SCHWERE TAGE DES ZAUDERLANDES

DER GELBE NEBEL

Mit Ach und Krach schaffte der beschädigte Teppich den Rest des Weges zur Höhle. Beim Anblick der zu ihrem Empfang herbeigeeilten Zwerge befahl die Hexe barsch: „Essen her! Gebratene Ochsen! Aber dalli!" Über drei Feuern wurden Ochsen gebraten, die einer nach dem anderen im Rachen der Riesin verschwanden. Die Köche fielen vor Müdigkeit fast um, als die Hexe vom Tisch aufstand. „Jetzt will ich schlafen", brummte sie.

Doch bevor sie sich hinlegte, befahl Arachna den Zwergen, ihr ein Paar neue Schuhe zu nähen. Kastaglio, der Chronist, war sehr neugierig, wo die Schuhe der Herrin geblieben waren, doch er wagte es nicht, sie danach zu fragen. Seine Neugier befriedigte Ruf Bilan. Der klatschsüchtige Verräter konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Geschichte der traurigen Abenteuer Arachnas wiederzugeben. Kastaglio trug sie in den letzten, unabgeschlossenen Band der Chronik ein, und dadurch sind die damit zusammenhängenden Begebenheiten auch uns bekannt geworden. Kaum hatte sich die Zauberin hingelegt, da versank sie auch schon in einen tiefen Schlaf. Drei Wochen hintereinander schlief sie, und die Zwerge hofften schon, ihr Schlaf werde wieder viele Jahre dauern. Die kleinen Menschlein wagten es jedoch nicht, den Befehl der Gebieterin zu mißachten, und nähten ihr ein Paar neue Schuhe. Das war keine leichte Aufgabe! Zur Erfüllung des Auftrags waren die Häute von Hundert Ochsen notwendig, die sich in den Vorratsspeichern des vorsorglichen kleinen Volkes fanden. Man nahm das Fußmaß der schlafenden Hexe, und dreißig Schuster begannen auf der Wiese vor der Höhle die Schuhe zuzuschneiden, während zehn Gehilfen den Zwirn drehten und pechten. Die Sohlen schafften die Schuster mit Leichtigkeit, doch die Oberteile bereiteten ihnen viel Mühe, und erst als Leitern herangeschafft wurden, ging ihnen die Arbeit etwas schneller von der Hand. Beim Nähen der Schuhe wurden vierhundertsiebzehn Knäuel Zwirn verbraucht und siebenhundertvierundfünfzig Ahlen zerbrochen, denn das Leder war dick, und man mußte in einer unbequemen Lage arbeiten. Das alles kostete viel Schweiß, doch als Arachna erwachte, standen die riesigen Schuhe fertig vor ihr. Die Hexe zog sie an und war zufrieden, sie mußte zugeben, daß es gediegene Arbeit von Handwerkern war, die ihr Fach beherrschten.

„Bringt mir das Essen!" befahl sie.

Als sie satt war, legte sie sich in die Sonne und dachte nach, wie sie sich an den Menschen rächen könnte. „Nehmen wir an, ich versuche, ihnen ein markiges Erdbeben zu bescheren", überlegte Arachna. Das wird mir wahrscheinlich nicht gelingen. Wenn ich nicht einmal das Marranental gehörig durchschütteln konnte, wie sollten mir die Kräfte für das ganze Zauberland reichen? Vielleicht soll ich Heuschrecken auf sie hetzen? Vor meinem langjährigen Schlaf pflegte mir das zu gelingen. Die Heuschrecken werden das Korn auf den Feldern, das Gras auf den Wiesen und die Früchte in den Obstgärten auffressen... Aber was wird dann geschehen? Das Vieh wird vor Hunger krepieren, und ich selbst werde dann nichts zu essen haben. Nein, das kommt nicht in Frage! Was habe ich noch auf Lager? Aha, die Überschwemmung. Damit werde ich sie schon kleinkriegen! Wenn es drei Wochen unaufhörlich gießt, die Flüsse aus den Ufern treten und die Menschen auf die Dächer flüchten, um sich vor der Flut zu retten, ja, dann werden sie heulen!" Doch im selben Augenblick beschlichen sie Zweifel: „Schön, sie werden heulen, doch was hab ich davon? Sie werden nicht glauben, daß ich ihnen das Hochwasser geschickt habe, sondern sagen: Die Natur! Das kommt von der Natur! Und niemand wird es ihnen ausreden können!" Arachna lag lange da und zerbrach sich den Kopf, dann sprang sie plötzlich auf und stieß einen Freudenschrei aus: „Ich hab's! Der Gelbe Nebel! Das wird für sie eine Bescherung sein! Oh, der Gelbe Nebel! Ich entsinne mich, wie meine Mutter Karena die stolzen Taureken mit dem Gelben Nebel kleingekriegt hat. Nur zwei Wochen hielten sie es aus, dann kamen sie voller Demut und unterwarfen sich ihr. Ja, der Gelbe Nebel ist wohl das Richtige! Ich kann ihn hervorrufen und nach Belieben wieder abstellen, also werden alle Menschen verstehen, daß die Zauberei von mir ausgeht... Vor allen Dingen aber hat es diesen Nebel noch nie im Zauberland gegeben, und er wird für die Menschen und für die Tiere eine schreckliche Neuheit sein!"

Die Hexe ging in die Höhle zurück, jagte die Zwerge hinaus, damit sie sie nicht beobachten konnten, und nahm aus einem Geheimfach das Beschwörungsbuch. Obwohl inzwischen Jahrtausende vergangen waren, hatte sich das Buch, das auf Pergament geschrieben war, gut erhalten. Arachna blätterte eine Weile, bis sie die Seite fand, die sie suchte. „Paß auf", sagte sie zu dem Buch, „ich warne dich: Du hast meinen Befehl zu erfüllen, wenn ich sage: Eins, zwei, drei! Aber merke dir: Der Gelbe Nebel darf nicht in die Besitzungen Willinas und Stellas eindringen. Ich möchte mich mit diesen Angeberinnen nicht einlassen, denn niemand weiß, was für Zaubereien sie noch vorrätig haben und womit sie es mir vergelten könnten. Zum zweiten: Der Gelbe Nebel darf sich nicht auf die Umgebung meiner Höhle, über meine Felder und Obsthaine oder über die Wiesen ausbreiten, auf denen meine Herden weiden. Und nun höre: Uburru-kuruburru, tandarra-andabarra, faradon-garabodon, schabarra-scharabara, erscheine, Gelber Nebel, über dem Zauberland, eins, zwei, drei!" Kaum hatte sie die letzten Worte ausgesprochen, da hüllte auch schon ein seltsamer gelber Nebel das ganze Zauberland, mit Ausnahme der Besitzungen Willinas, Stellas und Arachnas, ein. Der Nebel war nicht sehr dicht, man konnte durch ihn hindurch die Sonne sehen, doch schien sie jetzt wie eine große, fahle rote Scheibe, so, wie sie gewöhnlich vor dem Untergang schien, und man konnte auf sie schauen, ohne die Augen schließen zu müssen. Der Leser wird vielleicht meinen, der Gelbe Nebel sei kein sehr großes Unglück für das Zauberland gewesen, doch er gedulde sich eine Weile, denn aus der folgenden wahrheitsgetreuen Geschichte wird er erfahren, was dieser Nebel alles angerichtet hat. Fangen wir damit an, daß der Zauberfernseher im Palast des Scheuchs zu funktionieren aufhörte. Durch ihn hatten der Herrscher der Smaragdeninsel und seine Freunde die Mißerfolge Arachnas ständig beobachten können. Sie hatten gesehen, wie der schlaue Drache ein großes Stück des fliegenden Teppichs abgerissen hatte und wie der Teppich nachher nur noch wie ein weicher Lappen in der Luft flatterte. Sie hatten lachend zugeschaut, als Ruf Bilan in den von den Käuern verlassenen Dörfern nach etwas Eßbarem stöberte und jedes Mal mit leeren Händen zu seiner Herrin zurückkehrte. Die Art, wie die Hexe den armen Kater fertigmachte, hatte den Scheuch und seine Freunde vor Zorn erbeben lassen, und als sie später Arachna beim Gelage zusahen, bogen sie sich vor Lachen. „So eine Freßgier!" riefen sie, als ein Ochse nach dem anderen vom Tisch in den unermeßlichen Magen Arachnas wanderte. Mit Staunen hatten sie beobachtet, wie die Zwerge die gewaltigen Schuhe für Arachna nähten, und sie hatten das Geschick und den Fleiß der kleinen Menschlein bewundert. Der Scheuch und seine Gefährten ließen sich vom Zauberkasten auch zeigen, was im Marranental und im Land der Zwinkerer geschah. Sie hatten gesehen, daß nach dem Sieg über die böse Hexe alles wieder in Ordnung kam und jedermann erneut seinen Geschäfen nachgehen konnte. Und plötzlich war von alldem nichts mehr zu sehen: Der Bildschirm zeigte nur noch einen flatternden trüben Nebelvorhang. Die Kontrolle über die Handlungen des Feindes war verloren, und niemand konnte voraussagen, was Arachna jetzt unternehmen werde.

DER BOTSCHAFTER ARACHNAS

Im Gelben Nebel hatte sich die Sicht sehr verkürzt. Bis auf fünfzig Schritt konnte man die Gegenstände noch irgendwie unterscheiden, doch was weiter lag, verschwand im trüben Dunst, und das wirkte beklemmend. Die Welt eines jeden Menschen war jetzt sehr klein geworden. Was sich jenseits dieser winzigen Welt zutrug, konnte man nur noch an den Tönen erraten, die herüberdrangen, doch auch diese wurden durch den Nebel verzerrt. Man konnte eine menschliche Stimme für das Krächzen eines Raben halten und das Schlagen von Pferdehufen mit Trommelwirbel verwechseln. Alles, was die Menschen umgab, schien jetzt seltsam und ungewöhnlich. Man hielt den Gelben Nebel für eine Naturerscheinung, ahnte nicht, daß es eine Zauberei Arachnas war, und hoffte, daß das Übel bald vergehen werde. Daß das Atmen im Gelben Nebel gesundheitsschädlich war, kam den Einwohnern des Zauberlandes nicht sofort zu Bewußtsein. Erst einige Tage später, als sie sich an die ungewöhnliche Lage anzupassen begannen, stellte sich Husten ein. Die winzigen Nebelteilchen reizten die Lungen, und dieser Reiz verstärkte sich mit jedem Tag. Husten erfüllte das ganze Zauberland. Es husteten die Menschen, die Hirsche und Elche, die Bären im Walde und die Eichhörnchen in den Baumkronen. Es husteten die Vögel, wenn sie ruhig dasaßen, und wenn sie flogen, erstickten sie fast vor Husten. An einem dieser schlimmen Tage ging ein rotbäckiges, dickliches Männlein auf die Fähre zu, mit der Reisende, die nach der Smaragdenstadt wollten, den Kanal überquerten. Der Mann, der sich in ausgezeichneter Stimmung befand, bat die Fährleute kichernd, ihn auf die andere Kanalseite zu befördern. Als der Kahn sich vom Ufer löste, sagte das Männlein zu den Holzköpfen, die die Seilwinde drehten: „Nun, wie fühlt ihr euch, Kumpel, bei diesem Sauwetter?" „Ganz gut", erwiderte einer der Fährleute, der Arum hieß. „Die Menschen klagen über den Nebel, doch uns macht er nichts aus." Das stimmte, den Holzköpfen machte der Gelbe Nebel wirklich nichts aus, denn sie atmeten nicht. Von allen Einwohnern des Zauberlandes fühlten sich nur die Holzköpfe, die hölzernen Boten, und was es sonst noch an Geschöpfen hier gab, die das Zauberpulver Urfins belebt hatte, ganz normal. Natürlich konnte der Gelbe Nebel auch dem Scheuch und dem Eisernen Holzfäller nichts anhaben, denn sie hatten ja auch keine Lungen. Als die Fähre am Stadtufer anlegte, stieg der Reisende aus und zog dreimal die Glocke vor dem Tor. Das Fenster ging auf, und in der Öffnung zeigte sich der Kopf Faramants, des Wächters und Torhüters, der immer auf seinem Posten war. Den Fremden erkennend, fragte er überrascht: „Ruf Bilan! Was willst du in unserer Stadt?" Ein quälender Husten verschlug ihm die Sprache, während Bilan ruhig antwortete: „Ich bin in einer sehr wichtigen Angelegenheit gekommen und möchte bitten, mich zu seiner Exzellenz, dem Herrscher der Smaragdeninsel, zu führen!" „Gehen wir", knurrte Faramant. „Ich geleite dich zum Weisen Scheuch, doch vorerst muß du eine grüne Brille aufsetzen." „Ihr tragt immer noch die grünen Brillen? Wozu braucht ihr sie denn in diesem Nebelbrei, wo man auch ohne Brille nichts erkennen kann?" „Gesetz ist Gesetz, um so mehr, wenn es vom Großen Goodwin erlassen wurde!" sagte Faramant streng.

Trotz aller Einwände Bilans, setzte ihm der Hüter des Tores eine große Brille auf und verschloß sie am Nacken mit einem kleinen Schnappschloß. Die Sicht verringerte sich sofort bis auf drei, vier Schritt, und Bilan kam sich wie in stockfinsterer Nacht vor. Tastend folgte er seinem Führer, und wenn er die Richtung nicht verfehlte, so hatte er es nur dem Umstand zu verdanken, daß er in der Smaragdenstadt geboren und aufgewachsen war. „Wie soll ich dich dem Weisen Scheuch anmelden?" fragte Faramant trocken, als sie den Palast betraten. Die Hände in die Seiten gestemmt, sagte Ruf Bilan: „Ich bin der Botschafer ihrer Gnaden, der mächtigen Zauberin Arachna!"

„Ach, der Person, der wir damals den Pflasterstein verpaßt haben!" sagte Faramant bissig.

„Das kommt euch jetzt auch teuer zu stehen!" erwiderte Ruf Bilan. Der Hüter des Tores verstand den Sinn dieser Worte nicht, doch er sagte nichts und ging den Besucher anmelden. Der Scheuch ließ den Boten sofort rufen. Im Thronsaal hatte sich wie gewöhnlich der Stab versammelt: der Langbärtige Soldat Din Gior, der Hüter des Tores Faramant und die Krähe Kaggi-Karr. Auf dem kleinen Tisch stand der Fernseher, der jetzt blind war.

„Was hast du uns mitzuteilen?" fragte der Scheuch. „Ich habe eine sehr wichtige Mitteilung", sagte der Botschafter dreist. „Ihr sollt nämlich wissen, daß der Gelbe Nebel, unter dem ihr, wie ich sehe, alle so schwer leidet, von meiner Gebieterin Arachna über das Zauberland ausgestreut wurde, um die Völker dieses Landes zur Botmäßigkeit zu zwingen." Bilans Erklärung fand keinen Glauben.

„Womit kannst du das beweisen?" fragte Din Gior hustend. „Womit? Mein Ehrenwort wird euch wohl genügen, oder irre ich mich?" Die Mitglieder des Stabes lachten, doch ein Husten unterbrach ihr Gelächter.

„Das Ehrenwort eines Verräters? Beim Thron des Großen Goodwin, eine solche Frechheit habe ich noch nie gehört!" empörte sich Faramant.

„Das hab ich von euch erwartet", sagte Bilan gleichmütig. „Vielleicht geruht ihr aber, mein blühendes Aussehen wahrzunehmen? Fällt euch nicht auf, daß ich nicht huste wie ihr alle? Womit erklärt ihr euch das?" „Du hast dich wahrscheinlich an einem Ort aufgehalten, der vor dem Gelben Nebel geschützt ist", meinte Din Gior, seinen Bart streichelnd, den er selbst unter den schwierigsten Verhältnissen nicht zu pflegen aufhörte. „Du hast es erraten", gab Bilan zu. „Doch dieser geschützte Ort ist sehr groß, zu ihm gehören die Besitzungen Arachnas, in denen es überhaupt keinen Nebel gibt."

Die Mitglieder des Stabes schwiegen betroffen. Der Botschafter aber sagte herablassend:

„Ich verstehe, daß auch dieser Beweis euch unglaubwürdig scheint. Nun denn, ich habe noch einen anderen vorbereitet, der euch völlig überzeugen soll. Es ist jetzt ein paar Minuten vor zwölf, stimmt's?" fragte er. „Die Sonnenuhr funktioniert nicht, weil die Sonne keinen Schatten wirft", erwiderte Faramant. „Aber du hast recht, es ist wirklich bald zwölf." „Also höret, Eure Exzellenz und alle anderen Anwesenden", sagte Ruf Bilan triumphierend. „Punkt zwölf wird die Zauberin Arachna den Gelben Nebel auflösen, und ihr werdet wieder die helle Sonne am blauen Himmel sehen. Dieses Bild wird genau fünf Minuten dauern! Ich meine, das reicht, um euch von der Richtigkeit meiner Worte zu überzeugen. Danach will ich euch die Bedingungen mitteilen, zu denen Frau Arachna bereit ist, euch für immer vom Gelben Nebel zu befreien." Es vergingen einige Minuten qualvollen Wartens. Plötzlich erfüllte blendendes Licht den Thronsaal, und dieses Licht war so grell, daß Din Gior und Kaggi-Karr die Augen zukneifen mußten. Nur der Scheuch mit seinen aufgemalten Augen und Faramant sowie Ruf Bilan, die grüne Brillen trugen, konnten den plötzlichen Beleuchtungswechsel schmerzlos ertragen. Alles veränderte sich in höchst wunderlicher Weise. Es funkelten plötzlich zahllose Smaragde an den Wänden, an der Decke und in der Lehne des Thronsessels, und wer keine grüne Brille trug, war von diesem ungewöhnlichen Gefunkel wie geblendet. Noch bevor sich die Mitglieder des Stabes von ihrer Überraschung erholten, gab der Scheuch Faramant ein Zeichen und stürzte auf den Fernseher zu. Der Hüter des Tores verstand sofort, was er meinte, und führte den Botschafter hinaus, denn der Feind durfte das Geheimnis des Zauberkastens nicht erfahren. Der Scheuch wischte den beschlagenen Bildschirm ab und leierte die Beschwörung herunter, in der er den Kasten bat, die Zauberin Arachna zu zeigen. Im nächsten Augenblick erschien sie auf dem Schirm. Sie stand am Eingang der Höhle mit dem Zauberbuch in den Händen, und man konnte erraten, daß sie gerade die Beschwörung ausgesprochen hatte, die den Nebel zerstreute. Sie hatte ein triumphierendes Aussehen, zu ihren

Füßen liefen Zwerge hin und her, und in der Nähe lag der fliegende Teppich in der Sonne, um zu trocknen. Jetzt konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß der Gelbe Nebel das Werk Arachnas war. Alle Leute im Saale waren so überrascht, als wäre ein Blitz aus heiterem Himmel niedergegangen. Vom Bildschirm konnte man die Worte der Zauberin hören:

„Kastaglio, guck auf die Uhr, sind die fünf Minuten schon um?" „Ja, die Zeit läuft ab, Herrin", lautete die Antwort. Plötzlich war es, als fiele ein schwarzer Schleier vor den Augen des Scheuchs, Din Giors und der anderen. Das wirkte so bedrückend, daß sie fast in ein Wehgeheul ausbrachen.

„Jetzt seht ihr, wie mächtig meine Herrin ist", sagte Ruf Bilan, den man gerade hereinführte, vergnüglich. „Ihr gehorcht sogar das Sonnenlicht! Und daß der Gelbe Nebel giftig ist, davon habt ihr euch, scheint mir, schon früher überzeugt. Jetzt könnt ihr wählen: Entweder ihr unterwerft euch der mächtigen Arachna, willigt ein, ihr als Sklaven zu dienen, und zahlt ihr den Tribut, den sie euch aufzuerlegen geruht, oder ihr verkümmert in der giftigen Luft und wartet hier, daß euch der Tod ereilt." Der Scheuch und sein Stab bewahrten finsteres Schweigen. Was hätten sie auch sagen können? Der Tod ist schrecklich, aber ein Sklavenleben bestimmt nicht leichter. Allerdings drohte dem Strohmann kein Tod durch Ersticken, doch was würde er anfangen, wenn ihm nur die Holzköpfe als Untertanen blieben? Dann würde er es natürlich vorziehen, einen schnellen Tod im Feuer zu finden. Das stand für ihn fest. Ruf Bilan fuhr fort:

„Frau Arachna fordert keine sofortige Antwort. Sie gibt euch drei Tage zum Nachdenken. In dieser Zeit müßt ihr eine Entscheidung treffen und sie mir mitteilen."

Faramant führte Ruf Bilan zum Stadttor hinaus und nahm ihm die grüne Brille ab. Als es heller vor seinen Augen wurde, lächelte der Botschafter herablassend. Er dachte: „Diese Käuze, machen sich selbst das Leben schwer!"

Ruf Bilan fuhr über den Kanal, ging in einen nahen Hain und wartete auf die Ankunft Arachnas. Der fliegende Teppich war inzwischen so umgenäht worden, daß er seine rechteckige Form zurückerhalten hatte. Zwar war seine Fläche jetzt kleiner, doch dafür flatterte er nicht mehr in der Luft und verlor auch nicht das Gleichgewicht.

EINE ENTDECKUNG DER DOKTOREN BORIL UND ROBIL

Die von Arachna gewährte Bedenkzeit lief ab. Der dritte Tag war angebrochen, und um die Mittagszeit sollte Ruf Bilan nach der Antwort des Scheuchs kommen. Der Gelbe Nebel hing weiter über dem Land, und der Husten, der die Menschen und Tiere schüttelte, wurde immer quälender. Im Palast des Scheuchs fanden ständig Beratungen statt, denen ein jeder, der es wünschte, beiwohnen durfe. Zu den Beratungsteilnehmern gehörten auch Prem Kokus und Ruschero. Einige Tage nach dem Auftauchen des Gelben Nebels hatte der besorgte Ruschero den kleinen fliegenden Teppich bestiegen und sich von ihm in die Residenz Prem Kokus, des Herrschers der Käuer, tragen lassen. Glücklicherweise besaß der Zauberteppich die Fähigkeit, jedes Ziel selbst bei undurchdringlicher Finsternis anzufliegen -sonst wäre Ruschero in dem gelben Dunst, der alles einhüllte, bestimmt vom Weg abgekommen.

Nach einer kurzen Beratung beschlossen die zwei Freunde, den Weisen Scheuch um Rat zu fragen, denn er war das gescheiteste Wesen im Zauberland und besaß ein Gehirn, das von Goodwin, dem Großen und Schrecklichen, selbst stammte. Der Teppich war zwar nicht für zwei Personen bestimmt, doch unter Aufbietung aller Kräfte konnte er Ruschero und Prem Kokus dennoch bis zur Smaragdenstadt befördern. Jetzt standen sie da und zerbrachen sich neben den anderen Ratsmitgliedern den Kopf auf der Suche nach einem Ausweg aus der tragischen Lage, die Arachna geschaffen hatte. Sollte man nachgeben, sich von Arachna zu Sklaven machen lassen und darin einwilligen, daß auch kommende Geschlechter ihre Sklaven werden? Oder sollte man ihren Vorschlag stolz zurückweisen und dadurch das ganze Volk dem Untergang preisgeben? Vor allem würden die unschuldigen Kinder daran glauben müssen, die in der vergifteten Luft am schwersten litten. Faramant schlug vor, so zu tun, als nehme man die Forderung der Hexe an. Auf diese Weise würde man eine Atempause erhalten, in der man nach Mitteln für den Kampf mit Arachna suchen könnte. Andere Ratsmitglieder wieder meinten, die böse Hexe werde sich nicht so leicht übers Ohr hauen lassen. Sie werde, sagten sie, Geiseln fordern, und wenn das Volk sich erhebt, würde sie die Geiseln umbringen. Als der Streit seinen Höhepunkt erreichte, wurde die Tür des Thronsaals plötzlich aufgestoßen, und es stürzten die Doktoren Boril und Robil herein. Der Leser wird sich wahrscheinlich an den rundlichen quicklebendigen Boril und den langaufgeschossenen hageren Robil noch erinnern können - die zwei Doktoren aus dem Land der Unterirdischen Erzgräber, die unzertrennliche Freunde waren, aber immer stritten, ständig übereinander lachten, aber keinen Tag einander missen konnten.

Boril und Robil sahen gar sonderbar aus. Ihre Nasen waren mit Watte verstopft, und vor den Mündern hingen an dünnen Fäden Blätter. Die Doktoren gestikulierten lebhaft und stießen Laute hervor, die niemand verstehen konnte, was an den Blättern lag, die sie am Sprechen hinderten. Plötzlich riß Boril sein Blatt von dem Mund, warf es zornig von sich und schrie:

„Eine Entdeckung! Eine große Entdeckung! Wir haben..." „...ein Mittel zum Kampf mit dem Gelben Nebel gefunden!" fiel Robil ein, der ebenfalls das Blatt von dem Mund gerissen hatte. Er konnte es einfach nicht ertragen, daß sein Freund allein alles erzählte. Mit den Händen fuchtelnd und einander unterbrechend, erzählten die Doktoren folgendes: Als die Erzgräber auf der Flucht vor dem Gelben Nebel mit ihren Familien in die Unterirdische Höhle gezogen waren und auch die Käuer mitgenommen hatten (die Höhle blieb von der Zauberei Arachnas verschont), waren Boril und Robil allein im Dorf geblieben, was gewiß eine Heldentat war, denn die beiden husteten nicht weniger als die anderen Einwohner des Landes. Die Doktoren dachten natürlich nicht an ihr eigenes Wohl, als sie sich der langen Einwirkung der vergifteten Luft aussetzten, sondern suchten nach einem Mittel zur Bekämpfung des Giftes. Sie fanden heraus, daß ein Stück nasser Mull vor dem Mund das Atmen im Gelben Nebel erleichterte, der dann nicht mehr so verderblich auf die Lungen wirkte, und daß dadurch auch der Husten milder wurde. Mull war zweifellos ein gutes Mittel, doch wo sollte man so viel hernehmen, damit es für alle Einwohner des Zauberlandes, für jung und alt, reichte? Außerdem waren ja auch die Tiere noch da. Und da dachten die Doktoren, daß die Natur selbst vielleicht helfen könnte. „Warum", fragten sich Robil und Boril, „sollte es in unseren Wäldern nicht Bäume mit Blättern geben, die die reine Luft durchlassen und die schädlichen Nebelteilchen zurückhalten?"

Sie durchwanderten Wälder und Haine, legten Dutzende Meilen zurück und untersuchten Hunderte Baumarten. Die dicken, fleischigen Blätter warfen sie unbesehen fort, denn es war doch klar, daß solche Blätter nicht nur den Nebel, sondern auch die Luft nicht durchlassen. Dafür aber untersuchten sie sehr genau Blätter mit winzigen Löchern, die man Poren nennt. Schließlich wurde ihre Geduld von Erfolg gekrönt. Die Blätter des Rafaloobaums erwiesen sich als das, was sie suchten. Ihre Poren hielten die giftigen Tröpfchen zurück, während die reine Luft frei hindurchging. Außerdem waren die Rafalooblätter fest genug, um mit Fäden befestigt werden zu können.

„Allerdings müssen die Blätter von Zeit zu Zeit von den Nebelteilchen gereinigt werden, die sich in ihnen ansammeln, aber das kostet nicht viel Arbeit", sagten die Doktoren. Als sie sich von dem ungewöhnlichen Wert ihrer Entdeckung überzeugt hatten, waren sie freudig und auf schnellstem Wege in die Smaragdenstadt geeilt. „Wir haben unterwegs nur durch Rafalooblätter geatmet", erzählten die Doktoren, die sich ständig ins Wort fielen und einander zu überschreien suchten, „und unser Husten hat fast aufgehört." Der Bericht wurde mit stürmischem Beifall quittiert. „Wir müssen sofort eine Expedition ausrüsten, die uns aus dem Blauen Land Rafalooblätter herbeischaff", sagte der Scheuch. „Seid unbesorgt, Exzellenz", erwiderte Boril. „In unserem Dorf haben beim Bau eines Staudamms fünf Holzköpfe gearbeitet, die auf unseren Befehl zehn große Säcke mit den wertvollen Blättern mitgebracht haben. Das reicht für das ganze Land!"

Der Herrscher der Smaragdenstadt ging auf einen Wandschrank zu, öffnete ihn, nahm zwei Orden heraus und heftete sie an die Röcke der freudestrahlenden Doktoren.

„Jetzt wird in diesem Saal eine provisorische Kon-sulta-tionsstelle aufgemacht", sagte der Scheuch. „Es sollen sofort alle städtischen Doktoren, Krankenschwestern, Pflegerinnen und Sanitäter zusammengerufen werden!" befahl er Faramant. „Und ihr, meine Herren, werdet sie in-stru-euren, wie die Rafalooblätter zu verwenden sind, und dann wird dieses Personal das Volk unterweisen."

„Kon-sul-ta-tions-stelle ... in-stru-ie-ren... Kaum auszusprechen, so schwere Worte!" raunte die Krähe mit größter Hochachtung. „Stellt euch vor, keine andere als ich hat dem Scheuch geraten, sich ein Gehirn zu verschaffen! Ich glaube es fast selbst nicht mehr..."

Als der Scheuch dieses Lob Kaggi-Karrs hörte, plusterte er sich vor Stolz auf, sein Kopf schwoll, und die Nadeln seines Gehirns traten zum Vorschein. In diesem Augenblick kam Ruf Bilan herein. Der Wachhabende am Tor, Faramants Gehilfe, hatte ihn ohne grüne Brille in die Stadt eingelassen. Als er die lebhafte Stimmung im Saal gewahrte, sagte der Botschafter Arachnas: „Nach euren freudigen Gesichtern zu urteilen, darf ich wohl annehmen, meine Herren, daß ich der Zauberin Arachna eine günstige Antwort überbringen kann. Ihr habt wahrscheinlich beschlossen, euch zu unterwerfen?"

Der Scheuch schritt gemächlich auf seinen Thron zu, setzte sich würdevoll und sagte streng, jede Silbe betonend: „Unsere freudigen Gesichter bedeuten, daß wir die Drohungen deiner Herrin verachten und ihre Macht ka-te-go-risch zurückweisen! Wisse, Verräter, wir haben gefunden..." Der Scheuch hätte sich fast versprochen, doch in diesem Augenblick legte Ruschero den Zeigefinger warnend vor den Mund... Der Scheuch verstand das Zeichen, und, findig wie er war, beendete er den Satz mit den Worten: „Wir haben gefunden, daß wir es unserer Würde schuldig sind, ihr dreistes Angebot zurückzuweisen. Geh und sag das deiner Herrin!" Verständnislos verließ Ruf Bilan den Palast. Als er gegangen war, sagte Ruschero zum Scheuch: „Es hat nicht viel gefehlt, und Ihr hättet dem Feind ein wichtiges Kriegsgeheimnis preisgegeben!" „Ja, ich muß eingestehen, mein hitziger Kopf hat uns fast einen bösen Streich gespielt... Wer weiß, welche Maßnahmen die Hexe ergreifen würde, wenn ich unser Geheimnis vor Ruf Bilan ausgeplaudert hätte. Doch da schon einmal von diesem Verräter die Rede ist, so sage mir, ehrwürdiger Ruschero, warum haben eure Erzgräber diesen Bilan nach seinem Erwachen nicht umerzogen?"

Ruschero erwiderte: „Aus dem Bericht des Mannes, der in der Höhle Dienst tat, weiß ich, was damals geschah. Als Ruf Bilan erwachte, begann man ihn wie die anderen Höflinge umzuerziehen. Das dauerte jedoch nur zwei Tage, denn Bilan verschwand plötzlich. In dem Haus, das er bewohnte, fand man Reste von Leckerbissen aus der Oberen Welt, und neben seinen Spuren entdeckte man Spuren von zwei kleinen Füßen... " „Mir ist jetzt alles klar", sagte der Scheuch. „Arachnas Leute haben ihn fortgebracht, und sie hat ihn dann in ihrer Weise erzogen. Sehr schade, daß es so kam, doch jetzt läßt sich wohl nichts mehr ändern..." Mittlerweile versammelten sich im Palast die Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter, die man gerufen hatte. Holzköpfe brachten Säcke mit Rafalooblättern und eine Menge bunten Zwirn herein. Doktor Boril und Doktor Robil zeigten den Versammelten, mit welcher Seite man die Blätter an den Mund zu legen hat und wie man sie anbindet. Während dieses geschäftigen Treibens ließ der Scheuch die Krähe rufen und fragte sie: „Was meinst du, Kaggi-Karr, wachsen Rafaloobäume in der Umgebung der Smaragdeninsel?" „Warum interessiert dich das?" „Siehst du, die Doktoren haben viele Blätter mitgebracht, doch diese Menge reicht nur für die Menschen. Wir müssen aber auch an die Tiere denken. Und deshalb ist eine Expedition notwendig. Das Blaue Land liegt jedoch sehr weit von hier. Da habe ich mir gedacht, daß Rafaloobäume vielleicht irgendwo in der Nähe wachsen?"

Nach kurzem Überlegen sagte die Krähe: „Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, habe ich im Wald der Säbelzahntiger Rafaloofrüchte gegessen. Bis zu diesem Wald ist die Entfernung von der Smaragdeninsel nur halb so groß wie bis zum Blauen Land."

„Wenn dem so ist, bitte ich dich, einen Trupp Holzköpfe hinzuschicken... Sag ihnen, daß sie möglichst viele Säcke mitnehmen sollen." Der Saal lichtete sich, Doktoren, Krankenschwestern und Sanitäter verließen mit dem zum Schutz der Menschen gegen den Giftnebel notwendigen

Material den Palast. Zwischen dem Scheuch, dessen Kopf voll kluger Einfälle war, und Boril entspann sich folgendes Gespräch: „Lieber Doktor, wir werden Tausende und aber Tausende Menschen vor Krankheit schützen, doch was fangen wir mit den Tieren an? Sollen wir zuschauen, wie sie draufgehen?"

„Auf keinen Fall, Exzellenz!" ereiferte sich Boril. „Allerdings weiß ich noch nicht, wie wir es schaffen, das ist eine sehr schwierige Frage. Die Blätter müssen ihren Nüstern angepaßt werden, mit Fäden jedoch ist hier nichts auszurichten... "

„Können wir sie denn nicht ankleben?" fragte der Scheuch zaghaft. „Eure Exzellenz, das ist ein glänzender Einfall!" Die Augen des Doktors leuchteten vor Entzücken. „Ankleben ist gerade das richtige! Wir werden Stückchen von den Blättern an die Nüstern der Tiere ankleben... Und mit den Vögeln, ich darf es Euch versichern, wird es noch einfacher sein! Wir können es ja gleich ausprobieren! He, Frau Kaggi-Karr, kommen Sie doch für einen Augenblick her!"

Die Krähe, die den Saal noch nicht verlassen hatte, flog auf den Doktor zu. Dieser nahm ein Rafalooblatt, schnitt mit der Schere geschickt zwei kleine Scheiben heraus, nahm aus der kleinen Apotheke, die er stets mit sich trug, ein Fläschchen Klebstoff, betupfte die Ränder der ausgeschnittenen Scheiben und klebte sie geschickt vor die Nasenlöcher des Vogels. Ehe sich's Kaggi-Karr versah, schmückten zwei kleine grüne Filter beide Seiten ihres Schnabels. Diese Vorrichtung sollte ihr von jetzt an sicheren Schutz gegen die giftigen Nebelteilchen bieten.

„Nun, wie gefällt Euch das, meine Liebe?" lachte Boril. „Ich finde, die Klappen schmücken Euch. Guckt doch in den Spiegel!" Alle Anwesenden waren von der Geschicklichkeit des Doktors überrascht. Kaggi-Karr fühlte, wie das Atmen ihr jetzt ganz leicht wurde, und sie dankte dem Doktor überschwenglich.

***

In der Stadt wurden mehrere Arztstellen eröffnet, in denen Doktoren und Krankenschwestern die Menschen, vor allem Kinder und Greise, mit Rafaloofiltern versahen. Natürlich mußten diese Filter beim Essen und Trinken und beim Sprechen abgenommen werden. Für das Essen und Trinken braucht der Mensch jedoch nicht viel Zeit, und was das Sprechen anbetraf, rieten die Ärzte, es auf ein Mindestmaß einzuschränken. Einige Klatschbasen waren davon nicht gerade entzückt, doch sie mußten sich dreinfinden. Dafür aber wurde die Gesundheit der Einwohner mit jedem Tag besser, und sie lobten und priesen die einfallsreichen Doktoren Boril

und Robil. Auf Weisung des Scheuchs wurden Säcke mit Rafalooblättern an die Zwinkerer und in das Tal der Marranen geschickt. Auch an Urfin Juice dachte der Scheuch. Für seine Opferbereitschaft hatte er es verdient, vor dem Verderben gerettet zu werden. Da er kein Mittel gegen den schrecklichen Nebel wußte, war anzunehmen, daß er in seiner Abgeschiedenheit am Nebel ersticken würde, wenn man ihm nicht half. Auf Verfügung des Scheuchs machte sich der hölzerne Bote Rellem, der keine Müdigkeit kannte und gegen jedes Gift gefeit war, sofort auf den Weg. Mit einer Tasche, in der sich ein Päckchen Rafalooblätter, eine Anweisung für ihren Gebrauch und ein Fläschchen Klebstoff für die Eule befanden, lief er Tag und Nacht in Richtung der Weltumspannenden Berge. Außerdem sollte der Bote dem Tischler einen auf Bitten des Scheuchs von Faramant geschriebenen Brief überbringen, der ihn in die Smaragdenstadt einlud. In dem Brief, den der Hüter des Tores abgefaßt hatte, stand: „Allein kann ein Mensch Unheil nicht bekämpfen. Bei uns, unter Euren Mitmenschen, werdet Ihr Hilfe und Beistand finden. Was Eure Schuld vor den Einwohnern des Zauberlandes betrifft, könnt Ihr unbesorgt sein, denn diese ist vergessen und verziehen. Wir wissen, wie edel und unerschrocken Ihr Euch bei der Begegnung mit Arachna verhalten habt, wir wissen, daß Ihr es abgelehnt habt, in ihren Dienst zu treten... Leider können wir Euch nicht verraten, wie wir das erfahren haben. Denn das ist unser Kriegsgeheimnis..."

Als erste kehrten die Holzköpfe aus dem Violetten Land zurück. Der Eiserne Holzfäller, sagten sie, sende seinen herzlichen Dank für das unschätzbare Mittel zur Bekämpfung des Hustens. Man habe es sofort unter die Bevölkerung verteilt, und es werde schon angewandt. Er selbst brauche allerdings das Mittel nicht, doch von den giftigen Tröpfchen des Gelben Nebels seien seine eisernen Gelenke überraschend schnell gerostet. Damit sie nicht knarrten und damit sich seine Kiefern bewegten, müsse der Holzfäller sie zweimal täglich ölen, am Morgen und am Abend. Wenige Tage später kehrte der zweite Trupp Holzköpfe aus dem Land der Marranen zurück. Er brachte die überraschende Nachricht, daß er das Tal völlig leer vorgefunden habe. Kein Mensch und kein Tier waren zu sehen gewesen. Die hölzernen Menschen hatten bereits geglaubt, die Bevölkerung sei ausgestorben. Doch als sie keine Leichen vorfanden, wurden sie stutzig. Der Führer des Trupps, Giton, scheute nicht die Mühe, mehrere Meilen nach Nordost zu gehen. Er kam, berichtete er, aus dem Nebel heraus und erblickte plötzlich eine strahlende Sonne und einen heiteren Himmel über sich. Dort begannen nämlich die Besitzungen Stellas, wo es keinen Gelben Nebel gab. Im Rosa Land, sagte Giton, habe er den ganzen Stamm der Springer vorgefunden. Sie hatten bei Stella um Asyl gebeten, und die gute Fee hatte sie allesamt mit ihrem bescheidenen Hab und Gut und ihren

Haustieren gastfreundlich aufgenommen (die wilden Tiere und die Vögel des Waldes brauchten natürlich keine Erlaubnis dafür!). Viele Marranen hatten bei den Schwätzern (so hießen die Untertanen Stellas) Unterkunft gefunden, und wer keinen Platz fand, richtete sich in Laubhütten und Zelten ein. Auch die Führer der Marranen übermittelten dem Scheuch ihre Grüße und ihren aufrichtigen Dank. Die Rafalooblätter und die Gebrauchsanweisung hatten sie für alle Fälle behalten, denn man konnte nicht wissen, was die Arachna noch im Schilde führte. Schließlich traf auch der schnellfüßige Rellem mit einem Brief von Urfin Juice ein. Der gestürzte König schrieb, er sei hocherfreut über die Nachricht, daß die Menschen ihm alles verziehen, was er ihnen angetan hatte. Er hoffe, stand weiter in dem Brief, sich für ihre Großmut noch dankbar erweisen zu können. Mit feinem Humor erwähnte er das „Kriegsgeheimnis", von dem Faramant ihm geschrieben hatte. Er verstehe natürlich, hieß es in seinem Brief, daß es sich um den Zauberkasten Stellas handle, den ein Junge aus der Großen Welt vor vielen Jahren auf seinen, Urfins, Schädel niedersausen ließ, aber von ihm aus möge das Geheimnis gewahrt bleiben. Was die angebotene Gastfreundschaft betreffe, erwiderte Urfin, falle es ihm noch schwer, den Menschen in die Augen zu schauen, die er einmal unterdrückt und verhöhnt hatte. Es müsse noch Zeit vergehen, bis er diese unangenehme Erinnerung überwinden würde. Gegen den Gelben Nebel habe er ein eigenes Kampfmittel gefunden. In seinem Anwesen stehe ein kleiner Schuppen mit dichten Wänden. Er habe alle Ritzen verschmiert, die Tür mit Kaninchenfellen ausgeschlagen und sich so vom Gelben Nebel, der den Raum füllte, befreit. Er habe, schrieb er, zu diesem Zweck aus Spänen und feuchtem Gras ein Feuer angezündet, das viel Rauch machte. Beim Niederschlagen rissen die Rauchteilchen die Nebeltröpfchen mit und dadurch wurde die Luft im Schuppen rein. Jetzt verbringen er und die Eule Guamoko ihre Tage dort wie in einer belagerten Festung, die sie nur für sehr kurze Zeit verlassen. Er hoffe, schrieb Urfin bescheiden, das von ihm erfundene Mittel zur Bekämpfung des Gelben Nebels könnte auch den Einwohnern der Smaragdenstadt und anderer Länder wenigstens einen kleinen Nutzen bringen. Als Faramant die Botschaft Urfins verlesen hatte, geriet der Scheuch in helle Begeisterung.

„Ich habe schon immer gesagt, daß Urfin einen ungewöhnlich klugen Kopf hat", rief der Herrscher der Smaragdenstadt. „Nur hatte er ihn früher zu bösen Taten genutzt. Das hat sich jetzt geändert. Seht, was für ein fabelhaftes Ding er sich ausgedacht hat! Schon allein dadurch hat er all das Böse, das er uns angetan hat, wieder gutgemacht, schon ganz zu schweigen von dem großen Dienst, den er uns erwies, als er das Angebot Arachnas ausschlug. Stellt euch vor, was geschehen konnte, wenn dieser mutige und einfallsreiche Mann in den Dienst der Hexe getreten wäre. Sie hätten unermeßliches Leid über uns bringen können. Denn Urfin ist nicht so einer wie der stumpfsinnige und feige Ruf Bilan!"

Noch am selben Tag wurden alle Zimmer des Palastes nach dem Verfahren Urfin Juices vom Nebel gesäubert, und das Verfahren wurde öffentlich bekanntgegeben. Von Zeit zu Zeit sickerte allerdings noch Nebel durch unsichtbare Ritzen in die Zimmer, und deshalb wurden im Kampf dagegen vor allem Rafalooblätter verwendet, die jetzt alle Einwohner der Smaragdenstadt und ihrer Umgebung am Gesicht trugen. Der Scheuch erließ, trotz aller Einsprüche Faramants, eine Verfügung, die es den Bürgern erlaubte, die grünen Brillen abzunehmen. Die Einwohner der Stadt waren davon begeistert, denn jetzt konnten sie fünfzig Schritt im Umkreis sehen, und schon das empfanden sie als große Erleichterung. Nur der Hüter des Tores behielt die Brille auf, und wenn er durch die Straßen ging, rempelte er, wegen der schlechten Sicht, auf Schritt und Tritt jemanden an. Obwohl der Tag für ihn finstere Nacht war, wollte der starrsinnige Faramant den Befehl Goodwins nicht übertreten. In den Wäldern und auf den Feldern des Smaragdenlandes wurden Hunderte Tierarztstellen eröffnet. In den Sprechstunden bildeten sich vor ihnen lange Schlangen aus Hasen, Pumas, Wölfen, Füchsen, Bären und Eichhörnchen... Aus den Scharen der Vögel drang jetzt kein munteres Gezwitscher und kein Gesang mehr. Krähen, Nachtigallen, Schwalben, Dohlen und Rotkelche standen, die Schnäbel zu Boden gesenkt, mißmutig da und warteten, eingelassen zu werden. In den Schlangen herrschte Frieden zwischen allen Tierarten. Wenn irgendein Räuber ein schwächeres Tier kränkte, erhielt er von den Umstehenden einen gehörigen Denkzettel, und auf seine Stirn wurde mit unabwaschbarer Farbe ein Mal gezeichnet, mit dem er sich an keiner Arztstelle zeigen dürfte. Aus Furcht vor dieser Strafe wurden selbst die wildesten Räuber zahm wie die Lämmer. Es wurde aufgepaßt, daß niemand die Ordnung verletze. Wenn ein zerzauster Spatz oder ein listiger Fuchs sich vordrängte, wurde der Frechling unbarmherzig aus der Reihe gestoßen. Tiere mit grünen Filtern vor den Nasenlöchern lagen oder standen abseits und warteten, daß der Klebstoff austrockne. Der Lohn für ihre Geduld war eine schnelle Besserung ihres Gesundheitszustandes.

EIN NEUES UNGLÜCK

Von seinem zweiten Besuch in der Smaragdenstadt zurückgekehrt, berichtete Ruf Bilan der Hexe folgendes:

„Die Völker des Zauberlandes weigern sich ka-re-go-tisch, Eure Macht anzuerkennen, Herrin!"

„Ka-re-... ka-te-ri... Was bedeutet denn das?"

„Ich weiß es nicht, Herrin! Der Weise Scheuch liebt solche langen Wörter. Wahrscheinlich bedeutet es: Auf keinen Fall." „So hättest du es auch sagen sollen. Zu meiner Zeit pflegte man solche wunderlichen Wörter nicht zu gebrauchen."

Mittlerweile hatten die allgegenwärtigen Zwerge herausgefunden, welches Mittel die Menschen jetzt zur Bekämpfung des Gelben Nebels anwandten. Sie erstatteten darüber der Hexe Bericht und zeigten ihr sogar Rafalooblätter, die sie mitgebracht hatten. (Die Zwerge hatten sie selbst benutzt, als sie in die Zone der vergifteten Luft eingedrungen waren.) „Rafalooblätter... Hm!..." brummte die Hexe. Sie dachte lange nach und fuhr fort: „Und wenn ich euch befehle, alle Blätter von den Rafaloobäumen zu pflücken? Dann werden die Menschlein keinen Ersatz finden für die verbrauchten Blätter, nicht wahr?"

„Wie stellt Ihr Euch das vor, gnädige Herrin?!" fragte Kastaglio. „Das ist doch nicht möglich. Im Zauberland wachsen Tausende Rafaloobäume, und sie tragen Millionen Blätter. Wie sollen wir das schaffen?" „Schade, schade... Aber das macht nichts, der Gelbe Nebel wird ihnen noch zeigen, was er kann!"

Und wirklich, er zeigte es. Kurze Zeit nachdem die Menschen den Husten etwas eingedämmt hatten, stellte sich heraus, daß der Gelbe Nebel auch die Augen angriff. Sie entzündeten sich so, daß die Menschen am Morgen die Lider nicht öffnen konnten und sie mit Wasser waschen mußten. Schon früher hatten sie wegen des Nebels schlecht gesehen, jetzt aber war ihr Blickfeld noch kleiner geworden. Zwanzig Schritt vor den Augen verschwamm alles in undurchdringlichem Nebel, und das wirkte schrecklich. Der Scheuch wandte sich an die Doktoren Boril und Robil um Hilfe. Die beiden hatten die Smaragdenstadt nicht verlassen und setzten ihre Forschungen fort.

„Wir haben ein Mittel gegen Augenentzündung", sagte Boril. „Wir geben den Patienten Augentropfen... Aber...", fuhr der rundliche Doktor mit erhobenem Zeigefinger fort. „...sie helfen nur dann, wenn die Ursache der Krankheit beseitigt ist. Wie sollen die Tropfen aber heilen, wenn der giftige Nebel ständig die Augen ätzt?"

Robil fiel ihm ins Wort: „Brillen!" sagte er bedächtig. „Man muß Brillen tragen, die eng anliegen. Dann werden die Nebelteilchen die Hornhaut nicht erreichen, und die Augentropfen werden heilend wirken." Der heißblütige Boril umarmte stürmisch seinen Kollegen. „Ein Genie!" rief er aus. „Ein Genie, wie es kein zweites auf der Welt gibt! Was du vorschlägst, ist leicht auszuführen: In unserer Stadt lagern mehrere tausend Brillen, die wir vor vier Jahren zu tragen aufhörten, weil sie uns nicht mehr nutzten."

„Das sind aber doch dunkle Brillen", wandte der Scheuch ein. „Sie werden die Augen schützen, aber die Menschen werden nichts sehen." „Eine Kleinigkeit!" sagte Robil. „Sie sind aus Glas gemacht und mit dunkler Farbe überzogen, die wir leicht abwaschen können." Ohne ein Wort zu sagen, nahm der Scheuch weitere zwei Orden aus dem Spind und heftete sie an die Brust der Doktoren. Eine Stunde später rannten alle hölzernen Boten, die in der Stadt aufzutreiben waren, mit Ranzen und Körben dorthin, wo die Siedlung der Erzgräber lag. Ihr Brigadier hatte den Schlüssel von dem Magazin bekommen, in dem die Brillen aufbewahrt wurden. Man hatte ihnen eingeschärft, sie mit größter Sorgfalt einzupacken. Auch wurde beschlossen, die grünen Brillen Faramants zu verwenden, der darüber außerordentlich stolz war. „Ich hab es doch gesagt! Ich hab es schon immer gesagt!" wiederholte er einmal über das andere. „Oh, wie weise war doch der große Goodwin! Er hat alles vorausgesehen, sogar den Gelben Nebel!" Damit die grünen Brillen verwendet werden konnten, mußten sie mit Ledereinlagen versehen werden. Zu dieser Arbeit wurden alle Schuster der Stadt herangezogen. Herolde verkündeten auf den Plätzen und in den Straßen den Erlaß des Herrschers:

„Der Gelbe Nebel hat eine gefährliche e-pi-de-mi-sche Krankheit

hervorgerufen, die Augenentzündung heißt. Zu pro-phy-lak-tischen

Zwecken („Was ist das nur?" fragten sich die Bürger verdutzt) wird den

Einwohnern der Stadt und ihrer Umgebung die Weisung erteilt:

§1. Wer Brillen mit Ledereinlagen besitzt, soll sie ständig tragen.

§2. Zu Hause soll ein jeder eine Augenbinde aus Leinen oder Gaze anlegen,

die so oft wie nur möglich mit kaltem Wasser zu befeuchten ist.

§3. Man soll die Augen so wenig wie möglich ofenhalten.

§4. Von morgen an beginnen die Arztstellen wieder zu funk-tonie-ren, wo

den Patienten mit entzündeten Augen Tropfen verabreicht werden.

§5. Alle Apotheker nehmen ungesäumt die Produktion von Augentropfen

in möglichst großen Mengen auf.

§6. Es ist die Herstellung von Brillen mit Ledereinlagen in die Wege zu leiten, die den giftigen Nebel nicht durchlassen; die Termine ihrer Verteilung unter der Bevölkerung werden später bekanntgegeben.

§7. Der Herrscher der Smaragdenstadt, der Dreimalweise Scheuch, hofft, daß sich die Bevölkerung dis-zi-pli-niert verhalten und seine Weisungen prompt ausführen wird.

„Welche Worte!" flüsterten die Bürger entzückt. „Welche wunderbaren, langen und unverständlichen Worte! Mit einem solchen Herrscher kann uns wirklich nichts passieren!"

EINE WICHTIGE ENTSCHEIDUNG DES SCHEUCHS

Mit Hilfe der Vorsorge- und Heilmaßnahmen, die der Scheuch und sein Stab trafen (dem Stab gehörten jetzt auch die zweifach dekorierten Doktoren Boril und Robil an), konnten die Augenerkrankungen der Menschen mit mehr oder weniger Erfolg bekämpft werden. Den Tieren aber erging es schlecht. Gegen den giftigen Nebel konnten ihre Lungen durch Rafalooblätter geschützt werden, doch es bestand keine Möglichkeit, für alle Brillen anzufertigen, um so mehr, als diese verschiedene Formen und Größen haben mußten. Über die Vogelstafette wurde den Tieren nun der Rat erteilt, die Augen so wenig wie möglich offenzuhalten. Es war, als erlösche alles Leben auf den Feldern und in den Wäldern. Für die grasfressenden Tiere war die Lage halb so schlimm, denn Gras kann man auch mit zugekniffenen Augen rupfen, doch die Raubtiere, die bei der Jagd nach Beute auf ihre scharfen Augen angewiesen sind, konnten sich vor Erschöpfung kaum noch aufrecht halten. Die Fliegenschnäpper, die Segler, die Stieglitze und die Kuckucke saßen gramvoll aufgeplustert in den Zweigen, und nur die unermüdlichen Spechte hackten mit verschlossenen Augen die Baumrinde und brachten dadurch ein wenig Leben in die Wälder. In dieser schweren Zeit machten sich besorgniserregende Erscheinungen bemerkbar, die zunächst nur den scharfsinnigsten Menschen auffielen. Seit mehr als drei Wochen bedeckte der Gelbe Nebel das Zauberland. Wir haben schon erzählt, daß die Sonne nur noch wie eine fahle rote Scheibe am Himmel schien und daß ihre Strahlen nicht mehr die Kraft von früher hatten. Da der Nebel die Sonnenstrahlen aufhielt, konnten sie nicht mehr die ehemalige Wärme spenden, und das wirkte sich mit jedem Tag immer schlimmer aus. Die Halme auf den Getreidefeldern hörten auf zu wachsen und gingen ein, das Obst in den Gärten reifte nicht, sondern hing saftlos und zusammengeschrumpft in den Bäumen... Dem Land drohte eine Mißernte, wie es sie seit Jahrtausenden nicht gegeben hatte. Natürlich konnten die Menschen die Mißernte eines Jahres überstehen, wenn es sich nur um ein Jahr handelte und genug Getreide vorrätig war. Doch wovon sollten sich die Tiere ernähren? Außerdem

deutete nichts darauf hin, daß der nächste Frühling besser sein würde. Kurzum, dem Zauberland drohte der Untergang. Das alles hatte die böse Arachna angerichtet.

***

Eines Tages trafen Gäste aus dem Violetten Land in der Smaragdenstadt ein: Der Eiserne Holzfäller, der immer wieder sein goldenes Öfaß hervorholte und ein paar Tropfen in seine Kiefer und Gelenke träufelte, und der Mechaniker Lestar mit seinen Gehilfen. Ein Trupp Holzköpfe kam mit ein Paar Bündel Bambusstäbe, die die Zwinkerer geschickt hatten. Lestar hatte einmal von dem Einbeinigen Matrosen Charlie Black gehört, wie man Dampfheizungen baut, und er hatte beschlossen, den Palast des Scheuchs auf den bevorstehenden Winter vorzubereiten. Er berichtete, daß jetzt auch im Violetten Land Brillen mit Ledereinlagen hergestellt werden. Man hatte damit begonnen, nachdem ein Sonderbote des Scheuchs drei Paar Brillen gebracht hatte, die als Muster dienten. Diese Arbeit war jetzt in vollem Gange. Sie wurde von geschickten Meistern verrichtet, deren es unter den Zwinkerern sehr viele gab. Lestar berichtete ferner, daß die Luft im Violetten Palast und in den Häusern der Zwinkerer täglich nach der Methode Urfin Juices gereinigt werde. Das, sagte er, habe sich als gutes Mittel gegen den Gelben Nebel erwiesen. Der Scheuch und sein Stab waren über diese Nachricht sehr erfreut. Wenige Tage später traf auch der Tapfere Löwe ein, der nach dem langen Weg ein wenig hinkte. Die entzündeten Augen zugekniffen und hustend, teilte er mit, daß er seine Angehörigen und Untertanen in das Rosa Land evakuiert habe, wo sie den Schutz der guten Stella genossen. Er selbst, fuhr er fort, habe beschlossen, sich in die Smaragdenstadt zu begeben, um nachzusehen, ob die Gerüchte, die ihm zu Ohren gekommen seien, stimmten. Er habe von den Ränken einer bösen Hexe gehört und von der Not, in der sich das Zauberland befinde. Die Doktoren Robil und Boril nahmen den König der Tiere sofort in Behandlung. Nachdem sie eine Durchblasung seiner Lungen durchgeführt und ihm Augentropfen verabreicht hatten, fühlte sich der Löwe viel besser. Doch wegen der verbundenen Tatzen, der grünen Filtern vor den Nüstern und der großen Brille hatte er von seinem majestätischen Aussehen so viel verloren, daß der Scheuch nur schwer ein Lachen unterdrücken konnte. Als die Doktoren mit der Behandlung fertig waren und den Löwen in Ruhe ließen, sagte er: „Bei uns hat es geschneit. So nennt nämlich die Köchin Fregosa den Schneefall, denn so hat sie es von Elli gehört, als diese ihr von Kansas erzählte."

„Was ist Schnee? Ich verstehe das nicht", fragte Faramant.

Die Frage war nicht verwunderlich, denn im Zauberland herrschte seit Jahrtausenden ewiger Sommer. Der Löwe erklärte: „Schnee - das sind weiche weiße Flocken, die vom Himmel kommen. Sie sehen wie der Flaum aus, der von den Pappeln fällt, nur sind sie kalt. Aber sie schmelzen, wenn sie auf das Fell eines Tieres oder auf die Erde fallen, und dann bilden sie Wassertropfen... "

Die Krähe mischte sich ins Gespräch. Sie sagte: „Als ich über die Weltumspannenden Berge flog, um einen Weg für Elli und den Riesen auszukundschaften, sah ich sehr viel Schnee. Er ist wirklich weiß, doch nicht so weich wie der Löwe sagt. Er liegt auf den Hängen und ist so hart, daß ein Mensch darauf gehen kann, ohne zu versinken." Alle Anwesenden wandten sich zum Fenster, um auf die funkelnden schneebedeckten Gipfel zu blicken, die bei heiterem Wetter von der Stadt aus gut zu sehen waren. Leider konnten sie nichts sehen, denn alles war in trüben Nebel gehüllt.

Kaggi-Karr fuhr fort: „Auch mir hat Elli erzählt, daß bei ihnen in der Großen Welt einmal im Jahr eine kalte Zeit anbricht und sehr viel Schnee fällt. Die Menschen sagen dann: Es ist Winter. Im Winter wird das Wasser von der Kälte hart wie Stein, und man nennt es Eis. Die Menschen ertragen jedoch leicht den Winter, weil sie warme Wohnungen und warme Kleider haben."

Der Scheuch fuhr plötzlich zusammen, legte den Finger an die Stirn und brummelte: „Kleider... Wohnungen..."

Alle blickten ihn verwundert an. Ehe sie etwas sagen konnten, gebot er ihnen zu schweigen. „Ich werde jetzt nachdenken!" sagte er. Der Kopf des Scheuchs blähte sich gewaltig auf, und plötzlich traten aus ihm rostige Nadeln hervor. Die Rostfarbe kam allem Anschein nach vom giftigen Nebel. Der Holzfäller nutzte die Gelegenheit und tröpfelte Öl auf sie. Lange dauerte das Schweigen des Scheuchs, das niemand zu unterbrechen wagte. Dann öffnete er den Mund und sagte feierlich: „Wir müssen Ann und Tim herbeirufen!" Er setzte den Anwesenden seine Gedanken auseinander: „Die Menschen von jenseits der Berge haben dem Zauberland viel Nutzen gebracht. Wer hat die Smaragdenstadt aufgebaut? Goodwin. Freilich war er, wie sich herausstellte, kein Zauberer, aber wem, wenn nicht ihm, haben wir- der Holzfäller, der Löwe und ich - unsere hohe Stellung zu verdanken? Und Elli? Wie viel Gutes hat sie uns getan! Sie hat die bösen Zauberinnen Gingema und Bastinda vernichtet, sie und ihr Onkel, der Riese von jenseits der Berge, haben uns geholfen, die Holzsoldaten Urfin Juices zu besiegen. Elli hat die Unterirdischen Erzgräber aus der Höhle hinausgeführt und sie aus der Gewalt der grausamen Könige befreit. Ja, was gibt es da viel zu reden, wir alle wissen doch, was für Heldentaten Elli vollbracht hat! Ich will euch lieber daran erinnern, wie

Ann und Tim uns den Frieden mit den kriegerischen Marranen gesichert und die Macht des tückischen Urfin endgültig gestürzt haben..." Der Scheuch holte nach der langen, ermüdenden Rede tief Atem und schloß: „Deshalb wiederhole, betone und re-sü-mie-re ich: Nur Ann und Tim werden dem Zauberland Rettung bringen. Sie werden uns lehren, warme Häuser zu bauen und Winterkleider zu nähen. Und vielleicht ... ja vielleicht, wird es ihnen auch gelingen, die böse Arachna zu besiegen!" Die letzten Worte des Scheuchs gingen in stürmischem Beifall unter. Alle Mitglieder des Großen Rats waren von der Macht der Menschen, die jenseits der Berge lebten, so überzeugt, daß ihnen schien, nun seien alle Gefahren überwunden. Blieb nur noch zu überlegen, wie man Ann und Tim benachrichtigen und sie in das Zauberland bringen könnte. Das war eine schwierige Frage, und alle Anwesenden begannen angestrengt nachzudenken. Nach langem Schweigen sagte Ruschero: „Freunde, wir haben nur einen Ausweg. Wir müssen Oicho, den Drachen, nach den Kindern schicken. Er hat Elli und Fred nach Kansas geflogen, er kennt den Weg, und wir dürfen uns auf seine Treue und Klugheit verlassen." Gegen diesen vernünftigen Vorschlag konnte niemand etwas einwenden, alle stimmten dafür, und man ging zu den Einzelheiten über. Es fragte sich nun, ob man lieber einen Brief oder einen Boten schicken sollte. Ein Brief ist schnell geschrieben, doch in einem Brief läßt sich nicht alles sagen, worauf es ankommt, und außerdem haben die Buchstaben auf dem Papier nicht die Überzeugungskraft der lebendigen Sprache. Der Scheuch warf Kaggi-Karr einen Blick zu. Diese verstand und schüttelte den Kopf. „Lieber Freund, ich würde mich gern auf den Weg machen, aber du hast wohl vergessen, daß ich außerhalb der Grenzen des Zauberlandes nicht imstande bin, wie ein Mensch zu sprechen. Was nutzt aber ein Bote, der nicht sprechen kann? Wir müssen einen Menschen hinschicken." Es wurden zwei Namen genannt: Faramant und Lestar. Beide kannte Ann, beide konnten sprechen und taten es gerne. Den Mechaniker konnte man aber jetzt in der Zauberstadt nicht missen, war er doch gerade dabei, Zentralheizung im Palast zu installieren. Man einigte sich, Faramant nach Ann und Tim zu schicken. Der Hüter des Tores nahm den Auftrag an. Zwar war ihm bange vor einer solch weiten Reise, dazu noch in der Luft und auf dem Rücken eines Drachen. Andererseits schien ihm aber verlockend, als einziger unter Dutzenden Tausenden Einwohnern des Zauberlandes die Große Welt zu besuchen. Man durfte keine Zeit verlieren, denn mit jedem Tag rückte der Winter näher, eine hierzulande unbekannte und schreckliche Naturerscheinung, die seit vielen Jahrhunderten zum erstenmal das Zauberland bedrohte. Oicho hielt sich wie die anderen Drachen in der Höhle auf, die Schutz vor dem Gelben Nebel bot. Es hatte keinen Zweck, ihn in die Smaragdenstadt zu rufen, denn, bis er kam, würden mehrere kostbare Tage vergehen. Daß Faramant mit seinen kurzen Beinen den Weg in das Blaue Land zu Fuß zurücklegte, hatte gleichfalls keinen Sinn, denn das würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb fertigten Lestar und seine Gehilfen schnell eine leichte Trage an, die zwei Holzboten auf ihre Schultern nahmen. Schnellfüßig und unermüdlich wie sie waren, konnten sie Faramant in knapp vierzig Stunden zur Höhle bringen, wo die Erzgräber, dem schriftlichen Befehl des Herrschers Ruschero gehorchend, für das Weitere sorgen würden. Kaggi-Karr sagte, sie wolle Faramant begleiten, wogegen niemand Einspruch erhob. Zu zweit würde die Reise immerhin angenehmer sein, sagte sie, und weder die Boten noch der mächtige Drache würden sie, die leichte Kaggi-Karr, als Last empfinden. Schnellen, federnden Schrittes liefen die hölzernen Boten mit der Trage, auf der Faramant es sich bequem gemacht hatte. Ihnen voraus lief ein dritter hölzerner Bote, der in einem fort rief: „Bahn frei! Bahn frei!" An jenen Tagen war es nicht so einfach, auf der gelben Backsteinstraße vorwärtszukommen. Der Weg war vollgestopft mit Herden von Tieren, die in der Höhle Zuflucht zu finden hofften. Sie wußten nicht, ob die Menschen sie einlassen würden, doch sie hatten gehört, daß es dort, unter der Erde, niemals kalt sei. Auf der Straße bewegten sich Hasen, Waschbären und Kaninchen, Antilopen mit stolz gereckten Köpfen, schwer stampfende Bisons und Hirsche. Tiger, Luchse, Hyänen, Wölfe und Füchse trabten am Rande des Weges. Diese wilden Tiere wußten, daß man sie in die Höhle nicht einlassen werde und wollten sich deshalb bis zum Land der guten Fee Willina durchschlagen, wo nach wie vor Sommer war, wie die Vögel erzählten, die lange vor Anbruch der Fröste in den Besitzungen Stellas, Willinas und Arachnas Schutz gefunden hatten. Die böse Hexe schnaubte, als sie sah, wie sich ihre Wiesen und Felder jeden Tag mehr und mehr mit Tieren aus den Nebelgebieten füllten. Aber sie konnte gegen die ungebetenen Gäste nichts unternehmen, weil ihre Zahl bereits gewaltig war. Arachnas Zorn war auch durch den Widerstand der Menschen erregt worden. Der schnelle Sieg, auf den sie gerechnet hatte, blieb aus. Der Gelbe Nebel verrichtete sein schädliches Werk, er fraß die Lungen der Menschen und der Tiere, entzündete ihre Augen, daß die Tränen in Strömen flossen, schwächte ihre Sehkraft... Doch diese schlauen Menschen hatten Mittel zur Bekämpfung des Nebels gefunden. Sie atmeten die Luft durch Rafalooblätter, die die giftigen Tropfen zurückhielten und ihnen den Weg in die Lungen versperrten, und sie schützten ihre Augen mit lederumrandeten Brillen, auf deren Gläser der Nebel niederschlug. Sie reinigten die Luft in ihren Häusern nach dem Verfahren von Urfin Juice, der sich geweigert hatte, in ihren, der mächtigen Arachna, Dienst zu treten, und der sie jetzt an der Ausführung ihrer Pläne hinderte.

Die Menschen bewegten sich auf den in Nebel gehüllten Wegen fast so schnell wie früher, denn alle zwanzig bis dreißig Schritt standen Wegweiser mit Aufschriften. Arachna begriffjetzt, daß die Menschen sich nicht so leicht unterwerfen lassen.

AUF DER FARM VON JOHN SMITH

Wie auf Windesflügeln hatten die mechanischen Traber Cäsar und Hannibal den langen Weg vom Violetten Palast zur Farm in Kansas zurückgelegt, und als sie ankamen, stürzten sich Ann und Tim in die Arme ihrer freudestrahlenden Eltern.[7]

Elli, die sich gerade beim Unterricht im College befand, wurde sofort benachrichtigt, und die tapferen Wanderer begannen auszupacken. Ihr Bericht nahm mehrere Tage in Anspruch. Elli bereute es jetzt, die Richter überredet zu haben, Urfin Juice die verdiente harte Strafe zu erlassen und ihn lediglich des Landes zu verweisen.

„Hätte ich gewußt, daß er die Springer betrügen wird... Hätte ich gewußt, daß er die Smaragdenstadt wieder erobern wird!... Ja, hätte ich gewußt...", wiederholte sie traurig. „Es hat doch alles gut geendet", versuchte Ann, sie zu trösten.

,,Urfis wird jetzt nie wieder die Macht erobern! Tim hat mit seinem Volleyballspiel alle Hoffnungen des Tischlers zerschlagen, und dabei wurde kein Tropfen Blut vergossen!"

Die Zuhörer mußten schmunzeln, als sie sich vorstellten, wie die Marranen, die einen Kampf auf Tod und Leben erwartet hatten, sich in leidenschaftliche Volleyballspieler verwandelt und es vorgezogen hatten, statt den Feind den Ball zu schlagen. Dann begann die Schule, und Tim und Ann gaben sich ganz dem Lernen hin. Grammatik und Arithmetik, Schönschreiben, Geschichte und Erdkunde des Heimatlandes... Am Vormittag Schule, am Nachmittag Hausaufgaben... Darüber gerieten die spannenden Abenteuer nach und nach in Vergessenheit. Vor Schluß des Schuljahres gab es ein Ereignis, über das alle Menschen auf der Farm sehr erfreut waren: Kapitän Charlie Black war wieder einmal zu Besuch bei seinen Verwandten eingetroffen. Vor einigen Jahren, als der Einbeinige Seemann die Familie Smith aufgesucht hatte, war Ann noch ganz klein gewesen.

Aber sie erkannte jetzt den Onkel sofort wieder, denn Charlie hatte sich nur wenig verändert. Dieselbe muskulöse und straffe Gestalt, nur daß das Gesicht jetzt etwas brauner und die Stirn um ein paar Falten reicher war. Auch hatte Charlie jetzt mehr graue Haare als früher. Wie immer hielt er die alte Pfeife im Mund, und wie ehemals stampfte er mit dem Holzbein, das runde Spuren im Staub hinterließ. Charlie war gerade von den Kuru-Kussu-Inseln zurückgekehrt, die er regelmäßig zu besuchen pflegte, um mit seinen Freunden, den Menschenfressern, Tauschhandel zu treiben. Der Seemann hatte seinen Verwandten viele Geschenke mitgebracht: große Muscheln, in denen man, wenn man sie ans Ohr legte, das ferne Rauschen der See hören konnte, hölzerne kleine Götter mit bizarren Gesichtern, ausgestopfte Papageien mit farbenprächtigen Federn... Charlie hatte auch an die Kinder auf den Nachbarfarmen gedacht. Tim O'Kelli erhielt einen straffgespannten Bogen mit Pfeilen, und wenn er aus der Schule kam, lief er schnurstracks in die Prärie, wo er stundenlang Rebhühner und Zieselratten jagte. Kaum hatte Charlie Black den gastlichen Boden der Farm betreten, da erzählte man ihm auch schon von den Abenteuern Anns und Tims im Zauberland.

„Bei allen Gewittern der Südsee!" rief Charlie, hefig paffend, „ich sehe, daß die kleine Schwester nicht weniger Abenteuerglück hat als die große! Aber halt, Anker zurück! Das Mädchen soll selbst erzählen, und zwar mit allen Einzelheiten, Tim mag sie verbessern, wenn sie etwas falsch sagt. Du aber, Artochen, setz dich neben uns, schau mir in die Augen und wedle mit dem Schwanz, wenn alles stimmt, was Ann erzählt." Charlie Blacks Wunsch wurde erfüllt. Mehrere Abende saß er mit den Kindern auf einem großen Stein in der Prärie, hörte der langen Geschichte vom Feuergott der Marranen zu, nickte beifällig oder fluchte auf Seemannsart, wenn ihm etwas nicht gefiel und seinen Zorn erregte. „Sag bitte, wo ist der Silberreif, den der König der Füchse dir geschenkt hat?" fragte er die Nichte, als sie geendet hatte. „Hast du ihn mitgenommen?"

„Wozu denn?" fragte das Mädchen verwundert. „In Kansas hätte er doch keine Zauberkraft gehabt. Ich hab ihn im Violetten Palast beim Eisernen Holzfäller gelassen."

„Schade, schade", sagte der Seemann, die Brauen runzelnd. „Silber und Rubine werden überall geschätzt."

„Aber Onkel, Geld ist doch nicht das Wichtigste im Leben!" wandte Ann ein. „Hier würden wir dafür, ich weiß nicht wieviel Dollar bekommen, dort aber wird der Reif vielleicht meinen Freunden in einer wichtigen Angelegenheit nutzen..." „Hol mich der Pottwal, wenn das nicht stimmt, Mädchen!" sagte der alte Seemann anerkennend. Schon am ersten Tag nach seiner Ankunft hatte man Charlie die mechanischen Maulesel gezeigt, die seine Bewunderung erregten. Er streichelte ihr samtenes Fell, unter dem die starken Muskeln sich wölbten, zauste ihre zottigen Mähnen und rief ihnen zärtliche Worte zu, die sie mit lautem Wiehern erwiderten. Cäsar und Hannibal spielten jetzt in der Wirtschaft John Smiths eine wichtige Rolle. Die brave Stute Mary konnte nun ausruhen, denn die Maulesel verrichteten jetzt alle Feldarbeiten. Vor den Pflug gespannt, bearbeiteten sie das Feld, zogen dann die schwere Egge und waren unermüdlich, bis man die Ernte unter Dach und Fach hatte. Die Maulesel besorgten alles so schnell, daß John viel freie Zeit blieb, die er dazu verwandte, den Nachbarn bei Aussaat und Ernte zu helfen, womit er nicht wenig Geld verdiente. Der Farmer konnte sich an seinen gehorsamen und unermüdlichen mechanischen Helfern nicht sattsehen, und nur an sonnenlosen Tagen führte er sie in den Stall. Wie viele Dankbriefe schrieb Ann unter seinem Diktat an Fred Cunning, der jetzt schon Ingenieur im mechanischen Werk der Brüder Osbaldiston im Staat Minnessota war! Selbstverständlich unternahm Charlie Black mit den mechanischen Mauleseln oft Spazierritte. Ein geschickter Reiter wie alle Seeleute, galoppierte er auf dem Rücken Hannibals durch die Prärie, und an seiner Seite jauchzte Ann auf dem Rücken Cäsars. „Schneller, noch schneller!" rief das Mädchen, den Geschwindigkeitshebel auf Höchsttempo stellend. Kurz vor dem Tag, an dem Charlie Black abreisen sollte, gab es ein Ereignis, das alle seine Pläne umwarf und ihn in neue ungewöhnliche Abenteuer verstrickte.

DER BOTE AUS DEM ZAUBERLAND

Einmal saßen Charlie Black, Ann und Tim bis zum Abend in der Prärie. Tim konnte nicht aufhören, den Seemann zu bitten, ihn mitzunehmen. „Was macht es schon aus, Kapitän, daß ich erst elf bin!" sagte der Junge. „Bin ich vielleicht nicht groß und stark wie ein Fünfzehnjähriger? Aus mir wird noch ein prima Schiffsjunge, drauf könnt Ihr Euch verlassen!"

Der paffende Kapitän erwiderte scherzend:

„Wird es dir nicht leid tun, deine Freundin zu verlassen, Tim? Sie wird sich doch nach dir sehnen!"

Tim runzelte die Stirn und wiederholte, was er von Erwachsenen gehört hatte: „Männer sollen in die Welt ziehen, um ihr Glück zu suchen, Frauen aber sollen zu Hause bleiben und den Herd hüten." Der Kapitän schüttelte sich vor Lachen.

„Bei allen Eisbergen, das ist gut gesagt! Hör mal, Junge, in drei vier Jahren komme ich wieder, und dann bist du schon groß, und ich nehme dich als Matrose mit."

Damit konnte sich Tim natürlich nicht abfinden. Er wollte schon etwas entgegnen, doch in demselben Augenblick gewahrte das scharfe Auge des Seemanns am abendlichen Himmel einen dunklen Punkt, der schnell größer wurde, näher kam und schließlich seltsame Umrisse annahm. Am rötlichen Horizont erschienen ein hässlicher Kopf mit einem langen Hals, der einen Kamm trug, zwei riesige schwingende Flügel und ein Rücken, auf dem ein kleiner Käfig stand. „Ein Drache! Die Erde soll mich verschlingen, wenn das nicht ein Drache ist!" rief Charlie aus. „Genauso einen haben ich und Elli in der Höhle gesehen, in die uns der unterirdische Gang geführt hatte!" „Das kann nur Oicho sein", rief Ann entzückt. „Ja, das ist Oicho!" sagte Tim. „Nur er kennt den Weg nach Kansas!" Der Drache, dessen gelblicher Bauch in den Strahlen der untergehenden Sonne glänzte, zog große Kreise über dem Seemann und den Kindern, die aufgesprungen waren. Jetzt konnte man auch einen Kopf mit einem spitzen Hut und ein Gesicht erkennen, aus dem zwei Augen die Leute auf der Erde aufmerksam betrachteten.

„Faramant! Ann, das ist doch Faramant!" rief Tim freudig und fuchtelte mit den Armen, womit er dem Drachen zu verstehen gab, er möge herabsteigen. Das Ungeheuer ging rauschend nieder. Aus dem Käfig wurde die Tür aufgestoßen und eine Strickleiter herabgelassen, die ein kleiner Mann mit grünem Rock und grüner Brille hinabzusteigen begann. Er hatte den Fuß noch nicht auf die dritte Stufe gesetzt, als ein schwarzer Vogel aus dem Käfig flatterte und direkt auf Ann zuflog. „Kaggi-Karr!" schrie Ann überrascht.

Sie drückte die Krähe an ihre Brust und streichelte ihr struppiges schwarzes Gefieder. „Kaggi-Karr, liebe, teure Kaggi-Karr, welche Freude, Euch zu sehen!"

Die Krähe erwiderte den Gruß mit einem Krächzen, das sich fast wie ein Gurren anhörte. Inzwischen hatte der kleine Mann mit der grünen Brille die Erde erreicht. Freundlich begrüßte er Charlie Black und die Kinder. „Es freut mich, Euch zu sehen, Herr Riese von jenseits der Berge, und auch euch, Ann und Tim, freut es mich, zu sehen", sagte er. „Ich bin mit dem Drachen Oicho in einem sehr wichtigen Auftrag hergekommen..." Bei der Erwähnung seines Namens wandte der Drache den häßlichen Kopf mit den großen klugen Augen Ann zu, die auf ihn zuging und seinen schuppigen Hals streichelte. Oicho erwiderte die Liebkosung mit freudigem Schwanzklopfen. Faramant schilderte kurz, was sich in den letzten Monaten im Zauberland ereignet hatte: Das Erwachen der bösen Hexe Arachna aus ihrem fünftausendjährigen Schlaf, ihre

Absicht, die Einwohner des Landes zu Sklaven zu machen, die stolze Ablehnung der freiheitliebenden Völker und schließlich die verheerenden Folgen des Gelben Nebels, den die Hexe ausgelöst hatte. „Jetzt sind Ann und Tim unsere einzige Hoffnung!" schloß der Hüter des Tores seinen traurigen Bericht. „Sie haben uns im Kampf mit Urfin Juice und den kriegerischen Marranen geholfen, und jetzt hoffen wir, sie werden uns lehren, den Winter zu bekämpfen, der auf unsere Felder und Wälder zurückt..."

Der Kapitän erwiderte kopfschüttelnd: „Ihr irrt Euch, mein Freund, wenn Ihr meint, man könne den Winter mit warmen Häusern und warmer Kleidung besiegen. Bei uns kommt der Winter und vergeht, auf ihn folgen Frühling und Sommer. Bei Euch aber wird der Winter, wie ich Euren Worten entnehme, ewig andauern, wenn der Gelbe Nebel sich nicht verzieht. Der wird aber so lange anhalten, als die tückische Arachna lebt. Also steht die Frage so: Entweder die Hexe wird besiegt, oder das Zauberland geht unter. Und möge mir mein Holzbein in die Erde hineinwachsen, wenn ich mich nicht einmische und nicht alles tue, um Euer herrliches Land zu retten!"

„Hurra!" riefen die Kinder und umarmten den tapferen Seemann stürmisch. „Was sollte denn einen Globetrotter wie mich auch daran hindern?" fuhr der Kapitän fort. „Ich schreibe meinem ersten Offizier, er soll ohne mich nach den Kuru-Kussu-Inseln auslaufen, während ich eine Reise auf dem Drachen unternehme! Es muß doch interessant sein, so ein Verkehrsmittel auszuprobieren!"

Faramant wischte die Freudentränen weg, die hinter seiner grünen Brille hervorkullerten, und die Krähe schlug Purzelbäume in der Luft. „Habe ich Euch richtig verstanden, verehrter Riese von jenseits der Berge?" fragte schüchtern der Hüter des Tores. „Ihr habt Euch entschlossen, zu uns zu fliegen und den Kampf mit der bösen Arachna aufzunehmen?" „Ja", erwiderte der Seemann kurz. „Dann hat meine Botschaft einen Erfolg gehabt, von dem wir nicht einmal zu träumen wagten!" sagte Faramant strahlend. „Unvorstellbar. Der Riese von jenseits der Berge wird höchstpersönlich für unser Wohlergehen gegen die Hexe kämpfen! Oh, dann bin ich des Erfolges sicher!"

„Überschätzt Ihr nicht meine Kräfte?" schmunzelte Charlie Black und nahm die erloschene Pfeife aus dem Mund, um sie wieder anzuzünden. „Oh, nein, großer Freund und Beschützer!" versicherte Faramant lebhaft. „Nimmst du uns mit, Onkel Charlie?" fragte Ann vorsichtig. „Euch?" entgegnete der Seemann, verschmitzt lächelnd. „Das muß ich mir noch überlegen." „Was gibt es da zu überlegen?" entrüstete sich das Mädchen. „Oicho ist uns holen gekommen, und nicht dich! Du bist doch nur zufällig auf unserer Farm." „Schon gut", wehrte Charlie ab. „Darüber muß ich noch mit euren Eltern sprechen. Vorläufig aber überlegt, wo ihr den Drachen unterbringt, solange er hier ist."

Faramant sagte, Oicho habe die Zeit seines Fluges eigens so gewählt, daß er hier spät abends eintreffe, um nicht allzu großes Aufsehen zu erregen. Es habe schon einmal viel Aufregung gegeben, als er Fred und Elli herbrachte. Man hatte damals einen Fehler begangen, denn als der Drache auf die Wiese niederging, lief fast die Hälfe der Stadtbevölkerung zusammen. Zum Glück kannte Tim eine tiefe Schlucht in der Nähe, die niemand besuchte. Dorthin brachte man den Drachen. Es wurde ihm eingeschärft, ruhig dazuliegen, und versprochen, ihm nachts Futter zu bringen. Die ganze Nacht brannte auf den Farmen der Smiths und der O'Kellis Licht, die ganze Nacht schliefen weder die Erwachsenen noch die Kinder der beiden Familien. Man beriet, ob man Ann und Tim ein zweites Mal in das Zauberland ziehen lassen solle. Der Wunsch Charlie Blacks, den Kampf gegen Arachna aufzunehmen, wurde nicht beraten, denn Charlie war ein erwachsener Mann, der selbst entschied, was er zu tun habe, und außerdem hatte er schon manches gefährliche Abenteuer glücklich überstanden. Am Morgen entschieden die Smiths und die O'Kellis folgendes: Da die Kinder schon zu zweit auf den mechanischen Mauleseln in das Land der Wunder gereist und unversehrt heimgekehrt waren, durfte man sie jetzt um so mehr ziehen lassen, als Kapitän Black auf sie achtgeben und ein so zuverlässiges Transportmittel wie der zahme Drache sie befördern würde. Auch wurde berücksichtigt, daß es sich nicht um eine Unterhaltungsreise, sondern um die Rettung eines ganzen Landes handelte. Zugleich wurde Ann und besonders Tim, dessen Übermut in der ganzen Umgebung bekannt war, streng verboten, sich in ein Handgemenge mit der Hexe einzulassen, und ihnen eingeschärft, jede Gefahr zu meiden. Die Kinder versprachen es mit geradezu verdächtiger Leichtigkeit. Als die ersten Sonnenstrahlen den Himmel röteten, lagen die beiden Farmer und ihre Familien, von der stürmischen Nacht erschöpft, in tiefem Schlaf. Die Reisevorbereitungen dauerten drei Tage. Obwohl der Rucksack des Einbeinigen Seemanns und seine Taschen wie immer bodenlosen Werkzeugspeichern glichen, konnten sie doch nicht alles fassen, was Charlie für sein Vorhaben brauchte. Er fuhr in die Nachbarstadt und kaufte dort einen Bund dicken Blechs und eine Metallschere. In einer Fabrik bestellte er ein paar Dutzend Federn verschiedener Größe und Stärke aus bestem Stahl. Der Auftrag enthielt auch unzählige Schrauben, Muttern und Schraubenschlüssel aller möglichen Größen. Charlie Black zahlte über den Normalpreis, und der Auftrag wurde schnellstens ausgeführt.

Auf alle Fragen, wozu er so viel Metall brauche, lächelte der Kapitän geheimnisvoll. Der Drache lag ruhig in seinem Versteck. Elli, die der Kapitän über die Ankunft der Boten aus dem Zauberland benachrichtigt hatte, besuchte ihn heimlich, was ihr große Freude bereitete. Aber noch mehr freute sie sich über das Wiedersehen mit Kaggi-Karr und Faramant. Kaggi-Karr konnte ihre Gefühle jetzt nicht in Worten. ausdrücken, doch sie schmiegte sich so zärtlich an das Mädchen, daß jede Erklärung überflüssig war. Faramant übermittelte Elli einen flammenden Gruß vom Scheuch, vom Eisernen Holzfäller, vom Tapferen Löwen und von allen anderen Freunden. Er erzählte ihr von den schrecklichen Ereignissen, die das Land erschüttert hatten, und am Schluß fügte er hinzu, der Scheuch bitte Elli, nach Beendigung des Colleges eine Lehrerstelle in der Smaragdenstadt anzunehmen. Der Scheuch habe versprochen, führ Faramant fort, für Ellis Schule ein Haus zu bauen, das in der Welt nicht seinesgleichen hat. Er trage den Plan bereits fertig im Kopf, die hölzernen Männer hätten mit der Bereitung des Baumaterials begonnen, doch wegen des Unglücks, das über das Land hereingebrochen ist, verzögere sich die Ausführung. Es bestehe aber kein Zweifel, daß man das Unglück bannen und die Schule aufbauen werde. Elli versprach lächelnd, sich dieses schmeichelhafte Angebot durch den Kopf gehen zu lassen. Beim Abschied schenkte Faramant ihr seine grüne Brille als Souvenir aus dem Zauberland. Für ihn war das ein großes Opfer, denn er hatte, dem Befehl des Großen Goodwin folgend, die Brille viele Jahre nicht abgenommen und sich so sehr an sie gewöhnt, daß sie ihm wie ein Teil seines Gesichts vorkam. Jede Nacht brachten Tim und Ann dem Drachen einen Handwagen mit Essen. Da waren ein großer Topf mit Brei, fünf Eimer gekochte rote Rüben, zwei Sack Brot und noch vieles andere. Während der Auftrag Charlies in der Fabrik ausgeführt wurde, saß dieser nicht untätig da. Anstelle des kleinen Käfigs, in dem Faramant und Kaggi-Karr gekommen waren, baute der geschickte Meister eine große Kabine, in der vier Personen mit Gepäck ausreichend Platz fanden. Die mechanischen Maulesel konnte man natürlich nicht mitnehmen. Erstens, weil man für sie eine viel größere Kabine brauchen würde, und zweitens-das war das wichtigste-, weil die Maulesel im Gelben Nebel nicht die Sonnenenergie bekommen würden, die sie zum Aufladen brauchten, und folglich nutzlos wären. Es kam die Stunde des Abschieds. In finsterer Nacht versammelten sich alle Einwohner der beiden Farmen vor der einsamen Schlucht. In der Nähe schimmerte dunkel der riesige Leib des Drachen. Vor dem Abflug hatte Oicho doppelt soviel gefressen wie gewöhnlich, damit es ihm für den ganzen weiten Weg reichte. Die Kabine war mit starken Riemen an seinen Rücken festgeschnallt, die Ballen mit dem Blech, den Federn und dem Werkzeug lagen hinter der Kabine in Schwanznähe. Das war eine schwere Last, doch dem Drachen mit seinen gewaltigen Kräften machte das nichts aus. Die letzten stürmischen Umarmungen, Küsse, guten Wünsche und strengen Ermahnungen... Vor der Besteigung der Strickleiter fragte der Seemann seine Nichte: „Hast du Tilli-Willi nicht vergessen?" „Nein, Onkel, er liegt bei mir im Rucksack."

Tilli-Willi hieß der kleine heidnische Götze, den der Kapitän Ann geschenkt hatte. Er unterschied sich von den anderen Götzen, die der Seemann von den Kuru-Kussu-Inseln mitgebracht hatte, durch seine besondere Häßlichkeit. Welchen geheimen Zweck Charlie Black mit diesem Götzen verfolgte, wird der Leser noch erfahren. Als letzter bestieg Tim O'Kelli die Kabine. Er trug das Hündchen Arto unterm Arm, das gleichfalls an der ungewöhnlichen Expedition zur Rettung des Zauberlandes vor den Tücken der Hexe Arachna teilnehmen sollte. Oicho schwang die mächtigen Flügel, ein Wirbel aus Staub und trocknem Gras erhob sich, und im nächsten Augenblick verschwand der Drache mit seiner Last im finsteren Himmel.

DER FLUG MIT DEM DRACHEN

Die Reisenden schliefen mehrere Stunden ruhig auf den bequemen Pritschen in der gleichmäßig schaukelnden Kabine. Als sie erwachten, lagen bereits viele Dutzende Meilen hinter ihnen. Der Kapitän und seine Gefährten nahmen das Frühstück ein und schauten zum Kabinenfenster hinaus. In der großen Höhe, in der Oicho flog, konnten die Kinder jedoch wenig erkennen, und Langweile beschlich sie. Der Seemann erzählte die lange Geschichte von den Abenteuern, die er in Südafrika erlebt hatte, als er noch jung war. Immer weiter trug der Drache mit seinen mächtigen Flügeln die Menschen, bis sie die Große Wüste erblickten. Ein unüberwindliches und schreckliches Hindernis für Fußgänger und Reiter, bot diese Wüste dem Zauberland sicheren Schutz gegen die übrige Welt. Oicho bewegte leicht und schnell die riesigen Hautflügel, ihm konnten weder der endlose Sand noch die schwarzen Steine Gingemas bange machen. Die schwarzen Steine! Wie viele Erinnerungen weckten sie bei den Insassen der Kabine! Charlie Black mußte daran denken, wie er, Elli und Toto an einem solchen schwarzen Stein fast vor Durst vergingen und wie dann die Krähe Kaggi-Karr mit einer herrlichen Weintraube angeflogen kam und ihnen das Leben rettete. Die Krähe schien an dasselbe zu denken, denn sie blickte den Seemann mit einem Ausdruck an, als wollte sie sagen: ,Ich kann mich noch genau daran erinnern, aber ich empfinde gar keinen Stolz deshalb!"

Charlie streichelte Kaggi-Karr, die sich sehr zärtlich an ihn schmiegte. Als Tim und Ann die zwei schwarzen Pünktchen im gelben Sand erblickten, erinnerten sie sich daran, wie das Mädchen im vergangenen Jahr an dieser Stelle fast gestorben wäre, hätte Hannibal sie mit seiner Kraft und Ausdauer nicht gerettet. Unter den Flügeln des Drachen zeigten sich die Weltumspannenden Berge, die der große Zauberer Hurrikap in alter Zeit erschaffen hatte. Ein undurchdringliches Chaos von Bergketten und tiefen Schluchten mit noch unerforschten Geheimnissen lag da unten, und Ann und Tim dachten mit Staunen, wie flink ihre mechanischen Maulesel gewesen sein mußten, um dieses Hindernis zu überwinden. Lachend versprachen sich der Junge und das Mädchen, die Weltumspannenden Berge in Zukunft nur noch mit Drachen oder äußerstenfalls mit Riesenadlern von der Art zu überqueren, die sie auf ihrer ersten Reise kennengelernt hatten. Unter ihnen glitten schneebedeckte Gipfel und Gletscher dahin, die das menschliche Auge jedoch nicht blendeten, denn ihr weißer Glanz wurde hier durch den Gelben Nebel gedämpft, der über den Bergen lag, allerdings ohne die Sicht zu stören. Ein ganz anderes Bild bot sich unseren Helden beim Überfliegen des Zauberlandes. Der Nebel war nicht sehr dicht, doch aus der Höhe, in der Oicho flog, konnte man die Erde nicht sehen. Der mächtige Drache verstärkte seine Flügelschläge, doch in dem gelben Dunst schien es, als bewege er sich nicht von der Stelle. Kaggi-Karr und Arto erhielten ihre Sprache zurück, als Oicho noch über den Bergen flog. Daß die Krähe sprechen konnte, kam den Reisenden jetzt gut zustatten, denn Kaggi-Karr hatte das Zauberland kreuz und quer durchwandert und kannte es ausgezeichnet. Sie trat aus der Kabine, setzte sich auf Oichos Kopf und erteilte ihm nun Befehle. Vor allem hieß sie ihn die Höhe verringern und in Tiefflug geben, denn nur so konnte man die Gegenstände auf der Erde ausmachen und den Kurs richtig bestimmen. „Rechts! Geradeaus! Links!...", kommandierte die Krähe, und Oicho führte prompt ihre Befehle aus. Die Kabineninsassen blickten zur Erde. Als Ann das Zauberland gewahrte, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und begann zu weinen. Was war aus dem einst so schönen Land geworden! Wo waren die heiteren Wiesen mit dem üppigen Gras und den herrlichen Blumen verschwunden? Wo das dichte Laub der grünen Haine mit den saftigen Früchten und bunten Papageien, die schreiend von Zweig zu Zweig flogen? Jetzt lag alles öde und ausgestorben da. Schnee bedeckte die weiten Wiesen und nackten Bäume, kalte Winde trieben dürre Blätter vor sich her. Nirgends war ein Tier zu sehen. Alle Vögel waren verschwunden, Gold-und Silberfischlein lagen unter dem Eis, das jetzt die einst durchsichtigen Bäche bedeckte.

Sogar Faramant war vom düsteren Bild der Verwüstung überrascht, das sich den Reisenden bot. Es waren erst sechs Tage seit seiner Abreise vergangen, doch wie schrecklich hatte sich alles in dieser kurzen Zeit verändert! Unfaßbar, welche Gewalt der Winter über die Natur des einst so heiteren und sonnigen Landes errungen hatte! Unweit tauchte mitten im Walde ein langer glatter Streifen auf, in dem die scharfäugige Kaggi-Karr den gelben Backsteinweg erkannte, obwohl er von Schnee verweht war. „Geradeaus und nach rechts!" befahl sie dem Drachen. „Jetzt kommen wir nicht mehr vom Weg ab."

„Oh, wüßtet ihr, wie man dort unten auf uns wartet!" seufzte Faramant. Oicho steigerte das Tempo. Plötzlich erschien auf dem Weg eine Riesenfigur in blauem Gewand, das sich kraß vom weißen Schnee abhob. Faramant packte Charlie Black am Ärmel und lallte mit vor Entsetzen gelähmter Zunge: „Arachna!"

Die Hexe war in das Land der Käuer gekommen, um sich an dem Anblick der Verwüstung, die sie angerichtet hatte, zu weiden. Den zusammengerollten Zauberteppich unterm Arm, stapfte sie über den gelben Backstein und wieherte vor Entzücken. Als sie den Gelben Nebel über das Zauberland ausbreitete, hatte sie keine Vorstellung davon, wie schrecklich die Folgen sein würden. Die Hexe brach in ein dröhnendes Gelächter aus, das sich im kahlen Wald wie Donner anhörte. Bald blieb jedoch die unheimliche Figur Arachnas zurück, und wieder wurde es unten öde und still. Nach dieser unerwarteten Begegnung war es Charlie Black klar, daß der Kampf mit der bösen Hexe, die so ungeheuer groß war, kein leichter sein würde. Doch der Gedanke schreckte den Einbeinigen Seemann nicht, sondern verstärkte in ihm nur die Entschlossenheit, alle Kräfte aufzubieten, um der Hexe das Handwerk zu legen. „Warte nur, verruchte Bestie!" knurrte der Kapitän. „Wenn ich Tilli-Willi auf dich hetze, wird dir der Schreck in die Glieder fahren, ich schwöre es bei allen Stürmen der östlichen Meere!" „Was sagst du da, Onkel Charlie?" wunderte sich Ann. „Wie soll unser kleines Göttchen die Riesin erschrecken können?" „Du wirst es schon noch sehen, Mädchen, nur etwas Geduld, alles hat seine Zeit!" erwiderte Charlie schmunzelnd.

Am folgenden Morgen ging der Drache auf den Großen Platz der Smaragdenstadt nieder.

DER GROSSE RAT

Die Ankunft Charlie Blacks und seiner jungen Gefährten war für die Einwohner der Smaragdeninsel ein großes Fest. Die Stadt hatte ihre ehemalige Pracht verloren: Schnee bedeckte Dächer und Pflaster, es funkelten keine Smaragde mehr, der Springbrunnen auf dem Platz war versiegt, die leuchtenden Farben der Häuser waren im gelben Dunst verblaßt. Doch die Kunde von der Ankunft des Riesen, die sich mit Windeseile über die ganze Stadt ausbreitete, hatte eine magische Wirkung. Wegen des Frostes, der mit jedem Tag grimmiger wurde, drängten sich die Bürger in Haufen zusammen. Im Palast des Scheuchs, wo Lestar mit Ach und Krach die Zentralheizung installiert hatte, saßen Frauen und Kinder und viele alte Leute zusammengepfercht da. Die Menschen, die im Palast keinen Platz gefunden hatten, drängten sich in die kleineren Gemächer, die sie mit der Wärme ihrer Körper zu erwärmen versuchten. Das Haus verließ man nur, wenn es nicht anders ging, zum Beispiel, wenn man an der Reihe war, Holz zur Heizung des Palastes aus dem Wald zu holen. Dann stülpte man sich alle Kleider über, die man nur hatte. Jetzt aber strömte jung und alt auf die Plätze und Straßen der Stadt. Die Leute warfen die Hüte in die Luft und ließen den Riesen von jenseits der Berge und die beiden tapferen Kinder, die ihn begleiteten, hochleben. Naiv wie sie waren, meinten die Menschen, die Rettung sei bereits da, jetzt werde es ihnen bald besser gehen. Doch bis zur Rettung war es noch weit. Wie ehedem war die Sicht auf einen kleinen Kreis beschränkt, in dem man sich vorsichtig bewegen und jeden Augenblick vor den Wegweisern stehenbleiben mußte, um sich zurechtzufinden. Wie ehedem trugen die Menschen Rafalooblätter vor dem Mund und Brillen mit Lederdichtungen vor den Augen. Am meisten aber litten sie unter dem grimmigen Frost, der durch Mark und Bein ging. Zum Empfang der lieben Gäste hatte der Scheuch den Palast verlassen, und das wurde in der Chronik als ein Zeichen außergewöhnlicher Ehrung vermerkt, die bisher noch kein Herrscher des Smaragdenlandes jemandem erwiesen hatte. Mehr noch: Nachdem der Scheuch Ann in seine schwachen Ärmchen geschlossen und wieder losgelassen hatte, machte er ein paar Tanzschritte und sang dabei:

„E-he-he-ha, Ann ist wieder-wieder-wieder da, e-he-he-hoo!" Diese letztere Begebenheit überging jedoch der Chronist in seinen Aufzeichnungen, offenbar, weil er meinte, die Nachfahren brauchten nicht unbedingt über alle kleinen Schwächen eines so hervorragenden Staatsmannes wie der Weise Scheuch unterrichtet zu werden. Als die Empfangszeremonie beendet war, trat im Thronsaal der Große Rat zu einer erweiterten Sitzung zusammen. Außer den ordentlichen Ratsmitgliedern hatten sich jetzt angesehene Bürger und sogar einige Holzköpfe eingefunden, unter ihnen die Brigadiere Watis und Daruk sowie der ehemalige General der Holzarmee Lan Pirot, der neuerdings Tanzunterricht in einem städtischen Gymnasium erteilte (seit kurzem aber arbeitslos war, weil die Schulen wegen der tragischen Ereignisse geschlossen werden mußten). Der Scheuch eröffnete die Sitzung. Er hielt keine lange Rede, sondern faßte sich kurz, wußten doch alle Anwesenden, was geschehen war. Der Scheuch sagte nur, wer sprechen wolle, möge sich in die Rednerliste eintragen. Als erster ergriff Charlie Black das Wort. „Ich bin kein Redner, sondern ein Mann der Tat", sagte der Einbeinige Seemann, der gewohnheitsmäßig an seiner erloschenen Pfeife sog. „Deshalb will ich konkrete Vorschläge machen. Für den Kampf mit Arachna brauchen wir eine fahrbare Festung, die uns ständigen Schutz vor den Überfällen der Hexe bieten soll und aus der wir nach allen Regeln der Kriegstechnik Ausfälle unternehmen können. Der Bau einer solchen Unterkunft würde jedoch lange dauern und viel Mühe kosten. Das können wir uns jetzt nicht leisten, zumal uns eine andere wichtige Arbeit bevorsteht, auf die ich noch zurückkommen werde. Ich schlage deshalb vor, für unsere Zwecke den Wohnwagen zu benutzen, mit dem Elli seinerzeit in das Zauberland gekommen ist."

Der Vorschlag des Kapitäns wurde einstimmig angenommen. „Diesen Wohnwagen habe ich selbst vor vielen Jahren für meine Schwester Anna und ihren Mann John gebaut", fuhr Charlie fort. „Und ich weiß, daß er noch lange dienen kann. Wir werden ihn mit Rädern versehen, und dann soll die Hexe nur versuchen, der Besatzung etwas anzutun!" Seine Rede wurde mit stürmischem Beifall und Hurraschreien quittiert. Ann und Tim teilten mit, daß sie den Wagen erst im vergangenen Jahr gesehen und in bestem Zustand gefunden hatten. Der Scheuch schob die Sache nicht auf die lange Bank, wie man es manchmal in einigen, sogar sehr geschätzten Einrichtungen tut, sondern gab den Brigadieren Watis und Daruk Order, Arbeiter zu holen und mit ihnen ungesäumt in das Land der Käuer aufzubrechen, um den Wagen von dort zu holen. Lan Pirot, der sich schon geraume Zeit vor Nichtstun langweilte, bot sich als Führer des Trupps an. Die unermüdlichen hölzernen Menschen, sagte er, denen der Gelbe Nebel nichts ausmache, würden Tag und Nacht gehen, und in etwa sechs Tagen würden sie mit dem Wohnwagen zurück sein. Kurz danach brachen Watis, Daruk und Lan Pirot als Führer des kleinen Trupps auf. „Und jetzt zur zweiten Frage", fuhr Charlie Black fort. „Meine Nichte Ann hat erzählt, sie habe den wunderbaren Silberreif, der seinen Besitzer jederzeit unsichtbar machen kann, beim Eisernen Holzfäller zurückgelassen. Diesen Reif brauchen wir jetzt. Mit ihm wird Tim O'Kelli unsichtbar in die Besitzungen Arachnas eindringen und dort alles auskundschaften. Vielleicht wird es ihm auch gelingen, ihr das Buch mit den Beschwörungen zu entwenden und es uns zu bringen. Dann werden wir den giftigen Gelben Nebel im Handumdrehen aus dem Lande schaffen." „Ich habe noch etwas mitzuteilen", sagte der Eiserne Holzfäller, sich erhebend. Er drehte den Trichter, der ihm als Kopfbedeckung diente, verlegen in der Hand und fuhr fort: „Wir selbst hätten den Silberreif zu dem Zweck verwendet, von dem Ihr spracht, doch leider..." „...habt Ihr ihn verloren!" beendete Ann aufspringend den Satz. „Ja, und das tut uns schrecklich leid!" gestand der Holzfäller. „Erlaubt mir zu erzählen, wie es sich zugetragen hat: Meine Köchin Fregosa hatte eine zahme Hindin namens Auna. Einmal setzte Fregosa der Auna scherzhalber den Reif auf und drückte dabei versehentlich auf den Rubinknopf, worauf die Hindin sofort verschwand. Vergeblich hat die arme Frau nach ihr gerufen, vergeblich geschrien, sie solle ihr den Reif zurückgeben, die Hindin kehrte nicht wieder..." Ann brach in Tränen aus und konnte sich trotz aller tröstenden Worte des Scheuchs, des Löwen und des Holzfällers lange nicht beruhigen, denn sie liebte zu sehr das schöne Geschenk des Fuchskönigs. „Ja, das ist ein großer und schwerer Verlust", sagte gramvoll Charlie Black. „Nur gut, daß ich mich nicht auf den Reif verlassen habe, sondern auch noch ein anderes Mittel zum Kampf mit der Hexe bereit habe. Habt ihr das Blech und die Federn vom Rücken Oichos abgeladen?" wandte er sich an Faramant.

„Ja, die Holzköpfe haben es auf meine Anordnung getan und alles in den Keller geschafft" „Sehr gut! Ich habe nämlich einen Plan", fuhr er, zur Versammlung gewandt, fort, „nach dem ich einen automatischen Riesen herstellen will, der uns im Kampf mit Arachna helfen soll. Zu diesem Zweck habe ich auch das Material mitgenommen. Blech, Federn und allerlei andere Dinge."

Der Beifall der Anwesenden war so stürmisch, daß die Fensterscheiben erzitterten, und ihr Stampfen mit den Füßen so heftig, daß der Parkettboden Risse bekam. Der Scheuch mußte lange das Tischglöckchen schwingen, um die Ruhe wiederherzustellen. Als sie schließlich eintrat, fragte Charlie den Mechaniker Lestar: „Kann ich auf Eure Hilfe rechnen? Die Arbeit ist dringend, und wir werden viele Leute brauchen." Lestar versicherte, daß er und seine Gehilfen dem Seemann ganz zur Verfügung stehen. „Wir werden uns mit zwei oder drei Stunden Schlaf täglich begnügen, dafür aber schnell einen Riesen bauen, der es mit Arachna aufnimmt!" sagte der Mechaniker. „Übrigens haben wir aus dem Violetten Lande auch vielerlei Werkzeug mitgebracht, das uns jetzt bestimmt nützen wird." „Wo hast du den Tilli-Willi gelegt?" fragte Black das Mädchen. ,,Da ist er, Onkel."

Das Mädchen nahm die Statuette aus dem Rucksack und reichte sie dem Seemann. Charlie Black hob sie in die Höhe, damit die Ratsmitglieder sie besser sehen konnten. Ein Schrei des Staunens ertönte. Der Götze war furchtbar anzusehen. Seine langen schrägen Augen blickten drohend und finster, eine tiefe Falte furchte die niedrige Stirn, aus dem großen grinsenden Mund ragten vier gewaltige weiße Hauer, und das ganze Gesicht drückte grimmigen Haß gegen die ganze Welt aus. Mit tiefer Beklemmung betrachteten die Zuschauer Tilli-Willi. Ein sechsjähriger Junge, der seinem Vater in den Sitzungssaal gefolgt war, begann so furchtbar zu schreien, daß man ihn schleunigst aus dem Saal führen mußte. „Gefällt er euch?" fragte Charlie schmunzelnd. „Solche Fratzen hat es in unserem Lande noch nie gegeben", sagte der Löwe aus tiefster Überzeugung. „Selbst die Säbelzahntiger haben nicht so schrecklich ausgesehen."

„Dieser Mordskerl wird uns als Vorbild für unseren automatischen Riesen dienen. Stellt euch mal vor, was das bei einem Wuchs von dreißig Ellen für ein Ungeheuer sein wird!"

„Ja, er wird sehr imposant aussehen", sagte der Scheuch.

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