buntbemalten Gesichtern und leichte zierliche Hirsche und Gazellen, von denen man meinen konnte, sie würden im nächsten Augenblick aufspringen und davonlaufen. Wie unterschieden sich diese lustigen und anmutigen Spielsachen doch von den finsteren und bärbeißigen, die Urfin einst gefertigt hatte, um Kinder mit ihnen zu schrecken!

„Das hab ich in meiner Freizeit gemacht", sagte Urfin schlicht. „Oh, wie reizend!" riefen die Zwerge.

Sie nahmen die Puppen und Tierchen in die Arme, drückten sie zärtlich an die Brust und liebkosten sie. Man sah, daß die Sachen ihnen schrecklich gefielen. Ein Zwerglein sprang auf einen hölzernen Hirsch, ein anderes begann mit einem geschnitzten kleinen Bären zu tanzen. Die Gäste strahlten vor Freude, obwohl die Spielsachen, das muß man schon sagen, für sie viel zu groß waren. Als er die Freude der Zwerge sah, rief Urfin großmütig: ,,Sie gehören euch! Nehmt sie in euer Land und schenkt sie den Kindern, daß sie sich an ihnen ergötzen."

Die Zwerge hüpften vor Freude und überschütteten Urfin mit Dank. Am nächsten Tag brach man auf. Aber schon nach den ersten hundert Schritten merkte Urfin, daß die Zwerge es nicht schaffen würden. Sie waren keine guten Geher, und, bepackt mit den Spielsachen, die fast so groß waren wie ihre Träger, keuchten, schwitzten und taumelten sie, doch keiner wollte sich von den Geschenken trennen. Ein Stück Weg, für das Urfin zwei Minuten brauchte, nahm bei ihnen zwanzig in Anspruch. Als er sie so keuchen und schwitzen sah, brach Urfin in ein schallendes Gelächter aus.

„Nein, meine Lieben, so geht es denn doch nicht! Sagt, wieviel Zeit habt ihr für den Weg hierher gebraucht?"

„Einen Monat", antwortete Kastaglio. „Jetzt werdet ihr ein Jahr dafür brauchen!" Urfin kehrte zu seinem Haus zurück, nahm die Schubkarre aus dem Schuppen, legte die Menschlein mit den Geschenken hinein und setzte sich in Trab. Die Zwerge strahlten vor Freude. Der Rückweg dauerte nur drei Tage. In Erwartung Urfin Juices und Ruf Bilans beschloß Arachna, ihre Hexenkunst zu überprüfen. Bevor sie den Kampf mit den Völkern des Zauberlandes begann, wollte sie sich überzeugen, ob sie noch alle ihre bösen Kräfe beisammen hatte. Der Leser hat wahrscheinlich nicht vergessen, daß Arachna sich nach Belieben in ein Pelztier, einen Vogel oder einen Baum verwandeln konnte...

Diese Verwandlungskunst war ihre wichtigste Waffe. Doch jetzt mußte sie feststellen, daß sie einiges verlernt hatte. Das war für sie ein schwerer Schlag. Wie dies geschehen konnte, sei hier erklärt: Der Zauberspruch war sehr kompliziert und lang und zudem streng geheim, und Arachna hatte ihn nicht aufgeschrieben, aus Furcht, er könnte Feinden in die Hände fallen. Während ihres Schlafs hatte sie den Spruch vergessen. Darüber muß man sich nicht wundern, denn ein Schlaf von fünftausend Jahren ist eben kein Mittagsschläfchen, bei einem solchen Schlaf kann man sogar den eigenen Namen vergessen. Die Zeit war vorbei, da Arachna im Kampf mit ihren Feinden sich in ein Eichhörnchen oder einen Löwen, in eine mächtige Eiche oder eine schnelle Schwalbe verwandeln konnte. Jetzt konnte die Hexe nur noch auf ihren riesigen Wuchs und ihre Körperkraft rechnen.

Arachna hatte auch noch andere Zauberkünste vergessen, doch was ihr geblieben war, reichte immerhin, um Böses zu stifen. Sie hatte es z. B. nicht verlernt, Erdbeben, Gewitter und andere Naturkatastrophen auszulösen.

,,Noch ist nicht alles verloren", beruhigte sich die Hexe, als auf ihren Befehl vom Gipfel des Berges ein Felsen herabstürzte und beim Aufprall in tausend Stücke zerschellte. Ja, noch war die böse Arachna ein schrecklicher Gegner, vor dem man sich in acht nehmen mußte. Mittlerweile war Urfin mit seiner Schubkarre, in der sich die muntere Schar der Zwerge befand, in das Tal gekommen. Die winzigen Menschlein wiesen ihm den Eingang zur Höhle und liefen, so schnell sie konnten, zu ihren Häuschen, die in Büschen und hinter großen Steinen verborgen lagen. Kaum hatten sie ihre Türen erreicht, riefen sie die Kinderchen herbei, um ihnen die Geschenke des guten Onkels Urfin zu übergeben...

Hier muß ich die Feder beiseite legen, denn mir fehlen die Worte, den Jubel der Kinder auch nur annähernd zu beschreiben. In den Tausenden Jahren des Bestehens dieses Stamms der Zwerge hatten ihre Kinder noch nie solch entzückende Spielsachen gesehen. Urfin Juice betrat gemessenen Schritts die Höhle und verbeugte sich würdevoll vor der Hexe. „Ihr wolltet mich sprechen, was wünscht Ihr von mir?" fragte er. Er hatte den Zwergen versprochen, so zu tun, als wüßte er nicht, warum Arachna ihn gerufen hatte. Er verspürte keine Angst beim Anblick der riesigen Frau mit ihren drohend gefurchten buschigen Brauen. „Weißt du, wer ich bin?"

„Der ehrwürdige Zwerg Kastaglio hat mir über Euch erzählt." „Also weißt du, daß ich fünftausend Jahre geschlafen habe und jetzt nach Taten lechze! Vor allem ist es meine Absicht, das Zauberland zu unterwerfen, dann werde ich mich vielleicht auch auf die andere Seite der Berge begeben." Urfin schüttelte zweifelnd den Kopf mit dem angegrauten Haar. „Zweimal versuchte ich, das Zauberland zu unterwerfen, und Ihr wißt, wie es jedesmal endete", sagte Urfin ruhig.

„Du vergleichst dich mit mir, elender Wurm?" rief die Hexe verächtlich und reckte sich, daß ihr Kopf fast an die Decke stieß. „Mit Verlaub, Herrin", sagte Urfin unerschrocken, „ich habe gar nicht so unüberlegt gehandelt. Das erste Mal hatte ich eine mächtige Armee gehorsamer Holzsoldaten, das zweite Mal ein Heer von zweitausend kräftigen und flinken Marranen unter meinem Befehl. Und beide Male verlor ich. Herrin, ich habe im letzten Jahr viel nachgedacht und schließlich begriffen, daß es nicht so leicht ist, freie Völker zu unterwerfen..." „Wie, er will mir Moral predigen?" lachte Arachna schrill. „Mich dünkt, er billigt meine Absichten nicht und weigert sich, mir zu dienen."

„Ja, ich billige sie nicht und weigere mich! Das Leben hat mir vieles beigebracht, und jetzt möchte ich so lange zurückgezogen leben, bis die Menschen, die ich gekränkt habe, mir vergeben." „Geh, Elender, und vergiß unser Gespräch!" brüllte die Hexe. „Du wirst deine Weigerung noch bedauern! Ich wollte dich erheben, du aber hast deine Chance in den Wind geschlagen!"

Urfin verneigte sich und ging. Doch an der Schwelle blieb er stehen, drehte sich um und sagte:

„Ich fürchte, auf dem Kriegspfad werdet Ihr den Tod finden!" Arachna lächelte spöttisch. Wider Willen verspürte sie aber so etwas wie Achtung vor diesem kleinen Mann, der vor ihr, der mächtigen Zauberin, keine Angst hatte.

,,Ich hätte diesen Dickschädel mit Ehren überhäuf, hätte er eingewilligt, mir zu dienen", dachte die Hexe. „Man fühlt, daß dieser Mensch die Kraft besitzt, seinen Willen durchzusetzen... "

Auf der Wiese vor der Höhle erblickte Urfin Ruf Bilan, den eine Gruppe von Zwergen aus dem Unterirdischen Land geholt hatte. Der ehemalige König wandte sich von seinem ehemaligen ersten Minister verächtlich ab. „Dieser wird die verlockenden Angebote Arachnas bestimmt nicht ausschlagen", ging es Urfin durch den Kopf. Er täuschte sich nicht.

DIE VERSUCHUNG DES RUF BILAN

Als Urfin fortgegangen war, saß die Hexe lange brütend da. Dann schüttelte sie den gewaltigen Kopf und befahl, Ruf Bilan hereinzuführen, dessen Ankunft man ihr gemeldet hatte. Ruf Bilan duckte sich beim Betreten der Höhle so tief, daß er mit den Knien fast den Boden berührte. So schleppte er sich, das feiste Gesicht bleich vor Schreck, die Augen gesenkt und an allen Gliedern zitternd, bis vor die Hexe. „Bist du Ruf Bilan?" fragte Arachna.

„Ja, Herrin, der unterirdische Erzgräber hat gesagt, das sei mein Name", erwiderte Bilan mit bebender Stimme. „Aber ich kann mich nicht erinnern, was ich in meinem früheren Leben getan habe..." Er hatte seine Vergangenheit in der Tat ganz vergessen. Als die Zwerge ihn in der unterirdischen Höhle fanden, waren gerade zwei Tage seit seinem Erwachen aus dem langen Schlaf vergangen. Zu dieser Zeit hatte er gerade das Gehen und Sprechen erlernt, und seine Entwicklung erinnerte an die eines fünfjährigen Kindes. Der Erzgräber, den man ihm als Erzieher zugeteilt hatte, war noch nicht dazu gekommen, ihm zu erklären, was Gut

und was Böse ist. Die Zwerge hatten einen Augenblick abgewartet, an dem der Erzieher Ruf allein ließ, und ihn dann mit Naschwerk aus der Höhle gelockt. Als Bilan sie unterwegs fragte, wohin man ihn führe und was man mit ihm vorhabe, gaben sie keine Antwort. Beim Anblick der Riesin lief es ihm eiskalt über den Rücken. „Also hat man vor dir verheimlicht, daß du einst eine sehr hohe Stellung in deinem Heimatland einnahmst?" fragte die Hexe mit einem tückischen Lächeln.

„Davon weiß ich nichts, Herrin", antwortete Ruf unterwürfig, doch seinen Augen konnte man ablesen, daß sich in ihm ein Gefühl des Stolzes regte. Der scharfsinnigen Arachna entging es nicht, welchen Eindruck ihre Worte auf ihn machten, und im nächsten Augenblick war ihr Plan reif. „Kastaglio!" rief sie, „nimm den Mann zu dir und bringe ihm das Lesen bei. Gib ihm die Chronik und laß ihn darin lesen, was über sein Leben und seine Taten geschrieben steht. Sobald er sich an seine Vergangenheit erinnert, bringst du ihn wieder her."

Der Chronist verstand ausgezeichnet, was seine Herrin wollte. Zwei Wochen später führte er ihr Bilan wieder vor. Der Gesichtsausdruck und die Haltung des ehemaligen Staatsministers hatten sich völlig verändert. Er hielt sich aufrecht, und sein Schritt war fest. Das Gedächtnis hatte alle Einzelheiten seines früheren Lebens wiedererstehen lassen. Er wollte nun alles von vorn beginnen, wenn sich ihm nur die Möglichkeit dazu bot. Bilan war nicht mehr das schwache und hilflose Kind, das die Zwerge aus der Höhle geführt hatten. Vor Arachna stand jetzt ein erwachsener Mann, ein Streber und Ränkeschmied, der vor keinem Verrat zurückscheuen würde. Die Schlauheit Arachnas hatte in Ruf Bilan die schlimmsten Eigenschaften wiedererweckt. Die Hexe erwiderte Bilans Verbeugung mit einem kaum merklichen Nicken und sprach:

„Du möchtest doch wissen, warum ich dich gerufen habe?" „Ja, Herrin. Doch darf ich vorher eine Frage stellen?" „Sprich!" „Wer war der Mann, den ich vor zwei Wochen in Eurem Besitztum sah?" „Das war Urfin Juice, der ehemalige König des Smaragdenlandes." „Deshalb kam mir sein Gesicht so bekannt vor! Ich war unter ihm der erste Mann im Staat!" brüstete sich Bilan.

„Du kannst wieder hoch aufsteigen, wenn du in meine Dienste trittst! Ich bin viel mächtiger als Juice, wenngleich sein Mut mir gefällt. Schade, daß sein Mißgeschick ihn gebrochen und er sich mit seinem Schicksal abgefunden hat!"

Arachna weihte Ruf in ihre Pläne ein. Sie erzählte von ihrer Absicht, das Zauberland zu unterwerfen und sich zu dessen Kaiserin ausrufen zu lassen, und schloß mit den Worten: „Willst du mir helfen?" „Gnädige Frau, ich bin bereit, Euch nach Kräften zu dienen!" rief Bilan begeistert.

„Meinst du, mein Wunsch wird in Erfüllung gehen?"

„Ohne Zweifel! Die Völker des Zauberlandes werden glücklich sein, sich einer so mächtigen Gebieterin zu unterwerfen!"

„Bist du davon überzeugt?" zweifelte die Hexe. „Ich bin bereit, mein Leben dafür hinzugeben."

„Dein ehemaliger König ist anderer Ansicht."

„Er irrt, gnädige Herrin, er irrt, und davon werdet Ihr Euch bald überzeugen."

„Gut, Ruf Bilan, ich nehme dich in meine Dienste. Du sollst mein Botschafter in wichtigen Angelegenheiten sein, und wenn du dich auszeichnest, bekommst du ein noch höheres Amt!" Rufs Gesicht strahlte vor Freude, er scharwenzelte vor Arachna und versicherte sie seiner grenzenlosen Ergebenheit.

„Geh jetzt!" sagte die Hexe, und Ruf verließ im Krebsgang mit unzähligen Bücklingen die Höhle.

„Ein Strolch und Speichellecker!" sagte die Hexe verächtlich. „Bei der erstbesten Gelegenheit wird er mich ebenso leicht verraten, wie er in meine Dienste getreten ist. Aber leider habe ich keine andere Wahl..."

ALLER ANFANG IST SCHWER

Unter dem Hexenzubehör Arachnas befand sich ein fliegender Teppich, den sie ihrer Mutter geklaut hatte, als sie ins Zauberland floh. Das war ein alter und zerfranster Teppich, der nur dank der Sorge der Zwerge dem Schimmel und Mottenfraß nicht zum Opfer gefallen war. Die winzigen Menschlein hatten ihn jeden Monat gebürstet, ausgeklopft, in der Sonne getrocknet und gestopft, und als die Hexe erwachte, war er immer noch brauchbar. Um ihre Pläne auszuführen, beschloß Arachna der Reihe nach alle Gebiete des Zauberlandes anzufliegen, um nach dem Rechten zu sehen und von den Einwohnern die Anerkennung ihrer obersten Macht zu fordern. Als es soweit war, breitete sie den Teppich aus, ließ sich auf ihn nieder und setzte Ruf Bilan neben sich, den sie bei den Verhandlungen mit den voraussichtlichen Untertanen als Unterhändler verwenden wollte. „Teppich, Teppich, trag mich in das Rosa Land zur Zauberin Stella!" befahl die Hexe.

Als der Teppich aufflog, erblaßte Bilan und fing zu stöhnen an. „Was hast du?" fragte Arachna trocken.

„Gnädige Herrin, ich beschwöre Euch bei allem, was Euch heilig ist, fordert die Zauberin Stella nicht heraus!"

„Warum nicht? Meinst du vielleicht, sie sei stärker als ich?"

„Ich zweifle nicht an Eurer Kraft, Herrin, doch wißt Ihr, daß Stella das Geheimnis der ewigen Jugend kennt?"

„Was geht mich das an, wo ich doch schon so viele tausend Jahre alt bin, daß ich gar nicht mehr weiß, wie viele es sind!" erwiderte Arachna hochmütig.

„Gut, Herrin, dann wollen wir nicht vom Alter reden", sagte Ruf Bilan. „Doch Frau Stella steht sich sehr gut mit dem mächtigen Stamm der Fliegenden Affen. Wenn ein Rudel dieser schrecklichen Tiere über Euch herfällt, bürge ich nicht für Euren Sieg, wie stark und mutig Ihr auch sein möget."

Die Hexe stutzte. Auf ihren Befehl hielt der Teppich in seinem Flug inne und hing reglos in der Luft.

„Ich habe schon einmal von den Fliegenden Affen gehört", sagte Arachna. „Vielleicht ist es wirklich ratsamer, diesen Tieren aus dem Wege zu gehen. Was meinst du, sollen wir uns lieber zu Willina begeben und von ihr die Anerkennung meiner uneingeschränkten Macht verlangen? " „Laßt doch ab von diesen Feen", flehte Bilan. „Ihr seid selbst eine Fee und wißt, verzeiht mir die Offenheit, nur zu gut, was das für ein widerliches Volk ist! Freilich ist Frau Willina alt, doch sie besitzt die Zaubergabe, den Ort ihres Aufenthalts blitzschnell zu wechseln. Jetzt ist sie da, und eine Sekunde später ist sie tausend Meilen weit von hier. Wie wollt Ihr einen Feind besiegen, den man nicht fassen kann?"

„Hast wohl recht", mußte Arachna zugeben. „Meinetwegen lassen wir die Feen in Ruhe. Außer ihnen gibt es im Zauberland doch auch noch andere Völker und Gebiete. Ich habe in Kastaglios Chronik von den Marranen gelesen, die da rückständigste Volk in diesem Landstrich sein sollen. Vielleicht fangen wir bei den Marranen an. Was meinst du, Bilan?" „Bei den Marranen, ja, bei den Marranen, Herrin!" rief Bilan erfreut. Weil er in den letzten Jahren in der Höhle geschlafen hatte, wußte er nichts von den Ereignissen, die sich im Lande der Marranen abgespielt hatten, und die Kapitel der Chronik, die darüber berichteten, hatte er auch nicht gelesen. Arachna befahl dem Zauberteppich, sie in das Marranental zu tragen. Nach mehreren Flugstunden ging der Teppich auf einem der Berge nieder, die um dieses Land einen Ring bildeten. Im Marranental hatte sich nach der Vertreibung des Feuergotts Urfin vieles verändert. Die Springer hatten eine echte Revolution durchgeführt, die Aristokraten gestürzt und aufgehört, für sie zu arbeiten. Anstelle der früheren erbärmlichen Strohhütten, in denen das einfache Volk gelebt hatte, standen jetzt kleine, aber warme und gemütliche Häuser, die schnurgerade lange Straßen bildeten. Aus den

Schornsteinen stieg Rauch auf, der davon zeugte, daß die Marranen ihre alte Furcht vor dem Feuer überwunden und es zu nutzen gelernt hatten. Anstelle der einst kümmerlichen Weizenfelder zogen sich schöne Obsthaine hin, deren Bäume mit reifen Früchten übersät waren. Auf den Berghängen weideten unter der Obhut fröhlicher Jungen Herden von Kühen und Schafen. Bei jedem Dorf gab es einen Volleyballplatz, denn dieses Spiel, das Tim O'Kelli den Springern beigebracht hatte, war jetzt zu einem Nationalsport geworden. Als die dunkle Riesengestalt Arachnas auf dem Berge vor dem Hintergrund des blauen Himmels erschien, entstand eine entsetzliche Unruhe in den Dörfern der Marranen. Frauen und Kinder versteckten sich in den Häusern, während die Männer aufgeregt meiteinander flüsterten. Bald danach zeigte sich auf der Straße, die zur Hauptsiedlung der Springer führte, die kleine Figur Ruf Bilans. Als Botschafter der bösen Zauberin kam er sich ungeheuer wichtig vor und blähte sich wie ein Pfau. Gart, Bois und Klem, die gewählten Ältesten der Marranen, liefen ihm entgegen. Sie trugen schwere Knüppel in den Händen, die Ruf Bilan Angst einflößten. Statt sie mit schmetternder Stimme anzubrüllen, wie er es sich vorgenommen hatte, stand er jetzt zitternd da und stammelte, er sei von der großen Zauberin Arachna geschickt worden, die Marranen aufzufordern, sie als Kaiserin anzuerkennen und ihr einen jährlichen Tribut zu zahlen. Die Ältesten wechselten einen Blick, und Bois sagte:

„Bestell deiner Herrin, wir bitten eine halbe Stunde Bedenkzeit, danach wollen wir vor sie treten und ihr Bescheid sagen." Bilan gewann seine Fassung wieder. Er dachte, er habe es geschafft, warf den Marranen einen hochmütigen Blick zu und stelzte von dannen. „Die Narren erbebten, als ich ihnen mit schmetternder Stimme Eure Forderung vortrug", erzählte er dann der Hexe. „Sie werden bald kommen, um Euch ihrer Ergebenheit zu versichern, und wahrscheinlich wird sich das Gespräch nur darum drehen, daß Ihr ihnen einen nicht allzu hohen Tribut auferlegt." Die Hexe dankte ihm mit einem kühlen Kopfnicken. Während sie auf die Ankunft der Abgesandten wartete, begann in der Marra-nensiedlung ein geschäftiges Treiben. Männer liefen von Haus zu Haus, die sich gegenseitig etwas zusteckten, das man aus der Ferne nicht erkennen konnte, in den Höfen flitzten Jungen hin und her, die sich oft bückten und etwas von der Erde aufhoben. Kurze Zeit später bewegte sich ein Menschenhaufen auf den Berg zu, wo Arachna stand. Es schien merkwürdig, daß darin weder Kinder noch Frauen noch Greise zu sehen waren. Der Haufen bestand aus mehreren Hundert kräftigen Männern, der Blüte des Marranenvolkes. Merkwürdig war auch, daß ein jeder die rechte Hand hinter dem Rücken hielt, als wollte er etwas verbergen.Die Hexe erwartete auf ihrem fliegenden Teppich hochmütig die herankommende

Menge, während Ruf Bilan zu ihren Füßen hockte und wie Espenlaub zitterte. Die Marranen bildeten um Arachna einen Halbkreis, aus dem die Ältesten - Klem, Bois und Gart - hervortraten.

„Frau Zauberin Arachna", sagte lauter Stimme Gart, „Ihr wollt, daß wir uns Euch unterwerfen und Euch Tribut zahlen. Wir aber haben die Fürsten, Zauberer und Götter satt! Das ist unsere Antwort!" Dabei erhob er blitzschnell seine Rechte - es war das verabredete Angriffszeichnen, und im selben Augenblick kamen die geladenen Schleudern seiner Männer zum Vorschein und spuckten Hunderte von Steinen aus. Drei trafen die breite Stirn der Hexe, zwei ihr Kinn, Dutzende ihre Schultern, Brust und Bauch. Ein großer Pflasterstein traf Ruf Bilan und warf ihn um. Der Angriff war so gut vorbereitet und kam so plötzlich, daß Arachna keinen klaren Gedanken fassen konnte. Als die Marranen sich wieder bückten, um neue Steine in ihre Schleudern zu legen, schrie sie gellend:

„Teppich, Teppich, trag mich fort von hier!"

Der Teppich flog auf, doch mehrere Steine aus den Schleudern der besten Schützen erreichten und durchbohrten ihn an einigen Stellen, wodurch der Auftrieb und folglich auch die Geschwindigkeit gehemmt wurden. Außer sich vor Wut, packte die Hexe Bilan, und es fehlte nicht viel, so hätte er daran glauben müssen. Doch da fiel ihr ein, daß der Verräter ihr noch nützen konnte. Sie lockerte den Griff, ließ ihn los und fauchte: „Das also ist die Ergebenheit, die du den Marranen beigebracht hast, du Trottel?"

Bilan entgegnete schlau: „Wenn Eure Weisheit den tückischen Plan der Marranen nicht durchschaut hat, wie könnt Ihr es dann von mir, einem einfachen Sterblichen, verlangen?"

Darauf wußte die Hexe nichts zu erwidern. Welche Ansprüche konnte sie auch an Bilan stellen, wo sie doch selbst, eine Zauberin, die schon als Kind allerlei Schlauheiten und Finten gelernt hatte, sich in eine solch plumpe Falle hatte locken lassen! Um es den Marranen heimzuzahlen, beschloß Arachna, ein Erdbeben heraufzubeschwören. Da sie aber in ihrer Gereiztheit die Beschwörung nicht ganz richtig hersagte, fiel das Beben spärlich aus: Nur ein paar Steine lösten sich von den Bergen und rollten herab, und in einigen Häusern fiel das Geschirr zu Boden und zerbrach. Hätten Arachna und Ruf Bilan den Volksmund eines weit im Norden hinter dem Ozean liegenden Landes gekannt, so hätten sie sich nach ihrem Mißgeschick vielleicht gesagt: „Aller Anfang ist schwer."

LESTARS KANONE

Zeuge der schmählichen Niederlage Arachnas war ein alter kluger Eichelhäher. Er begriff, daß die Gefahr eines Überfalls nunmehr das Violette Land bedrohte, und beschloß, sich einzumischen. Er suchte eine Schwalbe auf und sagte zu ihr:

„Fliege so schnell du kannst zum Violetten Palast und sage den anderen Schwalben, sie sollen dem Eisernen Holzfäller über die Stafette ausrichten, eine schreckliche Gefahr sei im Anzug: Eine riesige Hexe, sie ist gut dreißig Ellen groß, will sein Land erobern. Die Zwinkerer mögen sich in acht nehmen!"

Die Vogelstafette bestand im Zauberland schon sehr lange. Sie stammte von der Krähe Kaggi-Karr, die Oberster Leiter des Nachrichtenwesens war und sich um dieses Geschäft verdient gemacht hatte. In diesem Zusammenhang sei noch gesagt, daß die Menschen des Zauberlandes mit den Tieren des Waldes und mit seinen Vögeln in Freundschaft lebten. Die Natur beschenkte die Einwohner dieses Landes großzügig mit Getreide, Obst und Gemüse, und auf den Wiesen weideten so viele Rinder, Schafe und andere Haustiere, daß die Wildjagd sich völlich erübrigte. Die Menschen kamen oft den Bewohnern des Waldes zu Hilfe, vor allem in Dürrezeiten, wenn die Früchte unreif von den Bäumen fielen. Dann trugen sie von ihren Vorräten Futter in den Wald, damit die wilden Tiere nicht zu hungern brauchten. Die Tiere wiederum halfen den Menschen, wenn diesen Gefahr drohte. Eine Art dieser Hilfe war die Vogelstafette. Die schnelle Schwalbe flog wie der Wind und überholte mühelos Arachna mit ihrem Teppich, der unter den Geschossen der Marranen arg gelitten hatte. Die Nachricht wurde über die Stafette so schnell weitergegeben, daß sie drei Stunden vor Arachna eintraf. Sie löste große Aufregung aus. Um so mehr, als die Zwinkerer im letzten Jahr nach dem Sturz des Feuergottes der Marranen in Frieden und Eintracht lebten. Von bösen Zauberern und Zauberinnen war nichts zu hören, und es schien, als bedrohe jetzt nichts mehr die Ruhe des Landes. An der Wahrheit der Nachricht konnte kein Zweifel bestehen. Die Gefahr nahte, und es war das Schlimmste zu befürchten. Die Vogelstafette überbrachte nur die wichtigsten Nachrichten, was sich aber im einzelnen zutrug, meldeten die Holzboten, die früher unter Urfin Juice Polizisten gewesen waren. Der Eiserne Holzfäller war gerade von der fälligen prophylaktischen Behandlung zurückgekehrt. Man hatte ihn geputzt und abgeschmiert und die Sägespäne in seinem seidenen Herzen ausgewechselt. Als er, auf Hochglanz poliert, aus der Werkstatt trat, funkelte er so stark, daß den Beschauern die Augen weh taten.

Der Mechaniker Lestar, ein kleiner, schon alter, aber noch sehr rüstiger und lebhafter Mann, unterrichtete den Holzfäller über die heranrückende Gefahr, worauf dieser sofort mehrere Anordnungen erteilte, die von Verstand und großer Erfahrung in militärischen Dingen zeugten. Eilboten jagten durch das Land und übermittelten den Einwohnern den Befehl, die nächstgelegenen Dörfer zu räumen. Man solle, hieß es in der Verfügung des Herrschers, die Farmen verlassen und hinter den festen Mauern des Violetten Palastes Deckung nehmen. Hirten trieben ihre Herden in Schluchten, die nur ihnen bekannt waren. Ein Teil der Armee -die Bogenschützen - bezog in den steinernen Türmen Verteidigungsstellung, ein anderer plazierte sich auf dem Dach des Palastes hinter den Schornsteinen, der Rest verschanzte sich hinter großen Steinen, die am Straßenrand lagen.

Die Umgebung des Violetten Palastes verwandelte sich im Nu in ein Militärlager, das jedem Feind zu trotzen bereit war. Meister Lestar deckte die große Holzkanone ab, mit deren Hilfe einst die Zwinkerer durch einen einzigen Schuß die Holzköpfe in die Flucht geschlagen hatten. Allerdings war die Kanone nach diesem Schuß geplatzt, doch Lestar hatte sie durch Aufziehung eines eisernen Reifens über ihren Lauf sogleich repariert. Der Mechaniker besaß noch einen Teil des Pulvers, das der Einbeinige Seemann Charlie Black zurückgelassen hatte. Lestar lud die Kanone mit Pulver und stopfte dann anstelle von Kartätschen alte Nägel, zerbrochene Hufeisen und anderes eisernes Gerümpel hinein. Der Kanonier stand mit einer brennenden Lunte in der Hand neben dem gefechtsklaren Geschütz, als sich in der Ferne der fliegende Teppich mit der schwarzen Riesenfigur der Hexe zeigte. Arachna schwang einen jungen Baum in der Hand, den sie mit den Wurzeln ausgerissen hatte. Der Teppich ging in einiger Entfernung vor dem Palast nieder, und Ruf Bilan, der wieder den Unterhändler spielte, schritt auf den Eisernen Holzfäller zu. Anstelle der weißen Fahne schwenkte er ein Handtuch, das er in der verlassenen Hütte eines Zwinkerers geklaut hatte. Der Holzfäller erkannte Bilan sofort. „Du bist es, Verräter?" fragte er verächtlich. „Hat man dir im Unterirdischen Land denn nicht das Genick gebrochen?" „Warum sollte man mir das Genick brechen?" erwiderte Bilan trotzig. „letzt geht es übrigens nicht um meine Person, sondern um eine Angelegenheit, die euch hier angeht. Siehst du dort in der Ferne die mächtige Zauberin Arachna? Ich bin ihr Botschafter." „Und was sollst du mir ausrichten?" fragte der Holzfäller. „Vor allem fordert sie von euch bedingungslose Unterwerfung, und außerdem sollt ihr sie als eure Königin für alle Zeiten anerkennen!" „So, so. Ist das alles?" fragte der Holzfäller ruhig.

„Oh, nein! Ihr werdet der Königin einen jährlichen Tribut von tausend Ochsen und zweitausend Hammel zahlen und außerdem Gänse und Enten, soviel sie braucht. Vorerst aber werdet ihr für die Gebieterin drei Ochsen und fünf Hammel braten, ich für mein Teil will mich mit einem fetten Huhn begnügen. Ihr müßt wissen, daß ich und die Gebieterin von der Reise recht hungrig sind."

„Haben euch die Marranen denn nicht mit einem kräftigen Frühstück bewirtet?" fragte der Eiserne Holzfäller mit gespielter Einfalt. Bilans Augen traten fast aus den Höhlen. Er begriff, daß die Niederlage, die Arachna von den Springern eingesteckt hatte, auf irgendeine Weise im Violetten Land bekannt geworden war. Sein ganzer Hochmut war dahin. „Werdet ihr euch Arachna unterwerfen?" konnte er nur noch lallen. „Geh zu deiner Herrin und sage ihr, daß wir bis auf den letzten Mann kämpfen werden!" schrie der Holzfäller zornig. „Und merke dir, wenn deine Knochen noch heil sind, so hast du es nur der Flagge des Parlamentärs zu verdanken, die du geschwenkt hast." Die Axt in seiner eisernen Faust schnellte zischend hoch und erstarrte über dem Kopf des Verräters. Das Gesicht weiß wie die Wand, taumelte Bilan zu seiner Herrin zurück. Als die Hexe seinen Bericht hörte, sprang sie zornig auf und stürmte, den Baumstamm als Stütze benutzend, auf die Zwinkerer zu. Von den Türmen und dem Dach des Palastes und den Steinen am Straßenrand flogen ihr unzählige Pfeile entgegen. Sie drangen ihr in Stirn und Wangen, blieben in ihrem Kleid stecken und trafen die nackten Knöchel. Für die Riesin waren es jedoch nicht mehr als Nadelstiche, obwohl Nadelstiche ja auch nicht gerade angenehm sind. Trotzdem drang Arachna weiter vor, und ihr riesiger Knüppel riß bei jedem Schritt tiefe Löcher in der Erde auf. Wie bedauerte es jetzt der Eiserne Holzfäller, daß er in den ersten Tagen seiner Herrschaft befohlen hatte, die hohe Mauer mit den scharfen Nägeln oben zu schleifen, die zu Bastindas Zeiten den Violetten Palast umgab. Allerdings hatte diese Mauer dem Palast das Aussehen eines Gefängnisses verliehen, doch jetzt hätte sie vielleicht den Ansturm Arachnas aufgehalten... In diesem Augenblick ging ein ohrenbetäubender Schuß aus der Kanone Lestars. Die Kartätschen, die die Brust der Hexe aus naher Entfernung trafen, hatten eine überraschende Wirkung. Arachna wankte, und es fehlte nicht viel, so wäre sie hingefallen. Wenngleich die Wunde nicht tödlich, ja nicht einmal gefährlich war, schien es ihr doch, als hätte sie die Faust eines Riesen getroffen, der ebenso stark wie sie sein mußte, und der Donner der Kanone kam ihr wie die Stimme eines wutschnaubenden Ungeheuers vor... Vor Schreck ließ Arachna den Baumstamm fallen und lief so schnell sie konnte zum Zauberteppich zurück. Auf der Flucht zertrat sie zwei Wehrtürme, aus denen die Soldaten allerdings rechtzeitig in den Graben hinabgesprungen waren. In ihrer blinden Hast verlor die Hexe ihre Lederschuhe, doch sie hielt nicht, um sie aufzuheben. Mit diesen Schuhen geschah später folgendes: Da sie wasserdicht waren (ob man sie mit einer besonderen Lösung getränkt oder ob Arachna sie verzaubert hatte - das weiß heute niemand mehr), befahl der Eiserne Holzfäller, sie zum großen Fluß zu tragen, wo die Zwinkerer sie mit Masten, Segeln, Steuer und Deck versahen, wodurch sie sich in Schiffe verwandelten, die den Namen „Die Rechte" und „Die Linke" erhielten. Sie wurden der Flotte des Violetten Landes übergeben, und die Zwinkerer unternahmen mit ihnen weite Reisen und transportierten verschiedene Güter. „Die Rechte" und „Die Linke" zeichneten sich durch große Ladefähigkeit aus und waren sehr wendige Fahrzeuge. Doch ihre merkwürdigste Eigenschaft bestand darin, daß sie die Krokodile verscheuchten, von denen es im Fluß wimmelte. Holzschiffe wurden von diesen Ungeheuern oft überfallen, und man mußte sie mit Pfeilen und Lanzen abwehren. Doch wenn die Krokodile die Lederschiffe erblickten, stoben sie entsetzt auseinander. Wahrscheinlich schreckte sie das ungewöhnliche Aussehen dieser Fahrzeuge, oder es behagte ihnen nicht der Geruch, der von ihnen ausging. Wie dem auch sei, die Lederschiffe übten eine starke Anziehungskraft auf die Zwinkerer aus, und ein jeder begehrte es, mit ihnen zu fahren. Die Schlacht der Zwinkerer mit der mächtigen Arachna dauerte nicht mehr als zehn Minuten. Als Arachna Reißaus nahm, brachen alle Anwesenden in ein Siegesgeheul aus. Die Hexe auf dem Teppich aber dachte bei sich:

„Urfin Juice hatte recht, als er sagte, freiheitliebende Völker seien nicht so leicht zu unterwerfen. Aber ich gebe dennoch nicht auf!..." Sie befahl dem Teppich, zur Smaragdenstadt zu fliegen. Arachna wußte nicht, daß über die Vogelstafette bereits ein Bericht über alles, was sich im Marranental und vor dem Violetten Palast zugetragen hatte, an den Scheuch abgegangen war und daß dieser Bericht vor ihr eintreffen würde.

DER NÄCHTLICHE STURM

Während Arachnas Teppich mit der Geschwindigkeit eines alten, wackligen Eisenbahnzugs dahinsegelte, fraß in ihr die Erinnerung an die Erniedrigungen, die sie von den Marranen und der Zwinkerern erlitten hatte. „Wie war es möglich, daß diese Jammerlappen eine so mächtige Zauberin wie ich es bin, eine Zauberin, die nur ein Hurrikap besiegen konnte, in die Flucht geschlagen haben?" fragte sie sich. Aber wie groß ihr Ärger auch war, sie mußte eingestehen, daß sie die Schwächere gewesen war.

„Das kommt daher, daß ihrer viele sind, während ich ganz allein dastehe", folgerte sie. „Der elende Feigling, der da zu meinen Füßen sitzt und mit den Knien schlottert, kann doch nicht als Helfer zählen! Selbst mit dem einfachsten Auftrag wird er nicht fertig. Doch wen soll ich mir schon als Bundesgenossen wählen?..."

Nach langem Überlegen sagte sie sich, daß im Zauberland weder Menschen noch Tiere vorhanden sind, die ihr zu helfen bereit wären. „Dann werde ich eben allein weiterkämpfen!" knirschte Arachna. „Und Urfins Geschwätz werde ich mir aus dem Kopf schlagen!" Wenn sie als Zauberin so dachte, so bedeutete das zweifellos, daß sie die Prophezeiungen des ehemaligen Königs nicht vergessen konnte. Die Stimmung der Hexe war schrecklich. Nicht nur, weil sie zwei Niederlagen erlitten hatte, sondern auch, weil ihre nackten Füße froren und der Hunger sie plagte. Sie hatte einen ganzen Tag nichts zu sich genommen und hätte jetzt wohl eine ganze Ochsenherde verschlingen können. Doch weit und breit war kein Vieh zu sehen. Die Farmen, an denen sie vorbeikamen, waren leer, denn die Vögel hatten über ihre Stafette die Farmer gewarnt, und diese hatten ihr Vieh versteckt und hielten sich selbst an Orten verborgen, die niemand erspähen konnte. Es blieb Arachna nichts anderes übrig, als vor einem Obsthain niederzugehen und sich mit Früchten vollzustopfen, obwohl sie diese gar nicht mochte. Nachdem sie ihren Hunger leidlich gestillt hatte, flog sie weiter. Unterdessen hatte die Vogelstafette die Nachricht vom Nahen der Hexe bereits zur Smaragdeninsel getragen. Der Scheuch berief sofort seinen Stab ein. Als erster erschien Feldmarschall Din Gior, der seinen prächtigen knielangen Bart mit einem goldenen Kamm gekämmt hatte. Dann trafen der Versorgungschef der Armee Faramant und die Leiterin des Nachrichtenwesens Kaggi-Karr ein. Bevor man Entscheidungen traf, mußte man genau wissen, welche Gefahr drohte. Auf einem kleinen Tisch stand der Kasten mit dem Bildschirm, den Elli einst dem Scheuch geschenkt hatte. Die Mitglieder des Stabs nahmen vor dem Fernseher Platz, und der Scheuch sprach:

„Birelija-turelija, buridakl-furidakl, es röte sich der Himmel, es grüne das Gras - Kästchen, Kästchen, bitte zeig uns das: Zeig uns die Hexe mit dem Zauberteppich!"

Auf dem Schirm begann es zu flimmern, dann erschien vor dem Hintergrund des Himmels ein Teppich, auf dem eine riesige Frau saß. Bei ihrem Anblick wurde es nicht nur den Stabsmitgliedern, sondern sogar dem Scheuch unheimlich. Grausig war das Aussehen der Hexe mit dem langen blauen Gewand, dem grimmigen roten Gesicht und dem Büschel pechschwarzer Haare auf dem Scheitel. Zu ihren Füßen kauerte eine kleine Figur, in der der Scheuch und seine Gefährten sofort Ruf Bilan erkannten. „Oh, da ist ja auch der Verräter!" rief Faramant überrascht aus. „Völlig unverständlich, wie der zur Hexe gekommen und ihr Kumpan geworden ist!" „Lump zu Lump gesellt sich gern", schnarrte die Krähe wütend. „Es soll mich nicht wundern, wenn irgendwo in der Nähe auch der ehrsüchtige Urfin Juice auftaucht. Ist doch auch einer von dieser Sorte..." Im Scheuch erwachte die Neugier.

„Laßt uns sehen, wo das Früchtchen steckt. Einen Feind soll man beobachten, sooft man nur kann. Ich habe zu selten Stellas Geschenk benutzt, ja diesen Vorwurf kann ich mir nicht ersparen." Er wandte sich dem Fernseher zu und sprach: „Birelija-turelija, buridakl-furidakl, es röte sich der Himmel, es grüne das Gras - Kästchen, Kästchen, bitte zeig uns das: Zeig uns Urfin Juice, wo immer er auch sein mag." Da erschien auch schon auf dem Bildschirm eine schöne Wiese mit einem schmucken Häuschen in der Mitte und Bauten im Hintergrund. Vorne stand in einem Gemüsegarten Urfin auf den Knien und jätete ein Gurkenbeet. Daneben hockte die Eule Guamoko. Der Scheuch und seine Gefährten hörten, was die beiden sprachen:

„... so, so, um nichts in der Welt?" sagte die Eule, die wahrscheinlich einen Satz beendete. „Um nichts in der Welt", bestätigte Urfin. „Sie tat alles, um mich zu überreden, doch ich blieb fest und wiederholte: Bei diesem Unfug mach ich nicht mit!"

„Buchstäblich so hast du gesagt, Herr?" „Buchstäblich!" „Und was hat sie darauf erwidert?"

„Sie hat mit den Füßen getrampelt und gebrüllt, daß die Höhle erzitterte und beinahe einstürzte. Ich, kreischte sie, bin eine mächtige Zauberin, ich, kreischte sie, zerdrücke dich wie eine Fliege, wenn du nicht gehorchst und nicht in meine Dienste trittst!" „Und du?"

„Ich sagte nur: Auch wenn Ihr mich zerdrückt, gegen mein Volk ziehe ich nicht! Ich habe ihm genug Böses zugefügt..." „Und was tat die Hexe dann?" „Sie fuchtelte mir mit der Faust vorm Gesicht, und ich muß dir sagen, diese Faust war fast so groß wie mein Haus..."

Der Scheuch und seine Freunde blickten sich verdutzt an. Es war fast nicht zu glauben, daß das derselbe Urfin war, der sich zweimal zum Herrscher des Zauberlandes aufgeworfen hatte. Natürlich wußten die Zuhörer nicht, daß dieser ehemalige König bei der Wiedergabe seines Gesprächs mit Arachna reichlich übertrieb und daß er gehörig auflegte, als er von den Drohungen der Hexe erzählte. Doch im wesentlichen stimmte es schon, was er sagte, im wesentlichen sprach er die Wahrheit! Denn hätte er dem Drängen der Hexe nachgegeben, würde er jetzt wohl doch neben ihr auf dem fliegenden Teppich sitzen und nicht in seinem fernen Garten auf dem Gurkenbeet Unkraut jäten. Urfin und die Eule sprachen jetzt über etwas anderes, doch der Scheuch hatte genug gehört. Er wußte nun, daß Urfin kein Feind, sondern eher ein Verbündeter war, und daß er allem Anschein nach den Menschen helfen würde, wenn sie ihn riefen. Der Scheuch stellte den Fernseher ab. Jetzt wußten er und sein Stab, mit wem sie es zu tun hatten. Sie verspürten aber keine große Angst. Sie erinnerten sich, wie sie die Smaragdenstadt gegen Hunderte Holzköpfe Urfins und ein ganzes Marranenheer verteidigt hatten... Diesmal war der Feind nur eine Person, freilich von gewaltigem Wuchs und ungeheurer Kraft, aber immerhin nur eine Person, denn Ruf Bilan zählte ja nicht. Bis zur Ankunft Arachnas würden noch ein Tag und eine Nacht vergehen, das war klar, und die Einwohner gingen ungesäumt daran, Verteidigungsanlagen zu bauen. Von den Vögeln hatten die Militärführer der Stadt bereits erfahren, daß die Hexe einen ganzen Obsthain vertilgt hatte, woraus man schließen konnte, daß sie sehr hungrig sein mußte. Man ergriff also Maßnahmen, damit sie keine Nahrungsmittel bekam. Alle Farmen der Umgebung leerten sich. Ein Teil des Viehs wurde in die Stadt getrieben, der andere an Orten versteckt, die selbst ein geschickter Detektiv nicht hätte aufspüren können. Auf den Stadtmauern tauchten wieder große Wasserkessel auf, unter denen Reisigfeuer brannten. Hinter den steinernen Zinnen verbargen sich Schützen mit Pfeil und Armbrust, und Din Gior, der seinen Bart auf den Rücken gelegt hatte, stellte die Schleudern auf, mit denen man gewaltige Steine abschießen konnte. Als Arachna sich der Smaragdeninsel näherte, ahnte sie nicht, daß ein Mann am Zauberkasten jede ihrer Bewegungen verfolgte. Selbst ihr Gespräch mit Ruf Bilan gab der Bildschirm Wort für Wort wieder: „Wir werden uns nachts heranschleichen", sagte die Hexe vertraulich zu ihrem Gefährten. „In der Stadt weiß man natürlich nichts von meinem Vorhaben, und die Einwohner werden ruhig schlafen. Ich aber werde über die Stadtmauer steigen, in den Palast eindringen und ihren Herrscher, diesen Strohmann, packen, über den aus unerfindlichen Gründen Legenden umgehen. Dann wollen wir sehen, ob seine Untertanen sich mir entgegenzustellen wagen... "

Ruf Bilan bezweifelte sehr, daß man in der Smaragdenstadt nichts über das Nahen der Hexe wußte. Aber er behielt seine Zweifel wohlweislich für sich. Faramant, der am Fernseher Dienst hatte, bog sich vor Lachen bei der Vorstellung, wie die riesige Arachna sich anstrengen würde, ihren Leib durch die Türen des Palastes zu zwängen, die doch nur normale Menschen passieren konnten.

„Du sollst was erleben, du Angeberin! Wir werden dir mit unseren Fackeln einen geziemenden Empfang bereiten", brummte Faramant, die Faust vor dem Bildschirm schüttelnd. Die Hexe wartete ab, bis die Nacht hereinbrach, und pirschte sich dann an die Smaragdenstadt heran. Wie überrascht war sie aber, als sie diese von einem breiten Kanal umgeben sah, über den keine Brücke führte. Allerdings war eine Fähre da, doch die lag am anderen Ufer. Das hinderte die Hexe, ungesehen in die Stadt einzudringen.

„Warum hast du mir nicht gesagt, du Trottel, daß eure Stadt auf einer Insel liegt?" fauchte die Hexe Ruf Bilan an.

Der Verräter stammelte: „Ich schwöre bei meinem Leben, Herrin, vor zehn Jahren war das nicht so! Man hat diesen Kanal gegraben, als ich nicht mehr da war." „Tölpel !" sagte Arachna verächtlich. „Hoffentlich ist das Wasser nicht allzu tief."

Sie ließ den Teppich am Ufer, gebot Ruf Bilan, auf ihn aufzupassen, und stürzte sich in den Kanal. Zuerst reichte ihr das Wasser bis an die Knie, dann bis an den Bauch, dann wurde es tiefer und tiefer... Als nur noch die Schultern der Riesin und der Kopf mit dem gewaltigen schwarzen Haarbüschel über dem Wasser ragten, schlugen Flammen auf der Stadtmauer hoch, und es leuchteten viele Laternen auf. In den Händen der Bürger brannten plötzlich Hunderte Pechfackeln, und ringsum war es hell wie am Tage. Din Gior und seine Gehilfen machten sich an den Schleudern zu schaffen. Sie klinkten die aus Büffelsehnen gedrehten Seile aus, welche Springfedern ersetzten, worauf die Enden der langen Stangen Hochschnellten und gewaltige Steinbrocken von sich gaben. Geschosse peitschten das Wasser um die Hexe auf. Die Riesin wich ihnen aus, bis ein schwerer Mühlstein sie am Scheitel traf. Das Haarbüschel schwächte allerdings den Schlag ab, und außerdem war der Schädel der Hexe auch nicht so leicht zu durchschlagen, trotzdem verlor Arachna einen Augenblick lang das Bewußtsein und versank im Wasser des Kanals.

Die Bürger auf den Mauern jauchzten vor Freude, doch die Hexe kam schnell wieder zu sich und tauchte aus dem Wasser empor. Ihr war nun

klar, daß der Plan, unbemerkt in die Stadt einzudringen und den Scheuch zu überrumpeln, gescheitert war, und deshalb schwamm sie, so schnell sie nur konnte, zurück zum Ufer. Ein Hagel von Pfeilen folgte ihr und bohrte sich in ihren ungeschützten Nacken. Es war, als hätte sich ein aufgescheuchter Wespenschwarm auf die riesige Frau gestürzt. Von Schmerz und Angst überwältigt, kroch die Hexe mit ungeheurer Anstrengung aus dem Wasser, ließ sich auf den Teppich fallen und lallte: „Fffort, ffort von hiiier, fffort von ddiesem schre-schrecklichen Ort!"

Das letzte, was sie hörte, als der Teppich aufflog, waren die Worte: „Arr-rachna Dreck-zeug!"

Das schrie ihr Kaggi-Karr nach, während die jubelnden Bürger den Scheuch, Faramant und den Feldmarschall Din Gior mit dem wallenden Bart schauckelten.

„Hätte ich auch nur ein Regiment solch tapferer Soldaten, ich würde mit ihm den ganzen Kontinent erobern...", krächzte Arachna mit schwacher Stimme.

DER VORFALL MIT DEM TEPPICH

Während der Teppich Kurs auf das Land der Unterirdischen Erzgräber hielt, dachte die Hexe:

„Im ersten Gefecht mit den Menschen bin ich mit blauen Flecken an Stirn und Kinn davongekommen; im zweiten trat mich ein brüllendes Ungeheuer in die Brust, und ich verlor meine Schuhe; im dritten schlug es mir fast den Schädel ein, und ich war dem Ersaufen nahe... Je weiter, desto schlimmer. Was blüht mir jetzt? Der Tod, wie dieser Möchtegern von einem König mir prophezeit hat? Vielleicht soll ich doch lieber umkehren und zur Höhle fliegen und den Rest meiner Tage als Herrscherin der Zwerge verbringen, die so treu zu mir halten?... Das wäre wohl ein ruhiges Leben. Aber nein, ich muß mein Schicksal bis zur Neige auskosten!..." Trotz und Grimm trieben Arachna neuen, vielleicht noch gefährlicheren Abenteuern entgegen. Sie fand im Walde eine Lichtung, auf die sie mit dem Teppich niederging, wrang die nassen Kleider aus und trocknete sie über einem Feuer. Dann wälzte sie sich die ganze Nacht schlaflos auf der harten Erde. Der vor Angst zitternde Ruf Bilan bedauerte jetzt, sich mit Arachna eingelassen zu haben. „Mit ihr", sagte er sich, komme ich nicht zu Reichtum und Ehren. Allem Anschein nach werde ich am Galgen verrecken." Als er zu fliehen versuchte, erwachte Arachna und fuhr ihn so barsch an, daß ihm das Blut in den Adern gerann.

„Wenn das noch einmal vorkommt, schlag ich dich tot!" knirschte die Hexe. Der Teppich erhob sich wieder in die Luft, und sie flogen weiter. Um die Mittagszeit zeigte sich das Land der Unterirdischen Erzgräber. Natürlich war man dort über das Vorhaben Arachnas bereits unterrichtet und auf einen Überfall vorbereitet. Frauen, Kinder und Greise hatten Verstecke aufgesucht, während die Männer zu ihren Schwertern und Dolchen griffen. Für die Riesin waren diese Waffen freilich nicht gefährlicher als Zahnstocher, doch die Erzgräber hatten auch für andere Überraschungen gesorgt. Vor allen Dingen hatten sie das Dorf mit Sechsfüßern umstellt. Allerdings reichten diese Tiere der Zauberin nur bis an die Knie, doch wenn ein wilder Rudel dieser Ungetümer mit ihren mächtigen Hauern und scharfen Krallen über sie herfiele, würde es ihr bestimmt nicht gut ergehen.

„Ich will nicht zu anspruchsvoll sein und mich mit dem Titel einer Herrscherin der unterirdischen Erzgräber zufriedengehen, den Tribut erlasse ich ihnen", sagte die Hexe zu Ruf Bilan.

Nach den Niederlagen, die sie erlitten hatte, waren die Ansprüche der Hexe viel bescheidener geworden. Auf ihren Befehl begann der Teppich über dem Dorf zu kreisen, denn sie wollte auskundschaften, ob die Erzgräber nicht noch andere Kampfmittel besaßen. Als sie einen Palmhain überflog, schoß aus den Bäumen ein schuppiger eimergroßer Kopf hervor, und es tat sich ein Rachen voller Zähne auf, der einen Zipfel des Teppichs schnappte. Dabei neigte sich der Teppich zur Seite, so daß Arachna fast das Gleichgewicht verlor und Bilan bis an den Rand des Teppichs rollte. Er wäre bestimmt abgestürzt, hätte die Hexe ihn nicht rechtzeitig mit ihrer riesigen Pranke gepackt und festgehalten. Es entspann sich ein Kampf zwischen der Hexe und dem Drachen. Arachna befahl mit gellender Stimme dem Teppich, hochzufliegen, doch Oicho, der Drachen, zerrte ihn verbissen herunter. Da das geflügelte Ungeheuer sehr kräftig war, begann der Teppich abzusinken. Schon streckte der Drache seine mächtige Tatze aus, um ihn zu umklammern, doch in diesem Augenblick riß der Teppich, und ein großes Stück löste sich von ihm los und blieb in den Zähnen des Drachen. Oichos Kopf tauchte mit dem abgerissenen Zipfel im Hain unter, während der Rest des Teppichs sich sonderbar zu bauschen begann und dann mit seinen Insassen wieder hochflatterte. Wir wollen hier gleich erzählen, was später mit dem Zipfel des Zauberteppichs im Land der Unterirdischen Erzgräber geschah. Er hatte sich einen der Größe angemessenen Teil der Auftriebkraft erhalten, die ausreichte, um einen Menschen in der Luft zu tragen. Die Erzgräber reinigten das Stück Teppich, stopften und besäumten es, und als dies geschehen war, benutzte es der Herrscher des Landes, Ruschero, für Geschäftsreisen. Einmal flog er mit dem Zipfel sogar zu seinem Freund Prem Kokus, dem Herrscher des Landes der Käuer.

Nach dem Gefecht mit Oicho knirschte die Hexe: „Mir reicht's! Jetzt sehe ich, wie recht Urfin hatte! Die Völker hängen an ihrer Freiheit, sie wollen nicht auf sie verzichten..." Und sie befahl dem Teppich: „Fliege zurück! Zur Höhle!"

Ruf Bilan aber lispelte: „Gnädige Herrin, noch waren wir nicht bei den Käuern! Ich versichere Euch: Ihr braucht Euch nur zu zeigen, und sie werden sich auf der Stelle unterwerfen. Das sind die schüchternsten und friedlichsten Menschen auf der Welt, sie fürchten sich schrecklich vor jeder Waffe. Schon der Anblick eines Küchenmessers läßt sie erbeben. Fliegen wir zu den Käuern, Herrin!"

„Schön, ich will das letzte Mal auf deinen Rat hören", erwiderte die Hexe finster. „Teppich, du sollst uns jetzt zu den Käuern tragen!" Die Käuer waren in der Tat schüchterne und friedliche Menschen, und man durfte annehmen, daß sie es niemals wagen würden, sich in einen Kampf mit der mächtigen Zauberin einzulassen. Doch sie fanden ein anderes Mittel, um sich ihrer zu erwehren. Die Vogelstafette hatte sie längst von der Absicht der Hexe unterrichtet, und sie verbargen sich in den dichten Wäldern und Erdhütten, deren es viele in ihrem Lande gab. Schon ein Jahr zuvor, als sie sich auf den Überfall der Marranen vorbereiteten, hatten sie in den Wäldern geräumige Unterstände gebaut, in denen sie jetzt mit ihren Familien und ihrem Vieh Zuflucht fanden. Als die Hexe auf ihrem heftig schlingernden Teppich schließlich das Blaue Land erreichte und mit ihrem Diener in den hübschen freundlichen Dörfern der Käuer zu stöbern begann, fand sie kein Lebewesen und auch nichts Eßbares vor. Nur in einer Hütte gewahrte sie einen zurückgelassenen Kater, den sie wütend am Schwanz packte und mit solcher Wucht gegen einen Baum schmetterte, daß von dem armen Tier nichts übrigblieb.

„Du hast dasselbe verdient, verdammter Lügner!" fauchte sie den schlotternden Ruf Bilan an. „Es wird den Einwohnern des Zauberlandes eine Freude sein, sich einer so mächtigen Gebieterin wie Euch zu unterwerfen! Haha!" wiederholte sie höhnisch die Worte, die der Verräter einmal gesagt hatte. „Wo ist nun diese Freude geblieben, sag, wo ist sie! Ich sehe keine Spur davon!"

Bei diesen Worten vergingen dem Knirps Hören und Sehen, und er zitterte wie Espenlaub. Als die beiden mit dem Teppich wieder aufstiegen, glitten unter ihnen langsam in Nebel gehüllte Felder und Wälder dahin.

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