KAPITEL 4


Alberich versammelte die anderen in der Eingangshalle. Es war früh am Morgen. Sie alle waren unausgeschlafen und übellaunig. Geist und Löwenzahn wegen ihres anstrengenden Ausflugs in die Mooshöhle; Mütterchen Mitternacht, weil sie Alberichs Wache am Tor übernommen hatte; und Alberich selbst - ja, das wußte keiner der anderen so genau.

Der Saal, viele Mannslängen hoch, wurde von dem gewaltigen Eisenportal beherrscht. An beiden Seitenwänden standen mächtige Statuen, vier zur Rechten, vier zur Linken, turmhohe Darstellungen von Zwergen in Rüstungen, bewaffnet mit Äxten und Streitkolben. Als stumme Torwächter blickten sie aus Granitaugen zum Boden der Halle herab. Mütterchen hatte stets den Eindruck, als folgten ihre leblosen Blicke jeder ihrer Bewegungen. Besonders schlimm war es während der Nachtwache, wenn sie allein im Dunkeln kauerte. Meist saß sie dabei in Decken gehüllt am Tor und blickte abwechselnd durch den Sehschlitz ins Freie, dann wieder hinauf zu den steinernen Gesichtern. Im Grunde war es fast albern, daß sich ausgerechnet die Zwerge als Riesen dargestellt hatten, und doch hatte Mütterchen nie über diesen Umstand lachen können. Viel zu sehr beunruhigte sie die schweigsame Starre der acht Granitgiganten, und sie wußte, daß es Geist und sogar Löwenzahn genauso erging.

Alberich berichtete ausführlich, was ihm in der Nacht widerfahren war, und je eingehender er versuchte, sich an jede Einzelheit zu erinnern, desto zorniger wurde er. Schließlich schnaubte er beim Sprechen so sehr, daß Geist und Mütterchen ihn erst einmal durch besänftigendes Zureden beruhigen mußten, ehe er fortfahren konnte.

Nachdem Alberich zum Ende gekommen war, platzte es übermütig aus Löwenzahn heraus: »Es ist doch ganz einfach! Wir gehen runter, suchen alles ab und erschlagen jeden Zwergling, der uns über den Weg läuft!«

Mütterchen faßte sich ob so wenig Taktgefühl an die Stirn, Geist blickte verlegen zu Boden, und Alberich sah aus, als würde ihm vor Wut gleich der Schädel platzen.

»Dummkopf!« tobte er mit hochrotem Gesicht. »Du blöder, halbhunnischer Dummkopf!« Alberich haßte es, wenn Löwenzahn ihn oder einen anderen seines Volkes Zwergling nannte, doch diesmal machte ihn etwas ganz anderes wütend. »Seit zweihundert Jahren gibt es außer mir keinen Zwerg mehr im Hohlen Berg, ach, was sag’ ich, im ganzen Land! Und du willst hingehen und einfach jeden erschlagen, der drei Köpfe kleiner ist als du!« Seine Augen glühten vor Wut, als wollten sie gleich in Flammen aufgehen.

Löwenzahn grinste. »Nicht jeden«, sagte er mit einem Seitenblick auf Geist. »Nur alle, die Zipfelmützen und Bärte tragen.«

Alberichs Gesichtsfarbe schien von Rot zu Violett zu wechseln, und Mütterchen sah sich genötigt, einzuschreiten. Löwenzahn liebte es, den Zwerg mit seinen Sticheleien zur Weißglut zu bringen. Entschlossen trat sie zwischen die beiden Streithähne.

»Schluß jetzt!« verlangte sie scharf und gab sich den Anschein der würdevollen Schlichterin. Geist grinste verhalten.

»Alberich hat recht«, sagte Mütterchen. »Wir sollten uns genau überlegen, wie wir vorgehen wollen. Wir wissen nicht, wie dieser Zwerg in den Berg gelangt ist, aber wir sollten besser davon ausgehen, daß dort, wo er herkommt, noch weitere von seiner Sorte... verzeih, Alberich, von seinem Volke sind.«

Geist zupfte gedankenverloren an einem kleinen Farnwedel, der zwischen ihren flachen Brüsten wuchs. Die Bewegung irritierte Mütterchen; gestern war das Blatt noch nicht dagewesen. Die Magie, die in dem zarten Moosfräulein schlummerte, war gewaltig. Geist wußte nicht, wie sie damit umgehen sollte, und so beschränkte sie sich darauf, ihre Macht an Spielereien wie bunte Blüten und wuchernde Blätter zu verschwenden.

Heute aber sah das Moosfräulein aus, als beschäftige es irgend etwas ganz Bestimmtes, und dabei schien es sich keineswegs um Alberichs Erlebnis zu handeln.

»Was ist los?« fragte Mütterchen.

»Ich wollte heute ohnehin nach unten gehen«, sagte Geist, ohne sie anzusehen. »Auf dem Weg könnte ich ja die Augen offenhalten.« Es war klar, daß sie nur eine Ausrede suchte, wieder hinab in die Mooshöhle zu klettern. Löwenzahn hatte Mütterchen gleich nach dem Aufstehen davon erzählt, als sie sich an einer Felsquelle nahe ihrer Schlafquartiere gewaschen hatten. Es beunruhigte die alte Räuberin ein wenig, daß Geist den Ernst der Lage offenbar nicht einzuschätzen wußte.

»Niemand geht allein irgendwohin!« entschied Alberich in jenem überflüssigen Befehlston, den er selbst so liebte, der aber die Geduld aller anderen aufs äußerste strapazierte. Auch nach zwei Jahren hatte er noch immer nicht bemerkt, daß er damit den Widerspruch seiner Gefährten regelrecht herausforderte, begründet oder nicht. Auch jetzt prasselte von drei Seiten gleichzeitig eine Flut von Bemerkungen, Vorschlägen und trotzigen Entgegnungen auf ihn ein, bis er grimmig die Arme vor der Brust verschränkte und die Stirn runzelte, so daß er kaum noch unter seinen buschigen Augenbrauen hervorschauen konnte. Beleidigt kniff er die Lippen zusammen und schwieg.

Stur wie ein alter Ziegenbock, dachte Mütterchen seufzend.

»Also«, begann sie von neuem. »Hat irgend jemand einen Einfall, wo wir mit der Suche beginnen sollen? Darauf läuft es doch hinaus, oder?«

Löwenzahn knetete nachdenklich sein Kinn. »Wenn wir davon ausgehen, daß alle Zwerglinge so goldgierig sind wie unser Freund hier, dann sollten wir es wohl zuerst beim Hort versuchen.«

Alberich rümpfte pikiert die Nase und zog es weiterhin vor zu schmollen.

Auch Geist sagte nichts. Ihr bildhübschen blauen Augen glänzten traurig.

»Ich denke, Löwenzahn hat recht«, sagte Mütterchen. »Die Horthalle scheint mir ein guter Anfang zu sein. Irgendwelche Einwände?«

»Wir werden einen ganzen Tag brauchen, ehe wir dort unten ankommen«, gab Alberich finster zu bedenken.

»Wir wissen, daß du es nicht magst, wenn wir in die Nähe deiner Schätze gehen, Freund Alberich«, gab Mütterchen lächelnd zurück. »Aber ich fürchte, dieses eine Mal wirst du deinen Widerwillen überwinden müssen.«, Löwenzahn hatte einmal versucht, einen goldenen Harnisch anzulegen, den er am Rand des Hortes gefunden hatte, und Alberich trug ihm noch heute nach, was er damals einen dreisten Diebstahl genannt hatte, ganz wie man ihn von einem räuberischen Hunnenbastard erwarten mußte. Dabei war Mütterchen sicher, daß Alberich den ungeschickten Löwenzahn tiefer ins Herz geschlossen hatte, als er je zugeben würde. Ein Glück, daß der bärenstarke Halbhunne so gutmütig wie Obbos braves Pony war; jeder andere hätte dem jähzornigen Zwerg wahrscheinlich längst den Dickschädel eingeschlagen.

»Die Horthalle also!« sagte sie entschieden, und damit war es beschlossene Sache. Geist und Löwenzahn bekamen die Aufgabe, Vorräte für mehrere Tage einzupacken, während sie und der Horthüter noch einmal die alten Zwergenkarten der unteren Ebenen durchsehen wollten. Zwar behauptete Alberich, jeden Winkel des Berges in- und auswendig zu kennen, doch sogar er gab zu, daß es vielleicht keine dumme Idee war, seine Erinnerung noch einmal aufzufrischen.

Zuletzt verriegelten sie den Sehschlitz des Portals und ließen an einem Seilzug zwei große Glocken herab, die auf halber Höhe an die Innenseiten der Torflügel stießen. Sollte jemand versuchen, von außen den Eingang aufzurammen, würde das Läuten der Glocken bis in die tiefsten Stollen der Zwergenminen schallen.

Bald darauf machten sie sich auf den Weg in die Tiefe. Alberich, Löwenzahn und Mütterchen waren bis an die Zähne gerüstet, nur Geist lehnte wie üblich jede Bewaffnung ab. Sie ritt auf Löwenzahns breiten Schultern wie ein Kind, während aus ihrem Hinterkopf die Ranke einer Trauerweide sproß.



Es dauerte einen halben Tag, ehe sie das Tor der Horthalle erreichten. Es war ein hohes, doppelflügeliges Portal, ganz ähnlich jenem am Einstieg des Berges. Eine Vielzahl altertümlicher Runen war in die Oberfläche eingelassen, und nicht zum erstenmal fragte sich Mütterchen, ob Alberich sie wohl zu entziffern vermochte. Sie selbst konnte zwar lesen und schreiben, doch die alte Zwergenschrift war ihr unbekannt. Gerade wollte sie Alberich danach fragen, als Geist sich schüttelte.

»Wir sind nicht allein hier unten«, flüsterte das Moosfräulein. Es saß immer noch auf Löwenzahns Schultern, ohne daß der Krieger eine Spur von Erschöpfung zeigte.

»Wie meint du das?« Mütterchen hatte die Frage kaum ausgesprochen, da kam sie ihr schon überflüssig vor. Alarmiert wechselte sie ihren Wanderstab in die linke Hand und zog mit der Rechten ihr Schwert. Sichernd schaute sie in die Mündungen der drei Gänge, die sich vor dem Portal der Horthalle trafen.

»Ich spüre etwas«, wisperte Geist. Sie hatte jetzt die Augen geschlossen und streckte mit Hilfe der Drachenmagie unsichtbare Fühler in die Umgebung aus. Der armlange Weidenzweig in ihrem Nacken peitschte wie der Schwanz eines aufgeregten Hundes.

Alberich grummelte etwas und packte die Ketten seiner Goldgeißel, damit die Kugeln nicht zusammenstießen und mit ihrem Klirren Geists Konzentration störten.

Plötzlich ging ein Ruck durch Geists schmalen Körper, sie sprang von Löwenzahns Schultern und rief: »Kommt mit! Schnell!« Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da verschwand sie schon im nördlichen der drei Gänge. Der Boden war hier leicht abschüssig und machte nach dreißig oder vierzig Schritten eine leichte Linksbiegung.

»Wo läuft sie denn hin?« fragte der Zwerg verblüfft, doch Mütterchen und Löwenzahn hatten sich bereits in Bewegung gesetzt und folgten dem Moosfräulein.

»Steh nicht rum«, rief Mütterchen über die Schulter, »und tu schon, was sie sagt!«

Für Mütterchens alte Augen reichte das Zwielicht des Hohlen Berges nicht weiter als fünfzehn Schritte, dahinter verschmolz alles in trüber Düsternis. Löwenzahn mochte ein wenig besser sehen als sie, wenn auch lange nicht so gut wie Alberich. Doch selbst der Zwerg gab bald zu, daß er Geist aus den Augen verloren hatte.

Mütterchen wunderte sich. Sie hatten ausgemacht, sich vorerst nicht zu trennen, und um so mehr verblüffte sie, daß Geist sich so leichtsinnig von ihnen entfernt hatte. Irgend etwas hatte das Moosfräulein alle Vorsicht vergessen lassen.

»Wohin führt dieser Gang?« fragte sie im Laufen.

Alberich atmete angestrengt ein und aus. »Er geht irgendwann in einen Treppenschacht über, der in den unteren Grotten endet.«

»Was für Grotten sind das?« wollte Löwenzahn wissen.

»Es gibt dort unten einen See, in dem sich das Wasser aus dem ganzen Berg sammelt.«

Mütterchen und Löwenzahn wechselten einen Blick. »Glaubst du...?« begann die Räuberin.

Der Krieger nickte. »Das wird es sein.«

Alberich hatte Mühe, mit den langen Beinen der beiden anderen mitzuhalten, sogar mit Mütterchen, der ihr Alter mehr zu schaffen machte, als sie sich eingestehen wollte. »Könntet ihr mir verraten, wovon ihr sprecht?« fragte der Zwerg.

Mütterchen erklärte ihm Geists Entdeckung in wenigen Worten, und Löwenzahn nickte bestätigend, ohne seine Geschwindigkeit zu verlangsamen.

Mütterchen überlegte. »Wenn das, was Geist gespürt hat, sie derart aufregt, daß sie sogar ohne uns dorthinläuft, muß es etwas sein, das -«

Löwenzahn unterbrach sie, und Schrecken überzog seine Züge wie eine Maske aus Eis: »Etwas, das den Pflanzen schadet!« Und mit diesen Worten raste er los, und kein Zurufen der beiden anderen konnte ihn davon abhalten, sie hinter sich zu lassen. Bald war auch er hinter der Biegung des Felskorridors verschwunden.

»Sind denn plötzlich alle verrückt geworden?« fauchte Alberich. Diesmal sah Mütterchen keinen Grund, ihm zu widersprechen. Löwenzahns Sorge um Geist war begreiflich, doch es half niemandem, wenn er blindlings in eine Horde feinseliger Zwerge stolperte - falls es tatsächlich Zwerge waren und nicht etwas noch Schlimmeres. Mütterchen wußte selbst nicht, wie sie auf diesen Gedanken kam - verdammt, alles was sie entdeckt hatten, war ein einziger Zwerg! -, doch ihr Gefühl sagte ihr, daß es tödlich sein mochte, jetzt vorschnelle Schlüsse zu ziehen.

Wie Alberich vorausgesagt hatte, kamen sie nach einer Weile an den oberen Absatz einer steilen, schier ins Endlose abfallenden Treppe. Die Schachtdecke war sehr hoch, mehrere Mannslängen, dafür aber standen die Wände ungemein eng beieinander. Von Geist und Löwenzahn war nichts zu sehen, nur in weiter Ferne hörten sie das hallende Trommeln von Stiefelabsätzen auf den Stufen.

Die Treppe machte wie schon der Korridor eine leichte Biegung, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Das bedeutete, daß sich ihr Verlauf vom Umriß der Horthalle löste. Allein die Vorstellung, all diese Stufen wieder hinaufsteigen zu müssen, ließ Mütterchens alte Knochen schmerzen.

»Es ist... nicht... mehr weit«, stammelte Alberich atemlos.

Bald erkannte Mütterchen in der Tiefe einen niedrigen Torbogen, kaum mehr als ein Spalt. Er war von etwas Dunkelgrünem ausgefüllt, möglicherweise von einem Vorhang oder, ja, tatsächlich, von einem Dickicht aus Pflanzen.

Mütterchen und Alberich erreichten den unteren Treppenabsatz und blieben mit vorgebeugten Oberkörpern stehen. Sie konnten nicht anders, sie mußten einen Augenblick lang verschnaufen.

Da ertönte von der anderen Seite des Pflanzenvorhangs ein metallisches Scheppern, und einen Wimpernschlag später stolperte Löwenzahn rückwärts in den Treppenschacht. Er hielt seinen gewaltigen Zweihänder fest umklammert, hatte allerdings viel zuwenig freien Raum, um ihn wirksam einzusetzen. Zwei Zwerge drängten hinter ihm durch das Dickicht und setzten ihm mit Äxten zu, die alt und schartig waren. Trotzdem führten die beiden sie mit solcher Kraft und soviel Geschick, daß Löwenzahn Mühe hatte, ihren Hieben zu entgehen.

Mütterchen wollte ihm zur Hilfe eilen, doch da klirrte schon Alberichs Goldgeißel, und mit einem wilden Aufschrei stürzte sich der graubärtige Horthüter auf die beiden jüngeren Zwergenkrieger. Er und Löwenzahn behinderten sich dabei gegenseitig, doch nicht einmal das hielt Alberich davon ab, einem seiner Gegner die goldenen Stachelkugeln mitten ins Gesicht zu wirbeln. Kreischend brach der getroffene Zwerg in die Knie, und einen Herzschlag später machte ihm Löwenzahns mächtige Klinge ein Ende.

Der zweite Zwerg sah seinen Gefährten sterben und zog sich durch den Rankenvorhang zurück in die Grotte. Löwenzahn und Alberich drängten hinterher. Für einen Augenblick war Mütterchen ganz allein in dem hohen Treppenschacht.

Sie wollte ihren Freunden gerade folgen, als ihr auffiel, daß die vorderen Stufen mit vertrockneten Algen und Moosen bedeckt waren; gleiches galt für die Wände. Es konnte noch nicht allzu lange her sein, da mußte der untere Bereich der Treppe unter Wasser gestanden haben. Das wunderte Mütterchen zwar, erschien ihr im Moment aber nebensächlich. Sie schleuderte ihren Stab beiseite, packte ihr Schwert mit beiden Händen und sprang mit einem kühnen Kriegsruf durch die klammen Pflanzenfinger ins Innere der Grotte.

Keine zwei Schritte von ihr entfernt kämpften Alberich und Löwenzahn Seite an Seite gegen drei Zwerge, darunter jener, der im Treppenschacht vor ihnen zurückgewichen war. Zwei weitere Zwerge, so jung wie ihre Brüder und mit ebensolchen kränklichen, eingefallenen Gesichtern, standen bereit, um in den Kampf einzugreifen, falls einer der anderen verletzt wurde oder fiel. Als sie Mütterchen erblickten, zögerten sie nicht und stürmten mit Axt und stählernem Streitkolben auf sie ein. Der Räuberin blieb gerade noch genug Zeit, um Geist zu entdecken, die inmitten der Pflanzenranken unter der Decke hing wie eine Spinne im Netz. Sie mußte dort hinaufgeklettert sein, um den Axthieben ihrer Feinde zu entgehen. Ihre großen Augen schauten tiefunglücklich drein.

Mütterchen wußte, daß sie zu schwach war, um den Schlag zu parieren. Statt dessen sprang sie zurück, sah noch, wie der Stahlkopf des Kolbens den Fels vor ihren Füßen splittern ließ, dann taumelte sie nach hinten durch den Rankenvorhang in den Treppenschacht. Kaum war sie auf der anderen Seite, da wurden die Pflanzen schon von einem Axthieb zur Seite geschleudert. Mütterchens Gedanken rasten; die Zwerge würden einen Moment lang zögern, um zu sehen, ob ihre Gegnerin vor ihnen floh oder jenseits des Dickichts auf sie wartete. Bevor aber die beiden zwischen den Ranken hindurchtreten konnten, bohrte Mütterchen schon ihr Schwert in gerader Bahn nach vorne. Die Spitze fuhr durch die Pflanzenwand und drang in den Hals des Axtkriegers. Seine Waffe fiel scheppernd zu Boden, er stolperte zurück, die Klinge kam frei, und ein rauhes Röcheln drang aus der zerfetzten Kehle des Zwerges. Dann brach er zusammen, zuckte und starb.

Mütterchens Überraschungsmoment war damit verloren. Und schon stieg der zweite Zwerg über den Leichnam seines Kameraden hinweg, das Gesicht unter dem wuchernden Bart verzerrt vor Haß, den schweren Streitkolben mit beiden Händen zum Schlag erhoben. Mütterchen wich zurück und spürte, wie Panik sie überkam. Sie wußte, daß ihr Schwert unter dem ersten Anprall des Kolbens zersplittern würde. Sie war noch immer erschöpft vom langen Abstieg. Eine Flucht die Treppe hinauf kam nicht in Frage.

In einem Aufwallen von Todesmut - nicht zum erstenmal hätte sie damit ihr Leben gerettet - blieb sie stehen und stellte sich ihrem Feind entgegen. Der Zwerg schrie zornig auf, vielleicht um seinem Hieb noch mehr Kraft zu verleihen. Doch er machte den Fehler, nicht von oben herab, sondern seitwärts nach Mütterchen zu schlagen. Damit gab er ihr die Möglichkeit, unter dem Angriff hinwegzutauchen, was ihr mit einem schmerzerfüllten Ächzen gelang. Der Stahlkopf des Kolbens krachte in die Seitenwand des Treppenschachts, der Fels zerbarst, und ein Hagel aus Staub und Steinsplittern prasselte auf Mütterchen herab.

Sie führte einen blitzartigen Stich nach oben, in der Hoffnung, ihre Klinge von unten in den Schädel des Zwerges zu treiben. Doch ihr Gegner war schneller. Er sprang zurück, wich Mütterchens Attacke mühelos aus und holte abermals Schwung, um ihr mit dem Streitkolben den Schädel zu zertrümmern.

Mütterchen, immer noch in der Hocke, taumelte nach hinten, stieß mit der Ferse gegen die unterste Treppenstufe, suchte mit den Händen nach Halt, rutschte jedoch auf dem Algenteppich aus und verlor das Gleichgewicht. Ihr Rücken prallte auf die Kanten der Treppe, sie schrie auf, und vor ihren Augen explodierte ein Kranz aus Feuer. Sie glaubte, der Kolben hätte sie getroffen, und das Lodern und die tanzenden Lichter um sie herum seien die Vorboten des Todes. Dann aber klärte sich ihr Blick, und jemand streckte ihr eine riesenhafte Pranke entgegen. Löwenzahn! Mütterchen ließ sich von ihm aufhelfen und sah zugleich, daß der Zweihänder des Kriegers den Zwerg von hinten beinahe in zwei Hälften geschlagen hatte.

»Geist...«, stotterte sie mühsam, »und Alberich...«

»Den beiden geht es gut«, sagte Löwenzahn beschwichtigend und fügte ein wenig leiser hinzu: »Wenigstens glaube ich das.«

»Du glaubst!« fragte sie verwirrt und hatte immer noch Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Er nickte. »Der Kampf ist vorbei. Du solltest dir das ansehen.«

Sie ließ sich von ihm durch den Pflanzenvorhang führen. Da begriff sie, was er meinte.

Die drei verbliebenen Zwerge standen aufrecht in der Mitte der Höhle - wenigstens nahm Mütterchen das so lange an, bis sie entdeckte, daß die Fußspitzen der drei einen Finger breit über dem Boden schwebten. Ihre Gesichter waren verzerrt, einem hing die Zunge blau angeschwollen aus dem Mund. Um ihre Hälse lagen Schlingen wie von Peitschensträngen, aus deren holziger Oberfläche winzige Blätter wuchsen. Die Enden der Schlingen führten geradewegs zur Decke empor, aus Zweigen geflochtene Henkersstricke.

Geist hing immer noch dort oben. Ihr Rücken und ihr Hinterkopf lagen flach am Fels, ihre abgespreizten Arme und Beine wurden von einem Netz aus Ranken an der Decke gehalten. Der Farnwedel zwischen ihren Brüsten war verschwunden. Statt seiner entsprangen aus ihrem Moospelz die drei Zweige, mit denen sie die Zwergenkrieger erdrosselt hatte. Geists Augen waren geschlossen, ihr Mund stand leicht offen, und es sah aus, als schliefe sie. Ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, während sich die Ranken raschelnd um ihre Arme und Beine wanden wie Schlangennester.

Alberich stand vor den drei toten Zwergen und starrte fassungslos hinauf zu dem Moosfräulein. »Wir müssen sie irgendwie runterholen«, flüsterte er, als hätte irgendwer das in Frage gestellt.

Löwenzahn vergewisserte sich, daß Mütterchen aus eigener Kraft stehen konnte, dann trat er vor, wobei er den Zweihänder über seine Schulter schwang. Auch er blickte an den drei Ranken empor zu Geist. Tiefe Sorge sprach aus seiner Miene.

»Vielleicht sollten wir die drei erst einmal losschneiden«, schlug Alberich unsicher vor.

Mütterchen humpelte aufgebracht auf ihn zu. »Du bist wahrlich ein zu kurz geratener Hornochse, Alberich Horthüter! Diese Ranken kommen aus Geists Körper! Wie würde es dir gefallen, wenn wir dir drei Finger abschneiden?«

»Aber es sind bloß Zweige!« widersprach er, obwohl Mütterchen ihm ansah, daß er Zweifel an seinen eigenen Worten hatte. »Ich meine, sie sind aus Holz und -«

»Nichts da!« widersprach Mütterchen. »Gar nichts wird hier durchgeschnitten!«

Je länger Löwenzahn Geists rankenumschlungenen Leib anstarrte, desto bleicher wurde sein Gesicht. »Trotzdem müssen wir irgendwas tun.«

Alberich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht fällt sie ja nach einer Weile von alleine runter.«

»Hoffentlich wenn du gerade drunterstehst!« entfuhr es Mütterchen lakonisch, und sie verdrehte dabei die Augen. »Manchmal frage ich mich ernsthaft, wie du jemals Hüter dieses Berges geworden bist.«

Zornig fuhr der Zwerg herum. »Ich habe es mir nicht ausgesucht, das kannst du mir glauben!«

Löwenzahn streckte vorsichtig die Finger aus und versuchte, die Schlinge am Hals eines der Zwerge zu lockern. Doch der Peitschenzweig zog sich unter der Berührung nur noch enger zusammen. Löwenzahn zuckte erschrocken zurück.

»Geist?« fragte er zaghaft. Bislang hatte noch keiner von ihnen versucht, das Moosfräulein anzusprechen.

Und tatsächlich, der einfachste Weg war der richtige. Geist schlug die Augen auf, als sie ihren Namen vernahm, und noch im selben Moment lösten sich die drei Schlingen mit einem blitzschnellen Ruck. Alberich und Löwenzahn traten eilig einen Schritt zurück, als die Toten polternd zu Boden fielen. Das Moosfräulein löste den Kopf von der Decke und sah an sich herab zu ihren Füßen. Wie auf ein stummes Kommando lösten sich die Ranken an ihren Fußgelenken, und wenige Herzschläge später baumelte Geist nur noch mit den Händen an der Decke. Löwenzahn fing sie sanft auf, als sich die Schlingen auch von ihren Fingern und Handgelenken zurückzogen.

»Laß mich bitte runter«, bat sie und lächelte den Hunnenkrieger zaghaft an. Löwenzahn hob eine Augenbraue, im Zweifel, ob sie wirklich kräftig genug war, um stehen zu können, erfüllte ihr dann aber den Wunsch.

Geist schwankte ein wenig, fand jedoch schließlich ihr Gleichgewicht wieder. Jetzt erst blickte sie auf die drei Leichen herab.

»War ich das?« fragte sie betroffen. Zugleich huschte ein Schatten über ihre Züge, als bekäme sie plötzlich Angst vor sich selbst.

Mütterchen legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du hast uns das Leben gerettet«, sagte sie stolz.

Geist konnte ihren Blick nicht von den Toten nehmen. »Ich wußte nicht... ich meine, ich hatte ja keine Ahnung, daß ich...!«

»Das hatte wohl keiner von uns«, meinte Alberich düster.

Mütterchen sah ihn streng an, sagte aber nichts.

Die drei Ranken aus Geists Brust baumelten an ihrem Körper herab und ringelten sich auf dem feuchten Felsboden. Das Moosfräulein hob eine Hand und streichelte zärtlich darüber, und wenig später zogen sich die Zweige zurück, wurden kürzer und verschwanden schließlich völlig zwischen ihren Brüsten.

»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte«, begann Löwenzahn, führte den Satz aber nie zu Ende, denn Mütterchen sagte laut: »Ich glaube, wir sollten allmählich herausfinden, wo diese Kerle hergekommen sind.«

Alberich nickte hastig, offenbar dankbar, daß ihn jemand von Geists gespenstischen Fähigkeiten ablenkte.

Löwenzahn sagte: »Es gibt noch eine größere Grotte, gleich nebenan.« Er deutete auf die Öffnung, durch die Geist und er am Vortag hereingekommen waren. Das Rauschen der Wasserstrahlen, die sich dort aus den Kanallöchern in den See ergossen, schien schlagartig an Lautstärke zuzunehmen, als hätte das Geräusch nur darauf gewartet, endlich wahrgenommen zu werden.

Alberich packte entschlossen seine Axt und ging voran, ihm folgten Löwenzahn, dann Geist und zuletzt Mütterchen. Als sie schließlich alle auf der Felsscholle standen, die sich über einen Teil des unterirdischen Sees erstreckte, schüttelte der Zwerg nachdenklich den Kopf.

»Früher war der Wasserspiegel viel höher«, meinte er mißtrauisch.

Mütterchen fiel ihre Beobachtung im Treppenschacht ein. »Auch die Stufen standen bis vor kurzem unter Wasser.«

Alberich nickte und deutete über den See. »Der Strudel war beim letztenmal, als ich hier war, noch nicht da.«

»Wie lange ist das her?« fragte Mütterchen.

Er hob unsicher die Schultern. »Acht, neun Jahre.«

»In der Zeit kann hier unten viel geschehen sein«, meinte Löwenzahn.

Mütterchen trat auf ihren Stab gestützt näher an den Rand der Scholle. »Unter dem Fels ist ein Hohlraum«, stellte sie fest. »Der See geht darunter weiter.«

Löwenzahn stimmte zu. »Gestern, als Geist und ich hier unten waren, dachte ich, ich hätte jemanden gesehen. Er sprang vor meinen Augen ins Wasser und verschwand.«

Alberich schlug sich fassungslos vor die Stirn. »Und das erzählst du uns erst jetzt?«

»Ich hab’s Mütterchen erzählt«, verteidigte sich der Krieger.

»Das stimmt«, sagte die Räuberin grübelnd. »Aber seit wann haben Zwerge Kiemen?«

»Zwerge hassen das Wasser«, knurrte Alberich, verärgert, daß man ihm Löwenzahns Beobachtung bisher vorenthalten hatte.

Geist mischte sich ein. »Er könnte sich unter dem Felsen versteckt haben, bis Löwenzahn und ich wieder fort waren. Wenn es wirklich einen schmalen Hohlraum zwischen Stein und Wasser gibt, hätte er dort atmen können.«

»Trotzdem wissen wir noch immer nicht, woher all diese Zwerge plötzlich kommen«, sagte Mütterchen.

»Und was sie hier wollen«, fügte Alberich hinzu.

Löwenzahn rollte mit den Augen. »Natürlich das, was alle wollen.«

»Das Gold«, stimmte Mütterchen zu.

»Dann sollten wir uns endlich die Horthalle ansehen«, meinte Löwenzahn, wollte sich abwenden und zurück in die Nebengrotte gehen. Da fiel sein Blick auf Geist. Das Moosfräulein war an eine der Wände getreten, auf der anderen Seite des begehbaren Teils der Höhle. Im Dämmerlicht verschmolz sie beinahe völlig mit dem moos- und algenbedeckten Hintergrund.

»Das war es also, was ich gespürt habe«, sagte sie leise, ohne sich zu den anderen umzudrehen.

Sogleich eilten die anderen zu ihr und blickten verwundert auf eine Stelle an der Wand, etwa zwei mal zwei Schritte groß, an der die fünf Zwerge den Pflanzenbelag zerschnitten und abgeschabt hatten.

»Das hast du gespürt?« fragte Löwenzahn staunend.

Geist nickte stumm.

»Warum haben sie das getan?« wunderte sich Mütterchen.

Alberich deutete ein Stück nach rechts. Dort lehnten im Schatten eines Vorsprungs sechs Spitzhacken an der Wand, außerdem mehrere Hämmer, Meißel und andere Arbeitsutensilien der Zwerge. »Sie wollten einen Stollen graben«, stellte er fest und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Oder einen Durchbruch«, fügte Mütterchen hinzu.

Der Zwerg starrte sie aus großen Augen an. »Unmöglich! Es gibt dahinter nur massiven Fels, keinen Hohlraum.«

Mütterchen winkte ab. »Wie Löwenzahn schon richtig erkannt hat: Seit du zuletzt hier unten warst, kann vieles geschehen sein.« Sie deutete auf den Strudel, der das Wasser in eine Öffnung riß, die, laut Alberich, vor einigen Jahren noch nicht existiert hatte. »Ich fürchte, mein Freund«, sagte sie unheilschwanger, »irgendwer ist schon seit längerer Zeit dabei, deinen Berg zu untergraben.«

Alberichs Lippen bebten. Er brachte vor Erschütterung kein Wort heraus.

»Sag«, meinte Mütterchen und zeigte auf die Stelle, an der die Zwerge die Pflanzen entfernt hatten, »was liegt in dieser Richtung?« Sie ahnte die Antwort bereits, bevor Alberich endlich die Kraft fand, die beiden Worte auszusprechen.

»Die Horthalle«, sagte er heiser.



Mütterchen trat an Alberichs Seite durch das hohe Portal und wappnete sich für den schlimmsten aller Anblicke: Dutzende Zwerge, die mit Kisten und Säcken wie Ameisen über die Schätze der Nibelungen schwärmten.

Als sie von der kleinen, geländerlosen Plattform im oberen Teil der Hallenwand hinab in die Tiefe blickte, blendete sie das Glitzern und Funkeln des Hortes wie der Feuerstoß eines Drachen. Erst als sich ihre Augen an die unnatürliche Helligkeit gewöhnten, erkannte sie erleichtert, daß ihre Sorge unbegründet war. Zwar war es unmöglich, von so hoch oben Einzelheiten zu erkennen, doch jedes Lebewesen, das sich dort unten aufhielt, hätte sich von der unermeßlichen Pracht des Schatzes abheben müssen wie eine Regenwolke vom Sommerhimmel.

Die Halle war rund und so weitläufig, daß die gegenüberliegende Seite nur schwer auszumachen war. Aus der Tiefe funkelte der Goldglanz des Hortes empor und schien die unteren Regionen der Halle mit einem Dunst aus purem Licht zu erfüllen. Eine Wendeltreppe schlängelte sich spiralförmig um die Wände. Beim ersten und einzigen Mal, daß Alberich Mütterchen und die beiden anderen mit hinab zur Oberfläche des Hortes genommen hatte, waren sie am Mittag von der Portalplattform aufgebrochen und hatten am frühen Abend den Fuß der Treppe erreicht. Es war ein langer, eintöniger Marsch, und noch dazu ein Wagnis, denn die Treppe war schmal und besaß auf ihre gesamten Länge kein Geländer. Die Gefahr, nach innen abzustürzen, war groß, wenn man die Stufen nicht ruhig und mit Bedacht hinabstieg. Unter der Decke der Halle, genau in der Mitte, hing ein beschädigter Seilzug, mit dem einst die Schätze nach unten transportiert worden waren. Die Holzbrücke, die ihn früher mit der Plattform verbunden hatte, war schon vor langer Zeit eingestürzt.

»Niemand hier«, bemerkte Löwenzahn ohne jede Spur von Erleichterung. Er hatte sich bereits auf einen weiteren Kampf gefreut.

Alberich dagegen war anzusehen, daß ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er wollte etwas sagen, doch Mütterchen kam ihm zuvor.

»Noch ist niemand hier«, meinte sie, »aber das könnte sich bald ändern. Hört ihr das?«

Ein dumpfes Knirschen und Schleifen ertönte, ohne daß jemand hätte sagen können, woher es rührte. Es kam von irgendwo aus dem Inneren der Felsen.

»Da sind noch mehr von ihnen«, fuhr Mütterchen fort. »Und wer weiß, wie lange sie noch brauchen, um bis zur Halle durchzubrechen.«

»Aber wo kommen die her?« fragte Löwenzahn. »Zwerge sind doch keine Pilze, die einfach aus dem Boden schießen.« Grinsend fügte er hinzu: »Auch wenn sie mit ihren Mützen so aussehen.«

Alberichs Gesicht schien mit jedem Atemzug die Farbe zu wechseln, doch das hatte nichts mit Löwenzahns Bemerkung zu tun. Seine faltigen Züge waren mal bleich wie die Leichen der erdrosselten Zwerge, mal hochrot vor Zorn und Hilflosigkeit. »Von unten«, sagte er mit schwerer Zunge. »Sie kommen von unten.«

»Aber ich denke, da ist nichts?« wandte Mütterchen ein, schaute ihn dabei jedoch neugierig, fast ein wenig argwöhnisch an.

»Es gibt nur diese Möglichkeit«, stieß Alberich atemlos hervor. »Sie müssen über die alte Zwergenstraße gekommen sein.«

»Alte Zwergenstraße?« fragte Geist. »Was ist das?«

Auch Löwenzahn und Mütterchen blickten verständnislos.

»Ein Tunnel«, sagte er, und jeder merkte ihm an, daß ihm im Augenblick nicht nach weitschweifigen Erklärungen zumute war. »Er führt durch die Tiefen der Erde hinauf ins Nordland. Vor gut zweihundert Jahren zog das Volk vom Hohlen Berg über die alte Zwergenstraße zurück in seine frühere Heimat, dorthin, von wo aus unsere Ahnen einst nach Süden aufgebrochen waren.«

»Du meinst, es gibt einen Tunnel unter dem Hohlen Berg?« fragte Mütterchen verblüfft, aber auch ein wenig verärgert, daß Alberich ihnen erst jetzt davon erzählte.

»Niemand kennt den Einstieg«, verteidigte sich der Zwerg.

»Abgesehen von dir, natürlich«, brummte Löwenzahn.

»Ich bin der Hüter des Hortes!« fuhr Alberich ihn an. Falls er weihevoll klingen wollte, so mißlang es ihm in der Hitze seiner Erregung. »Natürlich kenne ich den Einstieg! Aber außer mir weiß keiner davon.«

»Nun«, meinte Mütterchen, »offenbar ist vor zweihundert Jahren ein ganzes Volk hindurchgezogen. So alt wie ihr Zwerge werdet, liegt das höchstens zwei Generationen zurück, nicht wahr?«

Alberich nickte verdrossen.

Geist riß vor Staunen den Mund auf. »Heißt das, die Zwerge kehren zurück?«

»Möglich«, sagte Mütterchen grübelnd. »Aber ich glaube eher, daß es sich nur um einige wenige handelt. Eine Bande höchstens zwei, drei Dutzend.«

»Woher willst du das wissen?« fragte Löwenzahn.

»Wenn es ein ganzes Volk wäre oder eine Armee, dann hätten wir in der Wassergrotte gewiß mehr als nur diese sechs angetroffen.« Sie wandte sich an Alberich. »Wo genau befindet sich der Einstieg zur Zwergenstraße?«

»Das darf ich nicht sagen!«

»Wir sind deine Freunde!« entfuhr es Mütterchen aufgebracht.

»Ihr seid keine Zwerge«, meinte er beharrlich, wagte aber nicht, der Räuberin dabei in die Augen zu blicken.

Löwenzahn wollte auffahren, doch Mütterchen schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Wie du meinst, Horthüter«, sagte sie zu Alberich. Und damit drehte sie sich zum Portal um und ging davon.

»Wo willst du denn hin?« rief Alberich ihr hinterher.

Löwenzahn schenkte ihm einen finsteren Blick, und sogar Geist sah verärgert aus. Beide machten sich wortlos auf, Mütterchen zu folgen.

Alberich stand einen Augenblick lang da wie versteinert, dann setzte er sich in Bewegung. Wild gestikulierend überholte er die beiden, lief hinaus auf den Gang und hielt Mütterchen am Ärmel ihres Gewandes fest. Widerwillig blieb sie stehen, während die beiden anderen aufholten. Alberich stellte sich ihnen in den Weg, mit hängenden Schultern und schuldbewußter Miene. Nach Worten ringend trat er von einem Fuß auf den anderen.

»Ihr könnt das nicht verstehen«, murmelte er fahrig.

»Du vertraust uns nicht, das verstehen wir sehr wohl«, gab Mütterchen zornig zurück. »Wir sind keine Zwerge, das ist wahr, und ich bin heilfroh darüber. Und doch haben wir zwei Jahre lang für dich und das Vermächtnis deines Volkes gekämpft. Hast du das vergessen?«

»Was für eine Frage!« gab er aufgebracht zurück. »Nichts ist vergessen, und nichts wird jemals vergessen sein. Mein Volk« - er verbesserte sich widerwillig - »ich werde euch immer dankbar sein.«

»Nicht dankbar genug, uns ins Vertrauen zu ziehen«, sagte Löwenzahn. Geist an seiner Seite schwieg, nickte nur langsam. Ganz andere Gedanken beschäftigten sie. Noch immer war sie im Zweifel über sich selbst und ihre Fähigkeiten.

Ein Feuerwerk aus Gefühlen und Regungen spiegelte sich auf Alberichs faltigen Zügen wieder. Sein Ringen mit sich selbst blieb den Gefährten nicht verborgen. Mütterchen und die anderen warteten geduldig ab, bis er neuerlich das Wort ergriff.

»Gut«, sagte er schließlich, und plötzlich klang seine Stimme wieder fest und entschlossen, wie sie es von ihm gewohnt waren. »Ich werde euch alles erzählen. Laßt uns hinuntergehen zum Hort, und auf dem Weg dorthin sollt ihr erfahren, was damals geschah, beim letzten Mal, als der Zugang zur alten Zwergenstraße geöffnet wurde.«

Mütterchen und Löwenzahn wechselten einen Blick, dann nickte die Räuberin. »Alles?« fragte sie den Zwerg mit hochgezogener Augenbraue.

Er brummte etwas Unverständliches, dann sagte er: »Alles!«

So brachen sie auf und traten zum zweiten Mal an diesem Tag durch das Portal auf die Plattform über dem Nibelungenhort. Abermals schlug sie der überwältigende Goldglanz aus der Tiefe in seinen Bann, doch diesmal verharrten sie nicht angesichts dieses Anblicks. Was immer ihnen zu tun blieb, mußte sehr schnell getan werden. Alberich betrat als erster die schmale Treppe in der Wand der Halle, Mütterchen, Geist und Löwenzahn folgten ihm. Die Stufen waren zu schmal, um zu mehreren oder auch nur zu zweit nebeneinander zu gehen, und so machten sie sich hintereinander auf den Weg. Ein kühler Luftzug spielte in ihrem Haar, in Alberichs Bart und im Fellbesatz von Löwenzahns Rüstzeug. Es roch anders als in den übrigen Sälen und Fluren des Berges, nicht feucht und modrig, sondern metallisch, fast wie Blut. Mütterchen hatte nicht gewußt, daß Gold einen eigenen Geruch besaß, aber sie hatte auch nie vor ihrer Zeit im Hohlen Berg solche Mengen davon auf einem Haufen gesehen. Sie fragte sich sorgenvoll, welche anderen neuen Erfahrungen ihnen der Abstieg in die Tiefe der Horthalle bringen würde.

Dann aber hob Alberich seine Stimme, und die Gedanken der anderen wandten sich dem zu, was er zu berichten hatte. »Vor zwei Jahrhunderten war der Hohle Berg ein Ort voller Leben. Kein zweites Zwergenvolk gab es südlich der Nordlande, das es zu solcher Blüte gebracht hatte. Hunderte, Tausende meiner Brüder und Schwestern bevölkerten die tiefen Hallen des Berges, sie schürften Gold und Silber und Erz in den Minen und fertigten daraus den prächtigsten Schatz, den je das Auge eines Sterblichen gesehen hat.

Doch das Volk vom Hohlen Berg war kein glückliches Volk, denn es war nicht sein eigener Herr, und der letzte König unter dem Berg, Thorhâl, war ein König ohne Macht. Die wahren Herrscher waren die Nibelungen, denen sich einer von Thorhâls Vorgängern verpflichtet hatte, und das Geschmeide, das die Zwerge schufen, fiel allein dem Fürsten Nibelung und seinen Erben anheim. Meine Vorfahren trugen keine Sklavenketten, und es gab keine Wächter oder Aufseher im Hohlen Berg; und doch fesselte der Eid des alten Königs die Zwerge fester an die Faust der Nibelungen als jeder Reif aus Stahl und jede schmiedeeiserne Kette. Vergessen war der Zugang zur alten Zwergenstraße, durch die vor Urzeiten die ersten Zwerge aus dem Nordland zum Hohlen Berg gekommen waren, und so lebten meine Vorfahren friedvoll, aber betrübt in diesen Hallen und mehrten den Reichtum der Nibelungenfürsten.

Da begab es sich eines Tages, daß Eindringlinge im Hohlen Berg gesichtet wurden, erst einzelne, dann immer mehr, bis schließlich eine ganze Heerschar aus den Tiefen heraufstieg und Krieg über mein Volk brachte. Nordlinge waren es, gewaltige Krieger, vielleicht den Menschen verwandt, vielleicht auch den Riesen, oder gar eine bösartige Kreuzung aus beiden. König Thorhâl und seine Kämpfer erkannten, daß die Nordlinge nur über einen einzigen Weg in den Berg gelangt sein konnten: Es mußte ihnen gelungen sein, die alte Zwergenstraße zu durchqueren, vom eisigen Nordland aus bis hierher, mitten ins Herz des Hohlen Berges. Sie hatten den vergessenen Zugang von unten aufgestoßen und waren geradewegs in Thorhâls Reich marschiert, und mit sich brachten sie Tod und Verderben. Ihr scharfer Stahl blitzte im Goldglanz des Hortes, und ihre Augen leuchteten vor Gier. So kamen sie über meine Vorfahren, und viele meiner Brüder fielen unter ihrem ersten Ansturm. Schlacht um Schlacht entbrannte in den Hallen des Berges, wochenlang wüteten die Kämpfe. Die Nibelungen weigerten sich einzugreifen, sie versperrten das Portal des Hohlen Berges von außen und warteten ab, wer als Sieger aus dem Krieg in der Tiefe hervorgehen würde. Seit Generationen hatten die Zwerge nicht mehr kämpfen müssen. Alles, was sie kannten, war die Arbeit in den Minen, das Schürfen nach Gold, das nicht ihnen gehörte. Die Hälfte der Zwergenarmee fiel im Kampf gegen die Nordlinge, und doch gelang es dem Rest, den Feind vernichtend zu schlagen. Hunderte Zwerge hatten ihr Leben gelassen, obwohl die Angreifer ihnen an Zahl weit unterlegen waren. Teile des Berges waren verschüttet, neue Durchbrüche und Höhlen entstanden, und trotz ihrer Verluste hatten die Zwerge zumindest einen Gewinn aus dem Krieg mit den Nordlingen gezogen: Ihr Wille zu kämpfen, ihr Wunsch nach Freiheit und Sieg war zurückgekehrt.

Da nun der Zugang zur Zwergenstraße wiederentdeckt war, faßte König Thorhâl den Beschluß, eine kleine Gruppe von Kriegern gen Norden zu schicken. Ihre Aufgabe sollte es sein, den Tunnel selbst, vor allem aber die Lage im Nordland zu erkunden. Gab es dort oben noch Zwerge, oder waren sie alle dem Haß der Nordlinge zum Opfer gefallen? Unterschied sich ihre Lebensweise von jener ihrer Verwandten im Hohlen Berg? Und mußte man mit Widerstand rechnen, wenn mit einemmal mehrere tausend Flüchtlinge aus dem Tunnel stiegen und einen Teil des alten Zwergenlandes zurückforderten?

Der Plan des Königs nämlich war es, den uralten Eid zu brechen, die Arbeit am Hort zu beenden und mit seinem ganzen Volk in die Heimat der Zwerge zurückzukehren.

Der König wählte eine Frau, um die Gruppe der Auserwählten anzuführen. Grimma war ihr Name, eine Heerführerin, mit der es kein anderer Krieger im Berg an Klugheit oder Kampfkraft aufnehmen konnte. Ihr zur Seite stellte er einige der besten Kämpfer des Reiches.

Wagemutig machte sich der Erkundungstrupp auf den Weg, und zum erstenmal seit Beginn der Nibelungenknechtschaft hallte wieder lauter Jubel durch die Flure und Säle des Berges. Vergessen geglaubte Lieder ertönten aus zahllosen Kehlen, die alten Instrumente wurden hervorgeholt, und Geschichten vom einstigen Ruhm des Zwergenvolkes machten die Runde. Jedermann war voller Hoffnung und Freude, und da war nicht einer, der bezweifelte, daß Grimmas Mission erfolgreich sein würde. Bald, so hoffte man, würde man dem Berg den Rücken kehren und dorthin gehen, wo es noch ein Leben in Freiheit gab, und Ehre und Reichtum im Überfluß.«

Mütterchen unterbrach Alberichs Redefluß. »Hat denn keiner daran gedacht, daß es gewiß einen guten Grund gab der die Zwerge dereinst veranlaßt hatte, das Nordland zu verlassen?«

»Im Jahr des Krieges mit den Nordlingen war ich noch nicht geboren«, erwiderte der Zwerg, ohne beim Abstieg die Treppe hinab innezuhalten, »und ich weiß nicht, ob sich jemand diese Frage gestellt hat. Aber Thorhâl war kein dummer König, und sicher hat er alle Möglichkeiten in Betracht gezogen.«

Mütterchen war damit keineswegs zufriedengestellt, doch Löwenzahn rief von hinten: »Erzähl schon weiter, Alberich! Wie erging es Grimma und ihren Männern? Was geschah dort unten im Tunnel?«

Der Horthüter räusperte sich würdevoll. »Groß waren die Mühen der Reisenden und verwegen ihre Abenteuer, ehe sie schließlich ans Ende der alten Zwergenstraße gelangten. Schon Tage zuvor wehte ihnen die Kälte der Nordlandgletscher entgegen, und die Wände des Tunnels waren mit Eis überzogen. Selbst die wärmste Kleidung vermochte den Frost nicht fernzuhalten. Doch obgleich sie alle froren und zitterten, glaubten sie mit aller Kraft an ihre Mission und an Thorhâls Plan. Vor allem Grimma verließ in keinem Augenblick der Mut. Wahrlich, sie war eine große Anführerin, eine, die nicht nur wußte, wie man gegen Schwerter und Äxte kämpft, sondern auch gegen schwindende Hoffnung und die Wut der Elemente.« Alberich verstummte für einen Moment, und Mütterchen glaubte schon, er wollte nicht fortfahren. Doch der Zwerg holte tief Luft, und als er weitersprach, verriet seine Stimme, wie sehr ihn der Gedanke an die vergangenen Heldentaten bewegte. Er klang sanft, fast traurig, als er sagte: »Grimma war nicht wie die anderen, und jeder ihrer Begleiter wußte das. Von ihren Männern wurde sie verehrt und gefürchtet zugleich, ganz so, wie es sich jeder Hauptmann wünscht.«

Mütterchen fragte sich, woher Alberich, der sein ganzes Leben allein im Hohlen Berg verbracht und nie einen Hauptmann kennengelernt hatte, das wissen wollte. Doch schien ihr dies kein guter Augenblick für eine erneute Unterbrechung. Alberichs Stimme klang belegt, teilnahmsvoll. Beinahe so, als wüßte er besser Bescheid über die Geschehnisse von damals, als er zugeben wollte. Zum erstenmal beschlichen Mütterchen leise Zweifel, ob der Horthüter ihr und den anderen tatsächlich in allem die Wahrheit gesagt hatte. Über sich selbst, den Hohlen Berg und über das Verschwinden der Zwerge.

Alberich schwelgte immer noch im Lob für eine Kriegerin, die vor vielen Jahrzehnten gestorben sein mußte. Mütterchen drehte sich im Gehen irritiert zu Geist und Löwenzahn um. Das Moosfräulein zuckte nur mit den Schultern, und nicht einmal der Halbhunne wagte, Alberichs Hymne auf Grimma zu unterbrechen, so als spürte er instinktiv, daß es hier um weit mehr ging als nur um den Ruhm einer alten Zwergenheldin.

»Stark war Grimmas Axtarm«, sagte Alberich, »und weise ihr Zuspruch. Sie verdrängte die Kälte aus ihrem Körper und mit ihr die Angst vor dem, was sie im Nordland erwarten mochte. Kein anderer hätte den Trupp so weit führen können, und keinen hätte das, was später geschah, härter treffen können als sie.«

Abermals hielt er inne, und nachdem eine Weile lang das Klappern ihrer Schritte auf den Felsstufen der einzige Laut in der Halle gewesen war, fuhr er tonlos fort: »Grimma und ihre Männer erklommen die Steinrampe, die hinauf zum Ausstieg der Zwergenstraße führte, und weit über sich sahen sie den Himmel des Nordlandes, schwer von Wolken aus Schnee und Eis. Die Kälte biß durch ihre Kleidung, stach wie Pfeilspitzen in ihre Leiber, doch in diesem Augenblick war aller Schmerz vergessen. Sie waren am Ziel, endlich am Ziel, und sie hatten kaum mehr als fünf Monde dafür gebraucht. Es war eine Zeit voller Entbehrungen gewesen, eine Zeit des Hungers, der Kälte und der Einsamkeit im Dunkeln. Zwei von ihnen waren dabei auf der Strecke geblieben, zwei weitere konnten vor Erschöpfung kaum mehr laufen. Jetzt aber, da das Nordland in greifbarer Nähe lag, waren das Elend und die Qual des Weges vergessen, und vor sich glaubten sie die Zukunft ihres Volkes, die lang ersehnte Freiheit.

Sie erreichten den Rand der Öffnung und sahen, daß sich um sie herum steile Schrägen erhoben, ein Rund aus steinernen Stufen. Eine Arena war es, ein Amphitheater von gewaltigen Ausmaßen, und in seiner Mitte klaffte der Zugang zum Tunnel. Grimma und die Krieger kletterten die verschneiten Ränge empor, und oben angekommen entdeckten sie, daß sich die Arena im Herzen einer Stadt befand und die Stadt in einem Tal und das Tal in einem hohen, zerklüfteten Gebirge. Kein lebendes Wesen war weit und breit zu sehen. Die Stadt war ein Labyrinth aus Ruinen, aus Mauerresten, eingestürzten Torbögen und zerfallenen Dächern, und ringsum türmten sich gewaltige Felsbrocken, manche nicht größer als ein Pferd, andere aber so schwer wie ein Haus, und es sah aus, als seien sie geradewegs vom Himmel herabgefallen. Alles war von einer Schneedecke überzogen, die es schwierig machte, Einzelheiten zu erkennen. Doch je länger Grimma und die anderen über den Rand der Arena hinausschauten, desto größer wurde ihre Gewißheit, daß diese Stadt nicht immer im Freien gelegen hatte. Denn die Felsen waren augenscheinlich die Überreste einer mächtigen Höhlendecke, die das ganze Tal überspannt hatte, und die Berghänge rundherum waren die Wände einer riesigen Grotte. Die Häuser, Plätze und Straßen hatten einst im Inneren eines Berges gelegen, bis irgend etwas - oder irgendwer - die Felsdecke zum Einsturz gebracht hatte.

Grimma hatte nach so langer Zeit endlich die alte Heimat ihrer Väter wiedergefunden, und nun genügte ein einziger Blick, um zu erkennen, weshalb die Zwerge sie damals verlassen hatten.«


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