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»Ho!« rief Torm, ein recht untypisches Mitglied der Kaste der Schriftgelehrten, und zog seine blaue Robe über den Kopf, als könnte er meinen Anblick nicht länger ertragen. »Ja!« rief er und steckte seinen blonden Haarschopf zwischen den Stoff alten hervor. »Ja, ich hab's verdient! Warum muß ich, ein Idiot, immer mit Idioten gesegnet sein? Habe ich denn nichts Besseres zu tun? Warten hier nicht tausend Schriftrollen darauf, entziffert zu werden?« »Weiß ich nicht«, sagte ich.

»Schau doch!« rief er verzweifelt und machte eine hoffnungslose Geste. Auf ganz Gor hatte ich noch kein so unordentliches Zimmer gesehen. Sein breiter Holztisch war mit Papier und Tintenfässern übersät, der Boden bis zum letzten Quadratzentimeter voller Schriftrollen in Ständern und Stapeln. Eines der Fenster war gewaltsam erweitert worden, und ich stellte mir Torm mit einem Hammer vor, wie er ärgerlich auf die Wand einschlug, um mehr Licht für seine Arbeit zu gewinnen. Unter seinem Tisch stand ein Becken mit glühenden Kohlen, die ihm die Füße wärmten – gefährlich nahe am gelehrten Schrifttum, das den Boden bedeckte.

Torm war von schmächtiger Statur und erinnerte mich immer wieder an einen ärgerlichen Vogel, der mit Vorliebe die Eichhörnchen beschimpft. Die Goreaner, die ich bisher kennengelernt hatte, waren stets sehr sorgfältig gekleidet gewesen, aber Torm hatte offensichtlich Besseres zu tun. Dazu gehörte es anscheinend auch, Wesen wie mich, die keine Ahnung hatten, zu unterweisen.

Trotz seiner Exzentrik fühlte ich mich zu dem Mann hingezogen. Ich spürte etwas in ihm, das ich bewunderte – einen klugen und freundlichen Geist, einen Sinn für Humor und Liebe zum Lernen, eines der tiefsten und ehrlichsten Gefühle, das es geben kann. Diese Liebe für seine Schriftrollen und die Männer, die sie vor Jahrhunderten geschrieben hatten, beeindruckte mich eigentlich am meisten. Es mochte unglaublich scheinen, aber für mich war er der größte Gelehrte in der Stadt der Zylinder.

Ärgerlich wühlte sich Torm durch einen der gewaltigen Papierhaufen und fischte schließlich, auf Händen und Knien hockend, eine kleine magere Rolle hervor, setzte sie in die Lesevorrichtung ein – ein Metallrahmen mit Rollen an beiden Enden – und drehte die Rolle mit einem Knopfdruck zum Anfang.

»Al-Ka!« sagte Torm und deutete mit langem, gebietendem Finger auf ein Zeichen. »Al-Ka«, sagte er.

»Al-Ka«, wiederholte ich.

Wir sahen uns an und begannen zu lachen. Eine Freudenträne rollte ihm über die Nase, und seine hellblauen Augen, blitzten.

Ich lernte das goreanische Alphabet.

Die nächsten Wochen brachten allerhand Arbeit für mich, nur von sorgfältig berechneten Ruhepausen unterbrochen. Zuerst traten Torm und mein Vater als Lehrer auf, doch als ich mich in die Sprache einfühlte, kamen zahlreiche andere hinzu, die mich auf verschiedenen Spezialgebieten unterwiesen. Torm hatte das Englische eigentlich nur zur Übung und zum Spaß erlernt, da es nirgendwo auf dem Planeten gesprochen wurde; er fand offenbar Gefallen daran, seine Gedanken in einer völlig fremd en Sprache auszudrücken.

Meine Ausbildung erstreckte sich neben den geistigen Übungen auf Waffenkunde und den Gebrauch zahlreicher anderer Geräte, die den Goreanern etwa so vertraut sind, wie wir mit Addiermaschinen und Waagen umgehen.

Einer der interessantesten Apparate war der Übersetzer, der sich auf verschiedene Sprachen einstellen ließ. Obwohl es eine allgemein bekannte Hauptsprache auf Gor zu geben schien, die mehrere Dialekte oder Nebensprachen hatte, gab es einige Sprachen, die für mein Ohr überhaupt nicht wie Sprachen klangen; sie kamen mir eher wie Schreie von Vögeln und Raubtieren vor. Der Übersetzer war mir also eine große Hilfe.

Zu meiner freudigen Überraschung hatte mein Vater eines dieser Geräte auf Englisch eingerichtet – ein Umstand, der meinen Sprachstudien sehr förderlich war. Zu Torms Erleichterung konnte ich mit der Maschine auch selbst arbeiten, die im übrigen ein Wunder an Verkleinerung war. Etwa von der Größe einer tragbaren Reiseschreibmaschine, konnte sie immerhin auf vier nicht-goreanische Sprachen eingestellt werden. Die Übersetzungen fallen natürlich sehr wörtlich aus, und das Vokabular ist auf etwa 25000 Entsprechungen für jede Sprache beschränkt. Somit war die Maschine für eine verfeinerte Kommunikation nicht sehr geeignet.

Torm hatte mir nüchtern erklärt: »Du mußt dich mit der Geschichte und den Sagen Gors beschäftigen, mit seiner Geographie und Wirtschaft, mit seinen Gesellschaftsstrukturen und Gewohnheiten, wie etwa das Kastensystem und die Klanggruppen, mit dem Recht, den Heimstein zu setzen, mit dem Heiligen Ort, mit dem Kriegsrecht und so weiter.« Und ich wurde mit all dem vertraut. Von Zeit zu Zeit stieß Torm einen Entsetzensschrei aus, wenn ich einen Fehler machte, und dann nahm er traurig eine große Schriftrolle auf – mit dem Werk eines Autors, den er nicht mochte – und versetzte mir damit einen kurzen Schlag auf den Kopf. Wie auch immer – er war jedenfalls entschlossen, daß seine Ausbildung Früchte tragen sollte.

Seltsamerweise beschränkte sich die religiöse Unterweisung auf die Anbetung der Priesterkönige; meinen sonstigen Fragen wich Torm mit der Bemerkung aus, das sei Sache der Wissenden. Offensichtlich ist die Religion auf dieser Welt ein sorgsam gehütetes Kleinod der Kaste der Wissenden, die die Mitglieder anderer Kasten nur selten an ihren Opfern und Zeremonien teilnehmen läßt. Ich sollte einige Gebete zu den Priesterkönigen auswendig lernen, aber sie waren in Altgoreanisch gehalten, einer Sprache, die nur von den Wissenden gesprochen wurde, so daß ich mich nicht weiter darum kümmerte. Ich hatte ohnehin das Gefühl, daß zwischen der Kaste der Schriftgelehrten und der Kaste der Wissenden ein gespanntes Verhältnis bestand. Die ethischen Lebensregeln auf Gor sind im wesentlichen in den Gewohnheiten der Kasten festgehalten – Sammlungen von Hinweisen, deren Ursprünge sich in der Geschichte verlieren. Ich wurde besonders nach dem Kodex der Kriegerkaste erzogen.

»Du würdest ohnehin nie einen guten Schriftgelehrten abgeben«, sagte Torm.

Der Kodex der Krieger war von einer besonderen Ritterlichkeit bestimmt und unterstrich die Loyalität gegenüber den Oberen und dem Heimstein. Es waren harte Regeln, doch sie kannten Rücksichtnahme und Sinn für Ehre, den ich verstehen und mir aneignen konnte. Auch wurde ich im Doppelten Wissen unterwiesen – das heißt, ich erfuhr, was die Menschen im allgemeinen wußten und was die Intellektuellen im besonderen erfuhren. Manchmal bestand ein überraschender Unterschied zwischen den beiden Elementen. Zum Beispiel wurden die Menschen unter den Hohen Kasten in dem Glauben gelassen, daß die Welt eine breite flache Scheibe war. Vielleicht sollte damit jeder Versuch einer Erforschung verhindert werden. Andererseits erfuhren die Hohen Kasten – Krieger, Hausbauer, Schriftgelehrte, Wissende und Ärzte – die Wahrheit über solche Dinge. Ich begann mich allerdings zu fragen, ob nicht das Zweite Wissen, das der Intellektuellen, ebenso begrenzt war wie die Unterweisung auf der unteren Ebene, ob es nicht auch den Wissensdrang der Menschen zügeln und unterbinden sollte. Ich hatte das Gefühl, daß es noch ein Drittes Wissen gab, das den Priesterkönigen vorbehalten ist.

»Der Stadtstaat«, sagte mein Vater eines Nachmittags, »ist die normale politische Einheit auf Gor – feindliche Städte, die das Territorium in ihrem Umfeld kontrollieren, umgeben von einem Niemandsland aus freien Gebieten.«

»Wie wird die Führung in diesen Städten festgelegt?« fragte ich. »Die Herrscher werden aus jeder beliebigen Hohen Kaste gewählt.« Ich runzelte die Stirn. »Nur aus Hohen Kasten?« »Das Kastensystem«, sagte mein Vater geduldig, »ist relativ unbeweglich, doch es ist nicht eingefroren und hängt nicht nur völlig von der Geburt ab. Wenn zum Beispiel ein Kind in der Schule unter Beweis stellt, daß es für eine höhere Kaste geeignet ist, wird ihm das ges tattet. Aber es gibt auch den umgekehrten Fall, wenn ein Kind nicht den Standard entwickelt, der von seiner Kaste erwartet wird.«

»Ich verstehe«, sagte ich, ohne wirklich zufriedengestellt zu sein. »Die Hohen Kasten jeder Stadt«, sagte mein Vater, »wählen auf eine bestimmte Zeit einen Administrator und einen Rat. Kommt eine Krise auf, wird ein Kriegsführer, ein Ubar, benannt, der als Alleinherrscher regiert, bis die Krise nach seiner Auffassung vorüber ist.« »Nach seiner Auffassung?« fragte ich skeptisch. »Gewöhnlich stellen die Ubars ihr Amt nach der Krise zur Verfügung«, sagte mein Vater. »Das gehört zum Kodex der Krieger.« »Aber was geschieht, wenn er sein Amt nicht abgibt?« fragte ich. Ich wußte inzwischen, daß man sich nicht immer auf die Einhaltung der Kastenregeln verlassen konnte.

»Will ein Ubar nicht zurücktreten, lassen ihn gewöhnlich seine Leute im Stich. Der Kriegsführer bleibt allein in seinem Palast zurück, den wütenden Volksmassen hilflos ausgeliefert.« Ich nickte und stellte mir einen leeren Palast vor, in dem ein Mann einsam auf seinem Thron saß, in Staatsroben gehüllt, und darauf wartete, daß die Menschenmengen hereinstürmten. »Aber«, fuhr mein Vater fort, »manchmal vermag ein Ubar die Herzen seiner Männer zu gewinnen, und dann bleiben sie bei ihm. Dann wird er ein Tyrann und herrscht, bis er auf die eine oder andere Weise gewaltsam beseitigt wird.« Das Gesicht meines Vaters war hart geworden. Er schien einen solchen Mann zu kennen. »Bis er gewaltsam beseitigt wird«, wiederholte er langsam. Am nächsten Morgen folgten neue, endlose Lektionen bei Torm. Gor war keine Kugel, sondern ein Sphäroid, etwas schwerer in der südlichen Hemisphäre. Die Neigung seiner Achse war etwas größer als die der Erde, doch nicht so groß, daß das Klima keinen Wechsel von Jahreszeiten kannte. Gor hatte zwei Polargebiete und eine Äquatorzone, zwischen denen sich im Süden und Norden gemäßigte Klimazonen erstreckten. Zu meiner Überraschung war ein Großteil der Landkarten weiß, aber auch so bereitete es mir gehöriges Kopfzerbrechen, alle bekannten Flüsse, Seen, Ebenen und Halbinseln auswendig zu lernen. Wirtschaftlich gesehen basierte das goreanische Leben auf der Arbeit des freien Landbewohners – die vielleicht niedrigste, aber auch gefestigtste Kaste. Grundnahrungsmittel war ein gelbes Korn, Sa-Tarna genannt – Lebenstochter. Interessanterweise wurde Fleisch als Sa-Tassna bezeichnet, was Lebensmutter bedeutet. Oberhaupt wird im allgemeinen Sprachgebrauch Sa-Tassna als Ausdruck für Lebensmittel gebraucht. Das schien mir darauf hinzudeuten, daß sich die Goreaner früher einmal vordringlich von der Jagd ernährt hatten. Allerdings blieb mir wenig Zeit zur Spekulation, da mich mein Lehrplan sehr in Anspruch nahm. Man schien die Absicht zu haben, mich in wenigen Wochen zu einem echten Goreaner zu machen. Aber diese Wochen machten mir auch Spaß, wie immer, wenn ich lernte und mich spürbar weiter entwickelte – auch wenn mir das letzte Ziel noch nicht bekannt war. In diesen Wochen kam ich mit vielen Goreanern zusammen, meistens Mitglieder der Kaste der Schriftgelehrten und der Kaste der Krieger.

Bisher hatte ich nur wenige Frauen gesehen, doch ich wußte, daß sie, wenn sie frei waren, innerhalb des Kastensystems nach den gleichen Regeln auf- oder abstiegen wie die Männer, obwohl dies offenbar von Stadt zu Stadt verschieden war. Im ganzen gefielen mir die Menschen hier, und ich war sicher, daß sie im wesentlichen von der Erde abstammten. Ihre Vorfahren mußten durch die sogenannten Akquisitionsreisen nach Gor gekommen und hier einfach freigelassen worden sein – wie Tiere in einem Waldreservat. Bei diesen Vorfahren mochte es sich um Chaldäer oder Kelten oder Syrer oder Engländer gehandelt haben, die im Verlaufe vieler Jahrhunderte aus den verschiedensten Zivilisationen hierherkamen. Die Kinder und Großkinder hatten sich dann natürlich zu Goreanern entwickelt, wodurch fast alle Spuren der irdischen Herkunft verschwanden. Von Zeit zu Zeit entzückte mich jedoch ein englisches Wort in der goreanischen Sprache – wie etwa ›Axt‹ oder ›Schiff‹. »Torm«, fragte ich einmal, »warum ist die irdische Herkunft nicht ein Teil des Ersten Wissens?« »Ist das nicht offensichtlich?« antwortete er. »Nein«, sagte ich.

»Ah!« erwiderte er und schloß langsam die Augen und schwieg einige Zeit. »Du hast recht«, sagte er schließlich. »Es ist nicht offensichtlich.« »Was tun wir also?« fragte ich. »Wir setzen unseren Unterricht fort.«

Das Kastensystem war zwar gesellschaftlich wirksam, doch ich hatte persönliche Bedenken. Es war meiner Meinung nach viel zu starr -insbesondere im Hinblick auf die Auswahl der Herrscher aus den Hohen Kasten und auf das Doppelte Wissen. Aber noch weitaus unschöner war die vorherrschende Sklaverei. Für den Goreaner gab es außerhalb des Kastensystems nur drei Lebensformen: Sklave, Gesetzesbrecher und Priesterkönig. Ein Mann, der seinem Beruf nicht nachgehen oder ohne Erlaubnis des Rates der Hohen Kasten seinen Status ändern wollte, war automatisch ein Gesetzesbrecher und mußte aufgespießt werden.

Das Mädchen, das ich am ersten Tag in meinem Zimmer gesehen hatte, war eine Sklavin gewesen, und das Band um ihren Hals, das ich für ein Schmuckstück hielt, war ihr Sklavenzeichen. Ein zweites Zeichen, ein Brandmal, war unter ihrer Kleidung versteckt. Dieses kennzeichnete sie als Sklavin, während das Halsband ihren Herrn identifizierte. Ich hatte das Mädchen nicht wiedergesehen und überlegte, was wohl aus ihr geworden war. Allerdings fragte ich nicht nach ihr. Es gehörte zu den ersten Erkenntnissen, die ich auf Gor gewann, daß Sorge um einen Sklaven fehl am Platze war. Ich hielt mich also zurück. Ich erfuhr von einem anderen Schriftgelehrten beiläufig, daß Sklaven freie Männer nicht unterweisen durften, weil das eine Schuld begründen würde, und weil niemand einem Sklaven etwas schuldete. Ich beschloß, mich nach besten Kräften gegen dieses erniedrigende System zu wehren. Ich sprach einmal mit meinem Vater darüber, der mir nur sagte, daß es auf Gor noch viel schlimmere Dinge als die Sklaverei gäbe.

Ohne Vorwarnung raste der bronzene Speer auf meine Brust zu. Ich drehte mich zur Seite, und die Spitze durchtrennte meine Tunika und zog eine blutige Furche über meine Haut. Das Metall bohrte sich zwanzig Zentimeter tief in einen Holzpfeiler hinter mir. Wäre ich nicht zur Seite gesprungen, hätte mich der Speer glatt durchbohrt. »Schnell genug ist er«, sagte der Mann, der den Speer geworfen hatte. »Ich nehme ihn.«

Das war meine erste Begegnung mit meinem Waffenmeister, der ebenfalls Tarl hieß. Ich werde ihn den Älteren Tarl nennen. Er wirkte wie ein blonder Wikinger, ein bärtiger Bursche mit fröhlichem, zerfurchten Gesicht und wilden blauen Augen, der die Welt als sein Eigentum zu betrachten schien. Er war ein stolzer Mann ohne Arroganz, ein Mann, der wußte, daß er seine Waffen beherrschte und mit jedem Gegner fertig werden konnte.

Mit der Zeit wurde ich gut mit ihm bekannt, denn der weitaus größte Teil meiner Ausbildung galt nun den Waffen – im Wesentlichen dem Training mit Schwert und Speer. Der Speer kam mir wegen der geringeren Schwerkraft besonders leicht vor, und ich entwickelte bald eine große Geschicklichkeit damit. Ich konnte auf kurze Entfernung einen Schild durchbohren und vermochte auf zwanzig Meter Entfernung ein Ziel von der Größe eines Suppentellers zu treffen.

Auch sollte ich nun lernen, den Speer mit der linken Hand zu werfen.

»Was ist, wenn du am rechten Arm verwundet bist?« fragte der Ältere Tarl, der mein Widerstreben bemerkte. »Was tust du dann?«

»Fliehen?« fragte Torm, der meine Übungen von Zeit zu Zeit besuchte.

»Nein!« rief der Ältere Tarl. »Du mußt weiterkämpfen und sterben wie ein Krieger.«

Torm klemmte sich eine Schriftrolle unter den Arm und wischte sich die Nase. »Ist das vernünftig?« fragte er.

Der Ältere Tarl ergriff einen Speer, und Torm hob hastig seine blaue Robe und verschwand.

Verzweifelt machte ich mich an die Arbeit und entwickelte zu meiner Überraschung nach einiger Zeit auch mit dem linken Arm eine gewisse Fertigkeit. Ich hatte meine Überlebenschancen um einen unbestimmten Prozentsatz verbessert.

Mein Training mit dem kurzen, breiten Schwert der Goreaner war ebenfalls sehr gründlich. Ich hatte in Oxford einem Fechtklub angehört und brachte daher gewisse Grundkenntnisse mit, aber hier wurde es nun wirklich ernst. Wieder mußte ich die Klinge mit beiden Händen fuhren lernen, obwohl ich mir eingestehen mußte, daß ich ein unheilbarer Rechtshänder war.

Während meiner Schwertausbildung verletzte mich der Ältere Tarl mehrmals mit seiner Klinge, wobei er stets zu meinem Ärger ausrief: »Du bist tot!« Gegen Ende des Trainings gelang es mir, seine Parade zu durchbrechen und ihm eine Stichwunde auf der Brust beizubringen. Ich zog mein Schwert zurück, dessen Spitze blutig war. Tarl warf seine Waffe krachend zu Boden und riß mich lachend an seine blutende Brust.

»Ich bin tot!« brüllte er triumphierend. Er klatschte mir auf die Schultern, stolz wie ein Vater, der seinem Sohn das Schachspielen beigebracht hat und nun zum erstenmal geschlagen wurde.

Ich wurde auch im Gebrauch des Schildes unterwiesen, der hauptsächlich dazu einzusetzen war, einen Speer harmlos abzulenken.

Als meine Ausbildungszeit ihrem Ende zuging, kämpfte ich stets mit Schild und Helm. Ich hätte mir gewünscht, daß meine Rüstung durch einen Panzer oder vielleicht ein Kettenhemd ergänzt würde, aber ich mußte erfahren, daß die Priesterkönige das v erboten hatten. Der Grund hierfür lag vielleicht in dem Wunsch, daß der Krieg ein biologisch selektiver Prozeß bleiben sollte, in dem die Schwachen und Langsamen untergehen und sich nicht weiter vermehren. Dies mag auch die Erklärung für die relativ primit iven Waffen sein, die die Menschen im Schatten der Berge führen durften. Neben Speer und Schwert waren noch Armbrust und Bogen zugelassen; ich wurde jedoch kaum darin unterwiesen, weil der Ältere Tarl wenig dafür übrig hatte. Er sah sie als zweitklassige Waffen an, die der Hand eines Kriegers unwürdig waren. Ich teilte seine Verachtung nicht und versuchte mich in meiner Freizeit damit zu beschäftigen. Ich ahnte, daß meine Ausbildung nun bald zu Ende war – vielleicht weil meine Ruheperioden länger wurden oder weil manche Dinge zur Sprache kamen, die ich bereits kannte; vielleicht lag es auch an der Haltung meiner Instruktoren. Ich spürte, daß ich nahezu bereit war – aber ich hatte keine Ahnung, wofür. Besonderen Spaß bereitete mir in diesen letzten Tagen, daß ich die goreanische Sprache nun mühelos beherrschte. Ich begann auf goreanisch zu träumen und vermochte auch meine Lehrer zu verstehen, wenn sie miteinander sprachen. Auch dachte ich in Goreanisch und mußte mir stets einen kleinen Ruck geben, wenn ich wieder englisch denken oder sprechen wollte. Einmal hatte ich sogar auf Goreanisch geflucht, was den Älteren Tarl sehr amüsierte. Die Zeit meiner Unterweisung rückte wieder heran, und als der Ältere Tarl meinen Raum betrat, trug er einen etwa sechzig Zentimeter langen Metallstab, der an einem Ende eine Lederschlinge aufwies. An dem Griff befand sich ein Schalter. Ein ähnliches Instrument hing an seinem Gürtel. »Das ist keine Waffe«, sagte er. »Es darf auch nicht als Waffe benutzt werden.« »Was ist es dann?«

»Ein Tarnstab«, erwiderte er. Er legte den kleinen Schalter um und berührte damit den Tisch. Unzählige Funken sprühten gelblich in alle Richtungen, ohne auf dem Tisch eine Spur zu hinterlassen. Tarl schaltete den Stock aus und reichte ihn mir. Als ich die Hand danach ausstreckte, schaltete er ihn ein und drückte ihn mir in die Hand. Eine Milliarde gelber Sterne schien in meiner

Hand zu explodieren. Ich schrie erschreckt auf und hob die Hand an den Mund. Es war wie ein kräftiger elektrischer Schlag. Ich untersuchte meine Hand; sie war unverletzt.

»Nimm dich vor einem Tarnstab in acht«, sagte der Ältere Tarl. »Das ist kein Spielzeug.«

Ich nahm den Stab langsam auf und achtete darauf, ihn in der Nähe des Griffes anzufassen. Den Lederriemen legte ich mir um das Handgelenk. Der Ältere Tarl verließ das Zimmer, und ich sollte ihm offensichtlich folgen. Wir erstiegen die Wendeltreppe, die an der Innenseite des Zylinderturms empor führte. Nachdem wir einige Dutzend Etagen hinter uns gebracht hatten, erreichten wir das flache Dach des Gebäudes. Der Wind fegte über die kreisförmige Ebene und drückte mich zum Rand. Es gab kein Geländer. Ich stemmte mich gegen den Wind und fragte mich, was nun geschehen sollte. Ich schloß die Augen. Der Ältere Tarl nahm eine Tarnpfeife aus seiner Tunika und ließ einen durchdringenden Laut ertönen.

Ich hatte noch keinen Tarn zu Gesicht bekommen – mit Ausnahme von bildlichen Darstellungen in meinem Zimmer und in Lehrbüchern über die Pflege, die Zucht und Ausrüstung dieser Vögel. Man hatte mich absichtlich nicht auf diesen Augenblick vorbereitet, wie ich später erfahren sollte. Die Goreaner glauben, daß die Fähigkeit, einen Tarn zu beherrschen, angeboren sein muß. Man kann diese Eigenschaft nicht lernen. Es ist eine Sache des Blutes und des Willens, der Verbindung zwischen Tier und Mensch, einer Beziehung zwischen zwei Wesen, die intuitiv und spontan gegeben sein muß. Angeblich weiß ein Tarn ganz genau, wer ein Tarnsmann ist und wer nicht. Es heißt, wer keiner ist, stirbt bei der ersten Begegnung mit seinem Kampfvogel. Zunächst spürte ich nur einen gewaltigen Windhauch und hörte ein ohrenbetäubendes, schnappendes Geräusch, als knallte ein Riese mit einem Handtuch, dann duckte ich mich erschauernd unter einem gewaltigen geflügelten Schatten. Ein riesiger Tarn mit Krallen wie gigantische Stahlhaken, die Flügel wildschlagend in der Luft, verhielt starr über uns.

»Vorsicht vor den Flügeln!« rief der Ältere Tarl.

Das Kommando war überflüssig; hastig stürzte ich zur Seite. Ein Schlag dieser Flügel mußte mich meterweit in die Leere hinausstoßen.

Der Tarn landete auf dem Dach des Zylinders und betrachtete uns mit seinen schillernden, schwarzen Augen.

Obwohl der Tarn wie die meisten Vögel überraschend leicht ist – was in erster Linie an den hohlen Knochen liegt -, ist er ein äußerst kräftiger Vogel. Während große irdische Vögel – so etwa der Adler -einen Anlauf nehmen müssen, wenn sie vom Boden aus starten, kann der Tarn mit seiner unglaublichen Muskulatur sich und seinen Reiter mit einem Sprung und einem schnellen Zucken der riesigen Flügel in die Luft heben. Dabei kommt ihm natürlich auch die geringere Schwerkraft Gors zugute. Von den Goreanern werden diese Vögel auch als die ›Brüder des Windes‹ bezeichnet.

Der Federschmuck der Tarns ist unterschiedlich, und sie werden auch auf ihre Färbung hin gezüchtet und nicht nur auf ihre Stärke und Intelligenz. Schwarze Tarns kommen bei nächtlichen Überfällen zum Einsatz, weiße bei Winterfeldzügen, und vielfarbig schillernde Tarns werden von Kriegern bevorzugt, die Eindruck machen wollen und auf Tarnung keinen Wert legen. Der gewöhnliche Tarn jedoch hat ein grünlichbraunes Gefieder. Abgesehen von der Größe ist der Tarn dem irdischen Falken am ähnlichsten – nur hat er einen Kamm, der dem eines Eichelhähers gleicht. Tarns, die eine bösartige Natur haben, sind selten mehr als halb gezähmt und sind – wie ihre winzigen irdischen Brüder – fleischfressend. Es ist schon vorgekommen, daß ein Tarn seinen eigenen Reiter angriff und auffraß. Nur den Tarnstock fürchten sie – sonst nichts. Sie werden von Männern der Tarnkaste trainiert. Immer wenn ein junger Vogel davonfliegt oder irgendwie ungehorsam ist, wird er auf die Stange zurückgezogen und mit dem Tarnstab geschlagen. Später werden die Vögel natürlich losgekettet, aber ein Fußring soll sie an diese Zeit erinnern. Das Training schlägt jedoch meistens an, außer wenn das Tier außergewöhnlich aufgeregt ist oder lange keine Nahrung bekommen hat. Der Tarn gehört zu den beiden bevorzugten Reittieren des goreanischen Kriegers; das zweite ist der große Tharlarion, eine Art Sattel-Eidechse, meistens von den Clans benutzt, die mit Tarns nicht umzugehen verstehen. Soweit ich wußte, hielt niemand in der Stadt der Zylinder einen Tharlarion, obwohl sie angeblich auf Gor weitverbreitet waren -besonders im Flachland, im Sumpf und in den Wüsten.

Der Ältere Tarl war auf seinen Tarn gestiegen, wobei er die fünfsprossige Leiter benutzte, die an der linken Seite des Sattels herabhängt und die während des Fluges hochgezogen wird. Er schnallte sich mit einem breiten purpurnen Gurt im Sattel fest. Er warf mir einen kleinen Gegenstand zu, der mir fast aus der Hand fiel. Es war eine Tarnpfeife mit einem Ton, auf den nur ein ganz bestimmter Tarn reagieren würde – das Reittier, das für mich bestimmt war. Seit dem Zwischenfall mit dem wildgewordnen Kompaß in den New-Hampshire-Bergen war ich nicht mehr so ängstlich gewesen – aber diesmal kämpfte ich meine Furcht nieder. Wenn ich sterben sollte, konnte ich nichts dagegen tun.

Ich blies in die Pfeife, und ein schrille r Ton erklang, der sich von Tarls Pfiff sehr unterschied.

Im nächsten Augenblick stieg aus dem Nichts ein phantastisches Gebilde herauf – vielleicht von einem Vorsprung weiter unten -, ein zweiter riesiger Tarn, größer als der erste, ein schimmernder, schwarzer Vogel, der einmal um den Zylinder kreiste und dann auf mich zukam. Er landete wenige Meter entfernt, und seine Krallen prallten auf den Stein. Sie waren mit Stahlkanten verstärkt – ein Kampftarn. Der Vogel hob seinen gekrümmten Schnabel zum Himmel und kreischte auf. Gleichzeitig schüttelte er seine Flügel. Der gewaltige Kopf drehte sich in meine Richtung, und die runden Augen blinzelten mich an. Im nächsten Augenblick öffnete sich der Schnabel, ich erhaschte einen kurzen Blick auf seine dünne, scharfe Zunge, die so lang war wie ein Arm, und schon stürzte sich das Ungeheuer auf mich, hieb mit dem monströsen Schnabel nach mir, und ich hörte den Altern Tarl entsetzt aufschreien: »Den Stab! Den Stab!«

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