15

Ar, zwar belagert, doch noch unbesiegt, war ein großartiger Anblick. Seine herrlichen schimmernden Zylinder ragten stolz hinter den schneeweißen Marmorbefestigungen auf, den Doppelmauern; die erste war hundert Meter hoch, die zweite – zwanzig Meter dahinter – sogar hundertunddreißig Meter. Die Mauern waren so breit, daß man mit sechs Tharlarionwagen nebeneinander darauf entlangfahren konnte. In Abständen von fünfzig Metern erhoben sich vorspringende Türme. Über der Stadt, über den Mauern und Zylindern, machte ich hier und dort das Blitzen schwankender Tarndrähte aus – Hunderttausende dünner Drähte, die sich als schützendes Netz über die Stadt erstreckten. Einen Tarn durch dieses Schutznetz zu steuern, war nahezu unmöglich; die Drähte mußten ihm die Flügel vom Leib trennen.

In der Stadt hatten die Wissenden, die kurz nach Marlenus Flucht an die Macht gekommen waren, sicherlich schon die Belagerungsvorräte angegriffen und die gewaltigen Kornspeicher unter Verwaltung gestellt. Bei vernünftiger Rationierung mochte eine Stadt wie Ar eine Generation lang ausharren. Außerhalb der Mauern hatten sich Pa-Kurs Streitkräfte

gesammelt und richteten sich unter Anleitung der besten goreanischen Belagerungsexperten auf den Kampf ein. Einige hundert Meter von den Mauern entfernt, außer Armbrustschußweite, hoben Tausende von Belagerungssklaven einen riesigen Graben aus. Bei ihrer Vollendung sollte die Grube fünfzehn bis zwanzig Meter breit und fast fünfundzwanzig Meter tief sein. Am rückwärtigen Rand des Grabens wurde die ausgehobene Erde zu einem großen Wall aufgeworfen. Oben auf diesem Wall entstanden zahlreiche Löcher, die hinter beweglichen Holzschilden Bogenschützen und sonstige Artillerie beherbergen sollten. Zwischen diesem Graben und den Stadtmauern waren in der Dunkelheit Tausende von angespitzten Pfählen aufgestellt worden, der Stadt zugeneigt. Manche dieser Todesfallen waren getarnt oder in Gruben aufgestellt. Hinter dem großen Graben zog sich in einigen hundert Metern Entfernung eine kleinere Grube hin – etwa fünf Meter breit und fünf Meter tief, ebenfalls mit einem Wall versehen. Auf diesem erhob sich eine Palisade angespitzter Stämme. In dieser Palisadenwand gähnte alle fünfzig Meter ein Holztor; Zugänge zu den zahllosen Zelten des belagerten Heeres.

Hier und dort wurden zwischen den Zelten Belagerungstürme konstruiert. Neun solche Baustellen waren zu sehen. Es war undenkbar, daß sie die Mauern Ars überragten, aber mit ihren Sturmrammen konnten sie vielleicht weiter unten Schaden anrichten. Die Mauerkronen sollten von Tarnkämpfern angegriffen werden. Wenn die Zeit der Attacke heranrückte, sollten Brücken über die Gräben geschlagen werden; über diese Brücken würden sich die Heerscharen von Kämpfern ergießen. Leichtes Kampfgerät, zumeist Katapulte, wurden von gepanzerten Tarnteams über die Gräben geschafft.

Ein Aspekt der Belagerung mußte meinen Augen verschlossen bleiben -das war das heftige Duell des Tunnelgrabens von beiden Seiten. Wahrscheinlich waren bereits zahlreiche unterirdische Gänge in Arbeit, in denen zweifellos einige der heftigsten Kämpfe der Belagerung ausgetragen wurden. Natürlich erschien es angesichts der Fundamente der mächtigen Stadtmauern unwahrscheinlich, daß sie durch Tunnel zum Einsturz gebracht werden konnten, aber es war denkbar, daß sich einer der Tunnels unbemerkt in die Stadt hineinführen ließ, wodurch ein mutiger Trupp hinter die Reihen der Verteidiger gelangen und von dort etwa gegen das Haupttor vorgehen konnte.

Nun bemerkte ich einen Umstand, der mich etwas verwirrte. Pa-Kur hatte es versäumt, sich durch einen dritten Graben den Rücken freizuhalten. Ich sah Lieferanten und Händler, die ungehindert im Lager ein- und ausgingen. Ich überlegte, daß Pa-Kur sicher nichts zu befürchten hatte und deshalb seine Belagerungssklaven und Gefangenen nicht mit nutzloser und zeitraubender Arbeit beschäftigen wollte. Dennoch hielt ich es für einen Fehler, wenn auch nur nach den Regeln der Belagerungspraxis.

Ich landete meinen Tarn etwas außerhalb des Lagers, acht oder zehn Kilometer von der Stadt entfernt. Ich war nicht überrascht, als niemand mich aufhielt; Pa-Kurs Arroganz war so groß, daß keinerlei Wachen die Zugänge zu der Zeltstadt kontrollierten. Ich betrat das Lager, wie ich vielleicht einen Jahrmarkt besucht hätte. Ich hatte keinen präzisen Plan, doch ich war entschlossen, Talena zu finden und mit ihr zu fliehen – oder bei dem Versuch zu sterben.

Ich hielt ein vorbei eilendes Sklavenmädchen an und erkundigte mich nach dem Weg zum Lager des Kaufmanns Mintar; ich war sicher, daß er die Horden in das Kernland Ars zurückbegleitet hatte. Das Mädchen spuckte die Münzen, die sie in ihrem Mund trug, in die Hand und gab mir die gewünschte Information.

Ich hatte mir einen Helm übergestreift, den ich dem Krieger in den Voltai-Bergen abgenommen hatte, und näherte mich nun nervös dem Lager Mintars. Am Eingang stand ein riesiger Drahtkäfig, ein Tarnstall. Ich warf dem Aufseher eine silberne Tarnmünze zu und befahl ihm, sich um meinen Vogel zu kümmern.

Ich schlich vorsichtig um das Lager herum, das – wie viele Händlerlager – durch einen geflochtenen Weidenzaun vom Hauptlager abgetrennt war.

Über der Anlage erstreckte sich ein silberschimmerndes Tarnnetz, als handele es sich um eine belagerte Stadt. Mintars Lager war mehrere Morgen groß – das größte Händlerlager überhaupt.

Vorsichtig sah ich mich um, kletterte über den schmalen Zaun und ließ mich zwischen einigen Tharlarions zu Boden gleiten. Die schwerfälligen Zugtiere hoben kaum den Kopf, als ich mich zwischen ihnen hindurchwand und mich vorsichtig zum Innenzaun des Korrals vorarbeitete.

Ich hatte Glück; niemand sah mich, als ich mich über den Zaun schwang und nun auf einem ausgetretenen Pfad zwischen den Wohnzelten befand. Normalerweise ist jedes vernünftig organisierte Händlerlager geometrisch angelegt, und in jeder Nacht stehen die Zelte, relativ gesehen, am gleichen Ort. In konzentrischen Kreisen werden die einzelnen Zeltgruppen angeordnet, die Zelte der Wächter bilden den äußeren Ring, gefolgt von den Unterkünften der Handwerker, Kutscher, Aufseher und Sklaven – und das Zentrum war natürlich dem Kaufmann, seinen Waren und seiner Leibwache vorbehalten.

In Kenntnis dieser Dinge hatte ich mir die Stelle ausgesucht; ich wollte mich zu Kazraks Zelt durchschlagen, das im Außenring in der Nähe der Tharlarionkorrale lag. Meine Überlegungen erwiesen sich als richtig, und eine Minute später war ich in sein Zelt geglitten. Ich ließ meinen Ring mit dem Cabot-Zeichen auf seinen Schlafsack fallen.

Die nächste Stunde, die ich wartend verbrachte, dehnte sich endlos.

Endlich bückte sich Kazraks müde Gestalt, den Helm in der Hand, durch die Zeltöffnung. Ich wartete schweigend im Schatten. Er ließ seinen Helm auf den Schlafsack fallen und begann sein Schwert abzunehmen. Noch immer sagte ich nichts, denn solange er eine Waffe bei sich hatte, war es nicht auszuschließen, daß er mich im ersten Augenblick der Überraschung angriff. Ich sah Kazrak Funken schlagen und spürte ein warmes Gefühl der Freundschaft in mir aufsteigen, als ich in dem aufflammenden Feuer seine Züge ausmachte. Er entzündete die kleine Zeltlamp e und wandte sich um. Dabei entdeckte er den Ring.

»Bei den Priesterkönigen!« rief er.

Ich sprang quer durch das Zelt und legte ihm die Hand auf den Mund.

Einen Augenblick lang rangen wir miteinander.

»Kazrak!« sagte ich und nahm die Hand fort. Er umarmte mich und drückte mich an seine Brust. In seinen Augen standen Tränen.

»Ich habe nach dir gesucht«, sagte er. »Zwei Tage lang bin ich das Ufer des Vosk abgeritten. Ich hätte dich losgeschnitten.«

»Das ist verboten«, sagte ich lachend.

»Und wenn schon«, erwiderte er. »Ich hätte dich losgeschnitten.«

»Ich habe das Holzgestell gefunden«, sagte Kazrak, »ein halbes Pasang vom Vosk entfernt. Ich hielt dich für tot.«

»Wir sind wieder zusammen«, sagte ich einfach.

Der brave Mann weinte, und ich hätte am liebsten mit ihm geweint. Freundlich ergriff ich seine Schultern und schüttelte ihn. Ich ging zu seiner Reisekiste neben dem Schlafsack, nahm seine Ka-la-na-Flasche heraus, gönnte mir einen großen Schluck und druckte ihm das Gefäß in die Hand. Er trank den Rest in einem Zug aus und wischte sich den Bart.

»Wir sind wieder zusammen, Tarl aus Bristol, mein Schwertbruder.«

Kazrak und ich setzten uns, und ich berichtete ihm von meinen Abenteuern. Er schüttelte den Kopf. »Du bist vom Schicksal bevorzugt«,

sagte er. »Die Priesterkönige haben dich für Großes ausersehen.«

»Das Leben ist kurz«, sagte ich. »Sprechen wir von anderen Dingen.«

In diesem Augenblick öffnete sich der Eingang zu Kazraks Zelt, und ich warf mich in den Schatten.

Der Mann, der nun eintrat, gehörte zu den T ierhaltern Mintars; er lenkte die beiden Tiere, die die Sänfte des Kaufmanns trugen.

»Würden Kazrak und sein Gast, Tarl aus Bristol, mich bitte zum Zelt Mintars aus der Kaste der Kaufleute begleiten?« fragte er.

Kazrak und ich waren sprachlos, doch wir standen auf und folgten dem Mann. Es war nun dunkel geworden, und da ich meinen Helm aufgesetzt hatte, bestand keine Gefahr, daß mich ein zufälliger Beobachter erkannte. Ehe ich das Zelt verließ, steckte ich den Ring aus rotem Metall in meinen Beutel. Bisher hatte ich das Schmuckstück offen getragen, doch jetzt hielt ich es für besser, Vorsicht walten zu lassen.

Mintars Zelt war sehr groß und rund, ein Palast aus Seidenstoffen. Wir passierten die Wächter am Eingang. In der Mitte des großen Innenraums saßen zwe i Männer auf Kissen vor einem kleinen Feuer, ein Spielbrett zwischen sich. Der kleine war Mintar aus der Kaste der Kaufleute, dessen Körper wie ein Mehlsack auf den Polstern ruhte. Sein Gegenüber, ein Riese von einem Mann, war in die Lumpen eines Aussätzigen gehüllt, doch er trug sie wie ein König. Er saß mit gekreuzten Beinen und hocherhobenem Kopf auf den Kissen, in der Haltung eines Kriegers. Ich erkannte ihn sofort. Es war Marlenus.

»Unterbrecht das Spiel nicht«, befahl Marlenus.

Mintar war in Gedanken versunken; seine kleinen Augen waren auf die roten und gelben Vierecke des Spielfeldes gerichtet.

Auch Marlenus wandte sich wieder dem Spiel zu. Ein kurzes Licht spielte in Mintars kleinen Augen, und seine dicke Hand verharrte einen Augenblick zögernd über einem der Spielsteine, einem Tarnsmann. Er berührte die Figur und verpflichtete sich damit, sie zu ziehen. Ein kurzer Zugwechsel folgte – fast eine Kettenreaktion, bei der keiner der Männer weiter nachdachte. Ein Erster Tarnsmann schlug einen Ersten Tarnsmann, ein Zweiter Speerkämpfer schaltete den Ersten Tarnkämpfer aus, die Stadt beseitigte den Speerkämpfer, ein Attentäter nahm die Stadt, der Attentäter fiel dem Zweiten Tarnsmann zum Opfer, dieser einem Speersklaven, und jener seinerseits einem anderen Speersklaven.

Mintar legte sich in die Kissen zurück. »Du hast die Stadt genommen«,

sagte er, »nicht aber den Heimstein.« In seinen Augen leuchtete es. »Ich habe das zugelassen, damit ich den Speersklaven in die Hand bekam.

Beenden wir das Spiel. Der Speersklave gibt mir den benötigten Punkt – einen kleinen, aber entscheidenden Punkt.«

Marlenus lächelte grimmig. Mit herrischer Geste schickte er seinen Ubar in die Gasse, die durch Mintars letzten Zug geöffnet worden war; der Ubar bedrohte nun den Heimstein.

Spöttisch verneigte sich Mintar. »Eine Schwäche meines Spiels«, sagte er. »Ich achte immer zu sehr auf den Profit, so klein er auch sein mag.«

Marlenus blickte zu Kazrak und mir auf. »Mintar« sagte er, »lehrt mich die Geduld. Er ist gewöhnlich ein Meister der Verteidigung.«

»Und Marlenus ein großartiger Angreifer«, sagte Mintar lächelnd.

»Ein fesselndes Spiel«, sagte Marlenus und deutete auf das Spielbrett.

»Ich habe den Attentäter benutzt, um die Stadt zu nehmen, dann ist der Attentäter durch einen Tarnkämpfer beseitigt worden . .. eine unorthodoxe, aber interessante Kombination ...«

»Und der Tarnkämpfer wird durch einen Speersklaven ausgeschaltet«, bemerkte ich.

»Stimmt«, sagte Marlenus kopfschüttelnd, »und damit habe ich gewonnen.«

»Und Pa-Kur«, sagte ich, »ist der Attentäter.«

»Ja«, fuhr Marlenus fort, »und Ar die Stadt.«

»Und ich bin der Tarnsmann?« fragte ich.

»Ja«, sagte Marlenus.

»Und wer ist der Speersklave?«

»Ist das wichtig?« fragte Marlenus, nahm mehrere Speersklaven auf und ließ sie nacheinander auf das Spielfeld fallen. »Jeder kommt in Frage.«

»Wenn die Attentäter die Stadt nehmen«, sagte ich, »ist die Herrschaft der Wissenden beendet, und die Horde wird sich mit ihrer Beute in alle Winde zerstreuen und eine Besatzungsmacht zurücklassen.«

Mintar bewegte sich unruhig auf seinen Kissen. »Der junge Tarnkämpfer versteht unser Spiel«, sagte er.

»Und«, fuhr ich fort, »wenn Pa-Kur fällt, zerstreiten sich die Besatzer, und es mag eine Revolution geben ...«

»Unter der Führung eines Ubar«, sagte Marlenus zustimmend und musterte den Spielstein in seiner Hand. Es war ein Ubar. Er ließ ihn auf das Spielfeld fallen, wodurch die anderen Stücke in alle Richtungen vom Brett fielen. »Unter der Führung eines Ubar!« rief er aus.

»Du bist also bereit, die Stadt Pa-Kur zu überlassen?« fragte ich. »Du willst es zulassen, daß seine Horden die Zylinder in Besitz nehmen, die Stadt ausrauben und vernichten, die Bewohner töten oder versklaven?«

In Marlenus Augen blitzte es auf. »Nein«, sagte er. »Aber Ar wird fallen.

Die Wissenden können nur Gebete murmeln und die Details ihrer sinnlosen Opferfeiern arrangieren. Sie streben nach politischer Macht, doch sie verstehen nichts davon, vermögen sie nicht zu steuern. Sie werden einer gut organisierten Belagerung nicht lange standhalten. Sie können die Stadt nicht halten.«

»Könntest du denn nicht in die Stadt vordringen und die Macht übernehmen? Du könntest den Heimstein zurückbringen und eine Gefolgschaft um dich versammeln.«

»Ja«, sagte Marlenus. »Ich könnte den Heimstein wieder in die Stadt bringen, und ich hätte auch bald wieder eine Gefolgschaft. Aber sie wäre nicht groß genug. Wie viele würden dem Banner eines Gesetzlosen folgen? Nein, zuerst muß die Macht der Wissenden gebrochen sein.«

Marlenus musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. »Vielleicht«, sagte er.

»Dann hätte ich einen Plan«, sagte ich. »Versuche die Heimsteine jener Städte in deinen Besitz zu bringen, die Ar Untertan sind – sie werden auf dem Zentralturm aufbewahrt. Wenn du sie in Besitz hast, kannst du in Pa-Kurs Horden Zwietracht säen, indem du den Truppenabordnungen der einzelnen Städte ihre Steine zurückgibst -unter der Bedingung, daß sie sich sofort zurückziehen. Wenn sie sich weigern, kannst du die Steine vernichten.«

»Die Soldaten der zwölf unterworfenen Städte«, sagte er, »wollen Beute und die Frauen von Ar – und nicht nur ihre Steine.« »Vielleicht kämpfen einige doch für ihre Freiheit – für das Recht, ihren Heimstein selbst aufzubewahren«, sagte ich. »Sicher bestehen doch Pa-Kurs Horden nicht nur aus Abenteurern und Söldnern.« Ich bemerkte das Interesse des Ubar und fuhr fort: »Außerdem würden nur wenige goreanische Soldaten – so barbarisch sie auch sein mögen – die Vernichtung ihres Heimsteins riskieren, der immerhin das Glückspfand ihres Heimatortes ist.«

Marlenus runzelte die Stirn. »Aber wenn die Belagerung aufgehoben ist, wären die Wissenden noch immer an der Macht.« »Und Marlenus könnte nicht auf den Thron Ars zurück«, sagte ich. »Aber zumindest wäre die Stadt gerettet. Was ist dir am liebsten, Ubar – deine Stadt oder dein Titel? Liegt dir das Wohlergehen Ars am Herzen – oder nur dein Ruhm?«

Marlenus sprang auf, warf die gelben Lumpen ab und zog sein blitzendes Schwert. »Ein Ubar beantwortet eine solche Frage mit dem Schwert!« Auch ich hatte die Waffe gezogen. Einen langen schrecklichen Moment starrten wir uns an, dann trat Marlenus einen Schritt zurück, stieß sein brüllendes Gelächter aus und rammte seine Klinge wieder in die Scheide. »Dein Plan ist gut«, sagte er. »Meine Männer und ich werden heute nacht in die Stadt eindringen.« »Und ich komme mit«, sagte ich.

»Nein«, erwiderte Marlenus. »Die Männer Ars brauchen die Hilfe eines Kriegers aus Ko-ro-ba nicht.«

»Vielleicht könnte sich der junge Tarnsmann um Talena, Marlenus1 Tochter, kümmern«, sagte Mintar leise. »Wo ist sie?« fragte ich.

»Wir wissen es nicht genau«, sagte Mintar. »Aber man nimmt an, daß sie sich in Pa-Kurs Zelten aufhält.«

Zum erstenmal sprach Kazrak. »An dem Tage, da Ar fällt, heiratet sie Pa-Kur und wird an seiner Seite herrschen. Er hofft, dass das die Überlebenden in Ar dazu bringt, ihn als rechtmäßigen Ubar anzuerkennen. Er wird sich zu ihrem Befreier erklären – er will als der Mann gelten, der den Despotismus der Wissenden beendet und den Glanz des Imperiums wiederherstellt.«

Mintar schob nachdenklich die Figuren auf dem Spielbrett hin und her.

»Wie die Lage im Augenblick aussieht«, sagte er, »ist das Mädchen unwichtig, aber nur die Priesterkönige können alle denkbaren Züge vorhersehen. Es mag von Vorteil sein, das Mädchen aus dem Spiel zu nehmen.«

Marlenus starrte mit geballten Fäusten zu Boden. »Ja«, sagte er, »sie muß fort – doch nicht nur aus strategischen Gründen. Sie hat mich entehrt.« Er starrte mich stirnrunzelnd an. »Sie ist mit einem Krieger allein gewesen, hat sich ihm unterworfen – und jetzt hat sie sogar versprochen, an der Seite eines Attentäters zu herrschen.«

»Sie hat dich nicht entehrt«, sagte ich.

»Sie hat sich unterworfen«, knurrte Marlenus.

»Nur um sich zu retten«, sagte ich.

»Und es geht das Gerücht«, sagte Mintar, ohne aufzublicken, »daß sie sich Pa-Kur nur versprochen hat, um einem gewissen Tarnsmann, den sie liebt, eine Überlebenschance zu gewähren.«

»Sie hätte als Braut tausend Tarns gebracht«, sagte Marlenus erbittert.

»Und jetzt ist sie weniger wert als eine ausgebildete Sklavin.«

»Sie ist deine Tochter!« sagte ich hitzig.

»Wenn sie jetzt hier wäre«, sagte Marlenus, »würde Ich sie erwürgen.«

»Und ich würde dich töten«, sagte ich.

»Na«, sagte Marlenus lächelnd, »vielleicht würde ich sie auch nur schlagen und meinen Tarnkämpfern überlassen.«

»Und ich würde dich töten«, wiederholte ich.

»Es sieht fast so aus«, sagte Marlenus, »als müßten wir uns bekämpfen.«

»Liebst du sie denn nicht?« fragte ich.

Marlenus musterte mich verwirrt. »Ich bin ein Ubar«, sagte er. Er nahm den gelben Umhang auf, zog ihn über und barg sein Gesicht in der gelben Kapuze des Aussätzigen. Ehe er sich zum Gehen wandte, stieß er mir seinen knorrigen Wanderstab gutmütig vor die Brust. »Die Priesterkönige seien mit dir«, sagte er und lachte.

Marlenus krümmte sich zusammen und verließ das Zelt, allem äußeren Anschein nach ein verzweifelter Aussätziger, der sich mit seinem Stock einen Weg ertastete.

Mintar blickte auf. »Du bist bisher der einzige Mensch, der dem Tarntod entkommen ist«, sagte er, und in seiner Stimme schwang Ehrfurcht mit.

»Vielleicht ist es wahr, was über dich erzählt wird – daß du ein Krieger bist, wie er nur alle tausend Jahre nach Gor geholt wird, um die Welt zu verändern. Und zwar geholt von den Priesterkönigen.«

»Woher wußtest du, daß ich in dein Lager kommen würde?« fragte ich.

»Wegen des Mädchens«, erwiderte Mintar. »Es war doch eine logische Vermutung, daß du zunächst das Zelt deines Schwertbruders Kazrak aufsuchen würdest.«

Mintar griff in seinen Beutel und zog eine große goldene Tarnmünze heraus. Er warf sie Kazrak zu. »Ich nehme an, daß du meine Dienste verlassen willst«, sagte er.

»Ich muß«, erwiderte Kazrak.

»Wo sind die Zelte Pa-Kurs?« fragte ich.

»Sie liegen an der höchsten Stelle des Lagers, nahe dem zweiten Graben, direkt gegenüber dem großen Stadttor Ars. Das schwarze Banner der Kaste der Attentäter ist nicht zu übersehen.«

»Vielen Dank«, sagte ich. »Obwohl du der Kaste der Kaufleute angehörst, bist du ein mutiger Mann.«

»Ein Kaufmann kann so mutig sein wie ein Krieger, junger Tarnsmann«,

sagte Mintar lächelnd. Er schien fast verlegen zu sein. »Sehen wir es einmal so. Wenn Marlenus die Stadt zurückgewinnt – erhält dann Mintar nicht alle Monopole, die er sich wünscht?«

»Ja«, sagte ich. »Aber Pa-Kur wird darin sicher nicht weniger großzügig sein als Marlenus.«

»Sogar noch großzügiger«, berichtigte mich Mintar und schaute wieder auf das Spielbrett, »aber Pa-Kur spielt dieses Spiel leider nicht.«

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