KAPITEL 1


Der Karren rumpelte schaukelnd den Berg hinauf. Prallgefüllte Säcke und Kisten waren auf seiner Ladefläche gestapelt, vor allem aber zahlreiche Fässer, die schon von weitem den herrlichen Duft von Wein und Bier verströmten. Obbo, der Gastwirt des Wolfswinkel, saß auf dem Kutschbock und fluchte über den langsamen Trab des Ponys, obwohl sich das Tier beileibe alle Mühe gab, den schweren Wagen den Pfad heraufzuziehen.

Mütterchen Mitternacht stand vor dem eisernen Portal des Hohlen Berges und blinzelte dem schwankenden Karren entgegen. Nach den Wochen im Inneren des Berges blendete sie das Tageslicht. Trotzdem lächelte sie, als sie sah, daß Obbo der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief, ganz so, als sei er selbst es, der die Last des Wagens zu ziehen hätte. Der dicke Wirt trug seine lederne Schürze und einen aus der Form geratenen Hut, von dem er behauptete, er würde die Mücken vertreiben; dabei war doch jedem seiner Freunde im Hohlen Berg klar, daß er damit nur sein schütteres Haar verbarg, mochte der Teufel wissen, vor wem.

Einmal in jedem Mond, manchmal auch öfter, kam Obbo und versorgte sie mit allem, was die vier Verteidiger des Nibelungenhortes nötig hatten: Gemüse, Pökelfleisch, Süßigkeiten für Löwenzahn und natürlich Kostproben aus Obbos vortrefflichem Weinkeller, dazu das würzige Bier, das er eigenhändig im Hinterhaus seines Gasthofs braute. Ohne ihn hätten die vier längst aufgeben müssen, vor allem während des ersten Jahres ihrer Wache im Hohlen Berg, als kaum ein Tag vergangen war, an dem nicht ein neuer Räuberhauptmann am Portal geklopft und die Herausgabe der Schätze verlangt hatte.

Heute, fast zwei Jahre nach dem Raub der Tarnkappe durch Siegfried von Xanten und der Suche der vier Gefährten nach dem Leichnam des letzten Drachen, waren die Angriffe auf den Berg seltener geworden. Dennoch war es nicht allein loses Geröll, das den Weg für Pony und Karren so beschwerlich machte. Der dichte Tannenhain vor dem Tor des Berges war übersät mit Teilen alter Rüstungen, mit alten Gerippen und den Kadavern der letzten Übermütigen, die Einlaß in den Berg gefordert hatten. Immer wieder holperten die Karrenräder über einen Helm oder leeren Brustpanzer, immer wieder stießen die Hufe des Tieres gegen modrige Schädel und verrostete Schilde. Obbo hatte seine Freunde oft angefleht, diesen »Unrat«, wie er es nannte, fortzuräumen, doch Alberich, der Horthüter, bestand darauf, alles liegenzulassen. Zur Abschreckung, meinte er, und Mütterchen gab ihm recht. Das hohe Eisenportal des Berges schützte sie vor dem erbärmlichen Kadavergestank des Schlachtfeldes, und Obbo wurde reichlich dafür entlohnt, daß er hier heraufkam; ein wenig Übelkeit mußte er dafür in Kauf nehmen.

»Obbo!« rief Mütterchen dem fluchenden Wirt entgegen, als er dem Pony mit einer Rute aufs Hinterteil klatschte. »Wann wirst du Geizkragen dir endlich ein Lastpferd kaufen? Der alte Rohland ist für solche Ausflüge zu alt geworden.«

Rohland, das Pony vor Obbos Karren, hatte ihnen vor zwei Jahren während ihrer Reise zum toten Drachen gute Dienste geleistet, und Mütterchen hatte das Tier ins Herz geschlossen. Sie hätte es dem Wirt längst abgekauft, wenn es denn eine Möglichkeit gegeben hätte, es im Hohlen Berg auf angemessene Weise zu halten. Doch in den unermeßlichen Tiefen des verlassenen Zwergenreiches gab es weder Gras noch Sonnenlicht, und sie hätte dem Tier schwerlich einen Gefallen getan, hätte sie es dort hinabgeführt.

Obbo hatte das Portal fast erreicht. Er grummelte irgendeine Antwort auf Mütterchens Zuruf, die sie nicht verstand, und das war wahrscheinlich gut so.

Der Wolfswinkel lag in den Wäldern am Ostufer des Rheins. Der Hohle Berg dagegen bildete, gemeinsam mit seinem Zwillingsgipfel, auf dem sich die verlassene Burg der toten Fürsten Nibelung und Schilbung erhob, eine Halbinsel mitten im Fluß, die nur über eine bewaldete Landbrücke zu erreichen war. Vor zwei Jahren hatte Siegfried die beiden Nibelungenfürsten und ihre tapfersten Ritter erschlagen und den Hort im Hohlen Berg für sich beansprucht. Alberich aber, der letzte Zwerg am Rhein, war weiterhin Hüter des Schatzes geblieben, bis zu jenem Tag, an dem Siegfried zurückkehren und den Hort abtransportieren würde. Der Xantener hatte dem Zwerg die magische Tarnkappe gestohlen, was Alberich vor die Schwierigkeit stellte, den Schatz ohne Zauberwerk verteidigen zu müssen. Drei Gefährten hatten sich ihm zur Seite gesellt: zum einen Mütterchen Mitternacht, ehemalige Räuberbraut und einstmals das schönste Weib der Wälder, heute eine rüstige Greisin - ein Wort, für das manch einer schon ein Ohr, einen Finger oder gar das Leben eingebüßt hatte. Dann war da Löwenzahn, ein tumber, aber liebenswerter Hüne, in dessen Adern ein Anteil Hunnenblut floß. Und zuletzt Geist, das rätselhafte Moosfräulein, auf das die Magie des toten Drachen übergegangen war; keiner vermochte genau zu sagen, ob in ihrem Inneren wirklich nur der Zauber oder auch ein Stück vom Drachen selbst weiterlebte.

»Ho!« rief Obbo aus und brachte den Karren vor dem haushohen Portal zum Stehen. Die mächtigen Torflügel waren mit filigranen Einlegearbeiten verziert. Albenschmiede hatten den einzigen Eingang des Hohlen Berges vor vielen Jahrhunderten geschaffen, damals, als noch ein ganzes Zwergenvolk in den unterirdischen Hallen und Fluren lebte.

Doch das war lange her. Heute hauste hier nur noch ein einziger Zwerg, und der drängte sich in eben diesem Augenblick auf höchst unhöfliche Art und Weise an Mütterchen vorbei und trat aus dem Schatten des Torbogens. Seine gespannte Armbrust wies auf Obbos Wanst, so daß der arme Wirt ganz fahl um die Nase wurde.

Obbo hob die Hände und stotterte: »Freund Alberich, ich bitte dich allerfreundlichst, dich zu -«

Alberich raunzte mit grimmiger Miene dazwischen: »Hast du alles dabei, so wie ich es dir aufgetragen habe?«

Mütterchen verzog hinter dem Rücken des Zwerges das Gesicht. Wie ich es dir aufgetragen habe - pah! Hätte sie nicht regelmäßig Listen geschrieben und hinab zu Obbo ins Wirtshaus gebracht, würde ihnen allen schon längst der Magen knurren. Alberich hatte sich nie um dergleichen gekümmert. Aber sie wußte auch, daß es dem Zwerg gefiel, mit seiner Wildheit und Kratzbürstigkeit zu prahlen.

Mit einem Blick über Alberichs Schulter vergewisserte sie sich, daß die Armbrust gesichert war. Der Zwerg mochte damit noch so aufgebracht vor Obbos Nase fuchteln, der Bolzen würde sich nicht lösen. Alberich wollte Obbo nur einen Schrecken einjagen, wie er es regelmäßig tat, um den Preis zu drücken. Dabei spielte es für ihn keine Rolle, daß er über einen Schatz von unermeßlicher Größe verfügte. Er knauserte mit jeder Münze, vor allem dem armen Obbo gegenüber.

»Ich habe alles dabei«, versicherte der Wirt. Das Pony stieß ein Schnauben aus, und Obbo zuckte zusammen, als hätte er das Geräusch mit dem Pfeifen der Armbrustsehne verwechselt.

Alberich lachte schadenfroh und senkte die Waffe. »Tut mir leid, Freund Obbo, aber es könnte immerhin sein, daß du Räuber an unser offenes Tor führst.«

»Das glaubst du nicht wirklich!« empörte sich der Wirt.

Der Zwerg stieß ein knarrendes Kichern aus. Mütterchen hatte allmählich Mitleid mit Obbo, der Alberichs Attacken nicht gewachsen war. Natürlich würde der Wirt sie niemals betrügen, ganz gewiß nicht freiwillig, und falls ihn irgendwer dazu zwingen sollte, würde man es ihm mit Sicherheit schon von weitem ansehen. Er war viel zu sehr Wirt mit Leib und Seele, um ein Geheimnis für sich behalten zu können, sogar mit einer Dolchspitze im Rücken.

Zu dritt luden sie die Waren vom Karren und trugen sie durch den offenen Spalt des Tores. Mütterchen verfluchte die Tatsache, daß Löwenzahn mit seinen Bärenkräften nicht bei ihnen war, doch der Halbhunne hatte sich mit Geist in die Tiefen des Berges zurückgezogen, um ein verstopftes Aquädukt zu bereinigen. Löwenzahn war gerne allein mit Geist, und manchmal hänselte Alberich ihn mit seiner Verliebtheit.

Nachdem sie mit dem Abladen fertig waren, kümmerte sich Alberich um die Bezahlung, während Mütterchen zu Rohland ging und ihm die Mähne streichelte. »Bist ein braves Tier«, flüsterte sie ihm ins Ohr und dann noch etwas, das niemand außer ihr selbst und dem Pony verstand. Die Jahrzehnte, die sie an der Spitze ihrer Räuberschar in den Wäldern gehaust hatte, hatten sie viele Dinge gelehrt. Eines davon war, mit Tieren zu sprechen. Sie wußte, daß Rohland jedes ihrer Worte verstand. Zärtlich sprach sie ihm Mut zu, wünschte ihm Kraft für den Rückweg und versprach ihm daheim im Gasthof eine Belohnung. Dann ging sie zurück zu den anderen, drückte Obbo eine Münze für eine große Portion Hafer in die Hand und umarmte ihn zum Abschied.

»Paßt gut auf euch auf!« rief der Wirt über die Schulter, als er den Karren durch den Tannenhain hangabwärts lenkte.

»Und du auf dich!«

Mütterchen und Alberich traten zurück in den Schatten des Tores, in die hohe, düstere Eingangshalle des Hohlen Berges. Alberich machte sich an einer Winde zu schaffen. Krachend schlossen sich die Torflügel, und das Echo hallte vielfach in den Abgründen der ausgestorbenen Zwergenstadt wider.

Nachdem das Tageslicht ausgesperrt war, sah Mütterchen einen Moment lang nichts mehr als Schwärze. Das sonderbare Zwielicht im Hohlen Berg war so schwach, daß sie eine Weile brauchte, ehe sie sich von neuem daran gewöhnte.

Man mag es drehen und wenden wie man will, dachte sie, aber dieser Berg ist nicht für uns Menschen geschaffen. Er will uns nicht in sich haben. Er wehrt sich gegen uns wie ein Körper, der eine Krankheit austreibt.

Sie fragte sich nicht zum erstenmal, wie lange es noch dauern mochte, bis das Fieber ausbrach.



Löwenzahn stand auf einem Felssims oben in der Wand der Halle, viel zu schmal für seine riesigen Füße. Geist wartete am Boden auf ihn. Der Halbhunne hatte ihr den Rücken zugewandt und beugte sich über eine Steinrinne, die in einer Höhe von zwei Mannslängen an der Wand entlangführte, eines der Hauptaquädukte für die Wasserversorgung im Hohlen Berg. Seit Tagen war es durch irgend etwas verstopft.

Auf dem weiten Hallenboden hatten sich große Pfützen gebildet. Geist suchte mißmutig nach einem Fleck, an dem sie keine nassen Füße bekommen würde. Sie trug keine Schuhe, auch Kleidung war ihr fremd. Ihr zierlicher Körper war mit einem Pelz aus grünbraunem Moos bewachsen, der es ihr draußen in den Wäldern erlaubte, wie ein Chamäleon mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Hier aber, in den Tiefen dieser abscheulichen Zwergenstadt, hatte sie diese Fähigkeit verloren. Sie wußte, daß es der Stein war, der ihr derart zusetzte. Sie war ein Moosfräulein, ein Waldgeist, und sie litt unter dem Gewicht des Berges. Der kahle Fels machte sie unglücklich, manchmal gar krank, und ohne ihre gelegentlichen Ausflüge hinaus in die Wälder wäre sie in der naßkalten Dunkelheit zugrunde gegangen. Auch die Magie des Drachen trug dazu bei, daß sie hier unten überleben konnte. Ein wenig von der Vorliebe des Lindwurms für tiefe Gebirgshöhlen war auf sie übergegangen, genug, um im Hohlen Berg existieren zu können.

»Was ist es?« rief sie zu Löwenzahn hinauf, der mit beiden Händen in der Rinne hantierte.

»Es wird dir gefallen!« rief er polternd. Die Wände warfen seine Stimme zurück, viel zu laut und zu häufig. Das unheimliche Echo der endlosen Hallen und Gänge machte Geist angst. Sie vermißte das Singen der Vögel und das Rauschen der Baumkronen weit mehr, als sie hätte in Worte fassen können.

»Wie meinst du das?« Sie rieb sich die Arme, aber auch dadurch wurde ihr nicht wärmer. Die Kälte, die sie spürte, kam von innen, aus ihrem Kopf, und das beunruhigte sie auch heute noch, nach zwei Jahren in diesem Felsenlabyrinth.

Etwas flog von oben auf sie zu. Geist erschrak und machte einen Schritt zurück. Ein feuchtes Knäuel klatschte vor ihr auf den Boden. Löwenzahn lachte wie ein zu groß geratenes Kind, verlor darüber plötzlich seinen Halt und rutschte ab. Mit einem wilden Aufschrei stürzte er zu Boden und landete mit dem Hinterteil in einer Pfütze. Nun war es Geist, die in Gelächter ausbrach. Löwenzahn knurrte etwas, stand schwerfällig auf und rieb sich das Steißbein.

Geist sprang flink auf ihn zu und streckte ihm ihre schmale, moosbedeckte Hand entgegen. »Komm schon«, sagte sie vergnügt und zog ihn mit sich zu der Stelle, an der das, was er von oben herabgeworfen hatte, gelandet war. Gemeinsam beugten sie sich darüber.

Obwohl Geist dem riesenhaften Halbhunnen nicht einmal bis zur Brust reichte, kam sie sich in seiner Gegenwart niemals klein vor. Sie mochte ihn gern, und natürlich war ihr nicht entgangen, daß er sie anhimmelte. Nachdem sie ihr ganzes Leben allein in den Wäldern verbracht hatte, war das eine sonderbare Erkenntnis. Manchmal, wenn sie ihm für etwas danken wollte, ließ sie eine bunte Blume aus ihrem Körper erblühen. Sie wußte, daß ihn das glücklich machte.

»Das ist Moos!« entfuhr es ihr erfreut, als sie das verschlungene Wirrwarr zu ihren Füßen betrachtete.

Löwenzahn nickte. »Moos und ein paar andere widerliche Pflanzen.«

Sie knuffte ihn mahnend gegen den Oberschenkel. »Magst du etwa kein Moos?«

Selbst im ewigen Halblicht des Hohlen Berges konnte sie sehen, daß er rot wurde. Sie kicherte leise und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem nassen Knäuel zu. Mit beiden Händen hob sie es vom Boden und schnüffelte daran. »Riecht merkwürdig«, gab sie zu.

»Das ist die Nässe«, meinte Löwenzahn. »Wahrscheinlich schimmelt das Zeug schon eine ganze Weile vor sich hin.«

»Schimmel!« stieß Geist wie einen Jubelschrei aus. »Pilze! Wunderbar! Glaubst du, es gibt hier noch mehr davon?«

Ein Seufzer stieg aus Löwenzahns mächtigem Brustkorb empor. »Wird es wohl, bei der Feuchtigkeit.«

»Aber ich habe in der ganzen Zeit noch keine einzige Pflanze hier im Berg gesehen, nicht die winzigste.«

»Es muß doch irgendwo eine Art Sammelbecken oder Quelle für die Wasserversorgung geben«, sagte Löwenzahn. »Vielleicht gibt es dort noch mehr davon.«

Geist richtete sich begeistert auf. »Aber ja doch!« rief sie. »Wir müssen diesen Ort suchen, ja?«

»Sicher«, meinte Löwenzahn ohne große Begeisterung. Seine Fell- und Lederkleidung war von der Arbeit am Aquädukt völlig durchnäßt, und der Gedanke an noch mehr Wasser war ihm zuwider.

»Schon gut«, meinte Geist verständnisvoll. Ihre Moosfinger streichelten hauchzart über seine narbige Wange, eine Bewegung, so schnell, daß er sie beinahe nicht bemerkt hätte. »Ich gehe allein.« Und im selben Augenblick hatte sie sich bereits herumgedreht und verschwand in der Dunkelheit unter dem nächsten Torbogen.

»Geist!« rief Löwenzahn ihr hinterher. »Warte auf mich!«

»Geh ruhig allein nach oben«, rief sie aus dem benachbarten Höhlensaal. Dann hörte er nicht einmal mehr ihre tänzelnden Schritte.

Löwenzahn stand allein in der riesigen Halle, wassertriefend und besorgt. Er fluchte, ganz leise nur, um das geisterhafte Echo nicht herauszufordern.



Geist war so erfreut über die Aussicht, irgendwo in den öden Weiten des Hohlen Berges Pflanzen aufzuspüren, daß sie eine Weile brauchte, ehe ihr klar wurde, daß sie mit einemmal ganz auf sich gestellt war.

Sie selbst, Mütterchen und Löwenzahn hatten es sich zur Regel gemacht, niemals einzeln durch das untergegangene Zwergenreich zu streifen. Im Gegensatz zu Alberich, der sein ganzes Leben allein im Berg verbracht hatte, fiel es ihnen schwer, in den labyrinthischen Anlagen die Orientierung zu behalten. Sicher, es gab die schmalen Wasserrinnen im Boden, die einem anzeigten, in welcher Richtung der Weg nach oben oder unten führte, doch waren da ansonsten weder Pfeile noch andere Wegmarken, die es einem gestatteten, sich zurechtzufinden.

Geist folgte auf der Suche nach einem Wasserbecken dem Verlauf des Aquädukts. Immer wieder verschwand die breite Rinne inmitten der Wände. Anders als für die schmalen, weitverzweigten Rinnsale am Boden hatte man für die Wasserleitung den schnellsten Weg nach unten geschaffen. Geist mußte zahlreiche Umwege in Kauf nehmen, in der Hoffnung, das Aquädukt auf der anderen Seite der Mauern und Monumente wiederzufinden.

Einmal kam sie an einen bodenlosen Abgrund. Von unten wehte ein eisiger, übelriechender Wind herauf. Die Böen schienen mit unsichtbaren Fingern nach ihren Gliedern zu tasten, als wollten sie sie hinab in die Tiefe zerren. Es gab weit und breit keine Brücke, allein das Aquädukt reichte von einer Felskante zur anderen. Es war auf eine einzelne Säule gestützt, die endlos hinab in die Tiefe abfiel, und bei genauem Hinsehen erkannte Geist, daß schmale Stufen rund um die Säule nach unten führten. Es gab viele solcher sinnloser Treppen und Stiegen im Hohlen Berg, Stufen, die scheinbar ins Nichts wiesen, inmitten glatter Steilwände endeten oder als Sackgassen vor kahlen Mauern. Das gleiche galt für die verwinkelten Tunnel und Flure. Wer sich, wie Alberichs drei Gefährten, nicht auskannte, mußte jederzeit damit rechnen, hinter der nächsten Biegung vor einer Wand oder einem tiefen Felsenschlund zu stehen. Die Zwerge waren ein sonderbares Volk, und noch sonderbarer waren die Gedankengänge ihrer Baumeister. Geist, die alles an den Gesetzmäßigkeiten der Natur und des Waldes maß, fand keinen Zugang zur Denkweise dieser Wesen, schlimmer noch, die Absurdität ihrer Architektur erfüllte sie mit Unruhe.

Vorsichtig näherte sie sich dem Abgrund und der Wasserrinne, die ihn überspannte. Sie setzte einen Fuß in das offene Aquädukt und zitterte, als das eiskalte Wasser ihre Haut umspülte. Nach einem tiefen Luftholen begann sie, zur anderen Seite zu balancieren, geradewegs über den schwarzen Schlund. Geist war es gewohnt, über die Äste der Bäume zu klettern, und so behielt sie auch jetzt mühelos ihr Gleichgewicht. Manchmal schien es ihr, als rührte sich etwas in der Finsternis unter ihr, vielleicht die Schwärze selbst; und doch ängstigte sie die absolute Leere weit mehr als die Vorstellung, daß etwas darin lauern mochte. Erstens war der Berg verlassen, das hatte Alberich ihnen versichert, und was immer Geist dort unten sehen mochte, konnte nur ein Wesen ihrer überreizten Phantasie sein; zum zweiten aber flößten ihr nach ihrem behaglichen Leben im Wald große, leere Räume Furcht ein, und davon gab es wahrlich genug in dieser schrecklichen Höhlenwelt.

Sie erreichte die andere Seite ohne Zwischenfälle. Dort entdeckte sie, daß sich die Wasserrinne mit einem zweiten Aquädukt vereinigte und in einer mannshohen Öffnung verschwand. Zu ihrer maßlosen Freude entdeckte sie an den Rändern weitere Spuren von Moos und Algen, und sie hatte jetzt keine Zweifel mehr, daß sie an ihrem Ziel tatsächlich finden würde, was sie suchte.

Ohne länger zu zögern, stieg sie durch die Öffnung in einen abschüssigen Kanal, in dem ihr das Wasser bis zu den Knien reichte. Die Strömung war hier schneller und riß sie mehrmals fast von den Füßen. Dennoch dachte Geist nicht daran umzukehren. Irgendwo vor ihr, unter ihr, befand sich ein Ort, an dem sie sich erstmals seit zwei Jahren wieder ein wenig wie zu Hause fühlen würde.



Löwenzahn fluchte noch immer, von Mal zu Mal lauter, und allmählich verlor das Echo seine Schrecken. Der Widerhall seiner Flüche wurde ihm zum ständigen Begleiter, und das milderte ein wenig das Unbehagen, das er angesichts der Einsamkeit in den düsteren Katakomben empfand.

Geists nasse Fußabdrücke hatten ihn ein gehöriges Stück tiefer in den Irrgarten der Hallen und Gänge geführt, doch irgendwann verblaßte die Feuchtigkeit, und die Spur endete im Nichts.

Eines der Wunder des Hohlen Berges war es, daß nahezu jeder seiner Winkel von diffusem Zwielicht erfüllt war. Mütterchen behauptete, es dränge geradewegs aus den Wänden, genauso wie die Nässe, doch Alberich bestand darauf, daß es der Glanz des Nibelungenhortes sei, der den Berg durchleuchtete. Freilich lag der Schatz an der tiefsten Stelle des Zwergenreiches, und es hätte eines ausgefeilten Netzes aus Spiegeln bedurft, um seinen Glanz im ganzen Berg zu verbreiten. So blieb die Wahrheit über das wundersame Halblicht ungeklärt.

Für Löwenzahn hatte das Ganze ohnehin keine Bedeutung. Hauptsache, er konnte erkennen, wohin er die Füße setzte - und das war leider nicht immer der Fall. Das Licht nämlich schien für die empfindlichen Augen der Zwerge gemacht, nicht aber für die weit groberen der Menschen. Und gerade jetzt, während seiner Suche nach Geist, hätte er gegen eine Fackel oder Öllampe nichts einzuwenden gehabt.

Nach einer Weile gelangte er an einen Abgrund, und dort sah er gerade noch, wie eine zierliche Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite in einem runden Schacht verschwand. Geist mußte an dem Aquädukt entlanggeklettert sein, das sich über die Tiefe spannte. Löwenzahn mußte nicht einmal einen Fuß darauf setzen, um zu wissen, daß die Konstruktion aus Tonziegeln für ihn selbst viel zu schmal und baufällig war. Er rief Geists Namen, doch sie war bereits fort. Abermals fluchte er, und das Echo schien ihm aus der Tiefe zu antworten, nicht mit einer Wiederholung, sondern mit eigenen unverständlichen Silben. Löwenzahn lief es eiskalt den Rücken hinunter.

Er wandte sich nach rechts und ging lange Zeit an der schroffen Felskante entlang. Endlich, als er das Aquädukt bereits nicht mehr hinter sich sehen konnte, stieß er auf eine steinerne Brücke. Sie war nicht breit und schien ihm keineswegs vertrauenserweckend. Mit vorsichtigen Schritten lief er zur anderen Seite und kam dort wohlbehalten an. Von dort aus rannte er so schnell er konnte zurück zum Aquädukt und zu der Öffnung, in der er Geist hatte verschwinden sehen. Als er den Schacht erreichte, rief er noch einmal den Namen des Moosfräuleins, doch auch diesmal bekam er keine Antwort.

Mißmutig prüfte er mit den Fingern die Wassertiefe des Kanals, dann zuckte er seufzend mit den Schultern und stieg hinein. Er mußte sich während des ganzen Weges in der Röhre bücken, um nicht mit dem Kopf anzustoßen, und ihm fielen kaum mehr neue Flüche ein, mit denen er seine verdammenswerte Lage bedenken konnte. Er würde ein ernstes Wort mit Geist reden müssen, wenn er sie denn jemals in diesem Wirrwarr aus Tunneln, Schächten und Sälen wiederfand.

Er verlor allmählich jegliches Zeitgefühl. Wie lange lief er dem Moosfräulein nun schon hinterher? Bald einen halben Tag, fürchtete er, und da der Weg beständig abwärts führte, mußte dies bedeuten, daß er in Kürze den alten Wohnbereich der Zwerge verlassen und in die leerstehenden Minenschächte vordringen würde. Dort unten aber, das wußte er von gelegentlichen Abstiegen an Alberichs Seite, fiel es noch schwerer, den Überblick über Richtung und Entfernung zu behalten.

Er kam an eine Gabelung, an der sich zwei weitere Kanäle mit jenem, den er benutzte, vereinigten. Das Wasser stieg noch höher und floß immer schneller, ohne daß der Hauptkanal breiter wurde. Mittlerweile reichte die Oberfläche bis zu Löwenzahns Hüften, und er begann, erbärmlich zu frieren.

Und dann, als er schon glaubte, daß er niemals an ein Ende der Wasserwege gelangen würde, spuckte ihn der Kanal in einen unterirdischen See. Löwenzahn wurde von der Strömung unter die Oberfläche gerissen, schluckte Wasser und schlug voller Panik um sich, bis es ihm endlich gelang, zurück an die Oberfläche zu gelangen und sich umzuschauen.

Er befand sich in einer domartigen Grotte, deren Wände unbehauen und über und über mit Moos und einer Art Efeu bewachsen waren. Die Decke vermochte er nicht zu erkennen, so hoch schwebte sie über ihm; sie verschmolz in der Ferne mit dem grünlichen Zwielicht. Der See war nicht besonders groß, vielleicht dreißig Schritte von einer Seite zur anderen. Allerdings bemerkte Löwenzahn am gegenüberliegenden Ende einen Strudel, der auf den ersten Blick harmlos wirkte, wohl aber groß genug war, um einen ausgewachsenen Menschen in die Tiefe zu ziehen. Offenbar hatte Löwenzahn Glück gehabt, daß er an dieser Seite hineingespült worden waren. Mindestens zwei Dutzend Kanäle mündeten rund um den See in die Grotte, und aus allen rauschte das Wasser in weißen Säulen hinab zur aufgeschäumten Oberfläche.

Löwenzahn war alles andere als ein geübter Schwimmer, trotzdem gelang es ihm, mit unbeholfenen Arm- und Beinstößen zum Ufer zu gelangen. Der sichtbare Teil des Sees nahm nur etwa zwei Drittel des Höhlenbodens ein, der Rest bestand aus einer glatten Felsplatte. Sie schien über der Wasseroberfläche zu schweben, denn der See setzte sich unter ihr fort, aber das erkannte Löwenzahn erst im Näherkommen. Nur um Haaresbreite gelang es ihm, einer plötzlichen Strömung zu entkommen, die ihn unter die Felsscholle ziehen wollte.

Prustend und keuchend zog er sich ins Trockene. Das seltsame Dämmerlicht schien hier noch eine Spur düsterer zu sein als in den höhergelegenen Ebenen des Berges, und so erkannte er die kleine Gestalt vor der moosüberwucherten Wand erst beim zweiten Hinsehen.

»Geist!« rief er erleichtert aus. »Da bist du ja!«

Die Gestalt schrak zusammen, ein schwarzer Scherenschnitt vor dem Dunkelgrün der Mooswand, machte erst einen Schritt auf Löwenzahn zu, dann wandte sie sich plötzlich ab und stürmte zum entfernten Rand der Felsscholle.

Löwenzahn sprang auf und lief verständnislos hinterher, rief immer wieder Geists Namen, doch die Gestalt rannte weiter vor ihm davon, blieb noch einmal an der Kante der Scholle stehen und stürzte sich dann kopfüber in die Fluten.

Löwenzahn schrie auf und wollte hinterherspringen, ungeachtet des nahen Strudels und der gefahrvollen Strömungen, als plötzlich hinter ihm ein helles Stimmchen fragte: »Was tust du denn hier?«

Er fuhr herum, und da stand Geist, am anderen Ende der Scholle, unweit eines schmalen Durchgangs in der Felswand. Ihr Moospelz war trocken, und ihre hellblauen Augen glänzten wie Himmelssplitter.

»Bist du mir den ganzen Weg hinterhergelaufen?« fragte sie laut, um den Lärm des sprudelnden Wassers zu übertönen. Eilig huschte sie näher.

Vor Erleichterung vergaß Löwenzahn für einen Moment die Frage, wer sich gerade vor seinen Augen in den See gestürzt hatte. Er umarmte das Moosfräulein herzlich, und die Begeisterung in ihrem Blick trieb ihm fast die Tränen in die Augen.

»Siehst du das?« rief sie euphorisch aus und umfaßte mit einer weiten Geste die ganze Grotte. »All diese herrlichen Pflanzen! Das ist Moos, Löwenzahn! Echtes Moos!« Sie löste sich von ihm und sprang aufgeregt umher. »Daß es tatsächlich zwei Jahre dauern mußte, um diesen Ort zu finden! Sag selbst, ist das alles nicht wunderschön?«

Löwenzahn nickte, auch wenn er in Wahrheit wenig beim Anblick der feuchtglänzenden Moos- und Pilzkulturen an den Wänden empfand. Er wollte Geist nicht die Freude verderben, und doch konnte er nicht anders, als an die Kante der Scholle zu treten und hinab zur Wasseroberfläche zu blicken. Er suchte etwas, einen Schemen, Luftblasen vielleicht, irgend etwas, das ihm bewies, daß ihm seine Augen vorhin keinen Streich gespielt hatten. Er hatte jemanden gesehen. Oder hatten ihn das schwache Licht und die ungewohnte Umgebung getäuscht?

»Hast du irgendwas im Wasser verloren?« fragte Geist verwundert.

»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.« Löwenzahn verstand im Lärm der Kanäle kaum seine eigenen Worte.

»Ach, komm schon!« rief sie ausgelassen und faßte ihn am Arm. »Ich zeige dir noch etwas.«

Sie führte ihn zu dem schmalen Durchlaß im Fels. Dahinter lag eine zweite Grotte, viel kleiner als die erste. Wände und Decke waren hinter dichten Vorhängen aus Pflanzen verborgen, langen, kleinblättrigen Ranken, die an manchen Stellen bis zum Boden baumelten. Die Luft in der kuppelförmigen Grotte war drückend vor Feuchtigkeit und Wärme.

Löwenzahn sah sich verblüfft um. »Warum ist es so heiß hier drinnen?«

»Von den Wänden fließt warmes Wasser«, meinte Geist schulterzuckend. »Irgendwo muß eine heiße Quelle sein. Ist das nicht herrlich?«

Insgeheim schauderte Löwenzahn. Er hatte schon von heißen Quellen erzählen hören, auch von feuerspeienden Bergen, aus denen glühendes Gestein hervorplatzte wie Eiter aus einer Pestbeule. Mit einemmal fühlte er sich hier unten trotz der Wärme alles andere als wohl. Er wünschte sich, er hätte Geist überzeugen können, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Aber er wußte auch, daß sie viel zu glücklich war, um seine Sorgen teilen zu können.

Geist tanzte umher wie ein kleines Mädchen beim ersten Schneefall, sprang fröhlich von Ranke zu Ranke, legte sich die Enden wie Schmuck um den Hals und lachte vergnügt.

»Glaubst du«, fragte Löwenzahn argwöhnisch, »daß es hier unten irgendwelche Tiere gibt?«

»Ich habe keine gesehen«, erwiderte Geist, ohne von ihrem Spiel mit den Pflanzen abzulassen. »Sag bloß, du fürchtest dich?«

»Niemals!« grollte er. »Löwenzahn hat bestimmt keine Angst vor Kraut, das von der Decke wächst.«

»Dann komm her und faß es an.«

Löwenzahn blieb am Eingang der Grotte stehen. »Ich glaube, wir sollten besser wieder nach oben gehen. Die anderen werden sich Sorgen machen. Es wird Abend sein, bis wir bei ihnen sind.«

Geist verzog das Gesicht. »Nur noch ein wenig.«

»Willst du, daß sie uns suchen müssen?«

Sie seufzte schwer, dann drehte sie sich um und rieb eine der Ranken zärtlich an ihrer Wange. »Ich verspreche euch, daß ich wiederkomme«, sagte sie zu den Pflanzen. »Gleich morgen.«

Löwenzahn faßte insgeheim den Entschluß, daß er sie niemals allein hierhergehen lassen würde. Noch immer rätselte er, was sich da vor seinen Augen in den See gestürzt hatte. Er fragte sich, ob es vielleicht im schmalen Hohlraum unter der Felsscholle wartete, bis sie fort waren.

Narretei, schalt er sich. Niemand hätte der Strömung standhalten können. Geist und er hatten lediglich Glück gehabt, daß sie an einer Stelle im See gelandet waren, die ungefährlich war. Ein paar Schritte näher am Strudel, und keiner von ihnen hätte überlebt.

Das brachte ihn gleich zur nächsten Schwierigkeit. »Wie sollen wir eigentlich wieder hier herauskommen?« Der Wasserstrom aus den Kanälen war viel zu stark, um von außen hineinzuklettern.

Geist lächelte. Inmitten ihrer bemoosten Züge wirkten ihre Zähne unnatürlich weiß. »Schau«, sagte sie und sprang zwischen den Ranken zur anderen Seite der Grotte. Als sie mit beiden Händen einen Teil des naßglänzenden Dickichts beiseiteschob, kam ein schmaler Riß im Felsen zum Vorschein. Dahinter führten grob behauene Stufen nach oben.

»Was hältst du davon?« fragte sie triumphierend und trat durch die Öffnung.

Löwenzahn schaute sich ein letztes Mal zur großen Grotte um, sah nichts außer Stein und tobender Strömung, dann folgte er Geist. Die Ranken, die ihn streiften, fühlten sich an wie die feuchten Finger einer Wasserleiche. Geist lief voraus, die engen Stufen hinauf. Der Treppenschacht umschloß sie mit kaltem, ödem Fels. Löwenzahn hätte nie geglaubt, daß er dafür einmal dankbar sein würde.


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